Die Letzte Epoche der Philosophie in ihrer Kern-Phase: Hrsg. von Martín Zubiria / Marcus Brainard [1 ed.] 9783428548040, 9783428148042

Der Ausdruck ›Kern-Phase‹ bezieht sich auf die durch Kant, Fichte und Hegel – und nur von ihnen – gemeinsam bewältigte p

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German Pages 158 Year 2016

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Die Letzte Epoche der Philosophie in ihrer Kern-Phase: Hrsg. von Martín Zubiria / Marcus Brainard [1 ed.]
 9783428548040, 9783428148042

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B EGRIFF UND K ONKRETION Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Band 4

Heribert Boeder

Die Letzte Epoche der Philosophie in ihrer Kern-Phase Herausgegeben von

Martín Zubiria und Marcus Brainard

Duncker & Humblot · Berlin

HERIBERT BOEDER

Die Letzte Epoche der Philosophie in ihrer Kern-Phase

Begriff und Konkretion Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann, Hagen Martín Zubiria, Mendoza Wissenschaftlicher Beirat: Mario Jorge de Carvalho (Lissabon), Héctor Alberto Ferreiro (Buenos Aires), Lore Hühn (Freiburg i.Br.), Marco Ivaldo (Neapel), Walter Jaeschke (Bochum), Wolfgang Kersting (Kiel), Jean-François Kervégan (Paris), Hiroshi Kimura (Nagasaki), Theodoros Penolidis (Thessaloniki), Violetta L. Waibel (Wien)

Band 4

Heribert Boeder

Die Letzte Epoche der Philosophie in ihrer Kern-Phase

Herausgegeben von

Martín Zubiria und Marcus Brainard

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 2198-8099 ISBN 978-3-428-14804-2 (Print) ISBN 978-3-428-54804-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84804-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der Anfang der griechischen Philosophie: so lautete der unscheinbare Titel der Vorlesung, mit der Heribert Boeder seine Lehrtätigkeit im SS 1960 an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg aufnahm.1 Der damalige Privatdozent konnte kaum wissen, daß damit ein gewaltiges Unternehmen eröffnet worden war, das sich im Laufe von fünfzig Jahren als ununterbrochene Reihe von im ,alten Stil‘ völlig ausgeschriebenen Vorlesungen gestalten würde. Die in Freiburg anfänglich der platonischen und aristotelischen Philosophie gewidmeten Vorlesungen, in denen sich bald die entscheidende Frage nach der „Krisis der Principien“ melden sollte, wurden kontinuierlich fortgeführt an der Technischen Universität Braunschweig, wo Boeder schon seit WS 1971/72 als Ordinarius wirkte, und zuletzt, ab WS 1988/89, an der Universität Osnabrück, wohin sein Lehrstuhl verlegt wurde. Die besagte Reihe galt dem akademischen Lehrer keineswegs als abgeschlossen, als er sich im SS 1996 mit der hier vorgelegten Vorlesung zur „Kern-Phase der Letzten Epoche der Philosophie“ vom Ordinariat verabschiedete. Dementsprechend wurde die Reihe in gewohnter, gesammelter Weise noch fünfzehn Jahre lang nimmermüde fortgesetzt, um erst mit einer geschlossenen Trias – Homer (SS 2009), Hesiod (WS 2009/10) und Solon (SS 2010) – zu ihrem wahren Abschluß zu kommen. Die fünfzig Jahre früher gestellte Frage des jungen Privatdozenten zum „Anfang der griechischen Philosophie“ hatte so eine in dieser Form nicht vorhersehbare, weitreichende Antwort erhalten. Alle diese Vorlesungen wurden – nicht anders als die sie begleitenden Seminaren – zielstrebig und ausnahmslos der Bewältigung einer einzigen Aufgabe des denkerischen Unterscheidens gewidmet, wovon die daraus entsprungenen Veröffentlichungen ein bedeutungsvolles Zeichen ablegen. Boeder selbst pflegte das von ihm Geleistete mit einem platonischen Ausdruck als einen „Durchgang durch alles“ (di´nodor di± p²mtym, vgl. Parm. 136 E 1) zu bezeichnen. Es handelt sich genauer um etwas überaus Seltsames, nämlich – wie es in der zehnten Sitzung der vorliegenden Schrift heißt – um einen „vollendeten Durchgang durch alle Positionen unserer Geschichte, unserer Welt und unserer Sprache“; eine sonderbar anmutende Be1 Eine ausführliche Liste der von Boeder bis zur Emeritierung gehaltenen Lehrveranstaltungen ist bei Regenbogen (Hg.), Antike Weisheit und moderne Vernunft, 297 – 301 zu lesen. Vollständige Angaben für die im vorliegenden Band zitierten Texte (zusammen mit den entsprechenden Sigeln), bzw. auf die hingewiesen werden, befinden sich unten im Literaturverzeichnis. Texte, die in den Anmerkungen ohne Autorennamen genannt werden, stammen von Heribert Boeder. Zur Erklärung der in diesem Band verwendeten Zitierweisen sei auf den Anhang „Editorische Hinweise“ verwiesen.

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Vorwort

hauptung, die sich wie von selbst als Anlaß zu einer kurzen einführenden Erläuterung anbietet. Geschichte, Welt und Sprache als ein Alles. Was für eines? Wie bestimmen sich dessen Glieder? Und zuvor noch: Woher kommen sie? Denn die Aufeinanderfolge von ,Geschichte, Welt, Sprache‘ vermag in diesem Fall so wenig eine beliebige sein, wie diejenige von ,Logik, Natur, Geist‘ oder wie die alte, stoische von ,Logik, Natur, Ethik‘, mit einem bedeutenden Unterschied freilich: Die zwei zuletzt erwähnten Dreiheiten machen jeweils ein epochal bestimmtes Alles der Philosophie aus, aber wie steht es mit der ersten? Erst das Denken der Moderne, insbesondere die Besinnungs-Dimension von Marx, Nietzsche und Heidegger, machte Boeder auf die fundamentale Bewandtnis der besagten Totalitäten von Geschichte, Welt und Sprache und des daraus entstandenen Alles aufmerksam. Es ist in der Tat unschwer zu sehen, wie an den besagten denkerischen Positionen der Moderne, um die herum sich einige weitere vorgelagert haben,2 ,Geschichte‘, ,Welt‘ und ,Sprache‘ jene bestimmende Stellung einnehmen, welche dem vormaligen ,Gott‘ der abgestoßenen Metaphysik eigen war.3 Der boederschen Überlegung zeichnete sich also allmählich die ganze Besinnung der Moderne als eine eigenständige, von der Geschichte der Metaphysik schlechthin getrennte Konstellation ,philosophischen‘ Denkens ab.4 Desgleichen und schon früh – spätestens seit der 1973 in Braunschweig gehaltenen Antrittsvorlesung „Was vollbringt die Erste Philosophie?“ – setzte sich bei Boeder unmißverständlich die Einsicht durch, daß es völlig ungeeignet, mehr noch: sachlich ungerecht war, die Geschichte der abendländischen Metaphysik mittels der überall verbreiteten Vorstellung eines Continuums – und sei es der Vorstellung von einer „wachsenden Seinsvergessenheit“ – gedanklich zu fassen. Die bestürzende Entdeckung der Eigenständigkeit eines „mittleren Anfangs“ der Metaphysik bei Plotin – im Unterschied zum ersten, parmenideischen Anfang –5 vervollständigte sich später mit der Anerkennung eines „letzten“, gleich autonomen, epochalen Anfangs beim kantischen Freiheits-Begriff (also nicht, wie es die opinio communis will, bei der cartesischen certitudo).6 Somit entstand als ein Novum der Gedanke der

2 Diejenige nämlich der „technischen“ bzw. „funktionalen“ und auch der „hermeneutischen“ Vernunft (s. VGM). 3 Vgl. dazu die boedersche Vorlesung von SS 1979: Geschichte – Welt – Sprache. 4 Der auf dem Feld der Dichtung entsprechende Sachverhalt wurde von Hugo Friedrich in seinem aufschlußreichen Buch Die Struktur der modernen Lyrik erschlossen. 5 Siehe „Weshalb ,Sein des Seienden‘?“. 6 In seinem Aufsatz „Eine Bewegung der mundanen Vernunft“ hat Boeder die ,EröffnungsPhase‘ der Letzten Epoche nicht weiter auf die eine Entfaltung der natürlichen Vernunft – von Descartes bis Leibniz – eingeschränkt, sondern auch den hobbesischen Beginn und die darauf folgenden Positionen Lockes und Shaftesburys als eine gleichrangige Gestalt der mundanen Vernunft dargestellt und als solche anerkannt.

Vorwort

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„Krisis der Principien“, der in drei Vorlesungen systematisch ausgeführt wurde7 und woraus sich hinterher das „logotektonische Denken“ zu entfalten begann. In Anbetracht der wachsenden Festigkeit und Durchsichtigkeit, mit der sich die drei Epochen der Metaphysik schon seit damals als ebenbürtig, weil von je eigenem Anfang und also von je eigener Sache, zeigten, wurde sowohl der heideggersche Gedanke zur Geschichte der Metaphysik (sie sei durchgängig, von ihrem platonischen Beginn und bis in ihr nietzschesches Ende hinein, durch die eine Frage nach dem Sein des Seienden getragen) als auch die entsprechende Fassung jener Geschichte durch Hegel (sie sei die in der Äußerlichkeit der Zeit sich entwickelte Selbstbestimmung des einen Begriffs) geradezu hinfällig. Es war die Stunde gekommen, die Orte (tºpoi) der Geschichte der Metaphysik, welche sich nach ihren jeweiligen ,Principien‘ nunmehr epochal artikulierten, auffindbar werden zu lassen und sie innerhalb eines still gewordenen ,Kosmos‘ mit Hilfe der dazu erforderlichen ,Philo-logie‘ zu bestimmen. Die Rede von Kosmos will die Entschiedenheit des nietzscheschen Urteils, die Metaphysik sei ein „finsterer Ozean“, nicht überhören, aber sie will dieses Urteil nur innerhalb der Schranken der Moderne gelten lassen. Und wenn der besagte Kosmos ein ,gestillter‘ oder ,unbewegter‘ ist, das ist auf ein weitreichendes Ereignis zurückzuführen: Die Entfaltung ihrer ,Letzten Epoche‘ bedeutet für die Geschichte der Metaphysik die Erfüllung ihrer Bestimmung und damit einhergehend ihr Verscheiden. Daß die Vorstellung des Todes (sei es mit oder ohne Glockenläuten), so wie sie dem alltäglichen Bewußtsein eigen ist, dem betreffenden, auf die Einzigartigkeit eines Vernunft-Wissens bezogenen Sachverhalt nicht gerecht zu werden vermag, sollte von selbst einleuchten.8 Die von Boeder in Vorlesungen und Seminaren mit strenger Folgerichtigkeit durchgeführte Arbeit fruchtete also zunächst in der Darstellung einer Topologie der Metaphysik (1980), die er schon vorher in drei aufeinander folgenden Vorlesungen ausgearbeitet hatte.9 Es ist der erste, unumgängliche Teil der Lösung einer weit angelegten Aufgabe: die drei in der Moderne ans Licht gekommenen Totalitäten von Geschichte, Welt und Sprache gedanklich zu verwandeln. Nachdem zweitens die Welt der Moderne als ein für sich stehendes Ganzes aus drei Besinnungs-Dimensionen – die des hermeneutischen, funktionalen und apokalyptischen Denkens – im Vernunft-Gefüge der Moderne (1988) erschlossen worden war, konnte drittens in seinem Werk Die Installationen der Submoderne (2006) mit dem Bau der ebenso dreigliedrig angelegten Sprach-Sphäre – die aus den an-archischen, strukturalen und

7 Nämlich in den folgenden Vorlesungen: WS 1977/78: Die Krisis der Principien I: Erste und Mittlere Epoche; SS 1978: Die Krisis der Principien II: Neuere Epoche bis Kant; WS 1978/ 79: Die Krisis der Principien III: Neuere Epoche: Fichte (Schelling) Hegel. 8 Siehe „Wohin mit der Moderne?“, Nachwort zu VGM, 361 – 75. 9 Vgl. die folgenden Vorlesungen: WS 1975/76, Topologie der Metaphysik I: Erste Epoche; SS 1976, Topologie der Metaphysik II: Mittlere Epoche; WS 1976/77, Topologie der Metaphysik III: Neuere Epoche.

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Vorwort

sprachanalytischen Reflexionen besteht – jene wie von selbst gestellte Aufgabe als eine endlich erfüllte angesehen werden. Wenn damit die zunächst dunkle Rede von dem „vollendeten Durchgang durch alle Positionen unserer Geschichte [die der Metaphysik], unserer Welt [die der Besinnung der Moderne] und unserer Sprache [die der Zumutungen der Submoderne]” etwas heller geworden ist, so ist sogleich zu erläutern, wie die vorliegende Vorlesung sich zur besagten Durchgang verhält. Sie gilt der Kern-Phase der Letzten Epoche der Philosophie. Was ist mit ,KernPhase‘ gemeint? Achtet man auf Boeders Veröffentlichungen, sofern sie diese Epoche als ein Ganzes berücksichtigen,10 insbesondere auf den entsprechenden Teil der Topologie der Metaphysik, wird deutlich, daß der Ausdruck sich auf die durch Kant, Fichte und Hegel schrittweise und doch gemeinsam bewältigte philosophische Aufgabe bezieht, die Freiheit dem Begriff gleich zu machen. Die Vorlesung bleibt ihrem Gegenstand insofern angemessen, als sie vom gewöhnlichen Nacherzählen absieht, um statt dessen streng logotektonisch vorzugehen,11 d. h. sie baut die betreffenden Positionen als eine jeweilige Ratio aus Bestimmung, Sache und Denken. Diese Termini erfahren auch im einzelnen eine ,logische‘ Gestaltung, um somit die Geschlossenheit und also die Vernunft-Absicht jeder philosophischen Position mit der gehörigen Reinheit hervorzutreiben. Die Vorlesung bleibt aber zugleich auf etwas anderes, nicht minder wichtiges gesammelt, was eine buchstäblich ungeahnte, ja verblüffende Neuheit enthält. Die ,Philosophie‘ gilt Boeder streng genommen als ,Philo-Sophia‘, will sagen: als eine epochal bestimmte Liebe zur Weisheit, oder genauer: als eine Vernunft-Liebe zu einem ihr stets vorgegebenen Wissen um die Bestimmung des Menschen. Es handelt sich dabei zunächst um das „Wissen der Musen“,12 sodann um die „Sapientia Christiana“13 und zuletzt um das „Bürgerliche Wissen zur Pflicht und Freiheit“.14 Die Aufdeckung der epochalen Gestalten der Sophia ist eine derart revolutionäre Tat im Denken der Gegenwart, daß es vielleicht ziemlich lange dauern wird, bis deren Tragweite gebührend gewürdigt werden kann. Philo-Sophia ist also – wird dem boederschen Denken wachsam zugehört – eigentlich Ant-wort auf ein Wort der Sophia, welches den Menschen überall dazu auffordert, sich von sich zu unterscheiden – auch in der Letzten Epoche der Geschichte. Unsere Vorlesung nimmt sich tatsächlich vor, deren weisheitliche Botschaft, so wie sie in den Werken Rousseaus, Schillers und Hölderlins zur Sprache kam, als ein Ganzes aus rationes zu bauen und darzustellen. Vier Jahre früher hatte 10 Siehe „Das Verschiedene im ,anderen Anfang‘“, „Vernunft und Wissenschaft“ und „Die Unterscheidung der Vernunft“. 11 Siehe „Logotektonisch Denken“. 12 Siehe „Access to the Wisdom of the First Epoch“. 13 Siehe „The Present of Christian Sapientia in the Sphere of Speech“. 14 Siehe „Rousseau oder der Aufbruch des Selbstbewußtseins“.

Vorwort

9

Boeder einen Grundriß des hier Dargelegten vorweggenommen.15 So kann er nunmehr auf die einzelnen Termini und auf deren „logische“ Beziehungen untereinander ausführlicher eingehen. Die Letzte Epoche unterscheidet sich, was ihre VernunftArchitektonik anbelangt, von den zwei anderen darin, daß in ihr die Positionen der Sophia mit derjenigen der Philo-Sophia zeitlich aufs engste verwoben sind. Die im Titel genannte Kern-Phase meint also in diesem Fall die ganze denkerische Bewegung, die mit Rousseau anfängt, um über die wortwörtlich schöpferische, will sagen: ,poietische‘ Arbeit Kants, Schillers, Fichtes und Hölderlins erst mit der hegelschen Wissenschaft zur Ruhe zu kommen. Diese an grundlegenden Einsichten überaus reiche Vorlesung geht also den durch diesen Namen vorgezeichneten Weg. Boeder geht dabei kaum auf die sonst uferlos gewordene Literatur ein. Er schreitet vielmehr geradeaus nach seinem eigenen Entwurf fort, ohne sich ablenken zu lassen. Jede Sitzung fängt nichtsdestotrotz mit einer Betrachtung zum zeitgenössischen Denken an. Mögen sich diese Einleitungen nicht leicht mit dem darauf folgenden Hauptteil zur Kern-Phase der Letzten Epoche verbinden, zeigen sie immerhin deutlich genug, daß der Zweck der Vorlesung kein bloß historischer ist, daß sie gerade nicht aus dem Boden eines im Sinne der Philosophie stets fraglichen Spezialistentums emporgewachsen ist, weil Boeders Vorlesung die Philosophie selbst nur dadurch zu würdigen versteht, daß sie unentwegt auf das Ganze dessen gerichtet bleibt, was überhaupt zu denken gibt. Mendoza, im Mai 2016

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Martín Zubiria

Siehe „Die conceptuale Vernunft in der Letzten Epoche der Metaphysik“.

Inhaltsverzeichnis Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 VI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 VII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 VIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 IX. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 X. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 XI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Anleitendes. Ein Vor- wie Nach-Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Editorische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Übersicht I.

Philosophie und unmittelbare Verständlichkeit. Der Schein von Faßlichkeit am kantischen Gedanken. Das heutige Interesse an demselben. Die Angst vor dem Denken. Vernunft haben oder Vernunft annehmen? Notwendigkeit im Sinne der Vernunft. Die Trennung von der Moderne. Durchbruch der Submoderne. Achtung vor dem vormals Gedachten. Abgeschiedenheit der Geschichte der Philosophie.

II.

Verhaltenheit vor der Geschichte des abendländischen Denkens. Dilthey und der hermeneutische Umgang mit dem Gedachten. Die Geschichte als ,Unterwelt‘. Hegel und seine Logik. Verabschiedung der Gegenständlichkeit des Absoluten in religiöser Bedeutung. Aufbruch aus dem Pluralismus der Einfälle. Aufgabe des gegenwärtigen Denkens. Unterscheidung der Vernunft. Vernunft als ratio terminorum. Aufriß der Architektonik der Letzten Epoche der Philosophie. Ihre Eröffnungsphase: a) ratio naturalis (Descartes, Spinoza, Leibniz); b) ratio mundana (Hobbes, Locke, Shaftesbury).

III.

Unfreiheit in principieller Bedeutung. Aufbruch des Selbstbewußtseins. Natürliche und mundane Vernunft in der Hauptphase der Letzten Epoche. Aufriß der rationes der mundanen Vernunft (Hume, Jacobi, Schelling). Freiheit in absoluter Bedeutung. Objekt als Erscheinung oder als Ding an sich selbst. Anmerkung zum Ort der Logotektonik in der Sphäre der Sprache. Thema der Vorlesung als Aufgabe. Philosophie und Weisheit (vikosov¸a und sov¸a). Das Erschließen des erstlich zu Wissenden.

IV.

Was bewegt die Aufmerksamkeit des Denkens auf die Gestalten der Weisheit? Die Gegenwart als die der unterschiedenen Sprache. Die Philosophie einer Epoche ist aus ihrer vorgängigen Weisheit zu erschließen. Rousseaus Hauptschriften: Nouvelle Héloïse (Bestimmung), Émile (Sache), Contrat social (Denken). A. Bestimmung: a) Sprachlichkeit und Wechsel-Bestimmung. Hymnus; b) Geschichtlichkeit und Kausalität. Julie; c) Weltlichkeit und Substanzialität; Selbstbefreiung. B. Sache: Erziehung: a) Weltlichkeit: das Kind als infans. Substanzialität; b) Sprachlichkeit: Beginn der „wohl-geregelten“ Freiheit; Kultur. Wechselseitigkeit. Umgang mit den Dingen; c) Geschichtlichkeit: Eintritt des Zöglings in die Gesellschaft. Kausalität.

V.

Die Abgrenzbarkeit der Weisheits-Gestalten. Ratio naturalis, mundana und conceptualis. Deren moderne und submoderne Verwandlungen. Armut des logotektonischen Denkens. Einleitende Besinnung auf das Unternehmen der Vorlesung: die der Letzten Epoche der Philosophie zu entnehmende Sophia eigens zu bauen. Weitere Darstellung der rousseauischen ratio. Dritter Mo-

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Übersicht

ment bei der Entfaltung der Sache. Émile auf seine Vergesellschaftlichung hin ausgebildet. Der seiner Bestimmung gemäß erzogene Mensch. C. Denken: a) Geschichtlichkeit: die Freiheit der Gesellschafts-Ordnung. Der Gedanke des Rechts als erster Vernunft-Gedanke. Denken als Setzen in produktiver Bedeutung. Kausalität. Blick auf die Unterscheidung der Epochen unserer Geschichte. VI.

Einleitende Erörterung zur Aufgabe des logotektonischen Unterscheidens von Geschichte, Welt und Sprache auf die epochalen Gestalten der Sophia hin. Die rousseauische ratio. Der Denk-Terminus wird aus dem Contrat social erschlossen; a) Geschichtlichkeit: die volonté générale; die Aufgabe des Denkens als Unterscheidung des Menschen von sich selbst; Kausalität; b) Weltlichkeit: die Verfassung des Gemeinwesens; Substanzialität; c) Sprachlichkeit: die Volks-Versammlung; Wechsel-Bestimmung.

VII. Herrschaft des Alltagshorizont in der Sprach-Analyse. Pluralistisches Denken und Gedachtes der Wahrheit. Zusammenfassung der rousseauischen ratio. Bürgerliche Religion. Polytheismus. Urteile Rousseaus über das Christentum. Der kantische Gedanke. A. Die moralische Gesetzgebung als resultierende Anfang in der Entfaltung des Bestimmungs-Terminus. Das Gesetz in der Entfaltung seiner Momenten: Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit. B. Denken als moralisches Selbstbewußtsein. Gefühl der Achtung für das Gesetz. Anerkennung des Sitten-Gesetzes in seiner Allgemeinheit. Aufstellen der moralischen Maximen. C. Sache: das Schöne und das Erhabene; die teleologisch verstandenen Naturdinge; das höchste Gut: Glückseligkeit. Schiller; Schwierigkeiten mit dem Bau seiner ratio. C. Denken in a) sprachlicher Fassung. VIII. Einleitung: Sprach-Analyse und Gegenwart des Denkens. Indifferenz gegen den Gedanken der Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Die schillersche ratio. C. Denken: a) Sprachlichkeit. Hymnus. Wechsel-Bestimmung; b) Geschichtlichkeit: Die Götter Griechenlands; die dichterische Antwort auf den Untergang der schönen Welt. Kausalität; c) Weltlichkeit: Die Künstler; die produktive Substanz des Denkens in seiner künstlerischen Äußerung bewahrheitet. A. Bestimmung: a) Weltlichkeit: Offenbarung des Menschen aus seiner Persönlichkeit. Substanz; b) Sprachlichkeit: Freiheit in absoluter Bedeutung. Schönheit: Freiheit in der Erscheinung; Wechselwirkung; c) Geschichtlichkeit: Schönheit als „zweite Schöpferin“. Kausalität. Der Staat als dynamischer, ethnischer und ästhetischer. B. Sache: a) Politische Gestaltung des Gemeinwesens. Die Handlung unter der Bestimmung der Schönheit. Das Handeln von geschichtlicher Prägung. Darin lernt ein Mensch das, worauf es ankommt. Kausalität; b) Weltlichkeit: die freie Tat; c) Sprachlichkeit: die Aufhebung der freien Tat im dichterischen Werk. Wechsel-Bestimmung. IX.

Zur gegenwärtigen Unterscheidung des Denkens von sich selbst: sprachanalytisches und logotektonisches Denken. Der moderne Vorgang der Ver-

Übersicht

15

drängung der Sophia. Erinnerung an den Bau der schillerschen ratio. Der fichtesche Gedanke. Produktive Einbildungskraft. Tat. Denken als Setzen, der Freiheit wegen. B. Sache: die ursprünglichen Handlungen des menschlichen Geistes. A. Bestimmung: Realisierung der Freiheit. Ideal. Gewißheit ohne Wahrheit. Diese wird erst im Denk-Terminus gewonnen. C. Veränderung des Denkens, weil des Glaubens: a) Sehnsucht nach dem Ideal; b) Negation der begrenzenden Realität; c) Glaube; Allgemeinheit als Gestalt des Bewußtseins. Das Material der Anschauung in die Vorstellung aufgehoben. Unterscheidung des Denkens von seiner Natürlichkeit. Welt als Sphäre der Pflicht-Erfüllung. X.

Zur Artikulation der drei Dimensionen der Sprach-Sphäre: Submoderne, Postmoderne, sprachanalytische Bewegung. Die wittgensteinsche Denkart nur scheinbar aufgenommen. Verkünstlichung der natürlichen Sprech-Akte zu Denkarten. Die gegenwärtige Unterscheidung des Denkens. – Die ratio Hölderlins. B. Sache: Hyperion: a) Sprachlichkeit, Wechsel-Bestimmung: der seine Menschheit darstellende Mensch. Seine Bestimmung und derer Erfüllung; b) Geschichtlichkeit: Handeln, gescheiterte Wirksamkeit; c) Weltlichkeit: Die reine Natur. Alles in Einem zurücknehmen. ým ja· p÷m . C. Denken: Der Tod des Empedokles, eine Krise des Denkens: a) Weltlichkeit: die Welt eines Einzelnen von substanzieller Einzigkeit; b) Sprachlichkeit, Wechselbeziehung: Endlichkeit und Unendlichkeit. Empedokles als Mittler. Ein Verwandter von Schiller und Rousseau. Kritik an der überkommenen Religion; c) Geschichtlichkeit: künftiges Andenken. A. Bestimmung: Die Vaterländischen Gesänge: a) Geschichtlichkeit: die Flucht der Götter. Kausalität im Sinne eines Entzugs; b) Weltlichkeit, Substanzialität: Ein Geschick, das eine Welt ergreift. Es bestimmt die eigene Zeit seiner Offenbarung; c) Sprachlichkeit: Die Zukunft hat die Helle und Durchsichtigkeit des Begreiflichen. – Radikaler Unterschied zwischen der Positionen Hölderlins und Heideggers. Der epochale Unterschied zu Pindar. Der Gesang als gebauter. Der eine Grund des Gedichts in der festen Folge seiner Gesänge. Die Freiheit in absoluter Bedeutung.

XI.

Die gegenwärtige Gleichgültigkeit gegen das Wort der Weisheits-Gestalten. Das kommunikative Denken der Sprach-Analyse. Seine Unfähigkeit für ein menschliches Wohnen zu bauen. Der hölderlinische Bestimmungs-Terminus in geschichtlicher, weltlicher und sprachlicher Bedeutung. Wie begegnet die conceptuale Vernunft Hegels dem hölderlinischen Gedanken? Geist und kºcor . Wie tritt die Weisheit gegenwärtig auf? Alle Zwänge der Verzeitlichung dieses Wissens sind zugunsten seiner sprachlichen Gegenwart getilgt. Unterschiedene claritas.

I. Von der Letzten Epoche der Philosophie, von deren Kern-Phase, soll die Rede sein. Eine unmittelbar unverständliche Ankündigung. Doch unmittelbare Verständlichkeit konnte nie die Stärke der Philosophie sein. Nicht einmal ihre erste Sache, nämlich die v¼sir oder das Wesen eines bestimmten Erscheinenden darf als unmittelbar verständlich gelten. Allerdings hat sich seit langem, aus der Gewohnheit des Angelernten, ein Schein von Verständlichkeit darüber verbreitet. Auch ihre andere erste Sache steht in solchem Schein – nämlich der Unterschied von natürlichem und widernatürlichem Verhalten. Und noch einmal behauptet sich ein ähnlicher Schein und zwar mit der Unterscheidung der geistigen von der körperlichen Sache. Gerade der heutige Schulbetrieb in philosophicis ist dabei, ihr eine neue Selbstverständlichkeit zu verschaffen. Woher solcher Schein? Jedesmal handelt es sich da um einen Anfang von Philosophie. Dies mit dem Schein, daß statt vom Denken selbst von der Sache oder auch vom Gegenstand auszugehen sei. Was da als unmittelbar gegebene Sache angenommen wird, ist in Wahrheit eine aus dem Denken vermittelte. Nun ist allerdings auch dies noch ein Schein, daß die Philosophie unmittelbar mit dem Denken selbst und also mit seinem Unterscheiden den Anfang mache. Eben diesen letzten Schein, der so alt ist wie die Philosophie selbst, wollen wir aber fürs erste nicht löschen. Doch schon jetzt sei festgehalten: Unmittelbare Verständlichkeit ist für jede Philosophie ein Schein. Nicht so die Verständlichkeit des Geredes und seiner Vorstellungen von ihr; denn das klammert sich an ein Verstehen im Sinne durchschnittlicher Verständlichkeit. In dem betreffenden Durchschnitt ist jeder Verstand zunächst und zumeist befangen. Man mag es wenden und drehen, wie man will: Aus dem Schein eines möglichen Anfangs mit etwas unmittelbar Verständlichem ist kein Entrinnen, solange es die Erwartungen an die Philosophie besetzt hält. Mit ihnen ist – mit Wittgenstein gesprochen – das Vorstellen im Fliegenglas gefangen. Da überzeugt sich der sich selbst überlassene Verstand leicht von seiner Selbsttätigkeit – durch die Spritzer, die er an der Glasglocke der scientific community hinterläßt. Woher aber nimmt der Schein, unmittelbar bei der Sache der Philosophie sein zu können, seine Gewalt? Deren Geschichte kennt in der Tat eine Vernünftigkeit, die ihren Anfang statt mit dem Denken mit einer Sache nimmt, welche als unmittelbar gegeben verstanden wird. Das stärkste Argument für solchen Anfang bietet in der Moderne der marxische Gedanke. Man muß ihm nicht einmal in der Hauptsache, nämlich in der Bloßstellung des Kapitals folgen, um die Produktions-Verhältnisse

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I. Sitzung

und also die Gesellschaft für die Grundlage menschlichen Seins zu nehmen. Dies umso weniger, als in dieser Grundlage auch noch die überkommene Einschätzung der sog. Natur durchscheint. Da ist das Denken bis zur völligen Unausweichlichkeit mit der Vorgabe seines Anfangs bedient. Schon vor ihr zu verhalten, sich erst einmal zu besinnen, ist hier zunächst ausgeschlossen. So langt denn die Philosophie-Gelehrsamkeit ohne weiteres bei dem zu, was sie in der Kern-Phase der Letzten Epoche an Meinungen vorfindet. Da bedient sie sich nach Geschmack und also nach Maßgabe der Genießbarkeit auch bei Hegel, auch bei Fichte, auch und vor allem aber bei Kant. Warum am ehesten bei ihm? Wegen des Scheins einer Faßlichkeit, die wenigstens in Teilen dem bloßen Verstand einleuchtet. Das ist aber der nicht zu Vernunft gekommene. Die von ihm beanspruchte Faßlichkeit schwindet, was Kant anlangt, zunächst bei Fichte und erst recht bei Hegel. Was da faßlich bleibt, trägt man heute dem sog. ,Deutschen Idealismus‘ von der britischen Tradition her zu. An ihr sucht der hiesige Betrieb den Anschluß und zwar in Absicht auf ein Mitreden. Dies in der Überzeugung, dort an der gegenwärtig maßgeblichen Gestalt von Philosophie überhaupt teil zu haben. Deren argumentative Beschäftigung weckt die Sehnsucht eines nach Maßgabe unserer Gesellschaft bereits auf Mitreden erpichten Denkens. In seiner Angewiesenheit auf Kommunikation „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ – selbst noch auf eine kopflose, genauer: auf eine gedankenlose Rationalität, die nämlich mit nachtwandlerischer Sicherheit die Frage meidet, wie sich denn die ratio selber ausweise – selber, will sagen: diesseits ihrer Instrumentalisierung. Doch solches Diesseits ist dem gemeinen Verstand schlechthin unverständlich. Und so ist er sogleich mit der aus der Anthropologie erborgten Antwort bei der Hand, daß sein instrumentaler Grundzug an der Phylogenese des Menschen die letzte Erklärung hat. Der Schein von Faßlichkeit am kantischen Gedanken verlangt genau besehen: ihn in den Grenzen der lockeschen Frage nach „the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge; together with the Grounds and Degrees of Belief, Opinion, and Assent“ (Essay, 43,13) zu verstehen. Bezeichnenderweise sprach Kant seinerseits Locke das Verdienst zu, „eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes“ erbracht zu haben (AA IV, 8,13). Auf eine solche Absicht hat man nun auch das kantische Unternehmen verkürzt – rücksichtslos gegen die einschränkende Bemerkung: „Der berühmte Locke hatte aus Ermangelung dieser Betrachtung“ – nämlich der Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrungen –, „und weil er reine Begriffe des Verstandes in der Erfahrung antraf, sie auch von der Erfahrung abgeleitet“ (AA III, 105,18). Wer im heutigen Auslegungsbetrieb möchte solcher Ableitung noch widerstehen? Und weshalb mußte dies Kant? Anders als Locke eröffnet er seine Philosophie nicht mit einem Blick auf das Denken, sondern auf die Bestimmung, unter der es steht. Was heißt das? Darüber hat sich Kant selber im Schlußteil der Kritik der reinen Vernunft aufs deutlichste ausgesprochen: „Die Endabsicht, worauf die Speculation der Vernunft im transscen-

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dentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes“ (518,29). Hören wir sorgfältig hin: „Speculation der Vernunft“. Man ahnt leicht, daß der heutige Betrieb um Kant keine Neigung zeigt, dieses Wort zu Gehör zu bringen. Schon der Name ,Speculation‘ ist in Verruf gekommen und erst recht das, was er sagt. Anders als der Verstand ist die philosophische Vernunft in dem Sinne eine spekulative gewesen, daß sie spiegelnd mit sich selbst, mit der Aufhellung ihres Vermögens und der entsprechenden Aufgaben beschäftigt war. Und Kant verschärft diesen Sachverhalt dahin, daß er sagt: sie „kann auch kein anderes Geschäfte haben“ (448,22). Bei der selbstverständlich gewordenen Instrumentalisierung der Vernunft geht dieses Wort nicht nur schlecht, sondern garnicht ins Ohr; und so unterschlägt man es lieber. Was in der Beschäftigung der reinen Vernunft mit sich selbst Gegenstand wird, das ist, wie gesagt, die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Gegen eine heute selbstverständlich gewordene Erwartung wird hier das Ich nicht erwähnt. Im Zusammenhang mit der reinen Vernunft erübrigt sich dies, weil nämlich deren Reinheit zuvor den reinen Verstand beanspruchte, um der Vernunft zuliebe die strenge Unterscheidung des rein Gedachten vom empirisch Gedachten und so auch vom empirischen Ich, wie es Locke und dessen Gefolge beschäftigt hatte, geltend zu machen. In Abhebung davon ist denn auch die Rede von einem transzendentalen Gebrauch der Vernunft zu hören. Gemeint ist hier ein „Überstieg“ nicht zu einem jenseitigen Gegenstand, sondern zu einer das Vorstellen selbst verjenseitigenden Verfahrensweise, die nämlich „unsere Erkenntnißart von Gegenständen“ (43,18) betrifft und deshalb „unsere Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt“ (AA IV, 23,10). Noch einmal: Die betreffende Untersuchung Kants diente der Klärung der besagten Gegenstände und dies in Anerkennung der „unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst“, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (AA III, 31,6). Dem ging die Versicherung voraus: „gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir der Wichtigkeit nach für weit vorzüglicher und ihre Endabsicht für viel erhabener halten als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir sogar auf die Gefahr zu irren eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten.“ (30,29) Nun – bei allem Betrieb um Kant herum, sind sie längst aufgegeben. Oder wer ließe sich die betreffenden Untersuchungen noch angelegen sein? Wenn sie aber kein Anliegen sind, was hat einer dann – gleichgültig gegen die besagte unvermeidliche Aufgabe der reinen Vernunft – noch mit Kant zu schaffen? Kennen die Heutigen überhaupt noch so etwas wie eine Vernunft-Aufgabe? Sie kennen statt dessen etwas ganz anderes – nämlich das sog. puzzle-solving, welches der Philosophie-Betrieb den positiven Wissenschaften ab-

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geguckt hat. Wer hat da nicht an dem sein Genüge, „was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann“? Es gibt da eine geheuchelte Bescheidenheit, welche in der Behauptung von Plausibilität, will sagen: Beifallsfähigkeit, deutlicher: in ihrer Sucht nach Beifall durchaus unbescheiden ist. Der Verstand, mit dem man heute die „Analytik der reinen Vernunft“ erforscht, ist nur noch dem Namen nach derselbe wie der kantische. In Wahrheit selbig wäre er nur nach Maßgabe einer selben Vernunft und so auch einer selben Vernunft-Absicht. Davon kann aber bei den Ausbeutern des kantischen Gedankens, die ihn zu einem historischen Material umfunktionieren, keine Rede sein. Warum wohl können sie ihn nicht in Ruhe lassen und sich entsprechend ihren ,systematischen‘ Prätentionen allein ihrem eigenen Forschungsgegenstand widmen? Wozu – anders als in den positiven Wissenschaften – die Einmischung der Alten? Um es zu wiederholen: Der Verstand, von dem Kant redet, kann schon seiner ihm von der Vernunft zugewiesenen Aufgabe nach nicht derselbe sein wie der von seinen heutigen Auslegern beanspruchte. Sogar die von ihm gedachte Sinnlichkeit ist von der heutzutage selbstverständlichen radikal verschieden, weshalb denn auch das heutige Räsonnieren um Raum und Zeit nur scheinbar eine kantische Fragestellung aufnimmt. Warum ist es wohl gang und gäbe, den betreffenden Unterschied mit der Fiktion thematischer Continuität zu verschleiern? Kant selber hat in Kenntnis des sich endlos dahinwälzenden Betriebs eine Antwort gegeben und zwar mit der Erinnerung an die sov¸a, welche der Name ,Philosophie‘ immer noch zu Gehör bringen möchte. Er bemerkt: „Nach Weisheit frägt niemand, weil sie die Wissenschaft, die ein Werkzeug der Eitelkeit ist, sehr ins Enge bringt“ (AA XVI, 66,13) – in die Enge der Angst. In solcher Wissenschaft waltet nämlich, so seltsam sich das anhört, die Angst vor dem Denken. In der Tat gibt es sogar eine Rationalität, die sich aus Angst vor dem Denken konstituiert. Warum wohl? Heidegger hat geantwortet: aus der Angst vor der Angst,1 wie sie eine moderne Erfahrung sein muß. Eine Behauptung, die zwar nicht unmittelbar verständlich ist, aber zu denken gibt. Zurück zur Kritik der reinen Vernunft, die nämlich Anlaß gibt, vom Denken mit Unterscheidung zu reden. Zurück zu ihrer eigentlichen und klar vorgetragenen Aufgabe, welche in der Freiheit des Willens, der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes liegt. „In Ansehung aller drei ist das bloß speculative Interesse der Vernunft nur sehr gering, und in Absicht auf dasselbe würde wohl schwerlich eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transscendentaler Nachforschung übernommen werden, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber zu machen sein möchten, doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d. i. in der Naturforschung, keinen Nutzen bewiese.“ (AA III, 518,32) Die Naturforschung bleibt die Aufgabe des Verstandes unter der Maßgabe der theoretischen Vernunft.

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§ 40.

Vgl. Heidegger: Holzwege, 246; Wegmarken, 305 [103]; GA 67, 252; s. a. Sein und Zeit,

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„Wenn demnach die drei Cardinalsätze“ – Freiheit, Unsterblichkeit und Gott betreffend – „uns zum Wissen gar nicht nöthig sind, und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen“ (519,34). ,Eigentlich nur‘ – achten wir darauf: Kant sagt nicht ,bloß‘, was nämlich den hier waltenden Vorzug des Praktischen verstellen würde. Er schickt sogleich die Erläuterung nach: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (520,1) Genau hier kommt die Vernunft, welche für den Verstand und seine Methode nur erst regulative Bedeutung hat, in ihr eigenes Reich, wo sie nämlich gesetzgebend ist. Wer – sie? Nicht bloß die Vernunft überhaupt, sondern jene, die wir zu der unsrigen gemacht haben; sind wir doch frei, die Freiheit als die unsrige zu wollen. Aber ist sie das nicht immer schon? So wenig wie die Vernunft. Aber ist nicht auch sie immer schon die unsere? Doch wie bedürfte es dann noch einer Empfehlung? Die Vernunft ist ebenso wie die Freiheit eine leere Möglichkeit, wenn sie nicht eigens realisiert wird. Das vielberufene Vernunft-Vermögen zu haben, besagt für sich genommen garnichts – jedenfalls nicht in der geschichtlichen Epoche, mit der wir es zu tun haben. Die erste Regung der Vernunft wie auch der Freiheit ist die Erfahrung ihres Fehlens. Nur Sonntags-Schwätzer berufen sich auf die Habe der Vernunft. Kant hat es schon sprachlich angezeigt: Mit der VernunftBegabung wird es erst dort ernst, wo sich ein Mensch als jemand erweist, der Vernunft ist und also Person. Will sagen: jemand, in dem sich die Vernunft als gesetzgebend erweist und zwar in einer Selbstgesetzgebung, welche die strenge Allgemeinheit der Vernunft als des reinen Begriffs erfüllt. Um sich von dieser Rede nicht abschrecken zu lassen, sei näher hingehört. Sie sagt: Die Vernunft ist ebensowenig wie die Freiheit etwas unmittelbar Gegebenes. Sie ist ein Gesetztes, dies aber nie und nimmer ohne die Unterscheidung dessen, der das Gesetz gibt, und dessen, der sich ihm unterwirft – überhaupt erst daraufhin von der Würde des ,Subjekts‘ ist. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Bedeutung dieses Namens unter den Heutigen einen widerwärtigen Ton annehmen mußte, dem sich auch die weitschweifigste Gelehrsamkeit nicht zu entziehen vermag; denn, wie es scheint, steht der Name ,Subjekt‘ zum einen für die Anmaßlichkeit des Ich, zum anderen aber für die Unterwerfung unter eine fremde Gewalt. Historisch gesehen, scheint diese Rede eben jener Verständigkeit zu entstammen, welche Locke für die Frühe Neuzeit erschlossen hat. Sie verschleiert sich die Vorgängigkeit der Vernunft im Schein ihrer eigenen unmittelbaren und vielseitig bewährten Gegebenheit. Kennt man doch, wie gesagt, keine Vernunft, die nicht aus der Erfahrung zu erklären wäre, kennt also auch keine Gesetzgebung, die, aus reiner Vernunft gewollt, in ihrer Verbindlichkeit von der Erfahrung unabhängig wäre. Um hier noch einmal in das aus Kant Zitierte zurückzuhören: Die besagten drei „Cardinalsätze“ – ,kardinal‘ deshalb, weil sie die cardo, die Angel sind, um die sich alles dreht – werden „uns durch unsere Vernunft dringend empfohlen“ (519,35). Da wird unterstellt: Wir Menschen und unsere Vernunft sind nicht einerlei. Eine Empfehlung ergeht an uns, aus der wir Verständigen überhaupt erst Vernunft an-

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nehmen – oder auch nicht. Wohlgemerkt handelt es sich hier, nämlich bei der Fassung des Vernünftigen, um etwas, das als Empfehlung und nicht als Befehl an uns kommt – will sagen: nach Maßgabe der Freiheit. Die „Vernunftkünstler“ (542,36) dagegen – wie Kant sie nennt – lechzen auch noch in der Beschäftigung mit dem Vernünftigen nach Notwendigkeit, genauer: nach Zwang, und finden deshalb, was da gesagt und gewiesen ist, nämlich die Weisung des Sitten-Gesetzes, nicht zwingend. Allenthalben urteilt der aus seinem Unterschied zur Vernunft entlassene Verstand: Was Kant für vernünftig ausgegeben hat, ist nicht zwingend – statt sich erst einmal zu fragen: Wie dürfte das, wovon hier die Rede ist, zwingend sein, ohne sich selbst, nämlich seinem freiheitlichen Wesen, zu widersprechen? Das zu Freiheit, Unsterblichkeit und Gott Gesagte, dieses durch Vernunft Empfohlene, darf doch keineswegs als etwas den Verstand Nötigendes auftreten. Daß die Notwendigkeit der Vernunft eine andere als die des Verstandes ist, davon zeigt der Betrieb keine Ahnung. Auch vor den Ideen, nämlich vor den reinen Vernunft-Begriffen, muß er aus der Gewohnheit der Selbstverständigung des Verstandes fragen: Wo bleibt die Notwendigkeit? Gemeint ist: Was zwingt zu der betreffenden Annahme? So ergreift der Verstand auf eine geradezu perverse Weise den kantischen Gedanken, indem er die Einsicht in die theoretische Widersprüchlichkeit des Begriffs von der unsterblichen Seele, der geschaffenen oder ungeschaffenen Welt, der Existenz Gottes geradezu als Erleichterung von eben diesen Vernunft-Aufgaben begrüßt, mehr noch: als Anlaß, ihre kantische Transformation im Sinne der notwendig vorauszusetzenden Freiheit beiseite zu schieben. Wohlgemerkt zwingt auch zu dieser Voraussetzung garnichts, wohl aber nötigt hier die Achtung der Person für sich selbst als Gesetzgeber. Und sogleich sei eingestanden, daß diese Achtung sehr wohl verloren werden oder überhaupt ausbleiben kann. Der Betrieb kennt keinen Gedanken, der einen Unterschied im Ganzen und als solcher einen Anfang macht; denn sein Element ist das historische Continuum. Da kann nie die Freiheit unter dem Gesetz der Philosophie bezeugt werden. Der Verstand sieht statt ihrer Anfänge immer nur Veränderungen; und aus eben solcher Wahrnehmung stellt er sich eine Geschichte vor – eine Geschichte von Ursache und Wirkung, von Einflüssen und Anregungen. In solcher – wie man heute sagt – Wirkungsgeschichte nimmt der Verstand immer nur Seinesgleichen wahr, verhehlt sich die regulative Bedeutung der Vernunft, welche überall Totalitäten denkt. Solche Wahrnehmung, die für alle Historie der Moderne konstitutiv ist, muß erst recht den Untergang, genauer: das Verschieden-sein des kantischen Gedankens verschleiern. Ihm begegnend, kommt der bloße Verstand nie zu der Einsicht, daß die Entkräftung der Vernunft-Setzungen „Freiheit, Unsterblichkeit, Gott“ gerade das Vollbracht-sein der betreffenden Vernunft-Aufgabe bezeugt. Solches will rein gedacht und nicht bloß wahrgenommen sein. Es ist ein Leichtes wahrzunehmen, daß diese reinen Begriffe für die Heutigen gegenstandslos geworden sind – wohlgemerkt: auch noch die Freiheit in principieller

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Bedeutung. Das ist – wie man sich richtig ausdrückt – mit Händen zu greifen, allerdings mit den Händen dessen, was man als seinen Kopf kennt. Schwerer ist es schon – unbeeindruckt von dem gängigen Materialismus-Klischee – die Einsicht Marxens zu durchdringen, daß die Freiheit der setzenden Vernunft nicht diejenige sein kann, die der Lohnarbeiter oder aber sein Parasit meinen muß – der Lohnarbeiter, wie er geschichtliches Resultat der Produktions-Verhältnisse ist. Er trägt nämlich genau diese Geschichte am eigenen Leibe zu deren letzter Umwälzung aus. Als solcher ist er abgründig geschieden vom philosophisch gedachten Subjekt der Entwicklung des Begriffs und näher der Bildung, aus welcher die freie Persönlichkeit der Letzten Epoche unserer Geschichte und mit ihr der Geist der Kunst, der Religion, der Philosophie hervorgetreten ist. So im Werke Hegels, mit dem letzten Vollbringen des kantischen Anfangs im Denken der Letzten Epoche unserer Geschichte gedacht. Die Persönlichkeit des reinen Begriffs in der Konkretion des Geistes. Davon geschieden der sein produktives Wesen realisierende Mensch, wie er in unserer Welt, nämlich in der Moderne nach Maßgabe des Kapitals der Lohnarbeiter sein muß. Vor der Enteignung seiner Arbeitskraft verschwindet jeder Gedanke an die Freiheit in absoluter Bedeutung, an die ihrem Subjekt wesentliche Selbstbestimmung. So scheint es. So hat es geschienen, und dieser Schein stößt uns endlich in unsere Gegenwart, außerhalb derer jede Erinnerung an Kant zu einer leerlaufenden Gelehrsamkeit verkommt – leerlaufend, weil ohne Klarheit über die gegenwärtige Aufgabe des Denkens, wie sie sehr wohl von den selbstgemachten Problemen des sich endlos weiterwälzenden Betriebs unterschieden sein will. Die erste Unterscheidung, welche für unsere Gegenwart geltend zu machen ist, betrifft ihre Trennung von der Moderne – angezeigt in der Rede von ,Postmoderne‘, wie undeutlich die sich darin aussprechende Erfahrung immer sein mag. Denkerisch wird diese Trennung an dem Gedanken Merleau-Pontys greifbar, der allerdings eher durch seine Nachbarschaft zu Sartre bekannt geworden ist. Noch einmal: Die Bekanntheit eines Philosophie-Lehrers ist für uns kein Kriterium, seinen Gedanken aufzunehmen. Um hier nur an das vormalige Bereden von Jaspers zu erinnern. Schon heute wird merklich: Er ist von verschwindender Bedeutung – anders als Heidegger. Dies läßt an die Härte des Vernunft-Urteils denken, demzufolge nur der Gedanke zählt, der einen Unterschied im Ganzen macht. Der die Bestimmung erfüllt, für seine Gegenwart die Sache des Denkens ins Reine zu bringen. Inwiefern nun gerade der Gedanke Merleau-Pontys einen solchen Unterschied macht, kann hier vorläufig offen bleiben. Nur soviel sei sogleich nachgetragen, daß dieser Gedanke nicht für sich gewürdigt werden kann, sondern nur im Verband mit seinen Nachbarn – nämlich den Positionen Foucaults und Derridas – das Ganze der Gegenwart erschließt, auf die hin der Gedanke Kants und seiner Nachfolger diesseits aller Willkür historischen Vergegenwärtigens beachtet und sogar geachtet sein will. Dies verbürgt nie und nimmer die historische Beschäftigung mit ihm – am allerwenigsten, wenn sie darin sog. ,systematischen‘ Prätentionen folgt.

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Merleau-Ponty trennt sich nicht nur von der philosophischen Tradition, wie sie ihm vor allem als die cartesische und kantische begegnet ist, sondern auch von jener Besinnung der Moderne, die ihm in weltlicher und nicht in geschichtlicher Bedeutung naheging – nämlich von derjenigen Marxens. Die Trennung von ihm besagt erstlich: der marxische Gedanke war ihm – anders als den Frankfurter Mischköpfen – zum eigenen Ort geworden. Und der Abschied davon bringt die erste Ausprägung der Postmoderne – sagen wir genauer: der Submoderne – ans Licht. Diese Bezeichnung ist sprechender, weil sie nicht nur an den Durchbruch des gegenwärtigen Denkens zur Subkultur erinnert, sondern mehr noch dessen Stellung zu den Besinnungs-Gestalten der Moderne ausspricht. Für deren Kern, nämlich für Marx, Nietzsche und Heidegger gilt: da ist die Philosophie im strengen, durch die Tradition unterschiedenen und entschiedenen Sinne bereits verabschiedet. Da ist – was insbesondere ihre hier zu verdeutlichende Letzte Epoche anlangt – Freiheit, Gott und Unsterblichkeit kein Gegenstand mehr, der das innerste Anliegen der Vernunft auf sich versammeln würde. Denn die Freiheit in principieller Bedeutung erscheint hier gebrochen. Nicht verwehrt und demzuvor entzogen, wie das Rousseau, der entscheidende Anreger Kants, gesehen hatte, sondern übersetzt in die Gesellschaft, will sagen: die Produktions-Verhältnisse. Freiheit in ihnen erscheint als die Willkür der Produzenten jenseits der Grundlage, welche die notwendige Produktion für die sog. materiellen Bedürfnisse erbringt. Diese Sammlung auf das produktive Menschenwesen wird von Merleau-Ponty eigens aufgegeben. Was diese erste Artikulation des submodernen Menschen auszeichnet, ist dies: aus dem Horizont der Welt in die eigentümliche Sphäre der Sprache einzurücken. Weshalb dies hier erwähnen, wo es doch um die Philosophie der Letzten Epoche unserer Geschichte und näher um deren zentrale Phase gehen soll, wie Kant sie eröffnet hat? Sogleich muß der Täuschung widersprochen werden, ihr Gedanke und sein Freiheits-Princip sei den Heutigen ohne weiteres zugänglich, wo sie doch so viel von Freiheit und der in ihr fundierten Menschenwürde reden, sich sogar darauf berufen. Da waltet der Schein einer Gegenwart, die doch bloß das Produkt eines Vergegenwärtigens und Vorstellens ist, welche das Fehlen der Sache selbst verschleiert – dies umso nachhaltiger, als der Unterschied der Freiheit, wie sie gerade keine Sache, sondern nur die Bestimmung der Sache des Denkens sein kann, in die Gedankenlosigkeit entfallen muß. Das Freiheits-Princip der besagten Epoche bleibt unzugänglich, wenn nicht eigens auf den Widerstand geachtet wird, mit dem die Heutigen ihm begegnen müssen. Um hier nur ein kantisches Stichwort zu geben, nämlich die Pflicht und ihre Heiligkeit, will sagen: dessen, wozu sie verbindet. Sticht dieses Wort noch? Nein. Schon in der Moderne, schon in ihrer marxischen Besinnung nicht mehr. In der Submoderne schon garnicht, weil sie auch noch deren tragenden Gedanken hat entfallen lassen, in dem eine Beziehung auf die Philosophie, will sagen: auf die Liebe zur Weisheit und also mittelbar auf die Weisheit selbst gewahrt bleibt und zwar in dem marxischen Gedanken einer notwendigen Unterscheidung des Menschen von

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sich selbst – wofern er wesentlich, weil seinem Produzieren nach der gesellschaftliche Mensch ist: in dem Gedanken der notwendigen Verabschiedung der kapitalistischen Produktionsweise durch die kommunistische. Eben diese Notwendigkeit hat auf entscheidende Weise Merleau-Ponty für die Submodernen verabschiedet. Mit der gehörigen Verzögerung ist denn auch dieser Abschied zur Welt gekommen. Mit der für die Submoderne charakteristischen Tilgung des Gedankens an eine Unterscheidung des Menschen von sich selbst ist auch noch die Erinnerung an das, was die philosophische Vernunft in jeder ihrer Epochen bewegt hat, trotz aller historischen Vergegenwärtigung der kantischen, der fichteschen und der hegelschen Ansichten entschwunden. Wie aber konnte die betreffende philosophische Wissenschaft zum Status von Ansichten herabgesetzt werden? Aus der völligen Fremdheit gegenüber dem, was sie als Gewißheit gekannt hat. Und welche war das? Schon die Moderne hatte in Marx geantwortet: eine Gewißheit cartesischer Herkunft und also fixiert auf das Bewußtsein, wie es sich als das Verhältnis des Ich und eines ihm äußeren, weil seiner Geistigkeit äußeren Gegenstandes versteht. Solches Bewußtsein verdrängt die Vorgängigkeit des Seins, wie es das des Menschen in der Produktion für seine materiellen Bedürfnisse ist. Ein Bewußtsein, welches sich insbesondere den Charakter der Ware als geronnene Arbeitskraft verschleiern muß. Die betreffende Entschleierung ist nicht mehr das Anliegen des submodernen Denkens. Schon deshalb nicht, weil seine Sphäre die der Sprache und nicht mehr die der Welt ist. Welche Sprache? Nicht die des Warenwerts, sondern die des jeweils Anderen, wie er in – so Merleau-Ponty – „fleischlicher“ Konkretion begegnet und mehr noch: andere begegnen läßt. Körper im Modus des Ansprechens, ob nun anziehend oder abstoßend. Erst aus dem Begegnen-lassen des jeweils Anderen nehme ich selbst Bestimmtheit an. Darin spricht sich nicht nur die Bestimmungskraft des Man, sondern näher: des Sozialen aus, wie es heute mit dem Anspruch auf Solidarität des Verhaltens hervortritt. In entschiedener Wendung gegen das, was man für den ,Egozentrismus‘ der Philosophie in der cartesischen Tradition ausgibt. Die Abneigung gegen sie setzt sich im heutigen Philosophie-Betrieb auch noch und gerade dort durch, wo man sie immer noch nutzen möchte. Noch einmal: Die Philosophie der Letzten Epoche unserer Geschichte wird nur dort zum wahren Gegenstand, wo sie als Widerstand oder in ihrer Widerständigkeit gegen den Zugriff der Heutigen erfahren wird. Dazu ist nicht zuletzt erfordert, die submoderne Fiktion des Egozentrismus dieser Philosophie zu tilgen. Wo ist unter den Heutigen eine Spur des Bewußtseins davon zu finden, daß das betreffende Ich mit Unterscheidung gedacht sein will? Gegen alle unmittelbare Verständlichkeit in der Rede von ,Ich‘ – auch noch dort, wo die Heutigen es vom Anderen her verstanden wissen wollen – bemerkt Fichte: „Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“ (GA I/2, 326,27 [I, 175 Anm.]) Ob ihm wohl entgangen sein kann, daß jedes kleine Kind ohne Umstände ,Ich‘ sagt – in Trennung vom zuvor vorgestellten Es? Merkwürdig ist nur,

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wie der Diskussions-Betrieb um den Egozentrismus der neuzeitlichen Philosophie schon garnicht mehr hinhört, wenn Fichte von seinen Zeitgenossen sagt: „Ihr Ich in dem Sinne, in welchem sie das Wort nehmen, d. h. ihre individuelle Person, ist der letzte Zweck ihres Handelns, sonach auch die Gränze ihres deutlichen Denkens.“ (GA I/4, 257,20 [I, 505]) Zwischenfrage: Welchen Unterschied macht es da, wenn die Submoderne die Stelle des Ich für den Anderen als den Ersten räumt? Man möchte meinen: keinen, weil dieser Andere sich immer noch aus der Gattung ,Mensch‘ versteht, genauer: verstehen lernt. Also mitsamt dem Ich unter ein Selbes subsumiert wird. Doch dies scheint nur so. In Wahrheit macht sich da sehr wohl ein Unterschied geltend und zwar derart, daß auch noch die Unterschiedslosigkeit zum Tier ihre Anstößigkeit verloren hat – und zwar in Rücksicht auf einen nicht bloß deskriptiven, sondern wesentlichen Unterschied, nämlich jenen, den traditionell die rationalitas ausmachte. Dieser Unterschied wurde noch in der Moderne von Marx festgehalten – wo nicht auf den Menschen als Vernunftwesen hin, so doch auf den Menschen hin, wie er sich in der Geschichte seiner Produktionsweisen selber produziert. Erst das Denken der Submoderne läßt auch noch diesen Unterscheidungsgrund entfallen. Nicht der Mitarbeiter in der gesellschaftlichen Produktion, sondern der kommunikative Mitmensch unter der Bestimmung des ,Sozialen‘ ist die letzte Gestalt des Menschen, dem das Ich in principieller Bedeutung zu einem Reizwort geworden ist. Was bedeutet es da schon, wenn der zeitgenössische sprachanalytische Betrieb sich unter dem Titel einer „Philosophie des Geistes“, redlicher: der philosophy of mind an der grammatikalischen Kategorie des Ich einen Anhalt findet, um von ihm her in der Psychologie zu dilettieren? Welcher Kümmerling von Ich! Wie abgründig geschieden auch noch von dem gleichgültigen Ich, welches Fichte in dem erwähnten Zusammenhang anspricht. Da heißt es von ihm als individueller Person: sie „ist ihnen die einzige wahre Substanz, und die Vernunft ist davon nur ein Accidens. Ihre Person ist nicht da, als ein besondrer Ausdruck der Vernunft; sondern – die Vernunft ist da, um dieser Person durch die Welt durchzuhelfen, und wenn die letztere nur ohne Vernunft sich eben so wohl befinden könnte, so könnten wir der Vernunft entbehren, und es würde dann gar keine Vernunft geben.“ (GA I/4, 257,22 [I, 505]) Diese ihre vollständige Instrumentalisierung wird dann auch noch tunlichst verdeckt durch den synonymen Gebrauch von Vernunft und Verstand. Was verschwindet da? Die Vernunft, wie sie in der Geschichte der Philosophie als das – so Kant – „Vermögen der Prinzipien“ galt. Keine Principien, weil keine Herrschaft. Das ist der einheitliche Ruf des submodernen Denkens. Wie man auch dazu stehen mag: die Achtung für das vormals Gedachte verlangt, gegen alles historische Continuieren den Abgrund sichtbar zu machen, der das Denken der letzten Philosophie-Epoche von demjenigen der Gegenwart trennt. Darin liegt: das Gedachte will in der ihm wesentlichen Reinheit seines eigenen Grundes gewürdigt werden. Doch ist dies kein bloß antiquarisches oder restauratives

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Anliegen? Wenn denn die besagte Kluft gelten soll, was geht uns dann noch die betreffende Epoche des Denkens und mehr noch: eben jenes Ganze an, das die Geschichte der Philosophie ist? Eben dies soll durch unsere Vorlesung deutlich werden und deshalb war es auch unerläßlich, schon zu Anfang auf die Geschlossenheit dieser Geschichte, auf ihre Abgeschiedenheit von unserer Welt und sogar auf deren eigene Geschlossenheit aufmerksam zu machen, sofern sie nämlich das Gebilde einer Besinnung ist. Nur auf diese Moderne hin versteht sich das Diesseits der Gegenwart, in dem unser Ausblick auf die Philosophie, auf ihre Letzte Epoche angesiedelt ist. Kant – Fichte – abschließend Hegel. Lassen wir für jetzt den Einfall beiseite, welcher fragt: wo bleiben Hume, Jacobi und Schelling? Achten wir allem zuvor – so verlangt es unsere Gegenwart – auf die Abgeschiedenheit eines Denkens, das angesichts der Freiheit vor der Aufgabe des entsprechenden Concipierens stand und in Wahrung der dafür erforderlichen Reinheit der Vernunft unmöglich zu dem schellingschen Resultat einer „positiven“ Philosophie finden konnte, deren positum eben jene Sache blieb, welche in der Genese der göttlichen Substanz zu sehen ist – in ihrer Geschichte, einer Geschichte, die nicht begreifend entwickelt, sondern erzählt sein will. Zwar nicht als Mythos, wohl aber als Mythologie. Diese kann aber ihre Herkunft aus der Erfahrung des Bewußtseins nicht verleugnen, deren Gegenstand schon für Hume die historischen und moralischen Tatsachen sind. Da bietet sich eine Philosophie an, die die landläufige Vorstellung von ihrem historischen Continuum duldet. So vermag denn auch die heutige philosophy of mind ohne Umstände an die humesche Lehre von den Erfahrungstatsachen anzuknüpfen. Der hegelsche Gedanke dagegen zeigt einen geschichtlichen Riß an und zwar in Vertiefung des kantischen und fichteschen. Wie entschieden sich die reine Vernunft hier von allem, was sie nicht selbst ist, losreißt, ist unmittelbar dem berüchtigten und immer wieder abgelehnten Wort zu entnehmen, das schon zu Hegels Zeiten aufreizend wirkte und noch von Heidegger als Anmaßung gehört wurde: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.

So gesagt in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (GW XIV, 14,16). Hegel bestätigt die grundlegende, für die Gewohnheit des Vorstellens grundstürzende Bedeutung dieses Wortes, indem er fortfährt: „in dieser Ueberzeugung steht jedes unbefangene Bewußtseyn, wie die Philosophie, und hievon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus, als des natürlichen.“ (14,18) Sogleich springt heraus: Das hier berufene unbefangene Bewußtsein kann nicht das unmittelbare oder das sinnliche sein; denn dem gilt steif und fest: Was vernünftig ist, das ist gerade nicht wirklich. Und was wirklich ist, das ist gerade nicht vernünftig. Diese insbesondere im Dunstkreis des Marxismus befestigte Selbstverständlichkeit kommt nicht dahin, die vermeinte Wirklichkeit von der vernünftigen des Begriffs zu unterscheiden; und so muß ihm entgehen, daß es bei gleichen Namen nicht von der selben Sache redet wie Hegel.

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Das Entscheidende ist aber auch hier die Gewalt, mit der sich da nicht bloß ein Mißverständnis breit macht, sondern das Draußen zu aller Philosophie. Dem ist keineswegs mit Berichtigungen beizukommen, sondern nur mit einer Verhaltenheit, die überall auf unsere Gegenwart hin die Unterschiede unter den und in den Totalitäten von Geschichte, Welt und Sprache anerkennt und würdigt. Das ist zumal für die Heutigen schlechthin ungewohnt. Mehr noch: gegen ihre Denk-Gewohnheiten.

II. Anders als die geisteswissenschaftliche Historie steht die Erörterung der Geschichte des abendländischen Denkens unter dem Gebot strenger Verhaltenheit oder der Epoché. Was heißt das? Darüber hat sich die hermeneutische Vernunft der Moderne, insbesondere ihr Dilthey, ausgesprochen. Ist doch seine Hermeneutik auf die Geschichte gesammelt. Allgemein gilt für diese Vernunft, welche das Concipieren der vormaligen Ersten Philosophie oder Metaphysik simuliert, dies: „Leben zeigen wie es ist, danach streben wir. Das Leben beschreiben, das ist unser Ziel“ (GS V, liv). Der Horizont dieses Lebens ist aber zunächst, was man als die Geschichte seiner Objektivationen kennt. Dilthey betont: „Das Neue an meiner Methode liegt in der Verknüpfung des Studiums des Menschen mit der Geschichte“ (l). War es denn nicht immer schon damit verknüpft? Offenbar nicht in dem Sinne, den Dilthey ins Auge faßt. Er liegt in der schon von Feuerbach angezeigten Wende des Vernunft-Interesses weg von der Theologie hin zur Anthropologie. Sie hat es mit der – wie er bemerkt – einen großen Tatsache zu tun, die das Menschengeschlecht ist. Genau sie ist denn auch in der Postmoderne zusammen mit der Hermeneutik von verschwindender Bedeutung. Die Beschäftigung mit dieser groß scheinenden Tatsache hat offenbar die Eigentümlichkeit, daß der Betrachter da überall mit sich selbst oder seinesgleichen beschäftigt ist und zwar in den Grenzen der Beschreibbarkeit, weil Erlebbarkeit seines Lebens. Eben diese Erlebbarkeit hat letztlich am Menschengeschlecht ihre Grenze. Bezeichnenderweise spricht Dilthey eben nicht vom Menschen überhaupt, wie er ihm von unsicherer, weil begriffloser Menschlichkeit vergangen ist – nämlich jenseits der besagten Tatsache. Zwischenfrage: Kann die der sov¸a überall wesentliche Unterscheidung des Menschen von sich erlebt werden? Im Horizont der kantischen Philosophie auf keinen Fall. Und das wäre eine Anzeige der hier behaupteten Unzugänglichkeit für die Erlebenden oder gar bloß Lebenden. Auf dem Boden der besagten Anthropologie fragt Dilthey für die Moderne zurecht: „Wer könnte leugnen, daß der im Leben begründete Sinn der Geschichte sich ebenso im Willen zur Macht, der die Staaten erfüllt, in dem Herrschaftsbedürfnis nach innen wie nach außen äußert, als in den Kultursystemen? Und ist nicht mit allem Brutalen, Furchtbaren, Zerstörenden, das in dem Willen zur Macht enthalten ist, mit allem Druck und Zwang, der in dem Verhältnis von Herrschaft und Gehorsam nach innen liegt, das Bewußtsein der Gemeinschaft, der Zusammengehörigkeit, die freudige Teilnahme an der Macht des politischen Ganzen verbunden, Erlebnisse,

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welche zu den höchsten menschlichen Werten gehören?“ (GS VII, 170) So spricht die Moderne. So hat sie keineswegs folgenlos gesprochen. Die Postmoderne führt eine andere Sprache – nicht weniger folgenreich und von eher verborgener Gewalt in einer durch schrankenlose Kommunikation geprägten Menschheit. Inmitten einer Verödung auch noch des Erlebens. Weil seines Ich. Eben dies läßt aber auf eine neue Weise an die Verhaltenheit denken, auf welche noch innerhalb der Moderne Heidegger die Sprache gebracht hatte. Da wird sie wesentlich im Gegenhalt zum technischen Zugriff, zum Stellen und Herausfordern von jeglichem verstanden. Auch davon unterscheidet sich noch die entsprechende Stellung des gegenwärtigen Denkens, sofern es sich nämlich nicht scheut, auf eine verwandelte Weise technisch zu denken und zwar ,tektonisch‘ und dies im Umgang mit dem schon Gedachten – sei es dasjenige der Philosophie, sei es dasjenige der Besinnung, welche der Moderne eigen ist, sei es – davor kennt es keine Berührungsangst – dasjenige des submodernen und postmodernen Denkens. Worin bekundet sich aber die Verhaltenheit des bauenden und also auf eine bestimmte Weise zugreifenden Denkens? Der hermeneutische Umgang mit dem Gedachten kann und will es nicht sich selbst, deutlicher: seinem Selbst überlassen. Der intentionale Grundzug des dort berufenen Lebens verbietet das. Er untersagt das Lassen. Dies gilt aber für die Denkart der Submoderne a fortiori. Sie verlangt allenthalben den Nachweis der Relevanz eines Gedankens für die Heutigen, des Näheren den Nachweis seiner gesellschaftlichen Relevanz. Und was könnte da relevanter sein als die Gewalt-Verhältnisse in eben dieser Gesellschaft? Eben daraufhin nimmt alles Denken eine instrumentale Bedeutung an. Wie ist gegenwärtig der Instrumentalisierung des Denkens zu begegnen, die bereits der besagten Hermeneutik anzusehen ist? Am allerwenigsten in der landläufig gewordenen Manier, sich mit den sog. Technik-Folgen zu beschäftigen. Legt sich hier etwa ein Rückgriff auf die Metaphysik nahe, auf die ihrem Wissen eigentümliche Freiheit, welche besagt: das Wissen der Ersten Philosophie ist um seiner selbst willen da? Es ist – mit einem Worte Kants – Selbstzweck. Wie aber wäre ein solches Selbstverständnis des Wissens – die realisierte Freiheit der Freien – unter den Bedingungen der Moderne und erst recht der Submoderne und Postmoderne zu retten? Und warum überhaupt? Die Freiheit im Sinne des erfüllten Selbstzwecks – und das ist die Freiheit des kantischen, des fichteschen Princips und so auch dessen, was „die Persönlichkeit“ sein mußte – ist dahin. Das ist so leicht gesagt wie jede Gedankenlosigkeit. Was heißt denn: ,ist dahin‘? Muß hier nicht gefragt werden: Wohin? Doch nicht in das leere Nichts einer bloßen Redensart verschwunden. Was wäre denn der Ort des Verschieden-seins? Die alte Antwort lautete: die Unterwelt. Aber ist diese Antwort noch denkwürdig? Der Moderne nicht – nicht einmal für Heidegger, der doch wie kein anderer unter den Modernen den Tod in seiner Bedeutung für das Da-sein bedacht hat. Im Ausgang von der Erfahrung des Verdrängens hat aber die Postmoderne einen der Unterwelt entsprechenden Raum zur Sprache gebracht – nämlich das

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Unbewußte, seine Verschließungs- und Verstellungs-Mechanismen. Erst hier wird das, was die Unterwelt dem Denken gewesen ist, vollständig verdrängt. Herkommend aus der Besinnung der Moderne können wir antworten: Die Unterwelt ist die Geschichte unserer Welt und zwar im Modus der Abgeschiedenheit. Innerhalb der Moderne selbst zeigt er sich nur als der Vorgang des Verabschiedens der Geschichte des Denkens. Eine Verabschiedung, die allerdings dem Bedürfnis historischen Continuierens unerträglich ist. Es lebt bloß nach dem Gesetz der Selbsterhaltung. Die Abgeschiedenheit der besagten Geschichte von unserer Welt erreicht erst in unserer Gegenwart den Zustand der Gleichgültigkeit. Und zwar mit dem Absinken der Kern-Besinnung der Moderne, will sagen: der marxischen, nietzscheschen und heideggerschen Entzugs-Erfahrung im Menschenwesen. In dieser unserer Gegenwart findet sich der eigentliche Ort der Verhaltenheit. Sie läßt auch noch das der Moderne wesentliche Verhältnis des Abstoßes vom bisherigen Denken hinter sich, bedarf dessen nicht mehr, um das zu leisten, worauf es jetzt ankommt – eben jene Verhaltenheit zu gewinnen, welche das Gewesene des Denkens ohne Abstoß sein läßt und zwar in Anerkennung des von der Metaphysik, genauso von der Philosophie Vollbrachten. Will sagen: in Anerkennung des Erfüllt-seins ihrer conceptualen Aufgaben. Was heißt das? Rücksicht nehmen auf die aller Philosophie vorgängige sov¸a, nämlich auf das Wissen von der Bestimmung des Menschen, sich von sich zu unterscheiden. Diese Rücksicht hat die Philosophie in jeder ihrer Epochen derart geübt, daß sie die vorgegebene Weisheit in die Gestalt einer Wissenschaft mit der ihr eigentümlichen Frage nach den ersten Gründen und Ursachen aufgehoben hat. Wenn aber dieses Perfektum gilt, hat es keinen Sinn, mehr noch: ist es widersinnig, was die entsprechende Philosophie gewesen ist, fortsetzen zu wollen. Sie ist ein geschlossenes Gebilde. Seine Geschlossenheit hat Hegel eigens verdeutlicht und so haben sich denn auch alle Versuche, die Metaphysik fortzusetzen, im Leeren verlaufen. Im Leeren der Begrifflosigkeit von dem, was mit der abschließenden Tat Hegels geschehen ist. Ihm selber schien: die Philosophie als die Erste Wissenschaft ist vollendet – begreiflich aus dem Begriff, den sie von sich selbst, von sich als Geist erbracht hat, mehr noch: als absolutem Geist. Wieder ein Reizwort für die Moderne und nur noch bis zur Lächerlichkeit unverständlich in unserer Gegenwart. Eine Unverständlichkeit, welche auch die hermeneutische Behandlung des hegelschen Gedankens schon deshalb nicht zu überwinden vermag, weil sie mit ihrem diltheyschen Beginn bereits auf dem Boden eines Denkens steht, dem jener Geist eine Chimäre ist – was natürlich nicht hindert, über ihn auf gelehrte Weise zu reden. Von ihm als Beweis für die Anmaßlichkeit des metaphysischen Denkens. Noch einmal: Wir begegnen ihm in einer noch zu klärenden Verhaltenheit und lassen uns daher sagen: das Absolute als Geist ausgesprochen; es ist „der erhabenste Begriff, und der der neuern Zeit und ihrer Religion angehört“ (GW IX, 22,5). Auch wenn die Rede von diesem Geist unmittelbar unverständlich sein muß – da sie aus der

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Sache selbst einer Entwicklung bedarf –, horchen wir doch auf, wenn es heißt, daß dieser Begriff der neueren Zeit und ihrer Religion angehört. Wir erwarten eine Unterscheidung ebenso der besagten Zeit von der älteren wie der besagten Religion. Und sogleich sei darauf aufmerksam gemacht, daß die Geschichte beider Seiten nur diesen einfachen Unterschied des älteren und des neueren Wissens kennt und dabei kein Mittleres Alter. So muß es sein, wenn nach dem hegelschen Begriff und nicht nach der Gewohnheit einer continuierenden Historie geurteilt wird. Mit welcher Härte sich das Denken der neueren Zeit behauptet, wird hörbar, wenn Hegel fortfährt: „Das Geistige allein ist das Wirkliche“ (22,6). Darin spricht sich den Heutigen die abweisende Fremdheit eines Gedankens aus, der keine gelehrte Anbiederung verträgt. Er ist das Herzstück des Denkens der Epoche, mit der wir es hier zu tun haben. Jede Verschleierung seiner Anstößigkeit entwürdigt ihn und verkennt eben jene Freiheit in absoluter Bedeutung, der wir bereits bei Kant begegneten. Das Geistige allein ist das Wirkliche. Ein Jahrzehnt später wird Hegel diesen Gedanken und das in ihm liegende Anerkennen zu dem bereits zitierten Distichon zuspitzen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Die Heutigen haben darin eine empörende Affirmation der sog. bestehenden Verhältnisse gesehen. Bar jeglicher Verhaltenheit haben sie sich wichtig getan mit der Anklage dieser Verhältnisse, ihrer durchgängigen Schlechtigkeit – und eben dies für einen Beweis ihrer Kritikfähigkeit genommen. Ohne erst einmal zu verhalten und sich zu fragen, ob sie überhaupt von derselben Sache reden wie Hegel. Dieser hatte schon selber – und zwar in der zweiten Ausgabe der Encyclopädie (§ 6) – nicht ohne Ironie bemerkt: „Diese einfachen Sätze haben Manchen auffallend geschienen und Anfeindung erfahren, und zwar selbst von solchen, welche Philosophie, und wohl ohnehin Religion zu besitzen, nicht in Abrede seyn wollen. Die Religion wird es unnöthig seyn, in dieser Beziehung anzuführen, da ihre Lehren von der göttlichen Weltregierung diese Sätze zu bestimmt aussprechen.“ (GW XIX, 32,9) Achten wir hier darauf: Hegel beruft sich auf die Vernunft der Weltregierung, nicht auf den Christus, welcher mit Luther und also mit der Früh-Phase der neueren Zeit als der gekreuzigte Christus zu denken ist. Er ist in dieser Bestimmtheit, wie das auch an Hölderlin deutlich werden soll, von verschwindender Bedeutung. Hegel fährt fort: „Was aber den philosophischen Sinn betrifft, so ist so viel Bildung vorauszusetzen, daß man wisse, nicht nur daß Gott wirklich, – daß er das Wirklichste, daß er allein wahrhaft wirklich ist, sondern auch in Ansehung des Formellen, daß überhaupt das Daseyn zum Theil Erscheinung, und nur zum Theil Wirklichkeit ist. Im gemeinen Leben nennt man etwa jeden Einfall, den Irrthum, das Böse und was auf diese Seite gehört, so wie jede noch so verkümmerte und vergängliche Existenz zufälligerweise eine Wirklichkeit. Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen; – das Zufällige ist eine Existenz, die keinen größern Werth als den eines Möglichen hat, die so gut nicht seyn kann, als sie ist. Wenn aber ich von Wirklichkeit gesprochen habe, so wäre von selbst daran zu denken, in

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welchem Sinne ich diesen Ausdruck gebrauche, da ich in einer ausführlichen Logik auch die Wirklichkeit abgehandelt und sie nicht nur sogleich von dem Zufälligen, was doch auch Existenz hat, sondern näher von Daseyn, Existenz und andern Bestimmungen genau unterschieden habe.“ (32,13) Die hier von Hegel vorausgesetzte Bildung hat schon in der Besinnung der Moderne keinen Ort mehr – nicht so sehr nach ihrem herkömmlichen Sinne, sondern in der epochal bestimmten Bedeutung, nach der sie eine Arbeit an sich selbst, will sagen: an dem je eigenen Bewußtsein ist und zwar gerade im Abarbeiten seiner Eigenheit zugunsten der bereits von Fichte angesprochenen Vernunft-Allgemeinheit. Ob da einer die Gewißheit, daß Gott wirklich sei, aus eben dieser Bildung – übrigens nicht aus einer kirchlichen Belehrung, aus deren sog. Katechismus – zieht oder ob er sich unmittelbar auf deren Standpunkt stellt, verschlägt hier nichts, sofern er nur in der Bildung seiner Epoche, eben der neueren, steht. Und also in der Gewißheit, welche derjenigen des lutherischen Glaubens als eine entgegentändlichte Gewißheit gleichkommt. Seine Entgegenständlichung ist nämlich die Bedingung dafür, die Wirklichkeit als die des Absoluten zu denken, welches „allein wahrhaft wirklich ist“. Anders als der Glaube der Alten Kirche ist der lutherische notwendigerweise dem Bild und seiner Gegenständlichkeit feindlich, weil diese eine von der Gewißheit verschiedene Wahrheit denken läßt. Eben deshalb ist denn auch die dem reformierten Denken eigentümliche Kunst-Gestalt nicht mehr die des Bildes, sondern die der Musik. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Bildlichkeit zu Beginn der besagten Neuzeit eine Sinnlichkeit bekundet, welche ihrerseits Vernunft angenommen hat und zwar diejenige des geometrischen und näher: des perspektivischen Sehens. Daß Gott allein wahrhaft wirklich ist, geht aber eigentlich erst dem Denken auf, welches sich auch noch von der Gegenständlichkeit des Absoluten in religiöser Bedeutung verabschieden mußte, um in seinen Grund als den rein formellen einzukehren und zwar in der Gestalt, welche ihm die Wissenschaft der Logik gibt. Erst aus ihr her wird sich mit aller Realität auch diejenige der Religion zeigen, deren wissenschaftliche, weil logische Gestalt die Realität der Philosophie selber ist. Erst die Verhaltenheit, welche die Besinnung der Moderne für uns hat aufgehen lassen, erlaubt eine anerkennende Würdigung dieses Vorgangs, nachdem das Princip der Letzten Epoche unserer Geschichte seine hegelsche Einzigkeit hat aufgeben und sich in die Gemeinschaft der drei unterschiedenen epochalen Principien hat schicken müssen. Diese Einsicht ist von grundlegender Wichtigkeit für die Einschätzung unserer Gegenwart nicht nur diesseits der Metaphysik, sondern auch noch diesseits der Moderne und ihrer Besinnungs-Gestalten. Um jedoch zunächst bei dem hegelschen Hinweis zu bleiben: Wenn da über die Theologie zum Formellen der Logik hinausgegangen wird, so wird ihr überhaupt erst dadurch ihre Fassung als Theologie gewonnen und zwar als eine solche, in der Kunst und Religion sich zur Wissenschaft der Philosophie vollenden müssen. Genau sie fordert, den Begriff des Daseins nach Erscheinung und Wirklichkeit zu unterscheiden – dies in Vollendung der kantischen Unterscheidung des Gegenstandes überhaupt in

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Ding an sich und Erscheinung. Nur in der Wissenschaft, welche die der Logik ist, eine von der Erscheinung unterschiedene Wirklichkeit zu begreifen und so das, was für Kant der alleinige Gegenstand der Erfahrung ist, auf die Seite „des Einfalls, des Irrthums und des Bösen“ zu setzen. Schon in der Moderne – dies war dem Wort Diltheys anzuhören – wird es unmöglich, das Böse, wie es in das Erleben fällt, als Unwirkliches zu denken. Sogar die Submoderne kennt noch – auch wo sie keinen Gott anerkennt – immer noch, wo nicht das Böse, so doch den Bösen. Jede „noch so verkümmerte und vergängliche Existenz“ – dieses Gegenwesen zum Vollkommenen – beansprucht unter den Heutigen eine Beachtung, welche gerade die Maßgabe des Vollkommenen auch noch in unserer Geschichte einschwärzt. Nicht von ungefähr, sondern in einer Lage der Dinge, welche unser Denken in die Verhaltenheit gegenüber einem Vollbrachten ruft, das nicht in der Unterwelt der Geschichte bleiben will. So in einem Aufbruch aus der Geltung des Zufälligen und was das Denken anlangt, aus dem Pluralismus der Einfälle. Doch eine solche Stellung des Gedankens verwandelt ihn nicht aus einem Gefühl des Unbehagens an den bestehenden Verhältnissen, sondern allein im Ausgehen der Aufgabe des gegenwärtigen Denkens – was nur in Kenntnis seiner Tektonik möglich ist. Wenn Hegel das Mögliche zu etwas herabsetzt, was ebensogut nicht sein kann – selbst dann, wenn es existiert –, so spricht sich darin die alte Lehre vom sog. Kontingenten aus. Und wieder hören wir von den Heutigen: die Aufgabe allen Lebens ist nichts weiter als Kontingenz-Bewältigung. Als dabei vorzugsweise einzusetzendes Mittel gilt ihnen die Religion – welche auch immer; denn sie scheint die Wirkung eines Placebo anzubieten. So geht es, wenn submodern auch noch die Entzugs-Erfahrung verwest, welche Nietzsche mit dem Wort „Gott ist tot“ zur Sprache brachte. Was er wiederum als den „letzten Menschen“ vorausgesehen hatte, macht sich in dieser äußersten Entwürdigung der instrumentalisierten Religion breit – bar jeder Rücksicht auf das, was sie gewesen ist. Eine Welt der Zufälle und also dessen, was ebensogut nicht sein kann. Und das ist letztlich der Denkende selbst. Sich selbst ist er als Submoderner nicht – weil er in grundlegender Bedeutung nicht er selbst, nicht von der dazu geforderten Identität ist. Und er ist nicht, weil er in einem für die cartesische Tradition unerfindlichen Sinne nicht denkt. Um hier nur ein Schlaglicht auf die Tradition der neuzeitlichen Philosophie zu werfen. Der erste Grundsatz der fichteschen Philosophie lautet: Ich bin Ich. Eben darin spricht sich für das zufällige Ich ein Imperativ zur Unterscheidung von sich aus. Er sagt: Ich soll Ich sein, will sagen: von der Allgemeinheit des Vernunftwesens. Was ich sein soll, kann ich nur werden, wenn ich es schon bin – allerdings noch unentwickelt, weshalb das Werden als ichliche Arbeit an mir selbst oder Bildung sein muß – mit Hegel weiter gedacht: die methodische Produktion des reinen Begriffs. Bedarf es hier noch eines Beweises für die principielle Fremdheit des Denkens, mit dem wir es in der Letzten Epoche zu tun haben? Wir verstehen selbst bei aller Gelehrsamkeit nichts von ihr, solange wir in historischer Manier nur Veränderungen des Gedachten wahrnehmen und nicht die epochalen Schube, die sich für

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das Denken im Vollbringen seiner immer wieder verschiedenen Aufgaben ergeben. Gewiß eine dunkle Rede, die sich aber an der Bewegung, in der sich die Epoche vervollständigt, aufhellen wird. Wenn Fichte weiß: Ich bin Ich, so weiß er eben darin: Ich bin frei – ich bin frei geworden und zwar aus eigener, aus freier Tätigkeit. Und die kann nur die Tätigkeit des Denkens sein. Welchen Denkens? Eines durch keinen äußeren Gegenstand zur Tätigkeit genötigten. In einem Erstaunen über sich selbst, will sagen: über die Menschheit des Menschen. Aus diesem anfänglichen und anfangenden Erstaunen lebt die Philosophie ihrer Letzten Epoche. Die Philosophie überhaupt? Nein. Wäre denn die Philosophie eine in sich unterschiedene? In der Tat. Nicht etwa im Sinne einzelner philosophischer Positionen, sondern im Sinne einer allerdings ganz und gar ungewohnten Unterscheidung der Vernunft selbst. Um sie von ihrer äußerlichen Seite aufzunehmen, nach der sie bislang allein bekannt ist. Nämlich in den Unterschieden der humeschen und kantischen, der jacobischen und fichteschen, der schellingschen und hegelschen Position. Alle diese kennt man als in einer ausschließenden Beziehung stehend. Doch der Grund dieser Eigentümlichkeit bleibt verborgen, weil man mit der Tradition dafürhält, daß die Vernunft nur eine sein kann. Dies hat eine gewisse Offensichtlichkeit für sich, aber nur so lange als die Vernunft im Sinne einer göttlichen Wirklichkeit beansprucht werden kann oder aber als ein Vermögen des Menschen, sofern er sich als animal rationale versteht. Beides ist aber im Denken der Gegenwart eine hohle Unterstellung, die allerdings nicht einmal durch den üblich gewordenen Abstoß des abendländischen Logozentrismus getilgt wird. An dieser Unterstellung endet die kritische Manier der Heutigen – selbst noch im Falle der Psychoanalyse. Zumal bei der Behauptung der Menschenrechte wird die Homogenität des sog. Rationalen festgehalten. Die Nützlichkeit dieser Unterstellung sei unbestritten. Ihre Wahrheit wäre aber etwas anderes. Wie wird sie zugänglich? In Verabschiedung jeder Vorstellung von einem Vernunft-Vermögen – zugunsten einer ratio, welche in nichts anderem als Verhältnissen bestimmter Termini besteht – solcher, die für einen sozusagen denkerischen Gedanken konstitutiv sind. Dazu bedarf es einer Trennung von der Technik des Kalküls in moderner Bestimmtheit und also von erstlich fregescher Prägung. Dies jedoch ohne jeden anti-technischen Affekt. Allerdings ist da eine Unterscheidung des technischen Denkens von ihm selbst erforderlich. Mit der Konstitution des logotektonischen Denkens werden alle Bemühungen um die Unterscheidung und erst recht um die Nicht-Unterscheidung des Menschen vom Tier ihrem heutigen Leerlauf überlassen. Was dies bedeutet, kann für jetzt dahingestellt bleiben. Gelöst von allen Psychologismen, weil in Verabschiedung der Vorstellung von einem Vernunft-Vermögen, lassen wir das Gedachte der Philosophie allenthalben nur noch in einer ratio terminorum begegnen. Deren Termini können wir vorläufig als das Denken, die Sache und die Bestimmung unterscheiden. Sie sind uns das Bauzeug zu den Figuren alles Gedachten des sog. denkerischen Denkens.

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Suchen wir für jetzt seine Architektonik im Kern-Bereich der besagten Letzten Epoche auf. Wie ist er nach seinen Figuren aus rationes zu begrenzen? Aus dem Princip, welches die Freiheit in absoluter Bedeutung ist. Eben sie macht innerhalb der Epoche einen Unterschied im Ganzen, trennt sie in eine Eröffnungs-Phase, die zum einen mit Hobbes, zum anderen mit Descartes beginnt, und eine Haupt-Phase, die Kant eröffnet. Dieser Unterscheidung greift aber im neuzeitlichen Denken eine andere vor. Denn der zwiefältige Beginn der Philosophie ist nicht schon der Beginn des dieser Epoche eigentümlichen Wissens. Der ist vielmehr in einer Kunst zu sehen, welche den Anspruch geltend macht, Wissenschaft zu sein, zum anderen aber in einer Religion, welche sich zu derjenigen des Gewissens herausarbeitet. Diese beiden Seiten vervollständigen sich aber um die Wissenschaft, welche ihren Gegenstand eigens von der Religion in christlicher Bestimmtheit trennt, um ihn als das Ganze der Natur zu verstehen, wie sie im Princip nicht mehr die Schöpfung ist. Wenn als ein Kunstwerk, so von der Künstlichkeit und Produktivität der Natur selbst. Die entsprechende Wissenschaft beginnt mit Bruno, um über Bacon hinaus mit Galilei ihre für die Epoche maßgebliche Gestalt anzunehmen. Eben daraufhin versteht sich nun auch das Recht, die Philosophie der Epoche wie üblich mit Descartes beginnen zu lassen. Philosophie im Sinne der Wirklichkeit jener Vernunft verstanden, welche Kant nach dem Gesagten mit sich selbst beschäftigt sieht. Doch erfüllt die vorkantische Denkart eben diese Bestimmung? Ja und Nein. Ja – sofern der Gegenstand überhaupt derjenige eines Bewußtseins ist. Nein – sofern der Gegenstand ein dem Bewußtsein äußerer ist. Sehen wir genauer hin: Der cartesische Gedanke bildet folgende ratio terminorum aus: erster Terminus ist das Denken selbst. Von ihm gilt: Es ist frei und behauptet seine Freiheit zuerst im strengen und deshalb methodischen Unterscheiden des Wahren vom Falschen und zwar mittels eines selbst noch freien, weil gewollten Zweifels – nach Maßgabe der Evidenz. Dementsprechend ist nun die erste Sache die unmittelbar evidente, nämlich der Denkende als seiender. Diese Sache ist aber zugleich die unterschiedene – bezogen auf eine solche von gegenteiligem Wesen: nicht geistig, sondern körperlich und zwar im Sinne ihrer Ausgedehntheit. Als solche Gegenstand der reinen Mathesis. Die Bestimmung aber, unter der diese unterschiedliche Sache steht, ist die natura generaliter spectata und zwar Gott als die Ursache ebenso der Vorstellungen wie der Sachen, auf die sie sich beziehen. Es ist nun leicht zu sehen, daß Spinoza diese Bestimmung unmittelbar aufnimmt, um von diesem Terminus her das Denken seinerseits zu bestimmen; und von diesem gilt dann erneut: es bestimmt sich seine Sache. Das Selbstverständnis des Denkens vollendet sich aber derart, daß dieser Terminus nicht nur in erster, nicht nur in mittlerer Position auftritt, sondern ebenfalls in abschließender und auf diese Weise die Abfolge von rationes zu einer Figur vervollständigt. Eben dies ist das Verdienst Leibnizens, dessen ratio mit dem Terminus der Sache einsetzt, um über deren Bestimmungsgrund – der ist noch einmal Gott – den Begriff des Denkens von sich selbst in resultierender Stellung zu erreichen. Eben daraus erhellt, daß die eigentliche Gabe

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dieser ganzen Figur in einer Logik der Natur zu sehen ist. Wir bezeichnen sie dementsprechend mit der Tradition als diejenige der ratio naturalis, also der natürlichen Vernunft. Wie auch in den anderen Epochen unserer Geschichte liegt darin bereits die Anweisung, was ,Vernunft‘ genannt wurde, mit Unterscheidung zu sehen. Was das Ganze der Geschichte anlangt, hat es die Vernunft nie gegeben, vielmehr ist sie stets – sofern philosophisch – als in sich unterschiedene hervorgetreten. Dieser Unterschied zeigt sich in jeder Epoche zuerst als derjenige der ratio naturalis und der ratio mundana – wie wir sie nennen. Nur der Gewohnheit nach sprechen wir zum einen von natürlicher, zum anderen von mundaner Vernunft. In Wahrheit handelt es sich nur noch um unterschiedliche Term-Sequenzen, in denen sich das Denken, die Sache und die Bestimmung entfalten. Solange man an der Vernunft als einem Vermögen – und zwar dem der Principien – festhält, versteht man nie das Unverständnis, mit dem die natürliche und die mundane Vernunft einander begegnen und folglich auch nicht den Streit, der zwischen der einen und der anderen Ausprägung unauflöslich walten muß. Es ist geradezu widersinnig, diesen Streit in die Meinungen zu setzen, wie sie sich steif und fest gegeneinander behaupten. Er bezeugt dann nur irgendwelche Vorlieben und so auch Idiosynkrasien, wie sie für das Selbstverständnis der Philosophie – zumal wo sie sich als Wissenschaft weiß – unwürdig sein müssen. Gerade der Beginn der Letzten Epoche gibt ein gutes Beispiel her für die Erschließungskraft des Rückgangs von dem Vernunft-Vermögen auf das, was wir ratio nennen; denn bislang wird das Verhältnis von Descartes und Hobbes bloß als Zeugnis eines Unverständnisses, ob von der einen oder der anderen Seite her gelesen. Das Unverständnis ist aber hier eine äußerliche Tatsache, welche den positiven Sinn gegenseitiger Verschlossenheit verdeckt. Alles kommt hier darauf an, eben jene Objektivität zu gewinnen, welche in erster Linie nicht nach den Unterschieden in der Lehre fragt, sondern nach den Unterschieden in der Aufgabe des Denkens und einzig und allein auf die Erfüllung solcher Aufgabe zu achten. Die Verschiedenheit der Aufgabe wird aber nur dort ersichtlich, wo eine ratio in dem Verband betrachtet wird, der das Udiom oder die Eigenheit in aller Idiosynkrasie schon dadurch löscht, daß keine denkerische Position außerhalb der Figur, in die jede ratio eingebunden ist, vorgestellt wird. Anders als eine Figur der ratio naturalis wird eine Figur der ratio mundana oder der mundanen ,Vernunft‘ nicht vom Terminus des Denkens eröffnet, sondern von dem der Sache. So ist es denn auch in der Sache, daß Descartes und Hobbes sich stoßen. Man braucht dazu nur die Auseinandersetzung beider anläßlich der Meditationes (AT VII, 171 – 96) zu lesen. Die Sache – das ist für Hobbes das corpus; dies jedoch gerade nicht, wie es das Andere zur mens ist, sondern diese als Resultat einer Entwicklung einschließt. Animus corporalis. Dabei zuerst corpus mundanum, Gegenstand unter Gegenständen, wie sie füreinander phaenomena sind. Sodann das als humanum ausgezeichnete corpus, welche Auszeichnung vor allem im Gesichtssinn und die durch ihn bedingte

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Welterschließung gegründet ist. Schließlich das sich mit Bewußtsein steuernde corpus politicum im Sinne der civitas institutiva als des für die Selbsterhaltung notwendigen gemeinschaftlichen Produkts. Sodann die Bestimmung, der sich die Sache unterstellen muß. Sie ist nicht mehr bloß die Selbsterhaltung des Einzelnen, sondern die Erhaltung des Bürgerlichen Friedens. Eben daraufhin muß sich das corpus politicum zu einem HerrschaftsGebilde entfalten – mit einem höchsten Gewalthaber. Er realisiert sich im Staat, in einer insofern christlichen civitas als dort die Gebote Gottes durch Auslegung ins Bewußtsein gehoben werden. Eben daraufhin versteht sich das Denken des Herrn als des unumschränkten Gesetzgebers in allen menschlichen, genauer: innerstaatlichen Verhältnissen. Dem Bestimmungsgrund, der sein Wissen, sein Wille und zumal seine Macht ist – die des je einzelnen, auf volle Autonomie gestellten Staates – diesem Bestimmungsgrund entsprechend ist das Denken wesentlich das des Gehorsams der einzelnen Bürger unter dem einheitlichen imperium. Dieses Denken ist frei, sich um das zu bekümmern, was die besonderen Bedingungen der Selbsterhaltung ausmacht. Sein Element ist – anders als im Falle der ratio naturalis – die endlos vielfältige Sorge, welche sich von der Angst um das nackte überleben unterschieden hat. Die Welt dieser mundanen Vernunft oder der ratio mundana hat sich gleichsam aus dem anfänglichen Naturzustand herausgearbeitet, hat sich sozusagen verbürgerlicht. Dieser Unterschied zur natürlichen Vernunft ist von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der Eröffnungs-Phase dieser Epoche.2 Die Eigenständigkeit dieser Seiten der ratio gegeneinander und so auch die Entschiedenheit, mit der die eine und die andere Aufmerksamkeit beansprucht, wird von der Fiktion einer mehr oder weniger einheitlichen Vernunft völlig verschleiert. Die Folgen für die moderne Erfahrung der Geschichte des Denkens sind an Heidegger leicht zu sehen: er fixiert sich allein auf den Widersacher, der ihm vor allem der cartesische Gedanke ist; dagegen läßt er seinen mundanen Nachbarn, nämlich den hobbesischen, garnicht in den Blick kommen. Um hier nur kurz die Fortbestimmung zu erwähnen, welche die ratio mundana erfährt, zunächst durch Locke, der nämlich von Hobbes den Denk-Terminus unmittelbar aufzunehmen und zu verwandelter Bestimmtheit zu bringen hat. Boden seiner Entfaltung nach sensation und reflection ist die Erfahrung und eine ihr gemäße Unterscheidung der Vorstellungen. Deren Sache oder Gegenstand ist die sog. moralische Welt, wie sie von der natürlichen unterschieden sein will: die Welt des Eigentums – einmal das allgemeine im Sinne der natürlichen Grundlage, sodann das einzelne wie es das Eigentum aus Arbeit ist: Eigentum an einer Vielfalt von Gebrauchs-Dingen.

2 Siehe „Eine Bewegung der mundanen Vernunft“ und „Der geschichtliche Ort Macchiavellis“.

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Das allgemeine wie auch das besondere Eigentum der Einzelnen steht unter der Bestimmung des Gemeinwohls, wie es durch eine Rechtlichkeit geregelt ist, welche an der Bürgerlichen Gesetzgebung ihren Grund hat. Diese hat der Bewahrung der Bürgerlichen Freiheit überhaupt und der Sicherung der einzelnen Freiheit, will sagen: der Selbständigkeit zu dienen. Schon aus dieser Skizze dürfte klar werden, daß die Term-Verschiebung von der hobbesischen zur lockeschen ratio die volle Erklärung für die unterschiedliche Fassung der Bürgerlichen Welt hergibt. Sie bringt den Unterschied einer äußerlichen, nämlich doxographischen, und einer innerlichen, wo nicht begrifflichen, so doch logotektonischen Betrachtung zum Tragen. Aus der Vorentscheidung über den Gesamtbau einer Figur aus rationes läßt sich nun auch die dritte Position in deren Architektonik einbringen. Sie gibt Gelegenheit, auf den Sinn möglicher Korrekturen des Baus hinzuweisen. So war ich vormals der Ansicht, daß diese Position in Berkeley zu sehen sei. Wenn etwas Richtiges daran sein möchte, so liegt doch ein Mangel in diesem Urteil, weil es die Konstitution der betreffenden Welt übergeht und sich immer noch von dem akademischen oder historischen Vorurteil zugunsten der Erkenntnis-Theorie mit der bereits erwähnten Dominanz Lockes irreführen läßt. Gerade für die abschließende Position der mundanen Figur muß ihre reife Weltlichkeit sichtbar werden und dafür ist Shaftesbury sehr viel geeigneter als Berkeley – ein Weltmann statt des gelehrten Bischofs. So wird schon die oberflächliche Betrachtung urteilen. Was nun aber die betreffende ratio anlangt, so ist von einer Verwandlung des Bestimmungs-Terminus in ihrer lockeschen Fassung auszugehen. Also von der Freiheit in bürgerlicher Bedeutung. Diesem Resultat begegnet Shaftesbury mit der unmittelbar auftretenden Bestimmung der Freiheit in ästhetischer Bedeutung. Will sagen: nach Maßgabe des Schönen in den gesellschaftlichen Verhältnissen, kurz: der Harmonie. Das Kriterium des öffentlichen Wohls ist hier nicht mehr wie bei Hobbes auf den Bürgerlichen Frieden eingeschränkt, nicht mehr wie bei Locke auf die Bürgerliche Wohlhabenheit, sondern erweitert zum gesitteten Leben überhaupt. Unter dieser Bestimmung steht das Denken, indem es seine Aufgabe in der Bildung der im strengen Sinne sympathischen, weil harmonischen Persönlichkeit findet. Geprägt von Heroismus und Menschenliebe. Aus eben diesem Denken gestaltet sich schließlich die Sache, welche die vollkommen entwickelte Bürgerliche Gesellschaft oder das corpus ist, welches die Freiheit seines inneren Bandes in künstlerischer Durchdringung aller menschlichen Verhältnisse bekundet. In solcher Welt wird sich die mundane Vernunft zum vollständig entwickelten Gegenstand. Die Harmonie, welche vom Bestimmungsgrund ausgeht, will in der Gesellschaft sinnfällig werden. Soviel als Aufriß der beiden Vernunft-Gestalten, in denen sich die EröffnungsPhase der letzten Vernunft-Epoche zur Darstellung bringt. Sie wird geschnitten vom kantischen Gedanken – in seiner „kopernikanischen Wende“.

III. Der eigentlichen Erörterung unseres Themas zuvor war es nötig, eigens an die Vorgabe unserer Gegenwart zu erinnern – die Abgeschiedenheit, in der die Letzte Epoche des Denkens aus dem Horizont seiner Geschichte aufzusuchen ist; denn nichts ist für das Denken verödender als die Verdrängung seiner Gegenwart durch die willkürliche Vergegenwärtigung von Vorstellungen, die historisch aus dem aufgerafft werden, was als die Hinterlassenschaft der Philosophie gilt. Allem zuvor war es nötig, an den Unterschied zu erinnern, den die Gegenwart, wie sie ihr Denken in der eigentümlichen Sphäre der Sprache auslegt, gegenüber der Welt der Moderne macht; und weiter an den Unterschied, den die Geschlossenheit der Geschichte der Philosophie macht. Sodann wurde ein Aufriß ihrer Letzten Epoche, genauer: ihrer Eröffnungs-Phase gegeben – mit der Figur aus rationes, welche zum einen der ratio naturalis eigentümlich ist, zum anderen der ratio mundana; ein Ausdruck, der hier gewählt wird, um dem großen Vorurteil über die Vernunft als Vorstellungs-Vermögen zu entkommen. Kant selber hat dazu in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft einen Wink gegeben, wo er bemerkt, daß „die Hauptfrage immer bleibt: was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?“ (AA IV, 11,37) – dies unter Abweisung der Frage „wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?“ (12,2). Doch wo läge da der Wink? Was den ersten Teil der Frage anlangt – was und wie viel kann Verstand und Vernunft erkennen? –, so ist sie die von Locke überkommene. Erst der zweite Teil spricht die Kant eigentümliche Frage aus: wie viel frei von aller Erfahrung? – nicht nur: vor aller Erfahrung. Stellen wir zunächst die Frage zurück: Weshalb muß Kant zu solcher Freiheit fortgehen? Um statt dessen auf die abgewiesene Frage zu achten: Wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich? Sie muß abgewiesen werden, weil sie dem hier geübten Denken des Möglichen die Vernunftlosigkeit eines regressus ad infinitum eintragen würde und also leer laufen müßte. Dagegen läßt sich aus der Wirklichkeit des Denkens frei von aller Erfahrung und also des reinen Denkens sehr wohl fragen: Woher kommt ihm seine Wirklichkeit? Was bestimmt solches Denken zu seiner Reinheit? Was bestimmt die Vernunft zur Unterscheidung von sich selbst? Was bestimmt sie zur Setzung der Spontaneität des Verstandes und demzuvor zur Voraussetzung ihrer eigenen Freiheit? Welcher Freiheit, wenn nicht zu derjenigen, welche zum einen die natürliche, zum anderen die mundane Vernunft kannte? Wir stoßen jetzt auf einen merkwürdigen Sachverhalt, dem wir den Schub in die Kern-Phase der Letzten Epoche anmerken können. Das ist aber der Schub in die Unfreiheit von principieller Bedeutung. Der kantische Gedanke ist in seiner epo-

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chalen Bedeutung nicht zu würdigen, wenn er zu einem intelligenten Einfall herabgesetzt wird. Das geschieht aber solange er in historischer Manier vom Continuum des Schulbetriebs aufgesogen wird. Um hier nur an das neuere Interesse für den vorkritischen Kant zu erinnern. In diesem Betrieb geht es zutiefst darum, sich selbst durch sein Continuum erhalten zu fühlen. Ein Reflex der scientific community. Ihr ist die Einsamkeit Kants unerträglich. Der bringt die Sache für die theoretische Vernunft auf den Punkt mit der Bemerkung: „Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen steht schon als ein Grundsatz der transscendentalen Analytik fest und leidet keinen Abbruch. Es ist also nur die Frage: ob dem ungeachtet in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel völlig ausgeschlossen sei. Und hier zeigt die zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen sogleich ihren nachtheiligen Einfluß, die Vernunft zu verwirren. Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die sammt ihrer Wirkung unter dem Naturgesetze nothwendig sind. Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der That sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligibele Ursache aber wird in Ansehung ihrer Causalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können. Sie ist also sammt ihrer Causalität außer der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen werden; eine Unterscheidung, die, wenn sie im Allgemeinen und ganz abstract vorgetragen wird, äußerst subtil und dunkel scheinen muß, die sich aber in der Anwendung aufklären wird. Hier habe ich nur die Anmerkung machen wollen: daß, da der durchgängige Zusammenhang aller Erscheinungen in einem Context der Natur ein unnachlaßliches Gesetz ist, dieses alle Freiheit nothwendig umstürzen müßte, wenn man der Realität der Erscheinungen hartnäckig anhängen wollte. Daher auch diejenigen, welche hierin der gemeinen Meinung folgen, niemals dahin haben gelangen können, Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen.“ (AA III, 365,8) Diese Stelle mußte deshalb in extenso zitiert werden, weil sie die geschichtliche Bedeutung der kantischen Wende aufhellt. Worin besteht sie? Mit einem Wort: den Widerspruch von Natur und Freiheit in einer Weise zu denken, daß er nicht verdrängt, sondern aufgehoben wird. Die Freiheit zu retten – das ist die hier leitende VernunftAbsicht; und diese ist aus nichts anderem als ihr selbst zu erklären – nämlich aus dem Vernunft-Willen zur Freiheit.

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Was ist ihm der Anstoß? Der bereits vollzogene Umsturz der Freiheit im Denken dieser Epoche. Wo? Gerade nicht mehr in ihrer Eröffnungs-Phase, sondern in der Anzeige des Durchbruchs in die zentrale Gegend. Hier gilt nicht mehr: die Natur selbst wird zum Ort der Freiheit, diese macht sich innerhalb ihrer geltend – sei es mit Leibniz als das Reich der Gnade, sei es mit Shaftesbury als das Reich imaginativer Produktivität einer kultivierten, sich ständig kultivierenden Gesellschaft. Erst einmal muß die Negation der Freiheit überhaupt und mit ihr die Unterscheidung der Freiheit hervorbrechen, und dies ausgerechnet innerhalb der sog. Aufklärung. Genau sie hat dem Gedanken principieller Unfreiheit den Boden bereitet. Er bildet jetzt eine eigene Gestalt der natürlichen und auch der mundanen Vernunft aus. Auf der ersten Seite sehen wir jene, welche die Selbsteinschätzung des Denkens aus einer Natur verstehen läßt, die in einer ausschließenden Beziehung zur Freiheit steht. Welcher? Eben jener, die sich nicht mehr in dem Bewußtsein von einem dem Ich äußeren Gegenstand entfaltet, sondern im Selbstbewußtsein. Überhaupt nur deshalb kann der Widerspruch in ihm wirksam werden. Auch an der sog. Aufklärung zeigt sich: sie wird nicht begriffen, solange sie in einem historischen Continuum vorgestellt wird, das von Descartes bis zum Ende des 18. Jhdts. reicht. So wird das Entscheidende verdeckt – nämlich der Aufbruch des Selbstbewußtseins innerhalb dieser Epoche, wie es zuerst eine neue Gestalt der natürlichen Vernunft hervortreten läßt.3 Dies mit einer ersten und dabei wesentlich negativen Fassung der Freiheit in absoluter Bedeutung. Das Selbstbewußtsein tritt hier, mit Voltaire etwa, in der paradoxen Verfassung auf, sich als das des Freigeists vorzustellen, der so frei ist, daß er die Freiheit als Illusion behandeln kann. Inmitten einer – nach der sog. Philosophie Newtons vorgestellten – Allherrschaft der Naturnotwendigkeit „so zu tun, als ob man frei sei“. Sich in dieser Fiktion zu genießen. Solches Selbstbewußtsein ist in La Mettrie’s kahler Vorstellung von der Mechanik des als Maschine agierenden Menschen noch nicht bei sich. Seine Naturalisierung wird erst dort virulent, wo mit Diderot die Natur-Verhältnisse innerhalb der Selbstherrlichkeit des skeptischen Denkens zum Tragen gebracht werden und die Natürlichkeit als die je eigene eine moralische Bedeutung annimmt. Um es zu wiederholen und zu betonen: Die natürliche Vernunft entfaltet sich hier als ein Modus des Selbstbewußtseins. Erst daraus wird die Gefährdung ersichtlich, welche Kant in der natürlichen Vorstellung von der Natur aufgegangen ist, nämlich dies, daß sie die Voraussetzung der Freiheit des Handelns überall zersetzen muß. Die Aufhellung der Architektonik, welche die betreffenden rationes der natürlichen Vernunft erkennen lassen, sei für jetzt zurückgestellt. Jedenfalls muß sich die ganze Figur um die Achse des Denk-Terminus drehen. Für deren geschichtliche Konkretion sei vorgreifend noch auf Condillac, d’Alembert und Condorcet verwiesen. 3 Vgl. „Rousseau oder der Aufbruch des Selbstbewußtseins“ und „Die Stiftung des philosophischen Selbst-Bewußtseins“.

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Was demgegenüber die entsprechende Figur der mundanen Vernunft in der HauptPhase der Letzten Epoche betrifft, so gilt auch hier: entscheidend ist das Hinausgehen über den Horizont des Bewußtseins zu dem des Selbstbewußtseins. In der Welt wie auch in der Natur sich zu sich selbst zu verhalten, hebt aber nicht die ausschließende Beziehung zur Freiheit in principieller Bedeutung, will sagen: zur durchgängigen Selbstbestimmung auf. Um die eigentümliche Vernunft Kants, Fichtes und Hegels zu begreifen, kommt alles darauf an, sich jener Negation bewußt zu werden, welche verhindert, „Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen“, wie Kant das an der vorhin zitierten Stelle verlangte (AA III, 366,3). Die mundane Vernunft in den Positionen Humes, Jacobis und Schellings bleibt eigens darauf bedacht, diesen Gedanken der Einheit zu verhindern. Um hier nur einen knappen Aufriß von ihr zu geben: Die Kennzeichnung des humeschen Gedankens wird bis in unsere Tage von dem Vorurteil beirrt, das sich auch noch in der Topologie der Metaphysik findet: in ihm die Nachfolge Lockes zu sehen. Die Ähnlichkeit ist allerdings zu offenkundig, als daß sie geleugnet werden könnte. Lassen wir unser Unterscheiden für jetzt beiseite, um zu fragen, ob wir uns in der geschichtlichen Konkretion des Unterschiedes von natürlicher und mundaner Vernunft, was die jetzt thematische Geschichts-Phase anlangt, nicht geirrt haben. Was würde das bedeuten? Keine Veränderung in der Architektonik der betreffenden Figuren, wohl aber eine verwandelte Konkretion ihrer Termini. Hören wir hin. Wie beginnt Hume? Nicht, wie es scheint, mit einer Unterscheidung und Erläuterung des Vorstellungs-Vermögens, sondern mit der Verdeutlichung der Sache in der Form der Vorstellung, wie das erforderlich ist, wenn die Sache in die Dimension des Selbstbewußtseins fällt, wenn dieses nämlich unmittelbar in weltlicher Bedeutung auftritt. So geht denn Hume sogleich auf die ursprüngliche Sache in der Bestimmtheit von Eindrücken. Sie sind es, deren ich in mir bewußt werde. Eindrücke alles dessen, was eine Welt ausmacht und deshalb nicht die mathematischen oder logischen Verhältnisse, sondern Sachverhalte, die so und anders sein können und also nur in der Erfahrung zu bestimmen sind. Nicht im reinen Gedanken. Tatsachen in der Form von Eindrücken sind es, von denen her sich die humesche Sache (übrigens ähnlich der epikureischen) entfaltet – historische und moralische Tatsachen. So in Erinnerung an die alte Unterscheidung von Theorie und Praxis, hier jedoch in die Welt der Tatsachen übersetzt. In eine Welt, die allem zuvor die gesellschaftliche und darin nicht zuletzt die des geselligen Lebens ist. Eben dahin gehört die Kenntnis maßgeblichen, weil verdienstlichen Wirkens in ihm, wie es im Ganzen die Historie des eigenen Volkes vorstellt. Auch dies ein humesches Unternehmen. Gerade an einem solchen Ganzen erschließt sich die Bestimmung, unter der die Tatsachen der gesellschaftlichen Welt stehen: unter derjenigen praktischer Notwendigkeit oder Möglichkeit – sehr wohl unterschieden von der bloß logischen, die gerade keine weltliche sein kann. Was da als notwendig oder möglich gilt, wird

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vorgezeichnet durch Gewohnheit, durch Brauch, durch Sitte. Sie zeigt das in weltlicher Bedeutung Verbindliche, wie es für eine Bürgerliche Gesellschaft konstitutiv ist. Eben daraufhin versteht sich nun der kritische Grundzug des Denkens. Sieht es doch, daß die bloß überkommenen Maßgaben gesellschaftlichen Lebens sich samt und sonders in ihrem Recht vor der Vernunft, vor ihrem praktischen Urteil beweisen müssen. Wahr ist es nicht aus Principien, sondern nur in dem Sinne, daß es sich bewährt. In diesem Felde gibt es keine notwendige Verknüpfung von Vorstellungen. Was das Denken im Felde seiner eigentlichen Aufgabe erschließt, ist allemal etwas Wahrscheinliches. Die gesellschaftliche Welt kennt keine Gewißheiten. Dieses Resultat nimmt die zweite ratio der mundanen Vernunft auf und zwar mit einer Gewißheit des Denkens, welche sich vom belief, dem Glauben im Sinne des Vermutens unterscheidet. Dieser unmittelbare Glaube ist von einer Gewißheit, die nur deshalb möglich ist, weil sie sich nicht auf Tatsachen humescher Fassung stützt. Jacobi ist es, der in Vertiefung des Selbstbewußtseins seine ratio mit einer Realität einsetzen läßt, welche die des Glaubens ist. Ihm selbst wird zugewiesen, was als Realität gelten soll. Die Geltung eines solchen Glaubens kann aber nur an der Vernunft hängen. Nicht an Tatsachen historischer oder moralischer Prägung. Hier springt heraus: Mit dem Denken kann in dieser ratio nur deshalb der Anfang gemacht werden, weil es sich um das religiöse des Vernunft-Glaubens handelt, der eigentlich nur eine Gewißheit kennt, welche über die Wahrheit im Sinne der Richtigkeit erhaben ist. Alle Realität wird hier in der Bedeutung genommen, daß sie den Charakter von Offenbarung hat. Und was ist im Horizont des Selbstbewußtseins der Vernunft das Offenbare? Seinesgleichen und das ist zum einen das menschliche, zum anderen das göttliche Du. Steigen wir hier unversehens zur Submoderne ab? So hat es manchen Aktualisierern des jacobischen Gedankens geschienen. Wir aber wahren den epochalen Unterschied, indem wir an der Vernunft-Bestimmtheit seines Menschen im Horizont des Selbstbewußtseins festhalten. Dies wird insbesondere deutlich, wenn wir von der Sache zum Terminus der Bestimmung fortgehen. Der ist nämlich das ewige Leben des Geistes oder die Unsterblichkeit. Sie ist der Bestimmungsgrund ebenso des vereinzelten wie des gesellschaftlichen Lebens auf dieser Erde und wird sogar im geselligen Leben bewußt gemacht. Die Unsterblichkeit nicht bloß des Menschen, vielmehr der Person und das heißt hier stets: der eigens gebildeten, an ihr selbst produktiven. Die abschließende ratio der mundanen Vernunft – deren Term-Sequenz Bestimmung – Denken – Sache ist bereits durch den Bau der ganzen Figur vorgezeichnet – wird durch den schellingschen Gedanken konkretisiert. An ihm kann man sich verdeutlichen, welche Torheit in der subsumierenden Rede vom ,Deutschen Idealismus‘ liegt. Schelling und Hegel sind so sehr getrennt, als sie nur sein können, weil durch die Vernunft, welche für diese Epoche der eine und der andere die jeweils abschließende Gestalt gibt.

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Die unmittelbar auffällige Distanz des schellingschen zum jacobischen Gedanken erklärt sich aus dem auch sonst in der Geschichte zu beobachtenden Sachverhalt, daß die Eröffnung einer ratio durch den Terminus der Bestimmung stets eine deutliche Trennung von der Denkart der jeweils voraufgehenden rationes bekundet. Warum dem so sein muß, erhellt am ehesten aus der noch nicht vorgestellten dritten Rationalität, welche ebenfalls die erwähnte Term-Sequenz darstellt, aber derart, daß die betreffende ratio die ganze Figur nicht mehr abschließt, sondern eröffnet. Eben daran zeigt sich denn auch ihr wahrhaft revolutionärer Charakter. Der kennzeichnet den kantischen Gedanken, den schellingschen nicht. Wie dem auch sei – der erste Terminus der schellingschen ratio ist die Bestimmung, wie sie nach der Vorgabe des letzten jacobischen Terminus nur eine verwandelte Fassung des menschlichen und göttlichen Du sein kann – dies mit der Maßgabe, den einheitlichen Grund beider Seiten vorzustellen, der wo nicht göttliche Person, so doch deren indifferenter Ursprung ist. Der von der Person verschiedene Grund in Gott selbst, genauer und an ihm selbst betrachtet: der Ungrund, weil das noch nicht nach dem Verhältnis des Grundes Unterschiedene. Seiner nimmt sich ein Denken an, das seinerseits die Spanne eines ursprünglichen Unterschiedes auftut, nämlich den der negativen und der positiven Philosophie – will sagen: eines Denkens, welches auf seinen Grund in der ästhetischen Anschauung des Kunstwerks zugeht, sodann eines Denkens, das von dem erstlich Gesetzten oder positum ausgeht, das es aber in seiner Ursprünglichkeit nicht als seine eigene Setzung begreifen kann. Die ursprüngliche Indifferenz kann nur sich selbst zur Differenz eben jenes Grundes ausführen, der mit seiner Unterscheidung überhaupt erst zu denken gibt. Seiner eigenen Ursprünglichkeit gemäß muß dieses Denken Mythologie sein. Die Sache dieses Denkens ist die Genese der Freiheit des Menschen und die zugehörige Genese des Widergöttlichen – sowohl in Gestalt eines reinen Geistes als auch in der Konkretion des Menschen. Mythologie und Offenbarung erzählen ihm die Geschichte seiner Welt bis zu ihrer künftigen Vollendung. Diese geglaubte Realität ist die vollständig entwickelte der zuvor bei Jacobi und erstlich bei Hume gedachten. So viel zur Kennzeichnung der ratio naturalis und der ratio mundana, wie sie sich in der Haupt-Phase der Letzten Epoche zu geschlossenen Gebilden entfalten. Nach beiden Seiten wird die Freiheit in absoluter Bedeutung eigens gebrochen – in einer Negation, welche sie entweder überhaupt ausschließt oder aber einschränkt – und zwar zur menschlichen Freiheit und das ist immer auch die Freiheit zum Bösen. Aus dem Kant-Zitat ging hervor: Die Freiheit kann nur dann in absoluter Bedeutung gedacht werden, wenn sie mit der Natur als dem Ersten, weil Unvermittelten vereinbar ist. Aber wie? Das war für Kant die entscheidende Frage. Um sie noch einmal zu verdeutlichen: „ob […] in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne“ (AA III, 365,12). Kann angesichts dieses Selben ohne vernichtenden Widerspruch ein Unterschied der Hinsicht geltend gemacht werden? Wenn nicht, ist es mit der Freiheit aus – jedenfalls in

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absoluter und also principieller Bedeutung. Dann bleibt nur die Natur als ebenso Ganzes wie Erstes und also die Freiheit höchstens als das Andere zu diesem Ersten, wie das an Schellings Position deutlich wird. Kurzum: Die kantische Position kommt diesseits des Überbaus hermeneutischer Gelehrsamkeit nur dann zum Tragen, wenn erst einmal die allerdings unterschiedliche Versicherung ebenso der natürlichen wie der mundanen Vernunft geklärt ist: es gibt keine Freiheit in absoluter Bedeutung. Von welcher Gewalt diese Entscheidung ist, kann man sich gerade an der eingestandenen Mühe Kants klarmachen, sie zu überwinden. Und zwar nur durch einen fundamentalen und zugleich frei geführten Stoß gegen die mundane und zumal natürliche Denkart – mit ihrer, wie er sagt, „betrüglichen Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen“ (365,15). Umso weniger konnte Kant durch diese motiviert sein; allerdings ist nicht ihre Realität zu negieren, wohl aber deren Absolutheit zu brechen. Nie und nimmer läßt sich an den Erscheinungen selbst ein Grund ausmachen, sie als Erscheinungen von der Wahrheit zu unterscheiden, welche Kant als diejenige des Dings an sich verstanden wissen will. Noch einmal: seine Revolution der Denkart will selber als eine Tat der Freiheit gewürdigt sein. Welche ist das? Kant hat die betreffende Tat mit der des Kopernikus verglichen – in dem Sinne, daß sich nicht mehr, wie für die vormals gedachte Wahrheit angenommen, unser Erkennen nach dem Gegenstand richtet, daß vielmehr die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis richten. Selbst dann, wenn Kant diese Behauptung dahin erläutert, daß sie unsere Erkenntnis a priori betrifft, „wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“ (13,2), so macht dies nur einen Sinn, wenn auf die produktive Grundstellung der Vernunft gesehen wird. Diese offenbart aber ihre ganze Bewandtnis nur dort, wo die Freiheit in absoluter Bedeutung, nämlich als durchgängige Selbstbestimmung verstanden wird. Ihretwegen wendet sich die Vernunft gegen die besagte natürliche Unterstellung absoluter Realität der Erscheinungen. So beginnt denn die Kritik der reinen Vernunft als Kritik der natürlichen Denkart und zwar in der Weise, daß „sie das Object in zweierlei Bedeutung [zu] nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst“ (17,19). Die Unnatürlichkeit dieser Lehre wird dadurch unterstrichen, daß schon der Verstand gegenüber der Natur gesetzgebend verfährt; erst recht nun die Vernunft, sofern sie den Fortgang der Verstandestätigkeit und überhaupt der Erfahrung regelt, darüberhinaus und letztlich aber für das Vernunftwesen und also für die wirklich gewordene Vernunft. Das ist sie aber in ihrer Selbstgesetzgebung. Diese ist die konkrete Fassung des ersten Terminus der kantischen ratio. Genau in ihr liegt aber, daß sich die Vernunft hier ebenso von ihrer natürlichen wie von ihrer mundanen Gestalt lossagen muß. Diese für die Letzte Epoche grundstürzende Unterscheidung der Vernunft von sich selbst bedarf einer Erläuterung. Auszugehen ist dabei von der Freiheit als dem Princip dieser Epoche überhaupt. In seiner geschichtlich allgemeinen Geltung – ob nun bei Alberti oder Luther oder

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Bacon, bei Descartes oder Shaftesbury, bei Condillac oder Schelling – konnte es durch keine Negation verdrängt oder auch nur eingeschränkt werden; denn auch da bleibt sie als der maßgebliche Beziehungsgrund herrschend. Also auch vor der These: Natur und Freiheit schließen einander aus. Die Natur ist da zwar immer in der Vorhand; aber die Bestimmtheit, welche sie annimmt, bleibt eine aus dem Gedanken der Freiheit zur Unterscheidung gebrachte, daher die Natur wesentlich auf sie bezogen. Es ist eine dem Denken überhaupt unwürdige Annahme, die Natur für etwas immer schon Gegebenes zu nehmen. Solche Überzeugung fällt in die Confusion, mit welcher die Naturfreunde die Wärme des Neben-Tiers suchen. Mit Platon können wir sagen: Laß sie sich freuen. Wir sind daran umso mehr gehalten, als die Vernunft immer nur solche zu überzeugen vermag, die sie schon angenommen haben. Die Anerkennung dieses Sachverhalts erspart oder mindert manchen Verdruß, der immer noch an der Unterstellung eines allgemein-menschlichen Vernunft-Vermögens hängt. Wer die Rede von Natur im Ganzen unserer Geschichte kennt, weiß auch, daß sie überall mit Unterscheidung genommen sein will; ist sie doch überhaupt nur als Relations-Bestimmung denkwürdig geworden. Die erstlich zu denkende Relation ist aber diejenige von Wesen und Erscheinendem. Dahin gehört auch die kantische Unterscheidung des Gegenstandes in Ding an sich und Erscheinung. Die gesetzgebende Bedeutung des Verstandes gegenüber den Naturerscheinungen ist offenbar keine Erfahrungs-Tatsache. Sie muß eigens gewollt sein und zwar als Setzung. Diese Setzung wiederum hat ihre Notwendigkeit und also ihre Überzeugungskraft für die Vernunft allein, sofern diese des Verstandes Herr werden mußte. Genau dies erforderte eine Kritik der theoretischen Vernunft. Nur sie, nicht schon der Verstand hat die Befugnis zur Setzung. Andererseits muß der von der Vernunft gesteuerte Verstand seine Macht an den Erscheinungen beweisen und vermag dies nur aufgrund der Unterscheidung des Gegenstandes in Ding an sich und Erscheinung. Würde die sog. Natur in ihre Widerständigkeit freigelassen, also nicht dieser einschränkenden Unterscheidung unterworfen, wäre der Gedanke der Freiheit selbst ein unverständiger. Dann müßte er aber auch für unvernünftig angesehen werden. Solange die Freiheit auf die andere Seite zur Naturnotwendigkeit gesetzt wird, kann sie nicht in absoluter Bedeutung verstanden werden. Doch warum sollte sie? Darauf gibt es nur eine Antwort: der Freiheit in absoluter Bedeutung wegen. Man ist leicht versucht zu antworten: der Sittlichkeit wegen. Das ist zwar wohlmeinend gesagt und also leicht verständlich, verschleiert aber die epochale Bedeutung der Freiheit. Sittlichkeit kennt man auch in den beiden anderen Epochen unserer Geschichte, aber nicht die der besagten Freiheit. Die gibt es nicht ohne den Willen, der auch angesichts der Naturnotwendigkeit in den Erscheinungen und auch in unserer erscheinenden Tätigkeit frei bleibt. Erst dadurch, daß Kant den Gedanken der Freiheit in den Selbstwiderspruch auf der Grundlage der durchgängigen Herrschaft der Naturgesetze führt, sprengt er die natürliche Einheit des Gegenstandes auf,

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und zwar derart, daß eine selbe Sache unter dem Gesetz der Natur und unter dem Gesetz der Sitte zu betrachten ist. Dieser Selbigkeit wegen ist es ausgeschlossen, den Wechsel der Hinsicht durch einen Wechsel der Sache zu ersetzen. Mehr noch: nicht nur der Verstand, sondern auch die Sinnlichkeit muß in die Selbigkeit der Sache eingebracht werden. Die sittliche Gesetzgebung wäre ihrer epochalen Bedeutung null und nichtig, wenn sie bloß dem Vernunft-Vermögen gälte und nicht dem Vernunftwesen, das ebenso Sinnenwesen ist. Die kantische Vernunft unterscheidet sich nur dadurch von sich, daß sie ihre Freiheit derart realisiert, daß der Gesetzgeber auch in seiner Sinnlichkeit dem Vernunft-Gesetz als seinem eigenen unterworfen ist. Haben wir unsere Gegenwart vergessen? Haben wir schon ein Recht auf unsere Unterwelt bewiesen? Nur durch die Verhaltenheit zu ihr. Geschieden von aller hermeneutischen Vergegenwärtigung und der für sie beanspruchten Erlebbarkeit. Unsere Erinnerung an Kant ist keine Unterweltsfahrt. Dazu fehlt das Geschick. Wir bleiben an dem einzigen Ort unserer Gegenwart. Welcher? Sie ist nur dann die unsere, wenn sie sich als unterschiedene erweisen kann – unterschieden von derjenigen unserer submodernen und postmodernen Nachbarn. Nachbarn sind wir in der Sprache, wie sie eine ebenso von der Geschichte der Philosophie wie von der Welt der Besinnung geschiedene Totalität ist. Deshalb können wir auch nicht in der Unterwelt Kants zuhause sein – demzuvor nicht in der des Parmenides, des Patriarchen der Ersten Philosophie. Nachbarn in unserer Gegenwart sind wir aber an getrennten Orten – innerhalb einer gemeinsamen Sphäre der Gegenwart von der Submoderne wie auch von der Postmoderne getrennt. Inwiefern aber an eigenem Ort? Wo wäre er sichtbar als von eigenem Gehalt? Als solcher muß er in Trennung von der Dimension des technischen Denkens der Moderne sichtbar werden. Dies zunächst in Erinnerung an Freges entschiedene Trennung des Begriffs von der Vorstellung. Auch unsere rationes sind gleichsam ,objektiv‘. Und sie sind Beziehungen von Begriffen – bescheidener gesagt: von Termini. Die andere Grundstellung des nicht mehr technischen, sondern tektonischen Denkens wird aber angezeigt durch die Rücknahme des Denkens in einfachen Beziehungen – angefangen von Funktion und Argument – auf ein Denken, das die alte Dreigliedrigkeit des Schlusses übersetzt. Und zwar durch Einführung eines medius terminus. Entfaltet zu einem Schluß von Schlüssen. Was eine solche Figur aber grundlegend von dem philosophischen Schluß unterscheidet, ist dies, daß nicht mehr vom Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen fortgegangen wird, aber auch nicht in der Weise einer bloßen Umkehrung der Term-Folge. Ausgegangen wird von Einem, das sich durch Einzigkeit auszeichnet. So viel als abstrakter Hinweis auf die Übersetzung des technischen Denkens, seiner grundlegenden Beziehung von Funktion und Argument, seines Bruchs mit der Abfolge von Subjekt und Prädikat, in das logotektonische. Zurück zur Konkretion des schon vollbrachten Denkens in denkerischer Bedeutung. Des Näheren zurück zur Letzten Epoche seiner Geschichte. Wir bedürfen dazu keiner Unterweltsfahrt, wie sie noch Hegel gekannt hat, sondern nur der

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wachsenden Deutlichkeit unserer Abgeschiedenheit inmitten des Denkens der Gegenwart. Sie begegnet zuerst an der Thematisierung dessen, was nur noch gleichsam die alte Vernunft ist – der ,schwebende Bau‘ ihrer rationes in der Welt und der Geschichte des Denkens. Beides einzubringen in die Sprache der Logotektonik. Sie beherbergt die Unterscheidung der philosophischen Vernunft in die natürliche, die mundane und die bisher nur erst angedeutete conceptuale Vernunft. Achten wir darauf: Die Philosophie fand auch als die reine Vernunft-Wissenschaft keinen Grund zu einer solchen Unterscheidung. Umso nötiger ist die Frage: Was bewegt uns zu ihr? Der betreffende Grund liegt nicht nur nicht in der Geschichte der Philosophie; er liegt auch nicht in der Welt der Besinnung, die der Moderne eigentümlich ist. Er kann also nur in einem Unterscheiden gesucht werden, zu dem das gegenwärtige Denken diesseits der Moderne angehalten ist. Das ist aber die Unterscheidung der Sphäre, welche wir in Rücksicht auf die Moderne vorläufig als die der Sprache festhalten. Erst da wird es nötig, daß der Unterscheidung der Sprache in sich, wie sie am submodernen und postmodernen Denken hervortritt, die Unterscheidung der Sprache von sich folgt. Dazu ist nicht verlangt, wie etwa Foucault, anders als die Anderen zu denken, sondern seltsamerweise anders als jeder für sich denkt. Das ist ungleich schwieriger, weil dies die Verabschiedung jeglicher Idiosynkrasie erfordert. Die Besinnung der Moderne war im Ganzen bewegt von der durchgängigen Trennung unserer Welt von ihrer Geschichte. Mit dem Abschluß dieser Besinnung fällt die Geschichte als eine zum Abstoß bewegende Totalität dahin. Wer Ohren hat zu hören, wem sie nicht vom Betrieb betäubt sind, der merkt, daß mit dem Absinken auch noch des heideggerschen Gedankens die wesentlich epochale Geschichte entschwunden ist und durch keinen historischen Lärm wieder zu erwecken. Aber auch die Welt, die unterschiedene Welt Marxens, Nietzsches und Heideggers, ist dem Denken vor der Totalität entschwunden, als welche sich in unserer Gegenwart die Sprache behauptet. Diese ist nicht mehr wie die besagte Welt als das Andere zur Geschichte zu verstehen. Daher das Auftauchen von Sprachen, die zuerst in der sog. Kunst sinnfällig werden und in ihrer enthemmten Pluralität, in der Beliebigkeit ihrer Anleihen, keine ausschließende Beziehung mehr kennen, wie sie für die Moderne allenthalben konstitutiv war. Was ist nun mit unserem Thema? Ist es nicht ortlos geworden? Wie sollte es bei der besagten Nachbarschaft noch seine Gegenwart und zwar diejenige einer Aufgabe des Denkens bekunden? Ist so etwas überhaupt noch möglich – diesseits der Moderne und insbesondere diesseits der heideggerschen Erfahrung eines Geschicks, das uns keines mehr sein kann? Welche Gegenwart hätte unser Thema als Aufgabe? Bleibt uns nur dieser Konjunktiv, der doch, genau gehört, gegen sie spricht? Können wir die besagte Geschichte des Denkens, ihre Letzte Epoche, deren Erste Philosophie und also das dort Gedachte der conceptualen Vernunft – ein noch zwielichtiger Ausdruck – ohne weiteres vornehmen? Nun – die Frage ist eigentlich nicht, ob wir das können, sondern ob wir das sollen, dafür einen im strengen Sinne zureichenden Grund haben.

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Was haben wir mit einer Philosophie zu tun, die von sich her keine Aufgabe für das Denken der Gegenwart erkennen läßt und daher umso hemmungsloser instrumentalisiert werden kann? Das Fehlen der Aufgabe wird da durch selbstgemachte Probleme verschleiert, deren einzige Dienlichkeit im Betrieb liegt. Es geht nicht an, daß wir nach Belieben vormals Gedachtes vergegenwärtigend aus unserer Gegenwart aussteigen, um sie dem Denken der Submoderne und der Postmoderne zu überlassen. Das hieße: die Aufgabe verdrängen, eben jene, die sich in der Sprach-Sphäre selber meldet – angezeigt als eine Verwandlung des technischen in das logo-tektonische Denken. Der Rückgang in seine rationes läßt aber das, was ihn bewegt, im Unbestimmten, weil ohne formelle Unterscheidung. Die Figuren aus rationes lassen sich indifferent gegen die Totalitäten von Geschichte, Welt und Sprache bauen. Doch mit der in der Sprach-Sphäre begrenzten Gegenwart, mit ihrer Trennung von der besagten Welt und Geschichte, ist bereits ein Ort für das logotektonische Denken angezeigt, der außerhalb beider eben jenes Gedachte einräumt, von dem wir sagen, daß es nicht in die Geschichte abgesunken, sondern aufgespart ist: das Gedachte aller vikosov¸a vorgängigen sov¸a. Diese ist diesseits der Geschichte nicht aus ihrem eigenen Grund auf die Philosophie bezogen, wohl aber die Philosophie auf sie. Solche Beziehung gilt innerhalb der Moderne nur für deren Kern-Besinnung, weil für das Wissen der notwendigen Unterscheidung des Menschen von sich. Für die Submoderne aber hat es auch noch diese Bewandtnis verloren. Genau darin nehmen wir die Gunst des Hervortretens der sov¸a wahr. Diese ist von Grund auf anders gebaut als die Philosophie und die ihr folgende Besinnung. Dies wird aber nur dem logotektonischen Denken sichtbar und zwar als der Sachverhalt, daß die philosophischen rationes von Anfang an eine gegenläufige Term-Folge zu den Figuren der sov¸a erkennen lassen. Da sie aber gebaut sein wollen, gilt hier mit der ganzen Härte der Fremdheit gegenüber aller bisherigen Philosophie, was in anderem Zusammenhang Aristoteles deutlich gemacht hat: Was seinem Wesen nach das Erste ist, ist dies keineswegs auch für uns, will sagen: für unser Erkennen. Da wird das Erste – in unserem Falle die Eigenständigkeit der sov¸a – zuletzt entdeckt. Erst zuletzt wird sichtbar, daß die sov¸a in ihren epochalen Gestalten – will sagen: dem Wissen der Musen, der Christlichen Verkündigung, des Bürgerlichen Selbstbewußtseins – nicht von ihren Conceptionen her gegenwärtig sein kann, wie das unsere Topologie der Metaphysik unterstellen mußte, sondern allein aus ihr selbst her, wie sie logotektonisch erschlossen sein will. Dieses Erschließen des erstlich zu Wissenden kommt zuletzt. Genauer besehen ist es in unserer Gegenwart aber nicht das erstlich zu wissen, sondern zu denken Gegebene. Eben daraufhin haben wir es nicht, wie die philosophische Tradition mit einer Prägung von v¼sir oder gar des Ganzen der physischen und geistigen Natur zu tun, sondern mit dem maßgeblich Gedachten zur Bestimmung des Menschen. Verschwindet darüber die Philosophie? Nein. Sie nimmt vielmehr ihre Gegenwart zu Lehen von der Gegenwart der sov¸a. Eben dies gilt es an dem Gedachten der Letzten Epoche der Philosophie deutlich zu machen.

IV. In unserer Gegenwart hat die Philosophie eine Gegenwart nur zu Lehen, und zwar von den Gestalten der sov¸a. Für sich genommen fällt sie dagegen in die Unterwelt des Gedachten, das die Philosophie gewesen ist. Aber die sov¸a, will sagen: das Wissen von der Bestimmung des Menschen, kann schon deshalb nicht indifferent gegen die Philosophie sein, weil sie ihrer epochalen Unterschiede nur in Erinnerung an ihre philosophischen Conceptionen gewiß sein kann. Diese wiederum bedürfen der Erinnerung an die jeweils vorgängigen Vernunft-Gestalten, um die jeweils vorgängige Negation der sov¸a zu begreifen. Eben daraus lernt das gegenwärtige Denken, deren unterschiedliche Gestalten abzugrenzen; nur mit solcher Abgrenzung der Figuren aus den rationes der natürlichen, der mundanen und der conceptualen Vernunft lassen sich die geschichtlichen Conceptionen abgrenzen; und aus ihnen her eben jene Gestalten des Wissens, die mit Grund die Auszeichnung beanspruchen können, eine Gestalt der Weisheit, der sov¸a, zur Sprache zu bringen. Sind doch solcher Ansprüche unbestimmt viele und in den verschiedensten Weltgegenden geltend gemacht worden. Sie können zumal ein Denken, das die Besinnung der Moderne durchgestanden hat, zu nichts mehr verbinden. Ohne Verbindlichkeit des Gesagten ist aber gerade eine Weisheits-Gestalt um ihren Sinn gebracht und von bloß historischem oder anthropologischem Interesse. Es ist also unerläßlich, genau abzugrenzen, was als sov¸a gelten soll. Als Kriterium läßt sich aber nur dieses eine geltend machen: Ist eine sov¸a von der vikosov¸a unserer Geschichte concipiert worden? Die Geschichte der Philosophie bekundet gegenwärtig nur darin ihre Zeigekraft, daß sie zur Aufmerksamkeit auf eben jene Gestalten des Wissens ermahnt – das monere als intensivum des meminisci verstanden –, die innerhalb ihrer die Vernunft zum Concipieren bestimmt haben. Die Kern-Besinnung der Moderne hat die Weisheits-Gestalten nicht aus ihren philosophischen Conceptionen zu lösen vermocht, sondern sie eigens in deren Geschichte begraben, weil sie mit der Welt der Moderne ortlos geworden waren. Erstaunlicherweise hat die Kern-Besinnung der Moderne selber solche Ortlosigkeit auf sich genommen und zwar mit den Entwürfen der Zukunft des anderen Menschen. Ein Grund, auf die eigene, von der Geschichte der Philosophie geschiedene Gegenwart der Weisheits-Gestalten zu achten, tritt genau besehen erst mit der Gegenwart hervor, welche die des Sprach-Ganzen ist. Und erst mit der Unterscheidung der Sprache nicht nur in sich, sondern darüber hinaus von sich kann, was in unserer Geschichte maßgeblich sov¸a gewesen ist, wieder zu Gehör kommen – wohlgemerkt diesseits der Philosophie, jedoch nicht außerhalb des logotektonischen Denkens.

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IV. Sitzung

Darin liegt schon: Die Unmittelbarkeit der geschichtlich gewordenen WeisheitsGestalten ist und bleibt gebrochen. Auch deren Gegenwart kann nicht den Riß der Moderne verleugnen. Was wiederum das logotektonische Denken anlangt, so wird es seiner Herkunft aus dem technischen Denken eingedenk bleiben müssen, wenn auch diese Herkunft eine verabschiedete sein muß. Weder simuliert es, wie die Submoderne, eine Bestimmung, unter der das Denken und seine Sache stehen würde, noch auch hält es, wie die Postmoderne, an der einfachen Beziehung des Denkens auf eine von ihm verschiedene Sache fest. Das logotektonische Denken kennt nur noch sich selbst und dies in der einzigen Beziehung auf das, was ihm in erster Linie das wahrhaft perfektisch Gedachte der gewesenen Weisheits-Gestalten ist. Es gibt sich darin auf, ihnen die angemessene Gegenwart einzuräumen. Das ist aber nur möglich mit Unterscheidung jener Gegenwart, welche die der unterschiedenen Sprache ist. Nach der Ordnung des Denkens waren die betreffenden Unterschiede zunächst am submodernen und postmodernen Denken zu befestigen. Das Denken duldet nämlich keine Vorgriffe. Die cartesische Forderung des ordine philosophari macht sich darin erneut geltend. Das logotektonische Denken muß seine Gegenwart auf dem längsten Wege nicht zu sich selbst, sondern in ihm selbst gewinnen. In der Langmut des wachsenden Unterscheidens. Alle rationes oder Verhältnisse bis zu dem Ort ausgehen, an dem in der Gegenwart nur die Verhaltenheit des Denkens zum Gedachten bleibt. Wo – um es zu wiederholen – ebenso die simulierte ratio der Submodernen wie die bestimmungslose ratio der Postmodernen zum einfachen Terminus des Denkens contrahiert ist. An diesem Punkt war es ebenso erlaubt wie angebracht, den Gang der Vorlesung mit einer kurzen Besinnung auf die Gegenwart des Denkens zu unterbrechen. Nach vollständiger Abarbeitung jeder Naivität im Denken. Die sog. Kritische Theorie verschleiert sie sich nur aus ihrem Instinkt für Arbeits-Erleichterung. Die Naivität dieses Gehabes wird nur noch von der zeitgenössischen „Philosophie des Geistes“ unterboten. Was Geist in der Letzten Epoche der Philosophie gewesen ist, wäre vor allem an Hegel zu verdeutlichen. Die angedeutete Maßgabe unserer unterschiedenen und also bestimmten Gegenwart hält uns aber dazu an, nicht mehr nur aus der Philosophie auf die betreffende Weisheits-Gestalt zurückzudenken, sondern die Philosophie der Epoche aus der vorgängigen sov¸a zu erschließen. Dies umso mehr als gerade die Philosophie der Letzten Epoche darauf bedacht sein mußte, die Spuren der weisheitlichen Vorgabe eher zu verwischen, was besonders an dem Verschwinden Hölderlins aus ihrer Aufmerksamkeit offenkundig wird. So entschieden behauptet sich das philosophische System als ein geschlossenes Gebilde. Weder dem homerischen noch dem paulinischen Gedanken ist eine ähnliche Versenkung widerfahren. Eben darin bekundet sich für uns die Notwendigkeit, im Verhältnis der Weisheits-Gestalten zueinander auf den Unterschied in der jeweiligen Stellung dessen zu achten, der da spricht. Also der Muse oder des Evangelisten oder – nun, wessen?

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Vorab sei daran erinnert, daß wir in unserer Gegenwart nicht mehr wie in der Geschichte der Philosophie mit Gestalten des Wissens zu tun haben, sondern mit vormals Gewußtem, das seine Gegenwart als maßgeblich Gedachtes beansprucht. Darauf zu achten, verlangt von uns die Trennung unserer Geschichte von ihrer Welt. Letztlich die Trennung beider vom Gehalt der Sprach-Sphäre, wie sie das Denken der Gegenwart bewegt. Innerhalb der Geschichte der Philosophie war die Anerkennung der Weisheits-Gestalten durch die conceptuale Vernunft verbürgt. Schon die Besinnung der Moderne hat mit dieser Vorgabe gebrochen und das entsprechende Denken in Übersetzung der mundanen Vernunft der apokalyptischen zur Fortbestimmung anheimgegeben. Wie bereits angedeutet, mußte schließlich und also in unserer Gegenwart die Rücksicht auf die sov¸a der Übersetzung des technischen Denkens, nämlich dem logotektonischen anheim gegeben werden. Wie muß es nun hinsichtlich der Weisheit der Letzten Epoche verfahren? Welche Gestalten es da aufnimmt, kann nach dem Gesagten nicht in unserem Belieben stehen. Vielmehr ist da von der Vorentscheidung auszugehen, welche das vollbrachte Concipieren vorgibt. Und diese verweist mit Kant auf Rousseau. Dessen grundstürzende Bedeutung in dieser Beziehung hat Kant selber bezeugt (s. AA XX, 44). Statt dessen sei auf folgende topologische Sachverhalte aufmerksam gemacht: In der Ersten Epoche geht die ganze Weisheits-Gestalt – mit Homer, Hesiod und Solon – aller Philosophie vorauf. In der Mittleren Epoche geht die Ausbildung der natürlichen und der mundanen Vernunft der Weisheits-Gestalt vorauf – allerdings nur in ihrer dogmatischen und skeptischen Phase; bezeichnenderweise läuft die gnostische Phase mit der Weisheit selbst einher und es bedarf nicht zuletzt der Anstrengung der conceptualen Vernunft, die Theologie des Neuen Testaments oder der frühen Väter dem gnostischen Zugriff zu entwinden. Was nun die Letzte Epoche anlangt, so setzt deren Haupt-Phase – erst nach der oben skizzierten Eröffnungs-Phase – ein und zwar zunächst mit einer Gestalt der natürlichen Vernunft – nämlich Condorcet, eher noch d’Alembert –, sodann mit einer Ausprägung der mundanen Vernunft – nämlich Hume. Beiden Seiten ist Rousseau zunächst, wenn auch auf unterschiedliche Art verbunden. Mit beiden muß er brechen, sobald ihn das Gesicht seiner Aufgabe überkommt. Einen solchen Bruch sehen wir allerdings auch bei Paulus, der ebenso den Gedanken Chrysipps wie denjenigen Epikurs eigens abstößt, dies jedoch, ohne jemals in ihn eingegangen zu sein, was jedoch sehr wohl im Verhältnis Rousseaus zu seinen Freunden gilt. Er muß den Schnitt, der ihn zur sov¸a frei läßt, in ihm selbst vollziehen. Dies bedeutet für ihn die radikale Trennung von der Philosophie als der Vernunftwissenschaft zugunsten – sagen wir mit allem Vorbehalt der Erklärungsbedürftigkeit – der Liebe zur Menschheit des Menschen. Nicht zur Gottheit eines bestimmten Gottes; nicht zum Gott-Menschen – es sei denn zu dem, der jeder in Verwirklichung seines menschlichen Wesens ist. Der Ort seiner Erscheinung muß aber die Sprache sein. Um hier vorab an die Bau-Anweisung für den rousseauischen Gedanken zu erinnern. Ein Bau, der sich sogleich von der Bauweise der Philosophie unterscheidet –

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also von den rationes der unterschiedlichen Vernunft. Für diese gilt in ihrer natürlichen Fassung: auszugehen ist von der Term-Folge Denken – Sache – Bestimmung. Auch wenn die mundane Vernunft mit der Sache einsetzt, ändert dies nichts an der reinen Term-Sequenz. Sie bleibt auf den Anfang mit der ratio naturalis bezogen. Zu ihrer Sequenz ist die erste ratio der Weisheit gegenläufig. Sie setzt mit der Bestimmung ein, um auf sie die Sache und schließlich das Denken folgen zu lassen. Auch die erste ratio der conceptualen Vernunft kehrt nicht zur Term-Sequenz der Weisheit zurück, sondern bezeugt gegen diese einen fundamentalen Unterschied, indem sie nämlich das Denken auf die Bestimmung unmittelbar folgen läßt – was bedeutet, daß dieses seine Sache selber bestimmt, auch wenn es seinerseits für den Weg, den es nimmt, unter einer Bestimmung steht. So gilt denn für Rousseau wie vormals für die Synoptiker und für Homer: Der Anfang ist mit der Bestimmung zu machen, die selber ihre Sache bestimmt, um dieser das entsprechende Denken folgen zu lassen. Was nun aber den Bestimmungs-Terminus anlangt, so ist für seine Entfaltung von der sprachlichen Fassung auszugehen – wenn anders es dabei um die logotektonische Gegenwart der sov¸a geht. In ihrer Sprachlichkeit bekundet sie aber den Offenbarungs-Charakter des Wissens, das zu denken gibt. Die betreffende Sprache muß aber zuerst den Unterschied des weisend Gesagten von dem bloß Gesprochenen kundtun. Wessen Sprache ist hier die weisende? Nicht die der Muse, auch nicht die des Verkündigers, sondern eine Sprache, die ebenso unmittelbar wie vermittelt ist. Das ist – zunächst in Absage an das natürliche und das mundane Selbstbewußtsein der sog. Aufklärung – die Sprache des sog. Gefühls und Selbstgefühls. Mit der nötigen Genauigkeit des Unterscheidens gesagt: des Selbst, wie es sich vom bloßen Menschen unterschieden hat. In ihm spricht sich die humanité aus. Schon dies läßt daran denken, daß und wie die Weisheit der Letzten Epoche bereits im Wort ihrer Bestimmung nicht mehr christlich ist. Dieses Wort sollte uns vor allen Continuierern bewahren, die immer Mischköpfe sein müssen. Dem Wort der Weisheit ist auch hier die Abgeschiedenheit oder le retraite, wie Rousseau sagt, die Zurückgezogenheit wesentlich und zwar aus dem commerce du monde oder dem Verkehr, wie ihn die Welt kennt. Erst so wird die Sprache des Selbstgefühls hörbar. Bevor wir ihr weiter entgegenkommen, sei kurz gesagt, an welche Schriften sich unser Hören bei Rousseau hält. Wir verfahren logotektonisch, wenn wir unterschiedliche Schwerpunkte für das Hervortreten-lassen der einzelnen Termini setzen – fernab von aller historischen Manier. Es versteht sich, daß die Termini des rousseauischen Gedankens nur in der Einheit ihrer ratio und also stets zusammen auftreten müssen; dennoch läßt sich in der Abfolge der Hauptwerke ein Fortgang erkennen, der die einzelnen Termini in unterschiedlicher Verdichtung vorstellt – beginnend mit der Nouvelle Héloïse als der eigentümlichen Fassung des BestimmungsTerminus, gefolgt von der eigentümlichen Fassung der Sache mit dem Émile, um schließlich im Contrat social dem Denken der Allgemeinheit seine gehörige Fassung

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zu geben. Noch einmal: In jedem dieser Werke kann die ratio terminorum nur als ganze auftreten. Ihre Erläuterung aber beansprucht für die einzelnen Termini ein unterschiedliches Gewicht. Unsere Gliederung des rousseauischen Werkes findet in den Tableaux historiques de la Révolution française aus dem zehnten Jahr der Republik (1802) eine unerwartete Unterstützung. Dort wird nämlich von der Apotheose Rousseaus auf Beschluß der National-Versammlung berichtet. Sie veranstaltete am 11. Oktober 1794 einen großen Umzug mit Veranschaulichungen der Verdienste des Gefeierten. Dabei trat u. a. eine Gruppe auf, welche ein Plakat mit der Aufschrift trug: „Mitten unter uns schaffte er die Héloïse, den Émile und den Contrat social.“4 Demnach war schon den Zeitgenossen bewußt, daß eben diese drei Werke in der besagten Reihenfolge einen Verband bilden. So antwortet dem geschichtlichen Instinkt der historische Befund. Zurück zum ersten Terminus unserer ersten ratio und innerhalb seiner zu der erstlich sprachlichen Fassung des Selbstgefühls, das in absoluter Bedeutung und deshalb in einer Entwicklung auftritt, die ihren Widerspruch zur Sprache des gesellschaftlichen Verkehrs ausgehen muß. Zu Beginn der Nouvelle Héloïse, genauer: in der zweiten Vorrede hebt Rousseau auf die Sprache der Liebe zur Menschheit ab, wie sie die der Zurückgezogenen oder Einsamen sein muß – auch und gerade dann, wenn sie in einer Gemeinschaft des Sprechens leben. Da wird ständig vom Selben gesprochen – nämlich von der Bestimmung, in der die Gemeinschaft, genauer: die Wechselbeziehung lebt. Ganz im Sinne der umgekehrten Abfolge der RelationsKategorien – so können wir im Vorblick auf die conceptuale Vernunft der Epoche sagen; ist doch rückläufig betrachtet die erste Kategorie die der Gemeinschaft. Wessen? Hören wir in den erwähnten Zusammenhang, der nämlich klären soll, wer eigentlich der Verfasser der Liebesbriefe des besagten Werkes ist. Da heißt es: „Lesen Sie einen Liebesbrief, der von einem Autor in seinem Kabinett verfaßt ist, von einem Schöngeist, der glänzen will. Für das wenige Feuer, das er im Kopf hat, wird sein Brief, wie man sagt, das Papier anbrennen; die Hitze wird nicht weiter reichen. Sie“ – nämlich der von Rousseau vorgestellte Kritiker – „werden bezaubert sein, vielleicht sogar erregt, aber von einer vorübergehenden und trockenen Erregung, die Ihnen für alle Erinnerung nur Wörter läßt.“ (OCP II, 15) Wörter statt Begriffe – können wir mit Hegel sagen – und erinnern dabei das Vernünftige, welches wirklich ist. Rousseau hat hier die Inspiration von Literaten im Blick, wie er sie sehr wohl aus nächster Nähe kannte. Und warum geht er auf sie ein? Offenbar einer Unterscheidung in der Sprache selbst wegen. In Absicht auf den Unterschied, den schon lange nicht mehr das Wort der Muse als der schlechthin Wissenden macht, auch nicht mehr das Wort der Christlichen Verkündigung, sondern in Absicht auf den Unterschied, den die Menschheit des Menschen in den betreffenden Briefen macht. Eben deswegen 4 Siehe Collection complète des tableaux historiques de la Révolution française II, 435: „C’est au milieu de nous qu’il fit Héloïse, Émile, et le Contrat social.“ Vgl. auch ebd., Tafel Nr. 108.

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muß das zur Selbstverständlichkeit gewordene Vorurteil getilgt werden, man wisse schon, wer da spricht. Jeder der Briefe ist ein solcher, den „die Liebe in Wirklichkeit diktiert hat. Ein Brief von einem Liebenden, der wahrhaft leidenschaftlich ist, wird ganz locker sein, diffus, in seinen Längen, seiner Unordnung, seinen Wiederholungen. Sein Herz, erfüllt von überfliegender Empfindung, sagt immer wieder dasselbe und wird niemals fertig, es zu sagen“. Die Wechselbeziehung, in der „Herz zu Herz spricht“, ist hier gleichsam unendlich. Dabei radikal verschieden vom „Jargon der Leidenschaften“. Achten wir auf diesen Unterschied in der Sprache selbst. Da tritt die Seite ihrer Natürlichkeit hervor. Sie ist das erste Moment des Bestimmungs-Terminus. Es läßt bereits auf die eigentümliche Stellung der Natur in der Letzten Epoche überhaupt aufmerksam werden. Und hier bedarf es wie nie zuvor der Aufmerksamkeit auf die nötigen und sogar nötigsten Unterscheidungen. Sogleich sei erinnert: Weder die sov¸a noch die conceptuale Philosophie der Ersten und der Mittleren Epoche kennen die sog. Natur in principieller Bedeutung. Wenn sie so in der Letzten auftritt, muß sogleich erinnert werden, daß sie in dieser Bedeutung nur zusammen mit der Freiheit gesehen werden darf. Ohne diese Unterscheidung genommen ist die sog. Natur dem Denken geradezu eine Pest. Halten wir fest: Die Sprache erscheint mit dem ersten Moment der rousseauischen Bestimmung in ihrer Natürlichkeit; und sogleich fügen wir hinzu: Natürlichkeit bedeutet dem Selbstgefühl Unmittelbarkeit. Wie Hegel klar macht, gibt es aber keine solche ohne die Seite der Vermittlung, welche bereits mit der besagten Wechselbeziehung angezeigt ist. Wohlgemerkt wird innerhalb der ersten ratio einer Weisheit mit ihr der Anfang gemacht – anders als in der Philosophie und ihrer KategorienFolge. Die Sprache der Unmittelbarkeit oder des Herzens. Rousseau bemerkt: „man fühlt sich von ihr bewegt, ohne zu wissen warum.“ (OCP II, 15) Sie ist die Sprache von Gedanken, die gemein sind, deutlicher: allgemein; dennoch ist ihr Stil und also die Darstellungsweise eher befremdlich – wie das im Extrem für Hölderlins späte Hymnen gilt. Wie wir gleich sehen werden, ist daran nicht von ungefähr zu erinnern. Rousseau fährt fort: „Die Liebe ist nur Illusion; sie schafft sich sozusagen ein anderes Universum; sie umgibt sich mit Gegenständen, die gar nicht sind, oder denen sie allein Sein gegeben hat“. Schon hier deutet sich an: Die Einbildungskraft ist in ihrer produktiven Bedeutung für die Weisheit der Letzten Epoche elementar. Hier waltet eine Sprache, die anders als in den beiden älteren Epochen Bilder schafft. Schiller wird sie als die sentimentalischen von den naiven, die er Homer unterstellt, scheiden. Anders als die seinen sind die neueren Sprach-Figuren „ohne Richtigkeit“, haben nämlich nichts, nach dem sich die Einbildung richten müßte. Es sind Bilder der Begeisterung. Denn weder die Sprache der Muse noch das Wort der Gnade kommt im Selbstgefühl an. Es spricht aus ihm selbst in der Weise des „Enthusiasmus“, der den Gott nur im Selbst kennen kann und auf es hin die Sprache der Andacht führt. Man muß sich über das Princip des Selbstgefühls, welches in das des Selbstbewußtseins

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übersetzt sein will, nur ja nicht täuschen. Und die Täuschung insbesondere des historischen Continuierens liegt hier näher denn je. Die Sprachlichkeit des ersten Moments im rousseauischen Bestimmungs-Terminus beruht, wie gesagt, formell in der Kategorie der Wechsel-Bestimmung, wie sie hier im Briefwechsel sinnfällig wird. Wenn der Gehalt des Gesagten nichts über das Gewöhnliche hinaus merken läßt, so läßt doch seine Form – und sie ist wohlgemerkt nicht die literarische – das Verabschiedet-sein alles Gewöhnlichen in dem sich hier aussprechenden Selbstgefühl erkennen. Aus ihm her ist der Stil im strengen Sinne „erhaben“ – bekundet die Vornehmheit und Würde der Stimmung des Wortes (16). So fragt Rousseau seinen Gegenspieler: „Was reden Sie von Briefen, vom Briefstil? Schreibend an das, was man liebt“ – merkwürdigerweise heißt es nicht: à celui, sondern à ce – „steht gerade das in Frage! das sind nicht mehr Briefe, die man schreibt, das sind Hymnen“ – Briefe und Hymnen im Sinne literarischer Gattungen großgeschrieben. Hier der spöttische Einwurf: „Bürger, sollen wir nach Ihrem Puls schauen?“ Das Stichwort zur sprachlichen Fassung der Bestimmung ist gefallen: Hymnen. Nicht mehr das Preislied für Götter oder Tote. Nicht mehr das Danklied für den Erlöser. Der Hymnos gilt hier dem erhabenen Selbst. Er fällt in das Gespräch „empfindsamer junger Leute, die sich miteinander über ihre Herzens-Interessen unterhalten. Sie denken keineswegs darauf, in den Augen des einen oder anderen zu glänzen. Sie kennen sich und lieben einander zu sehr, als daß die Eigenliebe irgend etwas mit ihnen zu tun hätte.“ Wieder ein zentraler Gedanke Rousseaus: die Unterscheidung der Selbstliebe von der Eigenliebe, welche die Wechsel-Bestimmung ausschließt, indem sie zur Verstellung voreinander anhält. Ein Gespräch junger Leute. Von welcher Jugend? Ähnlich jener vormaligen der nicht alternden Götter. Ihr werden wir wieder bei Schiller und Hölderlin begegnen. Die Jugend der nicht alternden Einbildungskraft statt derer, die, wie man sagt, noch nicht in die Jahre gekommen sind. Da ist sehr wohl zu unterscheiden. Kannte doch schon die Römische Welt den puer senex, den greisen Knaben. Und die heutigen Greise, welche immer noch Jugend – wenigstens mit jungen Hosen – prätendieren, sind wahrlich nicht weiter gediehen. Vergreist in sozialer Erregtheit. Schlechthin verschieden von ihnen die jungen Leute Rousseaus: „Sie verstehen zu lieben; sie beziehen alles auf ihre Leidenschaft.“ Und die ist gerade nicht die der „Philosophen“, will sagen: der aufgeklärten Literaten; sie führen denn auch nicht deren Sprache. „Ihre Irrtümer sind mehr wert als das Wissen der Weisen. Ihre ehrlichen Herzen tragen überall, bis in ihre Fehler, die Vorurteile der Tugend – immer vertrauend und stets verraten. Nichts versteht sie“ – wieder das merkwürdige Neutrum –, „nichts antwortet ihnen, alles betrügt sie.“ Hier zeichnet sich ab: Das Neutrum erklärt sich aus dem Mangel an Würde und so auch aus dem Fehlen des wesentlich unterschiedenen Selbst von absoluter Bedeutung. Es fehlt – dies sagt: es hat sich nicht selber hervorgebracht, hat sich nicht gebildet.

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Noch einmal: Auszugehen ist von der Wechsel-Bestimmung, die dort verhindert wird, wo die Eigenliebe herrscht. Der Ort der Wechsel-Bestimmung ist aber die Sprache. Achten wir darauf: Der Unterschied der Eigenliebe von der Selbstliebe und ihrem Selbstgefühl ist die Vorgabe für den Unterschied des Bewußtseins vom Selbstbewußtsein in principieller Bedeutung, wie es für das moralische Ich konstitutiv ist. Eben daran kann man den heutigen Mißbrauch des kantischen Gedankens in dem gelehrten Geschwätz vom Phänomen des Selbstbewußtseins ermessen. Das heißt doch die Studenten ins Elend setzen. Um wieder auf Rousseau zu hören: „Sie verstehen zu lieben“ und dies zieht im Sinne der Wechsel-Bestimmung nach sich: „Indem sie sich kennen machen, machen sie sich lieben“ und darin spricht die produktive Bedeutung ihres Verhaltens, das allenthalben die Wahrheit von der Richtigkeit unterscheidet. Weil die Wahrheit nur als die das Selbst wahrende anerkannt wird, gilt für die jungen Leute: „Sie verweigern sich den entmutigenden Wahrheiten: da sie nirgendwo finden, was sie empfinden, falten sie sich auf sich selbst zurück; sie lösen sich ab vom Rest des Universums; und erschaffend untereinander eine kleine, von der unsrigen verschiedene Welt, gestalten sie dort ein wahrhaft neues Schauspiel“. Ein spectaculum mundi des absoluten Gefühls und seiner produktiven Einbildungskraft. Hier sehen wir das Absolute im Sinne der Letzten Epoche unserer Geschichte auftauchen – die sich von allen Auflagen der gewöhnlichen Welt absolvierende Redlichkeit. Hierher gehört auch die Redlichkeit, mit der Rousseau seine Autorschaft bestreitet. In der gewöhnlichen Welt würde es sich um einen Roman handeln, den er verfaßt hat. Was wäre da zu seiner Zeit gewöhnlicher als Liebesbriefe. Nichts dergleichen will Rousseau. Er versteht sich als éditeur des Werkes – nicht als Verfasser, sondern als Herausgeber. Eine Unterscheidung, die uns an die Selbsteinschätzung des Evangelisten in der Mittleren Epoche denken läßt. Er versteht sich als Verkündiger, nicht als Verfasser; denn er weiß sich inspiriert und zwar vom Heiligen Geist. Auch Rousseau macht einen entsprechenden Unterschied gelten. Er beruft sich nicht auf diesen Geist, sondern auf das Gefühl des Absoluten, wie es sich gemeinhin und doch nicht in der Form der Gemeinschaft ausspricht. Er selber spricht für sie. Für eine Gemeinschaft wie sie allenthalben zu finden ist – allerdings mit der entscheidenden Bedingung einer verschiedenen Welt. Sie will und muß zur Sprache kommen. Die Welt des Gesprächs der besagten jungen Leute. Der Kritiker drängt zu dem Geständnis, er sei der Verfasser. Rousseau verweigert dies und sogar die Feststellung, welche die Bedingung aller Richtigkeit wäre – nämlich die jungen Leute existieren – wenn auch nur in einem Modus von Existenz, der sie wenigstens wahrscheinlich macht. Ganz gemäß dem alten Bedürfnis nach Historisierbarkeit. Statt dessen Rousseau: Sie existieren nicht; aber sie sind gewesen. Sie sind Wesen eines Andenkens, das der produktiven Einbildungskraft zur Menschheit des Menschen eigen ist. Die ist es, welche in ihrer Sprachlichkeit oder – gesehen auf die anfängliche Wechsel-Bestimmung – Gesprächigkeit das erste Moment der rousseauischen Bestimmung sehen läßt. Sinnigerweise beendet der Kritiker

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das Gespräch mit der Bemerkung: „Lassen Sie die Dinge, wie sie sind.“ (30) Genau das hat Rousseau nicht wollen können. Er will sie unter ihrer Bestimmung zeigen – nicht wie sie sind, sondern wie sie zu sein haben oder notwendigerweise sind. Diese Notwendigkeit ist aber – wie wir sehen werden – um einen ganzen Himmel verschieden von der homerischen oder neutestamentlichen, hier eingeschränkt auf die Synoptiker. Noch einmal in aller Kürze: Das erste Moment der Bestimmung ist das sprachliche. Da kommt die Erhabenheit der Menschheit des Menschen im Hymnos zu Wort. Das andere Moment zu diesem ersten – immer noch innerhalb der Bestimmung – ist seine geschichtliche Fassung. Die hat hier ihren Sinn auf eine Entwicklung hin. Formal und kategorial gesehen muß nach der Wechsel-Bestimmung das Verhältnis von Kausalität und Dependenz hervortreten. Will sagen: das anfängliche Einvernehmen der Versammelten muß ihrem je eigenen Willen weichen. Der hat aber in jedem jenen Willen zu seinem Beziehungsgrund, der sich gleichsam als die Erste Individualität heraushebt, von der das Verhalten der anderen abhängt, obgleich jeder für sich handelt. Die Person, um die sich ihr Handeln wie in einer Konstellation dreht, ist ohne Zweifel Julie. Der Kritiker des angeblichen Romans macht eigens darauf aufmerksam – nicht ohne Ironie –, daß es eine Frau ist, von der hier alle Wirkung ausgeht. Dazu noch eine „Predigerin“ (25), welche Tugend predigt. Welcher Freigeist kann da noch mit Lachen an sich halten? Sade hat gelacht und ihr gleich ein Diminutivum, nämlich Juliette nachgeschickt. Wir erinnern uns hier an Lacans Abhandlung über Sade und Kant.5 Daran mag man ermessen, was es heißen mag, im Denken ein „Zeitgenosse“ zu sein. Die ganze Geschichte jener Frau ist – darauf sind wir von Kant vorbereitet – gerade nicht die eines unterdrückenden oder gar vernichtenden Schicksals, sondern der Austrag ihrer Freiheit. Wenn eines, kann am wenigsten die Freiheit ein Schicksal sein. Sie bringt sich zu voller Durchsichtigkeit als die des eigenen Willens oder als durchgängige Selbstbestimmung. Sie wird – um die kategoriale Erschließung dieser Person zu vollenden – aus dem Widerspruch von Natur und Freiheit als die vollständig gebildete Persönlichkeit hervorgehen. Noch einmal: als Inbegriff der vollbrachten Selbstbestimmung, wie sie in der letzten Selbstzufriedenheit erscheint. Die Erläuterung des Bestimmungs-Terminus der rousseauischen ratio vollendet sich dort, wo er – aus seiner geschichtlichen Fassung herkommend – seine weltliche annimmt. Die Welt der sterbenden Julie ist ganz von ihr durchdrungen – die Welt ihrer Freiheit geworden. In ihr ist die Natur nicht verdrängt oder unterdrückt, sondern zu der Natur verwandelt, welche die Menschheit des Menschen ist – keine ihm äußere oder gar fremde. Wenn anders der Mensch derjenige einer Welt ist, muß auch seine Menschheit erscheinen, kann nicht die innerliche des bloßen Bewußtseins von sich bleiben. So stirbt Julie gleichsam in der Öffentlichkeit eines vollbrachten Lebens. Gerade in seiner Einzigkeit wird es paradigmatisch und doch freilassend. Nur auf 5

Siehe Lacan: „Kant avec Sade“.

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diese Weise wird die vollbrachte Bestimmung – das Geschehen der Selbstbefreiung – seinerseits bestimmend. Wie zeigt diese Bestimmung ihre moralische Bedeutung und so auch die Vernünftigkeit einer Weisheits-Gestalt? Was ursprünglich als die Natürlichkeit des kleinen menschlichen Kreises Gleichgesinnter erscheint, läßt bereits seine Abgeschiedenheit von einer Natürlichkeit und Weltlichkeit erkennen, wie sie die Vernunft-Gestalt der skizzierten Philosophie prägte. Wenn die Natürlichkeit jener Gemeinschaft am Anfang steht, so doch an einem solchen, der bereits in einer ausschließenden Beziehung und so auch vermittelten Beziehung zu Natur und Welt der Philosophie steht. Diese negative Beziehung ist zunächst nur die des Gesprächs der Gleichgesinnten. Als solche kann sie sich aber nicht halten, muß vielmehr zu der Welt kommen, welche über die Bildungs-Geschichte der Beteiligten zur ganz und gar eigenen wird – wohl ihrem Grund nach unterschieden von der gewöhnlichen und doch in diese eingebracht – wie das schon für die Weisheit des Neuen Testaments galt, wo es heißt: Ihr seid in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt, sondern von dem Wort Gottes. Der ganze Unterschied, den die Weisheit macht, beginnt mit ihrem Wort und also in der Sprache. Sie muß zunächst geschichtliche Bedeutung annehmen, sodann und schließlich zur Welt kommen. Eben dieser Vorgang ist der Bestimmung Rousseaus in der Folge der Momente anzusehen, welche seiner Bestimmung eigen sind. Was nun den Terminus der Sache anlangt, so steht sie unmittelbar unter der Bestimmung und das bleibt – anders als in der Philosophie, insbesondere anders als für die conceptuale Vernunft – eine Eigentümlichkeit der Weisheit. Noch einmal: aus dem Wort her über die Mitte der Geschichte zur Welt zu kommen. Wie entfaltet sich nun im Anschluß an den Bestimmungs-Terminus derjenige der Sache? Nach der Vorentscheidung über den Bau der Bestimmung muß die Sache von ihrer weltlichen Fassung her aufgenommen werden und am Émile verdeutlicht. Hier ist nicht mehr die Erläuterung der Selbstbestimmung in ihrer eigenen Genese die Aufgabe, sondern im Ganzen die Erziehung, wie sie nur von dem zu leisten ist, der die Bildung und also die Darstellung der Bestimmung in ihm selbst bereits vollbracht hat. Die Sache ist hier der Mensch, wie er nicht sich selber bildet, sondern – und daran wird die Sachlichkeit dieses Terminus sichtbar – von solchem Anderen erzogen werden muß. Überblicken wir das Ganze der Spanne dieser Erziehung. Sie hat ähnlich der Isolation der anfänglichen Gesellschaft die Isolation des Zöglings zur Voraussetzung – hier wie dort ist das die Bedingung der Reinheit, die nämlich in aller Weisheit den ganzen Unterschied macht. Achten wir darauf: Das Resultat der Bildung war die wesentlich freie Persönlichkeit, wie sie zugleich die einsame in ihrer Welt sein muß. So in der Bestimmung. In der Sache aber ist vom bloß erst Einzelnen auszugehen, wie er zum Subjekt der Erziehung eines schon Freien gemacht wird. Diese endet wohlgemerkt nicht in der Freiheit – die muß völlig der Selbstbestimmung überlassen bleiben –, sondern in der

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Selbständigkeit des Zöglings. Sie ist das Resultat. Der Anfang dazu ist der noch völlig unselbständige Mensch, wie er der allerdings in Reinheit – darauf hat der Erzieher durch Trennung des Kindes von den Eltern zu sehen – natürliche Mensch ist. Offensichtlich höchst unnatürlich im Sinne der gewöhnlich verstandenen Natürlichkeit. Die Erziehung hat ein Hauptziel: den gleichsam künstlicherweise natürlichen Menschen in seinem ursprünglichen Gut-sein vor den unzeitigen Eingriffen der Gesellschaft und ihrer Verderbtheit zu behüten. Sie trägt ihm in seinem Wachstum nichts an als das, was er aus sich selbst haben könnte. Wie die Bestimmung, so soll sich auch die Sache, die der einzelne Mensch ist, in der Abgeschiedenheit entwikkeln. Die Erziehung beginnt in dem natürlichen Anfang, der die Geburt ist. Schon da beginnt denn auch die Entfaltung der Sache in weltlicher Bestimmtheit. Deren Abgeschiedenheit bekundet sich zunächst im Vermeiden jeglicher Angewöhnung eines Verhaltens, wie sie nur eine fremdbestimmte sein kann. Solche Fremdbestimmung zieht sich aber im Fürchten-lernen zusammen. Der Erzieher muß dabei einmal die Tränen zu deuten verstehen, zum anderen das Auftauchen der Willkür im Willen beschneiden. In seinem ersten Moment des Ausgeliefert-seins an eine Welt ist das Kind im wörtlichen Sinne infans: es hat nichts zu sagen. So wird denn die zweite Phase der Entwicklung das andere Moment hervortreten lassen und zwar mit der Pflege der wachsenden Sprachlichkeit. Es entwächst seiner unmittelbaren Natürlichkeit, um ein moralisches Wesen zu werden, will sagen: in ein Antworten bis zur Verantwortung einzutreten. Das Antworten will aber zuerst auf die Nötigung durch sachliche Gegebenheiten verstanden sein; ihnen gehorchen lernen, darauf kommt es zunächst an, nicht dem Befehl eines Menschen. Dem Anspruch der natürlichen Umstände und Gegenstände ist zu gehorchen – erneut in Absonderung von der Willkür zufälliger Lust und Unlust auf etwas. Da beginnt die „wohl-geregelte“ Freiheit. Diesseits der Sprache des Haben-wollens. Genau daraufhin will die erste Moralität des Unterscheidens von Eigentum, von Mein und Dein entwickelt. Die eigentliche Sprachpflege beginnt mit ihrer gegenständlichen Erscheinung, nämlich im Lesen- und Schreiben-lernen. Dem folgt die Kultur überhaupt, wie sie in die Sprache eingelassen ist. Der Naturzustand, wie er ohne Entwicklung ist, wird eigens verlassen in der Kultur ebenso des Körpers wie des Verstandes. Hier hat zunächst die Erziehung des Umgangs mit dem eigenen Körper sowie die differenzierte Ausbildung des Gebrauchs der Sinne ihren Ort. Sodann beginnt die Verstandes-Erziehung – wieder gegenständlich gefaßt und also dem Bewußtsein dienend. Die Erziehung durch die Sachen selbst nimmt hier ihre produktive Bedeutung an und zwar in Gestalt des Handwerks. Die Gesellschaft deutet sich hier nur erst an und zwar in der Mannigfalt der handwerklichen Fähigkeiten. Bis hierher ist das Erziehungsziel gleichsam ein für sich selbst tätiger Robinson Crusoe.

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Die erste Phase der Erziehung war gleichsam der Substanzialität des Einzelnen gewidmet. Die zweite Phase zeigt auf der Grundlage des unmittelbaren Verhältnisses zur Welt die Entwicklung der Sprachlichkeit im Umgang mit den Dingen, die Einübung der Wechselbeziehung mit ihnen. So in Entfaltung ihrer Gegenständlichkeit. Die dritte Phase aber hat es aber mit dem Eintritt des Zöglings in die Gesellschaft zu tun. Da muß er sich unter vielen in seiner Wirksamkeit beweisen. Wohlgemerkt gibt er da seine Selbständigkeit nicht auf; vielmehr hat er dort das gesuchte Feld ihrer Bewährung. Und der Name dieses Feldes ist das geschichtliche Dasein.

V. Wenn wir den Gedanken der Letzten Epoche unserer Geschichte und zwar ihrer conceptualen Vernunft aufnehmen, so nicht aus der Willkür der je eigenen Interessen, sondern durch die gegenwärtige Aufgabe des Denkens bestimmt, dessen Gegenwart in der Submoderne und in der Postmoderne bereits eine Begrenzung und Erläuterung erfahren hat. In dieser Nachbarschaft bewegen wir uns mit dem Ausblick auf die von Geschichte und Welt des Denkens geschiedenen Weisheits-Gestalten, welche die Sprache für uns birgt. Weshalb dann auf die Philosophie, insbesondere die der conceptualen Vernunft, Rücksicht nehmen? Daraufhin sei wiederholt: Für die Abgrenzbarkeit der Weisheits-Gestalten können wir uns nur an die Maßgabe der Vernünftigkeit ihres Gedachten halten. Die erhellt aber einzig und allein aus ihrer in der Geschichte der Philosophie bewiesenen Concipierbarkeit. Nur sie zeigt den ganzen Unterschied zu der unbestimmten Vielheit dessen, was die Menschen aller Zeiten und Welt-Gegenden für eine Weisheit genommen haben. Das Meiste davon entfällt unserer Rücksicht durch den Ort, den dies alles in der strukturalen Anthropologie gefunden hat. Um hier vor allem auf die Arbeiten von Lévi-Strauss hinzuweisen. Was sich aus diesem Umkreis deutlich abhebt, sind zunächst die Gedanken, in denen sich maßgebliche Verhaltensweisen des Menschen zu seinesgleichen artikuliert haben – um hier die zarathustrischen Gathas und die konfuzianischen Vier Bücher zu erwähnen. Von derartigem hebt sich sodann die Buddha-Lehre ab, die es mit der Unterscheidung des Menschen von sich, weil vom Ganzen seiner Welt zu tun hat. Zwar hat sich auch da eine sog. Philosophie angeschlossen, die aber im Wesentlichen eine verständige Übersetzung und Auslegung dieser Lehre geblieben ist. Was daraufhin den ganzen Unterschied der abendländischen Tradition macht, ist die Selbständigkeit, welche ihre Philosophie nur durch die anfängliche Negation der ihr jeweils voraufgehenden Weisheit erbracht hat. Sie ist aber auf eine bis in unsere Tage verborgen gebliebene Weise grundstürzend gewesen, weil sie mit einer ratio terminorum einsetzt, welche allen folgenden rationes eine der sov¸a gegenläufige Sequenz vorzeichnet. Um hier kurz zu erinnern, was für alle Philosophie gilt: Sie setzt mit der natürlichen ratio Denken – Sache – Bestimmung ein; also gegenläufig zur ersten Sequenz einer sov¸a, nämlich Bestimmung – Sache – Denken. Jene erste philosophische Abfolge wird zu einer mundanen ratio verändert, indem unmittelbar mit der Sache eingesetzt wird, welcher die Bestimmung und das Denken folgen. Schließlich wird die Term-Folge jeweils dadurch verschoben, daß mit der Bestimmung eingesetzt wird, um ihr das Denken und die Sache folgen zu lassen. Nach diesen drei Sequenzen

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baut sich jede Figur einer Philosophie in unserer Geschichte – ausgehend von einer ratio naturalis, weiter zu einer ratio mundana, um sich jeweils in einer ratio conceptualis zu vervollständigen. Weshalb daran erinnern? Wegen der folgenden Beobachtung: Während die ratio des Beginns im Ganzen der Geschichte der Philosophie eine ratio naturalis ist, um ihre letzte Fassung in einer ratio conceptualis zu finden, gilt im Ganzen der Besinnung unserer Welt: sie setzt mit der Trennung dieses Ganzen von dem der Geschichte ein. Dieser Trennung wegen ist vom Schein der verworfenen conceptualen ratio auszugehen, um sie in einer Figur der ratio hermeneutica zu simulieren. Ihr folgt in Verschiebung zur vormals anfänglichen Term-Folge der ratio naturalis deren Verwandlung zur Sequenz der – sagen wir – technischen Figur. Dieser in der Moderne mittleren folgt als abschließende die Figur des apokalyptischen Denkens. In ihrem Bau der ratio mundana gleich. Während diese für die Moderne die eigentlich herrschende ist, nimmt sie im anarchischen Denken unserer Gegenwart eine simulative Stellung an – ähnlich der hermeneutischen Figur, welche die conceptuale simulierte. Die vormals hermeneutische aber verliert ihre simulative Bedeutung, indem sie zu einer zweigliedrigen ratio reduziert wird, nämlich unter Wegfall des Bestimmungs-Terminus. Im strukturalen Denken unserer Gegenwart erhält sich nur die unmittelbare Beziehung der Termini Sache und Denken. Folgen wir dem Zug der Reduktion, so ist letztendlich das technische Denken der Moderne betroffen. Es schrumpft zu einem verhältnislosen Terminus – ebenso um die dem Denken folgende Sache wie um die dieser folgende Bestimmung verkürzt. Was bedeutet dies? Freges strenge Maßgabe für alle Besinnung auf die Wissenschaften, nämlich die Trennung des Begreifens vom Vorstellen und also von der Rücksicht auf das alltägliche Bewußtsein ist hier sozusagen vergeudet. Bei allem logischen Imponiergehabe sinkt das Denken zum schlechthin kahlen Manipulieren seiner selbst herab, verliert alle Hemmung vor seiner beliebigen Instrumentalisierung in einem Alltag, dem es sich zu sog. ,ethischen‘ Regulierungen anbietet. Auf ihn hin an ihm selbst schlechthin indifferent. Nur noch süchtig nach Sachen, die es sich vorgeben läßt, nachdem es selber keine mehr vorzuzeichnen vermag. Es sei denn als ,virtuelle Realität‘ vorzustellen. Dieses in Unfreiheit versunkene, weil keine Freiheit wollende Denken ist aber nur die Verwesungs-Gestalt der technischen ratio. Wir fragen uns: Wie ist sie aus dieser Eindimensionalität zu retten? Lassen wir die zweifelhafte Berechtigung schon dieser Frage, um nicht mehr die besagte Reduktion der vormaligen ratio auf einen einzigen Terminus zu betrachten, sondern den Rückgang der ersten ratio der Philosophie überhaupt aus der technischen zur natürlichen ratio, um diese als die Mitte zu einem gegenwärtigen Rückgang auf die rationalen Figuren der sov¸a zu erkennen. Aus der vorgetragenen Beobachtung halten wir nur fest: In der Gegenwart sehen wir zum einen die Contraction der dreigliedrigen ratio des an-archischen Denkens

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zur zweigliedrigen des strukturalen und weiter zur eingliedrigen eines zur bloßen Machenschaftlichkeit verkommenen Denkens. Genau von seiner Ärmlichkeit unterscheidet sich die Armut des logotektonischen Denkens. Es ist ein Denken nur des Gedachten, weil nur dieses ihm zu denken gibt. Umso dringender wird hier die Unterscheidung des Gedachten. Nicht nur von der Gedankenlosigkeit des sozusagen eindimensionalen, in seine Instrumentalisierung verlorenen Denkens, sondern ebenso von einem Denken der Gegenwart, das zwar ebenfalls auf den einen Terminus des Denkens reduziert ist, dies jedoch in Verhaltenheit vor dem schon Gedachten, an dem es in der Weise einer Logotektonik nichts anderes als die Geschlossenheit seiner Figuren zu Gesicht bringt. Es hat nichts als was es baut: die besagten rationes und ihre Figuren. Zu bauen vermag es aber nur aus dem, was ihm als Gedachtes gegeben ist. In Verhaltenheit vor dem in der Geschichte der Philosophie, in der Besinnung der Moderne und selbst noch im Denken der Gegenwart Gegebenen baut es in der Weise eines sich vervollständigenden Unterscheidens. „Es gibt Sein“ – dieser letzte Gedanke der Moderne vergeht ihm in die Einsicht, welche alle Phänomenalität tilgen muß, wie sie ebenso der alten ratio mundana wie der modernen ratio apocalyptica wesentlich blieb. Jetzt aber gilt: Es gibt Gedachtes wie es noch ungedacht ist. Dieses verlangt aber die Aufmerksamkeit auf das, was erstlich zu denken gegeben hat. Das sind in jeder der Epochen unserer Geschichte die Gestalten der sov¸a gewesen. Anders als für die conceptuale Vernunft sind sie für die Logotektonik nicht so sehr als das zu verstehen, was anfänglich zu wissen, sondern als das, was anfänglich zu denken gibt. Das ist aber alles im Sinne der Unterscheidung des Menschen von sich selbst Vollbrachte. Nur davon ist zu lernen, was es mit der Unterscheidung des ,Wie es nicht zu sein hat und doch ist‘ von dem ,Wie es ist‘ und ,Wie es nicht ist‘ auf sich hat – also mit dem, was der kahle Verstand der Gegenwart als ,Deontik‘ anbietet. Das Gesagte und so auch Gewiesene der Weisheits-Gestalten gibt zu denken. Dieser Sachverhalt erschließt sich einem Denken, das an der Schranke, auf die der heideggersche Gedanke gestoßen ist, seine Scheu vor dem technischen Denken überwunden hat, um dessen ratio auf die natürliche des Anfangs der Philosophie zurückzunehmen. Dieser Anfang wird ihm zum Wendepunkt, an dem der Schritt zum logotektonischen Erschließen der Weisheits-Gestalten getan werden muß – aus einer Notwendigkeit, welche in der Weisheit selber liegt und nicht im Bedienen heutiger Nöte, wie sie allemal das vollständig instrumentalisierte Denken beherrschen. So viel zunächst als Besinnung auf das Unternehmen, in dem wir jetzt stehen – nämlich die der Letzten Epoche der Philosophie zu entnehmende sov¸a eigens zu bauen. Um zunächst an die rousseauische ratio, insbesondere an deren Eröffnung zu erinnern, nämlich an die Bestimmung. Sie legte sich ihrerseits zunächst nach ihrer sprachlichen Fassung aus – kurz: als Hymnos auf die Menschheit des Menschen und dies in der Weise des Gesprächs. Um hier an Hölderlins Wendung in seiner Friedensfeier vorzudenken: „Seit ein Gespräch wir sind“ (StA III, 536,92). Eben daraufhin stand am Beginn die Wechsel-Bestimmung.

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Ihr folgte die Sammlung auf die Ursache der Personen nach der Seite ihrer Verschiedenheit. Da wurden sie – zentriert auf die maßgebliche Person – in geschichtlicher Bestimmtheit gegenwärtig, zumal in der Spannung, welche das Geschick einer unerfüllbaren Liebes-Beziehung mit sich bringt. Schließlich konkretisierte sich die Haupt-Person zur Einzigkeit einer Persönlichkeit, deren Ausstrahlung gerade im Verzicht zur sich vollendenden Entfaltung kommt. Sie beschließt ihre Entwicklung in voller Freiheit und Selbstzufriedenheit. Der Tod kommt ihr nicht als eine fremde Gewalt. Julie ist Inbegriff der ganz aus sich selbst gebildeten freien Persönlichkeit. Anders die Bewegung des Émile. Er ist unter solcher Bestimmung die Sache, wie sie nicht aus ihrem inneren Princip gebildet, sondern von einem bereits Freien erzogen sein will und dies im Wesentlichen nicht im Sinne des Beibringens von diesem und jenem, sondern des Behütens und Steuerns des immer schon eigenen Wachstums. Solche Sache ist da zuerst von weltlicher Bestimmtheit, will sagen: ein künstlich, weil aus Erziehungs-Gründen vereinzeltes, natürliches Wesen, das sich zunächst seine unmittelbare Welt erschließen, gleichsam ertasten muß, um seine substanzielle Einzelnheit abarbeiten zu können. Die Bedingung dafür schafft es sich mit der Entwicklung des zweiten Moments, nämlich seiner Sprachlichkeit. Diese formiert sich nicht so sehr im Gespräch als vielmehr im Angesprochen-werden und Ansprechen von Gegenständen oder Widerständen. Im Wechsel-Verhältnis mit ihnen sich nicht zu drücken, das sachlich Notwendige zu verstehen und selber ins Werk zu setzen, darauf kommt es in dieser zweiten Phase des Lernens an. Die dritte Phase hat es mit der Erziehung des Subjekts zu tun, wie es das geschichtliche sein muß. Erst als solches wird es auf seine Vergesellschaftlichung hin ausgebildet. Da muß es seine Selbständigkeit unter seinesgleichen wirkend behaupten. Seine Vorbereitung auf die Gesellschaft beginnt mit der Aufklärung über den Sinn des Geschlechts-Unterschieds und die mit ihm verbundene Begierde. Ihr ist sogleich die Richtung auf – die Allgemeinheit zu geben und zwar in der Pflege des Gefühls für die Menschheit im Ganzen – des Gefühls der Achtung für einen jeden, nämlich der pieté. Die Vertrautheit mit der entsprechenden Gesellschaft ist so wenig eine unmittelbare, daß sie über den Verstand vermittelt werden muß und zwar über die Historie der Menschen. Sodann wird das gesellschaftliche Verhalten und seine Tugenden in Gestalt von Fabeln vergegenwärtigt. Wohlgemerkt noch diesseits aller eigenen gesellschaftlichen Erfahrung. Nicht von ungefähr ist es der Gebrauch der Fabel, welcher zur religiösen Erziehung überleitet. Bezeichnenderweise gibt hier der Erzieher einem Geistlichen das Wort und zwar jemandem, der in sich selbst die Lösung von dem Christentum der Alten Kirche ausgetragen hat. Ein Bildungs-Vorgang, für den der calvinistische Pfarrer, der seinerseits von der sterbenden Héloïse belehrt

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wird, gerade nicht einstehen kann. Umso weniger als Rousseau eine Belehrung im Sinne des Katechismus – er ist eine reformatorische Erfindung – vorab eigens verwirft. Was der savoyardische Vikar vorträgt, ist der Glaube an ein höchstes Wesen und die je eigene Unsterblichkeit. Dies ist – wie später für Kant – der ganze Inhalt einer wesentlich Bürgerlichen Religion. Ein Rest, der sich aus der aufklärerischen Feindschaft gegen die contagion sacrée – wie Holbach das nennt6 – erhält. Nach der religiösen vollendet sich die Erziehung des Individuums mit der moralischen als der höchsten überhaupt. Worin besteht sie? Nicht in kahlen Geboten oder Vorschriften, sondern in dem Gebrauch, den das Individuum von seiner Welt machen soll. Solche Selbständigkeit des Zöglings gibt dem Erzieher eine neue Stellung, nämlich die des Ratgebers beim Eintritt in die gesellschaftliche Welt und zwar derart, daß er sich eine Begleiterin, sozusagen eine Gesellschafterin suchen muß. Worauf es dabei zunächst ankommt, ist dies, die wahre Höflichkeit zu üben, welche ihre Wahrheit an dem Gefühl und Takt des Herzens hat. Auch es bedarf einer eigenen Bildung, wie sie in derjenigen des Geschmacks und des Sinns für Schönheit zu suchen ist. Dazu hilft die entsprechende Lektüre und die Bekanntheit mit dem Schauspiel. Dies erinnert daran, daß wir uns genauer besehen immer noch bei der Entwicklung aufhalten, welche der Sprache eigen ist. Das Drama ist demnach die letzte Stufe in der rousseauischen Erziehung des Individuums. Es hat bisher noch keine Kausalität und ist deshalb auch noch nicht selber zur geschichtlichen Wirksamkeit aufgegangen. Seine Bekanntheit mit ihr ist bisher nur eine vermittelte und so immer noch sprachlich gefaßte. Zuletzt in der Anschauung, welche das Theater von der geschichtlichen Wirklichkeit bietet. Um selber in dieser Wirklichkeit zu stehen, muß das moralische Individuum eine Verbindung von bleibender Verbindlichkeit eingehen – will sagen: eine Ehe. Deren Glück ist aber durch die Verbindung mit einer Person bedingt, die ihrerseits gelernt haben muß, von der Freiheit Gebrauch zu machen – nicht mit denselben Aufgaben wie der Mann, sondern als Frau. Daraufhin muß die Erziehung eine modifizierte sein. Darf doch dem natürlichen Unterschied des Geschlechts nicht die Gewalt geschehen, in die Gleichgültigkeit verdrängt zu werden. Wie wenig in dem Erziehungs-Entwurf für den jungen Mann eine Herabsetzung der weiblichen Seite liegen kann, sollte schon aus der Erinnerung an die Bestimmung deutlich werden. Für die Anschauung dieses Ersten hatte Rousseau eine Frau gewählt. Gegenüber der Bildung der Persönlichkeit aus sich selbst gehört die Erziehung Émiles in den Terminus der Sache, wie sie unter der bereits vollbrachten Bestimmung steht. Wenn in der Gegenwart, sofern sie die der Submoderne ist, die Indifferenz auch der Geschlechter herrschend wird, so in einer ausschließenden Beziehung auf die Weisheit, welche in der Letzten Epoche unserer Geschichte zum Tragen gebracht worden ist. Ausdrücklich mit einer weitläufigen Kultur des Unterschiedes der Ge-

6 Siehe Holbach: La contagion sacrée ou Histoire naturelle de la superstition ou Tableau des effets que les opinions religieuses ont produits sur la terre (1768).

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schlechter – will sagen: der selber eigens entwickelten Achtung für die natürlichen Bedingungen. Nicht von ungefähr gibt Rousseau gerade der Gattin des Émile den Namen ,Sophie‘. Und er betont: sie ist nicht durch Bücher belehrt, sondern durch die Welt. Will sagen: Sie ist mit der Wirklichkeit vertraut gemacht worden, wie sie in ihrer Konkretion die geschichtliche sein muß. Das ist sie aber zuerst für die Familie. Doch nirgendwo läßt Rousseau eine Wirklichkeit einfallen, welche nicht die vermittelte wäre. Keine Natur, welche nicht in Freiheit aufgehoben würde. So auch in der Wahl der Gattin. Wie das Verhältnis sich vor der Heirat entwickelt, wie es Spannungen und Versöhnungen kennt, kennen muß, gibt der ganzen Bewegung die Spannung auf ein Resultat, das aus Widerständen hervorgeht. Sie werden im Wesentlichen vor der Ehe abgeklärt, damit sie aus einer Bewährung geschlossen wird. Die gesuchte Verbindung wird in einer Zeit der Trennung geprüft. Der künftige Gatte geht auf Reisen, um die weitere Welt kennenzulernen: genauer: um in ihrem Buch zu lesen, sich von ihr belehren zu lassen, mit dem weitesten Feld seiner Wirkung vertraut zu werden. Insbesondere aber mit den politischen Einrichtungen anderer Völker, mit ihren Rechts-Verhältnissen und ihren Sitten. Wieder sei im Vorblick auf das Ganze der Sache an Hölderlin erinnert, an die Bedeutung, welche er der Fremde und der Heimkehr aus ihr in befestigte häusliche Verhältnisse gibt. Auch der Émile ist nach gewöhnlichen Unterscheidungen eine Dichtung, eine Erzählung. Dennoch versagen auch hier die üblichen Kategorien wie ,ErziehungsRoman‘ oder dergleichen. Die Sache ist nicht weniger einzigartig als die Bestimmung, unter der sie steht. Und ist ohne Rücksicht auf diese nicht zu würdigen. Wie gesagt, ist das Werk Rousseaus – ob ihm selber verborgen oder nicht – das Gefüge einer weisheitlichen ratio. Deren letzter Terminus ist die Fassung, welche nach Bestimmung und Sache dem Denken zu geben ist. Nach unserem bisherigen Bau ist bereits vorentschieden, daß als dessen erstes Moment das geschichtliche seine Prägung erfahren muß. In welcher Bedeutung? Nur dann ist ein Denken als solches geschichtlich, wenn es einen Unterschied im Ganzen macht. Gesehen auf Rousseau: wenn sein Gedanke derart anfänglich ist, daß er sich in ihm selbst unterscheidet. Das einzige Motiv dafür liegt aber in der Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Deren Grund ist das Unvordenkliche. Um sogleich hinzuzufügen: keine Natur, wie das alle Anthropologie unterstellt und nach Maßgabe ihres Gegenstandes unterstellen muß. Die besagte Unterscheidung beansprucht ein Denken, das seiner Bestimmung entsprechend sich von sich unterscheidet. Und das muß ihr gemäß eine Unterscheidung in Freiheit sein. Wir stoßen hier auf einen Sachverhalt, der für das Verständnis der Letzten Epoche unserer Geschichte von grundlegender Bedeutung ist. Sehen wir näher hin: Aus der bereits entfalteten ratio wird deutlich: der Terminus des Denkens kann in dieser Figur nur im Resultat der ersten ratio auftreten. Mit einem Denken, das bei sich ist, weil es

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zu sich gebracht wurde. Und zwar von einer Bestimmung her, die es nicht selber erfinden konnte. Es ist nämlich zur Freiheit bestimmt, zur Selbstbestimmung und dies derart, daß es eben darin seine Natur realisiert. Es ist von Natur frei. Diese Freiheit hat aber eine Bewandtnis, die einzig und allein aus der Bestimmung aufgeht, unter der es steht. Und unter dieser steht es wiederum nur mittelbar, nämlich unter Vorgabe einer Erziehung, welche die Natürlichkeit des Menschen eben deshalb anerkennt, weil sie immer schon als die des wesentlich freien Menschen bestimmt ist, der allerdings zum Gebrauch seiner Freiheit erzogen sein will – zu einem Handeln, das als eine Kausalität aus Freiheit zu wollen ist. Das Denken muß seiner Bestimmung innewerden und vermag dies nur, wenn ihm nicht nur seine Bestimmung voraufgeht, wie sie bereits als die des unterschiedenen Menschen des Gesprächs hervortrat, sondern ebenso die Sache, welche der ihr gemäß erzogene Mensch ist. Erst von ihm her kann sich das Denken, welches ihn auszeichnet, seine Fassung als unterschiedenes Denken geben. Welches ist das? Nicht jenes, das aus der immer nur graduellen Unterscheidung des Menschen vom Tier hervortritt, sondern jenes wahrhaft andere, welches die Unterscheidung vom Menschen eines immer noch tierischen Verstandes vollzogen hat. Eben daraufhin offenbart sich, was vernünftig ist. Sehen wir für einen Augenblick auf die Philosophie der Epoche zurück. Da gibt es sozusagen die Anzeige der rousseauischen Bestimmung; dies jedoch mit der cartesischen res cogitans, wie sie unter der Maßgabe der wesentlich instrumentalen Methode steht – einem Instrument, das gerade kein Denken von Natur zuläßt. Da gibt es nach der anderen Seite mit der hobbesischen, unmittelbar als natürlicher auftretenden Sache ein Denken von Natur, wie es aber für den Menschen als gesellschaftlichen selbstzerstörerisch ist. Weder das freie Denken noch die freie Sache kann die Freiheit in absoluter Bedeutung darstellen. Das gilt auch für die Modifikationen der natürlichen und der mundanen Vernunft in der Eröffnungs-Phase dieser Epoche. Sie läßt erkennen: Die Philosophie kann nicht von sich aus zur Anschauung der Selbstbestimmung in absoluter Bedeutung kommen, sondern nur durch eine Vorgabe, die sie nicht von sich aus zu geben vermag, da sie sogar für die entsprechende Unterscheidung der Vernunft von sich selbst auf eine vorgängige Unterscheidung des Menschen von sich selbst in der Anschauung angewiesen ist. Nur darin und nicht in der Angewiesenheit des Verstandes auf die Sinnlichkeit und weiter auf die Erfahrung ist ihre wahre Endlichkeit zu sehen. Unsere Rücksicht auf die Weisheits-Gestalten hat das sog. Fortbestimmen philosophischer Positionen rein in ihnen selbst als eine fatale Verschleierung der historischen Hermeneutik entlarvt, als ein sich selbst genießendes Räsonnieren, das als solches keinen Widerstand kennt, und eben deshalb an seiner gegenwärtigen Aufgabe vorbeigehen muß. Mit der Philosophie sozusagen Schluß zu machen, war die inspirierte Tat Rousseaus, die überhaupt erst die Arbeit der conceptualen Vernunft und so auch die kopernikanische Wende Kants ermöglicht hat.

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Rousseau ging auf: nicht mit dem Denken ist der Anfang zu machen, auch nicht mit seiner Sache, sondern mit der Bestimmung; mit ihr aber nicht nach Art der conceptualen Vernunft, nämlich derart, daß sich das Denken selber seine Sache bestimmt, sondern die rein aus der Bestimmung folgende zu der seinen macht. Die Bestimmung, das war die rein aus sich selbst entwickelte Persönlichkeit von erlittener und durchlittener Selbstbestimmung. Die Sache, das war der ihr gemäß erzogene Mensch. Das Denken nun sieht in ihm seine Aufgabe, sofern nämlich dieser Mensch in ihm, in der dem Denken wesentlichen Allgemeinheit aufgehoben sein will. Die auf die Erziehung folgende konkrete Allgemeinheit des freien Menschen ist aber zum einen die des Volkes, zum anderen die des Staates. Das Volk ist das von Natur freie, der Staat ist der aus Freiheit freie und kann daher ebenso derjenige einer unfreien Gesellschaft sein. Seiner ersten Fassung nach ist das Denken, wie gesagt, ein geschichtliches und also ein unterschiedenes auf die Kausalität von Natur und diejenige aus Freiheit hin. Nur der an sich Freie kann seine Freiheit verspielen. Und die verspielte Freiheit ist das, was Rousseau erstlich zu denken gibt. Auch hier gilt: Wie es nicht zu sein hat, ist es. Eben dieser Sachverhalt, der nur ein gedachter, weil entworfener sein kann, ist der erste Beweggrund im rousseauischen Denken. Denn wohlgemerkt leiden die Menschen nicht unter ihrer Unfreiheit, lieben sie vielmehr. Das Leiden an der Unfreiheit tritt unter ihnen nur als Leiden an solchen Herrschafts-Verhältnissen auf, in denen sie sich nicht zureichend an der Herrschaft über ihresgleichen beteiligt fühlen. Also ist schon im Beginn des rousseauischen Denkens auf den Unterschied des Denkens und so auch der Unfreiheit aufmerksam zu machen; denn der gestörte Genuß der Unfreiheit ist nicht mit dem Willen zum Aufbruch aus ihr zu verwechseln. Eben daraufhin erklärt sich auch, daß keinerlei Nöte die Menschen zur Unterscheidung ihres Denkens bringen können. Wie die Freiheit das Denken als solches bewegt und zwar zur Unterscheidung von sich, ist sie die Freiheit der Gesellschafts-Ordnung. Nur aus ihr stammt das Recht, nicht aus der Natur. So ist denn überhaupt der Gedanke des Rechts der erste Gedanke der Vernunft, nicht des Verstandes. Wieder muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Gedanke des Rechts zu einer natürlichen Vorstellung pervertiert werden kann. Mit dem Schein von rechtlichen Forderungen, welche nur die Annehmlichkeit der Unfreiheit befördern sollen. Erstaunlicherweise führt Rousseau die Gesellschafts-Ordnung als ein geheiligtes Recht ein und zwar als die Grundlage aller anderen Rechte. Diese Grundlage ist aber nichts anderes als das unterschiedene Denken. Noch einmal: Wie unterschieden? Durch das Hervortreten seines epochalen Grundzugs, der das setzende Denken ist. Eben daraufhin versteht sich denn auch die zutiefst bürgerliche Verabschiedung eines Denkens, dessen Grundzug die Anerkennung des Gegeben-seins von Allem ist. Denken ist Setzen – nicht irgendwie oder überhaupt, sondern in produktiver Bedeutung. Genau daraufhin steht es aber von Anfang an unter der Bestimmung zu denken, wie es zu sein hat, und sich das Denken, wie es ist, zu unterwerfen. Nur das

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also subjektierte Denken ist selber frei – jenseits aller Willkür, welche allemal seine Verknechtung unter die vom Verstande vorgestellten Lebensbedürfnisse anzeigt. Dies sollte noch einmal an die fundamentale Bedeutung des Hervortretens einer ratio und ihrer Termini unterstreichen. Nur aus ihr her ziehen wir den Leitfaden, der uns auf dem Denken als unterschiedenem insistieren läßt. Nur da gilt die VernunftEinsicht: Denken ist Setzen und die eigentliche Setzung ist die des Gesetzes. Nicht von ungefähr ist gerade diese Einsicht mit dem Vergessen der ihr wesentlichen Unterscheidung in der Moderne versunken. Daher auch noch Heideggers Empfindlichkeit gegen den kantischen Gedanken: Sein „ist bloß die Position eines Dinges“ (AA III, 401,9). Heidegger perhorresciert ihn, weil er darin die Heraufkunft des Technikwesens hört.7 Hier ist die weisheitliche Bedeutung des Setzens der Vernunft vor allem Setzen des Verstandes völlig verschüttet und mit ihr auch der Sinn von Rousseaus Wort: Die Gesellschafts-Ordnung ist das eine und einzige droit sacré. Dieses heilige Recht – noch Hegel wird die Heiligkeit des Rechts behaupten – ist sozusagen die Feste der Bürgerlichen Gesellschaft – fügen wir sogleich hinzu: gewesen. Hier wo wir nach dem Ausschau halten, was im Gewesenen von eigener Gegenwart bleibt. Die Gesellschafts-Ordnung hat an diesem Recht, dem schlechthin Heiligen dieser Epoche, die Grundlage aller anderen Rechte und es ist leicht zu sehen, daß es sich hier um die Fassung des Denkens im Sinne der Freiheit handeln muß. Das Recht ist nicht von Natur. Was könnte aber nicht von Natur sein, wenn nicht das unterschiedene Denken. Dieses Recht kann nur auf Setzung gegründet sein und solche Gründung hat den Charakter einer Convention, einer Übereinkunft. Man braucht hier nur an die Bedeutung der sumh¶jg in der Ersten Epoche zu erinnern, um den epochalen Unterschied, den die Letzte macht zu bemerken. Die Vereinbarung hat in der Ersten Epoche nur den Rang des aus natürlicher Vernunft Gedachten. In der Mittleren Epoche des aus mundaner Vernunft und ihrer Convenienzen zu Leid und Lust Gedachten. Was im Recht auf Natur beruht, ist allemal menschliche Gewalt gegen Menschen. Wohlgemerkt muß deren Menschlichkeit bereits unterstellt sein und mit ihr auch dies, daß sie in den Gedanken fällt. Eine inner-gesellschaftliche Gewalt. Die älteste und natürlichste Gesellschaft ist aber die Familie. Sie löst sich jeweils mit der Verselbständigung der Kinder auf. So werden sie aus dem Verhältnis der elterlichen Sorge und des entsprechenden Gehorsams entlassen. In dieser Lage tritt die Gesellschaft ein als eine solche des ganz und gar willentlichen Beisammen-seins: Ort gemeinsamer Freiheit (OCP III, I 2). Da gilt als erstes Gesetz: die Selbsterhaltung wahren – sich als Ursache des eigenen Seins verstehen, schon so eine nicht mehr natürliche Ursache wie sie die Eltern waren. Nur daraufhin kann denn auch hier von einer Pflicht die Rede sein, für sich selber zu sorgen, seine Selbständigkeit überdies in der Sorge für die eigene Familie zu beweisen, statt sich wie etwas Natürliches versorgen zu lassen. Muß hier noch dargetan werden, daß und wie die Bestimmung, 7

Siehe Heidegger: „Kants These über das Sein“ (Wegmarken, 439 – 73 [273 – 307]).

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welche die erste ratio unserer submodernen Gegenwart ist, nämlich das sog. Soziale, seine Herkunft nicht aus den Bürgerlichen Rechten der Letzten Epoche herleiten darf. Seine Ansprüche mit Gebrüll geltend zu machen, würde in ihr nur dem infans zugebilligt und kann denn auch nur eine infantile Gesellschaft beeindrucken. Die nicht mehr bürgerlich Erzogenen verlieren – wie schon Rousseau bemerkt – den Antrieb, die Freiheit zu realisieren, wie sie im Unterschied zur Willkür ein VernunftGedanke sein muß. Die Gesellschaft unter dem Recht besteht im Wesentlichen aus solchen, die ihr eigener Herr sind. Als Freie wissen sie, daß das Recht nicht von einer Tatsache herzuleiten ist, sondern nur vom vernünftigen Willen. Das ist aber der Wille unter einer Pflicht, während die Klugheit des Verstandes der Notwendigkeit unterworfen bleibt (II 3). Der Not gehorchen – das ist im Princip, weil aus Vernunft, unterschieden von: der Gewalt gehorchen: dieser ist nur dann zu gehorchen, wenn sie ihrerseits legitim, d. h. aber vernünftig ist. Gewalt stiftet kein Recht und Recht ist seiner Setzungs-Herkunft nach stets gestiftetes. Auch hier eine Vorerinnerung an den Stiftungs-Charakter alles Bleibenden. Stiftung geschieht aber aus Übereinkunft der beteiligten Willen. Daß jemand sich freiwillig der Freiheit begeben könnte, ist absurd und schließt die Legitimität solcher Tat aus. Wir beobachten aber geschichtlich unterscheidend: die Mittlere Epoche kennt sehr wohl eine Selbstaufgabe des eigenen Willens und zwar im Gelübde der religiosi – ein Sachverhalt, dem das Denken der Letzten Epoche sogleich mit Feindschaft begegnen muß. Freiheit der Person und also des Rechts-Subjekts ist unverfügbar und deshalb nicht veräußerlich. Sie und eben nicht die Natur ist der eigentliche Widersacher jeglicher Willkür. Auf seine Freiheit verzichten würde bedeuten: auf seine Menschheit, das Sein als Mensch verzichten und so auch auf dessen Rechte. So bedeutete denn auch die Einrichtung absoluter Autorität oder grenzenlosen Gehorsams die Aufhebung jeglicher Moralität. Hier ist ein Blick auf die Unterscheidung der Epochen unserer Geschichte angebracht. Deren Unterschiede sind in den Weisheits-Gestalten gegründet. Sie scheinen sich untereinander zu stoßen; scheinen, was ihren jeweiligen Bestimmungsgrund anlangt, in einer ausschließenden Beziehung zu stehen. Woher hätte sonst unsere strenge Unterscheidung der Epochen ihr Recht? Dennoch sind da Unterschiede der Ausschließlichkeit zu bemerken, sobald wir in Betracht ziehen, daß und wie die einzelnen Epochen in ein Continuum eingebettet werden. In ein Continuum von altersher gewohnter Denkweisen, aber auch in ein Continuum von Philosophie. Die der Mittleren Epoche thematisiert eigens ihre Verträglichkeit – wo nicht mit der sov¸a der Ersten Epoche, so doch mit deren Philosophie. Was aber die Letzte Epoche anlangt, so beginnt sie philosophisch mit einem Bruch, dagegen verbreitet ihre sov¸a den Schein der Übernahme des Christlichen Wissens – allerdings mit einer Modifikation, welche die ausschließende Beziehung auf die Weisheit der Ersten Epoche tilgt. Die Abneigung der lutherischen wie auch der calvinischen

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Denkart gegen sie ist von verschwindender Bedeutung. Die Zeit Rousseaus hat einem derart ausgrenzenden Christentum bereits den Boden entzogen und rühmt sich der Toleranz. Dies bringt uns zum Bewußtsein: wir sind es, die wir alles auf Unterscheidung anlegen – erstlich der Weisheits-Gestalten, sodann der auf sie bezogenen Vernunft-Gestalten. Allerdings sind die Unterschiede, die wir geltend machen, in jedem Falle bereits zur Sprache gekommenen, aber nicht in der eigentümlichen Weise unseres durchgängigen und vollständigen Unterscheidens des schon Gedachten. Dazu bedurfte es eines eigenen Beweggrundes. Wo liegt er? In der Gegenwart eines Denkens, das keine von ihm verschiedene Sache mehr kennt, statt dessen aber ein Gedachtes, das von ihm selbst verschieden ist und vor dem es verhält. Dieses in emphatischer Bedeutung Gedachte ist wohl dasjenige der vormaligen Weisheits-Gestalten, die aber mit der Trennung von der Philosophie eine neue Stellung annehmen. Zusammen mit dieser mußten sie als eine Gestalt des Wissens betrachtet werden, wie es als Wissen maßgeblich von der Philosophie bestimmt wurde. Daraus erhellt, daß sie mit deren Verschieden-sein ebenfalls untergehen mußten. Die Besinnung der Moderne ist insbesondere mit ihrer Kern-Figur die Besiegelung dieses Vorgangs. Dies umso mehr als da nicht einmal mehr die eigentümliche Bedeutung des Verscheidens und des Verschieden-seins erfragt wird. Das ist denn auch trotz der heideggerschen Thematisierung des Todes garnicht möglich, solange nicht ein Wechsel in der Sphäre des Denkens eingetreten ist. In welchem Sinne? Erinnern wir uns: Innerhalb der Geschichte der Philosophie wurden die Weisheits-Gestalten mit ihrer Wissenschaft durch die conceptuale Vernunft mehr und mehr homogenisiert. Dementsprechend konnten sie innerhalb der Welt der Moderne um jede Bestimmtheit gebracht, will sagen: zu mundanen Gebilden eingeebnet werden, die nichts mehr zu wissen geben, was nicht auch anderweitig im Horizont dieser Welt gewußt wird und dies mit dem Vorzug einer wissenschaftlichen Durchdringung; da behauptet sogar noch die quasi-wissenschaftliche der Psychoanalyse ihre Überlegenheit. Geschichtlich gesehen sind die Weisheits-Gestalten verschieden. Weltlich gesehen sind sie unterschiedslos geworden und also verwest. Nicht einmal für die heideggersche Besinnung sind sie von eigenem Ort – es sei denn als Dichtung und deshalb sogar als dieses Andere zum Denken verstellt. Auch wenn da die hölderlinische Dichtung als die schlechthin künftige gilt. Da bleibt sie in aller Zukunft vom Denken getrennt, vor allem aber von der Gegenwart. Ist doch diese vom technischen Denken besetzt, nachdem sie Heidegger mit der Gegenwart des metaphysischen Denkens homogenisiert hat. Sein anderes Denken bleibt ganz auf sich selbst gestellt, wenn auch seinem Geschick vereignet. Nicht einmal die Unterscheidung des künftigen Dichtens vom bisherigen hat Heidegger austragen können. Der Unterschied, den Hölderlins Wort machen soll, bleibt umso mehr im Ungefähren als dieses zwar zu denken gibt, ohne daß seine Gewesenheit geklärt wäre. Sie bleibt ebenso ungegenwärtig wie seine Zukunft. Vor allem aber bleibt das Denken in seinem

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Anderen Anfang ganz auf die eine Wendung aus dem Ersten, nämlich dem der Metaphysik, fixiert. So kann denn auch von Hölderlin als einer Erscheinung der sov¸a keine Rede sein – von Rousseau ganz zu schweigen. Welche Befreiung ist es da, in die Sphäre unserer sprachlichen Gegenwart einzutreten, um aus ihren Unterschieden den Ort zu gewinnen, wo sich das Denken – aller phänomenalen Rücksicht ledig – den Weisheits-Gestalten als dem zu widmen, was eminenterweise zu denken gibt.

VI. In einem Kreisgang des Unterscheidens haben wir schließlich unseren Ort erreicht – einen Ort in jener Gegenwart, welche durch die – sagen wir vorläufig – Sphäre der Sprache begrenzt wird. Geschieden von der heideggerschen Moderne schon mit der Trennung von ihrem Vermächtnis, nämlich der !k¶heia – übersetzt: die Lichtung der sich entziehenden Befugnis. Also: Verabschiedung dieser Lichtung und zwar in der Trennung vom „Es gibt Sein“ zugunsten des „Es gibt Wissen“. Dazu gehört die Unterscheidung dieses Wissens als eines in der Weise des Wissen-lassens gegebenen von dem Wissen als einem eigenmächtig erbrachten oder doch zumindest eigenmächtig entfalteten. Wir kennen diese Unterscheidung als diejenige der sov¸a und der vikosov¸a. Während jene zunächst abstrakt bleibt, wird diese in ihr selbst unterschieden und zwar als die Erste und die Andere. Eben darin nimmt die Erste Philosophie oder die Metaphysik erstmals eine Bestimmtheit an, die sie nicht mehr mit Heidegger vom Denken des Anderen Anfangs gegenüber dem des Ersten unterscheidet, sondern innerhalb der Philosophie selbst – im schwer erträglichen Schein eines Ausstiegs aus unserer Gegenwart. Diese erste Unterscheidung der Philosophie in ihr selbst gibt zum ersten den Blick auf die Principien der Ersten Philosophie frei, welche sogleich deren Unterscheidung in ihre Epochen nach sich ziehen. Sie ergreift von vornherein die Andere Philosophie, zumal mit ihr der Anfang der Geschichte gemacht werden mußte. Aus der Unterscheidung der epochalen Principien her mußte sich die Geschichte der Philosophie auf ihre Unterschiede hin und nicht mehr wie für Hegel auf ihre Vollendung hin vervollständigen. Diese Vervollständigung bedeutete: die Philosophie ist ein geschlossenes Gebilde, das aus seiner Geschlossenheit her sein Anderes freigibt; und dieses muß demzuvor die Philosophie aus dem Zugriff freigeben, den die Besinnung der Moderne auf sie hat. Sie erweist sich ihrerseits als ein in sich geschlossenes Gebilde unterschiedlicher Dimensionen, nicht mehr Epochen. Deren erste simuliert auf dem Boden des Erlebens, was Erste Philosophie gewesen ist. Deren andere unterscheidet sich sodann in ihr derart, daß die Unterschiede der Vernunft hervortreten – diesseits der Beschränkung auf den einfachen Unterschied von Erster und Anderer Philosophie; dies umso mehr als der Anderen gegenüber der Simulation der Vorrang einzuräumen ist. Ihn hält, was keine Philosophie mehr ist, um sich diesseits der hermeneutischen Vernunft in das Werk der technischen und der apokalyptischen zu unterscheiden. In diesen Unterscheidungen vervollständigt sich die Besinnung der Moderne zu einem seinerseits geschlossenen Gebilde. Scheint von ihr her zurück in

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die Philosophie, um in ihr die natürliche, die mundane und die conceptuale Vernunft zu unterscheiden. Diese Unterscheidung scheint aber ihrerseits vorauf in eine dritte Sphäre des Denkens, um in ihr die Simulation des apokalyptischen Denkens, nämlich das anarchische, sodann das strukturale und schließlich das völlig instrumentalisierte Denken zu unterscheiden. Hier sind wir in unserer Gegenwart, ohne daß sie jedoch schon die Gegenwart der Rückkehr und Einkehr in unseren Ausgangsort wäre. Er ist so noch kein Ort des Aufenthalts, mit der Sprache des Anfangs: noch kein Ghor. Dieser Ort schwebte aber mit wachsender Unterscheidung ständig vor und zwar als die erste Seite der anderen, von welcher der Gedanke ausgegangen war. Er hat sich den Ort des Wohnens gesucht, wie er bereits zu Beginn unseres Weges als Trennung von der heideggerschen Welt des künftigen Menschenwesens aufschien und zwar mit dem Sprach-Ganzen der Unsterblichen, Sterblichen und Toten – gedacht aus dem Unterschied von Anwesen und Abwesen bei Allem.8 Es wäre aber voreilig zu meinen, der Ort des Wohnens sei schon mit dieser Rücksicht im Blick. Nicht einmal, wenn von jenem Unterschied fortgegangen wird zu dem Unterschied, den das immer zuvor Entschiedene macht. Denn dieses – bekannt aus der Geschichte der conceptualen Vernunft – läßt noch nicht sehen, welche Bewandtnis die Sphäre der Sprache für das Denken der Gegenwart hat. Besinnen wir uns: Jeder Gedanke, der nicht vom Unterscheiden des Gedachten in Geschichte, Welt und Sprache getragen wird, ist übereilt. Wohin trägt die letzte Unterscheidung? Sie hat es nur noch mit dem Terminus des Denkens zu tun, nachdem nicht nur die submoderne Bestimmung, sondern auch noch die Sache zurückgesogen wurde und zwar in einen Abgrund von Gedankenlosigkeit im gegenwärtigen Denken selbst – nicht in irgendeinem, sondern in eben jenem, das nach der geschlossenen Entfaltung des technischen Denkens der Moderne immer noch und wieder mit der Prätention des Erbes der Philosophie auftritt. Ihm ist die technische Vernunft als Vernunft gleichgültig geworden und zwar mit ihrer grundlegenden Unterscheidung von Denken im Sinne des Begriffs und Denken im Sinne der Vorstellung und ihres Bewußtseins. Um hier nur an Frege zu erinnern. Wir begegnen in unserer Gegenwart, in ihrer Sprach-Sphäre, einem pseudo-technischen Denken, das sich im Anhalt an der modernen Logik zu beliebiger Brauchbarkeit im Vorstellen organisiert. Mit der Theorie möglicher Welten und virtueller Realität. Es handelt sich dabei nicht einfach um das Andere zum Denken, wie man das immer schon am gedankenlosen oder unbedachten Verhalten wahrgenommen hat. Vielmehr macht sich da ein Denken breit, das philosophisch gesehen sein eigenes Vermögen ausgezehrt hat – eben jenes dreifache Vermögen der in sich und von sich unterschiedenen Vernunft. Von ihr hatten die großen Negationen der Moderne für ihre eigene Tektonik gezehrt. Aus diesen wiederum erschloß sich der Schwund der Besinnung in der Submoderne und der Postmoderne, um schließlich eben jenen Ort 8

Vgl. hierzu das Nachwort zu GGF, 219 – 31.

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zu erreichen, welcher der des unterschiedslos gewordenen Denkens ist – eines Denkens, das paradoxerweise seine eigene Rationalität nicht mehr kennt, weil ihm die ratio terminorum zu der Dürftigkeit geschrumpft ist, welche sich in einer gleichsam prähistorischen Sprache ergeht. Prähistorisch nicht durch ihr Alter, sondern ihre Alterslosigkeit. Die des Alltags. Die Instrumentalität der Sprache ist so alt wie sie selbst, des Näheren – um bei der anthropologischen Erklärung zu bleiben – so alt wie der Gebrauch von Instrumenten zum Herstellen von Instrumenten. Genau hier ist der Punkt erreicht, an dem sich in unserer Gegenwart Denken von Denken scheidet. Was genau scheidet sich da? Auf der ersten Seite steht nicht bloß das instrumentale Denken, wie es Heidegger dem Technikwesen angesehen hat, sondern ein Denken, das sich zum gleichgültig anwendbaren Instrument des instrumentalen herabgesetzt hat und dabei nur vom Schein seiner Anwendbarkeit lebt – anders als das auf Herstellung von Instrumenten bedachte. Hier stoßen wir auf den Unterschied zum technischen Denken innerhalb der Welt der Moderne. Dort hatte Frege die künstliche Sprache der Wissenschaften hergestellt, wie sie von seiner mathematischen Logik her Eingang in die Wissenschaften einer Natur fand, die von der Welt des Erlebens streng geschieden sein wollte; und diese Wissenschaften hatten es zuletzt mit der Geschichte ihrer eigenen Produktion zu tun, wie sie als gesellschaftliche soziologisch erschlossen werden wollte. Soweit das technische Denken in der Welt der Moderne. Davon ist aber, wie gesagt, jenes zu unterscheiden, dem wir in unserer Gegenwart begegnen. Ihm sind die Unterschiede der Sprache des Begriffs und der Vorstellung, die der Welt der Wissenschaft und des Erlebens, die der Geschichte von grundstürzenden Forschungs-Matrizen und des continuierenden Forschungs-Betriebs unwesentlich geworden. Das Technische des Denkens breitet sich unterschiedslos und so auch schrankenlos auf einer selben Ebene aus, die, wie gesagt, allem zuvor die fregesche Unterscheidung des Denkens getilgt hat. Mit ihm die Möglichkeit einer Tektonik von rationes, wie wir sie noch in der Welt des technischen Denkens der Moderne sahen. Es ist nun ebenso leicht wie schwer, in derselben Gegenwart die Weisheits-Gestalten sprechen zu lassen. Leicht, weil da keine ratio widersteht und wir auf Nietzsches Rat zum Vorübergehen hören können; schwer, weil die Freiheit geltend zu machen ist, ihnen zu begegnen. Immerhin stehen wir jetzt vor einem vollständig eingeräumten Feld alles Gedachten, das einen Unterschied macht. Die Logotektonik und sie allein zeichnet den Weg vor, der in diesem Bereich zu nehmen ist. Vergessen wir nie: Sie selbst kann keinesfalls als sov¸a auftreten und unterscheidet sich schon dadurch von Aller Philosophie, die doch zuletzt eben diesen Namen ablegen konnte, um sich selber als Weisheit, weil als die Wissenschaft oder das System der physischen und geistigen Natur zu behaupten. Auch die Logotektonik ist dienlichen Wesens, aber ganz und gar nicht wie das Denken des quasi-technischen Nachbarn –

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wenn er noch als solcher gelten könnte; denn für uns gilt ein altes Zitat: et transivi, et ecce: non erat; et quaesivi eum, et non inventus est locus eius.9 Unsere Überlegung ging aus von der Frage: Was ist der Beweggrund für unsere Begegnung mit den Weisheits-Gestalten diesseits der Moderne gewesen? Sie war aus einem sich selbst noch undurchsichtigen Weg durch das Ganze der Philosophie, durch die sich vervollständigende Besinnung der Moderne und schließlich durch die Positionen unserer Gegenwart hindurch zu ermitteln. Von Anfang an unter der Forderung des platonischen Parmenides (136 E) einer di´nodor di± p²mtym stehend. Einer Forderung, die der von sich unterschiedenen Vernunft des Vaters Parmenides entstammt. Schon sie mußte eigens auf den Weg des Denkens gebracht werden, wie er abseits von der Gesamtheit des Erscheinenden verläuft. Er wurde aber beispielhaft ein Weg durch das Seiende, sodann durch das Gegebene, schließlich durch das Gesetzte. Erst in unserer Gegenwart eröffnet sich ein Weg durch das Gedachte als solches. Ohne Beziehung auf eine v¼sir. Ihm genügt die Gegenwart in einer Sprache, wie sie allerdings nicht mehr die des Begriffs, weder des metaphysischen noch des technischen ist. Welche Sprache ist das? Nicht die unsere, sondern die der WeisheitsGestalten. Und doch die unsere, sofern sie einem Denken sprechen, das den ganzen Weg des besagten Unterscheidens gegangen ist. Nur sofern das Denken von ihrem Gedachten unterschieden wird, erhellt auch die Antwort auf die zuvor gestellte Frage: Wie ist es möglich, die Weisheits-Gestalten aus ihrer ausschließenden Beziehung aufeinander zu lösen? Nur dadurch, daß eine jede in unterschiedlicher Hinsicht spricht, einen epochal unterschiedenen Menschen anspricht, genauer: angesprochen hat. Diese unterschiedliche Hinsicht macht sich in der Antwort auf die Frage geltend: Wer spricht? Die Antworten sind gegeben, jedoch nicht für uns. Sondern für die Epochen unserer Geschichte. Wir, die außerhalb ihrer zuhören, sind nicht in die ausschließende Beziehung ihres Gesagten einbezogen. Verhalten wir fürs erste vor dieser Grenze, die sehr wohl keine Schranke ist. Wir verhalten, um das dort Gedachte zu denken. Was wir ihm dabei entgegenbringen, ist nichts anderes als die Verdeutlichung seiner Architektonik. Sie spricht das gegenwärtige Denken als das von ihm Erwartete zuerst an. Rousseau gibt uns für diese Vorlesung das erste Beispiel. Wir haben die Termini der Bestimmung und der Sache bereits erläutert. Die ratio wird aber abgeschlossen vom Terminus des Denkens, wie er zuerst in geschichtlicher, sodann in weltlicher, schließlich in sprachlicher Konkretion auftritt – jedesmal als Modifikation eines Denkens, das wir bereits als setzendes verstanden haben. Die geschichtliche Modifikation sehen wir an dem Denken, sofern es für das Menschenwesen einen Unterschied im Ganzen macht – hier den Unterschied, der 9 Ps. 36,36. Vgl. Luthers 1545 Übersetzung (Ps. 37,36): „Da man fur vbergieng / sihe / da war er da hin / Jch fragte nach jm / Da ward er nirgend funden.“ Lutherbibel 1545 Original-Text übersetzt von Dr. Martin Luther aus dem Textus Receptus.

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besagt: der Mensch ist von Natur frei, steht aber unter der Wirkung der Unfreiheit und diese Wirkung kann nur eine selbstgewirkte sein. Eben daraufhin behandelt Rousseau im ersten Buch des Contrat social zunächst die Negation der natürlichen Freiheit im Gemeinwesen – bis hin zur Versklavung. Dies zeigt bereits die Wirklichkeit des Widerspruchs an, wie er nur das Denken befallen kann. Er ist sozusagen die wirkliche Unmöglichkeit, daß einer sich selbst seiner Freiheit entäußert. Was heißt das? Wie es nicht zu sein hat, kann sehr wohl sein. Diese Unterscheidung liegt im Anfang des Denkens, das sich von sich unterschieden hat. Ohne sie vermag es nicht seine Bestimmung zu erfüllen, setzenden Wesens zu sein. Ohne solche Erfüllung ist es das, was es bloß ursprünglich und eben nicht anfänglich ist – nämlich machenschaftlich, wie wir zugespitzt sagen können. Ich denke mich als frei. Dies muß bedeuten: ich setze mich als frei und zwar – nach der Vorgabe der Sache des Émile – als frei innerhalb der Gesellschaft. Sie will aber ihrerseits als freie gedacht werden; und genau dies beschäftigt das erste, sich inmitten von lauter Vorgaben zum Setzen und so auch freiem Anfangen herausarbeitende Denken. Gegenüber dem bloßen Vorstellen kann das Denken seine Geschichtlichkeit aber nur derart zum Tragen bringen, daß es für alle denkt, in strenger Allgemeinheit und zwar in Absicht auf die erste Setzung. Sie ist die Konstitution des Gemeinwesens oder die geschichtliche Tat des Anfangens der Geschichte durch Kausalität aus Freiheit. Nur durch solche Tat wird ein Volk ein Volk in politischer statt bloß generativer Bedeutung. Weil es sich da um eine Wirkung oder ein Werk aus Freiheit handelt, muß es sich als willentliche Übereinkunft eines Volkes darstellen – in Absicht auf gemeinschaftliche Selbsterhaltung. Da muß jeder seine nur erst natürliche Freiheit samt seiner Gewalt rückhaltlos in das Gemeinwesen einbringen (OCP III, I 6 [6], 360). Hier stoßen wir auf das Herzstück der Freiheit, wie sie der Bürgerlichen Gesellschaft der Letzten Epoche unserer Geschichte eigentümlich ist. Sie verlangt „die vollständige Entäußerung jedes Mitglieds der Gesellschaft mit all seinen [zuerst natürlichen] Rechten an die Gemeinschaft“. Dieses Sich-geben an alle bedeutet aber zugleich – und hier springt die Individualität des Bürgers heraus – sich niemandem geben; denn „man erwirbt von jedem das selbe Recht, was man ihm abtritt“. Dies zeigt den epochalen Wandel des vormaligen Sich-gebens: der Gott der Mittleren Epoche gibt sich selbst schlechthin aus Gnade. Der Bürger der Letzten Epoche gibt zwar auch nicht irgendetwas ihm Äußerliches, sondern sich selbst, dies jedoch in der einzigen Absicht, sich in unterschiedlicher Bedeutung zu empfangen, nicht als bloßer Mensch, sondern als Person, will sagen: als Rechts-Subjekt. Er hebt seine natürliche Freiheit zugunsten der bürgerlichen auf und bewahrt eben darin auch noch etwas von seiner Natürlichkeit, von seinem Eigenwillen. Diesem merkwürdigen Sachverhalt begegnen wir noch an einer entscheidenden Stelle des hegelschen Gedankens, wo es nämlich heißt: „Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ (GW IX, 18,3) Eine schon grammatisch absonderliche Formulierung. Nicht als Substanz, sondern

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ebensosehr als Subjekt. Dieser Anstoß waltet auch in Rousseaus Verbindung des natürlichen Eigenwillens mit dem Bürgerlichen Gemein-Willen; denn dieser kann und darf jenen nicht überhaupt tilgen, sondern ihn nur sozusagen subjektieren, zum Untergegebenen machen. Erst einmal tilgt der Gemein-Wille alle gesellschaftlichen Vorrechte und stiftet, wo nicht das gemeinschaftliche Selbstbewußtsein, so doch dessen Vorgabe an Selbstachtung. Sie ist konstitutiv für die das Gemeinwesen tragende Denkweise, nämlich die volonté générale. Genau darin tritt ein Wille hervor, der nicht bloß sich selber will, wie das Heidegger unterstellt, sondern sich selbst als den – und dieser Name kommt hier zu epochaler Bedeutung – heiligen will. Dies zu sagen ist heute so unerhört, daß eigens erinnert sein muß: Dies ist das gemeinsame Wort des maßgeblichen Denkens dieser Epoche. Über diesen Abgrund reicht die PhilosophieHistorie umso weniger hinweg, als sie ihn garnicht wahrnimmt. Daß die volonté générale keine Erscheinung, keine Erfahrungs-Tatsache ist, sondern im reinen Denken ihren Ort hat, bekundet Rousseau schon dadurch, daß er sie eigens vom Willen Aller, der volonté de tous unterscheidet. Jener reine Wille, der wie der göttliche nur das Gute wollen kann, der an ihm selbst guter Wille ist, muß als solcher von der Würde sein, welche innerhalb der Philosophie die reine praktische Vernunft beansprucht. Man verkennt diesen Willen, wenn man nicht die ihm eigentümliche Güte und mehr noch Heiligkeit bemerkt; denn es handelt sich um einen Willen, der sich immer schon von sich unterschieden hat und aus eben diesem Unterschied dem Denken in der rousseauischen ratio die ihm eigentümliche Fassung gibt. Die volonté générale ist an ihr selbst das Gedachte, wie es Vernunft und nicht bloß Verstand beansprucht und sogar weckt. Die passive Gestalt dieses Willens und seiner Verkörperung nicht als Körper, sondern als Gewalt, ist der Staat. Seine aktive Gestalt dagegen der Souverain oder der Herrscher. Als solcher aber zugleich einzelnes Macht-Gebilde unter anderen. Hier kommt ein Grundzug des Denkens dieser Epoche zum Tragen: es erlaubt nicht das allgemeine imperium – dieses wäre nur noch abstrakt allgemein –. sondern immer nur das zur Einzelnheit konkretisierte, wie das für die abendländische Staatenwelt der Letzten Epoche unserer Geschichte überhaupt charakteristisch ist. In ihr muß jeder Staat seine Einzelnheit behaupten. Sonst kann er nicht die Bedingung seiner Freiheit erfüllen, nämlich die Selbständigkeit. Rousseau selber hat bereits die Möglichkeit gesehen, daß ein Staat getötet werde (OCP III, I 4 [10], 357); er ist also sterblich; und dies macht nur einen Sinn, wenn er wesentlich ein Gedachtes ist – gleichsam eine Idee. Wie ihn dann später Hegel begreifen wird. Eben daraufhin kann man die heutige Confusion in der Rede von ,Staat‘ ermessen. Das Denken kommt als solches dort zur Geltung, wo es in einem epochal neuen Sinne religiös ist, genauer: wo die Stelle der vormaligen Religion durch die Obligation oder die Verpflichtung gegenüber dem Ganzen ersetzt wird, als dessen Teil sich einer verstehen muß. Andererseits muß auf die Geschlossenheit des StaatsKörpers gelten, daß jeder sonstige Mensch, der nicht in die Obligation zu diesem

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einzelnen Staat eingetreten ist, wesentlich ein Fremder bleibt. Nur bei Verwesung des Staates wird diese ausschließende Beziehung getilgt und der Fremde nicht mehr in seiner Fremdheit gelassen. Daß der Fremde nicht mehr der Fremde sein soll, ist eine Erfindung der Submoderne, wo nämlich die persona, die der Staat gewesen ist, von der Bestimmung des Sozialen vertilgt wird. Da hat sich die begrifflose Gesellschaft von bloßen Interessen-Verbänden an die Stelle des wesentlich einzelnen Staates gesetzt. Fatal ist nur, daß dabei die vormalige Idee instrumentalisiert und so in seiner Vernünftigkeit mißbraucht wird. Der Souverain ist die Konkretion des Staates in einem einzigen Willen, der ihn als Person ausweist. Er ist derart souverän, daß es kein Gesetz gibt, das er nicht aufheben könnte. Die Aufhebbarkeit offenbart erst in Wahrheit den elementaren SetzungsCharakter der Gesetze als einer Tat der Freiheit. Nicht einmal der GesellschaftsVertrag selbst ist von der Aufhebbarkeit ausgenommen und bezeugt eben dadurch seine Fundierung im reinen Vernunft-Willen. Noch einmal: Wille und nicht bloße Erkenntnis muß es sein, weil die hier waltende Vernunft schlechthin produktiven Wesens ist. Die Aufhebbarkeit des Gesellschafts-Vertrages läßt immer an den möglichen Rückfall aus dem Vertragswesen in den Naturzustand denken und also in die GewaltHerrschaft, wo nicht die ursprüngliche Einzelnheit des Lebewesens und zwar des noch nicht vergesellschafteten die Selbsterhaltung verbürgt. Der Naturzustand ist eine Fiktion, welche aus der radikal gedachten Freiheit und nur aus ihr notwendig ist. Rousseau hat selber gewußt und gesagt, daß keine Historie in jenen Ursprung zurückreichen kann. Diese von der Freiheit geschiedene Natur wird dem Denken der Epoche die eine große Herausforderung bleiben. Es zeigt darüberhinaus nur einen Abgrund von Gedankenlosigkeit, wenn der gelehrte Betrieb den Relations-Charakter der sog. Natur verkennt und immer noch in der Beurteilung des kantischen oder hegelschen Gedankens von der Äußerlichkeit eines Gegenstandes mit dem Namen ,Natur‘ ausgeht – von dieser dem Denken fatalen Selbstverständlichkeit. Das corpus politicum konkretisiert sich im Souverain, der gerade nicht mehr ein Fürst von Gottes Gnaden ist. Es bedarf solcher Gnade nicht mehr, wo der Wille des Gesellschafts-Vertrages selbst der heilige ist (I 7), was an nichts deutlicher als daran wird, daß er nicht irren kann. Noch einmal: es handelt sich bei dem Souverain nicht um einen Menschen, sondern um eine Person, die konkrete Vernunft ist. Hier erhellt wieder der fundamentale Unterschied von ,Wie es ist‘ und ,Wie es zu sein hat‘. Rousseau sagt: „Allein dadurch, daß der Souverain ist, ist er immer alles das, was er sein soll“ (I 7 [5], 363). Er begründet eben dadurch den Unterschied des Bürgers vom Menschen, des gemeinschaftlichen Interesses vom besonderen Interesse. Nur dieses macht aus der moralischen Person ein bloßes Verstandeswesen, das als solches zu nichts verbinden kann – als solches der Selbstbehauptung des Menschen anheimfällt, der bloß Mensch und nicht Person ist und also freies Rechts-Subjekt. Es liegt auf der Hand: die Rechte des Bürgers bis hin zum Recht auf Genuß genießen zu wollen, ohne die Bürgerlichen Pflichten in Freiheit zu erfüllen, muß den

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Staat als solchen in den Ruin treiben. Es gehört aber zur Freiheit, daß sie auch diese Möglichkeit, allerdings nur als Möglichkeit zulassen muß und also die Ursprünglichkeit der Negativität anerkennen. Der bloße Mensch achtet nur auf sich selbst; die Person aber befragt zuerst ihre Vernunft, bevor sie auf die menschlichen Neigungen hört (I 8 [1], 364). Der Grund dafür liegt aber allein in der Vernunft, wie sie die freie ist – frei von den Zwängen der Natur. Und das ist sie wiederum in einem Denken, das durch die Negativität des Verzichts geprägt ist. Das gewöhnliche Denken geht überall dort, wo es konkret wird, auf Besitz – sei es an Menschen, sei es an Dingen. Das unterschiedene Denken kennt den Besitz nur im Sinne „realisierten“ Rechts oder des Eigentums – unter der durchgängigen Voraussetzung, daß einer Herr seiner selbst und also Subjekt des Allgemeinen Willens ist. Frei im Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz wie es unter der Bedingung allgemeiner Geltung steht. Die Bürgerliche Freiheit ist im Unterschied zur natürlichen nur durch den Allgemeinen Willen begrenzt, in dem jeder Rechtsanspruch beruht, nicht mehr in der individuellen Kraft, sich zu nehmen, was man will. So ist denn auch der Bereich der Sachen von der Rechtlichkeit der Aneignung beherrscht. Da sind Bearbeitung und Pflege das einzige Zeichen dessen, was als Eigentum gelten soll. Mit dieser Äußerung des Gedankens in produktiver Bedeutung schließt das erste Buch des Contrat social. Das erste Moment des dritten Terminus der rousseauischen ratio war das setzende Denken unter der Bestimmung der Freiheit des erzogenen Menschen. Des Näheren ging es darum zu zeigen, wie das Denken als vernünftiges und so auch unterschiedenes Kausalität hat. Sie stellt sich am Gesellschafts-Vertrag dar – genauer: am Wechsel vom natürlichen zum bürgerlichen Zustand. Er macht den ganzen Unterschied im Sinne eines geschichtlichen Beginns. Das andere Moment des Denk-Terminus nun ist von weltlicher Bestimmtheit. Dabei geht es um die Welt des einrichtenden Denkens. Die entsprechende Einrichtung ist aber die Verfassung des Gemeinwesens. Sie geht aus von der Befugnis des ihm eigentümlichen Willens, des näheren von seiner Souveränität, wie sie zum ersten unveräußerlich ist, zum anderen unteilbar. Nach beiden Seiten legt sich die Substanzialität des Vernunft-Willens aus, der zuerst in seiner Kausalität dargestellt wurde. Er „steuert die Kräfte des Staates gemäß dem Zweck seiner Einrichtung, welcher das Gemeinwohl ist“ (II 1 [1], 368). Seinetwegen liegt er in ständigem Streit mit den Sonder-Interessen der Bürger. Noch einmal: der Allgemeine Wille. Während die Macht im Staate übertragen werden kann, gilt das nicht für den Willen. Er beansprucht die strenge Identität des Wollenden – nicht nur als Substanz, sondern als Subjekt. Nur dieses trägt den Staat im Sinne seiner Institutionen. In Anbetracht der Vernünftigkeit des Willens im Gemeinwesen muß die ihm eigentümliche Wahrheit thematisch werden. Da gilt zunächst: als eine solche der

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Vernunft steht sie nicht in der Spanne zum Falschen, sondern nur zur Vernunftlosigkeit. Um hier an eine fundamentale Unterscheidung des Aristoteles zu erinnern. Daß auch Rousseau sie zum Tragen bringt, zeigt sich an seiner These, daß der Allgemeine Wille nicht irren kann. Umso dringender wird hier seine Unterscheidung vom Willen Aller (II 3 [2], 371), dessen Subjekt die einzelnen Willen mit ihren Sonder-Interessen sind. Gesondert bis zur Widersprüchlichkeit gegeneinander. Der Staat dagegen ist eine einzige Person und zwar eine moralische – nicht empirische, sondern Vernunftwesen. Und genau dem gilt die ihm wesentliche Selbsterhaltung. Auch hier sehen wir wieder: Sie will von derjenigen, um welche die Menschen besorgt sind unterschieden sein. So ist es denn ein schlichter Unfug zu behaupten: das Princip der neueren Philosophie sei die Selbsterhaltung. Für die zeitgenössischen Theoretiker des Selbstmords eine willkommene Gelegenheit, ihre Wichtigkeit gegenüber der Tradition darzutun. Ebenso töricht ist die Diskussion um das Prinzip des Nutzens, die nämlich tunlichst den Unterschied der einzelnen Menschen und des einen Staates verdrängt. Dieser bedarf stets der Erinnerung: „Was dem Willen die Bedeutung des Allgemeinen gibt, ist weniger die Zahl der Stimmen als das gemeinschaftliche Interesse, das sie eint.“ (II 4 [7], 374) Dieses Interesse ist in der Gesetzgebung des Staates zum Tragen zu bringen. Da wird im Einzelnen bestimmt, was zu tun ist, um die Substanz des Gemeinwesens zu erhalten. Hier geht es vor allem darum, die Rechte der Bürger mit den Pflichten zu vereinigen und die Gerechtigkeit auf ihren Gegenstand zu bringen. Genau das ist die Aufgabe der Gesetze. An ihnen springt heraus: Es handelt sich nicht um das Bewußtseins-Verhältnis von Ich und einem ihm äußeren Gegenstand, aber auch nicht um das Verhältnis des Selbstbewußtseins, sondern um Gegenstände in der Form dessen, was Hegel ,Geist‘ nennen wird. Solcherart muß jedes Gesetz sein und so die Bedingung seiner Vernünftigkeit erfüllen. Ist sie erfüllt, warum dann überhaupt Gesetze – in einer Mannigfalt wie sie der Mannigfalt der Pflichten entspricht? Hier die weise Antwort Rousseaus: „Von sich aus will das Volk“ – wohlgemerkt nicht jeder Einzelne – „das Gute, aber von sich aus sieht es das nicht immer.“ (II 6 [10], 380) Es bedarf eines Führers, eines Gesetzgebers, welcher dem, was Sitte ist, die vernünftige Fassung gibt. Wer taugt aber zum Gesetzgeber? Jemand, der geradezu ein Gott an Vernunft und also an Hellsichtigkeit wäre. Und doch wäre ein solcher ungeeignet. Wir brauchen gerade keinen göttlich legitimierten Moses, sondern den Erfinder der Staats-Maschine, eines durch und durch menschlichen Produkts. Den Erfinder des Bürgerlichen Wesens und also eines Weltwesens. Die Aufgabe solchen Erfinders ist aber die Entfaltung jener Bildung, die bereits an der Bestimmung und an der Sache des Denkens hervorgetreten ist. Was bedeutet aber die Bildung des Denkens in weltlicher Bedeutung? Hier die grundlegende Antwort Rousseaus: changer la nature humaine; sodann transformer chaque individu zu einem Glied des Ganzen, welches das vernünftige Gemeinwesen ist; schließlich altérer la constitution de l’homme pour la renforcer (II 7 [3], 381). Also erstens die epochale Tat der Weisheit, dieses Allge-

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meine, das die menschliche Natur ist, auszuwechseln; sodann – ganz nach den Momenten des Begriffs – die Umgestaltung jedes Individuums als eines besonderen des Gemeinwesens; schließlich die Verfassung des Menschen zu verändern, um sie zu stärken – was im Einzelnen geschehen muß. Dahin, daß einer sich selbst ein anderer wird. Ein schlechthin unerhörtes Vorhaben, das überhaupt nur dann einen Sinn macht, wenn wir den setzenden Grundzug dieses Denkens im Blick behalten. Man könnte alles dies als eine phantastische Phantasie beiseite schieben, und so an diesem zentralen Werk einer wahrhaft produktiven Einbildungskraft vorbeisehen. Hier ist die Aufgabe des Denkens als Unterscheidung des Menschen von sich selbst begriffen. Seine erste Erscheinung war die physische Existenz in Unabhängigkeit. Seine andere Gestalt war die moralische Existenz in ihrer Überwindung der natürlichen Kräfte. Seine letzte Fassung gibt er sich aber in den dauerhaften politischen Institutionen. Das setzende Denken verkörpert sich zuerst im Gesetzgeber als dem Schöpfer der gesellschaftlichen oder politischen Welt. Er setzt den neuen Menschen antizipierend und setzt, wie er zu sein hat, mit absoluter Autorität; unterscheidet mit ihr die neue Erde und den neuen Himmel, wie sie der Weisheit der ganzen Epoche anzusehen sind. Ohne solche Unterscheidung in gleichsam bürgerlicher Absicht ist auch der hölderlinische Gedanke nicht zu verstehen. Der anfängliche Gesetzgeber kann nur ein Mensch von Genie sein, will sagen: rein aus der Menschheit des Menschen schöpfend, wie sie in der Unterscheidung von sich hervortritt. Schon hier keineswegs mehr auf den christlichen Gott bezogen, sondern auf die Götter eben dieses Anfangs. Erstaunlich ist hier Rousseaus Einschätzung des gesetzgeberischen Genies: Solche Menschen, sagt er, ehren die Götter aus ihrer eigenen Weisheit, de leur propre sagesse (II 7 [10], 383). Noch einmal, um hier keine Verwechslung mit der herkömmlichen Verehrung der Götter aufkommen zu lassen: Das Genie, wie es mit der Menschheit des Menschen begabt ist, ehrt die Götter mit seiner eigenen Weisheit und sucht gerade nicht mehr die ihre. Es selber verbreitet den Schein des Göttlichen über sein Werk, welches die formation, die Bildung des Menschen und des Staates ist. Es legt die eigene Einsicht den Unsterblichen in den Mund, verleiht ihnen die Sprache der Vernunft. Eben dies setzt die mythologisierende Rede der Dichter dieser Geschichts-Phase zu einem Tingeltangel herab, was schon Hölderlin von den „scheinheiligen Dichtern“ (StA I, 257) reden läßt. Um hier nur die wielandschen Spielereien zu erwähnen. Um die Entwicklung des zweiten Moments im Denk-Terminus kurz zu erinnern: ausgehend von der Souveränität und den Grenzen der Macht des Souverains wird das Recht über Leben und Tod im Gemeinwesen dargestellt. Dem folgt die Erörterung des Gesetzes und der Gesetzgebung. Wohlgemerkt bestimmt sich erst aus ihr her, was ein Volk ist und welche die beste Staatsverfassung ist. Sie beruht zum einen auf der Freiheit der Bürger, zum anderen auf deren Gleichheit vor dem Gesetz und nur vor ihm. Hier wird ausdrücklich vermerkt, was dann auch in der Französischen Revo-

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lutions-Verfassung bestätigt wird: keine Abschaffung gestufter Macht und gestuften Reichtums, sofern nämlich dieses beides nicht in den Begriff des Gemeinwesens fällt, auf zufälligen Umständen beruht. Nur dessen Form ist in Rangordnung und Gesetzen, in einer Klärung der jeweiligen Befugnisse geltend zu machen. Was den Reichtum anlangt, steht er unter der Maßgabe der Freiheit selbst – will sagen: kein Bürger darf einen anderen kaufen können; keiner darf so arm sein, daß er sich verkaufen muß. Hier ist darauf zu achten: anders als bei Marx ist hier noch nicht der Bürger und seine Arbeitskraft unterschieden. Was die Unterscheidung der Gesetze anlangt, so führt sie letztlich auf den Geist eines Volkes und seiner politischen Einrichtungen. Er will unmerklich aus der Gewalt der Gewohnheiten in diejenige der Autorität des Gedankens überführt werden, wie er sich in Sitten und Bräuchen, jedesmal aber in einer herrschenden Meinung niederschlägt. Da entscheidet sich, welches Volk überhaupt zu einer Gesetzgebung aus Freiheit geeignet ist. Dies ist keineswegs für jedes zu unterstellen – ganz gegen den heutigen Allerwelts-Demokratismus und den ihm eigenen Kolonialismus. Die Erläuterung der Regierungs-Formen können wir hier übergehen, wo es vor allem auf die Architektonik der rationes ankommt. Der Terminus des Denkens wurde zuerst in geschichtlicher, sodann in weltlicher Bestimmtheit vorgestellt und muß zuletzt in sprachlicher thematisch werden. Welcher Sprache? Nach den Institutionen in der konkreten Beratung dessen, was im Gemeinwesen jeweils zur Entscheidung ansteht. In der Volks-Versammlung, die keine Delegierten kennt – läßt sich doch der freie Wille des Bürgers nicht vertreten –, erhält sich die souveräne Autorität des Gemeinwesens (OCP III, III 12). Während sie tagt, ruhen denn auch die Befugnisse der Regierung. Das gemeinschaftliche Interesse an den öffentlichen Anliegen verlangt, daß jeder selber das Wort im Rat führen könne. Dies jedoch unter der Maßgabe, das zur Sprache zu bringen, was alle empfinden. Das ist aber im Wesentlichen die volonté générale, wie sie „immer beständig, unveränderlich und rein ist“ (IV 1 [6], 438) – von der Reinheit des Vernünftigen. So ist denn auch beim Einbringen eines Gesetzes nicht dies die Frage, ob man ihm zustimmt oder es verwirft, sondern genau dies, ob es dem Allgemeinen Willen conform und also wahr ist oder nicht. Er ist für jeden Ratschlag zu unterstellen. In der Aussprache der Volks-Versammlung wird das Denken als Öffentliche Meinung ausgetragen und zwar über das, was den Bürgern gefällt. Da zeigt sich, was als Sitte in Geltung ist und ein Urteil fordert. Rousseau sagt: „Die Meinungen eines Volkes entspringen seiner Verfassung; obgleich das Gesetz nicht die Sitten regelt, ist es doch die Gesetzgebung, welche sie entspringen läßt.“ (IV 7 [4], 459) Weshalb der Zustand der Sittlichkeit an den Gesetzen ablesbar ist. Beide stehen in einem Verhältnis der Wechsel-Bestimmung, wie es das letzte Moment des Denk-Terminus vorzeichnet. Wohlgemerkt: was in einem Volk als Öffentliche Meinung herrscht, unterliegt gemäß dem Vernunft-Willen einer Beurteilung. Solche „Zensur“ aber kann nur dazu dienen, „die Sitten zu bewahren, nie jedoch dazu, sie wiederherzustellen“ – so wenig

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wie die moralische Natur überhaupt. Die Sitte eines Volkes läßt sich nicht manipulieren. Wird dies versucht, so ist darin ihr Verlust bereits offenkundig. Die Sitte ist dann hoffnungslos dem – wie Kant das nennt – Vernünfteln ausgeliefert. In einem letzten Schritt wird Rousseau versuchen, die Sitte in die Bürgerliche Religion zu befestigen.

VII. Die Gegenwart der Weisheit muß dem Denken verborgen bleiben, solange es seine Gegenwart – wohlgemerkt die seine – nicht unterscheidet. Diese Unterscheidung vollzieht sich als Contraction der ratio aus ihrer submodernen Dreigliedrigkeit über ihre postmoderne Zweigliedrigkeit in Sache und Denken auf den einen Terminus des Denkens selbst. Solche Contraction ist aber nur dort möglich, wo das Denken in der Sprach-Sphäre seinerseits die Rolle der Sache derart übernimmt, daß es sich als sprachliche performance versteht. So ausdrücklich in dem AnalyseProgramm Austins: How to Do Things with Words. Da wird die technische ratio Freges in das Denken des alltäglich Gesprochenen übersetzt und mit ihm die Herrschaft des Alltags-Horizonts zur Ununterscheidbarkeit befestigt. Genauer gesagt: das Denken muß nicht nur das der alltäglichen, sondern mehr noch das der endlos vieltäglichen Sprache sein. Das Denken ist selber nur in deren performance oder als grenzenloses happening. Wann immer man etwas sagt, tut man etwas – eigens vorgestellt in den sog. speech acts. Sie legen sich auseinander zu 1) der locutio überhaupt, wie sie eine Verlautbarung oder ein phonetischer Akt ist; 2) genügt der den Regeln einer natürlichen Sprache und ist so ein phatischer Akt; der bestimmt sich 3) zu einem rhetischen Akt fort, indem er etwas von etwas sagt und dabei etwas Bestimmtes meint.10 Solches Sagen ist aber letztlich eine Handlung und zwar eine illocutio, sofern sie im Hörer eine bestimmte Wirkung erregt. Ihn etwa so oder so gestimmt sein läßt – und entsprechend reagieren. So realisiert sich in den Sprech-Akten, was man heutzutage ,Kommunikation‘ nennt. Getragen von ent-personalisierten Individuen. Sie wurden schon bei Strawson zum zentralen Thema der Sprach-Analyse – diesseits der Allgemeinheit des vormaligen Begriffs. Entpersonalisierte Individuen sind der Hort des pluralistischen Denkens. Genau gegen dieses macht das Gedachte der WeisheitsGestalten einen Unterschied im Ganzen. Einen Unterschied, der jedoch seinerseits des Concipierens nicht bedarf. Die Conceptionen sind nur als Wegweiser für den Zugang zu den durch sie eingegrenzten Weisheits-Gestalten erforderlich. Mehr noch: erforderlich zur Klärung ihrer Gegenwart. Erst die Unterscheidung des Denkens von sich selbst gibt den Blick frei auf das Gedachte der Weisheit. Öffnet das Gehör für ihr Gesagtes. Was hier gegen die pluralistische Denkart den ersten Unterschied macht, ist nicht mehr – wie in der Philosophie – der Gedanke des Einen, sondern der des Alles. Von ihm wird innerhalb der Weisheit von dem des Vielen zu dem des Einen fortgegangen. Erst die Verhal10

Siehe Austin: How to Do Things with Words, Lectures VIII u. IX.

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tenheit des Denkens vor dem weisheitlich Gedachten bezeugt seine gegenwärtige Wende. Sein Bauen lernt es an der Geschichte der Philosophie, an ihrer Architektonik; das ihm zugeeignete Wohnen lernt es von den Weisheits-Gestalten. Wir haben es hier mit der von Rousseau eröffneten Figur aus rationes zu tun. Deren erste wurde bereits bis auf den Abschluß des Denk-Terminus erörtert. Sein erstes Moment war die Kausalität aus Freiheit in geschichtlicher Bedeutung. Die ihr gemäße Stiftung einer Denkart, welche den dazu nötigen Unterschied im Ganzen macht, nämlich den Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unfreiheit des Menschen. Das andere Moment dazu war das weltliche, nämlich die Institution der aus Freiheit entspringenden Gesellschafts-Ordnung. Eine Institution durch Gesetzgebung, welche die Natürlichkeit des Volkes in seinen Geist birgt. Da ist der freie Wille substanziell geworden. Dem folgt als drittes und letztes Moment die Wechsel-Bestimmung von Öffentlicher Meinung und Sitte – jene, mit der besagten hegelschen Unterscheidung, das Wahre ist Subjekt, diese das Wahre als Substanz. Beides die Seiten der volonté générale als des mit Unterscheidung von sich verstandenen Denkens. Es ist in dieser letzten Konkretion sprachlichen Wesens. Eröffnet von der Beratung und so auch Willensbildung in der Volks-Versammlung und ihren Beschlüssen. Wir sehen hier das epochale Gegenstück zu der ebenfalls sprachlichen Di¹r bouk¶ Homers. Dies läßt darauf achten, daß auch bei Rousseau sich das Denken, oder der Geist des Gemeinwesens, als religiöses vollendet und zwar in Gestalt der „Bürgerlichen Religion“. Erst hier kommt die Wechsel-Bestimmung von Öffentlicher Meinung und Sitte zum Austrag. Achten wir darauf: Es wäre gegen den Geist der Bürgerlichen Gesellschaft, wenn die Religion als eine Gestalt des Wissens oder auch des Glaubens aufträte, nämlich als doctrina. Nein – sie muß als opinion auftreten, die aber andererseits von substanzieller Bedeutung ist und zwar mit der Vorstellung des être suprème, des höchsten Wesens, in dem sich die Heiligkeit des Staates verkörpert. Mit ihm muß die Bürgerliche Religion zuerst ein Polytheismus sein; ist doch der Gott einer civitas jeweils genau der ihre; dies aus der natürlicherweise ausschließenden Beziehung der Staaten im Verhältnis zueinander – ganz nach dem bekannten Kriegs-Motto: Gott und mein Vaterland. Rousseau wendet sich denn auch eigens gegen die abstrakt-allgemeine, gänzlich unpolitische Vorstellung, von einem gemeinsamen Gott der Völker. Einer Chimäre von bloß verschiedenen Namen. Die Setzung der Götter muß in einem mit dem Setzen der Gesetze gesehen werden. Unter den Alten galt auch der Gott Israels wesentlich als ein nationaler, will sagen: völkischer, zumal in Anbetracht des von ihm auserwählten Volks. Ihm galt sogar – anders als bei den Griechen etwa – die Eifersucht auf sein Volk als Grundzug seines Wesens. Dementsprechend verweigerte dieses Volk gegen den Brauch des Altertums den Göttern seiner Unterwerfer die Anerkennung. Ein Zug, den Nietzsche wieder in aller Deutlichkeit seiner Folgen hervortreiben wird.

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Der Cultus der alten Götter war an feste Orte von sie auszeichnender Heiligkeit gebunden. Einen solchen Ort zu erobern, verlangte denn auch die Bitte an die dort bislang wohnenden Götter, den betreffenden Ort zu verlassen. Die Römer ließen den Unterworfenen deren Götter wie auch deren Gesetze, forderten nur die Anerkennung des Gottes ihres Kapitols. Doch die Einheit des Reiches zog unmerklich die Verschmelzung der Religionen nach sich. In dieser Lage tritt Jesus auf, um ein einziges geistliches Reich einzurichten, und also das theologische System vom politischen zu trennen. Aber das vorgebliche Reich der anderen Welt kommt zu diesseitiger Sichtbarkeit und Gewalt. Rousseau sieht: Aus dem Zerfall dieser Gewalt im Beginn der Neuzeit wurde nicht die Consequenz gezogen, die allein Hobbes durchdacht hatte: Rückgang in die Einheit nicht von Staat und Kirche, sondern Maßgabe der je besonderen staatlichen Herrschaft als der einzigen. Sie bestimmt die Religion zur Dienlichkeit. Das geht aber nicht ohne eine radikale Verwandlung der Religion selbst. Rousseau unterscheidet: zum einen die Religion des Menschen, zum anderen die Religion des Bürgers. „Die erste ohne Tempel, ohne Altäre, ohne Riten, ganz beschränkt auf den inneren Cultus des Höchsten Gottes und auf die ewigen Pflichten der Moral, ist“ – wir hören und staunen – „die reine und einfache Religion des Evangeliums, der wahre Theismus, und den man das göttliche Naturrecht nennen kann. Die andere, einem einzigen Lande eingeschrieben, gibt ihm seine Götter, seine eigentümlichen Patrone und Schutzgeister. Die hat ihre Dogmen, ihre Riten, ihren äußeren Cultus, wie er durch Gesetze vorgeschrieben ist.“ (OCP III, IV 8 [15], 464) Solche natürliche Religion ist wesentlich eine nationale. Ein Recht, welches ebenso ein göttlich bürgerliches ist wie ein positives, also nicht aus reiner Vernunft hervorgegangen. Eine dritte Gestalt der Religion ist die der Entzweiung von Staat und Kirche, die der Tibetaner, der Japaner und – achten wir auf diese Zusammenstellung – der Römischen Christenheit. Kurz: die bizarre Religion der Priester. Sie ist die schlechteste überhaupt und zwar nach dem Grundsatz: Was die gesellschaftliche Einheit zerbricht, ist nichts wert. Bringt den Menschen in den Widerspruch mit sich selbst. Ist also gegen die Vernunft. Weniger schlecht ist die je besondere Religion der staatlichen Schutzgottheiten. Sie bedingt aber den natürlichen Kriegszustand aller Völker mit allen – wegen ihres ausschließenden Wesens. So bleibt denn als die allein vernünftige Religion ein Christentum, welches vom gegenwärtigen ganz und gar verschieden ist. Welche Religion ist das? Der Name ,christlich‘ ist hier offenbar eine Irreführung – schon deshalb, weil sie mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen nichts mehr im Sinne hat. Also auch mit dem zentralen paulinischen Gedanken nicht. Die hier durch Ausgrenzung erreichte Bürgerliche Religion hat mit dem Christentum nur noch den Namen gemein. Im Horizont der Letzten Epoche unserer Geschichte muß es sich trotz aller Verschleierungs-Versuche als die absolute Unwahrheit in Gestalt der Heuchelei über die ihm wesentliche Unterscheidung der Welt darstellen. Solche Heuchelei wird unumgänglich, wo die Freiheit in absoluter Be-

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deutung das Princip ist; jede Beeinträchtigung ihrer bürgerlichen Konkretion muß hier als Widerspruch erfahren werden. Und sogar als ein solcher, der ein sklavisches Gemeinwesen mit sich bringt. Rousseau sagt denn auch: „Nichts ist dem Geist der Gesellschaft entgegengesetzter“ als die Verneinung alles dessen, wozu die Dinge der Erde den Menschen verbinden (IV 8, 465). Achten wir hier eigens darauf, daß alle Urteile Rousseaus über das Christentum nicht die Grenzen der Epoche überschreiten können. Nach dem Sinn, welchen sie dem Bürgerlichen Wesen geben muß, ist eine Christliche Gesellschaft eine contradictio in adiecto. Wir entnehmen dem einen Wink in die Unterscheidung unserer Gegenwart diesseits der Kern-Besinnung der Moderne, welche in einer ausschließenden Beziehung zu den Weisheits-Gestalten stehen mußte. Ihr Bruch mit unserer Geschichte hat aber für uns eine freilassende Bedeutung und dies gerade zu einer Begegnung mit den Weisheits-Gestalten. Sie wollen eigens von ihren Conceptionen unterschieden sein. Erst kurz vor Veröffentlichung des Contrat social hat Rousseau sich zu der unerhörten Provokation des letzten Kapitels über die Bürgerliche Religion entschlossen. Es regelt das Reden von Gott in den Grenzen des Gemeinwesens. Es muß sehr wohl von ihm die Rede sein, aber nur zum Nutzen einer Bürgerlichen Gesinnung. Les bornes de l’utilité publique (IV 8 [31], 467) sind die schlechthin geltende Maßgabe der hier zu entfaltenden Weisheit. Nicht Gott, sondern der Souverain muß von den Bürgern Rechenschaft verlangen über alles, was im öffentlichen Interesse liegt. Wozu dann überhaupt noch eine Religion? Der Staat selbst verlangt eben jene, durch die er in die Unmittelbarkeit des Gefühls reicht, weil es nicht nur darauf ankommt, die Bürgerlichen Pflichten zu kennen, sondern darüberhinaus sie zu lieben. „Aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und seine Glieder nur insoweit als ihre Dogmen sich auf die Moral beziehen, und auf die Pflichten, die derjenige, der sie bekennt, zu erfüllen gehalten ist gegenüber dem Anderen“ (468). Wohlgemerkt handelt es sich auch hier um eine Meinung zur Verbindlichkeit der Gesetze, die aber als solche eine verpflichtende Meinung ist. Zu allem sonst mag jeder meinen, was er will – auch religiöse Ansichten vertreten, sofern sie mit der Bürgerlichkeit vereinbar sind. Das rein Bürgerliche Glaubens-Bekenntnis kennt keine Dogmen, ist nämlich keine Gestalt des Wissens, sondern der Empfindung – einer allerdings notwendigen und deshalb zu pflegenden. Was da bekannt wird, sind die sentiments de sociabilité. Wer im Sinne dieses Bekenntnisses nicht glaubt, ist aus der Gesellschaft auszuschließen, aber nicht als impie, sondern als insociable. Wenn hier dennoch von Dogmen die Rede sein kann, so doch bezeichnenderweise als solche, die keiner Erklärung bedürfen, weil sie in ihrer Einfachheit die Sprache der unmittelbaren Empfindung führen. Sie sagt nur dieses beides: „Es gibt eine Gottheit, die mächtig ist, einsichtig, wohltätig, vorausschauend, fürsorglich“ (IV 8 [33], 468). Eigentlich nur ein Inbegriff des Wünschbaren, weil Nützlichen. Andererseits ist zu glauben an „ein künftiges Leben, das Glück der Gerechten, die Be-

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strafung der Bösen“. Auch nach dieser Seite dient die Religion nur dem Gefühl der Zufriedenheit mit der Welt. Über allem steht aber „die Heiligkeit des GesellschaftsVertrages und der Gesetze“ – wohlgemerkt nicht die Heiligkeit Gottes. Wenn er heilig ist, dann unter der Maßgabe des Gesetzes – wie das noch Kant hinsichtlich dessen behaupten wird, den er den Heiligen des Evangeliums nennen wird. Ein Heiliger, der streng von dem Heiligen getrennt sein will, welches ein Priestertum begründet hat. Blicken wir von hier auf das Ganze des rousseauischen Gedankens zurück, so bemerken wir im Sinne unserer eigenen Aufgabe: was Rousseau als Weisheit der Letzten Epoche unserer Geschichte zum Tragen bringt, ist im Horizont der Gegenwart gedacht eigentlich nur sein Bestimmungs-Terminus. Was den Terminus der Sache und der Bestimmung anlangt, so haben sie ihre Notwendigkeit nur erst aus der ratio, die sie mit dem Gehalt der Sache und des Denkens verbindet. Nur erst sein Bestimmungs-Terminus läßt die Würde dessen erkennen, was Hölderlin als dichterische Stiftung sieht. Wohlgemerkt sind wir erst und nur in unserer Gegenwart daran gehalten, so zu unterscheiden. Innerhalb der geschichtlichen Epoche gilt unsere Unterscheidung nicht. Diese Beobachtung ist, wie mancher schon jetzt merken mag, von den wichtigsten Folgen für die Weisheits-Gestalten im Sinne ihrer Gegenwärtigkeit. Zum erstenmal zeichnet sich jetzt der Unterschied der WeisheitsGestalten in geschichtlicher und in sprachlicher Bedeutung ab. Lassen wir das für jetzt erst einmal auf sich beruhen und achten statt dessen auf die Bewandtnis, welche für unser Bauen der weisheitlichen Termini die Sprachlichkeit, die Geschichtlichkeit und die Weltlichkeit ihrer jeweiligen Prägung angenommen haben. Achten wir jetzt darauf: es ist nicht die Philosophie, sondern die Besinnung der Moderne, welche uns mit dieser Unterscheidung begünstigt hat – ihre Verabschiedung der metaphysischen Totalitäten. Innerhalb dieser sollten wir denn auch von jenen keinen Gebrauch machen. Was nun die Unterschiede der sog. Kategorien anlangt, so haben wir sie in den Bau nur als Notbehelf eingeführt, was schon daran deutlich wurde, daß wir sie jeweils in umgekehrter Folge zum Tragen brachten. Dies bedeutete aber: sie verlieren da eben jenen Sinn, den Kant mit ihrer Abfolge verband, indem er die jeweils dritte Kategorie innerhalb einer Figur wie der Quantität als eine Synthese der beiden vorhergehenden – etwa Einheit und Vielheit – verstand. Solches Verständnis ist ausgeschlossen, wenn wir etwa mit dem Alles einsetzen, um von ihm her zu Vielheit und Einheit fortzugehen. Darin liegt: das Alles steht hier einem Unterscheiden offen, welches – wie das die Sprach-Sphäre der Gegenwart zeigt – nicht nur die Unterscheidung in sich, sondern ebenso von sich verlangt. Gerade hier stoßen wir denn auf das in Wahrheit Erste, nämlich auf die in jeder Weisheit verlangte Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Genau deren Sprache will im Denken der Gegenwart aufgefangen sein, also in unserem eigenen, wie es nicht veralten kann. Von sich unterschieden sein – das ist anfänglicher denn jegliche Identität.

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In der Letzten Epoche zeigt das Verhältnis von sov¸a und vikosov¸a die Merkwürdigkeit, sozusagen nach Art einer Stichomythie gebaut zu sein. Jedesmal folgt dem Schritt der einen unmittelbar ein Schritt der anderen. Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, daß bereits der erste Schritt Rousseaus eine ausdrückliche Trennung von der Philosophie voraussetzt – sein Ausbruch aus der aufklärerischen Herkunft, wie sie uns an der natürlichen Vernunft Condillacs und an der mundanen Vernunft Humes begegnet. Mitten unter ihnen wird Rousseau – wie er selber das bezeugt – von einer Offenbarung ergriffen. Eindeutig ist demgegenüber die Folgestellung der conceptualen Vernunft Kants, die sich ihrerseits zu einer epochalen Wende herausarbeitet. Von ihr war bereits die Rede und so können wir für jetzt die kantische Position auf eine kurze Erinnerung zusammenziehen. Dies umso mehr, als unser Entwurf der Architektonik von sov¸a und Philosophie in diesem Gebiet des Denkens bereits vorliegt.11 Der kantische Gedanke setzt ein mit einer Unterscheidung der Vernunft von sich selbst, will sagen: von ihrer in der Philosophie bereits hervorgetretenen natürlichen und weltlichen Fassung. Zum einen vom Terminus des Denkens ausgehend, zum anderen vom Terminus der Sache. Dagegen macht der kantische Gedanke einen Unterschied im Ganzen, indem er mit dem Terminus der Bestimmung einsetzt und zwar mit der Freiheit in absoluter Bedeutung, wie sie Rousseau im Ausgang vom Gespräch der Freien, der sich in Abgeschiedenheit Findenden aufgetan hatte. Nicht die Vernunft, wohl aber das Vernünftige spricht unter ihnen und erreicht über die Mitte der Sprache des Erziehers schließlich die Sprache, in der sich der reine Wille des Gemeinwesens ausspricht. Auch dieses ist gegenwärtig als Gespräch. In der Philosophie Kants dagegen – in ihrem Concipieren der rousseauischen sov¸a – wird das Gespräch in den Begriff geborgen. Auch von ihm wird eine Reinheit verlangt. Bestimmenderweise ist sie aber nicht mehr die des Herzens, sondern einer beherzten Vernunft. Auch sie ein Denken bezeugend, das wesentlich Setzen und in diesem Sinne produktiv ist. Die Vorentscheidung der Bestimmung aber darin anerkennend, daß es sich als Subjekt im Sinne des Untergebenen weiß. Eben darin als unterschiedenes Ich, eben als reines. Auch die vorkantische Philosophie kennt die Rede von einer ratio pura, unterscheidet diese von der empirisch beschäftigten. Aber sie ist nur rein im Sinne des ,bloßen‘ Verstands. Die kantische reine Vernunft dagegen zieht ihren maßgeblichen Sinn aus der Vorgabe, welche in Rousseaus Reinheit der Sitte zu sehen ist. Während sie ihrer Bestimmung nach allerdings eine schlechthin unvermittelte ist, kann die Reinheit der Vernunft nur als Resultat eines langen Weges der Unterscheidung verstanden werden. Er beginnt mit einer Sinnlichkeit, in welcher bereits der entscheidende Schritt zur Unterscheidung des Gegenstandes in Ding an sich und Erscheinung getan ist – dies zunächst durch Einbeziehung der Sinnlichkeit in das Vorstellungs-Vermögen, dem nur noch das Material des sinnlichen Vorstellens ein 11

Siehe „Die conceptuale Vernunft in der Letzten Epoche der Metaphysik“.

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Äußeres ist. Material einer produktiven Erfahrung. Eben darin ist bereits die andere Seite des Vorstellens angesprochen – nämlich das des Verstandes. Die gemeinsame Tätigkeit von Sinnlichkeit und Verstand wird aber ihrerseits eigens der Vernunft unterstellt, wie sie nach ihrer theoretischen Aufgabe als Regulativ der Erfahrung auftritt. Schon diese erste Schrittfolge läßt auf die resultierende, nämlich praktische Vernunft hin, erkennen: Kant legt es darauf an, einmal das Feld der Freiheit durch die Bestimmung des Gegenstandes als Erscheinung zu erweitern bis zur Gesetzgebung des Verstandes im Felde der Naturkausalität, sodann das Feld der Freiheit derart abzugrenzen, daß die Einmischung sogar noch der theoretischen Vernunft in die Gesetzgebung der praktischen Vernunft ausgeschlossen wird. Also erstens Begünstigung des Vorstellungs-Vermögens überhaupt gegenüber dem bloßen Material der Anschauung, sodann Begünstigung des Verstandes mit der Spontaneität seines Begreifens, schließlich Begünstigung der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen im Vorblick auf die einzige Möglichkeit des Setzens aus reiner Vernunft. Die ist aber die moralische Gesetzgebung. Auf sie zieht sich der ganze Weg des Unterscheidens zusammen. Sie ist der resultierende Anfang in der Entfaltung des Bestimmungs-Terminus. Wie aber legt er sich in ihm selbst aus? Nachdem die Vernunft als setzende, als gesetzgebende erreicht ist, können für ihre Explikation keinesfalls mehr die Verstandes-Kategorien herangezogen werden, sondern allein die der zu ihrem praktischen Wesen gediehenen Vernunft. Vernunft-Kategorien sind aber Ideen. Gedanken, denen die Totalität ihres Gedachten wesentlich ist. Wie aber erschließt sie sich in praktischer Bedeutung? Formell nach den Momenten des reinen Begriffs – als da sind: Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelnheit. Das Gesetz will nicht bloß vorgestellt sein. Ist es doch als solches VernunftBegriff von eigenem Leben. Nicht bloß Vernunft, sondern Vernunftwesen oder das, was Hegel ,Geist‘ nennen wird. Es lebt aber in seiner Geltung und die muß erstlich von strenger Allgemeinheit sein. Sodann muß sich das Gesetz besondern und zwar zu einer Maxime des Handelns. Schließlich muß das Gesetz die Form des Einzelnen annehmen und die hat es in der Konkretion der bestimmten Pflichten. Gerade hier begegnen wir dem Heiligen im Sinne der kantischen Philosophie: jede Pflicht ist heilig. Noch einmal: Das Gesetz will nicht bloß vorgestellt, im Grunde garnicht vorgestellt sein; denn das Leben des Geistes ist selbstisch. Eben deshalb muß das Setzen des Gesetzes eine Tat der Selbstgesetzgebung des Allgemeinen Geistes sein, wie ihn Rousseau als den gemeinschaftlichen Willen kannte. Wie legt sich dieser Wille aus? Wir sagten es schon: in den Momenten des Allgemeinen, des Besonderen und des Einzelnen. Von diesem Willen der Bestimmung ist aber das Denken zu unterscheiden, wie es sich zu dem anderen Terminus der kantischen ratio entfaltet. Was der Bestimmung entspricht, ist hier, anders als in der sov¸a, nicht mehr die ihr unmittelbar folgende Sache, sondern das zu dieser vermittelnde Denken. Es bestimmt sich selber seine Sache. Und zwar im Ausgang von sich als moralischem

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Selbstbewußtsein. Dieses ist aber der Wille, wie er dem Gesetz gehorcht. Damit er der selber moralische und also gute sei, muß er der autonome sein. So nimmt er unmittelbar das letzte Moment des Bestimmungs-Terminus auf. Also die Einzelnheit des Begriffs. Erst hier sehen wir das Selbstbewußtsein entspringen, wie es die ältere Phase der Epoche wohlgemerkt nicht gekannt hat. Es ist nicht auch, sondern von Grund auf das moralische. Um hier noch einmal an seine resultative Stellung zu erinnern. In seiner Einzelnheit ist das Selbstbewußtsein wesentlich Ich. Jedoch das unterschiedene Ich. Wie unterschieden? Der mit sich beschäftigte Verstand verweist hier gerne auf das sog. transzendentale Ich, wie es vom empirischen zu unterscheiden ist, nämlich das an ihm selbst wesentlich ungegenständliche, aber allein vergegenständlichende Ich, wie es Kant in der sog. transzendentalen Deduktion erläutert hat. Dieses Ich ist aber – gesehen auf das Ganze des Vorstellungs-Vermögens – ein Derivat, was zumal in der heutigen Beschäftigung mit ihm verdrängt wird. Wenn nämlich die Vernunft eine sein muß, und sie das ganze Vorstellungs-Vermögen von seinem Ende her organisiert, ist der wahre Anfang die Vernunft als setzende, sich selber gesetzgebende; und genau daraufhin ist das kantische Ich zu verstehen. Also nicht nur vom empirischen Ich als transzendentales verschieden, sondern auch noch von diesem verschieden und zwar als moralisches. Erst mit dem moralischen Ich tritt das Selbstbewußtsein in seine Vollmacht ein. Die der Vernunft, welche nicht nur regulative Bedeutung in der Gesetzgebung des Verstandes für die Erscheinungen hat, vielmehr an ihr selbst und für das Ich gesetzgebend ist. Erst hier kommt das kantische Selbstbewußtsein in sein Eigenes. Dieses Eigene bekundet sich aber unmittelbar in einem Gefühl, dem einzigen von der Vernunft gewirkten, wie Kant sagt. Es ist aber das Gefühl der Achtung für das Gesetz, wie es das der Sitte ist. Genau hier sehen wir das erste Moment des kantischen Denk-Terminus. Halten wir fest: Das principielle Denken in der kantischen ratio wird von dem Gefühl der Achtung in moralischer Bedeutung eröffnet. Wem dieses Gefühl fehlt, genauer: wem es verkümmert und erstorben ist, vermag im kantischen Sinne nicht zu denken. Das muß inmitten der Staubwolke von Gelehrsamkeit und erst recht der Anmaßung, mit der Kants Denken heutzutage instrumentalisiert wird, entschieden gesagt werden. Das Denken entspricht seiner Bestimmung zuerst in dem besagten Gefühl der Achtung – wohlgemerkt: wie diese der Vernunft eigen ist. Ihr als einzelner. Bezogen auf die je einzelne Pflicht. Das Bewußtsein von ihr ist die erste Fassung des Selbstbewußtseins. Dem folgt nun das andere Moment, nämlich das der Allgemeinheit, wie sie nicht mehr Gefühl, sondern Begriff ist. Wenn das Denken hier in principieller Bedeutung ein begriffliches sein muß, so der Allgemeinheit des Sitten-Gesetzes wegen. Seine Geltung in strenger Allgemeinheit nicht nur zu erkennen, sondern anzuerkennen, das ist die zweite Tat des Denkens als solchen. Hierher gehört seine Tilgung des Tuns der diminutiven, der verkleinernden Vernunft oder des Vernünftelns, das sich nämlich

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der dem besagten Begriff wesentlichen Allgemeinheit des Gesetzes-Geltung immer wieder entziehen möchte. Das dritte und letzte Moment des Denk-Terminus beansprucht das Denken als besonderndes, nämlich im Aufstellen der moralischen Maximen, die anders als das objektiv geltende Sitten-Gesetz wesentlich subjektive Maximen sind. In dieser Subjektivität unter dem Gesetz kommt das Denken von kantischer Bestimmung zu seiner Konkretion. Erhaben über die transzendentale Subjektivität der Natur-Erkenntnis. Wie bestimmt nun dieses Denken zuletzt seine Sache? Nach unserer logischen, genauer: begrifflichen Vorgabe muß sie vom Moment der Besonderheit her erschlossen werden. Und zwar als dasjenige einer sich realisierenden Vernunft. Sie realisiert sich aber produzierend. So kommt der im Resultat produktive Grundzug der Vernunft in ihrer letzten epochalen Bedeutung zum Tragen. In ihrer unmittelbaren Fassung ist die Vernunft-Realität eine sinnliche und eben deshalb immer auch eine besondere – zum einen gegenwärtig im Schönen, zum anderen aber im Erhabenen. Das zweite Moment der Sache ist logisch das der Einzelnheit. Das Einzelne ist hier aber das der teleologisch verstandenen Natur-Dinge. Dinge und nicht mehr – wie für den Verstand – Gegenstände. Einzelne Dinge im Ganzen einer teleologisch und zwar nach Natur-Zwecken geordneten Welt. Diese werden aber übertroffen von dem letzten Moment der Sache, nämlich dem der Allgemeinheit. Sie begreift sich im Endzwecke des Daseins einer Welt überhaupt, wie er sich als produktiver in der Schöpfung darstellt. Was dem Denken „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (AA V, 108,11) oder das höchste Gut gewesen ist, erweist sich in der Sache als eben jene Glückseligkeit, welche zum einen die Unsterblichkeit der Seele, zum anderen die Existenz Gottes postulieren läßt. In diesem allgemeinen Postulat für wohlgemerkt alle Weltwesen vollendet sich die ratio des kantischen Gedankens. Achten wir auf die Rede von „Weltwesen“. Sie schließt die Vorstellung des Vernunftwesens ein, jedoch mit der Einschränkung auf den Menschen, der seine Welt – eine solche der teleologischen Kultur – ebenso produziert wie einbildend übersteigt. Der kantische Gedanke concipiert denjenigen Rousseaus, will sagen: gibt ihm die Vernunft-Gestalt des Begriffs. Die Kluft von sov¸a und vikosov¸a scheint in der Letzten Epoche unserer Geschichte am kleinsten geworden zu sein. Über diesem Schein vergessen wir aber nicht Nietzsches Warnung, daß die kleinste Kluft am schwersten zu überbrücken ist. Sie wird von der conceptualen Vernunft dieser Epoche am Ende derart überbrückt, daß die sov¸a in die vikosov¸a verschwindet. So wird sie in den Untergang der letzteren mitgerissen. Erst die in unserer Gegenwart fällige Unterscheidung beider Seiten nach ihrer Verhehlung durch die Kern-Besinnung der Moderne gibt den Blick auf die sov¸a frei, wie sie aus ihrer ConceptionsGeschichte zu einer neuen claritas aufersteht. Mit dem Auge der Griechen ge-

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sprochen: haOla Qd´shai. Dies zu gewahren, bedarf es allerdings einiger Unterscheidungskraft. Um sie für jetzt an Schiller zu üben. Auch für ihn gilt, wenngleich anders als für Rousseau: er tritt in die Philosophie ein, um sie jedoch wieder zu verlassen. Anders als Rousseau begegnet er jedoch mit Kant einer Gestalt der conceptualen Vernunft, was die Schwierigkeit der Trennung vertieft. Andererseits aber hat sie ein bereits realisiertes Dichtertum zur Vorgabe, was den Schein einer Rückkehr zum früheren Beruf verbreitet. Um zunächst mit dem Formalen unseres Bauplans der ratio zu beginnen: Schiller begegnet in Kant der Term-Sequenz: Bestimmung – Denken – Sache, in jedem Terminus ausgeführt nach den Momenten des reinen Begriffs, nämlich Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit. Schiller begegnet Kant jedoch mit eben jener eigenen Sequenz, welche sich als diejenige einer sov¸a ausbildet. Sie setzt ein mit dem letzten Terminus der rousseauischen ratio, also mit dem des Denkens, um zur Sache und zur Bestimmung fortzugehen. Um die Figuren nicht zu vermischen, müssen wir hier eigens darauf achten, daß der schillersche Gedanke, wo er den kantischen fortsetzt – nämlich in den sog. ästhetischen Schriften – die Sache der kantischen ratio und zwar in ihrer unmittelbaren Fassung als das sinnlich Schöne und Erhabene aufnehmen muß, dabei jedoch in diesem Beginn stehen bleibt und die Termini der Bestimmung und des Denkens nach dieser Maßgabe entfaltet. Wohlgemerkt: in seinen ästhetischen Schriften. Was geschieht da in der Wende zur sov¸a? Das Ganze dreht sich um die bleibende Mitte der Bestimmung, um nicht mehr mit dem Denk-Terminus zu enden, sondern mit ihm einzusetzen. Eben dies ist formal der ganze Unterschied, den die schillersche sov¸a macht. Was bedeutet dies? Hier ist eine weitere topologische Beobachtung am Platz. Das anfängliche Dichtertum Schillers, sagen wir: das der ausgebildeten Bestimmung vorgreifende, ist nicht einfach beiseite zu schieben. Es läßt bereits auf den Eintritt in den Sach-Terminus der philosophischen ratio vorblicken. Nämlich auf eine Glückseligkeit, die anders als die rousseauische tragisch sein muß und deshalb eine dramatische Darstellung verlangt. Die Julie dagegen setzt Schiller eigens in das „Feld der Idylle“ (NA 20, 451,18). Die Vernichtung der Glückseligkeit im Gebiet der Unfreiheit – das ist die Sache, derer sich Schiller zunächst annimmt. Um hier Die Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe zu erwähnen, vor allem aber Don Carlos. Begleitet von den Gedichten An die Freude und Die Götter Griechenlands sowie historischen Arbeiten zum Aufbruch der Bürgerlichen Freiheit und ihrer Epoche – einmal mit der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung, sodann mit der Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Schon in dieser ganzen vor-philosophischen Phase steht fest, was der Bestimmungs-Terminus in der Reife der schillerschen ratio sein wird: Die Freiheit des Menschen wie sie als Schönheit in seiner Tragödie erscheint. So verdichtet zum Wallenstein, zu Maria Stuart, zur Jungfrau von Orleans und Wilhelm Tell. Dazu einige Nebenwerke in der Form von Balladen.

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Noch einmal: Der schillersche Gedanke erfährt einen Umschwung, der seine Eröffnung mit dem Sach-Terminus in die Eröffnung mit dem Denk-Terminus wendet. Der Ort dieses Umschwungs ist aber der Bestimmungs-Terminus. Wir folgen hier der resultierenden ratio. Also ihrer Eröffnung mit dem Terminus des Denkens. Schon vulgo spricht man von der frühen, nämlich vorphilosophischen Dichtung Schillers als einer ,Gedanken-Lyrik‘. Welcher Art ist das hier unmittelbar auftretende Denken? Sogleich unterstellen wir: Es muß sich wie bei Rousseau um das unterschiedene Denken handeln – genauer, weil in seiner Unmittelbarkeit: um das unterscheidende. In welcher Hinsicht? Wieder ist von der Vorgabe Rousseaus auszugehen, der schon dem jungen Schiller für das Denken und seine Gefährdung beispielhaft war. Um hier nur aus seinem Gedicht dieses Namens zu zitieren: „Einst wars finster – und die Weisen starben, / Nun ists lichter, – und der Weise stirbt. / Sokrates ging unter durch Sofisten, / Rousseau leidet – Rousseau fällt durch Christen, / Rousseau – der aus Christen Menschen wirbt.“ (NA 1, 62,38) Der Weise – so heißt es hier genau. Und bezogen auf die christliche Weisheit, welche hier den Untergang verdient hat. Das Lied An die Freude (NA 1, 169 – 72; NA 2, 185 – 87) spricht offenbar aus der rousseauischen Gesinnung des Contrat social, wenn es auf die Brüderlichkeit der Menschen abhebt, auf die Einheit ihrer Seele, auf den Thron des Unbekannten, das schon erwähnte höchste Wesen der Bürgerlichen Religion. Hier einbehalten in der auch für Schiller ursprünglichen Natur. Und aus der Religiosität Rousseaus stammt auch dieser Gedanke: „Göttern kann man nicht vergelten, / schön ists ihnen gleich zu seyn.“ (Z. 61) Nämlich in der Menschheit des Menschen. Er verlangt: „Unser Schuldbuch sei vernichtet! / ausgesöhnt die ganze Welt!“ (69). In einer Versöhnung, die unterstellt, daß der Weltenrichter seinerseits gerichtet ist. Hier ist die alte Religion eindeutig getilgt. Es braucht keinen Erlöser mehr. Statt dessen den „Männerstolz vor Königsthronen“ (89). Aber achten wir darauf: Indem das Denken als Terminus unmittelbar auftritt, ist es Gefühl und dieses erste Moment ist das seiner Allgemeinheit. Seine bei Rousseau eminent politische Bedeutung kann es in dieser Stellung nicht mehr haben. Es ist zwar von sprachlicher Fassung, aber nicht mehr im Sinne der Beratenden Versammlung, sondern wie im ersten Moment der rousseauischen Bestimmung hymnisch geprägt. Halten wir fest: Der erste Terminus der schillerschen ratio, also des Denkens und nicht der Bestimmung, tritt gemäß dem Bau der ganzen Figur in sprachlicher Fassung auf. Auch er in der Sprache des Hymnos, aber nicht mehr als Geist der Bestimmung, sondern als Gestimmtheit unseres menschheitlichen Denkens. Aus der Freude, überhaupt die Allgemeinheit zu denken – nicht die konkrete des Gemeinwesens oder gar des Staates, sondern die nur erst gedachte, allerdings empfundene des Ganzen der Menschheit und also nicht des Menschenwesens. Hier zeigt sich bereits die Gefährdung, welche in dem Gedanken liegt, der weder die Bestimmung noch die durch sie bestimmte Sache zur Vorgabe hat. So fand Schillers Gedicht die Antwort von Beethovens Gesang – eine Verbindlichkeit, zu der nur erst das Denken verbindet und

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die daher leicht zur bloßen Vorstellung herabsinkt, wenn da nicht mit der Unterscheidung des Menschen von sich selbst gedacht wird, wozu bei Rousseau nicht das unmittelbare Gefühl, sondern die Stiftung des je einzelnen Gemeinwesens anhielt. Wir hören diesen Vor-Gesang des Denkens aus der Kategorie der Gemeinschaft mit Bedenken. Gemäß unserer Architektonik folgt dem sprachlichen Moment des Denkens das geschichtliche. Es findet seine ausgezeichnete Fassung in dem Gedicht Die Götter Griechenlands, das die Krise des Denkens erinnert.

VIII. Im heutigen Lehrbetrieb der sog. Philosophie gilt immer noch deren Unterscheidung in die Analytische und die Continentale. Man sieht leicht, daß es die erstere ist, welche so urteilt – nämlich alles, was sie von sich ausschließt, auf die Seite des Sammelsuriums wird, das nicht mehr nach einem eigentümlichen Gegenstand gekennzeichnet sein will, sondern nur noch geographisch bestimmt – wie wenn man von der angelsächsischen Philosophie als einer insularen sprechen würde. Kurzum: bereits mit dieser Unterscheidung begünstigt sich die Analytische Philosophie, sofern sie sich wo nicht die Bestimmtheit eines Gegenstandes, so doch einer Methode gibt. Sie wird als die heute maßgebliche vorgestellt und zwar unter Berufung auf ihre argumentative Kraft. Diese kann sich allerdings mit jener vergleichen, welche vormals als die sophistische galt. Nun würde es sich allerdings nicht lohnen, ein endloses Messerwetzen zu beschreiben, das nie zum Schneiden kommt, auch wenn es – mit Wittgenstein zu sprechen – die Bewegungen ausführt, die zum Schneiden gehören. Uns aber erscheint die anfangs erwähnte Trennung schlicht deshalb unbefriedigend, weil sie keine Vernunft erkennen läßt, sondern bloß die Selbstbehauptung der sog. Analytiker. Nämlich eben jene Vernunft, die sich immer noch oder wieder darin auszeichnet, daß sie Totalitäten denkt. Auch die Denkart der natürlichen oder der technischen Vernunft als ein Ganzes zu würdigen vermag. Nun ist dies aber nicht mehr der Fall unserer Gegenwart, weil zum ersten die dreigliedrige ratio der Submoderne eine Simulation der apokalyptischen Vernunft ist, zum anderen die zweigliedrige nicht mehr die Gestalt einer Besinnung erbringen kann, allerdings noch die strukturale Erschließung der gesprochenen Sprache. Zur dritten aber ist die eingliedrige Beschäftigung mit dem Gesprochenen in der sog. analytischen Philosophie sehr wohl nach topologischer oder besser: logotektonischer Maßgabe angebracht. Sie wird so aus ihrer freischwebenden und manchenorts irritierenden Beweglichkeit festgestellt, weil eingebunden als ein notwendiger Ort des gegenwärtigen Denkens, der nicht weniger als die Submoderne und die Postmoderne in voller Gelassenheit zu erschließen ist. Das Fehlen einer ratio terminorum wird hier durch das Bauen der Gesamt-Figur des gegenwärtigen Denkens kompensiert. Auch die sog. analytische Philosophie ist da nicht mehr insular, sondern auf den ,continentalen‘, will sagen: zusammenhaltenden Boden des Ganzen einer Gegenwart gestellt, die sich auch noch am isolierten Terminus des Sprach-Denkens fassen lassen muß. Auch es will als eine notwendig erfüllte Möglichkeit beachtet, wenn auch nicht nachgeahmt sein.

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Klarheit beansprucht dieses Denken als sein eigentliches Verdienst – dies entlang der Feststellung: That’s not very clear. Sie mag bereits maniriert sein, gibt uns aber einen Hinweis auf den Umfang der Unklarheit. Er umschließt nämlich das Ganze, was wir Welt nennen und ist bedacht auf die Tilgung eben dieser Ganzheit. Während diesem Denken der Widerspruch als zu vermeidender gilt, sind ihm regressus und progressus ad infinitum – bei willkürlichem Innehalten der Klärung – ein vertrautes Element. Eben dasjenige, welches seine gesellschaftliche Wirklichkeit am Pluralismus hat. Was man so sagt, genauer: was man spricht, ist nicht klar. Für wen eigentlich? Kann es doch – was schon Wittgenstein erkannt hat – nicht darum gehen, ein Ideal der Klarheit durchzusetzen, welches schlicht das des Kalküls ist. Nicht einmal das der physikalischen Beschreibung der Natur mit ihren Wahrscheinlichkeiten. Da besorgen die Naturwissenschaften selber die nötige Klarheit, die ihnen jeweils nötig scheinende. Die sprachanalytische Philosophie stellt sich die für ihren Denk-Betrieb nötigen Unklarheiten zu und findet sie trotz ihrer Rückgriffe auf die durchschnittliche Verständlichkeit der alltäglichen Rede – etwa von ,Individuen‘ – an dem Gesprochenen vormaliger Philosophie. Aber auch dies ist nicht ihr letzter Beweggrund. Was wem unklar gesprochen ist, wer wollte das für alle entscheiden? Die Behauptung der Unklarheit kann sich nicht am ,Wie es ist‘ erschöpfen, muß vielmehr ihre endlose Nahrung aus dem ziehen, wie es nicht zu sein hat – verschleiert in der Rede von dem, was sein soll. Und wieder einmal contrahiert zu: das Gesprochene soll klar sein. So schön hört sich das an. Wo niemand diesem Sollen nachhängt. Oder doch? Steht doch allem zuvor dies: Wie es nicht zu sein hat. Eben darauf zielt der eigentliche Angriff der sprachanalytischen Philosophie: den Unterschied von ,Wie es nicht zu sein hat‘ und ,Wie es ist‘ zu tilgen. Dies ist ein echter Beweggrund des Denkens, zu dessen Wirksamkeit auch seine Verschleierung gehört. Die sprachanalytische Philosophie hat ihren Rang als eine Gestalt des Denkens und nur des Denkens in der Herstellung der Indifferenz gegen den Gedanken der Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Da kommt ihre eigentliche Gewalt zum Tragen. Sonst bliebe ihre KlarheitsMaxime ein sinnloses Fuchteln. Sie hat sehr wohl eine Dienlichkeit: eben jene Indifferenz zu fördern; also das, was als Weisheit anerkannt war, mit der endlos zu wiederholenden Bemerkung zu vernichten: Das verstehe ich nicht. Entscheidend ist dafür – was schon die Alten erkannt haben – der Widerwille gegen die betreffende Unterscheidung. Und der muß als eine bleibende Möglichkeit verstanden werden. Dieser Widerwille unterscheidet das Denken, wie es hier als Gegenwesen des Denkens mit Unterscheidung auftritt, radikal von demjenigen der technischen Vernunft. Eben deshalb wäre dieses Denken solange unzureichend verstanden, wenn man bloß auf dessen instrumentales Selbst-Verständnis abheben wollte. Instrumental ist das Denken der technischen Vernunft immer schon, auch dort, wo es sich wegen der Homogenität des Feldes der Natur und ihrer Wissenschaft auf ,Fragen der Ethik‘ einläßt – wie im Falle Schlicks.12 12

Siehe Schlick: Fragen der Ethik.

Schiller

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Erst in der Sprach-Analyse wird die Gegenwart des Denkens zu einer solchen im wörtlichen Sinne. Will sagen: gegenwärts zu allem, was im Sinne einer weisheitlichen Maßgabe zu denken gegeben hat. Demzuvor ist die Sprach-Analyse von ausschließender Beziehung auf das Gedachte der conceptualen wie auch der apokalyptischen Vernunft. Wie schafft sie das? Mit der unmittelbar Beifall suchenden und findenden, weil unwidersprechlichen Versicherung: Das ist unklar – das ist unverständlich. Mit diesem Urteil begünstigt sich der endlich um seine Vernunft gekommene Verstand. Er kann die Weisheits-Gestalten nicht einmal verstehen wollen, nachdem alles unverständlich geworden sein muß, was dem Denken die Unterscheidung von sich abverlangt. Solche Gegenwart ist stets im Blick zu behalten, wo immer unser eigenes Denken sich des entsprechenden Unterscheidens annimmt. Wir begegnen ihm jetzt bei Schiller. Um kurz zu erinnern: Die schillersche ratio setzt mit dem Terminus des Denkens ein. Als erster wiederum legt er sich – wie in jeder Weisheits-Gestalt – nach seiner sprachlichen, sodann geschichtlichen, schließlich weltlichen Fassung aus. Wir haben sie zunächst in den Gedichten der vor-philosophischen Zeit aufgesucht – das Sprachliche im Hymnos eines Denkens, das mit sich selber im Element der Gemeinschaft oder der Wechsel-Bestimmung den Anfang macht. Im freudigen Gefühl der Verbundenheit aller Menschen. Des Näheren ihrer Brüderlichkeit im Ganzen dessen, was herkömmlicherweise ,die Schöpfung‘ genannt wird. Darin durchaus unherkömmlich der Schöpfer als einer unseresgleichen, was seine Rechtsstellung angeht. In der letzten Strophe der Erst-Veröffentlichung von An die Freude wird nicht nur die Rettung von Tyrannenketten beschworen, sondern auch die Befreiung von der Furcht vor dem Letzten Gericht. Der Dichter nimmt sich heraus, was nicht einmal der Gott der Alten Kirche als Grund der Freude geltend machen konnte: „Allen Sündern soll vergeben, / und die Hölle nicht mehr sein“ (NA 1, 172,102). So will es das Denken, welches aus der Menschheit des Menschen spricht. In einer Freude von unendlicher Bedeutung. Noch einmal: Wir hören in ihr nicht die Sprache der Bestimmung, sondern die Gestimmtheit des Denkens in seiner unmittelbaren Fassung. Diesem ersten Moment folgt das geschichtliche und zwar angesichts des Unterschiedes, der das Denken im Gedächtnis der Götter Griechenlands, ihres Entzugs bewegt. Durch und durch aus der Erfahrung einer Abwesenheit geprägt, welche für das Dichten selbst den ganzen Unterschied macht. Die Göttlichkeit der Natur ist durch die Wissenschaft des anderen Zeitalters ausgeschlossen worden – durch eine radikale Veränderung des Denkens der schöne Schein auf allem getilgt. „Damals war nichts heilig als das Schöne“ (NA 2, 364,45), welches nicht an ihm selbst ist, sondern denkend der Erscheinung angesehen wird. Und hier die Peripetie des Denkens, seine Verwandlung aus sich selbst, aus dem ihm eigentümlichen Geschick. Hier der Ruf: „Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder / Holdes Blüthenalter der Natur!“ (NA 1, 194,145; NA 2, 366,89). Vom schauerlichen Wehen des Nordwinds dahingerafft. „Einen zu bereichern unter allen /

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Mußte diese Götterwelt vergehn“ (194,155/366,99). Kein Zweifel, wer der Eine ist, der entgötternde Gott. Und es ist die Natur, welche seine Anhänger zu derjenigen der Physik entstellt haben. Doch mit allem Schönen haben sich die Götter in den Gesang gerettet. Was da unsterblich leben soll, „Muß im Leben untergehn“ (NA 2, 367,128). Das ist die dichterische Antwort auf den Untergang der schönen Welt: ein befreiender Welt-Untergang in das produktive Wesen des Denkens aus der Einbildungskraft. Sie vermag das Vernichtete zu wiederholen. Mit der Kausalität des unterschiedenen Denkens. Eben diese Zuversicht nimmt das anschließende Gedicht Die Künstler (NA 1, 201 – 14; NA 2, 383 – 96) auf. Es gibt dem Denken in seinem abschließenden Moment die weltliche Fassung. Als das mit seiner Gegenwart versöhnte. Da tritt der denkende Mensch als der „reifste Sohn der Zeit“ hervor (Z. 6): „Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze / Durch Sanftmuth groß, und reich durch Schätze“ – eben jene, die er in sich selber und also in seinem Denken entdeckt. Aus ihm her erscheint er jetzt als der „Herr der Natur“, wie ihn Descartes angekündigt hatte. Doch vollendet zu einem Herrn der Natur, die seine „Fesseln liebt“ – die des erzogenen Menschen und der Kultur, wie sie „aus der Verwildrung stieg“ (12). Eine gütige Natur hat ihn denken gelehrt, ihn „in hohen Pflichten spielend unterwiesen“ – nicht einmal als der Lehrer Émiles. Sie hat ihn „das Geheimniß der erhab’nen Tugend / In leichten Räthseln erraten“ lassen (24). Seine im Denken beruhende Auszeichnung ist nicht eigentlich die des Wissens, das er mit anderen Geistern teilt, sondern die Kunst, die ihr eigene erfinderische Produktivität. Dabei das Schöne als Zugang zur Erkenntnis, wie sie zuhöchst die des „Weltgeistes“ ist (41). Seine Entwicklung nimmt das Denken aber nur aus dem Entgegenkommen der Schönheit, welche die Wahrheit birgt (64). Allein sie, „die Menschliche“, ist die Spur zur Menschheit des Menschen. Erschließt ihm „die Sonnenbahn der Sittlichkeit“ (85). Wieder ist es die Natur, aus deren schöner Seele sie sich der Erfahrung anheimgibt. Sie weckt „die schöne Bildkraft“ (133) zu eigener Schöpfung. Dieses Gedicht hat sich aus der besagten geschichtlichen Erfahrung gelöst, um rein die Entwicklung des produktiven Menschenwesens vorzustellen. Hier die entscheidende Phase: „Jetzt fiel der Thierheit dumpfe Schranke, / Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn, / Und der erhab’ne Fremdling, der Gedanke, / Sprang aus dem staunenden Gehirn.“ (183) In einer Entwicklung und nicht ihm von außen zugetragen. „Der Weisen weisestes, der Milden Milde, / Der Starken Kraft, der Edeln Grazie, / Vermähltet ihr in Einem Bilde / Und stelltet es in eine Glorie. / Der Mensch erbebte vor dem Unbekannten, / Er liebte seinen Widerschein; / Und herrliche Heroen brannten / Dem großen Wesen gleich zu seyn, / Den ersten Klang vom Urbild alles Schönen / Ihr ließet ihn in der Natur ertönen.“ (210) Kein Zweifel: was der Mensch hier entdeckt und gestaltet, ist seine eigene Menschheit. „Eh’ die Weisen ihren Ausspruch wagen“ (232), gestaltet sich das Denken in den Dichtwerken des abendländischen Anfangs. Der dem geschichtlichen Denken eigentümliche Ab-

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schied vom Gewesenen wird im weltlichen Denken überholt durch seine Unterweltsfahrt, aus der neue Schöpfungen der Kunst, genauer: des Genies aufgehen. „Der fortgeschritt’ne Mensch trägt auf erhob’nen Schwingen / Dankbar die Kunst mit sich empor, / Und neue Schönheitswelten springen / Aus der bereicherten Natur hervor.“ (270) Jetzt ist es der Mensch selber, der die Natur bereichert. Sein Denken ist es, was ihr die ihm eigene Harmonie ansieht oder verleiht. Überall begegnet er dem eigenen Gedanken in der Erscheinung. Und lernt, selbst noch die Notwendigkeit zu lieben, welche ihn zum Tode bestimmt. Er begegnet ihr in Freiheit. Das Denken nimmt seinen geschichtlichen Unterschied in die Tradition einer Welt zurück, die vom Orient zum Abendland reicht. Hesperien wird zum Ort der Erneuerung der „Blüthen Joniens“ (370). Im Denken waltet ein Fortschritt zu „des Lichtes großer Göttin“ (374). Wie sollte sie nicht der Geist der Aufklärung sein? Die Menschheit löst sich aus alten Ketten; „über Sklaven sprach jetzt Menschenrecht“ (376). Und „auf des Denkens frei gegeb’nen Bahnen“ (383) regt sich die Forschung. Die Welt schließt sich in ihrer resultativen Gestalt mit ihrem Anfang zusammen. Die Rückkehr in den Anfang des erstlich Gesetzten wird dem Denken zum Kriterium seiner Vollendung. Und zwar das produktive Denken der Kunst, das Denken aus der schöpferischen Einbildungskraft, die auch noch das Werk der Wissenschaft zur Schönheit reifen läßt – letztlich derjenigen des Systems der physischen und geistigen Natur, wie es zum Genuß des Gedankens geworden ist. Hier bahnt sich bereits Hegels Einsicht vom Ende der Kunst in absoluter Bedeutung an. Die Wissenschaft „zum Kunstwerk […] geadelt“ (405) – das ist der Vorläufer der Kunst, die zum „System der Wissenschaft“ geadelt wird. Ist doch das Ziel der Menschenalter das Eingehen in die Wahrheit. Die der Kunst, die der Dichtung in der epochalen Bedeutung, welche erst mit der produktiv bestimmten Vernunft hervortritt. Die Freiheit des Denkens – seine Selbstbestimmung und also die Würde des Menschen; das liegt in der Hand der Künstler, insbesondere der Dichter. „Der freisten Mutter freie Söhne“ (458) sind sie. Die der unterschiedenen Natur. Unterschieden als die wesentlich gedachte und geschaffene Schönheit schöner Seelen. Was sie „schön empfunden, / Muß trefflich und vollkommen seyn“ (465). Entscheidend ist hier also der Modus der Empfindung, wie er dem Denken in seiner resultierenden Unmittelbarkeit angehört. Um auf das Ganze des Denkens zurückzublicken: Es wurde von seinem sprachlichen Modus eröffnet – mit dem Hymnos An die Freude (NA 1, 169 – 72; NA 2, 185 – 87), also seine Gestimmtheit zur Sprache bringend und dies angesichts der Gemeinschaft aller Menschen. Sodann faßte es sich in seinem geschichtlichen Modus mit der Erinnerung an Die Götter Griechenlands, wie sie die entschwundenen sind. Zu vergegenwärtigen allein aus der Kausalität, welche dem sich unterscheidenden Denken in seiner Freiheit eigen ist. Sich unterscheidend, indem es seiner Abgeschiedenheit vom Griechischen Aufgang inne wird. Solche Erinnerung muß aber schließlich in das zurückgehen, was das Denken gegenwärtig bewegt. Das kann nur die Natur sein, wie sie wesentlich die seine ist. Ein Denken, das seine produktive

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Substanz in seiner künstlerischen Äußerung bewahrheitet. Diese Äußerung vollendet sich aber in selbstbewußter Gestalt: Der Künstler. Das entsprechende Selbstbewußtsein kommt zu Vernunft, indem es die Kunst in principieller Bedeutung begreift und zwar in der Sammlung allein auf die SprachKunst. In ihr ist die Kunst derart bei sich, daß sie durch eine Unterscheidung, die dem Begriff gleich kommt, die Fassung im Bestimmungs-Terminus annimmt. Wohlgemerkt erlaubt dies nur eine Sprach-Kunst, welche selbstbewußt zugleich ihrer Vernünftigkeit inne wird. Das Selbstbewußtsein des Künstlers sprach sich bereits in den besagten Gedichten aus. Was mit dem Auftreten des Bestimmungs-Terminus deutlich wird, ist darüberhinaus die menschheitliche Aufgabe einer ästhetischen Erziehung – menschheitlich, weil ausdrücklich die Konstitution des Staates freier Bürger betreffend. Unter seine Bestimmung tritt das Denken nur derart, daß es seine weltliche Fassung unterscheidet, nämlich seine Bestimmung selbst als die des Menschen im Sinne des Weltwesens versteht und eben daraufhin in politischer Bedeutung. Dabei wird die Vorgabe der kantischen Philosophie, nämlich der Begriff vom moralischen Selbstbewußtsein, auf den Boden der sov¸a übersetzt. Genau besehen, verläßt Schiller diesen Boden nicht, wenn er sich der Philosophie zuwendet. Dies muß gegen meine vormalige Auffassung gesagt werden. Wohl ist für die Letzte Epoche unserer Geschichte ein Wechsel-Verhältnis von sov¸a und Philosophie kennzeichnend; dies jedoch nicht derart, daß der sovºr zeitweilig in die vikosov¸a eintritt, wie das schon bei Rousseau, erst recht bei Schiller und Hölderlin scheinen konnte; vielmehr kommt es nur zu einer Berührung in der Erläuterung des je eigenen Gedankens. Um jetzt bei dem Beispiel Schillers zu bleiben: Beziehungsgrund muß die Bestimmung selber sein. In ihrer kantischen und also philosophischen Fassung ist sie unmittelbar die Allgemeinheit des Sitten-Gesetzes. Schiller berührt sie nicht nur; er stößt sich auch an ihr. Dies jedoch nur äußerlich; denn wie der Bau der betreffenden rationes erkennen läßt, geht bei Schiller anders als bei Kant die Entfaltung des DenkTerminus vorauf. Dies hat allerdings zur Folge, daß das Moment der Einzelnheit im kantischen Gedanken sich unmittelbar mit dem Moment der Substanzialität im schillerschen Gedanken zu berühren scheint. Nämlich das dritte Moment der kantischen Bestimmung, also der je einzelnen Pflicht, mit dem ersten Moment der schillerschen Bestimmung, nämlich ihrer Substanzialität. Doch dies scheint nur dann so, wenn die Entwicklung des Begriffs und die Verstandes-Kategorie der Substanz, an die wir uns nur provisorisch halten, nicht unterschieden werden. Kurzum: Trotz des gemeinsamen Beziehungsgrundes, welcher die Menschheit des Menschen ist, bleiben die rationes der sov¸a und der vikosov¸a auch in der Letzten Epoche durchgängig getrennt. Blicken wir noch einmal auf die Entfaltung des schillerschen Denk-Terminus zurück, um die Eröffnung des Bestimmungs-Terminus genau zu sehen. Das erste Moment ließ sich aus der Kategorie der Gemeinschaft erschließen: ein Denken im Sinne allumfangender Liebe. Zugleich Selbstliebe; denn es liebt seine Natur, wie sie

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„das stille schaffende Leben“ (NA 20, 414,14) ist. Eben darin ist das Denken „naiv“ und spricht sich unmittelbar als solches aus. Das andere Moment zu dem sprachlichen ist das geschichtliche der Entzweiung mit sich und seiner Natürlichkeit. Es begegnet seiner Natur als einer entgotteten und zwar dort, wo es seine Künstlichkeit zum Tragen bringt – dies in der Produktivität des verursachenden Zugriffs auf die Natur. Das dritte Moment nun zu dem sprachlichen und geschichtlichen ist das weltliche, wie es sich als mit der Natürlichkeit des Denkens versöhntes, weil substanzielles zum Tragen bringt – nicht in den Techniken, sondern in den Künsten als den schönen. Hier zieht sich der Gedanke von der jeweils gegebenen, zu bearbeitenden und zu gestaltenden Wirklichkeit zurück und ist in der produktiven, der dichterischen Einbildung bei sich. Um die Beziehung der sov¸a auf die vikosov¸a der Epoche deutlicher und dabei im Blick auf den Denk-Terminus zu fassen, sei mit Schiller an Kant erinnert. In der Schrift Über Anmut und Würde heißt es: „Von der Achtung, kann man sagen, sie beugt sich vor ihrem Gegenstande; von der Liebe, sie neigt sich zu dem ihrigen; von der Begierde, sie stürzt sich auf den ihrigen. Bey der Achtung ist das Objekt die Vernunft und das Subjekt die sinnliche Natur. Bey der Liebe ist das Objekt sinnlich, und das Subjekt die moralische Natur. Bey der Begierde sind Objekt und Subjekt sinnlich. // Die Liebe allein ist also eine freye Empfindung, denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freyheit, aus unsrer göttlichen Natur“ (302,29). Dementsprechend verstand sich der Terminus des Denkens unmittelbar aus einem Gefühl, nämlich dem der Liebe zur Menschheit – sich aussprechend im Hymnos; sodann geschichtlich in der reflektierenden Entfremdung zur Natur; schließlich in einer Rückkehr zur Natur als der weltlich gewordenen. Bestimmend ist hier der moralische Trieb des Denkenden; der will ganz im Sinne der moralischen Vernunft bei sich sein. Gerade hier zeichnet sich der Übergang zum Bestimmungs-Terminus ab. Was diesen betrifft, so ist von ihm in weltlicher Bedeutung auszugehen und zwar von einer Gottheit, welche gerade nicht mehr die überweltliche ist; denn solcherart kann sie gerade als „absolutes Subjekt“ (341,26) nicht sein. Sie muß die Menschheit des Menschen einschließen und zwar mit der „Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seyns“ (342,6), nämlich dessen, was die Freiheit ausmacht. Sie ist konkret als diejenige einer Person und die „offenbart sich“ (342,14) zunächst in ihrer Substanzialität. Die Offenbarung der Menschheit des Menschen aus seiner Persönlichkeit beruht in seiner „Anlage zu der Gottheit“ (343,15). Hier verstehen wir deutlicher das besagte Moment der Weltlichkeit. Darin liegt nämlich erstens: „auf absolute Realität“ drängen, „alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen“; zweitens: „auf absolute Formalität“ drängen: „alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Uebereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen“ (344,5 – 10). Das derart schöpferische Wesen des Menschen erbringt den „Begriff der Gottheit“ (344,12) im Sinne der Letzten Epoche.

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Die Freiheit in absoluter Bedeutung will als Schönheit zur Darstellung kommen. Als Freiheit in der Erscheinung. Dies unter „absoluter Einschließung aller“ Realitäten (367,32). Als solche ist sie aber nur sprachlich darstellbar. Dies derart – und das ist das zweite Moment der Bestimmung –, daß die Gesetze der Natur und der Moralität in harmonischem Wechsel-Verhältnis erscheinen. Ist doch eben dies „das Wesen der Schönheit“ (367,29), wie es zur Sprache kommen will. Schließlich ist die Freiheit mit Unterscheidung zu denken. Zunächst ist sie die Freiheit des Vernunftwesens – mit der Forderung, überhaupt vernünftig zu handeln. Sodann aber ist sie die Freiheit des Weltwesens und also der Menschheit – dies mit der Forderung, in den Schranken des Stoffes vernünftig zu handeln und also die Freiheit als natürliche Möglichkeit darzustellen. Da erscheint sie selbst als „Wirkung der Natur“ (373,24), weil durch natürliche Mittel gefördert oder gehemmt. Nur daraufhin kann es eine „Geschichte der menschlichen Freyheit“ geben (374,15). Menschlich ist die Freiheit in „ästhetischer“ Konkretion. Es liegt auf der Hand, daß die hier angesprochene Sinnlichkeit die unterschiedene sein muß, nämlich nicht die dem Verstand, sondern der Urteilskraft zugeordnete. Das ist aber jene, die dem Denken als die Bestimmung im Sinne der Schönheit aufgeht. Hier ist darauf zu achten, daß Schillers ästhetische Urteilskraft, anders als die kantische, eine in sich geschlossene ist und also nicht dazu anhält, angesichts des Weltwesens, das zuerst Vernunftwesen ist, über das Schöne und Erhabene hinauszugehen zu den teleologisch bestimmten Naturzwecken, weiter von ihnen zum Weltwesen Mensch als einem gesellschaftlichen und schließlich zu jenem, das sich der Unsterblichkeit und Glückseligkeit würdig erwiesen hat. Eine Kausalität aus Schönheit – dieser Gedanke fällt in die letzte, also geschichtliche Fassung des schillerschen Bestimmungs-Terminus. Solche Kausalität kommt nur dort zum Tragen, wo dem Schein „in der Kunst des Ideals eine eigene Persönlichkeit“ zugestanden wird (405,9). Nur dann wird „das Ideal das wirkliche Leben regieren“ (402,29). Läßt es die „Schönheit unsre zweyte Schöpferin“ – nach der Natur – sein (378,17). Wie das? In einer Wende aus dem Staat der Not oder der sog. Bedürfnisse in den ästhetischen Staat. Was bedeutet es, wenn er sozusagen zum Gebieter wird? Schiller antwortet: „Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.“ (410,20) In eben diesem Sinne muß die Bestimmung Kausalität haben. Um hier kurz an deren Entwicklung zu erinnern, wie sie zugleich die des Staates der freien Bürger ist: Da ist zuerst der dynamische Staat. In ihm wird die Natur durch Natur bezähmt. Mit ihm wird aber die eigentliche Gesellschaft nur erst möglich gemacht. Da ist sodann der ethnische Staat, also derjenige eines bestimmten Volkes. Hier wird die Gesellschaft moralisch notwendig gemacht und zwar derart, daß der einzelne Wille dem allgemeinen unterworfen wird. Zuletzt aber tritt der ästhetische Staat auf, welcher die besagten Extreme des dynamischen und des moralischen vermittelt. In ihm gelingt es, den Willen des Ganzen durch die Natur – noch einmal:

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Natur – des Individuums zu vollziehen und so die Gesellschaft wirklich zu machen – ganz im Sinne der Kausalität, die diesem dritten Moment zuzusprechen ist. Zusammenfassend bemerkt Schiller: Das Bedürfnis nötigt den Menschen in die Gesellschaft. Vernunft pflanzt gesellige Grundsätze in ihm. Schönheit erteilt dem Menschen den geselligen Charakter. Wir merken auf: Was die Bestimmung anlangt, so erfüllt sie sich nicht im Gemeinwesen des Allgemeinen Willens und seines Volkes – ohnehin nicht des Gottesvolkes –, sondern die Schönheit konkretisiert sich in der Geselligkeit. Noch einmal Rousseau: Die Bestimmung erfüllt sich in der Persönlichkeit der schönen Seele. Anders Schiller: Die Bestimmung selber kommt zur Darstellung in einer freien Geselligkeit schöner Seelen, in ihrer Harmonie. Davon ist die politische Gestaltung des Gemeinwesens sehr wohl zu unterscheiden; denn sie fällt in den Sach-Terminus – gerade so, wie das schon bei Rousseau offenkundig ist. So bleibt es denn auch ein Mißverständnis, wenn man meint, Schiller sei nicht über den ästhetischen Staat hinausgekommen. In dieser gängigen Ansicht liegt die Unterstellung: er hätte sollen; aber nach der Bestimmung in seiner ratio sollte er garnicht. Und wieder zeigt sich: Nur am Leitfaden des Baus der rationes läßt sich ein epochaler Gedanke zuverlässig erschließen und von Vormeinungen, ihrer Idiosynkrasie freihalten. Sogar der ästhetische Staat muß als erzieherisches Gebilde in die dem Denken eigene Weltlichkeit gesetzt werden. Von ihr her öffnet sich der Zugang zu der Bestimmung, welche letztlich die Schönheit des geselligen Wesens ist – ein Antibarbarus. Die Erläuterung der Bestimmung ist hier, anders als bei Rousseau, auf die Vorklärung des Denkens angewiesen. Die schöne Geselligkeit – das ist offenbar nicht mehr die letztlich substanzielle Persönlichkeit und ihre Welt, sondern die letztlich verursachende, künstlerische Persönlichkeit in ihrer Geschichte. Als bestimmende will sie aber von den einzelnen innergeschichtlichen Personen unterschieden sein. Was nun diese anlangt, so bilden sie den Gehalt des schillerschen Sach-Terminus. Um zu erinnern: der rousseauische war in dem Werk der Erziehung zu sehen. So scheinbar auch bei Schiller. Doch Die ästhetische Erziehung des Menschen hat es mit der Bestimmung selbst zu tun. Nicht mit der Erziehung von Einzelnen. Mit deren Bildung hat es die Entfaltung der Sache zu tun. Der Ort, von ihr zu reden, das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu seinesgleichen, in dem jeder als Handelnder steht. So ist denn auch der eigentümliche Ort der Sache hier ihre dramatische Fassung. Wie stellt sich die Sache und zwar die Handlung unter der Bestimmung der Schönheit dar? Die Maßgabe der Bestimmung fordert hier wie bei Rousseau das Produzieren des Schönen. Schön ist ein Mensch in seinem Handeln nicht von Natur. Als solcher will er eigens hervorgebracht sein und zwar in der Selbstdarstellung, die jedes Handeln in der Wirkung auf seinesgleichen bedeutet. Genau in dieser Hinsicht ist das Handeln, sofern es einen Unterschied im Ganzen macht, von geschichtlicher Prägung. Man hat daraufhin vom Helden eines Dramas gesprochen. Genau besehen sind aber die Personen, die im schillerschen Drama Handelnden, ihrer Gesinnung

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nach Bürger und zwar nach Maßgabe der Freiheit, die jeder an ihm selbst und für sich selbst erringen soll. In diesem Sinne ist auch eine Königin wie Maria Stuart bürgerlichen Wesens. Jeder, der sich im Blick auf die Maximen seines Handelns selber befreit, der also seine Pflicht tut, handelt gut. Darüberhinaus handelt er schön – und dies trennt Schiller von Kant – sofern seine Handlung sichtbarlich frei ist, als solche im Drama und allerdings auch nur in ihm zur Darstellung gebracht. Nur der gedichtete Mensch handelt schön, weil frei, oder häßlich, weil unfrei. Moralischen Handlungen ist wohl ihre Legalität, nicht aber ihre Moralität anzusehen. Eben daraufhin versteht sich die Gunst der dichterischen Darstellung geschichtlichen Handelns unter der Bestimmung der Schönheit. Doch führt die bereits über die geschichtliche Fassung des Sach-Terminus hinaus, greift auf die abschließende sprachliche Fassung vor. Noch einmal: Unmittelbar geht es im Sach-Terminus um ein Handeln, das nicht nur eine Wirkung hat, sondern von geschichtlichen Folgen ist – so etwa im Falle der Jungfrau von Orleans: Eine Tat der Selbstbefreiung zu vollendeter Selbstbestimmung, die zugleich die Befreiung für ein Gemeinwesen bedeutet – mit der Phänomenologie des Geistes könnten wir sagen: eine Tat des Selbstbewußtseins, die zugleich eine Tat des Bewußtseins ist, einen ihm äußeren Gegenstand hat. Erst durch diese äußere Seite wird sie das Werk einer geschichtlichen Vernünftigkeit. Die im Sach-Terminus gefaßte Handlung ist zuerst geschichtlichen Wesens – dies schon durch eine Freiheit, die unterschieden sein will; denn der Unfreie in Gestalt des Söldners sagt sich: „Freiheit ist bei der Macht allein. […] Im Felde […] Da tritt kein anderer für ihn ein, / Auf sich selber steht er da ganz allein“ (Wallensteins Lager XI; NA 8, 50,1023 und 52,1053) – mit einer Selbständigkeit, welche gerade nicht für die Freiheit genommen sein will. Aber nicht nur der Söldner, auch noch der Feldherr Wallenstein weiß sich in seinem geschichtlichen Handeln unter einer Notwendigkeit stehend, der er im Glauben an das Schicksal aus den Sternen begegnet (Die Piccolomini II 6; vgl. 98,962). Nur deshalb wird er überrascht von der Macht des Zufalls (Wallensteins Tod I 3; 183,135). Ist sie doch in Wahrheit dasselbe wie „des Geschicks geheimnisvolle Urne“ (I 4; 184,185). Auch wenn Wallenstein glaubt, in der Krise seines Handelns „dem Weltgeist näher […] als sonst“ zu sein (II 3; 212,898), bezeugt er nur die Not des Unfreien. Erst im geschichtlichen Handeln lernt ein Mensch, worauf es ankommt. „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, / Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“ (II 2; 207,788). So nötigen sie zu der Arbeit an sich selbst, welche die Bildung unter der Maßgabe des Ideals ist. Daß sie auch ausbleiben kann, wird vor allem in der weltlichen Fassung der Sache realisiert. So in der Erfahrung, welche Wallensteins Tod ausspricht: „Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft, / Den fürcht ich nicht. […] / Ein unsichtbarer Feind ists, den ich fürchte, / Der in der Menschen Brust mir widersteht, / Durch feige Furcht allein mir fürchterlich – / Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündigt, / Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz / Gemeine ists, das ewig Gestrige, / Was immer war und immer wiederkehrt / Und morgen gilt, weils

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heute hat gegolten! / Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, / Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.“ (I 4; 185,199) Von ihr wird er genährt und auferzogen – indifferent gegen die geschichtlichen Aufgaben einer Gegenwart, einer einzigen. Hier kommt der Mensch in den Blick, wie er sich nicht von sich unterscheiden will. Wie er nicht nur die Pflicht verdrängt, sondern erst recht den Widerstreit der Pflichten nicht auszutragen vermag. Allerdings: „Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum. / Doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht.“ (IV 2; 287,2514). Vom Dichter aufgefangen in die Schönheit der Erscheinung des frei Handelnden. Erinnert in Talbots Wort aus Maria Stuart: „Sobald du willst, in jedem Augenblick / Kannst du es erproben, daß dein Wille frei ist.“ (II 3; NA 9, 51,1332). Diese Freiheit ist die beseligende Weisheit dieser Epoche – wie das Maria Stuart vor ihrer Hinrichtung ausspricht. Auch da ist die absolute Unwahrheit, ihr Gegenwesen, welches Elisabeth verkörpert, die Heuchelei. Und wieder auf der anderen Seite das Wort der Jungfrau von Orleans: „Mehr als das Leben lieb ich meine Freiheit“ (II 2; 222,1445) – dies derart absolut, daß ihr „der Geist nur große Weltgeschicke“ zeigt (III 4; 250,2133). Vom Geist getrieben, hat sie ein Schicksal (III 5). Die geschichtliche Prägung ihres Handelns hat über ihre weltliche vorentschieden. Sie weiß: „Mich wird nichts treffen, als was sein muß.“ (V 4; 295,3121) Und es trifft sie als diese Person – mit allen Attributen der sittlichen Substanz, in welche das Wirken oder die Kausalität des Handelnden zurückgeht. Um hier nur an den Wilhelm Tell zu erinnern, wie er den Bürgersinn bis in sein Familienwesen hinein repräsentiert. Aus seiner gelebten Selbständigkeit ist die Überzeugung gewachsen: „Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet.“ (I 3; NA 10, 149,388) Der Eingriff der Tyrannei verletzt aber darüberhinaus die urständige Freiheit des Volkes (II 1). Dies zu begleichen, bedeutet aber: „Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, / Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht“ (II 2; 185,1282) – diesseits des Gemeinwesens und seiner göttlich gegründeten Rechts-Verhältnisse. Die Sache der schillerschen ratio – das ist im Ganzen die freie Tat. Nur als freie kann sie die gute sein. Als menschheitlich belangvolle will sie aber erscheinen und also die schöne sein. Schön ist sie mit dem Unterschied, den sie als Erscheinung der Freiheit macht. Nur als solche ruft sie sich die künstlerische Darstellung als die einzige ihr angemessene hervor; denn wie gesagt, kann die Moralität einer Handlung nicht erscheinen. Für die Erscheinung ist sie auf die künstlerische Einbildung angewiesen. Jetzt zeigt sich eine letzte Wechsel-Bestimmung der schillerschen ratio und zwar in einer Sache, welche zum einen die schöne Tat ist, zum anderen aber deren Aufhebung im dichterischen Werk, wie es seinerseits zu solcher Tat anhält. Zu einer Bewahrheitung und Bewährung der Freiheit. Wie es in Schillers Widmung auf einer handschriftlichen Fassung von Wilhelm Tell an Carl Theodor von Dalberg heißt: „Das ist unsterblich und des Liedes werth. / Und solch ein Bild darf ich Dir freudig zeigen“ (NA 2, 179,14). Ein Bild der Unterscheidung des Menschen von sich selbst, wie das die Letzte Epoche unserer Geschichte geschaffen hat. Mit Schiller im Wesentlichen als dramatisches Gedicht, weil nämlich gerade das Drama nicht nur das Vortreffliche

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im Lied zu feiern, sondern einen Begriff der Vortrefflichkeit aus dem Tun der Tat unter der Bestimmung der Schönheit zu geben weiß. Eben diese wird sich als Vorgabe der schillerschen sov¸a für die vikosov¸a Fichtes erweisen, deren ratio wiederum vom Terminus der Sache her zu entfalten ist – in reiner Gegenläufigkeit zur Term-Folge Schillers.

IX. Unsere Gegenwart im Blick behalten – das macht sich von selbst. Und zwar mit dem Blick der je eigenen Interessen. Wie sehr sie sich auch ausweiten mögen. Was sich dagegen keineswegs von selbst und durch keine Erweiterung des sog. Horizonts macht, ist dies: die Gegenwart als ein Ganzes unter Ganzen und deshalb mit Unterscheidung in den Blick zu fassen. Wenn Heidegger bemerkt: wir sind schon dort, wohin wir erst kommen müssen,13 so hat dies in unserer Gegenwart einen Grund, der nicht mit der schlichten Unterscheidung der künftigen von der bisherigen Welt zu erhellen ist, weil er der Unterscheidung ebenso unserer Welt von ihrer Geschichte wie unserer Sprache von ihrer Welt bedarf. Erst mit dieser Unterscheidung rücken wir in unsere Gegenwart als eine wohlbegrenzte und deshalb auch im Ganzen überschaubare ein. Sie zu überschauen bedeutet: in die ihr eigentümliche Aufgabe des Denkens einrücken. Was ist das Eigentümliche daran? Gewiß nicht, sich mit den allbekannten heutigen Aufgaben des Denkens vertraut zu machen; dies umso weniger, als an ihnen wo nicht deutlich ist, so doch deutlich gemacht werden kann, daß sie bereits auf vielfältige Weise aufgenommen sind und schon bewegt werden. Was als Aufgabe ansteht, ist die gerade nicht gesehene, aus der her sich aber die bereits angenommenen Aufgaben des Denkens zu einem Ganzen artikulieren, das erst einmal in sich, sodann aber von sich unterschieden sein will. Wie aus unseren Vorlesungen hinlänglich bekannt, geht es dabei um das Gefüge zum einen der submodernen, zum anderen der postmodernen Denkart, die aber auf eine Unterscheidung drängt, welche zunächst nur noch das Denken selbst auseinandersetzt und zwar in das sprachanalytische Denken einerseits und das logotektonische andererseits. Solche Unterscheidung des Denkens in ihm selbst ist aber nur letzterem wesentlich. Nur das logotektonische Denken versteht sich selbst und sein anderes, während ersterem die Logotektonik zumindest gleichgültig bleibt. Das sprachanalytische Denken ist zu einem Bauen schlechthin ungeeignet. Beide Gestalten des bloßen Denkens der Gegenwart sind von unterschiedlicher Dienlichkeit. Die letztere dient genau besehen sich selbst, weil sie als Technik des Denkens nur scheinbar, nur behauptungsweise gebraucht wird und ist denn auch wohlgemerkt kein Gebilde der technischen Vernunft mehr. Die Selbstbezüglichkeit der sprachanalytischen Denkart bindet sie ganz und gar in den Betrieb eines Denkens, das bei allem kritischen Gehabe dennoch nicht auf den Namen ,Philosophie‘ verzichten möchte. Er ist gleichsam sein ,Lebe-Name‘, prätendiert einen ,Sitz im Leben‘ 13

Vgl. u. a. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, 199 und 12, und GA 79, 122.

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– wie man das nennt. Auch wenn dieses Leben samt den wissenschaftlichen Techniken auf den analytischen Betrieb verzichten kann. Er ist in einem perversen Sinne ,theoretisch‘, nämlich die anfängliche heyq¸a der natürlichen Vernunft pervertierend. Inwiefern? Da mit der v¼sir die anfängliche Sache des Denkens entfallen ist, wird nichts mehr der Anschauung geboten – es sei denn metaphorischerweise der Umgang mit Wörtern. Sie sollen immer noch die einer natürlichen Sprache sein und dennoch in einem höchst künstlichen Umgang mit ihr. Achten wir hier nur erst auf das Verschwinden der Sache und erst recht ihrer Bestimmung in das Denken, ohne daß sich dieses in die Reinheit der Mathematik gebunden wüßte. Es ist nicht nur entbunden aus der Arithmetik, aus der Naturwissenschaft, aus der Soziologie dieser Wissenschaft, sondern gleichsam abgetrieben, um völlig beliebige Bedürfnisse nach Wissenschaftlichkeit des Denkens zu bedienen – Bedürfnisse, die ebenso künstlich sind wie der Betrieb, der sie beliefern möchte – ungebeten, weil bloß eingebildet. Aber auch das Denken der Logotektonik ist ein dienliches. Auch es unter den Heutigen ungebeten auftretend – nicht jedoch mit eingebildetem Grund. Es hat seinen Grund in der Wende, welche das Denken der Moderne in der Gegenwart nehmen mußte. Erstens um eine offen gebliebene Aufgabe zu erfüllen, zweitens um diesseits der Philosophie die sov¸a zu Wort kommen zu lassen, zu dem ihren. Was die erste Seite anlangt, so zeichnete sich im Denken unserer Gegenwart folgendes ab: nach dem an-archischen und dem strukturalen Gebilde trat drittens die sprachanalytische Denkart hervor. In ihr selbst trägt sie keinen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Übersetzung der technischen Vernunft der Moderne, scheint deren Denkart vielmehr zu continuieren. Solche Notwendigkeit tritt nur an einem Denken hervor, das sich in der Unterscheidung von sich selbst seiner eigentümlichen Stellung im Ganzen der Gegenwart bewußt wird. Zusammen mit der Contraction der rationes auf den einen Terminus des Denkens. Erst in der Lösung von der wenn auch simulierten Bestimmung, erst in der Lösung auch noch von der sprachlich geprägten Sache des Denkens kann ihm seine sprachanalytische Verarmung samt dem Verhehlen seiner Ärmlichkeit aufgehen. Wohlgemerkt kennt dieses Denken anders als die heideggersche Erfahrung keine Verborgenheit, erst recht kein dadurch angewegtes Vergessen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst muß sich ganz auf den Vorgang eines Verhehlens sammeln. Und der kann sich auf nichts anderes als ein Wissen beziehen, welches der sov¸a eigentümlich gewesen ist. Dabei geht es nicht um die Entbergung dieses Wissens, sondern um die Scheidung von dem Denken, welches dieses mit der ihm eigentümlichen Verbindlichkeit verhehlt. Noch einmal: Die Wieder-Entdeckung der Vernunft oder des Vernünftigen nach dem Schnitt der Moderne muß diesseits des Denkens, das in unserer Geschichte Philosophie gewesen ist, die sov¸a genau besehen nicht einmal entdecken, sondern als Gedachtes zur Anerkennung bringen. Es handelt sich da um ein Wissen, das immer schon beanspruchen konnte, das Erste zu sein, die Bekräftigung dieses Anspruchs aber der Philosophie überlassen mußte, die unmittelbar als sein Widersacher

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aufgetreten war. Die sov¸a gegenwärtig zu Wort kommen zu lassen, kann nur bedeuten: mit einem Verhehlen brechen, welches in der Moderne zuerst die Philosophie in ihrer Geschichte treffen mußte. Wohlgemerkt: nicht so sehr ihr Wissen als vielmehr ihr Denken. Nachdem die Gründe dieses Vorgangs nicht mehr in der Besinnung der Moderne, sondern im Denken unserer Gegenwart zu suchen sind, kommt es darauf an, sie genau bis zu dem Punkt zu verfolgen, wo das Denken sich selber isoliert hat. Genau da ist der Ort zu einer Unterscheidung des Denkens von sich selbst. Wo weder die Bestimmung noch die Sache ablenkt von dem einzigen Grund, der im Denken selber liegt – dem Grund eines Verhehlens, wie er nur da zu suchen ist. Aber auch die Rede vom ,Verhehlen‘ ist hier noch ungenau. Handelt es sich doch nicht mehr um eine Verweigerung der Mitwisserschaft, sondern um den Vorgang einer Verdrängung, wie er im heutigen Strukturalismus, in der ihm eigenen Psychoanalyse einen ersten Aufschluß gefunden hat. Allerdings einen Aufschluß von selber noch verdrängender Wirkung, was die Weisheits-Gestalten angeht. Daran ist immer wieder zu denken, um über der Erläuterung der sov¸a zusammen mit der vikosov¸a nicht die Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Geschichte zu vergessen. Dies liegt wegen der in der Letzten Epoche aufgewiesenen Wechselbeziehung beider besonders nahe. Um hier noch einmal an den Bau der schillerschen ratio zu erinnern: Sie setzt mit dem Terminus des Denkens ein und gibt diesem zunächst seine sprachliche Fassung – bezogen auf das Gefühl der Gemeinschaft nicht nur in einem kleinen, geschlossenen Kreise, sondern im Ganzen der Menschheit überhaupt. Das andere Moment dazu ist das geschichtliche wie es sich innerhalb dieses Ganzen entfaltet. Des Näheren tritt das Denken hier in vergegenständlichender Bedeutung auf und beweist eben darin seine Kausalität – dies mit epochaler Unterscheidung der Denkart, nämlich als Reflexion und moralisches Interesse jenseits aller Natürlichkeit. Das dritte Moment zu beiden ist von weltlicher Prägung und vermittelt seine Extreme der Natürlichkeit und der Künstlichkeit im Einbilden des schönen Scheins. Es ist in seiner eigenen Produktivität bei sich, schafft sich seine eigene Welt und ist in diesem Sinne substanziell geworden. Der zweite Terminus ist hier derjenige der Bestimmung. Vom Denken die Weltlichkeit aufnehmend entfaltet sich diese – die Moralität des reinen Vernunftwesens sinnlich überspielend – als Schönheit. Zunächst als die substanzielle des stillen schaffenden Lebens. Eine Schönheit aus der Freiheit der Natur. Die Bestimmung wird sprachlich im Ruf nach der aus der Menschheit entschwundenen Natur. Da legt sie sich zu einer Wechsel-Bestimmung mit dem ihr Fremden auseinander. Natur und Freiheit – gemeinschaftlich im Spiel; das ist die bestimmende Mitte der ganzen schillerschen ratio. Sie bestimmt sich schließlich fort zu ihrer geschichtlichen Fassung und zwar zu einem immer erst zu realisierenden Ideal der Kausalität von Schönheit. In ihr ist das Vernünftige auf sinnliche Weise wirklich. Sie

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erteilt das Vermögen zu Wahrheit und Pflicht, zur Konkretion der theoretisch und praktisch verstandenen Bestimmung. Der Trieb zum Absoluten überrascht den Menschen in seiner Tierheit. Von ihr bleibt er nicht nur in seiner Höhle, sondern auch noch in seinen Zelten beherrscht. Den Aufbruch in die Geschichte schafft er erst, wo er wohnt und zwar in der Beständigkeit einer gebauten Hütte. So sah dies Rousseau und so wird es auch noch Hölderlin sehen. Die Schönheit läßt sich erst zu dem nicht mehr ursprünglichen, wohl aber anfänglichen Menschen herab, der in seiner Hütte still und mit sich selbst lebt (s. StA II, 325, Nr. 37). Die Sache der schillerschen ratio muß ihrerseits die schöne sein. Dies aus dem Zusammenwirken von Stofftrieb und Formtrieb, „die den Begriff der Menschheit erschöpfen“ (NA 20, 347,16). Der Ort der Unterscheidung dieses Menschen ist das Handeln, näher die Tat. Sie ist zuerst die geschichtliche und zeigt als solche die Kausalität, wie sie als freie und so auch sittliche sinnlich wird. Derart, daß sich der Einzelne tätig darstellt, auf andere einwirkt. Sodann ist die Tat von weltlicher Fassung; will sagen: der Handelnde ist in der Mannigfalt seiner Taten oder auch Attribute von substanzieller Einheit. Eben dies erweist sich als die Bedingung für die letzte Fassung der Sache. Der Handelnde bildet sich und sofern dies nach Maßgabe des Ideals geschieht in der Wechsel-Bestimmung der Menschen, näher derjenigen, die eine Kultur austragen. Sie ist aber im Wesentlichen die Kultur des Gesprächs und einer ihm eigenen Geselligkeit. Wir beobachten eine merkwürdige Contraction im Bau der letzten WeisheitsFigur: In Rousseaus abschließendem Terminus erfüllt sich das Denken in den Beratungen und Entschließungen des Gemeinwesens oder des Vernunft-Willens. In Schillers abschließendem Terminus erfüllt sich die Sache in den Gesprächen der ästhetisch Erzogenen, der Gebildeten. Auch wenn die Handelnden in geschichtlicher Bestimmtheit eingeführt werden. In Hölderlins abschließendem Terminus erfüllt sich die Bestimmung in der Einsamkeit des Rufs nach dem kommenden Gott des Vaterlandes und seines allerdings gemeinschaftlichen Festes. Ob dies an dem dichterischen Wesen des Menschen dieser Epoche liegt? Es hatte seine erste Fassung an der Julie, seine zweite an der Erziehungs-Aufgabe des Dichters, seine letzte aber wo? Lassen wir diese Beobachtung erst einmal stehen, um zunächst einen Seitenblick auf die begleitende Philosophie zu werfen. Also auf Fichte. Zur Überleitung noch ein Wort Schillers, das den Unterschied der geschichtlichen Epochen geradezu grell beleuchtet. In dem Gedicht Das Ideal und das Leben heißt es: „Nehmt die Gottheit auf in euern Willen, / Und sie steigt von ihrem Weltenthron. / Des Gesetzes strenge Fessel bindet / Nur den Sklavensinn, der es verschmäht, / Mit des Menschen Widerstand verschwindet / Auch des Gottes Majestät.“ (NA 2, 399,105; vgl. NA 1, 250,135). Mit der maiestas domini, nämlich der Herrlichkeit, wird das Innerste des Christlichen Wissens beiseite geschoben. Schub um Schub arbeitet auch die neuere sov¸a, um sich als einzige zu behaupten.

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Die Eröffnung des fichteschen Gedankens mit dem Terminus der Sache weist an das kantische Resultat zurück. Und doch auch nicht, sofern nämlich der schillersche Gedanke dazwischentritt. Dies mit der Folge, daß die Urteilskraft auf die ästhetische reduziert erscheint. Weshalb tritt sie aber überhaupt auf und überdies unmittelbar im fichteschen Sach-Terminus? Warum nicht in dem des Denkens? Es geht hier um eine Sache, welche ihre Sachlichkeit nur darin bezeugt, daß sie eine unbewußte ist und nur so vom Selbstbewußtsein der Vernunft verschieden. Sie ist des Näheren unbewußte Tätigkeit, weil die Vernunft gar keinen Gegenstand gelten lassen kann, der ihr in seiner Passivität äußerlich wäre. Wo kennen wir von Kant her eine entsprechende Tätigkeit? In der Urteilskraft des Genies. Dieses besitzt „Einbildungskraft als produktives Erkenntnisvermögen“: es schafft frei „vom Gesetze der Association“ (AAV, 314,16). Die schöpferische Einbildungskraft „bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken […], als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann“ (315,4). Die produktive und nicht nur reproduktive Einbildungskraft – schon Rousseau hatte ihre fundamentale Bedeutung gewürdigt. Immer wieder ist an ein Wort der Nouvelle Héloïse zu erinnern: „Das Land der Chimären ist in dieser Welt das einzig würdige, bewohnt zu werden, und solcherart ist das Nichts der menschlichen Dinge, daß außer dem Seienden, das durch sich selbst existiert, es nichts Schöneres gibt als das, was nicht ist.“ (OCP II, 693) Zu solcher Provokation ist nur die Weisheit imstande. Sie öffnet hier das Feld der Produktion im Unendlichen. Genau dies hat Kant am Genie ergriffen und Fichtes Blick auf das philosophische Genie gerichtet. Da hat die Einbildungskraft nicht nur die Bedeutung, eben jene Gemütsstimmung hervorzurufen, die einen Begriff, näher: eine Idee, einen Vernunft-Begriff begleitet, sondern darüberhinaus das Feld des Produzierens der Vernunft im Sinne des reinen Setzens zu eröffnen. Wer weiß schon, was in dieser Phase der Philosophie vor sich gegangen ist? Die produktive Einbildung – dazu, so Kant, ist Geist erfordert – wird von Fichte übertragen in das, was er die ursprünglichen und vorbewußten Handlungen des menschlichen Geistes nennt. Da erschließt sich Fichte die Bedingung der Möglichkeit der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ (AA IV, 392,23) oder der unbewußte Grund des moralischen Selbstbewußtseins, wie er bereits mit der schillerschen Bestimmung auftauchte. Nur auf seine unbewußte Tätigkeit hin kann Fichte von seiner Wissenschaftslehre als einer Naturanlage des Menschen sprechen. In seinem Werk dieses Namens sagt er: „Von diesem Vermögen [der Einbildungskraft] hängt es ab, ob man mit, oder ohne Geist philosophire. Die Wissenschaftslehre ist von der Art, daß sie durch den blossen Buchstaben gar nicht, sondern daß sie lediglich durch den Geist sich mittheilen läßt; weil ihre Grundideen in jedem, der sie studirt, durch die schaffende Einbildungskraft selbst hervorgebracht werden müssen; wie es denn bei einer auf die letzten Gründe der menschlichen Erkenntniß zurükgehenden Wissenschaft nicht anders seyn konnte, indem das ganze Geschäft des menschlichen Geistes von der Einbildungskraft ausgeht, Einbildungskraft aber

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nicht anders, als durch Einbildungskraft aufgefaßt werden kann. In wem daher diese ganze Anlage schon unwiederbringlich erschlafft oder getödtet ist, dem wird es freilich auf immer unmöglich bleiben, in diese Wissenschaft einzudringen; aber er hat den Grund dieser Unmöglichkeit gar nicht in der Wissenschaft selbst, welche leicht gefaßt wird, wenn sie überhaupt gefaßt wird, sondern in seinem eignen Unvermögen zu suchen.“ (GA I/2, 415,7 [I, 284]) Das hat man bei den Klagen über die Verständnis-Schwierigkeiten dieser Schrift nicht getan und wird heute kaum noch die Kraft finden, dieses Werk überhaupt noch bis zu der zitierten späten Stelle zu lesen. Sich lieber mit Schimpfen auf Fichte behelfen. Die produktive Einbildungskraft ist die Quelle der sov¸a dieser Epoche. So auch der ihr entsprechenden Philosophie. Was für sie die Unterscheidung der Vernunft von sich selbst und deren folgliche Abgeschiedenheit ist, das ist zuvor die Unterscheidung des Menschen, der sich von sich und seinesgleichen erst einmal zurücknehmen muß. So Schiller an Herder in einem Brief vom 4. 11. 1795: „Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht […], daß er seine eigene Welt formiret“ (NA 28, 98,12). Eben dies hat Fichte für die Philosophie getan. Mit ihrer Freiheit den Anfang gemacht, genauer: sich die Freiheit ihres Anfangens genommen. Nach der Vorgabe unserer ratio mußte in der Sache angefangen werden und weil hier weder die Bestimmung noch das Denken voraufgehen kann, mit einer Tat. Welcher Art und wessen? Wer handelt denn zurückgezogen aus der Welt? Offenbar nicht das Sinnenwesen und auch nicht das Vernunftwesen. Überhaupt nicht das Bewußtsein. Wer sonst? Der Abgeschiedene, den Fichte „der Geist“ nennt. Allerdings der menschliche, aber mit Unterscheidung verstandene. Menschlich darin, daß er handelt. Aber nach dem Gesagten unbewußt. Und was wäre dieses unbewußte Handeln? Im Sinne der produktiven Einbildungskraft ein Setzen. Schon Rousseau ließ erkennen: Denken ist Setzen. Sonst ist keine Freiheit möglich. Und auch Kant wiederholte es auf seine Weise, indem er Sein überhaupt als Position verstand. Eben daraufhin galt die Gesetzgebung des Verstandes für die Natur und erst recht die Gesetzgebung der Vernunft im Reich der Sitte. Und noch einmal verstand sich daraufhin bei Schiller die ästhetische Gesetzgebung des Künstlers und erst recht des Genies aus der Einbildungskraft. Also eröffnet Fichte seine ratio nicht von ungefähr mit einem Setzen und dies im Sinne der ,ursprünglichen Handlungen des menschlichen Geistes‘.14 Die sind Setzen, Entgegen-setzen und Zugleich-setzen der Entgegengesetzten. Man könnte sagen: alle diese Handlungen sind schön. Und doch nicht; denn sie erscheinen nicht. Mehr noch: sie sind nur erst notwendige, sind noch keine freien. Warum nicht? Dazu fehlt ihnen das Bewußtsein und so auch das Ich. Aber sie sind allemal zweckmäßige Handlungen. Bezeugen als solche ihre Vernünftigkeit. Es ist leicht zu sehen, daß die besagten Handlungen ein System bilden und eben darin den noch abstrakten Momenten des reinen Begriffs entsprechen – als da sind: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit. Das reine Setzen nun ist eine 14

Vgl. Fichte, GA I/2, 274 [I, 113]; s.a. Boeder: TM, 530 und 534.

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schlechthin unbedingte Tätigkeit. Das Entgegen-setzen ist nur der Form nach unbedingt. Das Zugleich-setzen dagegen ist nur dem Gehalt nach unbedingt. Was an diesem System die bahnbrechende Tat ist, das ist die Einbeziehung der Negativität in es. Genauer gesagt: es käme gar kein System, kein Bau der reinen Vernunft zustande, wenn nicht über die einfache Position zu oppositio und compositio hinausgegangen würde. Dieses Hinausgehen läßt einen Trieb zur Vervollständigung in den ursprünglichen Handlungen des menschlichen Geistes erwarten – einen Trieb, der durch die Einbeziehung der Negativität die Vereinigung des Unendlichen in der Freiheit mit dem Endlichen nach Stoff und Form verlangt. Nicht von ungefähr erinnert Fichte im Zusammenhang mit seiner FreiheitsAufgabe an die Französische Revolution, an ihre Befreiung des Menschen von den äußeren Ketten (s. GA I/2, 176). Auch hier springt die Verbindung mit Schiller heraus, dem die Französische National-Versammlung das Bürgerrecht verliehen hatte. Übersetzt in die Philosophie heißt dies: „Ursprüngliche Idee unsers absoluten Seyns: Streben zur Reflexion über uns selbst nach dieser Idee: Einschränkung, nicht dieses Strebens, aber unsers durch diese Einschränkung erst gesezten wirklichen Daseyns durch ein entgegengeseztes Princip, ein Nicht-Ich, oder überhaupt durch unsre Endlichkeit: Selbstbewußtseyn und insbesondre Bewußtseyn unsers praktischen Strebens: Bestimmung unsrer Vorstellungen darnach: (ohne Freiheit, und mit Freiheit) durch sie unsrer Handlungen, – der Richtung unsers wirklichen sinnlichen Vermögens: stete Erweiterung unsrer Schranken in das Unendliche fort.“ (410,15 [I, 278]) Hier ist zu unterscheiden: zum ersten die besagten ursprünglichen Handlungen aus dem Trieb zur Selbsttätigkeit als dem Allgemeinen. Sodann die Unterscheidung oder Besonderung dieses Triebes im Sinne des besagten Setzens, Entgegen-setzens und Zugleich-setzens. Schließlich diese Handlungen als diejenigen eines einzigen Geistes – jedoch immer noch unbewußt. Gleichsam in versachlichter Fassung. Ihre Vorform haben sie in den Grundsätzen der natürlichen Vernunft, wie sie in der Eröffnungs-Phase der Letzten Epoche Gestalt angenommen haben. Wie Fichte bemerkt: als die Gesetze der Reflexion. Nämlich im Satz der Identität, im Satz des Widerspruchs und im Satz des Grundes. Nun aber die Wende in die Bestimmung. Deshalb mit notwendiger Vorgabe dieser Handlungen, weil sie bewußt gemacht sein wollen. Darin liegt aber: sie wollen zu einer ichlichen Fassung kommen. Dieses Ich ist aber nicht ohne weiteres der Bestimmungsgrund, sondern erst dadurch, daß es sich von sich als einem Gegenstand der Erfahrung unterschieden hat und sich aus dieser Unterscheidung her als freies, sogar als absolut freies behauptet. Und dies wiederum als einzelnes. Einzeln in der Konkretion des Setzens seiner selbst als Ich im Bewußtsein seiner Freiheit. Selbstbewußt sagt es sich: Ich bin Ich. Und nichts außerdem. In dieser Fassung weiß es sich aber noch nicht als seiend und deshalb noch nicht als Vernunft. Im Modus der Einzelnheit erfüllt sich das Ich erst in der Gewißheit: Ich bin, weil ich bin und zwar allein durch mich selbst. Ich bin absolut, weil dieses Setzen – nach den erwähnten

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unbewußten Handlungen des Geistes – die Bedeutung des Produzierens hat. Nur sofern ich mich selber produziere, bin ich absolut frei – von keinem wie auch immer Vorgegebenen und mich zur Gegebenheit Bringenden abhängig. Hier wird noch einmal klar: Der fichtesche Gedanke macht überhaupt keinen Sinn, wo sich sein Ich und so auch seine Vernunft nicht von sich unterschieden hat. Bei der heutzutage üblichen Nicht-Unterscheidung im akademischen Betrieb bleibt vom fichteschen Gedanken nur eine ausbündige Phantasie oder ein leerlaufendes Räsonnieren. Die Unterscheidung des Ich von sich selbst ist aber zugleich diejenige der Vernunft vom Selbstbewußtsein. Ich bin Ich – das ist ein Urteil der einen setzenden Vernunft. Was setzt sie da? Nur erst ihre Gewißheit über sich, die aber von der Wahrheit über ihre Endlichkeit getrennt bleibt. Was bedeutet dies? Fichte bemerkt: „Für die Gottheit, d. i. für ein Bewustseyn, in welchem durch das bloße Geseztseyn des Ich alles gesezt wäre (nur ist für uns der Begriff eines solchen Bewustseyns undenkbar) würde unsre Wissenschaftslehre keinen Gehalt haben, weil in einem solchen Bewustseyn gar kein anderes Setzen vorkäme, als das des Ich“ (390,35 [I, 253]). Ein Ich, das sich in sich schließt, weil es sich selber Zweck ist und in diesem Sinne absolut. Ein Ich, das nur für sich Ich, da aber notwendigerweise Ich ist. In Identität von Subjekt und Objekt seiner. Die Vorstellung des ichlichen Bestimmungsgrundes ist in ihrer an und für sich seienden Einzelnheit nur erst die abstrakte. Die zweite Fassung kann nur darüber hinausgehen aus dem Triebe, das Ich in seiner Endlichkeit zu begreifen. In dem besagten Ich muß die Negativität in Gestalt des ausgesetzten Setzens oder des NichtSetzens oder eines Setzens des Nicht-Ich walten. Kurz: die ichliche Handlung des Entgegen-setzens. Darin ist die Tätigkeit des Ich nicht mehr die wesentlich eine des Subjekts, sondern aufgehobene Tätigkeit oder Passivität und die tritt im Modus der Allgemeinheit auf. Dabei ebenso unvermittelt wie der Modus der Einzelnheit. Die Allgemeinheit der Negativität festzuhalten, ist von größter Wichtigkeit für den Fortgang zur hegelschen Position, welche die Negativität in anfänglicher Stellung, aller Position vorgreifend, kennt. „Das Ich sowohl, als das Nicht-Ich sind beides Produkte ursprünglicher Handlungen des Ich“ (GA I/2, 269,19 [I, 107]). Das Dritte zu beidem ist die Vereinigung beider Seiten durch ihre gegenseitige Einschränkung bedingt durch ihre Teilbarkeit. Die anfängliche Handlung erbrachte der Vernunft eine Anschauung ihrer selbst. Aber diese Anschauung war noch völlig unbestimmt. Erst über die Mitte der Handlung des Nicht-Ich kommt dem Ich der Gegenstand als der seine zu Bestimmtheit. Kurz gesagt: erst in seiner Verendlichung gegen sein Anderes. Erst da wird die anfängliche Anschauung begriffen. Wir sehen hier: Im fichteschen Bestimmungs-Terminus geht es um das Hervorgehen des endlichen Begreifens aus der anfänglichen Selbst-Anschauung des Ich. Das endliche Begreifen kann aber nie seine Herkunft aus der Unendlichkeit der anfänglichen Anschauung vergessen. Eben daraus versteht sich nun auch der bestimmende Trieb oder letztlich die Bestimmung des endlichen Menschen aus der Unendlichkeit seines Wesens, also seiner Freiheit. Sie zu reali-

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sieren, ist seine Bestimmung. Sie schwebt ihm ins Unendliche vor als das Ideal. Wohlgemerkt: eine schillersche Rede. Wenn auch Kant sie gebraucht, so doch gerade nicht in diesem die Sehnsucht bewegenden Sinne, sondern nur im Sinne der überkommenen Vorstellung von Gott als der omnitudo realitatis, die aber gerade keinen Bestimmungs-Charakter mehr haben kann. So ist denn mit der Rede vom „Ideal“ allein auf Schiller zurückzuhören. Erst in der gegenseitigen Einschränkung von Ich und Nicht-Ich wird die Freiheit zur selber bestimmenden. Ich bin Ich, bin dies auf noch unbestimmte Weise. Ich bin nicht Ich, will jedoch Ich sein. Ich bin sowohl Ich als auch Nicht-Ich, soll aber Ich sein. Das Bewußtsein dieses Sollens oder dessen, was der kantische kategorische Imperativ gewesen ist, das ist die fichtesche Vernunft, welche sowohl das Selbstbewußtsein als auch das gegenständliche Bewußtsein zu ihren Momenten herabgesetzt hat. Das Ganze aus ihnen ist die philosophische Conception des schillerschen Gedankens. Dieser fichtesche Begriff, der sich im Moment der Besonderung erfüllt hat, ist von der Bestimmungskraft des Ideals. Dieses Ideal ist als solches aber nur erst gewiß und noch nicht wahr. Seine Wahrheit gewinnt es erst im Denk-Terminus der fichteschen ratio. Inwiefern aber im Denk-Terminus und nicht, wie man zu meinen gedrängt ist, im Sach-Terminus? Fichtes ganze Bemühung geht auf eine Veränderung des Denkens, weil des Glaubens. Dies wird insbesondere durch die Reihe von Schriften bestätigt, welche im Anschluß an die Wissenschaftslehre und zugleich durch den Weg ihres Begreifens angezeigt, der Entfaltung einer – wie er das selber nennt – „Religionslehre“ dienen. Nach dem Gesagten muß als erstes Moment des der Bestimmung und also dem Ideal entsprechenden Denkens das der Besonderheit gelten. Ein Denken, welches gegen sich selbst zu denken vermag, also im strengen Sinne zu reflektieren vermag und dabei zunächst von dem Anderen in ihm selbst zu seiner eigenen Freiheitlichkeit bewegt wird – nämlich von der Notwendigkeit, näher von dem Zweifel an seiner eigenen Freiheit. Da ist es unter dem Schein durchgängiger Herrschaft der Naturnotwendigkeit sich selbst entfremdet. Doch solche Entfremdung kann in ihm nicht die Sehnsucht nach dem Ideal tilgen. So tritt denn als zweites Moment des Denkens, nach dem Zweifel an sich selbst, die ebenso unmittelbare Selbstbehauptung im Wissen hervor. Aber auch dieses Wissen erweist sich als ein Schein, in dem sich das Ich seiner eigenen Welt entfremdet – die Beziehung auf den Gegenstand als Widerstand im Bewußtsein selbst verliert. Es verliert alle Realität. Hier ist anzumerken: anders als im heutigen WortGebrauch sind Realität und Wirklichkeit streng zu unterscheiden. Dazu bedarf es nur einer Erinnerung an die kantischen Kategorien. Die Wirklichkeit und die ihr zugehörigen Modalitäts-Kategorien Möglichkeit und Notwendigkeit. Diese Kategorien haben die Eigentümlichkeit, den Begriff eines Dinges um nichts zu mehren, sondern nur anzuzeigen, „wie er überhaupt mit der Erkenntnißkraft verbunden wird.“ (AA III,

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198,10) So ist denn auch die Realität nichts weiter als die Sachheit einer Sache, in der sie ihre gegenständliche Bestimmtheit hat. Nur daraufhin kann Fichte in der ersten Wissenschaftslehre sagen: „Das producirende Ich wurde selbst als leidend gesetzt, so auch das gefühlte in der Reflexion. Das Ich ist demnach für sich selbst [!] in Beziehung auf das Nicht-Ich immer leidend, wird seiner Thätigkeit sich gar nicht bewußt, noch wird auf dieselbe reflektirt. – Daher scheint die Realität des Dinges gefühlt zu werden, da doch nur das Ich gefühlt wird.“ (GA I/2, 429,13 [I, 301]) Hier kommt in aller Entschiedenheit eben jene Vernunft ans Licht, die sich als alle Realität weiß und deren Freiheit, über diejenige des Selbstbewußtseins hinausreichend, die absolute ist. Fichte fährt fort: „(Hier liegt der Grund aller Realität. Lediglich durch die Beziehung des Gefühls auf das Ich […] wird Realität für das Ich möglich, sowohl die des Ich, als die des Nicht-Ich. – Etwas, das lediglich durch die Beziehung eines Gefühls möglich wird, ohne daß das Ich seiner Anschauung desselben sich bewußt wird, noch bewußt werden kann, und das daher gefühlt zu seyn scheint, wird geglaubt. // An Realität überhaupt, sowohl die des Ich, als des Nicht-Ich, findet lediglich ein Glaube statt.)“ (GA I/2, 429,19 [I, 301]) Dies sehr wohl im Unterschied zum Wissen. Und mit dem Eintreten dieses Glaubens wird deutlich, daß das Absolute selbst nicht einerlei mit dem absoluten Ich sein kann. Eben dies beschäftigt Fichte in seiner späteren Religionslehre. Hier hält sich ein Jenseits, wo nicht des Bewußtseins, so doch des Begriffs, das erst Hegel tilgen wird und zwar in einem Bruch mit der ganzen neuzeitlichen Tradition der Bewußtseins- oder Reflexions-Philosophie. Mit diesem Bruch geht die letzte Unterscheidung der Vernunft von sich selbst einher. Im letzten Terminus der fichteschen ratio, also dem Denken, unterschieden wir erstens – anschließend an die Teilbarkeit des Ich in der Bestimmung – das Gefühl der Begrenzung oder des Zwanges und der darauf antwortenden Sehnsucht, die ins Unendliche geht; sodann eine ins Leere gehende Negation der begrenzenden Realität; schließlich aufgehoben in das Denken, welches sich ob des ihm eigentümlichen Zustimmens als Glaube versteht. Mit ihm erreicht das Denken eine Allgemeinheit, welche jetzt endlich die konkrete der besagten Vernunft ist – wohlgemerkt: immer noch einer Gestalt des Bewußtseins und nicht des reinen Begriffs. Blicken wir zurück auf die fichtesche ratio, so hat sie gegenüber der kantischen erst einmal den befremdlichen Schritt getan, auch noch das Material der Anschauung in die Vorstellung und also in die Verfügbarkeit des Ich aufzuheben. Mit diesem Schritt geht Fichte hinter die Trennung der theoretischen und der praktischen Vernunft-Tätigkeit zurück. Behauptet die Einheit der Vernunft ebenso nach der Seite des moralischen Selbstbewußtseins wie nach der Seite des theoretischen GegenstandsBewußtseins. Diese Einheit lag für Schiller diesseits der Vernunft in der produktiven ästhetischen Anschauung des Menschen, der in seine Menschheit eingekehrt ist. Die betreffende Conception dieses Gedankens wurde nur möglich in einer Umkehrung der Term-Sequenz der schillerschen ratio. Während diese mit dem Terminus des Denkens einsetzte, muß die Conception von der Sache ausgehen; denn nur so sind die

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anfänglichen Handlungen des menschlichen Geistes als unbewußte zu würdigen, wie sie dem Genie als dem schlechthin produktiven Weltwesen eigentümlich sind. Die unbewußten Handlungen organisierten sich in der resultierenden Sache nach den drei Grundsätzen der sog. dogmatischen Philosophie. Fichte übersetzt sie derart in den Bestimmungs-Terminus, daß sie in die Freiheit des ebenso selbstbewußten wie gegenstands-bewußten Ichs integriert werden und zwar nach Maßgabe der Vernunft, die sich als alle Realität weiß – also in einer Fassung, welche die ältere Philosophie Gott zusprach. Es wäre aber töricht, daraus zu folgern – was nicht selten geschieht –, die neuere Philosophie habe den Menschen Gott gleich gemacht. Das freiheitliche Wesen des Menschen und nur dieses ist göttlich. Umso entschiedener muß auf der Unterscheidung des Menschen von sich selbst, sodann auf der Unterscheidung der Vernunft vom Selbstbewußtsein bestanden werden. Die Vernunft-Realität – noch einmal sei auf ihre Verschiedenheit von der Wirklichkeit hingewiesen – ist nur deshalb bestimmend, weil sie als das Ideal zu denken ist, dem das Denken in seiner Sehnsucht nach dessen Erfüllung entspricht. Wohlgemerkt: allein im Denken und durch das Denken und zwar in der Weise seiner Bildung. Nicht von ungefähr erinnert die fichtesche Fassung der freien Vernunft-Tätigkeit an das sola gratia Luthers. Getrennt von aller Gerechtigkeit aus den Werken zeichnet sich mit der fichteschen Bildung der Weg der Selbsterlösung ab. Deshalb kommt hier alles darauf an, die der Bestimmung des Menschen würdige Denkart zu erbringen und also die Unterscheidung des Denkens von seiner Natürlichkeit. Ihm ist die Welt nichts anderes mehr als die Sphäre der Pflicht-Erfüllung. Als solche eine geistige Welt. Oder die der Moralität. Fichte selber hat den Ort seines Gedankens mit der dem Begreifen eigentümlichen Durchsichtigkeit situiert und zwar in Rücksicht auf „die Pflichten des ästhetischen Künstlers“. Im § 31 des Systems der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) heißt es: „Auf dem transscendentalen Gesichtspunkte wird die Welt gemacht, auf dem gemeinen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist.“ (GA I/5, 307,34 [IV, 353 f.]) Wenige Jahre zuvor hat Hölderlin bei diesem Fichte studiert. Wieder sieht es so aus, als sei der Dichter in die Philosophie eingetreten, um sie bald wieder zu verlassen. Aber wir haben es allemal nicht mit den Dichtern, sondern mit den sovo¸ unserer Geschichte zu tun, wie sie eine Vorgabe zur Philosophie erbracht haben, ohne selber jemals ihren Ort zu verlassen. Das geht garnicht; denn noch einmal sei betont: Wir verabschieden die abstrakt-allgemeine Vorstellung vom Dichter, die auch Heidegger nicht einmal an Hölderlin zur Unterscheidung bringen konnte. Um sogleich zu erinnern: Hölderlin wird hier einzig und allein im Gefüge der Weisheits-Gestalt zugänglich, die auch Schiller und Rousseau einschließt. Eine Sonderstellung hat Hölderlin innerhalb dieser Figur nur deshalb, weil die Tektonik der epochalen Weisheits-Gestalten der letzten ratio in der Letzten Epoche und nur in ihr eine ausgezeichnete Stellung anweist – wie zuvor der mittleren paulinischen und

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zuerst der anfänglichen, nämlich homerischen. Die hölderlinische ratio setzt wie die fichtesche mit dem Terminus der Sache ein, um aber statt mit dem der Bestimmung mit dem des Denkens fortzufahren.

X. Endlich haben sich die Grenzen unserer Aufgabe klar abgezeichnet. Sie ziehen sich zusammen auf einen letzten Ort des Unterscheidens unserer Gegenwart. Da geht es nur noch – wie Heidegger das in den Schranken der Moderne gesehen hat – um die Unterscheidung dessen, was wir im Terminus des Denkens gefaßt sehen. Die heideggersche Unterscheidung blieb auf die Vorgängigkeit des Seins selbst vor dem Denken fixiert und deshalb auf dessen völlig unverfügbares Geschick – dieses von der Dunkelheit der ursprünglichen, der sich verbergenden v¼sir – und weiter auf die Entzugs-Erfahrung, wie sie die Kern-Besinnung der Moderne überhaupt bewegt hat. Diese Erfahrung aber ist im Bereich der Submoderne verwest. Mit ihr die Gediegenheit der Bestimmung, wie sie aber noch eine Simulation verdiente. Dafür stehen noch einmal die Namen Merleau-Ponty, Foucault und Derrida. In ihrer deutlichen Beziehung auf die Moderne haben diese Positionen noch einen völlig festen Umriß. Nicht so deutlich die Positionen der – wie wir sie vorläufig und ungeschickterweise immer noch nennen – Postmoderne. Genauer trifft da die Rede vom Strukturalismus. Die von ihm thematisierten Strukturen sind samt und sonders in der Sprache angesiedelt, näher in einem versachlichenden Denken. Wenn wir da drei Positionen als die paradigmatischen sehen, so hat doch diese Auswahl keine ausschließende Bedeutung mehr. Neben Jakobson könnte auch Chomsky genannt werden, neben Barthes auch Eco. Einfach deshalb, weil es da nur noch um die Termini der Sache und des Denkens geht – die Seiten einer selben Struktur. In der abschließenden Reduktion auf den Denk-Terminus geht die Bindung an bestimmte denkerische Positionen völlig verloren. Hier herrscht ihr Pluralismus. Man kann zwar diese oder jene hervorheben, dies jedoch nur noch nach Maßgabe der Schul-Wirkung – so etwa Austin oder Searle oder Hare. Innerhalb einer immer nur mehr oder weniger gemeinsamen Manier oder auch Mode. Da kann zeitweilig auch jemand wie Davidson die Aufmerksamkeit auf sich sammeln. Innerhalb der sprachanalytischen Bewegung ist nun folgender Vorgang bemerkenswert. Scheinbar nimmt sie die wittgensteinsche Denkart auf. Und zwar deren späte Fassung. Also die Art der Analyse, wie sie in den Philosophischen Untersuchungen geübt wird. Was dabei jedoch völlig abgeblendet wird, ist die ungebrochene Beziehung der wittgensteinschen Überlegungen auf die Grenze des Unsagbaren, das ihnen die Bedeutung einer Hermeneutik erhält. Die Anknüpfung an Wittgenstein bleibt oberflächlich. Wichtiger ist diejenige an G. E. Moore. Doch auch diese läßt ebensowenig wie die Art Gilbert Ryles das Eigentümliche des wesentlich pluralistischen Denkens in der sog. Sprach-Analyse erkennen. Sie bleibt nämlich auf die

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Tilgung des metaphysischen Denkens fixiert. Wie töricht die Kritik der cartesischen Tradition auch ausgefallen sein mag. Das Funktionieren der Sprache wird erst dort gelöst von der Tradition betrachtet, wo die ordinary language ein Mittel zur Verabschiedung jeder geschichtlichen Rücksicht wird. Nicht einmal mehr Mittel, weil die entsprechenden Zwecke fehlen. Das Denken läßt sich sozusagen gehen – herausgefallen aus seiner geschichtlichen Disziplinierung, ganz zu schweigen von einer conceptualen. Aber was war denn der Sprache in ihrem alltäglichen Gebrauch diesseits der strukturalen Betrachtung anzusehen? Eigentlich nur noch die sog. Sprech-Akte – die erwähnten lokutionären oder phonetischen, die durch eine gewohnte Grammatik geregelten Formulierungen oder phatischen Akte, schließlich die illokutinären Akte: man tut etwas, indem man etwas sagt, indem man etwa seinen Hörer erfreut oder irritiert. Genau hier springt die gesellschaftliche Bewandtnis der Rede heraus, wie sie Merleau-Ponty im Horizont der Intercorporeität gedeutet hatte. Diese Deutung bleibt aber bei einer Contraction auf den Denk-Terminus ausgeschlossen. Und so weicht man denn neuerdings in eine philosophy of mind aus. Wie immer die entsprechende mens sich selber vorstellen mag – eines kann sie wie die sprachanalytische Denkart nicht von sich abtun, nämlich die fundamentale Entscheidung des gegenwärtigen Denkens überhaupt: sich selbst ein anderes zu sein. Sogleich springt aber heraus: Dies kann keine Entscheidung sein, erst recht nichts Entschiedenes, weil dazu das nötige Unterscheiden fehlt. Nicht von ungefähr geht die heutige Selbstentäußerung des Denkens so weit, daß es sich in der sog. Künstlichen Intelligenz eine angemessene Selbstdarstellung schafft. Eben darin offenbart sich, was es mit der postmodernen, deutlicher gesagt: mit der nicht mehr technischen Vernunft, sondern aus lgwam¶ bestehenden Denkart auf sich hat. Die sog. ordinary language philosophy war nur die Eingangs-Gestalt zu einer Denkart, welche sich in der Sprechakttheorie konstituierte, um in der Verkünstlichung der natürlichen Sprech-Akte zu Denk-Akten die angemessene Selbstdarstellung zu finden. Vor so viel Intelligenz, die allgemeine Verständlichkeit und so die Homogenisierung der pluralistischen Gesellschaft verspricht, reißt die bereits aufdringliche Gedankenlosigkeit den Mund auf – geradezu süchtig nach dieser dürftigsten pensée du dehors (vgl. Foucault), des Gedankens, der draußen ist. Hier zeichnet sich ab: Auch das auf sich selbst geschrumpfte Denken der Gegenwart treibt noch in seine Vervollständigung. Noch einmal: Das sich selbst entäußernde Denken in der dritten Sprach-Dimension der Gegenwart macht sich zuerst an der ordinary language geltend, sodann eindringend in deren Sprech-Akte Handlungsweisen, schließlich – die letzte Spur von Scham tilgend – vordringend zu den Handlungsweisen des sog. Geistes – daher der psychologische Mischmasch – und seiner maschinellen Selbstdarstellung als artificial intelligence. Da sind wir. Da haben wir den genauen Ort erreicht, an dem das Denken in die Unterscheidung von sich eintritt. Sie ist aber aus dieser Denkart schlechthin unmöglich. Deshalb wäre es auch irreführend, das logotektonische Denken als das Andere zu diesem vorzu-

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stellen. Halten wir fest: Heideggers Sein mußte in die Schranken der Moderne verabschiedet werden. In unserer Gegenwart trat schließlich ein Denken hervor, das sich selber als das andere, als entäußertes verstehen muß – ohne mögliche Rücksicht auf ein Erstes zu diesem anderen Denken. Wenn Heidegger sein eigenes Denken als das Andere zum bisherigen, zum metaphysischen Denken verstand, überdies bezogen auf die andere Welt zur bisherigen, so ist da keine sog. Fortbestimmung in unserer Gegenwart möglich. Auch da gilt: No future! Sie ist als die andere vollständig verloschen, wo das Denken sich – wie gezeigt – auf sich selbst contrahiert hat. Vollständig, wo es sich selber als das andere ansichtig wird. Eben in der Künstlichen Intelligenz. Wer hat noch die Scham, welche da jegliche Mitarbeit ausschließt? Die gegenwärtige Unterscheidung des Denkens darf dieses andere Denken nicht einmal als sein – noch einmal: sein – Anderes verstehen wollen. Ist es doch – wie gesagt – bereits das andere seiner selbst; derart entäußert, daß da keine Umkehr und Einkehr möglich ist. Nachdem es im Zuge der Erschließung des Sprach-Ganzen erst einmal seinen Ort gefunden hat, muß es sich selbst überlassen werden. Dann geht der Blick nur noch ins Freie. Nach dem vollendeten Durchgang durch alle Positionen unserer Geschichte, unserer Welt und unserer Sprache. Der Durchgang durch dieses Alles wäre nicht nur unmöglich gewesen, sondern niemals angewegt worden, wenn nicht ,von außen‘. Einem Außen, dessen Ort in der sov¸a liegt – unzugänglich aus der Sprach-Sphäre der Gegenwart. Zugänglich nur entlang einer Spur, die in der Besinnung der Moderne aufzunehmen ist, um gegenwärtig über die Mitte des Denkens der Philosophie auf die Gestalten der sov¸a zurückzuführen. Deren erste logotektonische Erörterung hat inzwischen Hölderlin erreicht und so die abschließende ratio in der Weisheits-Figur der Letzten Epoche. Sie setzt ein bei dem, was in der schillerschen ratio der letzte Terminus war, nämlich derjenige der Sache. Sie konkretisierte sich zur Bestimmtheit der freien Tat. Sie fand ihre letzte, nämlich sprachliche Fassung in der Kultur des Gesprächs, wie sie in den erlesenen Zirkeln der literarisch Gebildeten gedeiht. Dies kann nun ganz und garnicht die Sache Hölderlins sein. Der Unterschied der Sache springt einmal an ihrer Stellung innerhalb der betreffenden ratio heraus, sodann an der Verschiedenheit des eröffnenden Moments. Nach der ersten Seite geht der Sache also weder die Bestimmung noch gar das Denken vorauf; sie kann auf beides hin nicht als Resultat verstanden werden, tritt vielmehr in der Unbestimmtheit des Unmittelbaren auf. Andererseits ist dieses Unmittelbare auch nicht mehr von resultierender Sprachlichkeit, nämlich innerhalb der schillerschen Geselligkeit. So muß denn auch die Wechsel-Bestimmung in veränderter Bedeutung auftreten. Wie kann sie in der Sache unmittelbar auftreten? Allgemein ist daran zu erinnern, daß es hier wie auch sonst in der letzten Weisheits-Figur um den auf seine Menschheit hin sich unterscheidenden Menschen handelt. Bei Schiller war das der Mensch, der die Schönheit an ihm selbst, weil in seinen Handlungen zur Erscheinung bringt, zuletzt in seiner sprachlichen, freien oder

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spielerischen Geselligkeit. Die Darstellung solcher Freiheit hat Hölderlin unmittelbar gesucht – zunächst in der Aufnahme eines rousseauischen Gesprächs, nämlich des Briefwechsels mit dem Freund und der Freundin. Der Hyperion gestaltet diese Wechsel-Bestimmung oder Gemeinschaft – wie sie eine in ihrer Reinheit notwendig untergehende ist. In einen Tod, welcher als Rückkehr in die Allheit der Natur ersehnt wird. In Übersetzung der fichteschen Sehnsucht. Hier jedoch gebrochen in den Untergang des Ideals, das seine Ichlichkeit nicht festhalten kann und also den Übergang in das Absolute selbst vollbringt. Für die anfängliche Gesprächigkeit bedeutet dies ein Verstummen. Ein höchst merkwürdiger Anfang, der die schillersche Sache sogleich in die Krise treibt. Die Sprachlichkeit der Sache, als die hier wie zuvor der seine Menschheit darstellende Mensch erscheint, wird von Grund auf verwandelt, weil dieser Mensch letztlich nicht mehr der ichliche ist, sondern in absoluter Bedeutung auftritt. Mensch sein kann erst jener, der Mensch wird, dabei aber nicht sich selber zum Menschen macht, sondern in diese seine Bestimmung erst noch eintritt, um sie inmitten derer, die nur erst so aussehen wie Menschen und nicht die Bewegung der Bildung ihrer selbst erfahren, zu erfüllen. Sehen wir genauer hin: Das Werk Hölderlins wird von der Gestaltung des SachTerminus eröffnet. Was mit dem Hyperion unmittelbar erscheint, ist der zur Darstellung der Schönheit gebrauchte Mensch. Er spricht seine Schönheit von Natur und so auch seine Göttlichkeit nur erst aus und zwar innerhalb der Wechselbeziehung, welche die Freundschaft ist – in der Folge, welche in Adamas den älteren und führenden Freund darstellt, in Alabanda den gleichaltrigen und gleichgesinnten, in der Freundin Diotima die überlegene Offenbarerin der Schönheit. Alle diese Stufen der Produktion oder Bildung des sich nur erst zur Sprache bringenden Menschen eingebracht in einen Briefwechsel mit Bellarmin und also aufgehoben in das Gedächtnis und die ihm eigene produktive, will sagen: dichterische Einbildung. Aus den Händen der Natur hervorgegangen – wie schon Rousseau in Verwandlung des Schöpfergottes sagte – ist der Mensch zu Kunst, zu Religion, zu Philosophie geboren (StA III, 144,11). Also genau zu dem, was Hegel als die Gestalten des absoluten Geistes begreifen wird. Diese drei Gestalten, welche den Menschen nicht mehr nur auf das absolute Ich, sondern auf das Absolute selbst hin ansehen, werden aber von Hölderlin insgesamt einbegriffen in das Ganze der Wissenschaft, welche die Philosophie ist. Doch wohlgemerkt nicht der reinen Vernunft, sondern des reinen Menschen, wie er sein Wesen in der entsprechenden Produktivität hat. Der Name dieser ursprünglichen Tätigkeit des Geistes ist „Dichtung“. Genau in ihrem Sinne ist der Mensch, was er im Ideal ist oder was er zu sein hat – nämlich der von sich unterschiedene. Er ist nicht bloß auch und gelegentlich, sondern wesentlich Dichter – allerdings abgeschieden von der rohen Natur des Menschen der Höhle und des Umtriebs. Statt seiner der Mensch des sprachlichen Wohnens und der Hütte, wie das schon Schiller sah.

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Dies zum unterschiedenen Menschen von sprachlicher Bestimmtheit. Ihr folgt auch im Hyperion die geschichtliche. Der dichterische Geist dieses Namens nimmt sich der Befreiung seines Volkes an; er entschließt sich zum Handeln und tritt so in die Kategorie der Wirkung ein. Seine geschichtliche Wirksamkeit scheitert aber notwendigerweise daran, daß die Mitwirkenden gerade nicht die Bildung ihrer selbst und so auch nicht die Unterscheidung von sich vollzogen haben, sondern weiter Menschen von tierischer Gier sind. Also die Freiheit verraten mußten, der zuliebe sie vorgeblich in den Befreiungskampf zogen. Es ist erstaunlich zu sehen, wie Hölderlin sogleich die Architektonik des Begreifens ins Werk setzt. Zuletzt muß er der Sache ihre weltliche Fassung geben. Da wird für den dichterischen Menschen die reine Natur zu seiner Welt – zur seinen nicht aus einem Machen her, sondern aus der „Innigkeit“ mit ihr oder besser: in ihr. Hyperion geht in die Einfachheit einer Natur ein, welche die Geschiedenheit von Leben und Tod hinter sich läßt. Sogar noch die Geschiedenheit der Stufen im Reich des Lebendigen – bis hinab zur Pflanze. Alles in Eines zurückzunehmen, das ist hier die Aufgabe. Kurzum: in Allem die Einheit der Substanz geltend zu machen. ým ja· p÷m – nach diesem Hölderlin und Schelling und Hegel gemeinsamem Wahl-Spruch die Welt zu sehen. So weit reicht die Bildung des natürlichen Menschen, dessen Natürlichkeit gerade seine Geistigkeit ist; zeigte doch schon der Beginn der Bildung den Menschen, wie er der schöne ist und also der bereits vom vulgus unterschiedene. Dies läßt daran denken, daß es in Wahrheit kein Continuum vom Menschen der Höhle zum Menschen der Hütte gibt. Dies wird an der Rekrudeszenz der heutigen Gesellschaft geradezu schlagend deutlich. Wohlgemerkt fällt dieser Vorgang nicht in die Moderne. Auch der Mensch ihrer Entzugs-Erfahrung hat noch seine Würde. Auf den Terminus der Sache folgt derjenige des Denkens und eben diese TermFolge ist für das Verständnis des hölderlinischen Produzierens oder Dichtens von elementarer Bedeutung. Seine Bewegung ist vom Resultat einer durchgängigen Vermittlung vorbestimmt. Mit welcher Sicherheit Hölderlin einer der ratio gemäßen Logik folgt, springt daran heraus, daß er den Denk-Terminus an der Entwicklung eines Denkers, nämlich des Empedokles verdeutlicht. Eben daraufhin verändert sich auch die Gestaltungsart der Dichtung. Sie ist nicht mehr – ähnlich der Julie Rousseaus – eine Brief-Erzählung, sondern entsprechend der schillerschen Gestaltungsart ein Drama. Man sieht allerdings schnell: ein Drama besonderer Art, weil die Tat als solche von verschwindender Bedeutung ist; kommt doch nichts anderes als eine Krise des Denkens zur Darstellung. Und sie wird ebenso als eine individuelle wie als eine gemeinschaftliche und schließlich als reine Unterscheidung von sich erfahren. Das erste dieser Momente will in weltlicher Fassung verstanden sein. Und zwar geht es da um die Welt eines Einzelnen, der von substanzieller Einzigkeit ist, will sagen: derart ausstrahlt, daß seine Umgebung auf ihn hin eine akzidentelle Bedeu-

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tung oder den Status des Inhärierens annimmt. Dabei wohlgemerkt seinem Denken inhäriert. Eine solche Anhänglichkeit provoziert stets eine reaktionäre Stellungnahme des im Herkommen verhafteten Denkens. Das bloße Geltend-machen von Auffassungen muß gegenüber dem Wissenden um seine Herrschaft bangen. Wir sehen dies an der Stellung von Hölderlins Lehrer, also Fichtes, der wegen eines Atheismus-Verdachts des Landes verwiesen wird. Hölderlin übersetzt ihn in die poetische Individualität des Empedokles. Doch auf den Übersetzungs-Charakter des Dramas brauchen wir hier nicht einzugehen. An Empedokles wird zunächst die „poetische Individualität“ als substanzielle deutlich gemacht. Da heißt es: „Er selbst zu seyn, das ist / Das Leben und wir andern sind der Traum davon.“ (StA IV, 6,101 E1) Er hat von sich das ungeheuerliche Bewußtsein seiner Göttlichkeit. Dem substanziellen Moment folgt dasjenige der Wechselbeziehung. Empedokles liebte die Götter und sie haben ihn geliebt. Er liebte aber auch die Sterblichen und sogar zu sehr (93,61 E2), bot sich ihnen zum Mittler an – so in deutlicher Anspielung auf die Stellung Christi. Dessen epochale Bedeutung wird in die Empedokles-Gestalt aufgehoben. Der Vermittler erinnert an die im Sinne der Menschheit des Menschen leere Unendlichkeit der „Verwöhnten Söhne des Himmels, / Die anders nicht, denn ihre Seele, fühlen“ (96,137). Gleichsam Darsteller des absoluten Ich, das sich mangels Liebe zum Anderen seiner selbst nicht verendlicht. Eben daran wird deutlich: Die geforderte Wechselbeziehung kann sich überhaupt nur durch den erfüllen, in dem das Unendliche mit dem Endlichen im Verhältnis steht. Es genügt nicht, daß die Himmlischen ihre eigene Seele fühlen. Was sie sind, können sie nur im Verhältnis mit den Sterblichen sein. Und genau dafür steht das Denken des Empedokles. Um hier zu erinnern, was sich eigentlich von selbst versteht: Empedokles ist der Deckname eines Weisen der Letzten Epoche. Ein Verwandter von Schiller und Rousseau. Das Denken ist daran gehalten, ein in dem besagten Sinne vermittelndes zu sein. Das vermag es aber nur aus der zuvor empfundenen Innigkeit mit der einzigen Substanzialität der Natur. Das Denken muß aber aus ihr heraustreten in den Gedanken einer Wechselbeziehung, die ihm seine eigentümliche Aufgabe anweist, Unendlichkeit und Endlichkeit zu vermitteln. Die Unterscheidung des Menschen von sich selbst ist nämlich nur aus diesem Verhältnis möglich. „Ich habe mich erkannt; ich will es! Luft will ich / Mir schaffen, ha! und tagen solls“ (15,317 E1). Das wesentlich vermittelnde Denken kann sich nicht in der Innerlichkeit des Gefühls halten. Es muß aufklären und deshalb eine sprachliche Fassung annehmen. Empedokles wird zum Lehrer – nicht mehr nur seines Zirkels, sondern des Volkes. Eben daraufhin muß sein Gedanke eine politische Bedeutung annehmen. Er muß die Sprache der Kritik an der überkommenen Religion führen. Mit der also gewendeten Aufgabe des Denkens wird das Verhältnis zur Natur – dies hat Hölderlin Fichte angesehen – ein tyrannisches. Und dies gerade mit dem Aussprechen des Geheimnisses der Natur. „Ich sollt es nicht aussprechen, heilge

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Natur! / Jungfräuliche, die dem rohen Sinn entflieht! / Verachtet hab’ ich dich und mich allein / Zum Herrn gesetzt“ (20,470). Dies war der Wille des fichteschen Bewußtseins. „Ich kannt’ es ja, ich hatt’ es ausgelernt, / Das Leben der Natur, wie sollt’ es mir / Noch heilig sein, wie einst! Die Götter waren / Mir dienstbar nun geworden, ich allein / War Gott, und sprachs in frechem Stolz heraus.“ (21,479) Genau in diesem Aussprechen für alle geht das Denken in seine Krise über und lernt das Absolute selbst vom absoluten Ich und so auch vom Bewußtsein überhaupt unterscheiden. Wie es zur Sprache bringen? Zunächst gilt: „Das Unbekannte nennet mein Wort“ (95,127 E2). Dies war aber noch im Zustand der Innigkeit gesagt. Anders in der Krise des Denkens und seiner Wechselbeziehung. Da heißt es von Empedokles: „er trauert nur, / Und siehet seinen Fall, er sucht / Rückkehrend das verlorne Leben, / Den Gott, den er aus sich / Hinweggeschwätzt“ (98,217). Ein furchtbar wahres Wort von den sog. Intellektuellen ohne Rückkehr. Genauer: von denen, die nicht schweigen können, weil sie nicht einmal mehr etwas zu beschweigen haben. Schon garnicht im Reden selbst schweigen können. Das Denken des Empedokles ist erstlich in weltlicher, sodann in sprachlicher, schließlich aber in geschichtlicher Fassung zu verstehen, nämlich als ein solches, das einen Unterschied im Ganzen macht. Diesen Unterschied macht es vordenkend auf das, was nicht ist. Um hier an das entsprechende Wort Rousseaus zu erinnern, an das produktive Nichts der Einbildungskraft. In den Abschiedsreden des Empedokles heißt es: „aus dem reinigenden Tode, den / Sie selber sich zu rechter Zeit gewählt, / Erstehn, wie aus dem Styx Achill, die Völker. / O gebt euch der Natur, eh sie euch nimmt!“ (65,1530 E1) – nämlich aus der Freiheit der Selbst-Bestimmung, die auch das eigene Leben als ein gesetztes, deshalb aufhebbares will. Es ist aber wesentlich das gemeinschaftliche, das politische. Wie wird es zum geschichtlichen? Wenn das Leben sich „an der Gegenwart des Reinen entfaltet, / Dann glänzt ein neuer Tag herauf “ (68,1603). Nach hoffnungsloser Zeit. Und wie geschieht die Wende? Indem aus der sprachlichen Fassung des Denkens die geschichtliche aufgeht. Doch demzuvor wird erinnert: „Die göttlichgegenwärtige Natur / Bedarf der Rede nicht“ (69,1629). Die Sprache braucht das Andenken. Und zwar an dem Tage, welcher der geschichtliche ist. Ist er gekommen, „Dann denkt vergangner Zeit, dann leb erwärmt / Am Genius der Väter Sage wieder! / Zum Feste komme, wie vom Frühlingslicht / Emporgesungen, die vergessene / Heroenwelt vom Schattenreich herauf, / Und mit der goldnen Trauerwolke lagre / Erinnerung sich, ihr Freudigen! um euch.“ (69,1636) Der Terminus des Denkens hat sich uns erstlich im Sinne des Fühlens und seiner Innigkeit ausgelegt, sodann als vermittelndes und kritisches, schließlich als künftiges Andenken. Darin liegt bereits, daß dieses Denken sich unter einer Bestimmung weiß, die ihm als Geschick zukommt. Darin gewinnt es eine eigene Weise des Sagens, deren Form nicht mehr das brieflich geführte Gespräch ist, auch nicht das Drama von der Einzigartigkeit eines denkerischen Handelns, sondern was Hölderlin die „vaterländischen Gesänge“ nennt.

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Um hier zunächst einen Vorblick auf den Bau des abschließenden BestimmungsTerminus der hölderlinischen ratio zu geben. Er wird eröffnet von seiner geschichtlichen Fassung. Da steht zur Frage: In welcher Weise offenbart sich die Bestimmung an ihrer Kausalität? In Anbetracht ihrer Geschichtlichkeit muß der fundamentale Unterschied hervortreten, den die Negativität in der Bestimmung selbst macht. Dies kann aber nur heißen, was sich schon bei Schiller andeutete: die Götter-Nacht, der Entzug der Himmlischen selbst. Eben darin entfällt die Möglichkeit der fichteschen Religion. Erst recht aber der überlieferten. Um hier an ein Wort aus dem Empedokles über die „schlimme Zunft“ der Priester (23,522) zu erinnern, die „Heiliges wie ein Gewerbe“ treiben (23,535) und überdies für tote Götter (23,536). Die Flucht der Götter – so heißt es im selben Zusammenhang – zieht den Tod der Liebe nach sich, eben jener, die mit Unterscheidung verstanden sein will. Doch fällt dies noch in die Entfaltung des Denk-Terminus, wo zuerst der Weise als „Götterfeind“ gilt (26,605). Dies aber deshalb, weil er der Freund der Freiheit in absoluter Bedeutung ist. Noch einmal: Die Flucht der Götter will als geschichtliches Ereignis verstanden sein. Die Kausalität wird da als diejenige eines Entzugs gefaßt. Wie befremdlich, springt daran heraus, daß sie gerade in die Geschichts-Phase der Aufklärung fällt. Hölderlin aber deutet an, daß sie eher eine Phase der Verdunkelung ist, wenn nicht auf die Eigenmächtigkeit des Denkens, sondern auf das Geschick der Bestimmung gesehen wird. Lassen wir diese dunkle Rede erst einmal stehen, um in unserer Vorzeichnung des hölderlinischen Bestimmungs-Terminus fortzufahren. Das zweite Moment ist die weltliche Fassung der Bestimmung. Mit ihr zugleich deren Substanzialität. Will sagen: was an sich ist und nicht bloß für uns, bleibt von eigener Wahrheit und ist uns schlechthin unverfügbar. Ist von der Gewalt eines Geschicks, das eine Welt ergreift. Und was wäre nun darin angezeigt? Eine sich aus sich selbst bestimmende Notwendigkeit, deren Aufbruch ihr selbst überlassen werden muß, wiewohl er sich notwendig ereignet. Das Geschick reift heran, bestimmt die eigene Zeit seiner Offenbarung. Eben daraus bringt das Geschick die ihm eigene Sprachlichkeit zum Tragen. Allein mit ihr ist die Zukunft keineswegs dunkel, vielmehr von der Helle und Durchsichtigkeit des Begreiflichen. Ganz anders als das die scheinbare Nähe zum heideggerschen Gedanken vermuten läßt. Von einem möglichen Ausbleiben der künftigen Wahrheit zur gegenwärtigen Gewißheit kann keine Rede sein. Eben darin deutet sich der radikale Unterschied beider Positionen an. Es gibt – um auf das Entscheidende hinzuweisen – in der hölderlinischen Bestimmung keine v¼sir , die dazu neigt, sich zu verbergen. Sie ist von der Durchsichtigkeit alles Geistigen. Hölderlin sieht es vor sich, genauer: sieht er es kommen – nämlich das Heilige, welches sein Wort ist. Um jetzt, nach dem gegebenen Vorblick, die Dichtart oder die „Sangesweise“ des späten Hölderlin unter der Maßgabe seiner Bestimmung aufzunehmen. Sie ist – wie

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er das selber sieht – eine pindarische. In ihr ist „die Darstellung des Epos und die Leidenschaft des Trauerspiels vereinigt“ (203,4). Diese Vereinigung gilt aber deshalb für die Vaterländischen Gesänge, weil sie aus ihrer Bestimmung her ebenso über die rousseauische wie über die schillersche Form des Sagens hinausgehen müssen. Weil die Form keine Äußerlichkeit sein kann, muß gesagt werden: Pindar hat hier eine geschichtlich radikal verwandelte Bedeutung; der Hymnos kann in der Ersten und in der Letzten Epoche unserer Geschichte nicht dieselbe Bewandtnis haben. Und Hölderlin hat dies selber gewußt. Mehr noch: gewollt. Mit Bedacht unterscheidet er an der zitierten Stelle ganz ungriechisch, indem er auf der ersten Seite die epische Darstellung, die Repräsentation sieht, auf der anderen Seite die Leidenschaft des Trauerspiels. Griechisch und zwar mit Aristoteles gesehen sind beide Seiten schon deshalb nicht erst noch zu vereinigen, weil sie bereits im Homer einig sind. Wohl aber kann Hölderlin den triadischen Bau der pindarischen Hymne übernehmen, in der er „kalkulable Gesetzmäßigkeiten“ (s. StA V, 265,2) wahrnimmt. Deshalb von einem „göttlichgebauten Geschäfft“ (51,12) sprechen kann. Es ist aber das eigentümliche Geschäft seines Nachbarn Hegel, kurz: das systematische. – Was die historische Aufarbeitung der hölderlinischen Architektur anlangt, so sei auf die Einleitung zu der vorzüglichen Edition der späten Hymnen unter dem Titel Bevestigter Gesang verwiesen, betreut von Dietrich Uffhausen (Stuttgart 1989). – Warum überhaupt ,Gesang‘? Er will hier sehr wohl vom Gedicht und so auch von der schillerschen Rede unterschieden werden und so auch vom dramatischen Gedicht, wie es Hölderlin selber erbracht hat – ganz zu schweigen von den Gedichten in traditioneller Manier. Der Gesang ist hier eine ganz neue Weise des Sagens, das dem der vormaligen Musen entspricht. Gewiß ist hier zunächst an das Sagen der sov¸a überhaupt als ein solches zu denken, in dem der Dichter sich von sich unterschieden hat und also im Namen eines Anderen spricht. Doch weder Rousseau noch Schiller bringen dieses Sagen in seiner Form zur Gleichheit mit sich. Genau darauf muß es Hölderlin ankommen, nachdem er die Bestimmung selbst in resultierender Stellung für seine ratio darstellen muß. Ihm kommt es letztlich und deshalb maßgeblich auf das Sagen der Bestimmung selber an. In dem Unterschied, den sie macht, beansprucht sie die Würde des Gesangs – nicht etwa der Vertonung. Was Gesang ist, entscheidet sich hier am Gleichkommen des Sagens mit seinem Ursprung. Es kommt ihm aber allein als ein Bauen gleich, nämlich in der kunstvollen Weise seiner Befestigung. Sie erreicht das Äußerste an sog. Objektivität, indem sie gegen die zufällige Individualität auch noch in der Form vollkommen frei geworden ist. Eben daraufhin heißt es in den Anmerkungen zu Sophokles: „Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns“ – dieses ,Auch‘ bezieht sich auf die Griechische Welt – „zur lgwamg der Alten erhebt“ (StAV, 195,2), also entgegen der Einschätzung des Genies unter den Neueren „das Handwerksmäßige“ der Dichtung betont wird (195,11). Auf den ersten Blick ein seltsames Verlangen, das aber begreiflich wird, wenn der Wahrheit des Gedichts wegen auf die notwendige Gleichheit seiner Form mit seinem Inhalt geachtet wird. So ist denn „bei jedem Dinge, vor allem darauf zu sehen, daß es

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Etwas ist, d. h. daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist“ und also „gelehret werden kann“ (195,13). Warum denn gelehrt werden? So will es das, was Hölderlin ein „dichterisches Wohnen“ nennt. Deshalb sorgte die Griechische Polis dafür, daß jeder Bürger erstlich in der lousij¶ unterrichtet wurde – nicht so sehr, um selber mit entsprechenden Werken hervorzutreten, sondern um die Werke der in der Kunst Tätigen beurteilen zu können. Der aristotelisch verstandene Gesetzgeber hat es vor allem mit der Erziehung der jungen Politen zu tun und dies in einem Lernen-lassen, welches ihrer Freiheitlichkeit angemessen ist, nämlich dem der Musen-Künste (s. Pol. 1337a11 ff.). Lehrbar ist der Gesang aber nur, sofern er eine eigene Gesetzlichkeit bekundet – die eines „Kalküls“ (StAV, 196,1 usw.), wie Hölderlin das in völliger Unbefangenheit nennen kann. Dem Gesang muß die Entwicklung „nach poëtischer Logik“ (265,6) eigen sein. Während Hegel zeigen wird, daß und wie der Begriff selber im Kunstwerk erscheint, zeigt Hölderlin, daß und wie nicht nur der Wechsel der Vorstellung, sondern sie selber erscheint. Anders als das Gedicht beansprucht der Gesang eine Öffentlichkeit und sie ist für Hölderlin die des vaterländischen Festes. So heißt es in einem späten Bruchstück: „Mein ist / Die Rede vom Vaterland. Das neide / Mir keiner.“ (StA II, 337; 71,15) Das Vaterland ist ein Ganzes des Miteinander-Wohnens. Von einer Gediegenheit, wie sie schon das rousseauische Gemeinwesen erkennen ließ. Nur in einem solchen Ganzen ist ein Wohnen möglich. Und eben dieser Gedanke leitet auch unseren Versuch, es gegen den Widerstand der pluralistischen Gesinnung für unsere Gegenwart zu gewinnen. Hölderlins Gesang will ganz und gar als ein gebauter gewürdigt werden – als die Architektonik des Wohnens, wie es seiner Bestimmung unterstellt ist. Dort gilt: „Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben“ (StA IV, 235,4). Das durch und durch organisierte Gefühl – nicht weniger befremdlich als der durch und durch organisierte Begriff. Was könnte in unserer Gegenwart unverständlicher sein als die entsprechende po¸gsir oder dichterische Produktion? Und vergessen wir nicht: sie ist ebenso die denkerische, weil diejenige der sov¸a. Und sie muß stets eine gebaute sein. In einem Brief an Schütz erwähnt Hölderlin „eine heilige Schiklichkeit, womit sie [sc. die Griechen] in göttlichen Dingen verfahren mußten. Das Geistigste mußte ihnen zugleich das höchste Karakteristische seyn. So auch die Darstellung desselben. Daher die Strenge und Schärfe der Form in ihren Dichtungen, daher die edle Gewaltsamkeit, womit sie diese Strenge beobachteten bei untergeordneteren Dichtungsarten, daher die Zartheit, womit sie das Hauptkarakteristische vermieden bei höhern Dichtungsarten, eben weil das Höchstkarakteristische nichts Fremdes, Außerwesentliches, darum keine Spur von Zwang in sich enthält. So stellten sie das Göttliche menschlich dar, doch immer mit Vermeidung des eigentlichen Men-

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schenmaaßes, natürlicher weise, weil die Dichtkunst, die in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Enthusiasmus, wie in ihrer Bescheidenheit und Nüchternheit ein heiterer Gottesdienst ist, niemals die Menschen zu Göttern oder die Götter zu Menschen machen, niemals unlautere Idololatrie begehen, sondern nur die Götter und die Menschen gegenseitig näher bringen durfte. Das Trauerspiel zeigt dieses per contrarium. Der Gott und Mensch scheint Eins, darauf ein Schiksaal, das alle Demuth und allen Stolz des Menschen erregt und am Ende Verehrung der Himmlischen einerseits und andererseits ein gereinigtes Gemüth als Menscheneigentum zurükläßt.“ (StA VI, 381,22; Brief Nr. 230) Achten wir darauf: Hölderlin spricht hier von den Griechen, nicht vom abendländischen Menschentum seiner Gegenwart. Da ist die heilige Schicklichkeit nur erst wieder zu gewinnen und dies vor allem was jenes Heilige anlangt, welches das Hölderlin eigentümliche Wort sein will. Es gibt seiner Dichtung ihr epochales Gepräge. Eben daraufhin wird „die Sangart überhaupt […] einen andern Karakter nehmen“ und zwar unter der Maßgabe, „vaterländisch“ zu singen (433,49; Brief Nr. 240). Solcher Gesang kann aber erst in der abschließenden Fassung des hölderlinischen Bestimmungs-Terminus, nämlich der sprachlichen, thematisch werden. Ihr ging die geschichtliche und die weltliche vorauf. Allgemein galt da, was Hölderlin in der Abhandlung zur poetischen Verfahrensweise bemerkt: das Gedicht muß einen Grund haben (StA IV, 244). Von ihm ist auszugehen und auf ihn ist zurückzukommen – ähnlich dem encyclopädischen Wesen des hegelschen Systems. Was ist aber dieser Grund? Vorab muß er seinerseits ohne Grund sein und in der entsprechenden Geschlossenheit Grund seiner selbst. Das in singulärer Bedeutung gedachte Gedicht muß ein einziges sein. Und so sind denn auch die Vaterländischen Gesänge ein einziges Gedicht, das wenn auch unvollendet doch den Willen zur vollendeten Architektur erkennen läßt. Der eine Grund des Gedichts in der festen Folge seiner Gesänge ist das, was Hölderlin in Überwindung des fichteschen Ich als „Identität der Identität und Nicht-Identität“ als das „unendliche Verhältnis“ denkt. Dieser Gedanke kann nicht vom Ich, zumal vom absoluten Ich ausgehen, sondern allein vom Absoluten selbst. Darin liegt: Die eigentümliche Tätigkeit des Absoluten selbst ist kein Setzen, sondern in Anerkennung der Seite der Nicht-Identität ein Schicken. Das Rätsel dieses Schickens ist in Wahrheit keines. Denn es ist in Wahrheit nur das für die Unfreien stets Rätselhafte, nämlich die Freiheit in absoluter Bedeutung. Sie äußert sich in einem schlechthinnigen Anfangen ohne jeden äußeren Grund. Die absolute Freiheit ist aber die Freiheit des Absoluten selbst, wie sie sich als die des Schickens offenbaren muß. Es ist kein Rätsel, sondern das Geheimnis in der Bestimmung, wie sie die Letzte Epoche kennt. Kein Wunder: den gelehrten Schwätzern muß auf immer ein Rätsel bleiben, wenn Hegel von der absoluten Idee sagt: sie entschließe sich, als physische und geistige Natur begriffen zu werden, entschließe sich zu eben dieser Äußerung, die denn auch keinen Übergang von der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie denken läßt.

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Dementsprechend gibt es demzuvor keinen Übergang von der Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins oder der Phänomenologie des Geistes zur Wissenschaft der Logik. Auch da gilt: Nur Eines ist nötig: sich die Freiheit zu nehmen oder der Entschluß, noch einmal: der Entschluß, sich auf den Boden des reinen Denkens zu stellen. Die Freiheit in absoluter Bedeutung läßt sich nur auf freie Weise realisieren. Die Freiheit des Absoluten selbst aber nur im Opfer des von ihr Ergriffenen. So der eine Hölderlin. Der hegelschen Conception zuvor.

XI. Ohne daß dies beabsichtigt gewesen wäre, hat sich die ganze Vorlesung dieses Semesters doppelläufig entwickelt. Jede Stunde wurde mit Hinweisen auf die herrschenden Vorstellungsweisen der Gegenwart eröffnet. So mußte es gehen, wenn die sov¸a nicht mehr der Philosophie begegnet, nicht einmal der Besinnung, sondern lauter ,ephemeren‘ und doch homogenen Ansichten.15 Die besagten Weisheits-Gestalten können nicht außer Acht gelassen werden, wenn ihr Wissen das einzig mögliche bleibt, welches für die Bestimmung des Menschen einen Unterschied im Ganzen macht. Am nötigsten dort, wo die betreffende Indifferenz schrankenlos geworden ist. Wie hat sie sich eingerichtet? Das Kennwort für die gegenwärtige Menschenart ist ,der Andere‘. Wenn sie sich in der Submoderne von ihm her versteht, so im Wesentlichen auf seine gesellschaftliche, nicht mehr politische Bestimmung hin. Jedermann begegnet als der Andere – erstlich nach Maßgabe des Sozialen, wie es an der Kommunikation der Körper-Iche wahrgenommen sein will. Sodann nach Maßgabe der Selbstverwirklichung, wie sie die uneingeschränkte Selbstverwaltung der je eigenen Begierden und Lüste verlangt. Schließlich nach Maßgabe der unausweichlich endlosen Forderung nach mehr Gerechtigkeit und darin letztlich nach mehr Macht, wie sie im Recht auf durchgängige Mitsprache gegründet scheint. Die Vorstellung vom Anderen, wie er im Sprach-Ganzen angesiedelt ist, beherrscht aber nicht weniger das strukturale als das an-archische Nachsinnen. Ihm mußte die Bestimmung und also das dreigliedrige Term-Verhältnis mit der hermeneutischen Vernunft entfallen. Ihm bleibt nur dasjenige von Denken und Sache und zwar in eben dieser Folge. Warum? Weil es im Ganzen um die Strukturen von versachlichten Übertragungs-Vorgängen geht. Zuerst mit Botschaften oder messages, in denen die Kommunikation über die Mitte der versachlichten Rede erfolgt. Die wortsprachliche Kommunikation muß ihre Mitte derart versachlichen, daß sie nicht nur Gedachtes, sondern das Denken selbst übertragt und in seiner Übertragbarkeit manipulierbar macht. Das Zentrum, welches die Botschaft bildet, bringt Denken mit Denken, sendendes mit empfangendem zusammen. Das ist nicht mehr die alte Mitteilung von Gedachtem oder gar Gewußtem, welche eine sich äußernde Seele unterstellte. Die versachlichte Botschaft braucht keine Seele und deren Verstehen. Eben deshalb muß die Hermeneutik und deren erlebendes Ich, aber auch das intentionale, verschwinden, sofern es sich nicht als Teil der wesentlich sachlichen Botschaft erhält. Diese muß denn auch als ver15

Siehe GGF, 147; und Fränkel: „EVGLEQOS als Kennwort für die menschliche Natur“.

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sachlichte Struktur verselbständigt und gespeichert werden können. Sender und Empfänger haben ihre Substanz – wenn man noch so reden kann – an der Botschaft, die – wie man treffend sagt – ,übergebracht‘ sein will. Sodann ist die sachliche Mitte in der Übertragung von Denken zu Denken aus den Beschränkungen der verlautbarenden Kommunikation zu lösen. Sender und Empfänger treffen sich in der Verwendung von Zeichen überhaupt. Diese kommt beiderseits zu verursachender Bedeutung, bestimmt das Denken beiderseits, bedarf dabei nicht mehr des Unterschieds von Sender und Empfänger im Vorgang der Kommunikation. Die Sache muß nur beiderseits die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in Wahrheit vielerseits. So am deutlichsten als Reklame. Aber auch mit der Kleidung, die jemand in einer Öffentlichkeit trägt. Auch sie ist eine versachlichte Botschaft. In ihr können sich die verschiedensten Individuen finden. Was läßt sich daraus nicht alles ablesen! Welcher Verkehr läßt sich da nicht anregen! – Noch einmal: im Verhältnis des jeweiligen Denkens zu seiner sachlichen Ursache. Die Andersheit der Anderen kommt aber auch in einer Kommunikation zum Tragen, die eigens ein An-sich-halten des Empfängers der Botschaft verlangt. So im Extrem bei der psychoanalytisch verstandenen Übertragung. Der Andere muß dabei selber auf die Botschaft seiner Erkrankung hin versachlicht werden. Solches Ansich-halten geht aber ins Äußerste, wo von dem Beobachter selbst ein déplacement gefordert wird. So von dem struktural gesinnten Anthropologen. Er muß sich in seinem Denken von seiner eigenen kulturellen Herkunft distanzieren können. Will sagen: sich eben jener abendländischen Denk-Gewohnheiten entschlagen, die sogar für seine Wissenschaft konstitutiv gewesen sind. Dies bedeutet aber: die Art der Sachlichkeit selber zu wechseln – darüber allerdings nicht das Denken des Eingeborenen zu übernehmen, sondern in der versachlichten Botschaft die Gegenwart des sog. wilden Denkens (pensée sauvage) als einer Seite des eigenen zu reflektieren. Schon aus diesen wenigen Andeutungen dürfte klar sein, daß sich im Strukturalismus durchaus die Eigenständigkeit der Sache gegenüber dem Denken erhält. Erst die letzte Position der Gegenwart, nämlich die sprachanalytische, findet zur Indifferenz gegen die Sache. Wir begegneten zuerst dem Anderen, wie er die Bedeutung der Bestimmung annimmt; sodann dem Anderen, wie er für die versachlichte Kommunikation verstanden sein will; schließlich aber dem Anderen, wie es allein das Denken ist – keineswegs derart, daß es sich selbst ein Anderes wäre; denn da ist kein ,sich selbst‘ als Unterscheidungsgrund. Erst dort, wo das Denken auch noch aus der Beziehung auf seine Sache gelöst ist, erweist es sich als wahrhaft indifferentes. Die Realisierung seiner Indifferenz muß es aber außer sich suchen und findet sie in der sog. ordinary language – nicht so sehr der alltäglichen als vielmehr der gewöhnlichen. Und dies wiederum verlangt von uns die Unterscheidung der gewohnten von der gewöhnlichen Sprache. Die gewohnte Sprache hat ihre festen und wohl-unterschiedenen AufenthaltsOrte. Dies auch im Alltag. Aber wie dieser selbst unterschieden bleibt vom Festtag,

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so ist auch die Gewohnheit selbst zu unterscheiden. Eben diese Unterscheidung hängt aber an der Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Hier deutet sich wieder an: die sog. Sprach-Analyse hat ihre Wirklichkeit in einer Gesinnung, welche genau diese Unterscheidung verdrängt. Achten wir darauf: Erst die Moderne hat die Sprache der Wissenschaften über die vormaligen Unterschiede der Terminologie hinaus zur Selbständigkeit einer künstlichen Sprache geführt. In unserer Gegenwart aber wird auch die gewohnte Sprache verkünstlicht. Aber ebenso wird die künstliche Sprache vergewöhnlicht. Mehr noch: beide Seiten werden gegeneinander, genauer: miteinander indifferent. Sie drängen auf eine totale Kommunikation. Wir haben es denn auch nicht mehr mit dem technischen Denken zu tun, sondern letztlich mit dem kommunikativen. Es fordert zum einen die Durchsetzung der einen ordinary language als derjenigen seines Elements, zum anderen aber, daß im Dienste ungehinderter Kommunikation die künstliche Sprache zur gewöhnlichen werde. Erst dann ist das Denken vollständig ,draußen‘. In einem Außen, zu dem es kein Innen mehr geben kann – es sei denn das des Wahnsinns. Im kommunikativen Denken sensu stricto werden ,die Anderen‘ zum Tyrannen, weil sich nämlich vor ihnen das Denken selbst auf die Kommunikation, genauer: auf seine Leistungen im Überbringen von Botschaften abschätzen muß. Mehr noch: auf deren Ankommen – nicht so sehr bei Individuen als vielmehr in einer Gemeinschaft von unbestimmtem Umriß. Am ehesten derer, die den gewöhnlichen Verstand des durchschnittlich Verstehbaren pflegen. Da ist unmittelbare Verständlichkeit das Kriterium für die Klarheit einer Sprache. Das sprachanalytisch geübte Denken braucht keine Rücksicht mehr auf seine Sache, geschweige denn auf seine Bestimmung zu nehmen. Nicht weil es – wie die Vernunft – bei sich wäre. Im Verstand der Kommunikation ist es schlechthin ,draußen‘. Erst da ist es wahrhaft seiner Ichlichkeit völlig ledig, fällt seine Tätigkeit in die unbestimmte Vielheit derer, die in einer Kommunikation befaßt sind. Selbst noch die Kommunikation mit sich hat in dem besagten Draußen ihren Ort. Wir sehen jetzt: nicht einmal ein Ich befindet über die Verständlichkeit einer Rede, sondern der sich selbst noch verschweigende Mitredner, den das technische Denken noch als die gesellschaftliche Kontrolle der scientific community gekannt hatte. Jetzt springt auch der Übersetzungs-Sinn des technischen Denkens der Moderne in das schlechthin kommunikative Denken heraus. Es konstituiert sich in unserer Gegenwart als Nachfahre der Kontroll-Instanz, welche vormals die scientific community gewesen ist. Die Kontrolle wird von der Sprach-Analyse nicht mehr nach Maßgabe eines epochalen Paradigmas durchgeführt, sondern nach der schrankenlosen Maßgabe einer Verständlichkeits-Forderung, die sich letztlich durch ihre Formalisierung das Ansehen zwingender Gültigkeit verschafft. Worauf stützt sie sich? Nicht mehr auf die Sprache der Wissenschaften, sondern auf die Formalisierbarkeit der ordinary language. Nachdem die fregesche Trennung der wissenschaftlichen und der natürlichen Sprache mit der Moderne abgesunken ist, wird auch

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das dichterische Wort in das homogene Feld der gewöhnlichen Sprache einbezogen. So kann sie sich zumal über ihre Formalisierung in der Kommunikations-Technik unumschränkte Eingriffs-Möglichkeiten in die vormals gewohnte Sprache eröffnen. Das gewöhnliche Denken von durchschnittlicher Verständlichkeit hat das gewohnte verschlungen und so den möglichen Zugang zu dem Denken mit Unterscheidung verlegt. Hier wäre die Gelegenheit, sich das Schwinden der im strengen Sinne modernen Dichtung klarzumachen. Nicht von ungefähr erinnert die erste Phase des ordinary language Betriebs an die von der Pop-Art gepflegte Verständlichkeit. Die Unmerklichkeit, welche ihre Herrschaft angenommen hat, spricht für ihre Gewalt. Es hat aber überhaupt keinen Sinn, das Gedachte des Wohnens erinnern zu wollen, wenn es sich nicht in genau dieser unserer Gegenwart zu behaupten vermag. Ohne die Krücken der Hermeneutik – versteht sich. Noch einmal: da sind wir. Und hier begegnen wir, wie es sich gehört, dem Wort der Weisheits-Gestalten. Von woher aber und wie? Der sog. Diskurs unserer Gegenwart bezieht sich keineswegs auf sie – auch nicht, wenn der Name Hölderlins fällt. Er hat seinen festen Ort in der neglegentia, will sagen: in der Nicht-Achtung für das im Sinne der Weisung, der Einweisung in die Bestimmung des Menschen Gesagte. Der Moderne war noch eine abstoßende Beziehung auf unsere Geschichte eigentümlich. Die Heutigen aber können nicht abstoßen, was sie nur noch als ein Gemurmel hören, für dessen Erschließung sie ihre Psychologie und Soziologie haben. Als Gemurmel muß aber das Wort gehört werden, welches die von den Heutigen geforderte Klarheit nicht erfüllt. Ist das Wort der besagten Weisheits-Gestalten klar oder nicht? Klar war es vormals nicht etwa gemäß der durchschnittlichen Verständlichkeit einer gewöhnlichen Rede, sondern gemäß jener claritas, welche das Maß ihres Verkünders anlegt. Dieses Maß ist aber schon dem Denken der Moderne dunkel. Wir begegneten dem Freiheitswesen der Letzten Epoche unserer Geschichte zuletzt in der hölderlinischen sov¸a. Unsere Entwicklung des – wie sollen wir sagen? Gewiß nicht mehr: der Besinnung, aber was denn? Nehmen wir das Vorgeredete auf und sagen: Unsere Entwicklung des Diskurses der Gegenwart hat gezeigt, daß es von ihr her keinen Zugang zu den Weisheits-Gestalten geben kann. Und dennoch haben diese überhaupt nur dann eine Bewandtnis, wenn sie von eigener Gegenwart sind. Wie aber, wenn sie nicht erneut ihre eigene Sprache führen? Welche denn? Diejenige, welche zu denken gibt. Wie aber kann sie gegenwärtig zu denken geben? Nicht durch eine neue Verkündigung, sondern nur derart, daß sie dem Denken durch seine Unterscheidung von sich hörbar wird. Und zwar genau in der Gegenwart, welche wir durch die Entwicklung des gegenwärtigen Diskurses bis hin zur Sprach-Analyse erreicht haben. In dieser Gegenwart hat sich uns endlich der genaue Ort der Unterscheidung bestimmt. Da wird der andere Ort deutlich, der außerhalb des gewöhnlichen Denkens liegen muß. Außerhalb der diesem eigentümlichen Indifferenz. Da war – mit Lévi-Strauss gesprochen – ein déplacement angesagt. Wohin? Zum Denken der Moderne? Nein –

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obgleich Heideggers Rede vom Anderen Anfang des Denkens im Gehör bleiben mußte. Wohin also? In das Gedachte unserer Geschichte? Nein – obgleich allein dieses den genauen Anhalt für die erforderliche Unterscheidung des Denkens bietet. Das besagte déplacement mußte den Ausgang aller Unterscheidung in den Gestalten der sov¸a finden und da war vor allem deren Unterscheidung vom philosophischen Wissen nötig. Genau sie ist vom unterscheidenden, um nicht zu sagen: kritischen Denken gegenwärtig auszutragen, und zwar in der einfachen Auseinandersetzung des Denkens, wie es zum ersten das Denken des Gedachten – näher: seines Vollbrachten – ist, zum anderen aber das Denken ,draußen‘, zumal der Sprach-Analyse. Dieses hat sich selbst zu letzter Gewöhnlichkeit – nicht: Gewohnheit – entäußert. Was ihm daher – auch im Geschäft des Formalisierens – völlig abgeht, ist die Fähigkeit, für ein menschliches Wohnen zu bauen. Wie es sich in der Höhle oder aber im offenen Feld findet, bedarf es nicht einmal der Hütte. Geschweige denn einer Architektur oder gar Architektonik. Wie es die ihm eigentümlichen, weil auf Kommunikation eingerichteten Räume versteht, offenbart das Großraumbüro mit Stellwänden. Im Gedanken wohnen – dies verlangt ein Bauen, das seine Figurationen aus rationes des maßgeblich Gedachten erbringt. Nur so läßt sich in einem geschlossenen und eingerichteten Ganzen wohnen. Seine Wohnlichkeit hat es aber nicht aus dem Bauen selbst, sondern aus der Vorgabe von Wissen wie es für das Wohnen in der Bedeutung von ,Weisheit‘ gebraucht wird. Dies im Ausgang von der Unterscheidung des ,Wie es nicht zu sein hat‘ vom ,Wie es zu sein hat‘ und so auch vom ,Wie es ist‘. Das entsprechende Bauen läßt sich wie seit eh und je nur dort lernen, wo schon gebaut worden ist. Aus einem Denken, das ein Entwerfen nach Maßgabe ist. Das sprachanalytische Denken kennt kein Gedachtes im Sinne des perfectum. Das logotektonische Denken dagegen kennt nur perfecta. Allerdings in unterschiedlicher Bedeutung – unterschieden nach den Totalitäten von Geschichte, Welt und Sprache. Zu deren Bau anwegend ist aber nur die Philosophie gewesen. Das gilt auch noch für das Gefüge unserer Welt. Was aber die Totalität der Sprache anlangt, so ist sie als Totalität in unserer Gegenwart bloß noch am Nachglimmen in der Gegend der Submoderne zu finden. An einem für das Vorstellen der Heutigen völlig unerfindlichen Gefüge – eben jenes, das sich uns auf den Terminus des Denkens contrahiert hat. Darin bestätigt sich uns nur der Wink, die Sprache in einer anderen Totalität als der heute vernehmlichen aufzunehmen. Dieses Aufnehmen macht sich aber nicht von selbst. Es verlangt die Arbeit des Unterscheidens, das erst einmal erkennt, wohin überhaupt zu hören ist. Sodann und zumal die Arbeit des Heraus-ziehens der Weisheits-Gestalten aus unserer Geschichte. Zuletzt aber die Arbeit einer Logotektonik, derer es bei ungebrochener Tradition nie bedurfte. Sie ist mit dem Ende der Philosophie abgebrochen. Mit dem Vollbracht-sein ihres Concipierens, dessen Sinn seinerseits erst einmal gewürdigt sein wollte. So ist denn unsere Begegnung mit den Weisheits-Gestalten ein Vorga-

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ben-reiches Unternehmen. Ohne die Logotektonik würden wir uns nur in einem historischen Trümmerfeld bewegen, in dem die Irrläufer Legion sind. Wenn wir gegenwärtig auf Hölderlin hören, so nicht im Anhang zu der sich selbst undurchsichtigen Sehnsucht Heideggers, vielmehr streng geführt im Bau der Weisheit der Letzten Epoche, in der Hölderlin so wenig wie ein anderer sovºr in die Künftigkeit seines Dichtertums versetzt werden will. Wenn jede sov¸a eine Künftigkeit beansprucht, so einzig und allein im Sinne der stets ankommen sollenden Bestimmung des Menschen zur Unterscheidung von sich. Das ist aber eine nicht mehr geschichtlich zu denkende Zukunft. Sie will höchstens mit der Ankunft des Gottes-Reiches verglichen sein – näher zu Hölderlin: mit der Ankunft des Vaters in dem seiner Bestimmung zugehörigen Vaterland. Um diesen Gedanken noch kurz zu verdeutlichen: Der hölderlinische Bestimmungs-Terminus muß zuerst in geschichtlicher, sodann in weltlicher, schließlich in sprachlicher Bedeutung gefaßt werden. Was seine geschichtliche Fassung betrifft, so schließt sie unmittelbar an diejenige des Denk-Terminus an, wie ihn das Empedokles-Drama konkretisierte. Dort ging es um das Geschick des Denkers als eines solchen. Und zwar so wie er das Denken als sein Opfer verstehen lernt. Nicht Gesang, nicht Tat, sondern das Opfer in geschichtlicher Bedeutung ist von ihm gefordert. Nur in der Selbstaufopferung an seine Bestimmung, in dieser Verwandlung seiner absoluten Freiheit, macht das Denken einen Unterschied im Ganzen. Und in dieser Beziehung offenbart die Bestimmung zuerst ihre geschichtliche Prägung. Welcher Geschichte? Der Ankunft dessen, was sich zuvor entziehen mußte. Was in seinem Fehlen gegenwärtig ist. Was ist das? Nach der Vor-Erfahrung Rousseaus mit dem Denken und Schillers mit der Sache kann dies in der hölderlinischen Bestimmung nur der Geist des Vaterlandes sein. Wie denn überhaupt die Freiheit in absoluter Bedeutung nicht anders merklich wird als in ihrem Fehlen. Dies haben schon Schiller und Rousseau in ihrem jeweiligen Bestimmungs-Terminus ausgesprochen. Die Geschichte des Geschicks kommt in drei Phasen zur Gegenwart. Sie hat ihre Eröffnung im Morgenland – mit der Ankunft des Dionysos vom Indus her; hat ihre erfüllte Gegenwart in den olympischen Göttern der Griechen; hat ihren Niedergang mit dem Entschwinden Christi. Was da folgt, ist die Zeit der Götter-Nacht, der Priester toter Götter. Die letzte Phase dieser Geschichte ist diejenige des ankommenden Vaters des Vaterlandes. In dieser Gegenwart erfährt einer sein Schicksal. Es liegt in der Schickung des Unterschiedes von Geschick und Geschicklosigkeit. Dieses ist für Hölderlin umso entscheidender als er – anders als Fichte – nicht auf das absolute Setzen des Ich zurückkommen kann. Solches Setzen ist im Schicken des Absoluten selber aufgehoben. Die geschichtliche Fassung der Bestimmung ist eine Vor-Entscheidung für ihre weltliche Fassung. Verlangt doch die geschichtliche den Schritt zurück zu der Natur in der Welt, durch die allein die besagte Ankunft verbürgt ist. Sie kommt mit der Zeit,

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die das Ereignis der Ankunft braucht. Die Zeit ist aber letztlich die der natürlichen und doch in absoluter Bedeutung einmaligen Wiederkehr. Die Geschichte ist in die Zeit und mit dieser in die Natur eingelassen. Hölderlin kennt im strengen Sinne keine Welt, die nicht in Natur aufgehoben wäre. Aber in welche Natur? Wohlgemerkt: eben jene, welche der vormaligen Dignität nicht der Schöpfung, sondern des Schöpfers selber gleichkommt. Doch dies ist immer noch nur nach dem Herkommen gesagt. Worauf es für Hölderlin ankommt, ist dies, daß die besagte Natur nach ihrer epochalen Bedeutung genommen wird. Die hat sie aber nur im Verhältnis zur Freiheit. Die Natur, von der Hölderlin spricht, muß selber als die freie und unendliche gedacht werden. Schärfer gefaßt ist die Natur die absolute Freiheit im Modus ihrer Unmittelbarkeit. Nur darin wird ihre weisheitliche Bedeutung begriffen. Und überhaupt nur als concipierbare kommt sie für uns in Betracht. Dies ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Entfaltung der Weisheits-Figur, in welche die Positionen Rousseaus, Schillers und Hölderlins gehören. Um es daher zu wiederholen: Was man irgendwie ,Natur‘ nennt, geht uns garnichts an, ist ein nützlicher oder auch unnützer Name. Kein Gedachtes. Dieses tritt allein dort hervor, wo die Natur als das Moment der Unmittelbarkeit innerhalb der absoluten Freiheit gedacht wird. Und der Geist ist das andere Moment zu diesem ersten. Nur was sich in unserer Geschichte als concipierbar erwiesen hat, ist für unser Bauen tauglich. Und das gilt allem zuvor für die Weisheits-Gestalten selbst. Was wir ihnen in unserer, besser: mit unserer eigenen Gegenwart entgegenbringen können, ist allein das logotektonische Denken. Nur so unterscheidet sich unsere Gegenwart von der unterschiedslos gedachten der immer bloß Heutigen. Die eigene Gegenwart öffnet sich allein im Entgegenkommen zu den Weisheits-Gestalten. Um wieder auf Hölderlin zu sehen – auf die weltliche Fassung seiner Bestimmung. Da kommt die Welt als die Natur zur Sprache. Nur sie ist die weisheitlich gedachte. Sie allein ruft die concipierende Antwort Hegels hervor. Nur der mit Unterscheidung gedachten Natur gilt das Wort Hyperions: „ich hab’ es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, denn alle Gedanken“ (StA III, 148,2). In der Welt-Nacht bleibt die Natur gegenwärtig als die Zeit. In dem Gesang an die Nymphe Mnemosyne heißt es: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre“ (StA II, 193,16). Dem Wahren gegenüber ist die lange Zeit der Nacht von verschwindender Bedeutung. So ist denn auch die Zukunft keine zeitlich vorzustellende. Sie versteht sich auf die erwähnten Schickungen der Geschichte hin, nämlich auf die sich erfüllende. Als solche dem Gott der Zeit offenbar. Das sich ereignende Wahre. Diesem Gedanken geht in der ersten Fassung von Mnemosyne vorauf: „Viel Männer möchten da / Seyn, wahrer Sache“ (193,13) – eben jene, welche sich, ihr Denken und demzuvor das Handeln an die Bestimmung aufgeben, vom Geschick subjektiert. Warum? Wir hören weiter: „Nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh’ an den Abgrund. Also wendet es sich / Mit diesen.“ (193,14) Was wendet sich da? Der Abgrund ihres Fehlens. An ihn reichen in der Tat

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nur die Sterblichen – in einer Welt, welche gerade nicht die des Himmels sein kann. In diese an ihr selbst abgründige oder – mit Hesiod gedacht – chaotische Welt reichen die Himmlischen nicht. Nur die Sterblichen kennen das nächtige Element. Dem entspricht das Wissen der Vatikan-Hymne: „Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren, das ist uns vertraut“ (252,12). Uns Sterblichen. Rein nicht im Sinne der reinen Vernunft, sondern des reinen Herzens, wie es die Julie Rousseaus ursprünglich gekannt, sodann verloren, schließlich sich gewonnen hatte. Erinnert Hölderlin doch an anderer Stelle: „Furchtbar ungastlich windet / Sich durch den Garten die Irre, / Die augenlose, da den Ausgang / Mit reinen Händen kaum / Erfindet ein Mensch. Der gehet, gesandt, / Und suchet, dem Thier gleich, das / Nothwendige. Zwar mit Armen, / Der Ahnung voll, mag einer treffen / Das Ziel.“ (223,43) Statt das Notwendige zu suchen, das Freie finden. Dazu gehört eine Reinheit, wie sie Geschick ist – noch einmal: die im Sinne der sov¸a verwandelte absolute Setzung. Eben daraufhin versteht sich die Aufgabe: Gott rein und mit Unterscheidung bewahren. Bei einem solchen Wort ist stets zu fragen: Welcher Gott? Dies ist überhaupt das erste Erfordernis des Unterscheidens, das die Weisheits-Gestalten in der Besinnung unserer Welt und erst recht mit dem Diskurs unserer Gegenwart verloren hat und auch die geschichtliche Herrschaft der jeweils letzten nicht mehr kennt. Die fällige Antwort auf die Frage ,Welcher Gott?‘ ist erst einmal mit der Unterscheidung der eigentümlichen Epoche seines Schickens gegeben. So verstanden fällt die Weisheit allerdings immer noch in unsere Geschichte. Unsere gegenwärtige Aufgabe muß aber sein, sie daraus zu absolvieren. Doch vorab halten wir fest: Gott rein und mit Unterscheidung zu bewahren. Beides gehört zusammen. Für die sov¸a nicht weniger als für die conceptuale Vernunft. Aber liegt das uns anvertraute Bewahren nicht eher an Gott selbst? Nein, wenn wir an das beschränkte Vermögen der Himmlischen zurückdenken. Nein, wenn wir an den Grund ihrer Beschränkung denken. Der kann kein anderer als die Freiheit sein und zwar unsere, wie sie aus der von Hölderlin gedachten Identität von Identität und Nicht-Identität zu verstehen ist – mit Fichte gesehen: aus der gegenseitigen Beschränkung von Ich und Nicht-Ich im Verhältnis zum absoluten Ich; und weiter mit Hegel gedacht: das Absolute selbst enthält nicht weniger die Allheit der negativen als die der positiven Prädikate. Das besagte Bewahren ist uns und nur uns anvertraut. Will sagen: dem dichterisch wohnenden Menschen. Das ist der Mensch des rousseauischen Nichts, der im Sinne Kants genialische. Nicht von ungefähr sammelt sich Kants Werk – entgegen der heutigen Vorstellung von ihm – in die Erläuterung der produktiven Urteilskraft des Künstlers. Noch Hölderlin hat eine Abhandlung zum Urteil verfaßt. Es gilt einer Reinheit, die – wie es in der letzten Fassung des Patmos-Hymnos heißt – „rein / Ist wie ein Schwerdt“ (StA II, 186,165). Also der Gewalt des Scheidens dienlich. Konstitutiv für die Bestimmung in weltlicher Bedeutung ist dies: einen Unterschied im Ganzen machen. Unmittelbar in der Natur zu sehen als das Gegenüber von Äther und Erde; beide Seiten haben aber ihre aufschließende Mitte am Licht. Aus ihm geht eine Welt auf. Schon dies sollte auf den abgründigen Unterschied des

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hölderlinischen vom heideggerschen Gedanken aufmerken lassen. Und er wird durch ein Geschick befestigt, das vom Setzen her und so auf die Freiheit hin begriffen sein will. Rücksichtlich des Geschicks muß aber für die weltliche Fassung der Bestimmung gefordert werden, daß sie die Welt als die des Menschen und also im Verhältnis der Himmlischen und der Sterblichen zum Tragen bringe. Da ist die ausschließende Beziehung des Reinen und des Rohen geltend zu machen. Beide Seiten wollen diesseits der Himmlischen zusammengeführt werden. Dementsprechend heißt es in Die Titanen: „Des Rohen brauchet es auch / Damit das Reine sich kenne“ (219,66) – gleichsam aus seiner bewußtlosen Einfachheit in das Selbstbewußtsein des Unterschiedenen finde – aber keineswegs zur Verbindung oder gar Vermischung mit dem Rohen – mit dem, was ohne Bildung geblieben ist, also unvermögend, die Menschheit des Menschen in sich darzustellen. Aus der Erfahrung mit dem Reinen in einer rohen Welt spricht das zentrale Wort des Hyperion, aus dem die hölderlinische Dichtung ihren eigentlichen Anfang nimmt. Es lautet: „Wem einmal, so, wie dir, die ganze Seele belaidiget war, der ruht nicht mehr in einzelner Freude, wer so, wie du, das fade Nichts gefühlt, erheitert in höchstem Geiste sich nur, wer so den Tod erfuhr, wie du, erhohlt allein sich unter den Göttern.“ (StA III, 129,11) Ein Wort, das Zug um Zug an die Unterscheidung des Menschen von sich selbst denken läßt. Dennoch spricht es noch nicht die Bestimmung selber aus, die aus solcher Unterscheidung aufgeht. Und zwar in sprachlicher Fassung. Um sie von dem Unterschied der Sprache der Götter und der Sterblichen her einzuführen. In dem Rousseau-Gedicht hieß es: „Dem Sehnenden war / Der Wink genug, und Winke sind / Von Alters her die Sprache der Götter“ (StA II, 13,30). Gewiß; doch die sprachliche Fassung der Bestimmung muß einmal das Geschick, sodann die Unterscheidung der Welt einbegreifen. Ohnehin kann der Bestimmung die Sprache und ihre Allgemeinheit nicht genügen. Da ist vielmehr das bestimmte Wort gebraucht. Nicht mehr der Wink der Götter, sondern das Wort des Dichters, wie es ganz das Seine ist. Dieses Wort ist „das Heilige“. Bei diesem Namen aus einer großen Geschichte mag man sich vielerlei vorstellen; doch dies wäre bei unserem Unternehmen völlig untunlich. Er ist genau in seiner epochalen Bestimmtheit zu nehmen, eben jener, die es schon bei Rousseau und Kant im Bereich der Freiheit von absoluter Bedeutung angenommen hat. Die trennt es eindeutig von seinem religiösen Gebrauch – zumal jenem, der ihm aus der Mittleren Epoche zugekommen ist. Es hat seinen festen Ort in dem Gedicht Wie wenn am Feiertage. Die betreffende Strophe wird von dem Ruf „Jetzt aber tagts!“ (118,19) eröffnet – mit einem ,aber‘, das sich auf die Zeit des Schlafs der Natur und die entsprechende Trauer der Dichter bezieht, welche schon die Wende zum Welt-Tag geahnt haben. Aus ihrer Innigkeit mit demselben Ahnen, wie es schon der Natur eigen ist.

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„Ich harrt und sah es kommen“ (Z. 19) – gerade nicht in zeitlicher Bedeutung; denn was da kommt, ist ein Geschick, das nicht in die Zeit fällt und doch der Natur angehört. Aber welcher? „Sie selbst“ – so führt Hölderlin ihren Unterschied ein. „Sie selbst, die älter denn die Zeiten / Und über die Götter des Abends und Orients ist, / Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht“ (21) – sozusagen um das Schwert der Unterscheidung zu führen, die als Freiheit in absoluter Bedeutung wirklich wird. Denn mit ihrem Erwachen „fühlt neu die Begeisterung sich“ (26). Sie ist diejenige des Geistes, der das andere Moment zur Natur ist. Eingelassen in diesen Aufbruch ist nun die Wendung „das Heilige sei mein Wort“ (20). Welches Heilige, bleibt hier keineswegs im Unbestimmten. Dieses ,es sei‘ ist offensichtlich eine Anrede des Dichters an sich selbst. Das Wort des Heiligen soll das seine, seine dichterische Aufgabe sein. Und welche Aufgabe ist das? In dem Entwurf Deutscher Gesang heißt es gegen Ende vom Sänger: „Wenn dich, der du, / Um deiner Schöne willen, bis heute, / Nahmlos geblieben o göttlichster! / O guter Geist des Vaterlands / Sein Wort im Liede dich nennet.“ (203,34) Genau das ist die erfüllte Bestimmung des hölderlinischen Gedankens. Um den Geist des Vaterlands geht es ihm. In einem offensichtlichen Nachklang der schillerschen Sache und des rousseauischen Denkens. Um noch einmal kurz auf die Momente des hölderlinischen Bestimmungs-Terminus zurückzublicken. Da ist zuerst das geschichtliche Moment, wie es sich zur Kausalität im Geschick der Geschichte – und zwar der geistigen im strengen Sinne – entfaltet. Da ist sodann das weltliche Moment, welches den Unterschied der Zeiten zurücknimmt in die eine Substanz der Natur, die allerdings ihrerseits mit Unterscheidung zu denken ist, weil sie von der Geistigkeit des Freien ist. Da ist zuletzt das sprachliche Moment und zwar in der Wechselbeziehung des Gesprächs, in dem der Dichter – selber geistig – mit dem Geist des Vaterlandes steht. Dieser begeistert, an ihm selbst noch namenlos, den Sänger zu dem Wort, das den Schönen nennt. Wie aber begegnet die conceptuale Vernunft Hegels dem hölderlinischen Gedanken? Wir könnten hier der Erwartung folgen, die ihren Grund in der Architektonik der reinen Vernunft hat. Wir könnten also fortfahren mit der Erläuterung der betreffenden Termini – also dem der Sache, wie sie der reine Begriff in Entwicklung und Verwandlung seiner Realität ist; und weiter dem des Denkens, wie es in Methode und System zu vollendeter Darstellung kommt; und schließlich der Bestimmung, wie sie die Freiheit der Idee, konkret: die Freiheit der physischen und geistigen Natur, letztlich aber der Philosophie selber ist. Im Blick auf deren Ganzheit und deren Geschlossenheit ist aber etwas anderes dringender wahrzunehmen: In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes heißt es: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschafftliche System derselben seyn. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn, – ist es, was ich mir vorgesetzt.“ (GW IX, 11,24) Wie sollte dieser Vorsatz, wie sollte seine vollendete

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Ausführung der sov¸a gleichgültig sein? Zwar geht es hier um die Liebe zum Wissen; doch welche Bewandtnis könnte da noch die Liebe zur Weisheit behalten? Sie muß jetzt von verschwindender Bedeutung sein und ist denn auch erst einmal verschwunden. Der hölderlinische Gedanke fand als solcher keine Beachtung – anders als der schillersche. Auch als Dichtung kam er im Wesentlichen erst durch Heidegger ans Licht. Wie dem auch sei – die Philosophie hat in ihrer Vollendung die sov¸a ihrer Eigenständigkeit, der des Vernünftigen, enthoben. Man könnte sagen: beide waren einander zu nahe gekommen und zwar in der Weisheit, welche es mit der Menschheit des Menschen zu tun hat. So konnte denn auch die Philosophie ihren Nachbarn mit in die Abgeschiedenheit der vollendeten Geschichte hinabziehen. Diese Vollendung zeigt nun logotektonisch folgende Merkwürdigkeit: Wir haben immer wieder gesehen, daß der Bau einer Figur aus rationes eine Diagonale ausbildet, an der die eigentümliche Prägung der betreffenden Vernunft als natürliche, als mundane und als conceptuale abzulesen ist. Nun verdichtet sich aber auf andere Weise der Gedanke Hegels zu dem, was er den Schluß der Schlüsse nennt. Da wird zuerst das Logische über die Mitte der Natur mit dem Geist zusammengeschlossen; da wird sodann die Natur über die Mitte des Geistes mit dem Logischen zusammengeschlossen; da wird zuletzt der Geist über die Mitte des Logischen mit der Natur zusammengeschlossen. Auch in diesem Gefüge dominiert eine Diagonale, welche die drei Schlüsse zusammen sehen läßt; es ist diejenige, welche der Geist ausbildet – „der erhabenste Begriff, und der der neuern Zeit und ihrer Religion angehört“, will sagen: derjenigen der Freiheit in absoluter Bedeutung. So Hegel in derselben Vorrede (22,5). Nach dem System jener Schlüsse erweist sich aber jener Terminus als der Maßgebliche, welcher in der letzten ratio die Mitte hält, nämlich das Logische – will sagen: der nicht formale, sondern wirkliche kºcor . Die ganze Bewegung der Geschichte erscheint hier als die des Geistes. Das Innere zu dieser Erscheinung ist der Gedanke selbst. Das Denken eröffnet die erste ratio der Geschichte überhaupt mit derjenigen der natürlichen Vernunft. Die der sich schließenden conceptualen Vernunft zeigt aber dieselbe Term-Folge. Nun sind allerdings diese Abfolgen und Zusammenschlüsse nicht das Entscheidende, wenn das Ganze des philosophischen Gedankens und seine Stellung zur Weisheit betrachtet sein will. Was wird aus ihr? So kann aber überhaupt nur gefragt werden, wenn sie von eigener Gegenwart – geschieden von der Philosophie – ist. Als solche wollte sie diesseits der Moderne entdeckt werden – nach einem langen Weg des Unterscheidens durch unsere Geschichte und unsere Welt hindurch. Auf einem Weg in die Gegenwart, die nur deshalb eine von beiden Totalitäten geschiedene sein kann, weil der Gedanke bei der vor-philosophischen sov¸a den Anfang genommen hat. Die letzte Totalität, die sich am Ende unseres Durchgangs durch Alles abgezeichnet und in sich selbst bestimmt, weil unterschieden hat, ist die der Sprache. Das Unterscheiden führte hier zuletzt auf ein Denken, das weder eine Bestimmung noch

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eine eigene Sache kennt und deshalb einer endlosen Vielfalt beliebiger Aufgaben offen ist, nämlich das sprachanalytische. Ihm tritt aber gegenwärtig jenes erste Denken entgegen, welches als seinerseits sich unterscheidendes ein Denken des in maßgeblichem Sinne Gedachten ist. Nur zusammen mit ihm kommt das Denken mit sich selbst ins Reine. Wie tritt die Weisheit gegenwärtig auf? Sie fügt sich zu einem von der Philosophie und ihrer Geschichte gesonderten Gebilde – in einer Tektonik, welche eigens die Sprach-Totalität bekundet. Aber wie? Derart, daß in den drei Figuren der sov¸a von jedem Terminus nur noch die Momente der Sprachlichkeit zum Tragen kommen – unter Ausschluß all derer, die zur weltlichen und geschichtlichen Fassung eines Terminus gehören. Erst jetzt sind wir frei, der gegenwärtigen Maßgabe einer Logotektonik für die Weisheits-Gestalten zu folgen. Sie wollen gemäß dem ihnen eigentümlichen Sagen und Weisen in die Sprach-Sphäre gerettet werden – ebenso ihrem geschichtlichen Untergang wie der weltlichen Indifferenz entrissen. Geborgen in ihre eigene, gänzlich unterschiedene Gegenwart. Da bindet die geschichtliche Folge der Zeiten und so auch das auf ihnen liegende philosophische Erbe nicht mehr. Die Weisheits-Gestalten können daher, ausgehend von ihrer Letzten Epoche, rückläufig aufgenommen werden. Denn die Dominanz der hegelschen Vollendung ist gebrochen und wir sind frei, uns aus dem Vollbrachten her der homerischen sov¸a als der Letzten anzunehmen – wie wir auch frei sind, das Gefüge der Weisheits-Gestalten aus seiner paulinischen Mitte aufzunehmen und die Vereinbarkeit aller zu verstehen. Alle Zwänge der Verzeitlichung dieses Wissens sind zugunsten seiner Gegenwart, einer erneut reinen Gegenwart getilgt. Um es zu wiederholen: Sie ist diejenige ihrer Sprachlichkeit. In jeder ihrer Gestalten ist sie an jeweils neun Positionen aus Bestimmung, Sache und Denken für unser Denken, für unser Hören zu verdeutlichen. Demzuvor aber will das gleichsam verbrauchte Denken der Gegenwart in einem apagogischen Beweis seiner Beschränktheit dargestellt sein. Auch sie hat eine Bewandtnis – genau in der aufklärerischen Absicht dieses anderen Denkens. Sie unsererseits aufzuklären fällt umso leichter, als wir eine unterschiedene claritas sehen. Denn wie sollten wir bei der Tektonik einer Weisheits-Figur aus neun Termini nicht an die Zahl der Musen denken? An ihre Sprache des Lobens.

Anleitendes Wer nicht die Gelegenheit gehabt hat, an den Lehrveranstaltungen Heribert Boeders teilzunehmen, gewinnt durch die vorhergehende Schrift einen Einblick in die boedersche Werkstatt. Wenn auch in seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten sichtbar, bekommt man in seinen Vorlesungen und Seminaren besonders deutlich seine Verfahrensweise zu sehen. Diese umfaßt vier ineinander greifende Hauptmomente: Provokation, Verhaltenheit, genaues Hinhören und sorgfältiges Bauen. Es mag zunächst scheinen, als würde Boeder dogmatisch bzw. apodiktisch vorgehen, besonders für diejenigen, die sich durch seine Beobachtungen zu den heutigen Denkarten angegriffen fühlen. Dazu tragen auch die ungewöhnliche Verdichtung seines Schreibstils, die manchmal elliptisch oder sogar gnomisch wirken kann, und der ihm eigentümliche Wortschatz bei. Das Provokative an seinen Äußerungen hat aber gute Gründe: Einerseits will Boeder die waltenden Ansichten in Frage stellen und vor allem die Gewohnheit des Assoziierens brechen, um die Geschichte des Gedachten als Ganzes ans Licht zu heben. Genauer: das dem Denken wesentliche Ganze, das jeweils als Vollendung einer Aufgabe entsteht – und entstanden ist. Andererseits hat er bis zum Zeitpunkt der hier veröffentlichten Vorlesung schon einen weiten Weg des eigenen Forschens, Lehrens und Schreibens durchquert;1 wie jeder ernsthaft Forschende durfte Boeder also vom schon Geleisteten ausgehen. Hinzu kam seine Überzeugung, daß es keinen Königsweg in das Denken gibt, keinen absolut richtigen Weg, auf dem man philosophisch nicht fehlgehen könnte, sondern allein entscheidend war der Anfang. Egal war es Boeder, wo einer anfängt, solange er anfängt, und zwar hinsichtlich des (noch zu bestimmenden) Ganzen und der damit unauflösbar zusammenhängenden Vollendung einer Aufgabe. Nur die durch Verhaltenheit erzeugte Offenheit ermöglicht es einem, solchen Anfang zu machen und den damit verbundenen Weg zu gehen. Unter den sog. Denkgewohnheiten ist die gefährlichste, weil unscheinbarste das Verlangen nach unmittelbarer Verständlichkeit, nach dem Von-selbst-Verständlichen, oder anders gesagt: die Abneigung gegen das Schwierige, das Nur-mit-Mühezu-Verstehende. Sie empfindet jede Herausforderung des Denkens, jede Verzögerung der vereinfachenden Erklärung als unverschämte Zumutung. Dagegen stellt 1

Vgl. oben Zubiria: Vorwort, sowie Regenbogen (Hg.), Antike Weisheit und moderne Vernunft, 297 – 301. Wo bei letzterem die boederschen Lehrveranstaltungen nur bis zur Emeritierung hin aufgelistet wurden, skizziert Zubiria in seinem Vorwort den Umfang der zu Lebzeiten gehaltenen Lehrveranstaltungen. Verzeichnisse der boederschen Veröffentlichungen befinden sich u. a. in: BG, Seditions und HBWA I/1.

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Boeder die Einsicht: Nichts ist unmittelbar, was Denken, was Unterscheiden heißt. Immer wieder versucht er, den Schein der Unmittelbarkeit aufzulösen, weil das Unmittelbare selbst gedankenlos ist – das unmittelbar Verständliche nicht weniger. Wenn die Philosophie prinzipiell kritisch sein soll, so wäre die Forderung nach solcher Verständlichkeit – nämlich man müsse etwas sofort verstehen können, wenn erwartet werden dürfte, daß er sich damit überhaupt beschäftigen sollte – in philosophicis nicht bloß naiv, sondern gedankenlos oder gar heuchlerisch. Solche Forderung zeigt einen Mangel an Selbstbewußtsein, weil dabei vergessen wird, daß das unmittelbar Verständliche das Vertraute ist, also nichts Fremdes ist, weil schon angeeignet. Dies ist tückisch nicht nur deshalb, weil diese Denkweise dazu neigt, alles auf eine journalistische Ebene zu reduzieren, sondern weil sie darauf hinausläuft, das Fremde, das Unvertraute, ja den Unterschied überhaupt zu tilgen. Um den besagten Schein wegzuräumen und Platz für das eigentliche, weil unterscheidende Denken zu machen, verwendet Boeder die Provokation. Paradoxerweise ist heute der direkteste Weg zur Verhaltenheit derjenige, der durch die Provokation führt. Es besteht nämlich eine eigenartige Wechselwirkung zwischen den beiden. Die provokante Redeweise stellt etwas Selbstverständliches in Frage, hebt es auf, schaltet die darin enthaltene Annahme aus. Und so leuchtet die entscheidende Möglichkeit auf: Erst dort, wo der Sinn aufzuhören scheint, wo man auf Dissonanz oder Widerspruch stößt, da erst tut sich die Gelegenheit zu denken auf. Genau das ist der Sinn des vielberufenen Anfangs der Philosophie, nämlich des Staunens: Eine Dissonanz oder Unstimmigkeit und also ein Unterschied muß einem erst auffallen, etwas, welches die herrschende Gedankenlosigkeit des Alltags stört, seine unmittelbare Verständlichkeit, und d. h. seine Selbstverständlichkeit unterminiert. Wenn das Selbstverständliche nicht mehr von selbst zu verstehen ist, und seine Fraglichkeit nicht bloß unterdrückt oder ignoriert, sondern ernst genommen wird, muß es zunächst zur Seite gestellt oder eingeklammert, um dann geprüft zu werden. Nur so kann das eigentliche Denken, das Unterscheiden anfangen. Aber damit ist nicht alles getan: der Schritt zur Verhaltenheit ist nicht nur einmal zu tun, sondern wiederholt, weil die Selbstzufriedenheit des alltäglichen Denkens ständig droht, das verhaltene Denken zu verdrängen. Um dies zu bekämpfen, bedarf es heute immer wieder die philosophische Bremse. Eine, die nicht so sehr die sog. sokratische Methode des leitenden Fragens, als vielmehr die hartnäckig para-doxe Methode der durchschneidend hinführenden Provokation verwendet. Noch einmal: Die durch die Provokation erzeugte Verhaltenheit ist Offenheit dem Gedachten gegenüber. Indem der Verhaltene das Gedachte nicht herausfordert, nicht instrumentalisiert, sondern sein läßt und zugleich sorgfältig hinhört, übt er Epoché, d. h. er klammert seine eigenen Erwartungen und Begehren ein, um möglichst unbelastet seine Aufmerksamkeit auf das Gedachte als solches hinzuwenden. Ziel dabei ist also nicht das, was der sog. Forscher will, auch nicht das schon Vertraute, sondern einzig und allein das vom Denker Gewollte. Dabei sucht der Hinhörende jeweils nach dem Beweggrund, dem Prinzip des Gedachten, das das Gedachte als Ganzes fügt.

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Entscheidend ist eben das Prinzipielle, keine Vorliebe. So z. B. wird es manchen vielleicht nicht gefallen, wenn gezeigt wird, daß Kant oder Hegel nicht prinzipiell als Christen, sondern als Bürger zu verstehen sind – und sich konsequent so verstanden haben. Es gehört nicht zur Sache, ob jemand Mißfallen am Gedachten findet – genauso wenig wie Gefallen. Die Pflicht des Denkens als solchem ist, auf die jeweilige Aufgabe zu achten. Eben deswegen gründet die Darstellung des Gedachten, wie sie sich in der oben veröffentlichten Vorlesung bauend entfaltet, nicht in irgendeinem Wunschdenken Boeders, sondern einzig und allein im Prinzip der Letzten Epoche der Philosophie. Dem sucht er, vollkommen zu entsprechen. Weil Boeder selber im Laufe dieser Schrift hin und wieder auf seine Bauweise und die damit zusammenhängenden Bedingungen zu sprechen kommt, werden hier abschließend nur einige Begriffsänderungen hervorgehoben, die unberücksichtigt den Leser sonst verwirren bzw. vom Eindringen in das boedersche Denken abhalten könnten. Daß solche Änderungen nicht als zufällige Schwankungen oder gar als Zeichen irgendeiner Unschlüssigkeit Boeders zu nehmen sind, sondern immer nur als Präzisierungen, wird schon vom Namen seines Unternehmens her deutlich. Die Termverschiebungen unter den Titeln seiner Hauptwerke zeigen seine Absicht an: von der Topologie der Metaphysik (1980) über Das Vernunft-Gefüge der Moderne (1980) bis hin zu den Installationen der Submoderne (2006), ein Werk, das den Untertitel Zur Tektonik der heutigen Philosophie trägt. Zusammen zeigen sie, daß es Boeder unablässig darum ging, den rationalen Bau des Gedachten – denjenigen zunächst der Philosophie, sodann deren Verneiner (Moderne) und schließlich der Erschöpfer (Submoderne) von beiden – darzulegen. Und d. h. zugleich, die Vernünftigkeit des Gebauten zu zeigen, indem er bauend die Vernunft eben als gebaute zu erneuern sucht. Dies klingt schon bei den Namen ,Topologie‘, ,Vernunft-Gefüge‘ und ,Tektonik‘ an, wird aber zuletzt unüberhörbar bei ,Logotektonik‘ – die reifste und konsequenteste Bezeichnung des boederschen Unternehmens. Sie ist Ausdruck seiner durchaus praktischen Denkart: das Bauen der Tektonik aus Vernunft-Gestalten einerseits und der Gesamtbau der zusammenhängenden Gestalten andererseits. Was die vorliegende Schrift anlangt, steht sie am Scheideweg: einerseits führt sie in das zeitgenössische, oft ,postmodern‘ genannte Denken, andererseits in die Weisheit (sov¸a) der abendländischen Tradition hinsichtlich deren Philosophie. Diese konträren Richtungen spiegeln sich in den zwei Schienen wieder, auf denen sich Boeders Betrachtung entfaltet. Erstere wird in seinen Installationen der Submoderne Niederschlag finden, letztere in seinen zahlreichen späteren Schriften – welche, sowohl Vorträge und Aufsätze als auch Vorlesungen und Seminare umfassend, zwar zu keiner abschließenden Monographie zur Weisheit zusammengefügt wurden, aber dennoch alle wesentlichen Bauelemente dazu enthalten. Infolge seiner Einsicht in den notwendig mittelbaren Zugang zum Gedachten – eine Einsicht, die engst mit der oben erwähnten Wechselwirkung von Provokation und Verhaltenheit sowie der Verwerfung von unmittelbarer Verständlichkeit ver-

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bunden ist – geht Boeder nicht geradlinig voran, sondern im Zickzack zwischen Gedachtem und der Gegenwart. Er baut das neu untersuchte Denken hinsichtlich des schon in der Philosophie und der Moderne Gebauten, aber revidiert den früheren Bau, wenn er Neues einsieht, welches das schon Geleistete in ein neues Licht stellt. Dabei hat Boeder keine Angst vor ,Fehlern‘; es geht nicht darum, Richtiges zu sagen, sondern Wahres. Und die Wahrheit des jeweiligen Stadiums des Baus bewährt sich immer nur hinsichtlich des Ganzen bzw. des Gesamtbaus. Den Bauplan hatte er nicht im voraus in der Hand, sondern er mußte ihn erst nach und nach beim Durchgang des Ganzen entwerfen. So war es nur konsequent – wegen seiner Offenheit gegenüber den Erfordernissen des Gedachten –, als Boeder, sobald er einsah, daß es nötig wurde, das angegebene Vorlesungsthema ausweitete. Um ihm gerecht zu werden, also um die Kern-Phase der Letzten Epoche der Philosophie – was in der boederschen Terminologie heißt: das Gedachte Kants, Fichtes und Hegels – für seine Zuhörer logotektonisch darzustellen, mußte er anders vorgehen. Während Boeder es zunächst vorhatte, den rationalen Bau einerseits der jeweiligen Position Kants, Fichtes und Hegels und andererseits den Zusammenhang der drei Positionen als Ganzes zu zeigen, und darüber hinaus die Beziehung der philosophischen Vernunft zur Weisheit (nämlich zu Rousseau, Schiller und Hölderlin) aufzuhellen, wurde ihm klar, daß er diese Bauschritte durch ein Drittes ergänzen mußte: Unerläßlich war es nun auch, die gleichsam AnarchiTektonik des zeitgenössischen Denkens aufzulichten. Dies verlangte der Zickzack zwischen Gedachtem und Gegenwart. Diese strukturelle Präzisierung seines Ansatzes unterstreicht das Werkstatthafte der Vorlesung. Es wird auch besonders spürbar bei zwei terminologischen Schwankungen, die unterwegs zur näheren Bestimmung der Bauweise des Ganzen begegnen. Einerseits verwendet Boeder indifferent das Wort ,Gegenwart‘ als Bezeichnung des Orts des zeitgenössischen Denkens, sein eigenes mit einbegriffen. Synonym sind zunächst sowohl ,Gegenwart‘ und ,Heute‘ als auch ,gegenwärtig‘, ,heutig‘ und ,zeitgenössisch‘. Doch fällt ihre Austauschbarkeit weg, sobald Boeder klarer wird, welchen Ort sein eigenes Denken dem zeitgenössischen Denken gegenüber einnimmt. Zu Anfang dieser Vorlesung ist Boeder noch dabei, die Konturen der ,Gegenwart‘ bzw. der Sprach-Sphäre festzustellen. Die Sprache hat er schon längst als eigenständige Gegend – die dritte und abschließende Totalität nach derjenigen der Geschichte der Philosophie und der Welt der Moderne – anerkannt, aber als Ganzes auf zunächst zwei Dimensionen des zeitgenössischen Denkens im Unterschied zur Philosophie-anwegenden Weisheit begrenzt. Damit bleibt Boeder aber nicht stehen, und der Leser wird bald merken, daß er sich noch einmal – eigentlich aber: immer noch – in der boederschen Werkstatt befindet. Die ersten zwei Glieder der besagten Dreiheit unterscheidet Boeder vorläufig als die ,Submoderne‘ und die ,Postmoderne‘. Verwirrend könnte dies nicht nur deshalb sein, weil der Name ,Submoderne‘ weitgehend unbekannt ist, sondern weil er

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scheinbar die gängige Bezeichnung des heutigen Denkens als Postmoderne beibehält. Es dürfte aber klar werden, daß Boeder dadurch etwas Anderes nennen will: einerseits bezeichnet ,Submoderne‘ die an-archische Denkart von Merleau-Ponty, Foucault und Derrida, andererseits umfaßt ,Postmoderne‘ die strukturale Denkart von Jakobson, Lévi-Strauss und Barthes. Bei der Entfaltung des Baus dieser Dimensionen nimmt Boeder zunächst an, daß sein eigenes Denken zusammen mit der Weisheit die dritte und abschließende Dimension der Sprach-Sphäre ausmacht. Doch entdeckt er unterwegs etwas, das ihn dazu bewegt, nicht nur den Namen ,Postmoderne‘ als ungenauen Leih- bzw. Verlegenheitsnamen aufzugeben, sondern auch das logotektonische Denken und die ihm zentrale Weisheit vom heutigen Denken zu unterscheiden und also tektonisch außerhalb von diesem zu erörtern. Die Entdeckung? Nichts anderes als das sprach-analytische Denken, und zwar als eine dem zeitgenössischen Denken wesentliche Dimension. Obwohl er mit der Sprachanalyse natürlich vertraut war – immerhin hat er bei Gilbert Ryle ein Semester studiert –, hatte Boeder sie für dem Kernbau des nach-modernen Denkens peripher gehalten. Erst in dieser Vorlesung sieht er ein, daß die Sprachanalyse (letztlich von Ryle, Austin und Dummett vertreten) prinzipiell mit den an-archischen und strukturalen Denkarten zusammenhängt. Daraus ergibt sich, daß ,Submoderne‘ als Bezeichnung für das Ganze des zeitgenössischen Denkens fortan verwendet wird, aber auch das logotektonische Denken in sein eigenstes Gefüge einschwingt. Hierdurch gewinnen auch ,Heute‘ und ,Gegenwart‘ ihre präzisen Bedeutungen, wobei ersteres nur das zeitgenössische Denken, letzteres aber die Logotektonik kennzeichnet. Was der Leser – wie ihm zuvor der Zuhörer – bei dieser Vorlesung angeboten bekommt, ist ein reiches Feld von Einsichten in die Geschichte der Philosophie und deren Verwandlungen. Aber noch wichtiger ist die Gelegenheit, Zeuge eines Denkens im Werden zu sein, wo das Werden kein bloßes Dahinfließen, kein Verketten von Einfällen ist. Das Denken, welches uns in Boeders Schriften begegnet, ist etwas ganz Seltenes: es wird einzig und allein auf das Ganze hin. So lernt der Verhaltene in der Werkstatt Boeders zu denken. Das ist nicht nur Etwas, sondern Alles. London, im Mai 2016

Marcus Brainard

Editorische Hinweise Das Manuskript der hier zum ersten Mal gedruckten Vorlesung besteht aus 221 A4Schreibmaschinenseiten von je 32 Zeilen, die in elf Sitzungen bzw. Kapitel unterteilt sind. (Heribert Boeder pflegte in der ersten Semesterwoche nicht zu unterrichten – es könnte also scheinen, als fehle eine Sitzung, weil seinerzeit ein Sommersemester zwölf Wochen umfaßte.) Jede Sitzung dauerte circa zwei Stunden. Fragen wurden erst nach dem Abschluß des Vortrags gestellt; die anschließenden Diskussionen wurden nicht dokumentiert. Da jedes Kapitel erst eine Woche vor der jeweiligen Sitzung verfaßt und nach dem Semesterende das Manuskript nicht als Ganzes durchgesehen und sprachlich vereinheitlicht wurde, gibt es manche Unstimmigkeiten unter den Kapiteln hinsichtlich der Schreibweise von Wendungen und Begriffen. Ein weiterer Grund dafür ist, daß Boeder dieses Vorlesungsmanuskript nicht selbst niederschrieb, sondern es hat tippen lassen, während er den Text frei diktierte. Letztlich soll bemerkt werden, daß Boeder es während des Schreibens nicht vorhatte, die vorliegende Vorlesung zu veröffentlichen: sie sollte allein dem Unterricht und der Fortführung der eigenen Forschung dienen. Als work in progress hängt sie – Wittgensteins Leiter ähnlich – mit den rund 70 vorhergehenden Vorlesungen und 140 parallellaufenden Seminaren zusammen. Dies ist übrigens auch ein Grund für den Ton und die Verfahrensweise der Vorlesung. Was die Eingriffe der Herausgeber angelangt, beschränken sie sich auf die Vereinheitlichung der Schreibweisen von häufig gebrauchten Wendungen und Begriffen angesichts der dem Verfasser üblichen Formulierungen, die Beseitigung von Tippfehlern und die Einarbeitung von handschriftlichen Korrekturen und zusätzlichen Eintragungen Boeders. Andererseits haben die Herausgeber alle Zitate und Angaben geprüft und wo nötig korrigiert; Titel und Fremdwörter kursiv gesetzt; griechische Wörter, die im Manuskript in lateinischen Buchstaben stehen, in griechische Buchstaben überführt; Angaben und Anmerkungen vervollständigt bzw. hinzugefügt; und das Inhaltsverzeichnis und die Bibliographie zusammengestellt. Beibehalten wurden sowohl die Boeder eigenen Schreibweisen (z. B. ,garnicht‘, ,demzuvor‘, ,Princip‘, ,Sitten-Gesetz‘) als auch terminologische Schwankungen, die mit dem Fortschreiten des Denkens, also unterscheidenden Bauens zusammenhängen. Dieses editorische Verfahren fand die Zustimmung des Verfassers. Zur Erklärung der im Text verwendeten Zitierweise und zur Entschlüsselung der Abkürzungen sei der Leser auf den Anfang des Literaturverzeichnisses und die darin enthaltenen, den Abkürzungen entsprechenden Angaben verwiesen. Die Herausgeber dürfen sich herzlich bei Frau Dr. Maria von Kerssenbrock-Krosigk und Herrn Dr. Titus Boeder für ihre großzügige Unterstützung und Hilfsbereitschaft bei der editorischen Arbeit bedanken.

Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis

Die im Haupttext erwähnten bzw. zitierten Werke beziehen sich auf die unten verzeichneten Ausgaben. Wo Abkürzungen bei Zitaten verwendet werden, wird der Leser die vollständige Angabe der entsprechenden Schrift unter dem Namen des Verfassers finden. Wenn mehr als eine Stelle aus demselben Text nacheinander zitiert werden, wird die Abkürzung allein im ersten Fall angegeben, danach nur die Seitenzahl (wo sie sich von einer vorhergehenden unterscheidet) und evtl. die Zeilenangabe. – Alle Zitate werden wortgetreu wiedergegeben. Austin, J. L.: How to Do Things with Words, hrsg. von J. O. Urmson/Marina Sbisà, 2. Aufl., Cambridge, MA 1975. Boeder, Heribert: „Access to the Wisdom of the First Epoch“, in: Seditions, 293 – 318. BG

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