Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428429080, 9783428029082


126 73 18MB

German Pages 160 [161] Year 1973

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Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428429080, 9783428029082

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MICHAEL KOHLER

Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 18

Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Von

Dr. Michael Köhler

DUNCKER &

HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1973 Dunelter & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1973 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3 428 02908 9

Vorwort In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Lehre vom Widerstandsrecht als Ausdruck eines historischen Konfliktes darzustellen, dessen Inhalte, Stadien und Lösung ihre charakteristische Entsprechung in der Theorie finden. Es ist mir in gleicher Weise Pflicht und Anliegen, Herrn Professor Dr. Götz Landwehr für die Anregung zu dieser Arbeit und für die stetige, überaus freundliche Förderung sehr herzlich zu danken. Michae~ Köh~er

Inhaltsverzeichnis

KapiteL 1: EinLeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Souveränität des Rechtsstaates und die Verdrängung der Kon-

11

fliktproblematik in der positivistischen Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . .

11

11. Problemstellung im Hinblick auf das heutige Denken zum Widerstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1. Abschnitt

Die revolutionäre Widerstandslehre an der Wende zum 19. Jahrhundert und ihre Kritik KapiteL 2: Die vorkantische NaturrechtsLehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gestalt der Widerstandslehre und ihre revolutionären Impli-

27 27

kationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. Vergleich mit der Selbsthilfeproblematik im Reichsstaatsrecht . . . . . .

34

KapiteL 3: Die Kritik eines objektiv-transzendentaLen Rechts zum Zwang seit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kants Verwerfung des Widerstandsrechts und Hegels Kritik jeglichen

transzendentalen Zwangsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39

II. NachkanUsehe Naturrechtier unter dem Eindruck der Gewaltrechtskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

2. Abschnitt

Die Restauration der vorkantischen Widerstandslehre in der konstitutionellen Staatslehre zur Zeit des Verfassungskonßiktes

57

KapiteL 4: Der Verfassungskampf aLs historischer Kontext der konstitutioneLLen Widerstandstehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

8

Inhaltsverzeichnis I. Repräsentativverfassung als Forderung der Zeit

57

II. Die Herrschaftsvertragstheorie und deren konkreter Zuschnitt auf

das konstitutionelle System: Die Widerstandsdoktrin bei Johann Ludwig Klüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

III. Der Konflikt mit der Reaktion seit Karlsbad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

KapiteL 5: Die konstitutioneHe WiderstandsLehre zwischen RevoLution und verfassungsmäßigem Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

I. Der Totalitätsanspruch des vernünftigen Rechts: Carl von Rotteck 71 II. Der Druck der Zeit auf liberale Staatsrechtsautoren in nicht-konsti-

tutionellen Staaten: Sylvester Jordan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

III. Die Begrenzung der Widerstandsproblematik auf den konterrevolutionären Umsturz konstitutioneller Verfassungen bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Johann Christian Freiherr von Aretin, Robert von Mohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 KapiteL 6: Alteres historisches Recht gegen neues historisches Recht: Der Verfassungskampf im Königreich Hannover und das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

I. Das Fortschreiten der konstitutionellen Revolution nach 1830 und der Umsturz in Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Die Gegenstände des Konflikts und die Argumentationsstruktur . . . .

91

III. Die Theorie vom verfassungsmäßigen Gehorsam zur Bewahrung der

Revolution vor dem konterrevolutionären Rückschlag als Endphase der bürgerlich-revolutionären Widerstandsdoktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

3. Abschnitt

Die Neutralisierung der überkommenen Konfliktpositionen im konstitutionellen PosiUvismus

105

Kapitel 7: Der konterrevolutionäre Positivismus des historischen Rechts 105

I. Die konterrevolutionäre Theorie der Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Souveränität des historischen Rechts und historischer Wandel bei Friedrich Carl von Savigny und Gustav Hugo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Kapitel 8: Die Übertragung des historischen Rechtsobjektivismus auf den konstitutionellen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Inhaltsverzeichnis I. Überblick

9 118

II. Friedrich Julius Stahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Friedrich Christoph Dahlmann, Wilhelm Eduard Albrecht ........ .. 125 IV. Romeo Maurenbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 V. Eduard Wippermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 VI. Friedrich Schmitthenner

138

Kapitel 9: Schluß ..... . .. ... ..... . . .. . . ... . . . .. . .. . . ........... . ....... 141 I. Der Verfassungsfrieden ... .. .................... . ... .. ..... . . . . .... 141 li. Der konstitutionelle Positivismus als Abstraktion des naturrechtliehen Vertragstheorems und seine Relativität .. . ............ . .... .. 144

III. Die neue Konfliktebene in der 2. Jahrhunderthälfte .. ... . .. .. ...... 146

Quellen und Literatur ........ .. ................. .. . . ... . ...... ... . . .. 151

Kapitell

Einleitung I. Die Souveränität des Rechtsstaates und die Verdrängung der Konfliktproblematik in der positivistischen Staatstheorie "Das Volk darf widerstehen, zwingen, absetzen, strafen: Alles nach dem Begriff eines Vertrages überhaupt", so faßt der Göttinger Naturrechtslehrer August Ludwig Schlözer in selbstbewußter Kürze die herrschende Überzeugung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, wenige Jahre nach Beginn der französischen Revolution, zusammen1 • Das Ergebnis des folgenden Jahrhunderts deutscher Theoriegeschichte lautet in zeitgenössischer Sicht: "Für das positive Recht ist ein Widerstandsrecht zweifellos zu verneinen und wird von unserer Rechtslehre unbedingt verneint". Dieser Satz findet sich in Kurt Wolzendorffs großer historischer Untersuchung aus dem Jahre 1916, die recht eigentlich auf die Legitimierung dieses Ergebnisses hin angelegt ist2 • Welche Bedeutung dieser offenbar in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts beschlossen liegenden Differenz für das Problem des ius resistendi, des Revolutionsrechtes, des Rechts zur Gewalt von unten oder wie sonst die Problembezeichnungen lauten mögen, zukommt, soll hier ergründet werden. Dazu bedarf es zunächst eines präzisierenden Blicks auf die von Wolzendorff in Bezuggenommene Rechtslehre und ihren Begründungszusammenhang. Dieser drängt sich bei Wolzendorff selbst schon auf und könnte pointiert als Apologie des konstitutionellen Rechtsstaates bezeichnet werden. Das Widerstandsrecht, so meint Wolzendorff, sei nur ein Notbehelf des Rechtsschutzes, der durch den Ausbau des Rechtsstaates überflüssig geworden sei. "Der Tod des Rechtsgedankens des Widerstandsrechts beruht auf der inneren Überwindung des staatlichen Dualismus3 ." Die organisatorischen Hauptelemente dieses Staates, die das Widerstandsproblem schlechthin erledigen sollen, sind: Die Gesetzgebung unter parlamentarischer Mitwirkung, das Prinzip des Gesetzes1

106.

Vgl. Schlözer: Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, S. 105,

2 Vgl. Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 458 ff., 463. Ähnlich S.458. 3 Wolzendorff, a .a.O., S. 485 ff., 487, 489, 491, 492.

12

Kapitell: Einleitung

vorrangs für die Exekutive und dessen letztliehe Sicherstellung durch eine unabhängige Justiz4 • Diesen genetischen Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und dem Gebot unbedingten Gehorsams, - von W olzendorff dargestellt und als Kern der historischen Entwicklung behauptet für die Periode seit dem noch unverfaßten ständischen Gemeinwesen, in dem Selbsthilfegewalt noch als zentrales positives Rechtsinstitut existierte-, hat schon Otto von Gierke hergestellt5 . Andere historische Arbeiten übernahmen diese These6 • Sie entspricht der ganz vorherrschenden Meinung in der deutschen Staatsrechtsdoktrin zumindest der zweiten Jahrhunderthälfte7 • In der Kampfschrift des liberalen kurhessischen Richters F. Pfeiffer aus dem Jahre 1851 zum hessischen Verfassungskonfiikt, an dem jener selbst aktiv teilgenommen und darüber seine Anstellung eingebüßt hatte, wird gegenüber einer ohne ständische Zustimmung erlassenen Steuerverordnung der Regierung ein Weigerungsrecht insbesondere der Unterbehörden geltend gemacht und bemerkt: "Ein zweifelloses Recht oder einen bestimmten Inhalt desselben in abstracto gibt es aber an sich nicht. Für die Anwendung desselben in concreto bestehen im Staate gewisse Organe, deren Ausspruche selbst die Staatsgewalt unterworfen ist. Die richterlichen Entscheidungen sind die einzige und letzte Quelle des Rechts für den einzelnen Fall. Die Staatsregierung, welche ihre individuelle Ansicht über das Urteil der Gerichte setzt, der Staatsbürger, welcher seine rechtliche Überzeugung dem Richterspruch vorzieht, legt Nichtachtung gegen das Recht selbst an den Tag8 ." Trotz des Bezuges auf einen fundamentalen Konflikt wird die Problematik der Weigerung also prinzipiell in eine individuelle Kollision des Bürgers mit der Staatsgewalt gewendet. Sodann wird für eine von der monarchischen Exekutive unabhängige, im Durchschnitt bürgerlich liberale Justiz der unbedingte Anspruch richtiger Konfliktlösung erhoben. Weigerung ist berechtigt, wenn der Richter dafür hält. Dieselbe Prämisse, freilich noch verbunden mit einer weiteren, kommt auch in einem Aufsatz Robert von Mohls aus diesen Jahren zum Ausdruck9: "Das Recht des einzelnen Bürgers auf bloß verfassungsmäßigen 4 Wolzendorff, a.a.O., S. 489--491. s Vgl. Otto von Gierke: Althusius, 6. Kap., S. 316. Ders.: Naturrecht und Deutsches Recht, S. 10. & Vgl. Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 239, 240 und, im Anschluß an Wolzendorff, Fehr: Das Widerstandsrecht, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 38. Band (1918), S. 1 ff., 34 ff., 37. 7 Vgl. aber auch heute etwa Krüger: Allgemeine Staatslehre, § 15, S. 200 ff. und § 38, S. 945 ff. s F. Pfeiffer: Der Verfassungsstreit in Kurhessen, in: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 13, Tübingen 1852, hrsgg. von Beseler, Reyscher, Wilda, S. 9 ff., 58, 59. Hervorhebungen vom

Autor selbst. 9 Vgl. Mohl: Ueber die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze, in: Staatsr.echt, Völkerrecht und Politik, Bd. 1, S. 94, 95.

I. Problemverdrängung in der positivistischen Theorie

13

Gehorsam", heißt es dort, "ist keineswegs gleichbedeutend mit einer.• Hechte, nach Belieben und ungestraft auch gültige Gesetze nicht zu befolgen, bloß weil er dieselben für ungültig hält oder dies wenigstens behauptet." Vielmehr bestehe gegenüber der unbefugten Weigerung die ganze Schwere der Zwangs- und Strafgewalt des Staates. Die Frage der Befugnis aber wird gültig im Strafprozeß gegen den Ungehorsamen entschieden. Hier kommt die weitere Dimension von Verfassung und Gesetz hinzu. Der in Verfassung und Gesetz formulierte übereinstimmende Wille von monarchischer Exekutive und Repräsentativkörperschaft kann wesensmäßig nur mit einem vereinzelten Bürgerwillen kollidieren. Es handelt sich dabei letztlich um ein Problern des Strafprozesses, in dem Verfassungs- und Gesetzeswillen, konkretisiert durch den Richter, absolute Richtigkeit gegenüber dem abweichenden Individualwillen zukommt. Diese Tendenz zur Begrenzung der Gehorsams- und Widerstandsfrage auf ein Problern individueller, justiziell lösbarer Kollision beherrscht den ganz überwiegenden Teil der Staatsrechtswerke, wo von verfassungsmäßigem Gehorsam und Widerstand die Rede ist, zurnal nach der Reichsgründung10 • Bei Carl Friedrich von Gerber kommt das Prinzip des "bloß verfassungsmäßigen Gehorsams" in einer kurzen Anmerkung zu einem Paragraphen vor, der sich bezeichnenderweise mit dem justiziellen Rechtsschutz befaßt: Als positivrechtliches Notwehrproblern11 • Die Widerstandsfrage erscheint sonach als aufgesogen durch den nach Gerber "Staatlichen Organismus", jene "Ordnung höherer Art" des konstitutionellen Rechtsstaates12 • Bei Gerbers Nachfolger Paul Laband13 klingt die Widerstandsproblematik nicht einmal in den Termini mehr an. Dies ist freilich allenthalben, wo nicht wie bei Wolzendorff in überhöhtem Optimismus die Lösung jeglicher Konfliktmöglichkeit behauptet wird, mehr ein Absehen von der fundamentalen Kollision zerbrechender Verfaßtheit, denn eine Bewältigung 1o So etwa Rönne: Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 408 ff. Grotejend: Staatsrecht, S. 471, 472. Zöpjl: Grundsätze des Allgemeinen und Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 282, S. 205 unter ausdrücklicher Rückverweisung auf Rechtsquellen und Publizisten des alten Reiches (dazu im folgenden) . Ebenso H. A. Zachariä: Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. 1, § 91, S. 433 ff. Ders.: Art. Gehorsam und Widerstand, in: Staatslexikon von Rotteck und Welcker, 3. Auflage, Bd. 6 (1862), S. 209 ff., 220, 221. Held: System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands .. ., Bd. 2, S. 593 mit der charakteristischen Auffassung, daß die konstitutionelle Verfassungsform zur Bewältigung jedes Konfliktes in der Lage sei. 11 Vgl. Gerber: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1. Auflage, § 62, S. 199 und in der Anm. 4. Ganz ebenso später Meyer: Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, § 224, S. 657 ff., 658, 659. Zorn: Staatsrecht des Deutschen Reiches, § 17, S. 275 ff., 276. 1l! Gerber, Einleitung, § 4, S. 7. Die Organismusauffassung hat er insbes. in der 3. Auflage, Beilage I, S. 217 ff. ausgeführt. 13 Vgl. zur Herkunft der streng "juristischen" Methode Gerbers: Wilhelm : Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 129 ff. Ebenso auch Jellinek: Allgemeine Staatslehre, S. 64.

14

Kapitell: Einleitung

der Problematik. Infolge der Reduktion des verfassungsmäßigen Gehorsams auf ein Problem individueller, bloß strafrechtlich relevanter Kollision, bleibt das alte Problem des aktiven Widerstandes, das ein Problem kollidierender Gruppen ist, entweder wie bei Gerber und Laband stillschweigend ausgeklammert oder es wird unter den Stichworten aktiver Widerstand, Volkswiderstand, Revolution selbständig erwähnt. Hierzu finden sich nun merkwürdig zwiespältige Antworten. Im Prinzip wird überall die Souveränität des konstitutionellen Staates betont. Kaum einer der Staatsrechtsautoren der zweiten Jahrhunderthälfte ist aber so kompromißlos wie H. A. Zachariä, der den konstitutionellen Absolutismus so formuliert: ,.Ein Recht zur Empörung des Volkes, zur Vertreibung und Entsetzung der Obrigkeit oder des regierenden Herren, um der bestehenden Mißregierung ein Ende zu machen, kann und darf niemals anerkannt werden, weil damit ein Richteramt der Untertanen über die Obrigkeit statuiert wird, welches dem Begriff und Wesen der Staatsordnung widerspricht14." Für einige Autoren, etwa Heinrich Zöpfl, Joseph Held, Georg Meyer, ist aktiver Widerstand, Revolution zwar Unrecht, dies aber in dem Sinne, daß der ganze fundamentale Konflikt ,.keine staatsrechtliche Frage" sein soll16• Das heißt: Es soll keiner Seite mehr ein Gewaltrecht zukommen, auch nicht etwa dem Staat die Souveränität, vielmehr wird die Zuteilung von Recht und Unrecht im Konflikt überhaupt unterlassen. Vom Standpunkt des positivistischen Rechtsbegriffs stellt sich der Konflikt somit als Zerfall des Rechtsstaates, als rechtlich nicht normierbare Gewaltepisode (,.Not kennt kein Gebot") dar. Wie damit der zunächst behauptete Vorrang des positiv-konstitutionellen Staatswillens vereinbar ist, bleibt unerörtert. Erscheint hier der Grundkonflikt gewissermaßen als außerrechtliches Naturereignis16, so suchen andere Autoren scheinbar eine andere Wertungsebene zu gewinnen. Bezeichnend ist hier Johann Caspar Bluntschli, der aktiven Widerstand bzw. Revolution als eine Problemeinheit ausführlich thematisiert. Im modernen - und das heißt im konstitutionellen- Staat sei zwar "im Prinzip" bewaffnete Selbsthilfe wider die Obrigkeit nicht erlaubt, "auch dann nicht, wenn diese unrechtmäßige Gewalt übt". Aber es gibt den Ausnahmefall einer Tyrannis, 14 Vgl. Heinrich Atbert Zachariä: Art. Gehorsam und Widerstand, in: Staatslexikon von Rotteck und Welcker, 3. Auflage, Bd. 6 (1862), S. 209 ff., 221. 15 Zöpft, § 280, S. 201. Hetd, S. 598 Anm. l, 595, 596. Ders.: Staat und Gesellschaft vom Standpunkte der Geschichte der Menschheit und des Staats, 3. Teil, S. 493 ff., 495, 500, 501. Meyer, § 91, S. 221 Anm. 1 zur Frage der gewaltsamen Absetzung des Monarchen: diese "bleibe für die staatsrechtliche Behandlung außer Betracht". 16 In diesem Sinne ganz bezeichnend der Anonymus G: Art. Revolution, in: Staatslexikon von Rotteck und Welcker, 3. Auflage, Bd. 12 (1865), S. 547 ff., 551: ,.formell rechtmäßig" sei eine Revolution nie, wohl aber "etwas naturgesetzlich Nothwendiges, Unvermeidliches ...".

I. Problemverdrängung in der positivistischen Theorie

15

angesichts derer man an der Grenze der Rechtsordnung angelangt sei und die Frage der Revolution - freilich eher als politische, denn als Rechtsfrage- sich stelle. Hier könne es dann ein Notrecht zu gewaltsamem Widerstand (Revolution) geben17 • Zunächst wird also die Souveränität des konstitutionellen Staates betont, dann aber die Möglichkeit eines Unrechtsurteils über diesen behauptet, dann wieder die ganze Konfliktproblematik außerhalb des Rechts gestellt, schließlich aber doch ein überpositiv-objektives Notrecht zu aktivem Widerstand bzw. Revolution postuliert. Auf der letztgenannten Linie liegen die Staatslehren von Max Seydel' 8 und Hermann Rehm19, eine gelegentliche Stellungnahme Otto von Gierkes20 und "Politik"-Werke von Georg Waitz21 bis zu Heinrich von Treitschke 22 : Ein Recht zu Widerstand bzw. Revolution gebe es nicht, wohl aber sei eine "politische", "moralische", "sittliche", "geschichtliche" Rechtfertigung denkbar23 • Nirgendwo findet sich ein Wort, wie diese Entgegensetzungen zu verstehen sind, in welchem Verhältnis dieser andere Maßstab zum Recht stehen soll. Ist auf eine irgendwie transzendental verankerte, höhere Ordnung abgehoben? Oder kollidieren gar deren zwei? Denn auch der konstitutionelle Organismus soll ja als eine Ordnung "höherer Art" legitimiert sein. Das ganz Unbewältigte der Konfliktfrage in dieser Literatur ist also nicht zu übersehen. Sowenig bei Bluntschli die dreifach verschiedene Beurteilung von Widerstand bzw. Revolution Klarheit signalisiert, sosehr stellt 17 Vgl. Btuntschli: Allgemeines Staatsrecht (1876), S. 664 ff., 669, 670, 672, 673, 674. Im wesentlichen schon ebenso ders.: Allgemeines Staatsrecht (1857), S. 528 ff. Vgl. außerdem ders.: Allgemeine Staatslehre (1875), S. 577, 578. Ders.: Art. Gehorsam und Widerstand, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 4 (1859), S. 80 ff., 89, 90. Ders.: Art. Revolution und Reform, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 8 (1864), S. 605 ff., 607 ("göttliches Gericht"). 18 Seydet: Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre, 1. Abschnitt, S. 9 ff.: "Das staatswidrige Handeln des Herrschers und die Revolution der Gesellschaft fallen beide aus den Grenzen des Rechts hinaus." (S. 9). Es gebe aber eine "sittliche Legitimation der Revolution". (S. 10, 11). 19 Rehm: Allgemeine Staatslehre, S.153: ggf. "politische" Rechtfertigung einer Staatsumwälzung. 2o Vgl. Otto von Gierke: Naturrecht und deutsches Recht, S. 10. 21 Waitz: Grundzüge der Politik, S.101 ff., 103, 104: Konstitutionalismus als sicheres Verfahren der Konfliktbewältigung. Revolution wird mit Gewalt und Unrecht gleichgesetzt. Allenfalls ihre "geschichtliche" Legitimation kommt in Betracht, "denn die Geschichte macht das Recht". Hottzendorff: Die Prinzipien der Politik, S. 128: juristisch gebe es niemals eine Rechtfertigung für Revolution, wohl aber "in Ausnahmefällen ... vom geschichtlichen und sittlichen Standpunkt ...". 22 Treitschke: Politik, Bd. 1, S. 191 ff., 195, 196, 198, 199. Bezeichnend auch ders.: Deutsche Geschichte, Bd. 4, 2. Abschnitt, S. 98, 99, wo bei Darstellung der konstitutionell-revolutionären Bewegung in Norddeutschland nach 1830, insbes. in Braunschweig, Revolution mit Rechtsbruch gleichgesetzt wird, unbeschadet einer gleich darauffolgenden Kennzeichnung des abgesetzten Herzogs als eines Winkeltyrannen (S. 99 ff.) . 23 Auch die gegenüber der positivistischen Staatstheorie so kritische Staatslehre HeUers macht sich diese Disjunktion zu eigen; vgl. S. 225, 226 ff.

16

Kapitell: Einleitung

sich das gleiche Schwanken in der Problemwertung letztlich auch bei den anderen genannten Autoren, nur verdeckt durch eine andere Terminologie, ein. Man verweist auf eine im Ausnahmefall irgend gültige andere Ordnung und bricht damit die Fragestellung als "außerrechtliche" ab. Aber auch das stillschweigende Übergehen oder kurzangebundene Ausklammern der Konfliktproblematik bei konsequenteren Positivisten wie Gerber, Laband, Meyer ist nicht eindeutig. Ist damit ein absolutes Recht der Staatsgewalt gegenüber einem Unrecht der Revolution bzw. des Widerstandes gemeint, oder versteht sich diese Haltung als echte Neutralität in dem Sinne, daß eine rechtliche Entscheidung des Konfliktes überhaupt abgelehnt wird? Diese Unklarheit vor dem Faktum des revolutionären Konfliktes läßt sich deutlich an Georg Jellinek und Hans Kelsen zeigen, bei denen beiden die Prävalenz der Staatsrechtsordnung unvermittelt in die Position des gänzlichen Ausklammerns umschlägt. Dabei sind die Widersprüche konkreter in Jellineks Staatslehre. Im Ausgangspunkt, der positivistischen Trennung von Sollen und Sein24, scheint er zwar von den bisher genannten strikten Positivisten sich nicht zu unterscheiden. Ein die Grundpositionen des positivistischen Rechtsbegriffs dem Ansatz nach durchbrechender Vermittlungsversuch von Sein und Sollen, der mit der berühmten Wendung von der normativen Kraft des Faktischen nur unzureichend bezeichnet wird, läßt jedoch das Konfliktproblem unvergleichlich mehr präsent werden, als dies bei den unmittelbaren Erben Gerbers und Labands der Fall ist. Wenn Jellinek seinen positiven Rechtsbegriff nicht im Zwang staatlicher Organisation, sondern primär in faktischer sozialer Geltung bzw. Richtigkeitsüberzeugung der Rechtsgenossen verankert25, so muß ganz selbstverständlich die Frage in den Blick kommen, die zumindest eine wesentliche Seite des Widerstandsproblems ausmacht: Ob denn ein Vorrecht zum Zwang gegenüber demjenigen, insbesondere gegenüber der Gruppe sich wird begründen lassen, die von der Richtigkeit einer Rechtsordnung in bestimmter Hinsicht nicht überzeugt ist und deshalb ihre Gültigkeit etwa durch Ungehorsam durchbricht. Jellinek wirft das Problem am Beispiel des Konfliktes zwischen der Inquisition und ihren Opfern zwar auf, schlägt sich allerdings im Ergebnis auf die Seite der Inquisition26 • Der Grundsatz des Positivismus, wonach der "bestehenden Rechtsordnung", was immer damit gemeint ist, ein Vorrecht zu zwingender Gewalt gegenüber Abweichung zukommen soll, behauptet sich also trotz einer gewissen Ambivalenz. In seinen Kernausführungen zum Revolutions24 25 28

Vgl. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 11. Kap., S. 332 ff. Jellinek, S. 333 ff. Jellinek, S. 334 Anm.l.

I. Problemverdrängung in der positivistiscllen Theorie

17

problern bezieht Jellinek dann freilich eine mit der Grundposition der Staatssouveränität ganz unvereinbare Stellung: "Die Tatsachen gewaltsamer Staatsumwälzungen durch die Herrscher oder die Beherrschten lassen sich aber am Maßstabe einer Rechtsordnung überhaupt nicht messen27." Letztlich zieht er sich also auf die andere Antwort der positivistischen Doktrin zurück: Das Ausklammern des Konfliktes. Derselbe Widerspruch, freilich abstrakter als bei J eUinek, findet sich schließlich bei Kelsen. Sein radikaler Positivismus identifiziert Staatswillen und Recht als reine Sollensordnung28• Wenn es somit nach Kelsen 29 das Wesen der positivistischen Staatslehre ist, gerade nicht "das Problem der Gerechtigkeit in den Kreis der Untersuchungen zu ziehen", sondern vielmehr den Unterschied von recht und gerecht hervorzuheben, wenn danach Recht ganz formal der durch die Staatsorganisation gesetzte und begriffswesentlich mit organisiertem Zwang verwirklichte menschliche Wille ist, wenn somit Staatsordnung und Rechtsordnung schlechthin identisch sind30 , dann gibt es das Widerstandsproblern notwendigerweise nicht als ein rechtliches: "Das Problem des Staatsunrechtes verschwindet als solches31 ," Revolution ist Unrecht32 • Gleichwohl soll das Recht des Staates aber nicht über die Revolution hinausreichen: Denn mit ihr soll eine "neue" Rechtsordnung die "alte" ablösen33 • Dieser Bruch, die Frage, wie es denn zugeht, daß aus dem vorherigen Unrecht Recht und aus dem vorherigen Recht Unrecht wird, bleibt strikt ausgeklammert. Der Konflikt ist staatsrechtlich schlechthin "Lücke"34• "Revolution ist Unrecht, geglückte Revolution wird Recht", heißt es kurzangebunden in einer Dissertation aus dem Jahre 193435• Jellinek, S. 356, 359. Zu diesem Axiom der Kelsenschen Lehre kritisch Fechner: Ideologie und Rechtspositivismus, in: Ideologie und Recht, S. 97 ff., 104 ff. 29 Vgl. Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, wo die Grundpositionen prägnant entwickelt werden. 30 Kelsen, S. 7 ff. Zur Identität von Staats- und Rechtsordnung, ders.: Allgemeine Staatslehre, § 5, S. 16 ff. und § 16, S. 76, 78, wo er auch treffend gegen die Inkonsequenz der herrschenden positivistischen Staatslehre mit ihrer Theorie von der "Selbstverpfiichtung" des Rechtssetzungssubjektes Staat polemisiert. 31 Kelsen: Allg~meine Staatslehre, § 16, S. 79. 32 Für Kelsen ist die Unrechtmäßigkeit selbstverständlich ein Begriffsmerkmal der Revolution. Vgl. etwa a .a.O. und § 22, S. 128; § 31, S. 213; § 46, S.338. 33 Kelsen, § 25, S. 148, 149. 34 So ausdrücklich Wolzendorff. S. 463. 35 Vgl. A. Pfeiffer: Der Gedanke des Widerstandsrechtes ... , S. 60, 61; Dissertation betreut von Prof. Dr. von Wrochem. Ähnlich auch die Entscheidung des Reichsgerichts vom 8. Juli 1920- III 53/20- RGZ 100, S. 2528: "Der durch die Umwälzung geschaffenen neuen Staatsgewalt kann die staatsrechtliche Anerkennung nicht versagt werden. Die Rechtswidrigkeit ihrer Begründung steht dem nicht entgegen ... " (S. 27). 27 2s

2 Köhler

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Kapitell: Einleitung II. Problemstellung im Hinblick auf das heutige Denken zum Widerstandsrecht

Die Betrachtung der positivistischen Doktrin zumal seit der Reichsgründungszeit zeigt also, daß das Problem des Rechts im fundamentalen Konflikt weniger bewältigt, denn im unklaren gelassen wird. Einerseits wird zwar ein Recht gegenüber dem souveränen Staat verneint, wenn nicht sogar wie bei W olzendorff ganz optimistisch das Problem als erledigt angesehen wird. Diese Antwort beruht auf der Apologie des konstitutionellen Rechtsstaates als schlechthin richtiger Ordnung. Andererseits wird, je mehr der fundamentale Konflikt ins Auge gefaßt wird (Jellinek), desto deutlicher diese so entschieden anmutende Stellungnahme allenthalben zurückgenommen, indem man entweder eine gänzlich undefinierte andere Normenordnung als Medium zu positiver Bewertung von Widerstand und Revolution bemüht oder die Zuteilung von Recht und Unrecht überhaupt verweigert. Diese Auskunft steht dann deutlich im Widerspruch zum eigenen Ansatz des Vorrechts des positiven Staatswillens. Carl Schmitt hat diese Verdrängung des fundamentalen Konflikts aus der Staatsrechtsdoktrin mit Hinblick auf das Souveränitätsproblem kritisiert36• Souveränität und Widerstand sind nun in Wahrheit nur zwei Seiten derselben Frage, ob nämlich in einem fundamentalen Konflikt ein Vorrecht einer Seite zu Zwang und Gewalt dargetan werden kann. Diese Konnexität ist in der Tradition von Thomas Hobbes bis ImmanueZ Kant durchgängig vorhanden: Der Fürstensouveränität eignet die Unwiderstehlichkeit, also die ausschließliche Gewaltbefugnis. Umgekehrt verbindet sich mit der Volkssouveränitätslehre die Vorstellung ausschließlicher und unbegrenzter Zwangsbefugnis des Subjektes "Volk": Unbegrenztes Recht zur Revolution. Insofern also Problemidentität besteht und die Souveränitätsfrage mit Fug und Recht auch als Frage nach dem Widerstandsrecht der Herrschaftsträger begriffen werden kann, trifft CarZ Schmitts Kritik auch die Verdrängung des Widerstandsproblems als einer unbewältigten Leerstelle. Es ist hier nicht das Anliegen, basierend auf dieser Kritik die Leerstelle durch den Versuch auszufüllen, ein Widerstandsrecht, was immer das heißen mag, zu begründen. Es soll vielmehr der theoriegeschichtlichen Genesis dieser Ratlosigkeit dem Konfliktproblem gegenüber nachgegangen werden. Dazu dient als Rahmenthese die nicht neue Erkenntnis, die auch hier schon angeklungen ist, daß das Ergebnis bzw. die Ergebnislosigkeit der positivistischen Staatslehre als Folge der Absolutsetzung einer bestimmten historischen Übereinkunft anzusehen ist. Insofern der Verfassungskonflikt zwischen ancien regime und as Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie, 1. Kap., S. 18-22. Zur Genesis dieser Verdrängung auch Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 487 ff.,

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11. Problemstellung und heutige Widerstandslehre

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Liberalismus zum konkreten Vertrag - Verfassung und Gesetz - führt, der dann zur objektiven Richtigkeit schlechthin überhöht wird37, bleibt sowohl der innerkonstitutionelle Konflikt wie jede nicht einbegriffene neue Bestimmtheit staatsrechtlich unerreichbar38 • Diese These soll hier historisch präzisiert werden. Dazu veranlaßt freilich ein durchaus kritisches Interesse im Hinblick auf die Problemstellung in der juristischen Theorie der Gegenwart zum Widerstandsrecht39• Diese ist gekennzeichnet einerseits durch eine Minderheit von Autoren, die im wesentlichen die referierte Position weiterführt40 , andererseits durch eine ganz überwiegende Mehrheit, welche der Naturrechtsrenaissance nach 1945 folgend im Rückgriff auf 37 Vgl. Heller: Staatslehre, S. 221. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 23, S. 439, 440. Ders.: Wandlungen im Bilde der historischen Schule, S. 18. Zur Schlüsselbedeutung des Gesetzesbegriffs Böckenförde: Gesetz und gesetzgebende Gewalt, insbes. S. 332. Zum naturrechtsähnlichen Dignitätsanspruch des konstitutionellen Positivismus vgl. schon Otto von Gierke: Labands Staatsrecht und die Deutsche Rechtswissenschaft, S. 95, 96. 38 Auf diesen Zusammenhang von "präsumierter Kongruenz von Recht und Gesetz" mit dem Ausschluß des Widerstandsrechtes hat CarlSchmitt: Legalität und Legitimität, S. 276, hingewiesen. 39 Die neueren Stellungnahmen zum Widerstandsrecht in Monographien insbes. mehreren Dissertationen -, Staatslehren, Rechtsphilosophien, Zeitschriftenaufsätzen sind kaum zu übersehen. Ein verläßliches Bild der Gesamtdiskussion läßt sich wohl vermittels der größeren- neuerdings auch durch die im Jahre 1968 erfolgte Aufnahme des Widerstandsrechts in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 Abs. 4) angeregten Arbeiten zum Thema gewinnen, von denen diejenigen von Beckmann, Scheidle, Fuglsang-Petersen, Arnot, Rene Schneider, Bertram, Rühe, ferner die in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, IV (1955), S. 630--688 nebst einem sehr umfassenden Literaturverzeichnis erschienenen Teilstücke einer Zürcher Dissertation von Daniel Roth: Zur Ideengeschichte und zum Begriff des Widerstandes gegen staatliche Unterdrückung, sowie die Arbeiten von Engelbrecht und Heyland erwähnt seien. Umfangreiches Literaturverzeichnis auch bei Arthur Kaufmann (Hrsg.): Widerstandsrecht 40 Vgl. etwa Krüger: Allgemeine Staatslehre, § 15, S. 200 ff. und § 38, S. 945 ff., wo die referierten Elemente der früheren Theorie sämtlich in Erscheinung treten: Widerstand und Revolution - als unterschiedliche Phänomene aufgefaßt - sind praktisch durch den modernen Staat, insbes. das parlamentarische System erledigt (S. 201). Wesentlich die gleiche Argumentation findet sich S. 947, nur daß hier nun die Möglichkeit eines Widerstandes als ultima ratio nicht gänzlich ausgeschlossen wird. Dann folgen aber wieder Wendungen, mit denen die praktische Erledigung des Fundamentalkonfliktes durch die Institutionen des modernen Staates behauptet wird. Vgl. ferner Hans Schneider: Widerstand im Rechtsstaat, S. 20, 22, der, unter Berufung auf die Tradition seit dem Heidelberger Gutachten zur Hannoverschen Verfassungsfrage (dazu vgl. im folgenden Kap. 7), den mit dem Widerstandsproblern angesprochenen Konflikt für nicht normierbar hält, also wohl die Frage aus dem Recht verweist. Andererseits macht er aber gegenüber dem Revolutionsrechtsanspruch der neomarxistischen Theorie (Herbert Marcuse) die Legitimität des auf dem Mehrheitswillen beruhenden parlamentarischen Systems geltend (S. 21). Ähnlich für die Nichtpositivierbarkeit des Widerstandsrechts, - dabei einerseits den fundamentalen Konflikt als nichtrechtlich verweisend, andererseits aber doch den Vorrang der positiven Rechtsordnung behauptend -, auch Doehring: Das Widerstandsrecht des

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Kapitell: Einleitung

vorkantische Lehren ein überpositives Widerstandsrecht behauptet41 • Betrachtet man die neuere Literatur, so überrascht nicht eigentlich der Umstand, daß die entgegengesetzten Positionen dasselbe verfassungspolitische Leitbild, nämlich den Verfassungsstaat der westlichen Tradition, zum Gegenstand haben42• Deshalb liegt der WiderstandskonGrundgesetzes und das überpositive Recht, in: Der Staat, Bd. 8 (1969), 432, 433, 437. 41 Unter Naturrecht wird hier jede Rechtsbehauptung für einen unabhängig von der staatlich verfaßten Willenseinheit konstituierten objektivtranszendental determiniert gedachten Willen verstanden. Vgl. etwa die Definition Max Webers: Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. VII (Rechtssoziologie), § 7, S. 497. Auf in diesem Sinne naturrechtliche Positionen lassen sich alle heutigen Begründungen eines Widerstandesrechtes unschwer zurückführen. Vgl. die Klassifizierung bei Fuglsang-Petersen, S. 23 ff., der vier Lösungsversuche unterscheidet: den theozentrisch-naturrechtlichen, den rationalnaturrechtliehen (ganz überwiegende Mehrzahl der Autoren), sowie einen staatsrechtlichen und einen axiomatisch-systematischen (ReneSchneider). Insofern diese Theorien alle den Fall eines Rechtes abweichend vom bzw. gegen den konkret-positiven Staatswillen ins Auge fassen, müssen sie sich notwendig auf Entscheidungsinhalte nicht-"positiver", d. h. nicht staatlich definierter Art berufen. Ein solcher Begründungsversuch, mag er sich auch "staatsrechtlich" nennen und sich auf "Werte der positiven Rechtsordnung selbst" zu stützen meinen, ist doch gleichwohl immer naturrechtlich, insofern für die eigene Auffassung dessen, was positive Rechtsordnung sei, höhere Würde über die andere behauptet wird. Ähnliches gilt für den Ansatz Rene Schneiders, den hier näher zu analysieren allerdings zu weit führen würde. Auch er postuliert letztlich unter bestimmten Umständen einen sog. ordnungserhaltenden Widerstand, der "rechtmäßig sein" müsse, "selbst wenn er sich in normwidriger Weise gegen die ordnungswidrigen Anordnungen der letztzuständigen Behörde richtet". (S. 44). Häufig wird das Widerstandsrecht auf höhere Normen gestützt, ohne daß deren Konstituierung näher ausgewiesen würde; so etwa bei Arnot, a.a.O., S. 59 ff., 61. Bertram: Widerstand und Revolution, S. 33, 42, 44. Ders.: Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, S. 40, 41, 42 ff. Rühe, S. 87 ff. Roth, S. 642 ff., 655. Fuglsang-Petersen, S. 62, der zwar die herkömmlichen Naturrechtslehren mangels Beweisbarkeit höchster Werte verwirft, dann aber doch ein Widerstandsrecht auf den Mehrheitswillen gründet, was freilich nicht weniger unbegründet ist als die sonstigen naturrechtliehen Vorrechtsbehauptungen. Vgl. ferner die naturrechtlichen Begründungsbehauptungen bei Peter Schneider: Widerstandsrecht und Rechtsstaat, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 89 (1964), S. 1 ff., 8, 9. Tsatsos: Zur Begründung des Widerstandsrechts, in: Der Staat, Bd. 1 (1962), S.l57 ff., 160, 166, 167 ff. Wertenbruch: Zur Rechtfertigung des Widerstandes, in: Festgabe für Ernst von Hippe! zu seinem 70. Geburtstag (1965), S. 318 ff., 320, 335 ff. Kriele: Rechtspositivismus und Naturrecht politisch beleuchtet, in: Juristische Schulung, 1969, S. 149 ff., 153. Schließlich seien an Rechtsphilosophien, die ein überpositives (naturrechtliches) Widerstandsrecht postulieren, beispielsweise genannt: Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 207 ff., 283 ff. Ryffel: Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 356 ff. Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, S. 279 ff. 42 Potentieller Schutzgegenstand sind bürgerliche Freiheit und Gleichheit sowie deren institutionelle Sicherungen nach dem traditionellen Verständnis. Vgl. etwa, in Wendung gegen die Totalitarismusgefahr, Bertram: Widerstand und Revolution, S. 43 ff. Rühe, S. 70, 71. Fuglsang-Petersen, S. 63. Arnot, S. 105. Wertenbruch, S. 323. Peter Schneider, S. 10, 11. Aus dieser inhaltlichen Festlegung gewinnt wohl auch die, mit der Ausnahme Arnots, durchgängige Differenzierung zwischen Widerstand ("konservierend") und Revolution ("verändernd") ihre Logik (dazu noch im folgenden).

s. 429 ff.,

li. Problemstellung und heutige Widerstandslehre

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traverse ein tiefgreifender Konflikt über die Verfaßtheit des Gemeinwesens, anders als regelmäßig in der Geschichte, auch gar nicht zugrunde43. Vielmehr ist die völlige Übereinkunft in der Fragestellung erstaunlich: Gibt es in einem hypothetischen Verfassungskonflikt ein Widerstands- bzw. Revolutionsrecht, ja oder nein? Diese Frage unterstellt schon die Möglichkeit ihrer Entscheidbarkeit, die Möglichkeit sinnvoll zu sagen, diese Gruppe (Konfliktpartei) zwinge und überwältige mit Recht, jene mit Unrecht. Ebenso stimmen denn auch die Antworten auf die Widerstandsfrage darin überein, daß der einen Seite, - bejahendenfalls: der Widerstand leistenden Gruppe, verneinendenfalls: den Trägern der Staatsgewalt -, ein Zwangsgewaltrecht über die je andere zuerkannt wird. Der als einlösbar vorausgesetzte hohe Anspruch auf objektive Entscheidbarkeit des Konfliktes bleibt dagegen unbefragt. Die vorgängige Frage, was denn überhaupt Zwang und Gewalt mit Recht zu tun haben, in welchem Sinne einsehbar von einem Recht zu Zwang und Gewalt gesprochen werden kann, wird nicht gestellt. Diese Restauration der überkommenen positivistischen Position einerseits, der alten naturrechtliehen Lehre andererseits kann durch eine Rückbesinnung auf theoriegeschichtliche Bedingtheiten vielleicht relativiert werden. Die weitere, freilich über den Rahmen dieser Arbeit hinausführende These ist, daß der objektivistische Anspruch, irgendeinem Willenssubjekt, - "Fürst", "Volk", "Arbeiterklasse", "Staat", "Mehrheit"-, könne in einem objektiven Sinne ein ausschließliches Gewaltrecht über den Konfliktgegner zustehen, wie dies jede Widerstands- bzw. Souveränitätslehre für sich in Anspruch zu nehmen geneigt ist, uneirrlösbar bleiben muß44. Die bisher als unproblematisch verwendeten Kategorien - Widerstand, Revolution, Staat usw. -sind in Wahrheit zur Erfassung eines historisch identischen Problems recht problematisch. So meinen die Begriffe Staat und Staatsgewalt ein historisch spezifisches Phänomen4·\ sind also auch in der Widerstandsfrage nur um den Preis von Problem43 Anders freilich das Verhältnis zur (neo-)marxistischen revolutionären Widerstandslehre. Vgl. etwa Herbert Marcuse : Repressive Toleranz, in: Kritik der reinen Toleranz, S . 91 ff., 127, wo, freilich mit anderem politischsozialem Inhalt, aber mit gleichem objektiven Richtigkeitsanspruch wie in der referierten Widerstandslehre ein Widerstandsrecht unterdrückter Minderheiten postuliert wird. 44 Vgl. Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 336: " ... jeder Wertglaube" sei "vor dem Forum der Erkenntniskritik ein Köhlerglaube ... " 45 Vgl. die ganz herrschende Auffassung, die den neuzeitlichen Staat gegenüber den vorherigen sozialen Gebilden scharf abgrenzt. Vgl. etwa HeLler: Staatslehre, S. 125 ff. Krüger: Allgemeine Staatslehre, §§ 1 ff., S. 2 ff. Zur strukturellen Genesis zusammenfassend Brunner: Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, nun in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 ff., 122, 123.

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Kapitell: Einleitung

verzerrungen reprojizierbar46 • Das Mittelalter kennt wohl die Fragen der Bekämpfung, Absetzung, Tötung des Stammeskönigs47 : Die Begrifflichkeit von "Widerstand gegen die Staatsgewalt" wäre dafür freilich ganz unangemessen. Es soll daher um der Vermeidung von Problemverzerrungen willen kurz versucht werden, sich über den historischen Gegenstand und über die Relativität gängiger Begriffe zu verständigen. Mit dem Widerstandsproblem ist zunächst im weitesten Sinne angesprochen das Faktum des Konfliktes in menschlicher Sozialbeziehung und sodann die Frage gestellt, was man diesbezüglich mit Recht und Unrecht meinen kann. Das Konfliktverhalten ist beschreibbar durch Einwirkungshandlungen wie Protest, Weigerung (Nichttun, Ungehorsam) und, was man gemeinhin mit Zwang und Gewalt meint, physischmechanische Einwirkung bis zur Existenzvernichtung48 • Alle Unterscheidungen haben wie die von aktivem und passivem Widerstand, Absetzung usw. beschreibende, die Faktizität des Konfliktes aufspaltende Bedeutung. Manche begriffliche Festlegungen geben sich freilich als unterschiedliche Konfiiktphänomene, sind aber in Wahrheit Unterscheidungen auf anderer Ebene. Das gilt etwa für die heute ganz durchgängig festgehaltene Unterscheidung zwischen Widerstand und Revolution49 • Als unterschiedliche Phänomene in bezug auf Kampfformen werden sie zwar nirgendwo ernstlich behauptet: Daß Weigerung, physische Gewalt, gegebenenfalls Existenzvernichtung ihnen in gleicher Weise eignen können, wird nicht bezweifelt. Auch darin, daß dabei typischerweise Gruppen von Menschen miteinander in Konflikt geraten, besteht Übereinstimmung. Die Unterscheidung ist denn auch vielmehr inhaltlicher Natur und orientiert sich an den je verschiedenen Konfliktgruppen und ihren Ordnungsvorstellungen, Kampfzielen. Das drückt sich etwa in der gängigen Formel aus, Widerstand sei auf die Wahrung 46 Zum Problem der heutige Begriffe reprojizierenden Erfassung der Geschichte vgl. Heller, S. 125, 126. 47 Vgl. zum germanischen "Widerstandsrecht" vor allem Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, insbes. S. 145 ff. 48 Das Problem der Begriffe Zwang und Gewalt, ihres Verhältnisses zueinander, der historischen Wandlung ihrer Inhalte ist ein Thema für sich. Angeführt sei nur die von Wertenbruch, S. 330, 331 ausgeführte Zuordnung, wonach ein Generalstreik, - sonst ganz überwiegend als Musterbeispiel des passiven, gewaltlosen Widerstandes angeführt -, als Gewalt anzusehen sei. Hinter dem gängigen Gewaltbegriff als einer besonderen, in sich konsistenten Konfliktverhaltensweise ("instrumentelle Gewalt") scheinen die Probleme erst zu beginnen. Vgl. etwa den ganz offenen, Zwang und Gewalt offenbar identifizierenden Begriff bei Hegel: Rechtsphilosophie, § 90, Sämtliche Werke Bd. 7, S. 147: "Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen d. h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt Anderer gebracht ..." werden. 49 Exemplarisch sind Titel und Aufbau der Arbeit von Bertram: Widerstand und Revolution. Eine Ausnahme bildet Arnot, der S. 2, 3 die Problemidentität betont. Auch für Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 207, 208 sind aktiver Widerstand und Revolution Synonyma.

II. Problemstellung und heutige Widerstandslehre

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eines bestehenden Verfassungszustandes gerichtet, Revolution auf dessen Veränderung. Nun büßt aber jedes historisch "bestehende" Verfassungsverhältnis, insofern es in Konflikt gerät, zunächst seine Existenz ein. Eine Verständigung erfolgt dann entweder auf alter oder regelmäßig auf veränderter Basis. Die Option für die überkommene Verfassung, ausgedrückt in der Formel: Widerstand ist Recht- Revolution Unrecht - 50, ist dann historisch gesehen lediglich eine Widerstandslehre, der andere zur Seite oder gegenüberstehen mögen. Ein Blick auf die historische Vielfalt von Konfiiktgruppen, -inhalten und -zielen zeigt daher zumindest die Sinnlosigkeit einer Aufspaltung der Theoriegeschichte in Widerstandsrechtslehren einerseits, Revolutionsrechtslehren andererseits51 • Gerade auch für das 19. Jahrhundert hat die Unterscheidung Widerstand-Revolution nur sehr bedingte Wahrheit, worauf noch einzugehen sein wird. Historisch relativ ist auch der heute als Oberbegriff des Problemkomplexes verwendete Begrüf Widerstand selbst. Es ist kaum zufällig, daß nicht die Begriffe Gewaltrecht, Kriegsrecht oder ähnliche zum Oberbegriff einer ganzen Lehre avancierten, sondern eben der Begriff Widerstandsrecht. Gewiß spielte für die Durchsetzung des Wortes "resistere" die schon im Mittelalter (Investiturstreit) bis in die Neuzeit (Luther) bedeutsame theologisch-politische Diskussion um die berühmte Stelle im Römerbrief des Apostels Paulus eine Rolle52 • Doch wäre diese Kontroverse wohl nicht von so weitreichender Wirkung gewesen, wenn nicht mit "resistere" auf ein ganz spezifisch strukturiertes Herrschaftsund Konfliktverhältnis abgehoben wäre: Ein Verhältnis primär einseitiger Einwirkung, die nur ausnahmsweise durchbrachen wird. Das so Vgl. die ganz h. M. der heutigen juristischen Widerstandslehre: Bertram, S. 38, 66, 72. Ders.: Widerstandsrecht, S. 43 ff., 90. Engelbrecht, S. 42. Rene Schneider, S. 31. Sladeczek: Zum konstitutionellen Problem des Widerstandes, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 43 (1957), S. 367 ff., 370 u. a. m. Insoweit besteht also Übereinstimmung mit der Minderheit, die jegliches Handeln gegen den verfaßten Staatswillen für unrechtmäßig hält. Von nicht-juristischer Seite wird demgemäß auch das Kriterium des juristischen Revolutionsbegriffs in der Rechtswidrigkeit gesehen; vgl. etwa Theodor Geiger: Art. Revolution, in: Handwörterbuch der Soziologie, hrsgg. von Vierkandt, S. 511 ff., 512. 51 Die historischen Arbeiten etwa von Wolzendorff, Kern, A. Grass machen ohnehin keinen Unterschied: die historischen Widerstandslehren werden unbefangen in bezug auf historische Konflikte erörtert, deren Bezeichnung als (englische, französische) Revolution unumstritten ist. - Auch Geiger, S. 511 ff. und Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, S. 2, 3 sehen keinen Unterschied in den Phänomenen, sondern - so Griewank - allenfalls im Selbstverständnis der Akteure. Ebenso Habermas: Naturrecht und Revolution, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, S. 160. 52 Vgl. dazu Kern, S. 175 ff., 189 zur Wandlung der Märthyrerüberlieferung in den Kämpfen der mittelalterlichen Kirche mit den deutschen Kaisern. Scharffenorth: Römer 13 in der Geschichte des politischen Denkens, S. 54 ff., 85 ff. zur Argumentation Luthers mit Römer 13.

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Kapitell: Einleitung

beim Apostel Paulus mit Hinblick auf den römischen Kaiserstaat bezeichnete Verhältnis von imperium und Untertanschaft, dessen Aufhebung (resistere) als problematische Ausnahme erscheint53, spiegelt also eine bestimmte Gruppenorganisation wider, die im mittel- und westeuropäischen Raum erst mit der Wende zur Neuzeit Realität gewann: Der moderne Staat als territorial-einheitlicher, apparativ organisierter Träger eines faktischen Monopols physisch-mechanischen Zwangs54 • So unzulänglich begriffliche Festlegung angesichts der Komplexität des historischen Vorganges bleiben muß, so sehr ist doch die Tendenz hervorzuheben, die eine allmähliche tatsächliche Verdrängung privater Rechtsdurchsetzung mittels physischer Gewalt (Fehde-Institut) zugunsten einer dritten Schlichtungs- und Zwangsinstanz beinhaltet. Im Hinblick auf dieses neue Verhältnis zwischen Territorialherren und Untertanen setzt sich bei den Monarchomachen55, bei Johannes Althusius56, bei Hugo Grotius, Thomas Hobbes57 "resistere" als Schlüsselbegriff im Gegensatz zu imperium und Gehorsam durch, wohingegen das Wort früher allenfalls gleichwertig neben vielen anderen Kampfbezeichnungen fungierte 58 • In Grotius' "De iure belli ac pacis" tritt der begriffliche Zusammenhang recht klar hervor. Grotius thematisiert darin ja zunächst ganz allgemein die Frage des Verhältnisses von Gewalt (bellum) und Recht59 • In diesem Rahmen stellt sich als Spezialproblem sodann die Frage, "an aut privatis aut publicis personis bellum gerere liceat in eos quorum imperio sive summo sive minori subsunt?" 60 • Hier nun läßt Grotius den Oberbegriff bellum fallen und verwendet für das Konfliktverhältnis zwischenimperiumund Untertanen durchgängig die Worte resistere, ius resistendi. Bei diesem Sprachgebrauch bleibt es auch 53 Vgl. die charakteristische Gegenüberstellung von prinzipieller, göttlich gefügter Unterworfenheit einerseits und Widersetzung andererseits im Römerbrief 13, 1 und 2 des Apostels Paulus. Zum frühchristlichen Denken Stüttler: Das Widerstandsrecht im Altertum und im frühen Christentum, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 51 (1965), S. 495 ff., 518 ff. 54 Vgl. oben Anm. 45. 55 Vgl. Stephanus Iunius Brutus (Pseudon.): Vindiciae contra tyrannos, S. 2, wo die Problematik mit den folgenden quaestiones aufgeworfen wird: "I An subditi teneantur, aut debeant principibus obedire, si quid contra legem Dei imperent. II An liceat resistere Principi, legem Dei abrogare volenti ... etc." (Hervorhebungen vom Verf.). 56 Vgl. Althusius: Politica, Cap. XXXVIII ("De tyrannide eiusque remediis"), 29, 45, 46, 63 u. a. 57 Vgl. Hobbes: De cive, Cap. V, 7, 11, Opera Bd. 2, S. 213, 215. 58 Vgl. für das frühe Mittelalter Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 145 ff. und Anhang XVIII, S. 317 ff.: die Terminologie bewegt sich in Begriffen wie surgere, revellare, de regno proturbare, de regno privare, deponere, avertere etc. Eine bei Kern, a.a.O., S. 320 zitierte altschwedische Rechtsquelle meint kurz und drastisch: "Die Svear haben den König zu wählen und auch davonzujagen." Auch Luthers Sprachgebrauch ist noch sehr gemischt; vgl. Scharffenorth, S. 54 ff., 85 ff. 59 Grotius: De iure belli ac pacis, Lib. I, Cap. I, § 2,1. &o Grotius, a.a.O., Lib. I, Cap. IV, § 1,2.

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in der Folgezeit61 • So gesehen ist die neuzeitliche Widerstandsproblematik auf den Konflikt im Staat eingeschränkt. Wenn man dabei einerseits von Volk, Minderheit o. a. und andererseits von Staatsgewalt als den Konfliktparteien spricht, dann sind vernünftigerweise immer in sich spezifisch verfaßte Gruppen gemeint, wobei eine Gruppe über den Staatsapparat oder Teile davon verfügt. Die herkömmliche Problembegrenzung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Frage, in welchem Sinne von einem Recht zu Zwang und Gewalt gesprochen werden kann, sich prinzipiell in gleicher Weise stellt, gleichgültig, ob Individuen in Konflikt geraten, Gruppen einer bisherigen staatlichen Verfaßtheit miteinander kollidieren (herkömmliches Widerstandsproblem) oder staatlich verfaßte Völker sich bekämpfen (Problem des Rechtes zum Krieg). In Wirklichkeit ist die Grenze fließend. Darauf weist nicht nur die Wortbildung Bürgerkrieg hin. Auch die Erfassung im Rechtsdenken weist Parallelen auf. Auf die umfassende Problemstellung bei Grotius wurde schon hingewiesen. Auch Kant parallelisiert das Problem von Frieden und Konflikt zwischen Völkern und seine Lösung ausdrücklich mit der innerstaatlichen Verfassungsproblematik62 • In der neueren Völkerrechtslehre findet sich zum Problem des Rechtes zum Kriege - als Hinweis auf bestehende Parallelität - dieselbe Auskunft wie in der positivistischen Staatstheorie zum Widerstands- und Revolutionsproblem: Die Frage sei rechtlich nicht entscheidbar63 . Das Bisherige erlaubt die Formulierung eines Rahmens von Phänomenen, auf den hinzusehen ist, wenn vom Widerstandsproblem gesprochen wird: Vorgestellt wird ein Konflikt von spezifisch staatlich verfaßten Gruppen über die Ordnung des sich-zueinander-Verhaltens. Man kann auch sagen, daß wechselseitig voneinander abhängige Freiheiten im weiteren Sinne in Frage stehen. Weiter ist das Stadium eines Konfliktes gemeint, in dem bei der Suche nach Verständigung friedliche Formen der Einwirkung verlassen und stattdessen zur Herbeiführung eines Zustandes des "Einig-seins" Kampfhandlungen ergriffen werden, die bis zur physischen Existenzvernichtung reichen. Für solche Konflikte ist es übrigens charakteristisch, daß beide Seiten ihren Freiheitsanspruch, ihre Vorstellung von Verfaßtheit für richtiger, besser, berechtigter als die entgegengesetzte halten und sich dementsprechend gegebenenfalls auch zu deren Überwältigung befugt glauben. Dies ist ein subjektives Ver&1 Vgl. etwa Huber: De iure civitatis libri tres, Lib. I, Sectio IX, Cap. III, S. 316 ff. ("de iure resistendi tyrannis in exercitio"). Thomasius: Institutionum iurisprudentiae divinae libri tres, Lib. III, Cap. VI, § 119. Wolff: Institutiones iuris naturae et gentium, §§ 985, 1079. Achenwall: Prolegomena iuris naturalis, Lib. III, Sectio IV, § 204. 62 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, 2. Abschnitt, Werke Bd. 6, S. 203 ff. es So etwa Berber: Völkerrecht, Bd. 2 (Kriegsrecht), § 8, S. 27 ff., 31.

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Kapitell: Einleitung

hältnis zum Konflikt, das desto stärker ausgeprägt ist, je schärfer und unüberbrückbarer die Konfrontation erscheint. Daß es so ist, wird Parteibefangenheit, die typischerweise dazu neigt, den Gegner für heuchlerisch zu halten, allenfalls leugnen. Realisten haben sich diesen Umstand freilich nie verhehlt. So meint Johann Jakob Maser,- zutiefst vertraut mit den vielfältigen Streitigkeiten im alten Reich -, zu den Rechtskontroversen zur Zeit der Religionskonflikte: "Einer hält die Reichsstände, so sich dem Kayser entgegen gesezet, für Rebellen und Herren, die sich ihrem dem Kayser schuldigen Gehorsam hätten entziehen wollen. Gerade umgekehrt hält ein anderer diese Kaysere für Tyrannen, welche die Reichsstände hätten unterdrucken und sich einer ungebürlichen Macht über sie anmaßen wollen64 ." In demselben Sinne meint M. Adolphe Thiers, der Staatsmann und Historiker der französischen Revolution, ebenso pathetisch wie der Tiefe jenes revolutionären Konfliktes angemessen: "Ich habe mich abwechselnd persönlich in jegliche Lage gedacht, - wie ich, unter dem Strohdache geboren und von einem würdigen Ehrgeize beseelt, durch Taten erringen würde, was die stolze Anmaßung höherer Klassen mir widerrechtlich verweigert -. Oder- wie ich im Palaste auferzogen, uralter Vorrechte begünstigter Erbe, nur mit tiefem Schmerze auf einen Besitz verzichten möchte, welchen ich als mein rechtmäßiges Eigentum betrachte65." Damit,- mit der revolutionären Situation im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts und mit deren Spiegelung in der bürgerlichrevolutionären Widerstandslehre -, ist die Thematik dieser hauptsächlich auf das deutsche Naturrechtsdenken des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die folgende konstitutionelle Staatsrechtslehre begrenzten Rückbesinnung umrissen.

64 Vgl. Maser: Von der Landeshoheit der teutschen Reichsstände überhaupt, Kap. 2, § 7, in: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 14, S. 34, 35. 65 Thiers: Geschichte der französischen Revolution, Bd. 1, Einl., S. 2 (Hervorhebungen vom Verf.).

1. Abschnitt

Die revolutionäre Widerstandslehre an der Wende zum 19. Jahrhundert und ihre Kritik Kapitel2

Die vorkantische Naturrechtslehre I. Die Gestalt der Widerstandslehre und ihre revolutionären Implikationen Die Widerstandslehret hat in der deutschen naturrechtliehen Doktrin, soweit sie ein Recht zur Gewalt bejaht2 , an der Schwelle zur französischen Revolution folgende Begründung3 : Der Staat ist eine aus einem Vertrag aller einzelnen Subjekte entstehende Veranstaltung (pactum unionis civilis, Staatsvertrag). In Ansehung dieses wie auch des ausgestaltenden Organisationsvertrages 1 Zum folgenden grundlegend Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 95 ff. (seit den Monarchomachen). Otto von Gierke: Althusius, 2. Teil, 2. Kap., S. 76 ff. und 6. Kap., S. 264 ff., 285 ff. Gross: Der Streit um das Widerstandsrecht. Oesterreich: Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 137 ff. Näf: Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 7 (1949), S. 26 ff., 40 ff. Dennert: Ursprung und Begriff der Souveränität, S. 104 ff. 2 Diese auf die Monarchomaehen und Althusius zurückgehende, ein Widerstandsrecht bejahende naturrechtliche Theorie gewinnt in Deutschland erst im 18. Jahrhundert an Boden (Huber, Wolff, Achenwall, Hufeland, Schlözer). Eine andere Linie (Grotius, Pufendorf, Thomasius) schließt sich mehr an die absolutistische Tradition an ("potestas legibus soluta") und gesteht keinerlei "vis coactiva" gegen den Fürsten zu. Vgl. dazu Gierke: Althusius, S. 285 ff. und Maurenbrecher: Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, Einl. und S. 162 ff. Zur Literatursituation zeitgenössisch Schlözer: Allgemeines Staatsrecht, Einl., S. 91, 92, wie an der Universität Göttingen "unter dem Schutze der britischen George" angestellte Gelehrte (z. B. Achenwall) "sich gegen den deutschen dogmatischen Despotismus" zu stemmen begonnen hätten. s Exemplarisch bei Achenwall: Prolegomena iuris naturalis, Lib. III, §§ 91 ff. und §§ 200 ff. Während der französischen Revolution im wesentlichen ebenso Schlözer: Allgemeines Staatsrecht, S. 93 ff. Später wiederholt insbes. Feuerbach: Antihobbes, S. 9 ff. sehr prägnant diese Position (vgl. dazu im folgenden).

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Kapitel2: Die vorkantische Naturrechtslehre

(pactum ordinationis civilis) sind alle einzelnen frei und gleich4 • Getreu diesem Konstitutionsprinzip ruht Herrschaft im Staate (imperium civile) ursprünglich bei der sich selbst verfassenden Gesamtheit (populus, universi)5. Die Herrschaftsbefugnis kann aber durch Vertrag auf einzelne Subjekte übertragen werden. Dieser Herrschaftsvertrag (pactum subiectionis) zwischen Volk und Herrschaftsträger begründet eine gegenseitige Pfl.ichtenstellung: Des Imperiumsträgers "ad curandam salutem publicam", des Volkes zu gehorchen "in iis, quae (scil. rector civitatis) ad bonum publicum promovendum determinat" 6 • Überschreitet also der Herrscher die Zweckgrenze seiner Befugnis, so endet auch die Gehorsamspflicht des Volkes. Bei beharrlichem Mißbrauch des imperiums kann es zu gewaltsamem Widerstand, letztlich auch zur Absetzung des Tyrannen übergehen7 • Damit steht die deutsche Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts durchaus in der neuzeitlichen europäischen Tradition, wie sie besonders prägnant und wirksam etwa das Werk von John Locke repräsentiert, das freilich den weiterentwickelten Stand der englischen Verfassungsverhältnisse widerspiegelt8 • Diese Vertragslehre, die sich übrigens nicht im Sinne historischer Faktizität, sondern als Legitimitätsidee versteht9 , ist die Abstraktion Vgl. Achenwall, §§ 91-93. AchenwaH, §§ 94, 95. AchenwaH, §§ 101, 105, 107. Achenwall, § 204: "Populus igitur tyranno resistere eumque coercere potest, ut se abstineat a tyrannide, atque intra salutis publicae limites reducat regimen; vel in subsidium recedere potest a pacto subiectionis atque abdicare tyrannum, quod fit dethronisatione." s Vgl. John Locke: A Letter concerning Toleration, Works Vol. VI, S. 3-58, insbes. S. 41 ff. und ders.: Two Treatises of Government, Treat. II, Works Vol. V, S. 338 ff., insbes. Chap. 8, §§ 113, 115, S. 406 f.; Chap. 13, § 149, S. 426 f.; Chap. 18 ("Of Tyranny"), §§ 199 ff., S. 457 ff.; Chap. 19, §§ 211 ff., S. 464 ff. Im Toleranzbrief entwickelt Locke skizzenhaft eine Systematik bürgerlicher Freiheit: die Menschen haben während ihrer auf die Ewigkeit hin gerichteten zeitlichen Existenz äußerliche Bedürfnisse, benötigen deshalb die Sicherung eines äußeren Besitz-habens, - treten daher in ein Vertragsverhältnis allseitiger Zusicherung dieser äußeren Eigentumsfreiheit ein und beauftragen mit der Sorge dafür eine Regierung und insbesondere eine Legislative, denen eben dadurch auch ihre Kompetenzen und Grenzen bestimmt sind. Die in diesem System angelegte Möglichkeit des Konfliktes zwischen religösem Gewissen und Gesetzesgehorsam entscheidet Locke im Sinne des ersteren (S. 43: " ... for obedience is due in the first place to God, and afterwards to the laws"). - In der zweiten Abhandlung über die Regierung wird dieser Entwurf näher ausgearbeitet, erfährt dabei eine weitgehende Ablösung von der religiösen Motivation und wird - der fortgeschrittenen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Englands entsprechend - bis hin zu einem konkreten Verfassungsmodell entwickelt. 9 Vgl. Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, zuerst in: Berlinische Monatsschrift, September 1793, S. 201 ff., Werke Bd. 6, S. 125 ff., 153: " ... dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt) ... ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich) ... Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte 4 5 6 7

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eines historischen Konfliktes, sie impliziert eine neue Verfassungsvorstellung und ist, insofern sie deren gewaltsame Geltendmachung einschließt, revolutionär. Wohl alle Kernbegriffe dieses Vertragssystems sprengen den Rahmen der überkommenen Verfassung. Das gilt zunächst für die inhaltlichen Bestimmungen und Zwecke des Herrschaftsverhältnisses, die im Begriff des "bonum publicum" resümiert sind. Achenwall umschreibt die Herrschaftsaufgaben näher mit Hilfe, Schadensabwendung, Sicherheit, Vorsorge für Notwendigkeiten und Erleichterungen des Lebens, Meidung von Beschwernissen für die Untertanen, Gewährung von Schutz. Dies alles ist gedacht von der natürlichen Freiheit der freien und gleichen Individuen her, die eben nur um der besseren Beförderung ihres insbesondere ökonomischen Wohlergehens willen sich beschränken lassen, besser: sich selbst beschränken wollen10 • Dieses bürgerliche Autonomiedenken keimte im religiösen Selbstbestimmungsanspruch auf11 und erhielt dann von Locke seine spezifische Formulierung im Sinne der Eigentumsfreiheit12 , weshalb er als der Ideologe der bürgerlich-frühkapitalistischen Gesellschaft par excellence angesehen wird13• Dieses Denken enthält, sieht man es integriert mit dem Ver(praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können ..." 10 Vgl. bei Achenwall den Zusammenhang zwischen §§ 101-103 und §§ 106, 107. Gierke, S. 290 führt diese inhaltliche Beschränkung durch deduzierte stillschweigende Vertragsklauseln auf Althusius zurück. Tatsächlich enthalten Definition und ausführliche Beschreibung der Tyrannis bei Althusius alle auch später wirksamen Vorstellungen eines unregelmäßigen, willkürlichen und daher nicht zuletzt auch wirtschaftlich abträglichen Regimentes, das dem Bild der "iusta et recta administratio" zuwiderläuft. Vgl. Althusius: Politica, Cap. XXXVIII ("De tyrannide eiusque remediis"), Definition (1, 2) und Explikation (3-27). u Vgl. Oesterreich, S. 144, 145 über die Monarchomaehen und die Religionskonflikte, wo in der Gestalt des Vertrages religiösen Inhalts erstmalig der bürgerliche Selbstbeurteilungsanspruch über den Monarchen auftaucht. Vgl. auch Näf, S. 42. Die religiöse Seite ist freilich nicht isoliert zu sehen; sie hat selbst schon politische und ökonomische Implikationen. Dazu unvergleichlich treffend Schiller: Geschichte des Dreissigjährigen Krieges, 1. Buch, Werke in 3 Bänden, Bd. 2, München 1966, S. 41: "Wären es übrigens nur Meinungen gewesen, was die Gemüter trennte - wie gleichgültig hätte man dieser Trennung zugesehen! Aber an diesen Meinungen hingen Reichtümer, Würden und Rechte ..." 12 Vgl. John Locke: Two Treatises of Government, Treat. II, Chap. 5, §§ 25 ff., S. 352 ff. Auf diese Freiheit bezogen sind sowohl der Gesellschaftszustand bzw. seine Institutionen (zusammenfassend Chap. 9, §§ 123 ff., 124, 127, 131, S. 411 ff.), als auch die These vom Widerstands- bzw. Revolutionsrecht, das sich in erster Linie gegen einen Fürsten mit absolutistischen Bestrebungen, in zweiter Linie aber auch gegen eine ihre Schutzfunktion pervertierende, das "Vertrauen" der Bürger enttäuschende Legislative (Parlament) richtet; vgl. insbesondere Chap. 19, §§ 212 ff., S. 465 ff. und §§ 221 ff., S. 469 ff. Darstellungen der Widerstandslehre Lackes bei: Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 212 ff., 216; Dunn: The political thought of John Locke, S. 165 ff.; Seliger: The liberal politics of John Locke, S. 315 ff. 13 Vgl. Willms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, IV,

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tragsgedanken, die Vorstellung eines anderen Verfassungsverhältnisses zu den bisherigen ökonomischen und politischen Führungsgruppen. Diese neue Inhaltlichkeit war in den altständischen Territorialverfassungen, in den überkommenen Landständen, nicht oder nur zum Teil vertreten, insofern diese, wenn sie nicht überhaupt vom Absolutismus beiseite geschoben worden waren, allenfalls im Rahmen bestehender Privilegien wirksam wurden14. Diese Divergenz zeigt sich bei den Naturrechtslehrern an einer merkwürdigen Zweigleisigkeit. Als Herrschaftsgrenze wird nämlich von Ulrich Huber bis Christian Wolffund schließlich bis zu Gottfried Achenwall nicht nur das Naturrecht bezeichnet, vielmehr sollen auch die sogenannten Ieges fundamentales, also die Landesverträge, Landesvergleiche, die Herrschaftsbefugnis einschränken15. Darin ist also noch die ältere Front des Konfliktes der alten Landstände mit der aufsteigenden Landesherrlichkeit erhalten. Bei Huber stehen die Ieges fundamentales und ihre Verbindlichkeit für den Fürsten sogar noch klar im Vordergrund, - in klarer Abgrenzung gegen gemäßigt absolutistische Autoren, die die Beseitigung landständischer Verfassungen durch den Fürsten unter Umständen für berechtigt hielten16. Der Grund, den nun diese Autoren angeben ("salus publica"), ist derselbe, der einerseits die Allianz des Absolutismus mit dem Bürgertum erklärt, der aber andererseits auch nach neuen Herrschaftsgrenzen suchen läßt: Das Ungenügen der alten Verfassung. Bei Wolff und exemplarisch bei Achenwall stehen die aus der Menschennatur und der Vertragsaxiomatik hergeleiteten Schranken ganz klar an erster Stelle. Die Ieges fundamentales werden als Terminus zwar noch mitgeschleppt, dabei aber stillschweigend zu Verträgen zwischen Volk und Fürst uminterpretiert, was sie nie waren, und dadurch der naturrechtlichen Begrifflichkeit integriert17. In diesem Sinnwandel zeigt sich der gedankliche Übergang von der altständischen zur konstitutionellen Verfassung. Das altständische Verfassungsverhältnis wird so durch die S. 39 ff., 43 und Anm. 2, S. 211. Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 250 ff. Macpherson: The political theory of possessive individualism, S. 194 ff., 247 ff. 14 Vgl. Otto von Gierke: Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 801 ff. zum fortschreitenden Gewichtsverlust der altständischen Verfassung bis zum letzten Akt der Rheinbund-Periode. 1s Huber: De iure civitatis libri tres, Lib. I, Sectio III, Cap. V (,.De legibus fundamentalibus"), S. 84 ff. Dazu ausführlich Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht ..., S. 308 ff. Wolff: Institutiones iuris naturae et gentium, §§ 980, 984. Achenwall, §§ 105 ff., 109. 16 Dazu Otto von Gierke: Althusius, S. 287 ff. und ders.: Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 814, 815. 17 Vgl. Wolff, § 984, insbes. aber Achenwall, § 109, wo die leges fundamentales als "populum et imperantem civilem mutuo" verpflichtend definiert sind: es besteht also Identität mit dem zuvor deduzierten Herrschaftsvertrag, weshalb ein selbständiger Stellenwert der leges fundamentales gar nicht mehr auszumachen ist.

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Konstruktion neuer, nicht in ihm realisierter Bindungen (Naturrecht) zunächst überschritten, dann zurückgedrängt und förmlich aufgesogen1s. Auch der Begriff "Volk" negiert im Grunde die überkommene Verfassung. Bei den Monarchomaehen war darunter noch die in sich gegliederte universitas als ein vorgegebenes Subjekt verstanden worden19 • Demzufolge setzt das Vertragsdenken etwa in den "vindiciae contra tyrannos" auch erst mit dem Vertrag zwischen Gott, Volk und König ein, nicht schon mit einem Gesellschaftsvertrag freier und gleicher Subjekte20. Immerhin hatten diese Begriffe doch darin ihre Sprengkraft, daß dem selbständig in sich verfaßten Volk ein König gegenübergestellt wurde, der prinzioiell als nicht zugehörig, austauschbar erschien, ferner darin, daß letztlich das Volk als Gottes bevorzugter Partner angesehen wurde, dem in Religionsdingen ein Urteil über den König vorbehalten bleiben sollte21 • Doch richtete sich das nicht gegen die Fundamente der ständischen Struktur. Anders dagegen der Volksbegriff der Tradition seit Hobbes, den auch die deutsche Naturrechtslehre übernimmt. Er konstituiert sich aus den einzelnen je prinzipiell autonom (frei und gleich) gedachten Individuen mit ihrem "Recht auf alles" 22. Ob in der höheren Abstraktionsstufe wie etwa bei Hobbes oder in der konkreteren, die ökonomische Seite des aufsteigenden bürgerlichen Individualismus mehr betonenden Ausprägung der Theorie von Locke23, jedenfalls beinhaltet dieser Volksbegriff grundsätzlich die Negierung der bisherigen ständischen Schichtung und - mehr oder weniger expli18 Zum Zusammenhang zwischen der Durchsetzung des Absolutismus und der wachsenden Bedeutung seiner naturrechtliehen Rückbindung vgl. Brunner: Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 ff., 128. Otto von Gierke: Althusius, S. 289 ff. hat gezeigt, wie sich in dieser Linie der naturrechtliehen Doktrin das konstitutionelle Verfassungssystem vorprägt. Derselbe Sachverhalt deutet sich bei Wolzendorff, S. 323 ff., 326 ff. in dem Befund an, die Widerstandslehre ha:be sich seit Huber von ihren positivrechtlichen (altständischen) Grundlagen gelöst. Eben dieser inhaltliche Wandel macht sie zu einer revolutionären Theorie. 19 Vgl. Stephanus Iunius Brutus: Vindiciae contra tyrannos, S. 39, 40, 42, 43, wo immer von "universus populus", vom Volk als einer "universitas" die Rede ist, die von vorneherein "coniunctim, non divisim" sei. Dazu auch Otto von Gierke: Althusius, S. 76 ff., 84, 85. 2o Vindiciae, S. 42: " . . . duplex foedus ... inter Deum, Regemet populum." 21 Vindiciae, S. 44: Gott könne von beiden Vertragspartnern Einhaltung des Vertrages fordern "et eo quidem magis a populo quam a Rege, quo plures et difficiles labuntur, et magis solvendo sunt, quam unus". Aus dieser unterschiedlichen Wichtigkeit leitet der Autor die Befugnis des Volkes ab, über die Einhaltung des Vertrages seitens des Königs zu wachen. 22 Vgl. Hobbes: Leviathan, Pars I, Cap. XIV, Opera Band 3, S. 102. Dazu, - insbesondere zu der bei Hobbes implizierten gesellschaftlichen Realität der aufsteigenden Konkurrenzgesellschaft -, WiHms : Die Antwort des Leviathan, S. 96 ff., 98 ff., 116 ff. - Im Ausgangspunkt insoweit wie Hobbes Rousseau: Contrat social, Lib. I, Chap.l, S. 236 ("L'homme est ne libre"); Chap. 6, S. 243, 244; Chap. 8, S. 247. 23 Vgl. oben bei Anm. 12.

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zit - die Totalitätsbehauptung des dritten Standes unter polemischem Ausschluß der höheren Stände. Erst darin liegt der revolutionäre Bruch mit der alten Gesellschaft24 • Damit hängt nun auch der Vertragsgedanke eng zusammen, der die Struktur des Gemeinwesens und die Herrschaft eben nicht als etwas transzendent Vorgeprägtes auffaßt ("origo immediata majestatis a deo"), sondern als etwas Immanentes, durch die menschliche Subjektivität Vermitteltes begreift. Auch die Herrschaft eines Subjektes über das Volk versteht sich also nicht mehr von selbst. Vielmehr wird der Herrscher in Ansehung des Vertrages auf gleiche Ebene mit den Beherrschten gestellt. Natürlich ist, worauf Wolzendorff immer wieder hingewiesen hat, der Vertragsgedanke der Wirklichkeit ständischer pacta entnommen, der Vielfalt von Landesverträgen, Erbvergleichen, Wahlkapitulationen usw.25 • Das Entscheidende ist jedoch zum einen die "Verallgemeinerung der Vertragskategorie zum gesellschaftlichen Grundprinzip"u, zum anderen aber, daß der Vertragsgedanke mit anderem, aus der "Natur" des Menschen abgeleitetem Inhalt erfüllt wird, oder anders gewendet: Daß das Freiheitsinteresse des Bürgervolkes Vertragsanspruch erhebt. Allerdings gelangt die deutsche naturrechtliche Theorie nicht zu der Konsequenz, die Hobbes und Rousseau- insoweit übereinstimmend, wenngleich in den weiteren Folgerungen stark voneinander abweichend - aus dem individualistischen Ansatz gezogen haben: Nämlich der Negation des Unterwerfungsvertrages als einer beiderseitigen Verbindlichkeit (mutua obligatio) zwischen Volk und Herrscher überhaupt27 • Demgegenüber hält die deutsche naturrechtliche Theorie (Achenwall) eben doch noch an der Möglichkeit einer substantiellen Übertragung des imperium civile fest28 • Im Prinzip genauso wie schon bei den Monarchomaehen wird auf 24 Zum Denken vom autonomen Individuum her bei Hobbes als entscheidende Wende vgl. insbes. Winms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, S. 31 ff. Dennert, S. 108, 109 gegen Näf, S. 47. Zur Genesis des politischen Volksbegriffs noch Heller: Staatslehre, S. 158 ff. 25 Vgl. Wolzendorff, S. 55 ff., 177 ff. zu den Monarchomachen, deren wesentliche Wendung zu einem Widerstandsrecht neuer Inhaltlichkeit unterinterpretiert erscheint. 26 So Willms: Die Antwort des Leviathan, S. 118, 119, der mit Recht die Entsprechung zum Marktmodell hervorhebt. 27 Hobbes begreift die Herrschaftsbefugnis als schon mit dem Sozialvertrag konstituiert, und zwar absolut, unwiderruflich und ohne Verpflichtung gegenüber den Untertanen; vgl. Hobbes: Leviathan, Pars II, Cap. XVIII, Opera Bd. 3, S. 132 f., Cap. XXI, S. 161 f., sowie ders.: De cive, Cap. 6, Züf. 13, 20, Opera Bd. 2, S. 224 ff., 232 ff. Reversibel ist diese Überantwortung nur i. S. eines gänzlichen Rückfalls in den Naturzustand; vgl. Hobbes: Leviathan, Cap. XXI, S. 168 ff. Dazu Willms, S. 129 ff., 132 und Mayer-Tasch: Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht, S. 86 ff., 93 ff. - Demgegenüber denkt Rousseau die Regierungseinsetzung als unter der Souveränität des Gemeinwillens stehenden, jederzeit widerruflichen Auftrag; vgl. Rousseau: Cantrat social, Lib. II, Chap. 1, S. 249, 250; Lib. III, Chap. 16 ("Que l'institution du gouvernement n'est point un contrat"), S. 303, 304. 2s Achenwall, §§ 96, 97.

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eine objektiv vorgegebene Ordnung natürlicher (bei den Monarchomachen: göttlicher) Würde abgehoben, die beide Seiten gleichermaßen verpflichten und Herrschafts- wie Gehorsamsumfang definieren soll. Anders als bei Rousseau, der radikal von den einzelnen Bürgersubjekten her denkt und nur ihren Vertrag (Sozialvertrag) kennt, jedes Herrschaftsrecht aber verneint, bleibt den altenStänden zumindest in ihrer höchsten Verkörperung, dem Monarchen, doch noch ein Recht gleicher Vertragsstellung vorbehalten. Diese vermittelnde Position ist offensichtlich der Tribut, welcher der Wirklichkeit der in Deutschland noch bestehenden Herrschaftsverhältnisse gezollt wird. Freilich wird in dieser Herrschaftsvertragstheorie die revolutionäre Konsequenz, die sich aus dem individualistischen Ansatz eigentlich ergibt, nur scheinbar vermieden. Denn genau besehen erweist sich der Objektivismus des älteren Naturrechts, wie jeder Objektivismus, als eine uneingestanden bzw. unbewußt subjektivistisch-einseitige Position. Denn mit dem Gewaltrecht des Volkes gegen den Fürsten wird die zunächst zuerkannte gleiche Vertragsstellung doch wieder zurückgenommen. Es soll nämlich, so unterstellt ja die Herrschaftsvertragslehre, das Volk urteilen, ob der Herrscher das Recht wahrt, oder ob er die übertragene Herrschaft mißbraucht, ob er also die Bedingung der Herrschaftsübertragung "ad curandam salutem publicam" verletzt und zum Tyrannen wird und schließlich, ob und welche Sanktionen dagegen ergriffen werden sollen. Letztlich wird also doch einer Seite des angeblich gleichen Vertragsverhältnissesein Zwangsgewaltrecht über die andere zugestanden. Schon Thomasiu.s hat auf diesen Widerspruch hingewiesen, daß einerseits dem Fürsten die höchste Gewalt übertragen sein soll, andererseits aber dem Volk über deren Ausübung ein zwangsweise durchsetzbares Urteil soll vorbehalten bleiben: Die "summitas imperii" werde damit beseitigt29 • Das trifft vollkommen zu. Denn tatsächlich nimmt die Herrschaftsvertragstheorie mit ihrer Widerstandsrechtsfolge seit den Monarchomaehen den Vertrag als beiderseitige Verpflichtung eigentlich wieder zurück. Es bleibt letztlich, im objektivistischen Gewande und den Autoren selbst nicht bewußt, das Urteil des Volks über den Regenten, also die Volkssouveränität. Dieser unaufgelöste Widerspruch zum Vertragsansatz deutete sich bei einem hervorragenden Autor der Tradition- John Locke- schon darin an, daß er auf die Frage, wer denn in dem Konflikt zwischen Fürst bzw. Legislative und Volk Richter sein 29 Thomasius: Institutionum iurisprudentiae divinae libri tres, Lib. III, Cap. VI, § 29 (Staatsvertrag), § 31 (Herrschaftsvertrag); das "imperium in civitate" wird als summa potestas definiert, die von keinem Menschen abhängig sei (§§ 115, 116) und über den menschlichen Gesetzen stehe (§ 118). Zumutungen des Herrschers kann man nur ertragen oder sich ihrer durch Flucht entziehen (§ 119). Das monarchomachische ius resistendi wird folgerichtig als mit den Prämissen (der summitas imperii) unvereinbar abgelehnt

(§ 120).

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solle, nur eine zweideutige Antwort zu geben vermochte. Einesteils reklamierte er nämlich die Urteilsbefugnis und damit das Recht ausschließlich für das Volk. Anderenteils sollte aber mangels eines irdischen Gerichtes Gott der Richter sein, wobei unklar bleibt, ob damit auf ein Erfolgsurteil ("aller Ausgang ist ein Gottesurteil") oder auf die Entscheidung eines künftigen transzendenten Gerichtes verwiesen sein sollte30 • Bei Rousseau wird das dann eigentlich explizit, was das ältere Naturrecht überwiegend unbewußt schon impliziert: Ein selbständiges Recht zur Herrschaft über das Volk kann es nicht geben, im Gegenteil: dem Volk kommt die ausschließliche Gewaltbefugnis zu. Mit Recht wird später die konterrevolutionäre Kritik auch in Deutschland den Repräsentanten der konstitutionellen Staatslehre, die der Herrschaftsvertragstheorie anhängen, vorhalten, hinter ihren Unterscheidungen verberge sich nur die von Rousseau radikalisierte revolutionäre Doktrin. Wie nahe in der Tat die Lehre vom bedingten Herrschaftsvertrag und die Volkssouveränitätsdoktrin auf der Höhe der französischen Revolution einander kommen, beweist das Beispiel Schlözers. Seine bereits zitierte drastisch kurze Formulierung des ius resistendi31 klingt sehr wenig nach einem Vertragsrecht des Fürsten, obwohl auch er zuvor traditionsgemäß durch den Herrschaftsvertrag ein Herrscherrecht entstehen läßt32 • Die deutsche naturrechtliche Theorie vor Kant ist in ihrer mit der Gewaltsanktion verknüpften Begrifflichkeit also objektiv revolutionär. Sie ist sich dessen freilich nicht voll bewußt.

Il. Vergleich mit der Selbsthilfeproblematik im Reichsstaatsrecht Die revolutionäre Spengkraft der naturrechtliehen Widerstandslehre gegenüber der "bestehenden" altständischen Verfassung erweist sich 30 Vgl. einerseits John Locke: Two Treatises of Government, Treat. li, Chap. 19, §§ 240, 242, S. 483, 484, andererseits § 241, S. 484 ("God .. . alone is judge of the right"). Ebenso, - zwar ohne diesen Widerspruch, aber die Rechtsfrage auf Erden dann eigentlich unbeantwortet lassend -, im Toleranzbrief, S. 44. Die Widersprüchlichkeit folgt daraus, daß Locke im Ansatz nebeneinander einerseits Rechtsinhalte aus einem objektivistisch verstandenen Naturgesetz ableitet, andererseits durch Vertrag konstituiert sein läßt; vgl. besonders charakteristisch in der Eigentumslehre der zweiten Abhandlung über die Regierung, Treat. li, Chap. 5, §§ 25 ff., S. 352 ff. und §§ 36, 37, 45 ff., 50, s. 358 ff., 364 ff. 31 Vgl. Schlözer, oben Kap. 1, Anm. 1. 32 Schlözer: Allgemeines Staatsrecht, S. 97. Ganz unbefangen interpretiert Schlözer den Verlauf der Geschichte seit der Reformation bis zur französischen Revolution als einen Siegeszug des (scil. "allgemeinen", "natürlichen") Staatsrechts, als dessen ursprünglichste Doktrin er die Lehre vom ius resistendi apostrophiert. Demgemäß begrüßt er auch prinzipiell die französische Revolution, wenngleich er sich von ihren Exzessen distanziert: eine bei deutschen Intellektuellen der Revolutionszeit typische Haltung, die auch von Kant, Hegel, Schelling u. a. bekannt ist; vgl. Schlözer, S. 81 ff., 83 und 93.

li. Die Selbsthilfeproblematik im Reichsstaatsrecht

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nicht zuletzt an einem Blick auf die Reichsstaatsrechtslehre des 18. Jahrhunderts. Ohnehin ist das Nebeneinander zweier sich staatsrechtlich nennender Literaturen ein bemerkenswerter Indikator der Konfliktlage zwischen, wie es später heißt, "altem" und "neuem" Recht. Schon Eichhorn hat diesen Umstand hervorgehoben und konstatiert, daß der Anspruch des sogenannten naturrechtlichen, allgemeinen Staatsrechts auf vorrangige Geltung gegen das Bestehende gerichtet sei33 • Bedeutsamer ist aber sicherlich die fundamental auseinanderklaffende Begrifflichkeit. Ein in sich verfaßtes politisches Subjekt "Volk" ist den Reichskonstitutionen und Territorialverfassungen (Landesverträgen), die nur die ständisch-korporative Gliederung kennen, ebenso wie auch der Reichsstaatsrechtslehre gänzlich fremd34• Wenn von Untertanen die Rede ist, so regelmäßig als Inbegriff unverfaßter Individuen, und auch dies wesentlich nur negativ im Sinne von Pfiichtsubjekten, die sich des "Aufruhrs" zu enthalten haben35• Was den Vertragsbegriff angeht, so arbeitet man zwar mit vielen konkreten Verträgen (Landesverträgen, Erbvergleichen, Kapitulationen usw.). Die Vorstellung von Staats- und Herrschaftsvertrag als Totalkonstitutiva des Gemeinwesens überhaupt hat aber darin keine Stelle. Allerdings finden sich auch in Werken zum Reichsstaatsrecht viele Belege des Ungenügens der alten Verfassung gemessen an der Vorstellung bürgerlicher Freiheit und Sicherheit. Liest man darüber etwa die bitteren Bemerkungen in dem weitläufigen Werke Johann Jakob Mosers 36 , der selbst ein Opfer absolutistischer Willkür war, so wird jene Zweigleisigkeit der Literatur als Vorbote des Verfassungskonfiiktes begreiflich. Die Suche nach neuen Bindungen tritt charakteristisch hervor in einer kleinen Abhandlung eines Autors, bei dem alte Reichsrechtsdoktrin und "allgemeines" Staatsrecht eine Symbiose eingehen: Johann Stefan Pütter. In der Abhandlung mit dem programmatischen Titel "Von der Bestimmung, welche die Landeshoheit mit jeder anderen höchsten Gewalt gemein hat, daß sie nur zur gemeinen Wohlfahrt stattfindet" 37, erkennt er die Landeshoheit zwar vorbehaltlich der reichsrechtlichen Einschränkungen als höchste Gewalt 33 Eichhorn: Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 4. Teil, § 614, S. 636 ff., 647 ff. Vgl, auch die abwehrende Bemerkung Gönners: Deutsches Staatsrecht (1805), Ein!., S. 18, 19, das allgemeine Staatsrecht müsse als Kanon in Bearbeitung eines jeden positiven Staatsrechts gebraucht werden; man dürfe aber nur über das positiv gegebene räsonnieren, niemals aber das allgemeine Staatsrecht zur "Deräsonnierung" positiver Bestimmungen mißbrauchen. 34 Vgl. die Polemik Schlözers: Allgemeines Staatsrecht, S. 81 ff., 86 zum westfälischen Frieden: "In diesem Frieden war fast ganz allein von dem Verhältnis zwischen den deutschen Reichsständen und dem Kaiser die Rede: das deutsche Votk blieb meist dem Herkommen überlassen." 35 Vgl. im folgenden. 36 Moser: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 14, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt ..., Kap. 13, § 4, S. 250 ff. 37 In: Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, XIX, S. 317 ff.

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an. Gerade dann, meint er jedoch, sei es auch billig, eben die Bestimmungen sich gefallen zu lassen, welche nach Grundsätzen des allgemeinen Staats- und Völkerrechts einer jeden höchsten Gewalt überhaupt ihre Grenzen setze38 • Dieser über das Reichsstaatsrecht klar hinausweisenden einleitenden Position folgt eine Reflexion der Konfliktlage. Die Landeshoheit habe sich zur plenitudo potestatis aus dem Eigentum an Land und Leuten herausgebildet. Von alten Zeiten halte sich daher bei Fürsten und Grafen immer noch die Auffassung, daß sie (Eigentums-) Rechte aber keine Pflichten hätten39 • Demgegenüber hebt Pü.tter die Erwartung der Untertanen hervor, als Mitglieder des Staates behandelt zu werden. Die Pflichten zu Diensten und Abgaben einerseits, zur Förderung des gemeinen Wohls andererseits werden in ein Gegenseitigkeitsverhältnis gestellt40 • Dieser Vorstellung, die den naturrechtliehen Vertragsbegriffen sehr nahekommt, entspricht die Wirklichkeit nun weithin nicht. Geschildert wird vielmehr eine Überforderung der Untertanen und das heißt, wie der Kontext ergibt, des städtischen Bürgertums und der Bauern, mit vielerlei Abgaben um eines überzogenen Aufwandes willen ("Jagd, Hofstaat, Soldaten")41 • Dem landesherrlichen Bestreben, über Zölle, Münzprägung, Post usw. seine Einnahmen zu erhöhen, wird die entsprechende Einschränkung der Untertanen in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit gegenübergestellt'2 • Daran konkretisiert sich, was mit "Wohlfahrt des Landes" gemeint ist. Freilich gebe es, stellt Pü.tter fest, keine Reichsgesetze, die hier Maß und Ziel gäben. An dieser Stelle sprengt nun das Bedürfnis nach Rückbindung der Tendenz nach die überkommene Verfassung: "Aber die Natur der Sache spricht laut genug, daß auch keine Landeshoheit einen Reichsstand weiter, als zur Wohlfahrt seines Landes, berechtige", darüber hinaus sei der Landesherr im Unrecht43 • Konsequenzen für die Widerstandsfrage, also für die revolutionäre Geltendmachung dieses naturrechtlichen Freiheitsanspruches, werden freilich daraus nicht gezogen. Das Reichsstaatsrecht und seine Theorie kennen keinerlei Selbsthilfe von unten, seit ständische Einungs- und Fehdebefugnis von der sich ausbreitenden Landesherrlichkeit verdrängt wurden44 • Das spiegeln Reichsverfassung und Reichsstaatsrechtslehre deutlich wider. Repräsentativ dafür sei zunächst Moser angeführt, der die Frage in seinem

s. 319. s. 321, 322. 40 s. 323, 324. 41 s. 326-335. 38 39

s. 339-342. S. 336 (Hervorhebung vom Verf.). 44 Zur Entwicklung Otto von Gierke: Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 805 ff. und Atbrecht: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen Deutschen Staatsrechts, erstmals in: Göttingisehe gelehrte Anzeigen, September 1837, S. 1489 ff., zit. nach Neudruck, S. 12 ff., diebeideden Zusammenhang mit dem Funktionsverlust der landständischen Vertretung betonen. 4! 43

Il. Die Selbsthilfeproblematik im Reichsstaatsrecht

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monumentalen Werk "Neues Deutsches Staatsrecht" verschiedentlich erörtert. Gegenüber Akten ihrer Landesherren, die sie für Unrecht halten, steht den Untertanen, so Mosers Auffassung, nur der "Weg Rechtens" zu den Reichsgerichten offen, nicht aber Selbsthilfe. Moser ist zwar weit davon entfernt, die Landeshoheit der Reichsstände für unbeschränkt zu halten. Im Gegenteil beharrt er auf ihrer Beschränkung durch Verpflichtungen gegenüber Kaiser und Reich. Nur die reichskonstitutionsmäßige Ausübung der Landeshoheit sei rechtens. Dementsprechend sind die Untertanen nur zu "reichs- und landesverfassungsmäßigem Gehorsam" verpflichtet45 • Die so beschränkte Landeshoheit setzt Moser polemisch dem Souveränitätsbegriff entgegen, auf den sich zumal größere deutsche Länder, gestützt auf ihre Militär- und Beamtenapparate, zur Rechtfertigung ihrer absolutistischen Bestrebungen berufen46 • Was aber die Mittel gegenüber landesherrlichen Zumutungen angeht, so verweist Moser ausschließlich auf den justiziellen Rechtsschutz, an dessen bescheidener Wirksamkeit, insbesondere gegenüber mächtigen Reichsständen er freilich keinen Zweifel läßt. Nur der Landesherr darf sich mit Selbsthilfe in seinen Rechten behaupten. Eine Zwangsgewalt aufseitender Untertanen wird dagegen ausnahmslos und entschieden als Empörung verworfen47 • Diese Auffassung ist 45 Vgl. Moser, S. 257. Ders.: Von der Landeshoheit in Ansehung der Unterthanen Personen und Vermögens, in: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 16, 8, Kap. 7, S. 67 ff., § 2, S. 68: nur der nach göttlichen Gesetzen und Reichsrecht "schuldige" Gehorsam ist geboten. Dazu wird der Württembergische Vergleich von 1770 angeführt, in dem sich die Formel vom reichsverfassungsmäßigen Gehorsam, den der Landesherr nur fordern dürfe, findet. 46 Vgl. Moser: Von der Landeshoheit ... überhaupt, Kap. 13, § 4, S. 250 ff., wo anhand von Beispielen (u. a. König Friedrich Wilhelm in Preußen) ausführlich der Zustand der Rechtsunsicherheit infolge absolutistischer Expansionsbestrebungen beschrieben wird. 47 Vgl. zunächst Moser, Kap. 19 ("Von dem Mißbrauch der Landeshoheit"), §§ 5, 6, S. 321, 322, wo der reichsjustizielle Rechtsschutz als einziges Mittel und zugleich dessen praktische Schwierigkeiten dargestellt werden. Eindeutiger wird das Selbsthilfeverbot für Untertanen, wenn einesteils das autonome Zwangsrecht des Landesherrn erörtert, anderenteils den Untertanen dagegen nur der Appell an die Reichsgerichte zugestanden wird; vgl. Kap. 21, S. 329 ff., § 7, S. 331. Die eindeutigsten Belege finden sich bei Moser: Von der Landeshoheit in Ansehung der Unterthanen Personen ..., Kap. 7, § 4, S. 70, 71: "Besonders aber kan . . . ein Herr von denen Unterthanen keinen Gehorsam verlangen, wann er ihnen etwas anbefiehlt, welches offenbar und unstreitig denen Landes=Verträgen und Freyheiten entgegen ist; wann also dieselbe in einem solchen Fall denen Befehlen des Regentens, oder seinen Nachgesetzten nicht gehorchen, sondern es geziemend verbitten, handeln sie nicht sträflich: Siehet aber der Landesherr, oder dessen Collegia, oder Beamte, sie dennoch deßwegen übel an; so mißbrauchen sie sich ihres Rechtes und Amtes, sie machen sich dadurch selbstne sträflich, und man kan an einem ReichsGerichte deßwegen klagen." Sich aber dagegen in Selbsthilfe . aufzulehnen, - Empörung -, ist jedenfalls unrechtmäßig; vgl. §§ 14 ff., S. 88 ff., § 16, S. 93. Ebenso äußert sich Moser in: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 13, Von der Teutschen Reichsstände Landen ... , 4. Buch, Kap.11, S. 1178 ff., 1180: "Denen Land-Ständen und Unterthanen hingegen

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Kapitel2: Die vorkantische Naturrechtslehre

wohl in der älteren Reichsstaatsrechtslehre einhellig gewesen48• Die Doktrin stützt sich dabei auf geschriebene Rechtsquellen, insbesondere auf die Reichskonstitutionen, die naturgemäß in dieser Frage die Auffassung ihrer Schöpfer, der alten Reichsstände und hier vorzüglich der Landesherren, wiedergeben. Die Selbsthilfefrage in den Reichskonstitutionen erscheint so als ein Spiegel der Entwicklung der Landesherrlichkeit. Gerade an der Selbsthilfefrage in den Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser zeigt sich die historische Verschiebung der Gewichte: Auf Territorialebene schwingt sich der Landesherr mehr und mehr zum faktisch alleinigen Träger physischer Zwangsgewalt auf und erhebt Anspruch auf Ausschluß jeder entgegenstehenden Gewalt49 •

(scil. im Gegensatz zu den Landesherren) ist die Selbst-Hülffe in denen Reichs=Constitutionen nirgendswo nachgelassen." Vgl. noch 5. Buch, Kap. 3, S. 1296 ff., 1354, 1355, wo die Möglichkeiten des justiziellen Rechtsschutzes - der "Weg Rechtens" - ausgebreitet werden, dann aber Selbsthilfe als verboten und strafbar bezeichnet wird. Vgl. schließlich noch 2. Buch, Kap. 15, § 36, S. 707, wo Moser im Zusammenhang mit der Frage des Bündnisrechtes der Landstände auch die Selbsthilfe erwähnt, "welche Land-ständen und Unterthanen niemalen kan noch wird gestattet werden". Kurz darauf folgt wiederum die Verweisung auf den "Weg Rechtens", den reichsgerichtliehen Rechtsschutz. 48 So Moser, 2. Buch, Kap. 15, § 36, S. 707, wenn er das Bündnisrecht der Landstände gegen den Landesherrn, das bis zur Wende 15./16. Jahrhundert häufig geübt wurde und naturgemäß praktische Voraussetzung für den Erfolg jeder Selbsthilfe war, für seine Zeit unter Berufung auf die "einstimmige Lehre aller Staats-Rechts-Lehrer" ablehnt. Die typische Entgegensetzung von Selbsthilferecht des Landesherrn und Verweisung der Untertanen auf reichsgerichtliehen Rechtsschutz findet sich etwa noch bei Pütter: Institutiones Iuris Publici Germanici, Lib. IV, Cap. III, § 199, S. 186 entspr. in: Ders.: Teutsches Staatsrecht, 4. Buch, 3. Hauptst., § 128, S. 94, 95. Ders.: Beyträge ... XVIII: Von den besonderen Bestimmungen der Landeshoheit sofern sie noch eine höhere Gewalt von Kaiser und Reich über sich hat, S. 299 ff., 301-305. Häberlin: Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1, 3. Buch, Kap. 1, § 117, S. 375. Leist: Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts, §§ 22 ff., s. 79, 81; §53, s. 162. 49 Die Landfrieden kennen nur die Stände als Pflichtsubjekte. Deren "Untertanen" erscheinen im Zusammenhang mit dem Selbsthilfeverbot wohl erstmals in der Wahlkapitulation Kaiser Karls V. von 1519, § 6, vor dem Hintergrund der sozialen Gärung unter der Bauernschaft. Text der Wahlkapitulation bei Zeumer: Quellensammlung, Nr. 180, S. 309 ff., 310. Die charakteristische Diskrepanz von Selbsthilferecht der (ggf. verbündeten) Reichsstände gegen aufrührerische Untertanen und Selbsthilfeverbot für diese unter Verweisung auf justiziellen Rechtsschutz gelangt zuerst in die Wahlkapitulation Kaiser Leopolds I. von 1658, Art. 15, § 8; Art. 19, §§ 6, 7 und von dort in die nur Entwurf gebliebene Beständige Wahlkapitulation von 1711. Vgl. bei Zeumer, Nr. 205, S. 474 ff. Moser: Von der Landeshoheit überhaupt, Kap. 21, § 2, S. 329 ff. Pütter: Institutiones ..., S. 186, 187.

I. Kant und Hegel

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Kapitel3

Die Kritik eines objektiv-transzendentalen Rechts zum Zwang seit Kant

I. Kants Verwerfung des Widerstandsrechtes und Hegels Kritik jeglichen transzendentalen Zwangsrechts Wenn man es, wie hier bisher geschehen, als revolutionär bezeichnet, daß eine historische Individualität, die bisher nicht oder nur partiell verfassungsmäßig begriffen war, auf eine institutionelle Berücksichgung Anspruch erhebt und sich erforderlichenfalls zur gewaltsamen Durchsetzung dieses Anspruchs für berechtigt hält, so ist die vorkantische deutsche naturrechtliche Doktrin eine revolutionäre Lehre1 • Freilich gelangt das eigentlich revolutionäre Prinzip, das radikale Ausgehen vom bürgerlichen Individuum, wie es Hobbes, Locke und Rousseau gedacht haben, in der vorkantischen deutschen Naturrechtslehre nicht zum vollen Selbstbewußtsein, insofern ihre Inhalte letztlich doch nicht als von der Subjektivität gesetzte, sondern als objektiv-transzendent vorgeprägte, natürliche (wie bei den Monarchomachen: göttliche) Gesetzlichkeiten begriffen werden. Das ändert sich eigentlich erst mit dem Ereignis der französischen Revolution, in der die bürgerlichen Subjekte unübersehbar als die selbstbewußt handelnden Träger geschichtlicher Veränderung erscheinen. In der deutschen Theorie entspricht dem die idealistische Philosophie Kants und Fichtes, die nach dem Vorgang von Hobbes und Rousseau die subjektivistisch-individualistische Axiomatik des Naturrechts zum Bewußtsein bringt2 • Zugleich wird aber das 1 Dieser Begriffsgebrauch setzt voraus, daß man gewaltsamen Konflikt als ein notwendiges Merkmal revolutionärer Veränderungen auffaßt; vgl. zu den Begriffen Geiger: Art. Revolution, in: Handwörterbuch der Soziologie, S. 511 ff., 512. Zum regelmäßig revolutionären Charakter von Naturrechtslehren vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 7, § 7, S. 497; doch gebe es, meint Weber, auch eine naturrechtliche Legitimation nichtrevolutionärer Art, z. B. das sehr einflußreiche "Naturrecht des historisch Gewordenen". - Dem ist zu folgen, insofern damit nicht ausgeschlossen ist, daß es sich dabei zumindest um eine konter-revolutionäre Theorie handelt. 2 Die in der positivistischen Literatur zu findende These von der Überwindung des Naturrechts durch Kant - vgl. etwa Wolzendorff, S. 421 -, ist nur halb zutref.fend. Kant und nach ihm F i chte haben vielmehr unter Beibehaltung der naturrechtliehen Axiome diese in der Durchführung radikalisiert; vgl. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts . .., zuerst in: Schellings und Hegels kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, Stück 2/3, 1802/03, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 1, S. 435 ff., 457, 458 ff. Hobbes und Rousseau gehen insofern voran, als sie vom isoliert freien Individuum des Naturzustandes ausgehen; vgl. die Gegenüberstellung von Hobbes, Rousseau, Kant bei Ebbinghaus: Das kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: Gesammelte Aufsätze .. ., S. 161 ff., 165 ff. Vgl. ferner die Parallelisierung des kantischen Autonomieprinzips mit der hobbesianischen

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

Ideologische der überkommenen Widerstandslehre und ganz allgemein das Fragwürdige jeglicher Inanspruchnahme eines Zwangsgewaltrechtes für eine historische Individualität über die andere offenbar. Das soll zunächst an Kants Reflexionen zur Widerstandsproblematik erläutert werden3• Ausgangspunkt Kants ist, wie vorher schon bei Hobbes und Rousseau, das je vereinzelte Gegenüberstehen von Individuen, ein Zustand prinzipieller Gewalttätigkeit mit dem unendlichen Recht eines jeden auf alles4 , ein Naturzustand "aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen . .. ". Dieses Verhältnis ist weiter dadurch definiert, daß sich im Konflikt der Individuen kein kompetenter Richter findet. Das zweite grundlegende Axiom ist nun die Behauptung einer Pflicht, in den eigentlich rechtlichen, bürgerlichen Zustand zu treten: "Man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten." Diese Pflicht, so stellt Kant klar, soll eine mit Gewalt erzwingbare sein5 • Aus diesen PrämisAxiomatik bei Willms: Die politischen Ideen von Hobbes bis HoTschi Minh,

s. 71.

Kant hat sich mehrfach zur Gehorsams- und Widerstandsfrage geäußert; ygl. Übersicht bei Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht, S. 58 ff. Die maßgeblichen Stellungnahmen finden sich in seinen Schriften: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, zuerst in: Berlinische Monatsschrift, September 1793, S. 201 ff., Werke, Bd. 6, S. 125 ff., 153 ff. sowie in: Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil: Rechtslehre, §§ 44 ff., 49 Allgemeine Anmerkung A, Werke, Bd. 4, S. 432 ff., 437 ff. Unbeschadet seiner grundsätzlich positiven Haltung gegenüber dem Ereignis der französischen Revolution - vgl. Vorländer: Kants Stellung zur französischen Revolution, in: Philosophische Abhandlungen H. Cohen ... dargebracht, S. 247 ff. - lehnt Kant in beiden Schriften e.i n Widerstandsrecht scharf ab, so daß seine Stellungnahme als eindeutig zu bezeichnen ist; vgl. Haensel, S. 60. Zur kantischen Widerstandslehre außer der Schrift Haensels noch Borries: Kant als Politiker, S. 169 ff., 174 ff. Dulckeit: Naturr·echt und positives Recht bei Kant, S. 53 ff. Henrich: Einleitung zu: Kant, Gentz, Rehberg: Über Theorie und Praxis, S. 25 ff. 4 Vgl. Hobbes: De cive, Cap. II, 2 ff., 10, Opera, Bd. 2, S. 157 ff., 164: "Natura dedit unicuique ius in omnia." Noch dezidierter in: Leviathan, Pars I, Cap. XIV, Opera, Bd. 3, S.102: "lus naturale est libertas, quam habet unusquisque potentia sua ad naturae suae conservationem suo arbitrio utendi, et per consequens illa omnia, quae. eo videbuntur tendere, faciendi." Vgl. Rousseau: Contrat social, Lib. I, Chap. 8, S. 247: "ce que l'homme perd par le contrat social, c'est sa liberte naturelle et un droit illimite a tout ce qui le tente et qu'il peut atteindre." s Kant: Die Metaphysik der Sitten, Recht~lehre, § 44, Werke Bd. 4, S. 430. 3

I. Kant und Hegel

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sen folgt mit Notwendigkeit alles weitere. Der Rechtszustand ist ein durch Zwang und Gewalt hergestellter und aufrechterhaltener. Es kann dies offenbar nicht jedermanns Zwang und Gewalt sein, da es sonst beim Naturzustand bliebe. Also muß ein Subjekt angegeben werden, dem die Zwangsbefugnis zur Sicherung des bürgerlichen Friedensverhältnisses zukommt. Dieses Subjekt ist bei Kant die bestehende Obrigkeit, sind die Menschen, die es bisher offenbar vermocht haben, den bürgerlichen Frieden zu garantieren. Daher konkretisiert sich die Pflicht, aus dem Naturzustand herauszutreten ("exeundum est e statu naturali"), dahin, "der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle", oder: "Alle Obrigkeit ist von Gott6." Kann also nur einem Willen die zwangsweise Organisation des bürgerlichen Verhältnisses zukommen- andernfalls Naturzustand - so bestehen diesem Willen, also der Obrigkeit gegenüber keine Rechte: "Der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-) Pflichten7 ." Dem Volk, dem Untertan steht nicht einmal ein rechtlich gültiges Urteil über die oberste Gewalt zu: "Denn, da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urteilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will(" Erst recht muß sich jede zwingende Aktion von unten verbieten. Es gibt keinen rechtmäßigen Widerstand, "also kein Recht des Aufstandes (seditio), ... des Aufruhrs (rebellio)" oder gar des Vorgehens gegen die Person des Monarchen, auch keine rechtmäßige gewaltsame Umgestaltung der Staatsverfassung (Revolution)9 • Die Begründung wiederholt die Prämisse: " ... nur durch Unterwerfung unter seinen (scil. des Oberhauptes) allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich", und in etwas anderer Wendung, daß "Widerstand wider die höchste Gesetzgebung niemals anders als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß". Mit dem Widerstandsrechtsanspruch mache sich das Volk in Wahrheit zum Souverän "über den .. . , dem es untertänig ist". Es löst "die Frage, wer denn in diesem Streit zwischen Volk und e Kant, § 49, Allg. Anm. A, S. 438. 1 Kant, S. 438. s Kant, S. 437. Zu diesem Ausschluß eines rechtlichen Urteils über den Herrscher steht in Widerspruch, daß Kant wenig später die Möglichkeit der Ungerechtigkeit des Herrschers unterstellt und dagegen zumindest Beschwerden zuläßt. Noch deutlicher in: Über den Gemeinspruch ..., S.161, wo er sich von Hobbes' Konsequenz zu distanzieren sucht: das Volk habe unverlierbare Rechte gegen das Staatsoberhaupt, wenn auch ohne Zwangs'charakter, die aber durch Protest ("Freiheit der Feder") geltend gemacht werden .dürften. 9 Kant: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, S.43.9: Widerstand fungiert als Oberbegriff für graduierte Formen der Aktion von unten.

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

Souverän Richter sein sollte" dahin, daß es sich selbst zum Richter aufwirft10• Das letzte Argument trifft die überkommene Lehre, die aus der Bedingtheit des Unterwerfungsvertrages bzw. aus der Zweckgebundenheit der Herrschaft die Widerstandsbefugnis folgert. Mit Recht macht Kant geltend, daß darin eine willkürliche Souveränitätsposition liegt: Richter in eigener Sache sein, steht hier für einseitiges, willkürliches Urteil, von dem nicht zu sehen ist, weshalb es für die Gegenseite Verbindlichkeit haben sollte. Warum Freiheit und Gleichheit nach bürgerlichem Verstande ein überwältigendes Vorrecht gegenüber anderer historischer Individualität, gegenüber anderer Verfassungsvorstellung zukommen soll, ist in der Tat nicht einzusehen. Diese Ideologiekritik an der durch Rousseau lediglich radikalisierten bürgerlich-revolutionären Widerstandslehre, die Kant erkennbar mit Blick auf den terreur formuliert, wird etwa nicht nur von Hegel, sondern gerade auch von konterrevolutionären, restaurativen Autoren aufgenommen11 • Freilich wird Kants Kritik einseitig, wenn sie dazu führt, nunmehr einem anderen historischen Subjekt - dem Monarchen - die ausschließliche Stellung des Richters in eigener Sache einzuräumen12• Das Richterargument muß konsequenterweise gegen jeden Souveränitätsanspruch, gegen jede Behauptung eines Vorrechts zu Zwang und Gewalt einer historischen Individualität gegen eine andere sich wenden: Auch die kantische "Obrigkeit von Gott" muß sich entgegnen lassen, im Streit mit dem "Volk", - dafür kann jede andere als in sich verfaßt gedachte Gruppe gesetzt werden -, wolle sie Richter in eigener Sache sein. Sie überhöhe also eine bestimmte Subjektivität zur jede andere historische Individualität ausschließenden Objektivität eines "göttlichen", "natürlichen", "historisch gewordenen" Rechtes. Die Inkonsequenz in der kantischen Argumentation wird wohl noch deutlicher an der entsprechenden Stelle in seinem Aufsatz: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis." Vom Konflikt zwischen Volk und Staatsoberhaupt heißt es dort einerseits: "Wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von beiden kann es als Richtet in seiner eigenen Sache tun." Wenig später führt Kant dann andererseits aus: "Wer soll hier nun entscheiden? Wer sich im Besitz der obersten öffentlichen Rechtspflege befindet, und das 10 11

Kant, S. 440.

Zum revolutionären, jede andere historische "Bestimmtheit" willkürlich ausschließenden Charakter der naturrechtliehen Setzungen vgl. Hegel: Naturrechtsaufsatz, S. 454, 455 und - zum terreur - ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258 Anm., Sämtliche Werke Bd. 7, S. 331. Vgl. im übrigen Kap. 7 I. 12 Das hat die positivistische Inanspruchnahme Kants erleichtert; vgl. etwa Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 421. Otto von Gierke: Althusius, S . 315, 316.

I. Kant und Hegel

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ist gerade das Staatsoberhaupt ...13 ." Das Vorhandensein eines Richters, - identisch gesetzt mit dem Rechtsfriedenszustand überhaupt -, lebt aber gerade von der echten Unparteilichkeit. Das bedeutet, daß er von den Konfliktgegnern einverständlich konstituiert bzw. aufgesucht wird. Daß so die Parteien bei allem Zwist doch über die relativ friedliche, insbesondere gewaltlose Weise der Konfliktabwicklung sich verständigen und die Konfliktlösung einem von der typischen Parteibefangenheit freien Dritten übertragen bzw. überlassen, macht die Existenz eines "kompetenten Richters", macht wesentlich den hier gemeinten Rechtsfriedenszustand selber aus. Der Ausschluß des in-eigener-Sache-Richterseins existiert nur aus der autonomen Verständigung der Menschen als eines Faktums friedlicher Verfaßtheit, als des konkreten "Vertragens". Demgegenüber sind der kantischen Prämisse nach die Menschen eigentlich nicht befähigt, den Friedenszustand prinzipiell selbst zu konstituieren und aufrechtzuerhalten. Das Herausgehen aus dem Naturzustand begreift Kant wie Hobbes allenfalls als einmaliges Aufschwingen zur Ermächtigung eines forthin stabilisierenden Souveräns, nicht als einen permanenten Prozeß der Verständigung intersubjektiver Vernunft. Daher muß der Schritt vom Chaos der kollidierenden Individualwillen zur Friedensordnung, insofern er eine dritte, äußere Macht voraussetzt, eine Willkürlichkeit notwendig enthalten: Sei es den Sprung zur hobbesianischen Fürstensouveränität, zum kantischen Relativismus der "jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt" oder zur Souveränität der volonte generale bei Rousseau, in dessen System ja auch das Zwangsrecht gegenüber abweichenden Willen seine Stelle hat1 4 • Mit gleicher Willkürlichkeit könnte jeder historischen Individualität mit der Behauptung, sie vermöge gewaltsam zwingend Frieden zu stiften, der Anspruch auf unbedingten Gehorsam zuerkannt werden. So meint Kant selbst: "Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen, und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich, als gute Staatsbürger, zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat15." Warum es die einseitige Gewalt ist, die Recht begründen soll, ob nicht vielmehr der Konfl.iktprozeß, der zum Frieden führt und ihn ausmacht, wesentlich anders strukturiert ist, - enthalte er auch gewaltsame Elemente - , bleibt ungefragt und muß es auf der Basis der grundlegenden Disjunktionen bleiben.

13 14 15

Kant: Gemeinspruch, S. 156, 157. Vgl. Rousseau: Contrat social, Lib. I, Chap. 7, S. 246. Kant: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 49 Allg. Anm. A, S. 442.

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

Die Vorstellung vom Naturzustand der chaotisch-gewalttätigen Kollision, der nur durch eine übermächtig zwingende Gewalt beendet wird, resultiert aus dem Eindruck schärfster, in schlimmster Gewaltsamkeit sich vollziehender Konflikte. Bei Kant ist dieses Bild durch das Ereignis der französischen Revolution und ihrer Schreckensperiode ausgefüllt. Den Zeitgenossen bietet sich das Bild einer Lage menschlicher Beziehungen, die durch existenzielle Unsicherheit und aufs ganz Ungewisse hin aufgehobene Verfaßtheit gekennzeichnet ist16 • Freilich ist dieses Grundmotiv so wenig neu, wie die Unterscheidung Rechtszustand-Naturzustand, die darauf sich gründet. Sie findet sich mehr oder weniger durchgängig in neuzeitlichem Denken. Das Bild des Naturzustandes als eines willkürlichen, unsicheren Verhältnisses bloßer Gewalt liegt- vor dem Hintergrund der religiösen Bürgerkriege - wesentlich den Souveränitätspositionen bei Grotius wie bei Hobbes zugrunde17• Selbst wo das ius resistendi bejaht wird, fehlt kaum je die Warnung vor dem leichtfertigen Griff zur Gewalt'8 • Demgemäß sucht etwa Althusius, die Gewaltsamkeit, wenn sie denn unvermeidlich ist, verfahrensmäßig ausgeübt und kontrolliert zu konstruieren19 , ein Gedanke, der im kirchlichen Absetzungsverfahren, im Kurfürstengericht des Spätmittelalters, im Gericht der barons nach der magna charta seine frühen Vorläufer hat20 • Die gleiche empirische Motivation reflektiert in anderer Wendung der Gedanke des gerichtlichen Verfahrens, der sich in dem Satz, niemand solle Richter in eigener Sache sein, niederschlägt. Auch dies findet sich als Argument gegen Selbsthilfe (Fehde) charakteristischerweise schon an der Wende zur Neuzeit21 • 16 Vgl. Kants Fußnote, S. 440 ff., in der sich sein Abscheu gegen die Schreckensperiode der französischen Revolution ausdrückt. 17 Grotius: De iure belli ac pacis, Lib. I, Cap. IV, § 2, 1. Die Begründung für die Ablehnung des ius resistendi lautet: "nam si maneat promiscuum illud resistendi ius, non iam civitas erit, sed dissociata multitudo qualis illa Cyclopum." 1s Vgl. schon Althusius: Politica, Cap. XXXVIII, 59, wo die Ultima-ratioeigenschaft des ius resistendi hervorgehoben wird. Grund: damit nicht die Heilmittel gefährlicher würden als die zu heilende Krankheit selbst (,.ne morbo ipso remedia periculosoria existant: non solum enim hic, quid liceat, sed et quid expediat explorandum est"). Ahnlieh auch Achenwall: Prolegomena iuris naturalis, Lib~ III, § 203. 19 Vgl. Althusius, Cap. XXXVIII: Berechtigt zum Vorgehen sind ohnehin nur die "optimates vel ephori" (45, 47). Sodann muß die Tyrannis, deren Merkmale im einzelnen definiert wurden, sein: "nota, obfirmata, alia remedia non adsunt." (56). Zur Feststellung der Offensichtlichkeit der Tyrannis bedarf es eines Erkenntnisverfahrens im Konzil (57). "Obfirmata" ist die Tyrannis nach mehrfacher vergeblicher Ahmahnung durch die Optimaten (58). Schließlich müssen alle anderen (scil. milderen) Mittel versucht worden sein (59). 2o Zur verfahrensmäßigen Übung des ständischen Widerstandes vgl. Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 226 ff. und Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 23 ff., 61, 62. 21 Vgl. Luther: Eine treue Vermahnung Martini Luther zu allen .Christen,

I. Kant und Hegel

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Im Bild vom Naturzustand und in der entsprechenden Anthropologie vom je isolierten Individuum wird nun die gewaltsame menschliche Kollision, die als Möglichkeit freilich nicht zu leugnen ist, zu einem die Menschennatur wesentlich und vorrangig konstituierenden Merkmal. Anders, als wenn man das Individuum nicht als isoliertes Ich, sondern als schon durch die Gruppengebundenheit, durch die Beziehung auf andere definiert bzw. allererst konstituiert begreift, gewinnt so die gewalttätig-willkürliche Kollision überragenden Stellenwert im Denken von Staat und Recht. Sie wird nicht als einer von vielen Graden menschlichen Sich-zueinander-Verhaltens begriffen, sondern als so dominierende Eigenart, daß nur noch eine mit fast göttlicher Übermächtigkeit ausgestattete Zwangsgewalt Frieden zu stiften vermag. Die im Vertragsgedanken und ebenso im Richterargument eigentlich beschlossen liegende Idee, daß das Rechtsfriedensverhältnis kein einseitig hergestelltes ist, mag es auch aus gewaltsamem Konflikt entstehen, geht so verloren, wenn Recht und Gewalt nur einer Seite (Widerstandsrecht, Souveränität etc.) überantwortet werden. Hegel hat in seinem, in der Widerstandslehre eigentlich ganz unbeachtet gebliebenen Naturrechtsaufsatz am Beispiel vornehmlich Fichtes gezeigt, wie die von Kant und Fichte in der Durchführung radikalisierten naturrechtliehen Prämissen vom Naturzustand der freien und gleichen Individuen und dem Zwang zum Rechtszustand notwendig in einem System unendlicher Zwangsgewalt kulminieren müssen. Wie Hobbes und Kant geht ja Fichte in seiner "Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" von der Existenz einander isoliert gegenüberstehender Individuen, ihren prinzipiell kollidierenden Einzelwillen und ihrem unendlichen Zwangsrecht gegeneinander aus22 • Dieser Zustand der Friedlosigkeit soll durch die einverständliche Errichtung einer mächtigen Staatszwangsgewalt beendet werden23• Freilich tut sich nun das Problem der Rückbindung dieses Staates an den Gemeinwillen auf. Dies zu bewältigen, wird ein Ephorat konstituiert, dem "prohibitive" Gewalt gegenüber der Staatsgewalt zukommen und das notfalls die Gesamtheit zum Widerstand aufrufen soll24• Wenn nun das Ephorat selbst seine Pflicht versäumt und sich mit der korrupten Staatsgewalt gemein macht, so sollen zwar nicht die Privatleute, wohl aber das "Volk" zur Selbstkonstituierung und sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522), in: Ausgewählte Werke, Bd. 4, S. 9 ff., 13: "Niemand kann sein eigener Richter sein. Nun ist Aufruhr nichts andres denn selbst richten und rächen. Das kann Gott nicht leiden." Dazu Scharffenorth: Römer 13, S. 85 ff. 22 Vgl. Fichte, 1. Teil, § 8, S. 96 ff. Zum Verhältnis von Fichte zu Kant und Hobbes vgl. Wiltms: Die totale Freiheit, S. 109 und - kritisch zum Fichtesehen Zwangssystem- S. 90. 2a Fichte, 2. Teil, § 16, S. 155 ff. 2( s. 174-176.

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

zum Widerstand befugt sein25 • Fichte hat geglaubt, mit diesem System jeden Konflikt im Sinne der Vernünftigkeit des allgemeinen Willens bewältigen zu können26 • Hegels Kritik lehrt dagegen, daß die fichteschen ebenso wie die kantischen Setzungen vom je isolierten, freien Individuum und der entgegengesetzten Freiheit aller, die durch das Verhältnis des Zwangs in Übereinstimmung gebracht werden, zweierlei Möglichkeiten implizieren: Entweder das Festhalten eines bestimmten Zwangssubjektes, was einen willkürlichen Sprung in die Transzendenz bedeuten würde, oder ein unendliches Fortschreiten sich paralysierender Zwänge27 • Konsequenterweise gelangt man dann zu einem allgemeinen, unendlichen Zwangsverhältnis: Rückkehr in den Naturzustand des bellum omnium contra omnes28 • Dem einmal gesetzten Begriff des Subjekts als eines einzelnen Freien ist nicht mehr zu entrinnen, es sei denn um den Preis einer willkürlichen Transzendierung nur einer Subjektivität. Die hegelsche Kritik basiert darauf, daß sie den Begriff des isolierten bürgerlichen Subjektes seit Hobbes für eine fälschlich absolut gesetzte Abstraktion von der Wirklichkeit hält. Das isolierte, gegenüber der bisherigen Verfassung revolutionäre bürgerliche Subjekt begreift Hegel demgegenüber nur als ein Moment des historischen Prozesses29.

II. Nachkantische NaturrechtleT unter dem Eindruck der Gewaltrechtskritik Die bei Kant in einem Teil des Argumentationsganges (Richterargument) schon angelegte, bei Hegel vertiefte Prämissenkritik vom idealistischen Standpunkt aus erledigt also jedes einseitig verankerte "Recht" einer historischen Individualität über die andere. Sie macht begreiflich, daß jede Souveränitätsposition (Fürsten-, Volks-, Staatssouveränität), also auch alle Behauptungen eines Widerstands- oder S.184 ff. Daß Fichte diese "Positivierung" geleistet habe, scheint auch Walzendorf/, S. 421 anzunehmen. 27 Vgl. Hegels schon angeführten Naturrechtsaufsatz (Anm. 2), S. 476 ff., 477: "Es muß ein höchster positiver Punkt seyn, von dem das Zwingen nach dem Begriffe der allgemeinen Freiheit anfängt. Aber dieser Punkt muß, wie alle andere Punkte, dazu gezwungen werden, daß er so nach dem Begriffe der allgemeinen Freiheit zwingt; - ein Punkt, der in diesem allgemeinen Systeme des Zwangs nicht gezwungen würde, träte aus dem Prinzip, und wäre transcendent." 2s Vgl. Hegel, S. 480 und ff. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen den Gedanken, das Rechtsverhältnis (allgemeine Freiheit, Rechtszustand) sei prinzipiell nur ein durch Zwang, durch ein "Äußeres" hergestelltes und herstellbares. 29 Vgl. WiHms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, S. 82 und Riedel: Hegels Kritik des Naturrechts, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, S. 42 ff., 51. 25

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II. Nachkantische Naturrechtier

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Revolutionsrechtes in Wahrheit nur eine bestimmte Konfliktposition widerspiegeln und subjektive Friedensentwürfe30 zu einer unausgewiesenen und erkenntnistheoretisch unausweisbaren transzendenten Objektivität, der sich der Konfliktgegner beugen soll, willkürlich überhöhen. Allerdings ist diese kritische Position praktisch, zumal im juristischen Staatsdenken, ohne Wirkung geblieben31 • Die Prämissen der naturrechtliehen Staats- und Rechtsauffassungen werden, eingestanden oder uneingestanden, in der folgenden konstitutionellen Doktrin bis zur positivistischen Staatslehre festgehalten. Drei Auffassungen der Souveränitäts- und Widerstandsfrage finden sich auf dieser Basis. Eine Auffassung neigt zu der Annahme, unter gewissen Voraussetzungen, vornehmlich durch gewisse institutionelle Veranstaltungen sei es möglich, jeden Konflikt "verfaßt" zu bewältigen. Dieser Glaube,- von einer optimistischen konstitutionellen Doktrin seit dem Marquis de Condorcet bis Wolzendorff32 vertreten -, erledigt sich theoretisch mit der hegelschen Kritik an Fichtes großem Versuch33 • Für das konstitutionelle System in Deutschland führt die Erfahrung des Kaiserreiches, vor allem aber der danach folgenden Konfliktperiode den Glauben an endgültige institutionelle Friedenssicherung ad absurdum. Die Möglichkeit menschlicher Konflikte, für die sich "kein kompetenter Richter", keine von den Parteien selbst einverständlich konstituierte oder angenommene Form relativ friedlicher Regelung findet, ist vernünftigerweise nicht ausschließbar. Ferner läßt sich eine Stellungnahme denken, die, ohne die naturrechtliehen Axiome zu kritisieren, doch den willkürlichen Schritt zu einer Souveränitätsposition im Konflikt meidet. Dem Natur30 Zu dieser Identität ausgebildeter Widerstandslehren mit einem Verfassungsentwurf vgl. das Beispiel Althusius, oben Anm. 19. 31 Anders die Kritik Wolzendorffs vom Standpunkt der Souveränität des konstitutionellen Rechtsstaates aus; vgl. im folgenden. !12 Vgl. den girondistischen Verfassungsentwurf Condorcets für den Konvent vom Februar 1793, Werke, Bd. 12, S. 333 ff. insbesondere Art. 1 des "Projet de declaration des droits naturels, civils et politiques des hommes", S. 417 und - Art. 31, S. 422 - die Forderung eines "moyen legal de resister a l'oppression"; ebenso Art. 32, s. 422: " ... le mode de resistance a ces differents actes d'oppression doit etre regle par la constitution." Demgemäß folgen im "Projet de constitution frant,;aise" S. 423 ff. insbesondere Tit. VIII, S. 469 ff. ins einzelne gehende Regelungen. Dazu auch Wolzendorff, S. 390 ff., insbesondere seine Würdigung, S. 400 ff.: Erledigung des Widerstandsproblems durch ein differenziertes Rechtsschutzsystem! - Wolzendorff legt, von seiner Grundthese (vgl. oben Kap. 1, Anm. 2 ff.) her konsequent, denn auch Wert auf Autoren, die im Anschluß an Fichte mittels Ephorats- bzw. Gerichtslösungen die Widerstands-Konfliktproblematik zu erledigen trachten. Vgl. Wolzendorff, S. 435 ff. 33 Hegel, oben Anm. 27 und S. 480: "Über den Einfall, daß die Errichtung einer ähnlichen Aufsichts-Kommission, wie das Fichtesche Ephorat, eine solche Gewaltthat (scil. Bonapartes Verfassungsumsturz am 18. Brumaire) verhindert haben würde", werde mit Recht geurteilt, "daß ein solcher Aufsicht habender und der Regierung sich widersetzen wollender Rath ebenso gewaltthätig würde behandelt worden seyn".

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Kapite13: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

zustand wird also zwar in gleicher Weise wie in der Tradition ein Rechtszustand gegenübergestellt. Aber der Konflikt, die Rückkehr des Naturzustandes, bleibt in Gänze aus dem Recht verwiesen als total unrechtliehet Zustand, ohne daß für eine Seite ein Vorrecht zur Überwältigung der anderen behauptet würde. Nur der mit dem Naturzustand kontrastierte Vertragszustand ist in einem transzendentalen Sinne Recht. Anklänge an diese Position finden sich schon in der 1793, also früher als die "Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre", anonym erschienenen Schrift Fichtes "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution"34. Wenn er darin jedermann "das vollkommene Recht aus dem Staate zu treten, sobald er will" zuspricht und folgerichtig ein unbegrenztes Recht zur Revolution annimmt, so meint er damit keineswegs ein Recht zur Gewalt35 . Mit Revolution ist vielmehr lediglich die Aufkündigung des bisherigen "Bürgervertrages" und die Eingebung eines neuen gemeint36 . Aber weder denen, die das Bisherige verlassen wollen, noch denen, die an ihm festzuhalten vorziehen, kommt ein Recht zu, die je andere Seite zu überwältigen. Fichte leugnet also letztlich jedes transzendente Zwangsrecht einer historischen Individualität über die andere. Für den latenten Zeitkonflikt zwischen "Volk" und "Regent" gelangt der Kantianer Jakob Fries zum gleichen Ergebnis. Das Volk habe ebensowenig ein Recht zur Revolution {"Insurrektion") wie der Regent dagegen: Das Verhältnis des gewaltsamen Konfliktes wird als bloßes Gewaltverhältnis, für das nur Klugheitsregeln gelten, dem Rechtsverhältnis "auf Treu und Glauben" gegenübergestellt37 • Es findet sich also zwar auch hier die von Hobbes bis Kant gültige Prämisse: Jene Unterscheidung zwischen dem Naturzustand prinzipiell selbst beurteilter, unendlicher Zwangsgewalt und einem als Rechtszustand bezeichneten Verhältnis relativ friedlicher, insbesondere unter Ausschluß physischer Gewalt sich vollziehender Konfliktbewältigung. Doch wird der Rechtszustand, wie beim frühen Fichte, nicht als eine durch notwendig einer Seite zukommende Zwangsgewalt hergestellter, sondern als ein durch beide potentiellen Konfliktparteien konstituierter aufgefaßt. Der hobbe34

Fichte, insbes. 3. Kap., S. 84 ff., 113, 114.

Mißverständlich die Einordnung der Schrift bei Wolzendorff, S. 418. Zutreffend Willms: Die totale Freiheit, S. 21 ff., 22, 23, 24, der betont, wie diese Fichtesche Schrift in keiner Weise die gewaltsame Erhebung fordert. 36 Fichte, S. 113. Vertrag wird hier bei Fichte nicht im Sinne eines Verpfiichtungsvertrages, sondern ganz radikal als ein bloßes, durch Handlungen, Unterlassungen, UnterV.rerfen unter Strafe etc. gelebtes Faktum des Sichvertragens ("im Vertrag sein") begriffen: "jetzt ändert einer seinen Willen, und von diesem Augenblick an ist er vor dem unsichtbaren Richterstuhle nicht mehr im Vertrage; er hat kein Recht mehr auf den Staat, der Staat hat keines mehr auf ihn". (S. 89). 37 Vgl. Fries: Philosophische Rechtslehre, S. 94 ff. 35

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sianische und mithin auch der kantische Ausbruch in die Transzendenz eines Souveränitätsrechtes verfällt der Kritik38 • Abgesehen von dieser Position des Ausklammerns bleibt es ganz überwiegend bei Souveränitätspositionen der vorkritischen Tradition. Dabei sind wohl zwei Phasen zu unterscheiden: Eine, in der die Problematik gemäß der Tradition noch relativ abstrakt diskutiert wird, dann aber die mit Karlsbad einsetzende Zeit, in der die Widerstandsfrage mit Bezug auf den sich verschärfenden Verfassungskonflikt praktische Bedeutung erlangt. Diese Entwicklung in der deutschen konstitutionellen Staatslehre wird noch zu betrachten sein als eine Doktrin, deren Gestalt und Bedeutung von Inhalt und Stadium eines konkreten historischen Konfliktes abhängen. In der Phase davor wiederholen sich ganz überwiegend die Abstraktionen der bedingten Herrschaftsvertragslehre39 • Von Interesse kann diese epigonale Zeit der Theorie nur sein, insofern die kritischen Argumente Kants reflektiert werden und daher der Ausbruch in die Transzendenz zur Gewinnung einer Souveränitätsbzw. Widerstandslehre um so offenbarer wird. Das ist der Fall in Johann Benjamin Erhards 1795 erschienenem Buch "Über das Recht des Volkes zu einer Revolution", mehr aber noch in Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs "Antihobbes". Erhards40 Schrift identifiziert einleitend die Frage nach dem Recht des Volkes zur Revolution41 mit der Frage, wie die Verfassung des Gemeinwesens sein soll. Diese wiederum soll sich aus den Menschenrechten, die die "ursprüngliche 38 Fries, S. 98: "Eigentlich gehen alle unsre hier geäußerten politischen Behauptungen von dem Grundsatze des Hobbes aus: Niemand steht unter dem Urtheil des andern, jeder ist ursprünglich sein eigner Richter, welchen Hobbes aber nicht richtig anwendete. Der Richter entsteht nicht so, daß einer sein Urtheil dem andern unterwirft, sondern so, daß zwey, die sich streiten, einen dritten als Schiedsrichter suchen. In seiner eignen Sache ist also jeder nur sein eigner Richter, und soll ein anderer ihn richten, so tritt er als der dritte zwischen zwey Parteien. Zwischen dem Regenten und dem Volke gibt es aber keinen dritten, es kann niemand den Regenten richten, er kann aber auch nicht Richter in seiner eigenen Streitsache mit einer anderen Partey seyn; es gibt also zwischen ihm und dem Volke gar kein Gericht, sondern nur entweder Treu und Glauben oder Gewalt." (Hervorhebungen vom Verf.) Noch allgemeiner S. 26: "Wenn jemand mit mir in thätige Gemeinschaft kommt und nun, anstatt mit mir nach vernünftigen Gesetzen der Wechselwirkung zu kontrahiren, mit einem Versuche mich zu zwingen anfängt, so kann ich eigentlich nicht sagen: ich bin gegentheils wieder zum Zwange berechtigt, sondern es ist alsdann von gar keiner Rechtsverbindlichkeit die Rede, es gilt nur Gewalt -." 39 Vgl. die bei Wolzendorff, S. 422 ff. referierten Autoren. 40 Vgl. zur Person des auch bei Wolzendorff erwähnten Autors: H. G. Haasis' Nachwort der Neuausgabe, S. 203 ff. 41 Terminologisch stellt Erhard den Begriff Revolution in eine Linie mit Insurrection und Gehorsamsverweigerung, Teil II, S. 44. Mit Kant und Fichte ist auch Erhard Beweis dafür, wie zu jener Zeit die Fragen des ius resistendi und des Revolutionsrechts als identische Probleme aufgefaßt wurden.

4 Köhler

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

Quelle aller anderen" Rechte seien, beantworten, mit deren Deduktion die eigentliche Abhandlung daher beginnt42 • Schon diese Art des Einsatzes weist darauf hin, daß Erhard in dem Begründungsversuch eines Gewaltrechts von unten letztlich auf einer Position des vorkantischen Naturrechts basiert oder doch zumindest Kant so versteht, daß inhaltlich bestimmte Rechte a priori aus Vernunft ableitbar seien43 • Das bestätigt sich in seinen folgenden Explikationen, die freilich zunächst mit einer eigentümlichen Differenzierung beginnen. Erhard untersucht nämlich zunächst, ob es sich beim Revolutionsproblem um eine "Rechtsfrage" oder eine "Gewissenssache" (Frage der Moral) handele, ob also die Revolutionsrechtsfrage vor einen Richter gehöre oder ob sie dem Gewissen gänzlich überlassen werden müsse". "Bei jeder Rechtsfrage findet die Voraussetzung statt, daß sie von irgendeinem Richter, wo nicht nach wirklichen, doch nach möglichen positiven Gesetzen entschieden werden kann. Wenn sie auch das erste Mal vorkäme, so muß die richterliche Entscheidung derselben doch ein positives Gesetz für künftige Fälle abgeben können. Dazu ist aber erforderlich, daß das Recht oder Unrecht nicht bloß in der Gesinnung bestehe, sondern durch äußere Tatsachen erkannt werden könne und daß die Befugnis des Gerichtshofs unbezweifelt sei45." Hinsichtlich eines Revolutionsrechtes sei es aber unmöglich, die Befugnis eines Gerichtshofes zu erweisen, da dieser notwendig Partei werde46 • "Die Frage über das Recht, eine Revolution anzufangen, kann daher gar nicht rechtlich entschieden werden ... Die Frage gehört also einzig und allein vor den Gerichtshof der Moral, und das Recht, eine Revolution anzufangen, kann niemandem positiv weder gegeben noch genommen werden47 ." Ersichtlich versteht Erhard unter positivem Recht mehr als geschriebenes oder staatlich gesetztes, nämlich ganz im Sinne der kantischen Gleichsetzung von Recht und Vorhandensein eines kompetenten Richters, das wirkliche Dasein einer für unparteiisch anerkannten Konfliktregelungsinstanz. Diese büßt ihre Existenz geradezu ein, wenn der Konflikt einen solchen Grad erreicht hat, daß die Gegner ihre Interessenwahrung je nur noch ihrem Zwangs42 Erhard, Einl. S. 9 und Teil I ("Deduktion der Menschenrechte"), wo Gewissens- und Gedankenfreiheit einen vorrangigen Platz einnehmen; vgl. S.18 ff. und den Katalog S. 37, wo im wesentlichen die klassischen Freiheitsund Gleichheitsrechte aufgeführt sind. 43 Zu der alten Streitfrage, ob Kants kategorischer Imperativ die Ableitung von Rechts- und Pflicht-inhalten erlaube, vgl. kritisch schon Hegel in seinem o. a. Naturrechtsaufsatz, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 437 ff., 463 ff. Für die Ableitbarkeit Ebbinghaus: Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, S. 140 ff., 145, 146. 44 Erhard, Teil II, S. 41. 45 Erhard, S. 41. 46

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s. 42. s. 42.

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vermögen anheim geben. Der Konflikt vollzieht sich dann mangels eines allgemeinen Maßstabes ganz außerhalb des Rechts. Insoweit nimmt Erhard also das bei Kant schon Angelegte auf und führt es zu einem Ergebnis, das dann auch bei Kantianern wie Fries begegnet48 • Mit dieser Verweisung der Frage in den Gewissensbereich scheint nur noch Raum zu sein für eine Untersuchung etwa in der Weise der modernen Revolutionstheorie, unter welchen Umständen erfahrungsgemäß die Subjektivität zu Zwang und Gewalt, zur Revolution schreitet. Es ist gerade das Spezifikum des revolutionären Konfliktes, daß sich je verschiedene Gewissen, je verschiedene Moralen unversöhnt gegenüberstehen und die gewaltsame Ausschließung der je anderen beinhalten. Ein allgemein gültiges, objektives Kriterium scheint nicht auszumachen zu sein. Und doch unterstellt Erhard letztlich eine solche objektive Bestimmbarkeit. Das klingt schon in dem Satz an, es müsse "Fälle geben, in welchen der Mensch ohne Rücksicht auf äußeres Recht berechtigt oder gar verbunden ist, seinem bloßen Gewissen zu folgen"49. Offenbar soll sich also das moralische Recht zur Revolution nicht in seiner je subjektiven Gewissensentsprechung erschöpfen, sondern es wird zu einem höheren Maßstab über das Gewissen, - ob man ihm folgen dürfe -, übergegangen. Der Bruch wird noch deutlicher an folgender Stelle: "Die Moralität gibt aber niemand ein Recht, allgemein verbindlich zu entscheiden, sondern es kann jemand nur dadurch, daß er die Wahrheit trifft und diese Wahrheit erkannt wird, allgemeingültig entscheiden. Denn die Gewissensfreiheit gehört zu den Menschenrechten. Beide Parteien sind also eigentlich an ihr Gewissen gewiesen, dem es obliegt, nicht bei dem, was jetzt Rechtsschein hat, stehen zu bleiben, sondern nach dem zu handeln, was an sich recht ist. Diese Hinweisung an den Richterstuhl der Moral betrifft aber nur die Entscheidung des Rechts zwischen den Vornehmen und dem Volk ...60 ." Die Begriffe "Wahrheit", "allgemeingültig", "an sich recht", "Entscheidung des Rechts" weisen auf die Vorstellung Erhards hin, daß über die je für sich berechtigten Parteigewissen hinaus eine irgend objektive Zuteilung ("Richterstuhl der Moral") gedacht werden könne. Dieser Standpunkt klärt sich vollends, wenn der Autor schließlich mit Blick auf die durch die französische Revolution bezeichnete historische Konfliktebene51 das Recht des Volkes postuliert, sich "durch Gewalt in die 48 Kants Aufsatz: über den Gemeinspruch etc. (vgl. oben Anm. 3) hat Erhard mit Sicherheit gekannt. 49 Erhard, S. 44, 45. 60 Teil III, S. 87. 51 Vgl. insbes. seinen politischen Volks-begriff im Gegensatz zu den Herrschaftsträgern, den "Vornehmen", deren Verhältnis er als historisch -zufällig, bloß faktisch und als durch das Mündigwerden des Volkes aufgehoben betrachtet; vgl. Teil II, S. 79-82.

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

Rechte der Mündigkeit einzusetzen und das rechtliche Verhältnis zwischen sich und den Vornehmen aufzuheben" 52 . Hier erscheint dann die "Moral als die höchste Instanz", die freilich zurückgebunden wird an die zuvor deduzierten Menschenrechte: "Eine Revolution überhaupt wird aber dadurch moralisch gebilligt, wenn nur durch sie die Menschenrechte können geltend gemacht werden ...53 ." Das SchlüsselMenschenrecht des Volkes aber ist Aufklärung, ist Befreiung aus Unmündigkeit: "Will man also das Volk hindern, sich aufzuklären, so tut es recht, sich zu erheben, und wenn diese Hindernisse aus der Konstitution entspringen, die Konstitution aufzuheben54 ." Letztlich geht bei Erhard die kritische Position wieder verloren. Daß es sich um gänzlich verschiedene Konfliktsituationen handelt, in denen nicht im gleichen Sinne von Recht gesprochen werden kann, kommt zwar sehr klar zum Ausdruck: Nur eine Konfliktbewältigung unbezweifelten Gerichtes, also die relativ friedliche Auseinandersetzung im vorgegebenen Verfassungsverhältnis, ist eine solche auf der Ebene des positiven Rechtes. Wird diese verlassen, so gelten andere Gesetze als die des Rechts. Das Revolutionsrecht wird aber dann doch nach Art des vorkantischen Naturrechts als ein objektiv ausmachbares behauptet. Den Menschenrechten wird ein Vorrecht zur Überwältigung des hindernden ancien regime vindiziert. Daß nicht das Recht, sondern der Gerichtshof der Moral das Maß dafür geben soll, erscheint so als bloßer Austausch des Etiketts, nicht aber als Unterschied in der Sache selbst: Der Behauptung eines Gewaltrechts für eine historische Individualität über die andere55•

Feuerbachs im Argumentationsniveau deutlich höher stehende Abhandlung gelangt zum gleichen Ergebnis des vorkantischen Natur-· rechts. Doch gerade der Umstand, daß er das Widerstandsrecht des bedingten Unterwerfungsvertrages gegen die von Kant induzierte Grundlagenkritik zu verteidigen unternimmt- der Titel "Antihobbes" scheint daher die eigentliche Richtung der Polemik bloß zu verschleiern56 - läßt die Problematik der alten Begründungsversuche um 52 Teil IV, S. 91. 53 54

s. 92.

s. 92.

Erhard hat diese bloß terminologische Differenz später dazu benutzt, die Begründung eines Revolutionsrechtes abzuleugnen; vgl. Haasis: Nachwort, S. 210. 5& Vgl. Feuerbach: Antihobbes, S. 80 ff., wo er sich darzutun bemüht, daß seine Abhandlung nicht zugleich auch ein Anti-Kant sei. Dabei werden die eindeutigen Sätze Kants so interpretiert, als habe dieser die Unwiderstehlichkeit nur für den Regenten als solchen gemeint, nicht aber wenn dieser "als bloße Privatperson" handelt. Dieser schon aus dem Mittelalter bekannte Sophismus - man gehorcht dem "wahren" Königtum gegen den irrenden Menschen in seiner Gestalt - ist Kant freilich ganz fremd. 55

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so klarer hervortreten. Das zeigt sich schon in der etwa die Hälfte der Schrift umfassenden Ableitung, die einer Auseinandersetzung mit Gegenargumentationen vorangeht57 • Feuerbach wiederholt zunächst den Deduktionsgang der Naturrechtslehre: "Ehe wir einen festen Schritt in unserer Untersuchung wagen können, müssen wir die ersten Principien der Wissenschaft, auf deren Boden wir uns jetzt befinden, festzusetzen suchen. Wir müssen also bis zum Begriff des Staats, seiner Entstehung und seinem Zwecke zurückgehen58 ." Ausgangspunkt ist das kantische Prinzip der Koexistenz autonomer Willen59 • Es folgt die Einschränkung der menschlichen Vernünftigkeit durch die Eigenschaft, Sinnenwesen zu sein, das der Kollision mit anderen ausgesetzt ist: Also die negative Anthropologie des Mangelwesens Mensch im Naturzustand des "bellum omnium contra omnes" mit gänzlich selbst beurteiltem Rechte60 • Das Negative dieses Zustandes läßt ganz wie bei Kant ein Vernunftgebot evident werden, das heißt: exeundum est e statu naturali61 • Daraus ergeben sich Bürgervertrag und Konstituierung einer Leitungsmacht62 • Diese, der Regent63 , hat folgende Eigenschaften: Er ist "Repräsentant der Gesellschaft: Denn sein oberherrlicher Wille ist der Wille aller. Er ist erster Diener des Staats: Denn er ist der erste Beförderer des Gesellschaftszwecks. Er ist inappeLlabel: Denn er ist höchster Richter im Staat. Er ist unverantwortlich: ... denn das Volk hat sich dem Organ des allgemeinen Willens unbedingt unterworfen. Er ist als Regent unwiderstehlich: Denn er hat die höchste Gewalt im Staate. Er kann nicht gerichtet werden: Denn er selbst ist der höchste Richter. Es kann Niemand neben ihm und Niemand über ihm seyn: Denn nur Ein Wille kann organisierender Wille seyn64 ." Schon hier ist kaum denkbar, wie noch widerspruchslos ein Widerstandsrecht soll begründet werden, setzt dies doch das gültige Richten über den Regenten voraus. Auch im folgenden scheint Feuerbach auf die kantische Souveränitätsposition zuzusteuern. Jeglicher Widerstand gegen zweckwidrige oder zwecklose Maßnahmen zur Verwirklichung des Staatszwecks ist verboten65 • Untertanen haben über die diesbezüglichen Entschlüsse des Regenten nicht zu befinden66 • Dies ergebe sich, so schließt sich Feuerbach Kant an, 57 Feuerbach, Kap. 1-6 bis S. 148; Kap. 7, 8, S. 148-264 widmen sich der Gegenargumentation. 58 59 60 61 62

Feuerbach, S. 9. s. 13-15.

s. 16 ff. s. 19. s. 22, 28.

sa Feuerbach stellt später (S. 54, Anm.) klar, daß damit nur ein Funktionsbegriff gemeint, nicht schon eo ipso für die Monarchie optiert sei. 64 65

s. 32,

33.

s. 53 ff.

66 Feuerbach, S. 59: "Denn da Jedermanns Weisheit bald da, bald dort etwas zu bessern und zu befehlen haben würde, so würden wir uns nur

Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

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schon aus dem bloßen Begriff des Unterwerfungsvertrages: Hätte nämlich "das Volk in was immer für einem Falle, welcher der Regierung angehört, ein bestimmendes und rechtsgültiges Urteil; so ist nicht der Fürst, sondern das Volk der Souverän ...67." Denn die Nation habe durch den Unterwerfungsvertrag die Regierung unbedingt in die Hände des Regenten gelegt und erklärt, daß sein Wille der Wille des Staats, der Wille aller sein solle: "Sie muß daher als gültig anerkennen, was er zum Besten der Gesellschaft thut, oder zu thun glaubt, und wenn Aristoteles und Plato ihr sagten, daß er den Staat und sie selbst unausbleiblich ins Verderben stürzen werde68." Der Fürst habe nun einmal das Recht, das Steuer des Staats nach seinem Gutbefinden zu lenken, gebe er auch offenbar zwecklose Befehle69 • Trotz alledem behauptet Feuerbach später ein Zwangsrecht des Volkes gegen den Oberherren, "wenn er den Unterwerfungsvertrag verletzt" 70• Nun betont er den Zweiseitigkeitscharakter des Unterwerfungsvertrages, der beiden Seiten vollkommene und das heißt durch Zwang sanktionierte Verbindlichkeiten auferlege: Dem Volk die Pflicht, dem Organ des allgemeinen Willens zu gehorchen, dem Regenten die Pflicht, dem Unterwerfungsvertrag gemäß zu handeln71 • Insofern danach offenbar beiden Seiten ein je selbst beurteiltes Zwangsrecht gegenüber dem je anderen zukommen soll, wird der Rechtszustand unversehens zum Naturzustand unendlichen Zwangs. Doch Feuerbach geht noch weiter und erkennt dem Volk Urteil und Zwang über den Regenten zu. Nun ist keine Rede mehr von gleicher Vertragsstellung: Das Volk richtet über die Einhaltung des Unterwerfungs- und Verfassungsvertrages72 ! Wie das mit der anfangs postulierten Unrichtbarkeit der Regentenhandlungen, mit der Eigenschaft des Fürsten als alleiniger Interpret des Bürgervertrages zusammenstimmen soll, bleibt unerfindlich. An der bei Kant angelegten Kritik jeder Souveränitätsposition zerbricht die Schlüssigkeit der feuerbachschen Argumentation: Das Gericht einer Partei über die andere kann nur noch als eine transzendentale Gesetzlichkeit behauptet werden. Dies wird eindrucksvoll noch einmal klar, wo der Autor auf das zentrale Argument gegen die Widerstands- und Souveränitätslehre eingeht und allzubald in die traurige Nothwendigkeit versetzt finden, mitten im Staat nach einem Staate suchen zu müssen." 67 s. 63, 64. 68 s. 64, 65. 69 Feuerbach, S. 68, 70 und die groteske Exemplifizierung eines Befehls, S. 71: "Jeder meiner Unterthanen soll täglich um 12 Uhr den Huth abnehmen, und sich mit der rechten Hand am linken Ohrläppchen zupfen." 70 s. 80 ff. 71

s. 93, 94.

Feuerbach, S. 144 ff. Der Verfassungsvertrag versteht sich bei Feuerbach als ein den Unterwerfungsvertrag ausfüllender besonderer Akt, vgl. 72

S. 34. Darin deutet sich die spätere Identifizierung von Unterwerfungsvertrag und konstitutioneller Verfassung an.

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sich ihm zunächst in aller Entschiedenheit stellt: "Wer soll denn wohl, antworte uns doch, in dem Rechtsstreite des Regenten und des Volkes entscheiden? Soll es der Regent? Nun gut, so hat er das Recht, für sich zu sprechen und in jedem Falle der Insurection seine Unterthanen für Rebellen zu erklären. Soll es der Unterthan? Nun, dann ist der Unterthan Richter in seiner eigenen Sache und nicht bloß das, sondern auch Richter über seinen Oberherren, Regent über den Regenten73 ." Konsequent räumt Feuerbach nun ein, daß damit vom Standpunkt eines beiderseitigen Vertrages aus Volk und Regent im Naturzustand gegeneinander existierten, was heißt, "daß beide streitenden Parteien über ihre Rechte selbst entscheiden dürfen" 74 . Das Ergebnis scheint unausweichlich: Zwangsbefugnis im Konflikt kommt einer Seite ebensosehr zu, wie der anderen. Der Nachweis einer ausschließlichen Zwangsbefugnis ist nicht geführt: "Die Sache nimmt durchaus den Gang, den sie in dem Naturzustande nehmen muß. Jeder thut, was er seiner Überzeugung nach thun zu müssen glaubt. Er handelt nie subjektiv ungerecht, wenn er seiner Überzeugung von Recht und Unrecht gemäß handelt. Bestehen nun beide auf ihren vermeintlichen Rechten und Forderungen: dann wird Krieg zwischen ihnen: Oder sie wählen sich einen Schiedsrichter, oder, wenn sie noch klüger sind, einen Obern, der in allen streitigen Rechtsfällen über ihre Befugnisse richtet und entscheidet75." Naturzustand und Rechtszustand sind somit eigentlich identisch. Gleichwohl fährt Feuerbach mit dem Satz fort, es sei ein Zwangsrecht der Untertanen gegen den vertragsbrüchigen Regenten bewiesen. Auch sein weiterer Begriffsgebrauch deutet darauf hin, daß er Zwangsrecht des Volkes, Despotismus usw. im Sinne objektiver Kategorien der Tradition versteht76. Daß dies, wie jedes transzendentale Recht über eine andere historische Individualität, nach der eigenen Argumentation den alten Sinn ganz verloren hat, scheint Feuerbach selbst nicht voll bewußt. Gerade an nachkantischen Autoren, die wie Erhard und Feuerbach die kritischen Ansätze bei Kant reflektieren, wird um so deutlicher, daß ein Zwangsgewaltrecht eines historischen Subjektes über das andere - sei es ein Widerstandsrecht, sei es die Fürstensouveränität, wie diese die naturrechtliche Tradition bis auf Kant und nach ihm darzutun unter73 s. 238, 239. 74 s. 240, 242. 75 s. 245, 246. 76 Bezeichnend auch S. 243: "Aber da kann ja der Regent überall erklären, daß nur Er und nicht das Volk recht habe. - Allerdings kann er das: aber er darf es nicht, wenn er wirklich unrecht hat." - Damit ist ersichtlich auf einen objektiv-transzendenten Maßstab rekurriert, dessen An-sich-existenz das Richterargument gerade ausschließt. Ebenso S. 134, wo auf das Sittengesetz als das letzte Kriterium der Gehorsams- und Widerstandsfrage abgehoben wird.

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Kapitel3: Kritik des Zwangsrechts seit Kant

nommen hat - nicht einsichtig gemacht, sondern nur als eine objektivtranszendente Gegebenheit behauptet und geglaubt werden kann. Insofern dies willkürlich ist, sind sich Hobbes und jeglicher "Antihobbes" gleich. Wenn Feuerbach wenige Jahre später, - in seiner Landshuter Antrittsrede aus dem Jahre 1804 -, die Souveränität des positiven Gesetzgebers und das heißt zu jener Zeit: des Landesfürsten vertritt77 , handelt es sich also um einen prinzipiell gleichbleibenden, freilich anders gerichteten Ausbruch in eine unbegründete Transzendenz.

11 Vgl. Feuerbach: Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, S. 71, 72, 73, wo dem Vernunftrecht die unmittelbare Geltung abgesprochen wird. Zu seiner Gültigkeit bedürfe es vielmehr der gesetzgeberischen Entscheidung, der man jedenfalls Gehorsam schuldig sei.

Widerstandslehre in der konstitutionellen Staatslehre zur Zeit des Verfassungskonfliktes Kapitel4

Der Verfassungskampf als historischer Kontext der konstitutionellen Widerstandslehre I. Repräsentativverfassung als Forderung der Zeit Eine Doktrin, die für eine historische Individualität ein Vorrecht zu Zwang und Gewalt behauptet, kann nach den kritischen Bemerkungen der idealistischen Philosophie selbst ihrem Anspruch nicht genügen. Also kann ihre Wahrheit nur darin liegen, selbst ein Moment des historischen Konfliktes auszumachen: Als Friedens-, als Verfassungsvorstellung einer der am Kampf beteiligten Gruppen, die sich notfalls auch gewaltsam zur Geltung zu bringen sucht. Mithin lebt eine Widerstandslehre von Inhalt, Stadium und Dauer des historischen Konfliktes, den sie begreift. Der in der Begrifflichkeit der naturrechtliehen Theorie noch relativ abstrakte revolutionäre Anspruch auf andere Verfaßtheit erhielt nun mit der französischen Revolution auch für Deutschland ein konkretes verfassungspolitisches Leitbild: Die Repräsentativverfassung der konstitutionellen Monarchie, die freilich nichts schlechterdings Neues war, sondern an die traditionellen landständischen Institutionen anknüpfte1 • Wie sich nun auch die Widerstandsfrage nach den Freiheitskriegen in den Jahren vor, insbesondere aber nach Karlsbad auf den Kampf um das konstitutionelle Verfassungssystem zuspitzte, mögen einige Bemerkungen des Kantianers Krug aus dem Jahre 1817 belegen2 • 1 Dazu Meisner: Die Lehre vom monarchischen Prinzip, S. 160 ff. Zur Verfassungsdiskussion im Vormärz Brandt: Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Mit Recht betont Willms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, S. 27 das Anknüpfen an die landständische Tradition. Das Argument der historischen Legitimität der neuen Konstitutionen erhält im Verfassungskampf vor allem nach 1830 zunehmend Gewicht. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen zum Gutachten der Tübinger Juristen-

fakultät. 2 Krug: System der praktischen Philosophie, Rechtslehre, S. 363-365.

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

Das Volk sei berechtigt, nach Wegfall des äußeren Drucks der napoleonischen Herrschaft "auf Herstellung der alten oder (wenn diese den Umständen nicht mehr angemessen sein sollte) auf Einführung einer neuen und angemesseneren Verfassung zu dringen". Dieses Dringen brauche gar nicht gewalttätig zu sein. Es dürfe nur, da das Recht der Vorstellung und Beschwerde dem Volk nicht genommen werden könne, ernstlich und anhaltend genug sein, um endlich Gehör zu finden. Sollte der Fürst diese Bewegung der öffentlichen Meinung unterdrücken, "dann wäre offenbar das ganze gesellige Band zwischen Fürst und Volke durch den Fürsten selbst zerrissen". Das Volk, so meint Krug, dürfe sich dann der Gewalt des Fürsten entziehen, was offenbar auch die Absetzung impliziert3 • Widerstand geht also auf bürgerliche Freiheit und das meint institutionell gewendet "neue, angemessene" Verfassung: Die konstitutionell-monarchische Repräsentativverfassung nach dem Vorbild der Charte von 1814, die- obzwar ein Kompromiß zwischen ancien regime und Revolution - eben doch die wesentlichen Ergebnisse der französischen Revolution wahrt. Das Bürgertum knüpfte an die Einheitseuphorie der Freiheitskriege, an die verheißungsvolle Zusage in Artikel 13 der Bundesakte' die Erwartung einer konfliktlosen Veränderung der deutschen Verfassungsverhältnisse. Mit der Repräsentativverfassung als dem Ergebnis der französischen Revolution glaubte man Freiheit und Gleichheit im Sinne der Naturrechtslehre schlechthin gesichert und verwirklicht. Dieser Zusammenhang, - Freiheit und Gleichheit institutionell vermittelt durch Gesetzes- insbesondere Budgetmitwirkung einer in ihrer Zusammensetzung gegenüber den alten Landständen zugunsten des dritten Standes veränderten Vertretungskörperschaft - , war der Grundtenor der Verfassungsdiskussion jener Zeit5 • Dieser Konkretisierungsprozeß 3 Krug, S. 365. Das ergibt sich aus dem ausdrücklichen Verbot der Bestrafung. Nur insoweit stützt Krug sich auch auf Kant, von dessen Satz: ". . . der Herrscher im Staate hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs-)pftichten", er sich ansonsten distanziert. 4 Art.13 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, in: Huber: Dokumente ..., Bd. 1, S. 75 ff., 78, lautet: "In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung statt finden." s Die Fragen der Zusammensetzung und der Kompetenzen standen im Zentrum der Diskussion; vgl. Brandt, S. 41 ff. Meisner, S. 168 ff. An Schriften der Zeit etwa Klüber: Übersicht der diplomatischen Verhandlungen des Wiener Kongresses ..., S. 194 ff. Krug: Die Fürsten und die Völker in ihren gegenseitigen Forderungen (1816), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S.173 ff.: er fordert die "rechtliche Verfassung" zur Sicherung der Urrechte des Menschen (S.178), betont also die institutionelle Seite. Ebenso ders. : Das Repräsentativsystem (1816), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 277 ff.: am Anfang steht die Zeitforderung nach Repräsentativverfassung als dauerhafter Bürgschaft gegen Autokratie (S. 292); hinsichtlich der Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft geht es K. wesentlich um eine neuständische Korrektur zugunsten des befreiten Bauernstandes (S. 296 ff., 299),

I. Repräsentativverfassung

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läßt sich zuweilen an ein und demselben Autor betrachten. Der bayrische Professor und Politiker Wilhelm Josef Behr, ein Kantianer, unter dem Karlsbader System Verfolgungen ausgesetzt, ist ein Beispiel dafür53• Repräsentativverfassung war "die Hauptforderung, um welche sich alle übrigen wie um ihren Angelpunkt drehen" 6 • In dieser Frage, vor allem in Zusammensetzung und Kompetenzen der "Landstände", sah noch Wilhelm Eduard Albrecht den eigentlichen Inhalt des Kampfes zwischen "neuem" und "älterem" RechF. Im Jahre 1834 resümierte Carl von Rotteck diese ganz allgemeine Vorstellung von der Identität des "vernünftigen Rechtes" mit dem konstitutionellen System der "Volksrepräsentation"8. Die an die Gründung des deutschen Bundes geknüpfte hochgespannte Erwartung sah sich freilich enttäuscht. Zwar wurde in bestehenbleibenden, zumal in den süddeutschen Rheinbundstaaten die Repräsentativverfassung modernen Typs eingeführt9 • Sie lag in der Intention eines an einem Integrationshebel der neuen Staatenbildungen interessierten Fürstentums10 • Seither freilich stagnierte die Verfassungsentwicklung. Der noch auf dem Wiener Kongreß bestehenden Einigkeit der Regierungen mit der liberalen Öffentlichkeit über das Erfordernis einer modernen Neugestaltung11 folgten keine weitergehenden Taten. Daran hatte die von den spezifischen Verhältnissen des Vielvölkerstaates beeinflußte Bundespolitik Metternichs entscheidenden Anteil12• Der wesentliche innere Grund für ihren Erfolg dürfte aber die Befürchtung und das Bewußtsein gewesen sein, daß man sich auf eine abschüssige Bahn begeben haben könnte, auf der nicht nur die Privilegien des Adels, sondern letztlich auch das monarchische Vorrecht zugunsten eines parlamentarischen Regimes allenfalls englischer hinsichtlich der Funktionen um Gesetzgebungs- und Budgetmitwirkung (S. 311-313). sa Vgl. einerseits Behr: System der allgemeinen Staatslehre, S. 281, 284 ff., wo sich die Vertragstheorie noch relativ abstrakt findet. In Behrs Buch: Neuer Abriß der Staatswissenschaftslehre, S. 43, 44 erfolgt dann die Identifizierung mit der Revolutionsverfassung. Dazu paßt die emphatische Begrüßung der bayrischen Verfassung in: Staatswissenschaftliche Betrachtungen. s So nach der Julikrise 1830 Krug: Worte der Beruhigung in unruhiger Zeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 483 ff., 487. 7 Vgl. Albrecht: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, S. 6 ff., 12 ff. s Vgl. Rotteck: Vorwort in: Staatslexikon hrsgg. von Rotteck und Welcker, Bd.1 (1834), S. XVI, XVII. 9 Vgl. den überblick bei Brandt, S. 40 ff. 10 Vgl. Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 13. Neuerdings Gall: Der Liberalismus als regierende Partei, S. 18 ff. Zu den in der Rheinbundzeit geschaffenen Voraussetzungen Hölzle: Das napoleonische Staatssystem in Deutschland, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 262 ff., 268 ff. u Meisner, S. 175 und Klilber: übersieht ... , S. 201 ff. 12 Meisner, S. 182.

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

Prägung beseitigt werden würden. Dafür schienen nicht nur der Gang der französischen Revolution bis zur Jakobinerherrschaft und der auch in Deutschland vorhandene demokratische Radikalismus zu sprechen, sondern auch die Erfahrung mit den ersten süddeutschen Landtagen, die sich offenbar als Hebel fortschreitender Privilegienbeseitigung und bürgerlicher Expansion verstanden13. Der "Sündenfall" lag freilich schon früher: In der Zeit des aufgeklärten Absolutismus, der die Feudalstruktur zugunsten bürgerlicher Gleichheit entscheidend zurückdrängte. Mit Recht hat der "Restaurator" Carl Ludwig von Haller schon in der Aufbrechung der ständischen Strukturen durch absolutistische Fürsten eine Erschütterung der monarchischen Machtgrundlagen selbst erblickt14. Die in ihrer Vormachtstellung zutiefst bedrohte Feudalaristokratie und die Monarchie, - im aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts wie der Rheinbundstaaten durchaus entgegengesetzte Kräfte -, zogen aber nunmehr an einem Strang15. Die Einlösung der Verfassungsversprechen, die Fortführung der Reform von oben unterblieb16. Die Folge war der Verfassungskampf, der den Vormärz prägte und der schließlich mit der Schritt für Schritt, wenngleich weithin krisenhaft (1830, 1837, 1848) sich in ganz Deutschland durchsetzenden neuen Verfassung seinen Abschluß fand.

Il. Die Herrschaftsvertragstheorie und deren konkreter Zuschnitt auf das konstitutionelle System: Die Widerstandsdoktrin bei Johann Ludwig Klüber Wenn die Widerstandslehre in der Folgezeit- wie seit je- Kampfideologie und damit Moment des historischen Konfliktes ist, so bedeutet dies, daß weniger der Fall der individuellen Kollision mit der Staatsgewalt, also der monarchischen Exekutive, ihr Problem ist. Der individuelle Konflikt ist vielmehr sekundär, nur Folgeerscheinung der 13 Vgl. zusammenfassend Meisner, S. 182 ff. Zum Wartburgfest als Anlaß des Stock:ens des Verfassungsfortschritts in Preußen vgl. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, § 18, S. 307. Die sozialpolitischen Implikationen der Verfassungsfrage insbes. für die Lage des Bauernstandes werden aus Ktübers "Übersicht .. .", S. 196 ff., klar. 14 Haller: Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 2, Kap. 39, S. 407, der - vom altständischen Interesse aus argumentierend - nach der Schilderung des reformabsolutistischen "Despotismus" betont, daß im Grunde die Fundamente der monarchischen Stellung selbst berührt würden. 15 Vgl. Brandt, S. 47 ff., 49: "Anpassung altständischen Verfassungsdenkens an den monarchischen Absolutismus." 16 Für Preußen und dessen Bürokratie als Trägerin des Fortschritts zur liberalen Wirtschaftsgesellschaft Koselleck: Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, S. 55 ff., 62 ff. und ders.: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 284 ff., wo die spezifischen strukturellen Ursachen des Scheiterns der Hardenbergsehen Gesamtverfassungsbestrebungen hervorgehoben werden.

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eigentlichen Problematik, die im streitigen institutionellen Verhältnis von Gruppen zueinander besteht. Diesem Moment der Konkretisierung der Gewaltproblematik auf den Streit um die konstitutionelle Verfassung gesellt sich eine Differenzierung nach dem Stadium des Kampfes zu. Die asynchrone Verfassungsentwicklung in den einzelnen Staaten des deutschen Bundes legt schon eine gewisse Typologie nahe. Eine mit allgemeinem Gültigkeitsanspruch, als "Vernunftrecht" schlechthin auftretende Staatstheorie wendet, das wird Rottecks Beispiel lehren, die Widerstandsfolge kaum verhohlen auch gegen die noch nicht konstitutionellen Bundesstaaten. Sie ist im weitestgehenden Sinne revolutionär. Daneben etabliert sich eine vorsichtigere Theorie, die vom Boden bereits konstitutioneller deutscher Bundesstaaten ausgeht (Aretin, Mohl, Tübinger Gutachten) oder zumindest konstitutionelle Verfassungen hypothetisch setzt (Pölitz) und daher das Widerstandsrecht ziemlich eindeutig nur auf den Fall des restaurativen Umsturzes konstitutioneller Verfassungen bezogen wissen will. Jene Autoren sind natürlich insofern gleichfalls revolutionär, als sie zumindest für das späte Stadium des Verfassungskampfes, in dem eine konstitutionelle Verfassung zwar "durchgesetzt", aber noch nicht unangefochten ist, die revolutionäre Gewalt von unten gegen den Versuch der Konterrevolution zugestehen. Es bezieht sich diese Schattierung der revolutionären naturrechtliehen Widerstandslehre, wie zu sehen sein wird, auf eine ganz handgreifliche historische Gefahr der verfassungsumstürzenden Restauration. Damit ist freilich schon der Kontext des Verfassungskampfes nach Karlsbad vorweggenommen. Wie die Möglichkeiten konkret-revolutionärer Widerstandslehre, die zunächst noch in einer vom offenen Konflikt relativ freien, abstrakten Theorie des bedingten Unterwerfungsvertrages ruhen, in der Entwicklung eines Autors greifbar werden, zeigt das Beispiel Johann Ludwig Klübers.

Klüber, jener aus Süddeutschland stammende und einerseits von den neuen Ideen zwar stark beeinfl.ußte, andererseits aber noch in der Reichspublizistik wurzelnde Gelehrte und staatsrechtliche Chronist des Wiener Kongresses17, ist die prägende Autorität der deutschen frühkonstitutionellen Doktrin18 . In seinem 1817 zuerst erschienenen Handbuch "Öffentliches Recht des deutschen Bundes und der Bundesstaaten", dessen zweite Auflage (1822) ihm dann eine verletzende Maßregelung der preußischen Reaktion nach Hardenbergs Abgang einbringt, 17 Zur vielfältigen diplomatischen und literarischen Tätigkeit KW.bers er wurde von Hardenberg in preußische Dienste geholt - vgl. den biographischen Artikel von Eisenhart in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 16, S. 235 ff. 1s Maurenbrecher: Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, S. 76 ff. bezeichnet die herrschende konstitutionelle Doktrin im Vormärz als "Klüberschule".

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

sind die entscheidenden Positionen, um die es im Verfassungskampf gehen wird, schon vorgezeichnet1 9 • Im Gefolge der Konkretisierung des bürgerlich-revolutionären Verfassungsanspruchs erscheint auch bereits die Theorie vom ius resistendi in merkwürdiger Ambivalenz zwischen bloß tradiertem Theorem und brennender Aktualität für die keimende, sich dann weithin krisenhaft vollziehende Umgestaltung der deutschen Verfassungswirklichkeit. Klüber formuliert recht eindeutig schon jene konstitutionelle Position von der Staatspersönlichkeit (Staat als "moralische Person"), der an sich die vom "regierenden Subjekt" bloß ausgeübte Souveränität zukommt20 • Dieser Grundsatz,- von späteren konstitutionellen Autoren wie Albrecht begrifflich in die Formel der "Staatssouveränität" gefaßt - , neutralisiert dem Ansatz nach den Konflikt zwischen Fürsten- und Volkssouveränität21 • Klübers ganzes System wird vom Grundgedanken des staatskonstituierenden Vertrages zwischen dem Volk als Inbegriff der Untertanen einerseits und dem Regenten andererseits beherrscht22 • Diesen Grundsetzungen entnimmt Klüber eine Reihe von Folgerungen, die später großenteils Kernelemente des Staatsrechts der konstitutionellen Monarchie werden23 • Hier interessiert vornehmlich, daß Klüber die Vertragsrechte und -pftichten von Volk und Fürst insofern prinzipiell gleichsetzt, als sie gleichermaßen wechselseitig vollkommene Rechte und Pflichten sein 19 Klübers "Öffentliches Recht" basiert bis in die Formulierungen hinein auf seinem 1808 erschienenen Werk: Staatsrecht des Rheinbundes. Darin zeigt sich der historische Zusammenhang. Die Auflösung des alten Reiches und seiner wenigstens formellen Bindungen, die neu gewonnene "Souveränität" der Rheinbundfürsten treibt eine Rückbindung, die nur noch auf Kategorien des natürlichen Staatsrechts (Vertragslehre) sich stützen kann, geradezu aus sich heraus; vgl. Klüber, Einl., Kap.1, §§ 1, 2 und 2. Teil, §§ 150, 160, 162. 2o Vgl. Klüber: Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Einl., § 3, S. 5 und 2. Teil, § 176, S. 268. Zur Analyse des Klüberschen Systems vgl. auch Maurenbrecher, S. 76 ff. und Meisner: Die Lehre vom monarchischen Prinzip, S. 164 ff. 21 Zu den Implikationen der konstitutionellen Souveränitätslehre vgl. Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 481 ff., 499 ff., 502, 503. 22 Vgl. Klüber schon in der Einl., § 1, S. 1: "Nur in Verträgen ... ist der rechtliche Entstehungsgrund dieses Sicherheitsbundes (scil. des Staates) zu suchen." Ferner Einl., § 3, S. 5: das Regierungsrecht des Staatsoberhauptes resultiere aus Übereinkunft. 2. Teil,§ 176, S. 268: "Der rechtliche Entstehungsgrund der Staatsgewalt in den Bundesstaaten ist ... Unterwerfung durch Vertrag ..." Schließlich 2. Teil, § 192, S. 294 ff., 295: "In dem Innern des Staatsvereins, steht dem Staatsoberhaupt gegenüber, der Inbegriff der Staatsbürger, das Volk. Durch den Unterwerfungsvertrag ist jenem fortwährend das Recht übertragen, in den Staatsangelegenheiten den allgemeinen Willen verfassungsmäßig festzusetzen und auszuführen." 2s Vgl. etwa zu der im Hannoverschen Verfassungskampf praktisch werdenden Frage der Bindung des Regierungsnachfolgers an Regentenhandlungen des Vorgängers, mithin zur Kontinuität der Staatspersönlichkeit Klüber, 2. Teil, § 189, S. 289. Zu den weiteren Einzelfolgerungen zusammenfassend Maurenbrecher, S. 76 ff.

II. Die Widerstandsdoktrin bei Klüber

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sollen24 • Hierbei steht "vollkommen" offenbar synonym für die Erzwingbarkeit der Rechte und Pflichten25 • Daraus müßte sich für die Widerstandsproblematik eigentlich das Dilemma ergeben, das an Feuerbachs konsequenten Deduktionen schließlich offenbar wurde: Im Konfliktfall kann keiner der beiden Seiten ein autonomes Zwangsrecht abgesprochen werden. Man befindet sich im Naturzustand des je selbst beurteilten und erzwungenen Rechtes. Von einem Widerstandsrecht aber im Sinne einer übergreifenden, ausschließlich berechtigenden Norm kann ebensowenig die Rede sein, wie von einer einseitigen Zwangsbefugnis des Fürsten. Man könnte auch umgekehrt sagen: Mit dem fundamentalen Konflikt endet das Kriterium des konstitutionellen Vertragsrechtes. In diesem Sinne ist ein außerrechtlicher, bloß faktischer Zustand erreicht. Diese Position eines Teils der Kantnachfolge (Fries), die dann auch von Sylvester Jordan eingenommen wird, ist im Grunde in Klübers Obersatz von der Staatspersönlichkeit der Möglichkeit nach angelegt. Denn wenn nur dem konstitutionellen Staat und damit dem vereinten Willen der Konfliktparteien Souveränität, d . h . höchste Zwangsgewalt zukommt, so ist damit zugleich eine Souveränität je einer der Parteien negiert. Diese Konsequenzen hinsichtlich der Widerstandsproblematik zieht nun Klüber nicht. Trotz seines Ansatzes von der im Prinzip gleichen Vertragsstellung beider Parteien betont er schon zu Anfang mehr die Zwangsverbindlichkeit des MonarchenZG. Das setzt sich fort, wo unter dem Titel "Dauer des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk" der Konfliktfall in den Blick kommt. "Vermöge des Unterwerfungsvertrages", heißt es da27 , "behält das Volk, der Inbegriff der Staatsbürger, außerhalb des Staatszwecks seine Selbständigkeit; und der Regent hat die Oberherrschaft, nur unter der Bedingung pflichtmäßiger Wahl der Mittel zur Erreichung jenes Zweckes. Es kann also 1. das Volk von dem Regenten als bloßesMittel für andere Zwecke (Tyranney, Sultanismus, Macchiavellismus) nicht behandelt werden (Recht des gewaltsamen Widerstandes, ius resistendi); und 2. das Recht zu der Oberherrschaft kann, ohne gehörige Anwendung der Mittel zu dem Staatszweck, nicht bestehen. Sooft das regierende Subject anders als dem Staatszweck gemäß denkt oder handelt, thut es solches als Mensch, nicht als Regent, und es steht ihm der Unterwerfungsvertrag entgegen." Klüber vertritt hier also die Theorie vom bedingten Herrschaftsvertrag der Naturrechtslehre vor Kant. Im folgenden macht er noch klar, daß Widerstand gegebenenfalls auch die Absetzung des Fürsten einschließt. Wie die Tradition vor Kant und wie nach Kant auch Feuerbach geht Klüber also von der Möglichkeit aus, im Konflikt sei eine einseitige, aus24

2s 2&

21

Klüber, Einl., § 4, S. 6. Einl., § 5, S. 8, 9 Anm. c). a.a.O. 2. Teil, § 190, S. 291.

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Kapite14: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

schließliehe Zwangsbefugnis auszumachen. Da dies von der ja entfallenen Basis des konstitutionellen Vertrages her nicht begründbar ist, - beide Seiten sind eben über das, was erzwingbares Recht sei, fundamental unterschiedlicher Auffassung - , bleibt nur eine transzendentale oder sonst mit dem Vertragsansatz im Widerspruch stehende Verankerung übrig. Diese deutet sich bei Klüber - wiederum ähnlich wie bei Feuerbach - darin an, daß das autonome Widerstandsrecht des Volkes plötzlich zurückgebunden wird: "Aber willkürliche Widersetzung des Volkes, gegen Verfügungen des Staatsoberhauptes, wäre widerrechtlich; noch mehr willkürliche Regierungsentsetzung des Regenten ...28." Damit ist auf ein Kriterium abgehoben, von dem nur feststeht, daß es zwar einerseits eine übergreifende Bindung implizieren soll, andererseits aber im Konfliktfall gerade nicht auf dem konkreten "Vertragen" der Parteien beruhen kann. Wie nicht anders zu erwarten war, offenbart sich also auch hier der oben schon aufgewiesene Begründungsmangel der Theorie vom bedingten Herrschaftsvertrag. Folgerichtig wird auch gegen Klüber der Vorwurf erhoben, er vertrete, wenn auch unbewußt, eine verkappte Volkssouveränitätslehre29 • Abgesehen von diesen bereits zuvor erläuterten Implikationen der auf den bedingten Herrschaftsvertrag gegründeten Widerstandslehre, interessiert bei Klüber aber mehr der Grad des konkreten Zuschnitts auf den unmittelbar bevorstehenden Konflikt um die Repräsentativverfassung. In den hauptsächlichen Ausführungen zum ius resistendi ist zwar nur von Unterwerfungsvertrag und Bindung an den Staatszweck, nicht von Verfassung, geschweige denn im engeren konstitutionellen Sinne die Rede. An einer darauffolgenden Stelle, wo einmal mehr der Vertragsgedanke aufgenommen wird, heißt es allerdings, "durch den Unterwerfungsvertrag" sei dem Regenten das Recht übertragen, den allgemeinen Willen "verfassungsmäßig festzusetzen" 30 • Doch erscheint der Verfassungsbegriff hier noch ganz formal. Ähnlich formal heißt es, unter enger Bezugnahme auf die Gehorsamsfrage, in der Einleitung: "Jede Staatsgewalt hat Grenzen, entweder natürliche oder positive (verfassungsmäßige) ... "; daher gebe es keinen blinden Gehorsam31 • Eine spezifische Verfassung unter Mitwirkung des Volkes ist nur als Möglichkeit ausgewiesen: "Vertragsmäßig kann noch ausdrücklich das Recht des Volkes festgesetzt sein, über sein Interesse bei der Verfassung und Verwaltung des Staates, auf bestimmte Art selbst zu wachen32." Sind insoweit Klübers Ausführungen nicht als revolutionär gegenüber den nicht konstitutionellen Bundesstaaten zu verstehen, so wird er doch

s. 292. Vgl. Maurenbrecher, S. 163. ao Vgl. Klüber, 2. Teil, § 192, S. 294, 295. a1 Einl., § 5, S. 8. 32 a.a.O. (Hervorhebungen vom Verf.). Ähnlich 2. Teil, § 177, S. 270.

28 ·29

II. Die Widerstandsdoktrin bei Klüber

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da, wo er die landständische Verfassung ausführlich erörtert, zusehends doppeldeutiger33• Dort läßt er zunächst keinen Zweifel daran, wie "politisch" wünschenswert das Institut landständischer Mitwirkung ihm ist, freilich nicht im Sinne der machtlosen altständischen Korporationen, sondern "gegründet auf den Grundsatz allgemeiner Volksvertretung und versehen mit wesentlichen Rechten" 34 • Unter Hinweis auf die Verheißung des Artikels 13 der Bundesakte erwartet Klüber die allgemeine Einführung dieser modernisierten landständischen Verfassungsform35 • Das bedeutet für ihn der Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft nach im wesentlichen eine Korrektur zugunsten des Bauernstandes. Dies, meint Klüber, liege schon in der "Natur einer Volksvertretung"36. Was deren wesentliche Rechte angeht, so begreift Klüber darunter als Minimum 1. die Mitwirkung bei der Gesetzgebung, 2. das Budgetrecht, 3. das Beschwerderecht bei Mißständen in der monarchischen Verwaltung: Also die klassischen essentialia des konstitutionellen Regimes37 • Das Ambivalente der Stellungnahme Klübers im Zusammenhang mit seiner Gewaltrechtslehre liegt nun darin, daß er zwar einerseits die konstitutionelle Verfassungsform als eine "politisch" wünschenswerte, wiewohl erst noch zu realisierende darstellt, andererseits aber auf diese Reform einen unbezweifelbaren Rechtsanspruch erhebt. So erschließt er schon aus Artikel13 der Bundesakte die "staatsrechtliche Notwendigkeit und Gewähr der landständischen Verfassung" 38 . Dementsprechend führt er dann aus, das Volk habe ein vertragsmäßiges Interesse an der Verfassung des Staates und an dessen Verwaltung39 . Hinzu kommt der systematische Standort der Ausführungen: Sie befinden sich im zweiten Teil des klüberschen Werkes mit dem Untertitel "Staatsrecht der teutschen Bundesstaaten", beanspruchen also für alle Bundesstaaten Geltung. Die landständische Verfassung in dem von ihm definierten Sinne sei, so meint Klüber ausdrücklich, "die allgemeinP. Grundlage teutscher Verfassung" 40 • Dies alles ist bei Klüber nun gewiß formuliert im Vorgriff auf die erhoffte konfliktlose Erfüllung der in Artikel13 der Bundesakte niedergelegten Zusage, wie sie auf liberaler Seite verstanden wurde. Unter dem Aspekt des alsbald aufbrechenden Verfassungskonfliktes allerdings müssen dieser Allgemeinheitsanspruch und die bei Klüber nicht ausdrücklich vollzogene, aber schon angelegte Verbindung mit dem Widerstandsgedanken eine konstitutionell-revolu33 34

35 36 37 38 39 40

2. Teil, §§ 214 ff., S. 331 ff. unter dem Kapitel: "Die Landstände". Klüber, § 215, S. 333. § 217, s. 337, 338. § 221, s. 348. § 224, s. 355. a.a.O. - Titel des § 217. § 224, s. 355. § 225, s. 356.

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

tionäre Wendung erhalten. Dieser kleine Schritt geschieht mit entschiedenem Ausschließlichkeitsanspruch bei Carl von Rotteck, verhaltener und defensiver gegenüber der Restauration in schon konstitutionellen Staaten bei "Kompromißliberalen" wie Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Johann Christian Freiherr von Aretin, Robert von Mohl. Beide Schattierungen des konstitutionell-revolutionären Widerstandsdenkeng sind der Möglichkeit nach, d. h. in ihrem verfassungspolitischen Inhalt bei Klüber aber schon angelegt. Es kann daher nicht überraschen, daß Klüber selbst nach Karlsbad in die Schußlinie des Gegners gerät41 • Als sein Handbuch 1822 in 2. Auflage erscheint, - die Grundpositionen bleiben unverändert, wenngleich die Stellungnahme für den konstitutionellen Staat an verschiedenen Stellen noch pointierter ausfällt42 - , wird dessen Benutzung an den preußischen Universitäten untersagt. Klüber wird in Untersuchungen gezogen, wegen seiner Lehren verurteilt und nimmt seinen Abschied. Zwei der Hauptgründe für die Maßregelung berichtet er selbst in der Vorrede zur 1831 erschienenen 3. Auflage seines Buches: Einmal ist es der Allgemeinheitsanspruch seines konstitutionellen Staatsrechts, den die preußische Reaktion verdammt, vor allem aber der Umstand, daß er "kein Bedenken getragen, durchgängig die entschiedenste Vorliebe für die gegenwärtigen gemischten Regierungsverfassungen einiger Bundesländer unverhohlen an den Tag zu legen, wiewohl die neuere Gesetzgebung des Bundes bekanntlich, unter der thätigsten Mitwirkung Preußens, vorzüglich mit auf den Zweck gerichtet worden, diesen in einer noch lange zu beklagenden Epoche fast allgemeiner politischer Verwirrung mit so großer Übereilung gestifteten Verfassungen zum Grund liegenden demokratischen Prinzipien entgegenzuwirken" 43 •

41 Zur Maßregelung Klübers vgl. Schnabel: Deutsche Geschichte des 19. Jahrhundert, Bd. 2, Anm. zu S. 271, S. 398 und Klüber selbst in der 3. Auflage (1831) seines Buches, Vorrede, S. VII-X. 42 Vgl. Klüber: Oeffentliches Recht ..., 2. Aufl. (1822), § 4, S. 6, wo es gegenüber der 1. Auflage, § 5 entschiedener heißt: "Ist darin (scil. in der Verfassung) dem Volk ein Recht bedungen, für Ausübung gewisser Teile der Staatsgewalt auf bestimmte Weise durch Stellvertreter mitzuwirken, so ist die Grundverfassung eine stellvertretende oder repräsentative, und es wird durch solches Recht die politische Freiheit des Volkes bezeichnet." Vgl. auch § 92, S. 116 ff. und §§ 214, 215, S. 437 ff., wo der sonst eher trockene Klüber sehr beredt das konstitutionelle System verficht. Im 2. Teil, § 192, S. 408 ist nunmehr abweichend von der 1. Auflage die landständische Mitwirkung zum unmittelbaren Inhalt des Verfassungs- und Unterwerfungsvertrages gemacht. Schließlich ist auch der Zusammenhang mit der Gehorsamsfrage enger; vgl. Klüber, 2. Aufl., § 4, S. 5, wo gegenüber der 1. Aufl., § 5, eingefügt ist, der Staatsbürger sei nur zu "verfassungsmäßigem Gehorsam" verpflichtet. Der Terminus taucht hier erstmals auf; dazu im folgenden Kap.5, 6. 43 Klüber, 3. Aufl., Vorrede, S. VII, VIII.

III. Der Konflikt seit Karlsbad

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III. Der Konflikt mit der Reaktion seit Karlsbad Der Umsturz von unten zur Errichtung des konstitutionellen Systems der Volksrepräsentation einerseits, andererseits der restaurative Staatsstreich von oben sind die historischen Extreme jener Zeit, in deren Rahmen die Widerstandsproblematik Realität hat. Entscheidend für die Problemsicht in der konstitutionellen deutschen Doktrin ist also, daß sie sich unter der realen Drohung des Umsturzes von oben, der Konterrevolution, ausbildet. Daß seinerzeit von seiten der alten Mächte nicht nur dem sich vereinzelt regenden demokratischen Radikalismus, sondern vor allem der breiten konstitutionellen Strömung begegnet werden sollte, zeigt schon Klübers Maßregelung, der konstitutionellmonarchisch und durchaus nicht radikal-demokratisch dachte44 • Die Verschärfung der Lage gerade auch für den im bürgerlich konstitutionellen Sinne räsonnierenden Staatsdenker spiegelt eine kleine Schrift aus dem Jahre 1824 von Johann Christian Freiherr von Aretin, einem liberalen bayrischen Beamten und Gelehrten, wider, die den bezeichnenden Titel trägt: "Wie darf man in den deutschen Bundesstaaten über politische Gegenstände schreiben?" In den dort enthaltenen Empfehlungen für die Behandlung des Gegenstandes "Constitutionen" heißt es u. a.: "Über Constitutionen überhaupt muß jede theoretische Untersuchung nach wie vor freigegeben seyn und bleiben, wobei nur zu bemerken ist, daß es der bewegten Zeit wegen rathsam seyn dürfte, auf gewisse Schuluntersuchungen, z. B. ob die Macht der Fürsten von Gott komme, ob die Staatsverfassung auf einem Vertrag beruhe u. dgl., keinen besonderen Nachdruck zu legen." Von einer Wendung der Staatstheorie gegen das Bestehende rät der Autor ab: "Regierungen, welche noch das absolut monarchische System aufrechterhalten, dürfen darum nicht getadelt werden, da es im deutschen Bunde noch mehrere gibt, und da die größten Mächte die Erhaltung des Bestehenden als ihre erste Regierungsmaxime aussprechen45." Um nun geflissentlich darzulegen, daß unbefangenes staatstheoretisches Räsonnement nicht mit Treue zur Monarchie unvereinbar sei, nennt er sodann eine ganze Reihe von beamteten Autoren des 18. Jahrhunderts, so den "kurhannoverischen Hofrath" Schtözer, der "sich mit Ausdrücken, die jetzt beinahe einen Fieberfrost hervorbringen, gegen die Mißbräuche der 44 Bezeichnend ist Klübers klarstellende Distanzierung von der "demokratischen Pöbelherrschaft" bei seinem Eintreten für das konstitutionelle System in der 2. Aufl. (1822), § 215, S. 441. An der entsprechenden Stelle der 1. Aufl. (1817), § 215, S. 335 hatte es noch mißverständlich geheißen: "In dem Schoße der Landstände entwickelt sich für monarchische Staaten jene demokratische (volksmächtige) Gesinnung, durch welche sich oft schon das willkommenste, sehr heilsam angewendete Element der wahren Fürstenmacht gebildet hat."- An Klübers durchgängig neuständischer Verfassungsvorstellung ist aber nicht zu zweifeln. 45 Vgl. Aretin, S. 27.

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

Willkürherrschaft (erhob)" 46• Kern der Schrift ist ein Plädoyer für "die wahrhaft Constitutionellen", die "nichts anderes wünschen, als die Erhaltung des Bestehenden, ohne Hemmung der natürlichen Fortschritte", worin das Interesse der Throne und der Konstitutionellen identisch sei 47 • Demgemäß wendet der Autor sich gegen den "aristokratischen Nordpol" und den "Südpol der demagogischen Ultra" die "durch gewaltsames Umwälzen, gegen das stille aber kräftige Walten der Zeit und der Gottheit" Änderungen anstrebten48 • "In der Mitte beider stehen, von oben wie von unten bedroht, die menschenfreundlichen Fürstengeschlechter, der ächte Adel, die treue Bürgerschaft49 . " Die Folgerung: Als Schriftsteller solle man sich enthalten, die berüchtigten demagogischen Umtriebe deutscher Akademiker und Jugendlehrer in Schutz zu nehmen. Sie zielten auf den Umsturz alles Bestehenden ab. Andererseits dürfe man aber ungeachtet des monarchischen Prinzips die Grenzen und den Umfang desselben untersuchen50• Diese offensichtliche Defensivstellung auch der Konstitutionellen kennzeichnet die Stärke der Reaktion im Karlsbader System. Mit der Ministerialkonferenz des Jahres 1819 in Karlsbad und ihren Beschlüssen verbindet sich zwar in erster Linie die Vorstellung der Pression gegen die Opposition in der studentischen Jugend und der Publizistik (Universitätenkontrolle, Zensur, Demagogenverfolgung)51 • Ein zumindest gleichgewichtiges Thema der Konferenz war jedoch die Verfassungsfrage52. Die mettemichsehe Politik zielte mit Macht auf eine Revision der als gefährlich empfundenen konstitutionellen Entwicklung in einigen, zumal den süddeutschen Staaten ab. Zu diesem Zweck entwickelte Friedrich von Gentz in einem Memorandum für die Konferenz eine Interpretation des Artikels 13 der Bundesakte vom 8. Juni 1815, wonach unter landständischer Verfassung ausschließlich altständische Verfassung zu verstehen sei, während die neueren Repräsentativverfassungen als der monarchischen Stellung gefährlich, tendenziell revolutionär, die Bundeseinheit sprengend und mithin als bundesrechts48 47 48

49

50 51

s. 30. s. 40. Aretin, s. 41. s. 43.

S. 41.

Zum Inhalt dieser Beschlüsse und der entsprechenden Bundesbeschlüsse

Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, § 36, S. 643 ff. und Ka.ttenborn:

Geschichte der deutschen Bundesverhältnisse, Bd. 1, S. 365 ff. Die Konferenzprotokolle finden sich bei Klüber!Welcker: Wichtige Urkunden . . . 52 Das ergibt sich schon aus der Häufigkeit, mit der ausweislich der Protokolle die Verfassungsfrage zur Debatte stand. Vgl. auch Kaltenborn, S. 368. Meisner, S. 185 urteilt, "die Beratungen über den 13. Artikel bildeten, was gewöhnlich nicht genügend hervorgehoben wird, den Kernpunkt der Karlsbader Konferenzen".

III. Der Konflikt seit Karlsbad

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widrig anzusehen seien53 • Ausdrücklich knüpfte er an diesen Befund die Folgerung, daß die bereits bestehenden modernen Verfassungen zu beseitigen seien: Man müsse dem Bund entsagen, wenn den Fürsten, "die bei der Bildung ihrer Verfassungen den einzig wahren, einzig zulässigen Sinn dieses Artikels (scil. 13 BA) verfehlten, nicht zu einer geschickten und anständigen Rückkehr die Hand geboten werden kann ..." 54 • Dieses Restaurationsunterfangen scheiterte am Widerstand vornehmlich des württembergischen Bevollmächtigten55• In der Begründung dieser Opposition macht sich schon früh eine Auffassung geltend, die - im hannoverschen Konflikt dann schon auf breiterer Basis - schließlich zum Friedensschluß mit der konstitutionell-liberalen Bewegung führen sollte. Die gentzsche Interpretation des Artikels 13 der Bundesakte sei "für den ganzen Bund höchst mißlich, d. h . die öffentliche Ruhe bedrohend und revolutionäre Ausbrüche provocierend", weil "ein retrograder Schritt dieser Art die öffentliche Meinung an ihrer empfindlichsten Stelle verletzen würde". Altständische Verfassungsformen würden mit Kastengeist identifiziert und seien verhaßt. "Den Ansichten dieser Art ist zuviel Zeit und Raum gelassen worden, ihre Wurzeln tief ins Innerste zu schlagen, als daß sie jetzt ohne Gefahr wieder ausgerottet werden könnten56 ." Statt dessen wird darauf verwiesen, wenigstens die weitere Ausbreitung der repräsentativen Verfassungen zu verhindern57 • Diesen Kompromiß enthält schließlich auch die Wiener Schlußakte von 1820 in ihren einschlägigen Artikeln 54 ff.58 • Artikel 56 räumt ein: "Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen können nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden." Die in Karlsbad so mächtig geltend gemachte Absicht der Konterrevolution59 ist damit freilich nicht erledigt. 53 Vgl. Gentz: Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen, in: Klüber/Welcker, S. 220 ff., 222, 226, 227, 228. Dazu Brandt: Landständische Repräsentation, S. 51 ff., der darauf hinweist, daß erst mit Gentz' Memorandum die Entgegensetzung landständisch- repräsentativ zur polemischen Kategorie des Verfassungskonfliktes wurde. 54 Gentz, S. 229. Ähnlich das Protokoll der 7. Konferenz vom 13. 8. 1819, in: Klüber/Welcker, S. 123 ff., 129, wo von "Remedur gegen das bereits Geschehene" in richtiger Auslegung des Art. 13 der Bundesakte die Rede ist. 55 Vgl. die Bemerkungen des Grafen Wintzingerode als Nebenbeilage 2 zum 9. Protokoll, in: Klüber/Welcker, S. 295 ff., 297, 298. 56 Vgl. S. 297. Auch der bayrische Konferenzbevollmächtigte hatte bereits auf der 8. Konferenz vom 15. 8. 1819 geäußert, der (scil. Gentzsche) Begriff einer Volksrepräsentation könne auf die bayrische Verfassung nicht angewendet werden; vgl. Protokoll in: Klüber!Welcker, S. 131 ff., 133, 134. Ähnlich der badische Vertreter auf der 10. Konferenz vom 18. 8. 1819 hinsichtlich der badischen Konstitution; vgl. Protokoll in: Klüber/Welcker, S. 138 ff., 140. 57

s. 298.

Text der Wiener Schlußakte des Jahres 1820 bei Huber: Dokumente, Bd. 1, S. 81 ff., 88 ff. Konferenzprotokolle bei Aegidi: Die Schlußacte .. . Zur Würdigung Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 258 ff. 59 Von liberaler Seite wurde die Gentzsche Interpretation des Art. 13 der 58

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Kapitel4: Die Widerstandslehre im Verfassungskampf

Von Stabilität im Sinne einer anerkannten Hinnahme des konstitutionellen Systems auf Seiten der "Reaktionspartei" kann nicht die Rede sein. Diese findet sich mit dem Kompromiß des status quo nicht ab. Im Jahre 1825 rechtfertigt Theodor Schmalz, einer ihrer publizistischen Vertreter, in seinem Staatsrechtslehrbuch kaum verhohlen die Reaktion: Der Monarch solle sich nicht von Empörung oder Gehorsamsverweigerung eine Verfassung abnötigen lassen; "aber hat er dieser moralischen Pflicht nicht genüget, verlieret er darum, verlieren die rechtlichen Leute im Lande das juridische Recht, für nichtig zu erklären, was nach allem Rechte nichtig ist?"60 • In einigen süddeutschen konstitutionellen Staaten kommt es denn auch zu ernsthaften Staatsstreichplänen auf Regierungsseite61 • Diese scheitern freilich am Stabilitätsinteresse der Führungsmächte des deutschen Bundes. In seinem Schreiben vom 4. 5. 1820 an den badischen Minister von Berstett rät Metternich vom Umsturz ab und macht sich die Argumentation des inzwischen im Zuge der Reaktion gestürzten Grafen Wintzingerode in Karlsbad zu eigen62 • Die Erhaltung des Bestehenden gebiete nicht nur bloß die alte Ordnung, sondern auch neu eingeführte Institutionen, sobald sie einmal verfassungsmäßige Kraft hätten, unberührt zu halten. Sowohl der Übergang vom Alten zum Neuen als auch "die Rückkehr vom Neuen zu dem bereits erloschenen Alten" könnten Unruhen herbeiführen, die um jeden Preis vermieden werden müßten. Von der einmal feststehenden anerkannten Ordnung, "sei sie älteren oder neueren Ursprungs, sich um keinen Schritt weder vorwärts noch rückwärts wegdrängen zu lassen", sei die erste Pflicht einer Regierung, "die den Gefahren der Zeit die Spitze bieten will". Diese noch durchaus instabile historische Lage des Konfliktes gibt der in der Staatstheorie vertretenen Widerstandslehre die Konturen. Der soeben angedeuteten Aufspaltung der Gegenseite in eine zur Konterrevolution neigende "Restaurationspartei" einerseits und in eine gemäßigtere konservative Richtung andererseits, der die Bundespolitik zunächst folgt, entspricht nun auch eine Differenzierung im liberalen Lager. Einerseits macht sich der vernunftrechtliche Totalitätsanspruch mit revolutionärer Implikation gegen alle noch nicht konstitutionelle Staatlichkeit geltend. Diese Richtung wird in der Staatsrechtsdoktrin am entschiedensten noch von Rotteck vertreten. Andererseits aber entwickelt sich eine Kompromißposition, die Gewalt von unten allenBundesakte als "revolutionär" gegen die bereits bestehenden repräsentativen Verfassungen aufgefaßt; vgl. die Anmerkung Wetckers zu den Bemerkungen Wintzingerodes (oben Anm. 55). so Schmalz: Das teutsche Staatsrecht, S. 14, 15. 61 In Baden 1820, in Bayern 1822; vgl. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, § 22, S. 368, 378, 379. 62 Vgl. bei Klüber/Wetcker: Wichtige Urkunden, S. 335 ff., 337.

I.

Rotteck

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falls für ein späteres Stadium des Konfliktes reflektiert, nämlich gegen den Versuch eines verfassungsrevidierenden, konterrevolutionären Umsturzes von oben.

Kapitel5 Die konstitutionelle Widerstandslehre zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

I. Der Totalitätsanspruch des vernünftigen Rechts: Carl von Rotteck Der Titel von Rottecks Lehrbuch- "Vernunftrecht" -ist programmatisch: "Das Staatsrecht kann nach seinen Hauptgesetzen nie ein anderes als das Natürliche, d. h. rein Vernünftige seyn. Das Positive, insofern es jenem widerstreitet, ist nur faktische Behauptung, nicht aber Recht1." Das vernünftige Recht, im Gegensatz zum historischen, identifiziert er dann im Vorwort zum Staatslexikon mit der Revolution2 • Verfassungspolitisch gewendet, besteht für ihn die praktische Verwirklichung des Vernunftsrechts der französischen Revolution im Repräsentativsystem, in der konstitutionellen Monarchie. Die Geschichte des Staatsrechts stellt sich so als ein Gang zur Erlösung dar. Was mit der Reformation erst eigentlich anhebt, kulminiert in der französischen Revolution, durch welche "die Lehren eines vernünftigen Staatsrechts durch das im Gefolge der Revolution in vielen Staaten bereits eingeführte konstitutionelle, zumal Repräsentativsystem eine praktische Anerkennung erhalten" haben3 • Die revolutionäre Ausschließlichkeit gegenüber aller nicht konstitutionellen, nicht vernunftrechtlichen Staatlichkeit ist also im Ansatz eindeutig. Freilich sucht Rotteck,- darin wird die Gegenströmung des mächtigen ancien regime spürbar -, die Kollision zu mildern. Das Vorwort seines Vernunftrechts ist für diesen Zwiespalt zwischen seinem konstitutionell-revolutionären Ansatz und der Rücksicht auf die Gegenseite aufschlußreich. Nie feindseliger als heute habe die Schule, also die im Privatrecht der Zeit schon ganz herrschende historische Rechtsschule, gegen die Wahrheit oder Gültigkeit des Vernunftrechts sich erhoben. Das Vernunftrecht werde "gehaßt, verunglimpft, verdächtigt und herabgewürdigt . .. weil es 1 Vgl. Rotteck: Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 2 (Metapolitik), S. 75. Ähnlich Bd. 1, Vorwort, S. VII. 2 Vgl. Staatslexikon hrsgg. von Rotteck und Welcker, Bd. 1 (1834), S. XVI, XIX. 3 Rotteck: Vernunftrecht, Bd. 2, S. 77 ff., 79. Dieselbe Identifizierung von Vernunftrecht und konstitutionellem System sowie die Parallelisierung mit der Reformation finden sich im Vorwort zum Staatslexikon, S. XVI, XVII.

72

Kapitel5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

gegen den Mißbrauch der Gewalt, gegen den Übermuth der Privilegierten, überhaupt gegen das historische Unrecht den offenen Krieg führt" 4 • Die fachjuristische Opposition, die nur dem Druck der Reaktion des Karlsbader Systems entspricht5 , veranlaßt den Autor zu freilich bloß verbalen Abstrichen. Von "Luftgebäuden älterer und neuerer naturrechtlicher Schulen" setzt er sich ab, eine revolutionär gewaltsame Tendenz seiner Lehre weist er von sich: "Nicht revolutionär, sondern auf gesetzlichem Wege sollen sie (scil. Freiheit und Recht) ins bürgerliche Leben geführt, zur Herrschaft erhoben werden6 ." In der vernunftrechtlichen Deduktion des richtigen Staatswesens entspricht dem die Rücksicht auf die Stellung des Monarchen. Zwar folgt Rotteck im Ansatz der Lehre Rousseaus von der Souveränität des Gesamtwillens, bricht aber in dem zentralen Punkt aus ihr aus, wenn er doch die Möglichkeit eines Herrschaftsrechtes gegenüber der Gesamtheit selbst annimmt7. Dieser Zwiespalt zwischen dem revolutionären Totalitätsanspruch für das vernünftige, konstitutionelle Recht einerseits und der begreiflichen Rücksicht auf bestehende Machtverhältnisse andererseits setzt sich in der Behandlung der Gewaltrechtsproblematik fort. Entschieden aufrechterhalten bleibt zunächst der traditionelle Deduktionszusammenhang; denn in der systematischen Stellung und der Sache nach basiert die Behandlung des Problems von Gehorsam und Widerstand auf Rottecks Explikationen zur richtigen Konstituierung des Staates8• Die Fragestellung ist allerdings zurückhaltender. Sie zielt nicht, wie ganz überwiegend noch zur Revolutionszeit, in erster Linie und unmittelbar auf das Widerstands- bzw. Revolutionsrecht. Rotteck fragt vielmehr umgekehrt nach den Grenzen des Gehorsams9 • Er betont zunächst die Rotteck: Vernunftrecht, Bd. 1, Vorwort, S. VII, VIII. Bd. 2, S. 79: "es hat die Reaktion sich bemüht, alles vernünftige Staatsrecht, alle und jede Behauptung eines gegenüber der Allgewalt noch bestehenden Volksrechtes, überhaupt eines dem historischen Recht voranzusetzenden ewigen Rechtes niederzudrücken oder niederzuschlagen. In mehr als einem Staat sind hiernach die traurigsten Rückschritte geschehen." 6 Bd.1, Vorwort, S. IX, XIV, XV. 7 Bd. 2, S. 87 ff.: von der Notwendigkeit der Konstituierung eines künstlichen Organs des Gesamtwillens, der Staatsgewalt, ausgehend, kritisiert R. zunächst die Theorie vom Unterwerfungsvertrag, sie gehe von einer gänzlichen Veräußerung der Vollgewalt und damit von der Rechtlosigkeit des Volkes aus (S. 87). Die Staatsgewalt kann also nur schon durch den Vereinigungsvertrag, durch den Gesamtwillen konstituiert werden (S. 88). Hier nimmt nun aber R. abweichend von Rousseau die Möglichkeit an, daß der Gesamtwille dem Organ auch ein (Herrschafts-)Recht gegenüber der Gesamtheit selbst solle verschaffen können (S. 92): er gelangt also letztlich zu demselben Ergebnis wie die zuvor abgelehnte Unterwerfungsvertragstheorie. Vgl. demgegenüber Rousseau: Contrat social, Lib. II, Chap. 1, der auf der Unveräußerlichkeit der von Ursprung an in der Gesamtheit liegenden Souveränität beharrt. s Beides ist in einem Abschnitt unter zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln behandelt, vgl. Rotteck, Bd. 2, §§ 18 ff. bzw. 25 ff. o S.104. 4 5

I. Rotteck ·

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Heiligkeit der durch den Gesamtwillen rechtlich konstituierten Staatsgewalt10. Die Kollision mit dem einzelnen Bürger ins Auge fassend, verneint er zwar die Gehorsamspflicht gegenüber staatsvertragswidrigen, vernunftwidrigen Befehlen, schließt aber individuelle Selbsthilfe dagegen aus11 • Der Gesamtwille darf also jedenfalls dem einzelnen Willen gewaltsam zwingend begegnen. Diese erste Auskunft ist freilich nur eine Ebene, welche die darauffolgenden konstitutionellrevolutionäreil Explikationen verschleiert. Denn die Prämisse des Selbsthilfeverbots ist der existente Staatsvertrag! Diese zunächst unausgesprochene Voraussetzung wird erstmals deutlicher, wenn das prinzipielle Widerstandsverbot für den Fall eingeschränkt wird, daß "in einem Staate gar keine Teilnahme des Volkes oder öffentlichen Meinung an der Gesetzgebung stattfände oder etwa gar keine öffentliche Meinung und daher auch kein wahrhafter Vereinigungsvertrag bestünde. In einer solchen Lage jedoch hört im Grunde aller Rechtszustand auf und besteht bloß ein faktischer" 12. Der Staatsvertrag, der nach Rottecks Konstruktion die Herrschaft schon mitkonstituiert, ist also, so wiederholt der Autor die konkrete verfassungspolitische Identifizierung, das Repräsentativsystem. Dieses allein ist der zum Gehorsam verbindende Rechtszustand schlechthin. Das heißt umgekehrt, daß ohne verwirklichtes konstitutionelles System ein Rechtszustand eben überhaupt nicht besteht, sondern bloß ein faktisches Gewaltverhältnis. Daß hier das Volk legitimiert sei, den Rechtszustand zu erzwingen, ist bei Rotteck ebenso ausgemacht wie bei Rousseau. Ebenso unzweideutig wird das Recht der Volksgewalt gegen den konterrevolutionären Umsturz einer schon bestehenden Repräsentativverfassung postuliert. Die Frage, "ob die Majestät verantwortlich sei" bejaht Rotteck: "Krieg kann wohl sein, zwischen König und Volk, wenn der völlige und evidente Bruch des Vertrags die Bande des Gehorsams löst, und die ihres bürgerlichen (auf der Heiligkeit des Staatsvertrages ruhenden) Rechtszustandes beraubte, auch etwa eines constitutionellen Mittels zur Abhülfe entbehrende Nation in den reinen Naturzustand gegenüber ihrem Dränger setzt13." Der faktische Zustand stellt sich nicht als ein Naturzustand gleichen Rechts und Unrechts dar, sondern als unrechtmäßig gewaltsame Unterdrückung des Bürgervolkes durch die überkommenen Mächte, die abzuschütteln jedenfalls gerechtfertigt ist. Der revolutionäre Ansatz des Vernunftrechts bestätigt sich also an dem Kernproblem, an welchem er sich bekennen muß.

10

s. 103, s. 107,

104. 109. 12 Rotteck, S. 109, 110. 13 s. 112 ff., 115. 11

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Kapitel5 : Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

Bezieht sich das auf den zeitgenössischen Verfassungskampf, so wird auch eine andere, weiter in die Zukunft weisende Seite dieser Position bei Rotteck erkennbar: Die Apologie des konstitutionellen Systems als der verwirklichten Vernunft schlechthin, sein Totalitätsanspruch schließt jeden dagegen gerichteten Willen aus. Diese Implikation verdeutlicht sich noch, wenn Rotteck das Problem der individuellen Kollision noch einmal aufnimmt. "Bei Befehlen, welche wider die bestehenden Gesetze streiten, überhaupt bei Rechtsverletzungen, die der Regent mir zufügt, bin ich in der Regel zu gehorchen oder zu dulden schuldig. Denn zwar nicht der Regent persönlich hat das Recht es zu fordern, wohl aber die Gesamtheit, gegen welche ich mich durch den Vereinigungsvertrag verpflichtet habe, einmal keine Selbsthilfe anzuwenden und sodann all jenes Ungemach und selbst alles Unrecht zu dulden, welches etwa aus der Natur oder aus der stets mangelhaften Einrichtung des gemeinen Wesens unabwendbar auf mich flösse, also namentlich auch den etwaigen Gewaltmißbrauch des Regenten14." Bei ganz gravierenden Fällen werde ohnehin die Gesamtheit ihrer Schutzverpflichtung durch einen Aufstand zugunsten der ungerecht behandelten Bürger nachkommen, was wiederum nur praktisch werden könne, wenn es an einem konstitutionellen Organ zur Geltendmachung des Rechts fehle 15 • Diese Stellen klären den Begründungszusammenhang. Eine Teilnahme des Volkes an der Ausübung der Staatsgewalt, das Repräsentativsystem, stellt sich Rotteck als den verwirklichten Zustand vernünftigen Rechts schlechthin vor. Zwar wird dadurch nicht jegliche Verletzung einzelner Untertanen ("stets mangelhafte Einrichtung des gemeinen Wesens"), wohl aber werden gravierende Fälle ("Greuel") praktisch ausgeschlossen16 • Eigentlich sichert also das konstitutionelle System den einzelnen in seinen Belangen. Pannen mag er widerstandslos hinnehmen. Die einzige Alternative sieht Rotteck nur im Zerbrechen des Systems, im Krieg der Gesamtheit gegen die organisierte Staatsgewalt. Diese Apologie des Konstitutionalismus, von dem optimistisch eine dauernde Friedensverwirklichung erwartet wird, beruht auf der Voraussetzung einer Interessenidentität des Volkes und der es repräsentierenden Versammlung. Das verdeutlicht ein Blick auf den Abschnitt über die konstitutionelle Monarchie17 • Die Präsumtion der Interessenidentität18 ergibt sich aus der Zusammensetzung der Landstände, die Abbild des Volkes d. h. aber des dritten Standes (Bürger und Bauern) sein und von diesem gewählt sein müssen19 • Eine neue, die Identitäts14 15 16

S.llO.

s. 111,

112.

Vgl. Rotteck, S. 111: Europa werde durch seine Zivilisation in Zukunft

vor Szenen des Entsetzens bewahrt bleiben. 17 s. 225 ff. 18 s. 225, 226, 230. 19 s. 248, 249.

I. Rotteck

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vorstellung des konstitutionell-monarchischen Regimes zutiefst in Frage stellende Konfliktebene des sich zu einer politisch selbstbewußten Gruppe konstituierenden vierten Standes kommt für Rotteck, seinerzeit der historischen Realität entsprechend, noch nicht in Betracht. Für die "natürlich oder politisch Unvollbürtigen, also Kinder, Weiber, Knechte usw." sollen keine eigenen Wahlkollegien gebildet werden. "Doch finden sie in den von den Vollbürtigen, d. h. von den Großjährigen, Männern und Freien aller Klassen gewählten Deputierten ihre vollkommen zuverlässige Vertretung" 20 • Unter der Prämisse institutionell gesicherter Interessenidentität von Repräsentanten und Repräsentierten, also von Herrschern und Beherrschten, sind Konflikte alternativ nur als eine fundamentale Kollision zwischen dem Volk bzw. seiner RepräsentativKörperschaft und der Staatsgewalt oder nur als einzelne, nicht signifikante Panne mißbrauchter Exekutivgewalt denkbar. Tertium non datur. Demnach macht den Exponenten des süd-westdeutschen Liberalismus hier zweierlei bemerkenswert. Einmal restauriert er die vorkantische revolutionär-naturrechtliche Doktrin mit Bezug auf den konkreten Verfassungskonflikt wohl am radikalsten in der Staatsrechtslehre21 • Sein schon zum parlamentarischen Regime neigender Konstitutionalismus, - die Vertragslehre ist bei ihm Hebel zu ganz extensiver Auslegung der landständischen Kompetenzen22 - , mit deutlich revolutionärer Tendenz gegen alle nicht dem Vernunftrecht entsprechende Staatlichkeit vereint ihn mit Volkssouveränitätsautoren, wie sie sich erst nach 1830 wieder äußern23 • Von den radikalen Demokraten des Vormärz trennen ihn freilich entscheidend seine bürgerlich neuständischen Vorstellungen24 • Andererseits macht aber gerade sein 20 21

s. 250.

Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Kap. 4, S. 375, 376 apostrophiert Rotteck als Vertreter des doktrinären Liberalismus. Vgl. zu Rottecks Einfluß Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S.177, 178 und - zu seiner Rolle im badischen Kontext - Gall: Der Liberalismus als regierende Partei, S. 44 ff. 22 Rotteck, Bd. 2, S. 242 ff., 243: "Alle Rechte der Staatsgewalt, welche nicht ausdrücklich an das künstliche Organ des Gesamtwillens, d. h. an die Regierung übertragen wurden oder nicht ausschließend derselben angehören, sind als vorbehalten für das Volk oder dessen Ausschuß ... zu betrachten." - Genau umgekehrt das "monarchische Prinzip" der Gegenseite; vgl. Art. 57 der Wiener Schlußakte von 1820 bei Huber: Dokumente, Bd. 1, S. 87 und die restriktiven Wiener Beschlüsse von 1834, S. 123 ff. 23 Vgl. etwa die Schrift des liberalen Journalisten Murhard: Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung ..., die zwar vornehmlich Literaturexzerpte und -referate enthält, dazwischen aber auch eigene Stellungnahmen im Sinne der Volkssouveränität, so etwa S. 356, 379 ff., 380. Vgl. ferner Hoftmann: Die staatsbürgerlichen Garantien, - die Schrift eines liberalen Richters aus der bayrischen Pfalz, der gleichfalls die Erhebung des Volkes für eo ipso gerechtfertigt hält (Bd. 2, S. 242 ff.). 24 Vgl. etwa die von Heine: Ludwig Börne, eine Denkschrift, 3. Buch, berichtete äußerst abfällige Äußerung des im Pariser Exil lebenden Börne über Rotteck.

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Kapitel5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

radikaler, revolutionärer Konstitutionalismus die Grenzen dieses Vernunftrechts klar. Der naturrechtliche Objektivismus negiert nicht nur die konservativen Mächte und die Konterrevolution, sondern nimmt, indem er das konstitutionelle System idealisiert und damit jede aus zukünftiger Entwicklung resultierende historische Individualität gleichfalls ausschließt, selbst schon eine potentiell konservative Position ein.

11. Der Druck der Zeit auf liberaLe Staatsrechtsautoren in nichtkonstitutionellen Staaten: Sylvester Jordan Die im Ansatz Totalitätsanspruch erhebende, sich gegen jeden Rest eines historischen Rechts wendende konstitutionell-revolutionäre Doktrin Rottecks bleibt, gerade was die Frage des Krieges zwischen König und Volk angeht, in der Staatsrechtslehre jener Zeit vereinzelt. Die Aussichten auf weitere Ausbreitung des konstitutionellen Systems schienen angesichts einer bis 1830 erfolgreichen Restriktionspolitik gering zu sein. Das bestehende ancien regime - in den Führungsmächten des Bundes und in den norddeutschen Staaten ungebrochen war, so schien es, auf unabsehbare Zeit nicht unter den konstitutionellen Vertrag mit dem Bürgervolk zu beugen. Die nicht geringen persönlichen Gefahren für Autoren, die in nichtkonstitutionellen Staaten eine auch nur ambivalent-revolutionäre Lehrmeinung vertraten- das lehrt das Beispiel Klübers- taten wohl ein übriges. Jedenfalls ist die überwiegende Staatsrechtsdoktrin in ihrem Konstitutionalismus behutsamer, was den Gültigkeitsanspruch des vernünftigen Rechts und die damit eng zusammenhängende Widerstandsproblematik angeht. In welches Spannungsverhältnis liberale Autoren in nichtkonstitutionellen Bundesstaaten sich gestellt sehen konnten, beweisen die "Versuche über allgemeines Staatsrecht" des in Marburg (Kurhessen) lehrenden Professors Sylvester Jordan, der später die kurhessische Verfassungsurkundevon 1831 mitverfaßte, seit 1839 wegen des Verdachtes revolutionärer Umtriebe sechs Jahre lang eingekerkert war und der schließlich in der Faulskirehe mit Mittermaier, MohL, Römer zur parlamentarisch-liberalen Richtung (linkes Zentrum) gehörte25 • Die angespannten Zeitverhältnisse, innerhalb derer die staatsrechtlichen Explikationen Jordans zu sehen sind, werden schon in der Vorrede seines Werkes unmittelbar angesprochen26 : "Wer den Geist und das politische 25 Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Kap. 1, S. 62 ff. und Kap. 6, S. 398 ff. Die beiden Urteile im Höchverratsprozeß gegen Jordan aus den Jahren 1843 (verurteilend) und 1846 (freisprechend) geben, abgesehen von dem schillernden Bild des Professors, gute Einblicke in das Klima der Zeit und in die soziale Herkunft der revolutionären Opposition. 26 Vgl. Jordan: Versuche, Vorrede, S. III ff.

11. Jordan

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Treiben unserer Zeit kennt, wird es dem Verfasser auch ohne Versicherung glauben, daß er die vorliegende Schrift nicht ohne Bangigkeit dem größeren Publikum vorlegt." Man könne in dieser Zeit auf dem staatsrechtlichen und politischen Gebiete kaum einen Weg einschlagen, ohne nicht von heftigen Parteigängern überfallen zu werden oder gar Häschern in die Hände zu geraten. Das Streben nach dem zeitgemäßen Besseren werde für Revolutionsgeist erklärt. Wer von Verfassungen spreche, müsse befürchten, als Feind des Monarchen verschrieen zu werden. Das Alte und das Neue, "wie zwei Gewitterwolken zum zerstörenden Kampf gerüstet", stünden einander gegenüber. Jenes wolle nach dem Ende der französischen Herrschaft alles Frühere vollständig wieder herstellen und die Resultate der Revolution gänzlich zerstören, was aber dem Gang der Geschichte widerspreche27 • Daher sei dieses Streben vergeblich. "Aber ebenso töricht würde es sein, wenn man das Alte mit Gewalt zerstören wollte", da die gewaltsame Zerstörung des Alten der Entwicklung des Neuen höchst verderblich wäre. Demnach sei es Aufgabe der Weisheit, daß man weder das Alte gewaltsam zerstöre, noch das Neue gewaltsam verhindere28 • Von dieser richtigen Ansicht jenseits der extremen Abwege von Revolution und restaurativer Konterrevolution, gehe auch er bei seinen Versuchen aus29• Die Distanzierung von den revolutionär gewaltsamen Konsequenzen der Naturrechtslehre bleibt nun anders als bei Rotteck nicht auf die Vorrede beschränkt. Eben das, was die revolutionäre Sprengkraft der Naturrechtsdoktrin und der Vertragslehre ausmachte- die Behauptung unmittelbarer Geltung gegenüber abweichenden Verhältnissen- wird von Jordan zurückgenommen. Es gebe, so führt er zum Begriff des allgemeinen Staatsrechts aus, zwei extreme Grundansichten: die historische und die philosophische30• Nach jener liege der Rechtsgrund äußerer Herrschaft nur in der Geschichte, beruhend auf göttlicher Verleihung, Eigentum von Grund und Boden oder auf dem Rechte des Stärkeren. Nach dieser beruhe Recht zur Herrschaft auf freier Übereinkunft (Vernunft). Den Grundfehler beider Ansichten - "Reaktionssystem" und "Revolutionssystem" - sieht Jordan in ihrem je ausschließlichen Geltungsanspruch. Wie jene alles Bestehende erhalten und auch gelungene Reformen zerstören wolle, so führe diese zum Niederreißen alles Bestehenden und zum Umsturz aller äußeren Herrschaft31 • Demgegenüber plädiert Jordan für eine vermittelnde Position, das "Reformationssystem", das zwar die Grundelemente der beiden gegensätzlichen Auffassungen vereinigen und ihre Einseitigkeiten vermeiden soll, dessen

29

S. IV. S. V. S. VI.

31

s. 8-10.

27 28

ao Jordan, S. 7.

78

Kapitel5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

Gestaltung er aber nicht näher konkretisiert32 • Diese Positionen verbieten es a limine, auf die konstitutionelle Repräsentativverfassung mit revolutionärem Rigorismus Anspruch zu erheben. Zwar ist Jordan natürlich Konstitutionalist. Seine diesbezüglichen Ausführungen haben aber den ausdrücklichen Charakter von nur "politischen" Forderungen auf Einrichtung des erstrebenswertesten Verfassungszustandes, nicht aber wird dessen unmittelbare Geltung behauptet33• Damit wird die konkrete Identifizierung der naturrechtliehen Vertragslehre mit dem Repräsentativverfassungssystem wieder aufgelöst. Die Herrschaftsvertragslehre erscheint bei Jordan ohne den konkreten verfassungspolitischen Inhalt des Zeitkonfliktes als relativ formale Theorie von Herrschaftsentstehung überhaupt34 • Daraus folgt für die Frage des Konfliktes, daß es keine rechtliche Option für einen bestimmten Inhalt geben kann. Die Vertragspartner sind sich ebenso gleich wie im vertragslosen Naturzustand: "In Ansehung des Vertrages bleiben die Kontrahenten fortwährend im Naturstande und daher im Zustande der ursprünglichen Gleichheit, da sie hinsichtlich dieses Vertrages unter keinem äußeren Richter stehen, vor welchem sie die über denselben entstandenen Streitigkeiten anzubringen und entscheiden zu lassen rechtlich verbunden wären. In Ansehung dieses Vertrages ist daher der Herrscher ebensowenig berechtigt, das Volk als moralische Person zur Verantwortung zu ziehen, als dieses jenen zu einer solchen auffordern darf. Beide stehen in dieser Beziehung bloß unter dem Richter in der eigenen Brust35." Es gebe "kein rechtliches Zwangsmittel, durch welches der Herrscher das Volk (als Gesamtheit) und dieses jenen, zur gewissenhaften Erfüllung der übernommenen Pflichten anhalten könnte" 36 • Jordan knüpft also an Fries37 und dessen Position an, die nach diesem auch - gleichfalls schon in der Restaurationsperiode und in einem nichtkonstitutionellen Staat - der Jenaer geheime und Oberappellationsrat Karl Ernst Schmid vertreten hat38• Insofern freilich diesem s2 S. 10. Den Rückzug vom naturrechtliehen Geltungsanspruch verdecken einige dunkle Metaphern über das Verhältnis von Philosophie (Vernunft) und Geschichte (Körper); vgl. S. 11, 13. 33 Vgl. Jordan, S. 176 ff. 34 s. 102, 105. 35 S.106. 36 S.107. 37 Vgl. dazu Kap. 3. 38 Vgl. Schmid: Lehrbuch des gemeinen deutschen Staatsrechts. Der Autor sieht den Staat im Anschluß an Kant als ein notwendigerweise zu konstituierendes Vertragsverhältnis an (S. 14, 16). Doch vertritt er dann einen vorkantisch-naturrechtlichen Objektivismus, wenn er den Inhalt des Staatsvertrages und die Kompetenz der Staatsgewalt "ganz unabhängig von der Willkür der Menschen durch die notwendigen Zwecke des Staates bestimmt" glaubt (S. 17). Ein einseitig-absolutes Recht einer Seite über die andere kann es also nicht geben. Kommt es zum Konflikt, so sind beide im Recht oder im Unrecht: "Notwehr zum Schutze der unersetzlichen und unschätzbaren

III. Pölitz, Aretin, Mohl

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"non liquet" keine verfassungspolitische Vermittlungsposition entspricht - denn Jordan gehört seiner politischen Betätigung nach sogar eher zum linken Flügel des Liberalismus -, erweist es sich als eine deutlich durch Zeitrücksichten veranlaßte Behutsamkeit39 , die übrigens nicht vereinzelt ist4o.

III. Die Begrenzung der Widerstandsproblematik auf den konterrevolutionären Umsturz konstitutioneller Verfassungen bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Johann Christian Freiherr von Aretin, Robert von Mohl Bei Rotteck bezieht die herkömmliche, relativ abstrakte Vertragslehre aus dem Anspruch auf den Verfassungsvertrag und aus der naturrechtlichen Geltungsbehauptung für das Repräsentativverfassungssystem eine konkret revolutionäre Neigung gegenüber nichtkonstitutionellen Staaten: Vernünftiges Recht gegen historisches Unrecht, Durchsetzung des Rechtszustandes gegen den bestehenden, bloß faktischen Zustand. Wie dieser Charakter der Widerstandslehre mit dem Verfassungskampf geschärft ins Bewußtsein tritt, zeigte sich gerade auch daran, daß naturrechtliche Autoren in nichtkonstitutionellen Staaten die revolutionäre Konsequenz zu meiden suchen. Dagegen nimmt die gemäßigtere konstitutionelle Doktrin eine charakteristisch andere Wendung. Zwar beharrt sie mit der traditionellen Vertragsbegründung auf einem Recht zur Volksgewalt. Doch versteht sich die Vertragslehre nicht mehr im Sinne eines Theorems, das die entgegenstehende Wirklichkeit nichtkonstitutioneller Bundesstaaten sich zu beugen beansprucht. Der revolutionäre Anspruch beschränkt sich vielmehr auf die Abwehr der historisch konkret bestehenden Umsturzgefahr für die frühkonstitutionellen Verfassungen. Damit ist zunächst eine Begrenzung der vernunftrechtlichen Totalität auf die Ebene des Landesverfassungsrechts bezeichnet. Das Problem des gewaltsamen Konfliktes wird auf die schon bestehende, aber noch keineswegs als selbstverständGüter des Menschen ist auch gegen den Regenten gerecht, und wenn ein solcher sein ganzes Volk in den Zustand der Notwehr versetzt, so geschieht ihm wenigstens durch die Folgen derselben kein persönliches Unrecht, wenn auch die, welche solche ausüben, nicht zu rechtfertigen sind." (S. 32, 34, 35. Hervorhebungen vom Verf.). 39 Bezeichnend ist die zeitgenössische Kommentierung durch Murhard, S.174: "Manche neuere, sonst sehr liberal denkende ... Staatsrechtslehrer sind zwar weit davon entfernt, die furchtbare Behauptung aufzustellen, daß der Regent seinem Volke niemals Unrecht thun könne ... Gleichwohl lehren sie etc. (folgt Referat)." 40 Einen ausgesprochenen Kurswechsel in der Widerstandsfrage vollzieht Krug (vgl. oben Kap. 4, Anm. 2) in seiner 1824 erschienenen Schrift: Dikäopolitik, S. 305: das Problem des Rechtes zum Widerstande, "also auch zum Aufstande, also auch zu einer Revolution" sei theoretisch nicht lösbar.

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Kapitel5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

liehe Friedensordnung durchgesetzte Konstitution bezogen. Die bürgerlich-revolutionäre Widerstandsdoktrin zeigt sich in ihrem letzten Stadium: als eine gegen Konterrevolution, gegen den absolutistischen Staatsstreich des monarchischen Exekutivapparates gerichtete Lehre. Dieser ausschließliche Bezug der Widerstandslehre auf das Konfliktstadium eines von der Reaktion bedrohten Frühkonstitutionalismus - bei Rotteck nur eine Seite des Konfiiktdenkens innerhalb des revolutionären Totalitätsanspruchs - findet sich ansatzweise bei Pölitz, einem führenden Kompromißliberalen der Zeit. Er vertritt in seinem mehrfach aufgelegten Handbuch die Vertragstheorie zunächst in ihrer klassischen Gestalt, dem Inhalt nach freilich konkretisiert auf einen Konstitutionalismus neuständischer Prägung41 • Da er jedoch seinem Naturrecht zwar eine kritische Maßstabsfunktion, nicht aber unmittelbare Geltung gegenüber den bestehenden staatlichen Verhältnissen beimißt42, ist schon im Ansatz die revolutionäre Ausschließlichkeit vermieden, die sich gegen Nichtverfassungsstaaten43 wenden könnte. Ausdrücklich bezeichnet Pölitz seine Staatslehre als gegenüber dem Zeitkonflikt neutral44 • Sein Konstitutionalismus versteht sich also als bloß hypothetisch. Ebenso verhält es sich mit der darauf direkt bezogenen Widerstandsdoktrin. Eine Widerstandslage besteht, wenn "der vertragsmäßig an der Spitze stehende Regent geradehin und eigenmächtig die Verfassung des Staates, deren Aufrechterhaltung er beschworen hat, selbst umstürzen" wollte, ein Fall, den Pölitz mit der Eroberung des Staates und der Willkürherrschaft durch einen Fremden "ohne einen rechtlichen Unterwerfungsvertrag" parallelisiert45 • Unzweideutig geht 41 Vgl. Pölitz: Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit, Bd. 1, II, §§ 9 ff., S. 161 ff., wo er den Staat als Anstalt rechtlichen Zwangs zur Sicherung der Freiheit aller begreift (§ 9, S. 161, 162), konstituiert durch die Urverträge Vereinigungs-, Verfassungs- und Unterwerfungsvertrag (§§ 11, 12,

13, S. 163 ff.). Kern eines vernünftigen Vertragsinhaltes ist ihm die repräsentative Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung und der Besteuerung (§ 16, S. 180 ff.). Hinsichtlich der Zusammensetzung der Repräsentativkörperschaft befürwortet P. eine (neu-)ständische Struktur gleichmäßiger Beteiligung 1. des Großgrundbesitzes, 2. des städtischen Gewerbes, 3. der geistigen Berufe, 4. der Bauern (§ 28, S. 204). 42 Vgl. Bd. 1, I, Einl., § 10, S. 53, 54. Ebenso II, Einl., § 6, S. 150. 43 Auch das Königreich Sachsen Pölitz lehrte in Leipzig - war bis zum Jahre 1831, als infolge der Unruhen der Julirevolution eine Verfassung des konstitutionellen Typs eingeführt wurde, ein Staat mit altständischer Verfassungsform. 44 Vorrede, S. VII, IX, wo er auf die bewegte Zeit abhebt und betont, er habe "eine feste Neutralität im Kampfe der philosophischen Systeme und der politischen Pärteien zu behaupten" gesucht. 45 Pölitz, Bd. 1, II, § 33, S. 216 ff., 218, 219. Dem Staatsstreich des Regenten darf nur die Ständeversammlung begegnen und zwar in erster Linie durch Abmahnung, letztlich aber durch Aufkündigung des Gehorsams, was der Auflösung des Unterwerfungsvertrages, also der Absetzung gleichkommt. Durch die Absetzung wird aber die Unverantwortlichkeit des Regenten für seine Regierungshandlungen nicht beseitigt (S. 219, 220).

III. Pölitz, Aretin, Mohl

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Pölitz also von einer faktisch existenten, "in anerkannter Wirksamkeit bestehenden" (Artikel 56 der Wiener Schlußakte), nicht von einer erst in Anspruch genommenen Verfassung aus. Besteht eine Verfassung, und dies meint nach den Ausführungen zu den Urverträgen: eine konstitutionelle Verfassung, so ist Widerstand gegen den verfassungsumstürzenden Regenten rechtens. Die Staats- und Widerstandslehre von Pölitz ist also wohl "neutral" gegenüber dem Verfassungskampf in nichtkonstitutionellen Staaten, nicht aber im Konflikt zwischen konterrevolutionärem Verfassungsumsturz und Frühkonstitutionalismus. Die hier zutage getretene historisch konkretisierende, die Widerstandsproblematik auf den Staatsstreichfall einschränkende theoriegeschichtliche Entwicklungslinie zeigt sich charakteristisch verstärkt bei liberalen Autoren, die ihre Staatstheorie schon vom Titel her nicht mehr als "allgemeine", "vernunftrechtliche" verstehen, sondern als geltendes konstitutionelles Recht. Dazu gehört der schon erwähnte Freiherr von Aretin mit seinem "Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie". Das Werk ist spürbar in der Defensive gegen die monarchisch-aristokratische Reaktion geschrieben. Im Vorwort heißt es: "Wenn man fragt. warum der Verfasser ein solches Werk in den gegenwärtigen Zeitverhältnissen herausgiebt, die den Konstitutionen sowenig Gunst versprechen, so antwortet er aus voller Überzeugung, daß eben die jetzigen Ereignisse am Stärksten die Notwendigkeit fühlbar machen, das System der konstitutionellen Monarchie aufrechtzuerhalten46 ." Um so mehr gerät das Buch zu einer Apologie des Konstitutionalismus. Die konstitutionelle Monarchie sei die Regierungsform, "die alle Parteien in eine gesetzliche Bahn einschließt" 47 • "Sie löst das große Problem, wie die notwendige Gewalt der Regierung mit der möglichsten Freiheit der Staatsbürger zu vereinen (ist) 48 ." Ganz charakteristisch wird wiederum der Zusammenhang von persönlicher Freiheit und institutioneller Gestaltung gesehen. Jene Urrechte der persönlichen Sicherheit, der Sicherheit des Eigentums, der gesetzlichen Freiheit und Gleichheit, der Freiheit des Gewissens und der Meinung sind erst verbürgt ("garantiert") mit der konstitutionellen Form, also mit der Repräsentativversammlung, deren wesentliche Kompetenz wiederum im Anteil an der Gesetzgebung einschließlich der Steuerbewilligung liegt49 • Die Vertragslehre erscheint ganz ausschließlich in bezug auf diese bestehende Regierungsform, als Vgl. Aretin, Bd. 1, Vorwort, S. VI. S. XI. 48 S. 164 (Hervorhebungen vom Verf.). 49 S. 159, 160 und 228. Bei Aretin erscheinen außer der Ständeversammlung noch weitere Bürgschaften für die "Urrechte", nämlich: der Gemeinderat, Landrat, Petitionsrecht, Geschworenengerichte, Preßfreiheit (S. 160). Der ganze konstitutionelle Rechtsstaat spiegelt sich in 12 "Pflichten des konstitutionellen Monarchen" wider (8.192, 193). 46 47

6 Köhler

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Kapitel5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

Begründung für das Zusammenbestehen des monarchischen Prinzips und des Repräsentativverfassungssystems. Durch den Staatsvertrag sei der Monarch "der sinnliche Vertreter der Souveränität geworden, welcher aber verpflichtet ist, in den wichtigsten Regierungsangelegenheiten die Einwilligung der vom Volk erwählten Repräsentativversammlung einzuholen"50 . Das Widerstandsrecht ist demgemäß auch einzig auf den Fall des Verfassungsbruchs, des Umsturzes durch den Monarchen gemünzt. Selbst diese Folgerung formuliert Aretin aber nur sehr zurückhaltend und implizit: "Die Lehre vom Staatsvertrag enthält übrigens durchaus nichts, was den Fürsten Gefahr bringen könnte ... Wollte man einwenden, aus der Lehre vom Staatsvertrag folge, daß ein Fürst an die Verfassung gebunden sey, und daß, wenn er sie dennoch breche, auch das Volk das Recht habe, den Staatsvertrag umzustoßen; eine solche Folgerung aber bringe den Fürsten Gefahr, so läßt sich darauf erwiedern, daß es Beleidigung für die Fürsten ist, sie der Nichtachtung der beschworenen Verfassung fähig zu glauben, daß ein solcher Fall nicht für denkbar gehalten werden darf, und wenn er es wäre, alsdann nicht die Staatsrechtslehrer die üblen Folgen zu verantworten hätten51 ." Die inhaltliche Begrenzung von Vertragslehre und Widerstandssanktion auf den existenten Repräsentativverfassungsvertrag erlaubt Aretin eine plausible Distanzierung von der revolutionären Lehre der "Volkssouveränität im demagogischen Sinne", als einer Lehre, die inhaltlich über den Konstitutionalismus hinaus demokratische Institutionen intendiert52. Damit verbindet sich schon ganz bewußt eine Zuordnung von Parteien. So empfiehlt Aretin gerade dem Monarchen die konstitutionelle Regierungsform und die sie vertretenden Konstitutionellen als die Garanten des Königtums gegen die aristokratischen, aber auch gegen die demokratischen "Ultras" 53 • In dieser Abgrenzung vom Zeitradikalismus zeichnet sich eine Entwicklung ab, die - für die hier interessierende Problematik - in der charakteristischen Trennung der Begriffe eines (konstitutionellen) Widerstandsrechts und der radikaldemokratischen bzw. dann sozialistischen, schon implizit als unrechtmäßig begriffenen Revolution ihren Niederschlag finden wird. Die beschriebene Reduktion der Widerstandslehre findet ihre auch terminologisch gültige Festlegung in Robert von Mohls 54 Lehre vom "blos verfassungsmäßigen Gehorsam". Er entwickelt sie in seinem "Staatsrecht des Königreiches Württemberg", einem Werk also, das sich 50 51

52

s. 155.

Aretin in der Anm. s. 153, 154. Areti n in Vorwort,

1, S. 156, 157.

53 S. VI, VII, ebenso wie die schon angeführte Schrift aus dem gleichen Jahr: Wie darf man in den deutschen Bundesstaaten über politische Gegenstände schreiben?, S. 40, 41. 54 Zu Mohl eingehend Angermanns Biographie, Kap. 1.

III. Pölitz, Aretin, Mohl

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zum einen ausschließlich als Landesverfassungsrecht, nicht als "allgemeines" Staatsrecht versteht und das zum anderen - wie Aretins Staatsrecht - vor dem Hintergrund der nachdrücklichsten Reaktionsperiode in der Geschichte des deutschen Bundes entstand. Das Widerstandsproblern wird darin ausschließlich auf den Verfassungsumsturz von oben bezogen, auf den Fall, daß der württembergische König "einseitig und unrechtmäßig die Verfassung im ganzen oder im wesentlichen Teile umzustürzen" versuchen sollte. Daran knüpft Mohl die Frage: "Ist das württembergische Volk schuldig, dieses zu dulden, darf es höchstens Bitten und Vorstellungen dagegen wagen und muß es, wenn diese fehlschlagen, den meineidigen Zerstörer der vertragsmäßigen Verfassung des Landes als seinen rechtmäßigen König ansehen55?" Diese Problemstellung reflektiert unmittelbar das Stadium des Verfassungskonfliktes. Aktuell ist für Mohl die Widerstandsfrage allenfalls in bezug auf einen Umsturz der schon bestehenden Verfassung durch die monarchische Exekutive. Von vernunftrechtlichem Totalitätsanspruch, von Konstitutionalismus als einem allgemeinen, gegenüber nichtkonstitutionellen Staaten nötigenfalls auch gewaltsam geltend zu machenden Verfassungsanspruch ist hier nicht mehr die Rede: Die Revolution befindet sich bereits in der Defensive gegen die drohende Konterrevolution. Wie dicht diese Staatslehre sich auf diese konkrete historische Gefahr bezieht, zeigt Mohls fast beschwörende Anspielung auf die Verfassungsgarantie des Artikels 56 der Wiener Schlußakte von 1820: "Glücklicherweise ist übrigens, solange die Gesetze des deutschen Bundes Kraft haben, ein verfassungswidriger Angriff des Staatsoberhauptes auf die Verfassung nicht zu fürchten, indem diese verordnen, daß in den Bundesstaaten die landständischen Verfassungen nur auf verfassungsmäßigem Wege abgeändert werden dürfen, und somit die Gesamtkraft des Bundes die äußerste Not verhindern wird56 ." Schon der Umstand, daß der Autor darauf abzuheben für nötig hält, beweist, wie wenig sicher er sich in Wirklichkeit des Verfassungsfriedens ist57• Auch worum es in diesem Verfassungskonflikt der Sache nach geht, wird innerhalb der Widerstandsproblematik klar angesprochen, wenn Mohl den Angriff als gegen "die Verfassung im ganzen oder im wesentlichen Teile" gerichtet sieht. Das Kernstück der frühkonstitutionellen Verfassungen, ihr "wesentlicher Teil" und damit der Hauptstreitpunkt ist aber eben die Stellung der Repräsentativkörperschaft. Es braucht deshalb nicht betont zu werden, welch hervorragenden Platz auch in Mohls Verfassungsrecht die Ständeversammlung ein55 Vgl. Mohl: Staatsrecht des Königreiches Württemberg, Bd. 1 (Verfassungsrecht), S. 151. 56 s. 152, 153. 57 Sehr gegenwärtig ist M. auch noch der Konflikt um die Einführung der konstitutionellen Verfassung in Württemberg; vgl. Einl., S. 52 ff.

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Kapitel 5: Zwischen Revolution und verfassungsmäßigem Gehorsam

nimmt. Sie wird geradezu als Garant der Freiheit aufgefaßt. "Von der Verteidigung der Volksrechte durch die Ständeversammlung", so lautet die Überschrift zu Mohls diesbezüglichen Ausführungen58 • Wie bei allen gemäßigten Liberalen der Zeit verbindet sich freilich damit sogleich das Bekenntnis zur Monarchie und zur vorrangigen Stellung des Monarchen im konstitutionellen System59 • Dem so eindeutig defensiven Bezug der Widerstandsproblematik auf ein Repräsentativverfassungssystem, das von den Revisionsgelüsten eines mächtigen Teils der Gegenseite bedroht ist, entspricht wie bei Aretin die klare Abgrenzung von jedem "Umwälzungsgeist" 60 • Die bürgerlich-konstitutionelle Revolution - im Konfliktstadium des drohenden konterrevolutionären Gegenschlages - distanziert sich also in dieser Staatslehre sowohl von ihrer eigenen Vergangenheit, als auch von der konstitutionell-revolutionären Gegenwart in anderen Bundesstaaten und erst recht von weitergehenden republikanisch-radikalen Bestrebungen. Für die Begründungsstruktur des Widerstandsrechtes spiegelt sich das in einem weiteren Schritt der Abstraktion wider: in der Verdrängung der traditionellen Vertragstheorie. Zwar finden sich in der angeführten Problemstellung die wesentlichen Elemente der naturrechtliehen Theorie wieder, so das Gegenübertreten von Herrscher und Volk als einem selbständigen politischen Subjekt in einem vertragsmäßigen Verhältnis, das beiden Teilen Rechtspositionen einräumt, ebenso die Vorstellung der Möglichkeit eines fundamentalen Konfliktes zwischen den Vertragsparteien, der sich als Rechtsfrage stellt und entscheidet. Ganz unmittelbar erfolgt dann aber die Identifizierung des Vertragsinhaltes mit der hic et nunc existenten, geschriebenen württembergischen Verfassung. Das positive Verfassungsrecht, so sieht es Mohl, ist das maßgebliche Kriterium. Zurückgetreten ist der ausdrückliche Deduktionszusammenhang mit der Frage nach der Rechtfertigung von Herrschaft und Staat überhaupt, der, wenn auch mit dem charakteristischen Kurzschluß auf die Legitimierung des konstitutionellen Systems, bei den bisherigen Autoren doch immer noch ausdrücklich von der Naturrechtslehre übernommen worden war. Mohl dagegen versteht seinen staatsrechtlichen Maßstab geradezu als unabhängig und vorrangig gegenüber "philosophischer" Rechtsbegründung 61 • Ebenso "positivistisch" lautet dann auch seine Antwort auf die referierte Ausgangsfrage: "Nein, denn der Württemberger ist blos verfassungsmäßigen Gehorsam schuldig; wer die Verfassung umstößt, ist nicht sein rechtmäßiger König62 ." Wenn Vor58 59

s. 451.

s. 453.

ro S. 283 Anm. 1. Mohl, Einl., S. 5 über die wissenschaftliche Gleichberechtigung der verschiedenen philosophischen Staatsbegründungen. Vgl. aber insbes. S. 268. 62 s. 151. s1

III. Pölitz, Aretin, Mohl

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stellungender Volksvertreter und allgemeiner "negativer" Ungehorsam der Staatsbürger und Staatsdiener nichts fruchten, sondern die königliche Regierung etwa gar zu Gewalttaten greift, "wenn ... trotz aller gelinderen Gegenmittel der Verfassung durch bestimmten Willen des Machthabers gewisser Untergang drohte: Was bleibt dann anders übrig, als sich daran zu erinnern, daß nur Der König in Württemberg sein kann, welcher die Heilighaltung der Verfassung beschworen hat, also auch nur Der, welcher seinen Schwur hält" 63 ? Die Folgen sind der Verlust des Herrscherrechts ipso iure und der Übergang der Regierung auf den in der Thronfolge nächst Berechtigten. Der Tradition entsprechend wird natürlich die persönliche Unverletzlichkeit des bisherigen Herrschers hervorgehoben, unbeschadet der Ahndung seiner Unternehmungen nach einer verfassungsmäßigen Thronentsetzung64 • Aber im übrigen ist die Gewaltrechtsbehauptung wohl unzweideutig, wenn auch nicht ausdrücklich. Daß Mohl all dies als Folgerung aus dem Artikel 21 der württembergischen Verfassungsurkunde von 1819 (Pflicht zum verfassungsmäßigen Gehorsam) 65 versteht, ergibt sein ausdrücklicher Hinweis an anderer Stelle66 • Diese Lehre vom verfassungsmäßigen Gehorsam wiederholt Mohl in demselben Werk in etwas mehr individualistischer Wendung67 • Das Verhältnis dieser Stelle zu der soeben angeführten ist nicht eindeutig; jedenfalls aber trägt diese Individualisierung in sich noch stärker den Zug zur "Positivierung" des Widerstandsproblems, d. h. zu seiner Reduktion auf ein Problem der bloßen Rechtsschutzorganisation68 • Wie sich also bei Mohl der Konstitutionalismus - das Ergebnis der Revolution - also schon als historisch gültige Ordnung begreift, so "positivistisch" wird auch die Widerstandsfolge zu ihrer Verteidigung formuliert. Mit dem Terminus des "verfassungsmäßigen Gehorsams" wird bewußt oder unbewußt an reichsstaatsrechtliche Überlieferung 63

s. 152.

s. 152. Art. 21 der Württembergischen Verfassung, in: Huber: Dokumente, Bd. 1, S. 174, lautet: " ... auch haben sie (scil. alle Württemberger) gleichen verfassungsmäßigen Gehorsam zu leisten." 66 Vgl. Mohl, S. 279 ff., 282. 67 s. 279 ff. 68 Wolzendorff, S. 455 und Anm. 1 führt diese Stelle dafür an, daß von Mohl nur ein individuelles Widerstandsrecht vertreten habe. Dabei werden aber die hier angeführten Stellen, die eindeutig der überkommenen Problematik (Konflikt zwischen Volk und Fürst) zugewendet sind, nicht berücksichtigt. Allerdings schwankt von Mohls Problemauffassung; vgl. seine nach der Julirevolution erschienene Schrift: System der Präventivjustiz, S. 126, 127 Anm. 1: " . .. wenn der Angriff auf die Staatsverfassung und die gesetzlichen Rechte der Bürger von ihnen (scil. den Inhabern der Staatsgewalt) ausgeht: dann wird Gehorsam zum Verbrechen, Widerstand zur Rechtspflicht." 64

65

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Kapitel 6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

angeknüpft69 • Die Begründung des konstitutionellen Rechts und seines Durchsetzungsanspruchs erfolgt also in gleicher Weise wie die des gegnerischen historischen Rechts. Denn aus dem durch Rechtsquellen belegten früheren "Vertragen" wird ein Gültigkeitsanspruch auch für den Fall des Konflikts gefolgert. Daß beide Positivismen ihren Ausschließlichkeitsanspruch zu Zwang und Gewalt nur behaupten, nicht aber einsichtig machen können, bedarf nach den kritischen Ansätzen der idealistischen Philosophie seit Kant keiner Wiederholung. Mohl steht am Übergang von der naturrechtliehen Vertragstheorie zum konstitutionellen Positivismus. Das eine überlagert das andere. Deutlich erkennbar sind noch die Prämissen der naturrechtliehen Begrifflichkeit: Volk, Fürst, Vertrag (Verfassung), die Voraussetzung eines Urteils des Volkes über den Vertragsinhalt und damit auch über den Vertragsgegner. Im Vordergrund steht aber schon der Hinweis auf das geschriebene Recht. Der Objektivismus des natürlichen Rechts wird also in einem weiteren Grad der Abstraktion abgelöst und zugleich aufgenommen von einem Objektivismus des per se verbindlichen geschriebenen Rechtssatzes70 • Der Weg zum konstitutionellen Positivismus wird damit beschritten. Freilich beginnt zugleich die Offenheit der vertragstheoretischen Kategorien für andere Inhalte mit dieser Abstraktion verloren zu gehen. Kapitel6 Älteres historisches Recht gegen neues historisches Recht: Der Verfassungskampf im Königreich Hannover und das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

I. Das Fortschreiten der konstitutionellen Revolution nach 1830 und der Umsturz in Hannover Die Zuspitzung der vorkantisch-naturrechtlichen Widerstandsdoktrin auf das konkrete Stadium eines virulenten Zeitkonfliktes führt also zu ganz charakteristischen Veränderungen der Theorie: Zum einen nämlich bezieht sich die Widerstandslehre nunmehr ganz deutlich auf die Repräsentativverfassung als das vernünftige Recht 69

Darüber im folgenden Kap. 6 zum Gutachten der Tübinger Juristen-

fakultät.

1o Trotz dieses Zusammenhangs hat die positivistische Theoriegeschichte

Mohl als Positivisten gegen das Naturrecht in Anspruch genommen; vgl. Stintzing-Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 3,2, S. 401: Mohl habe gegenüber dem naturrechtliehen Räsonnement "die Ehre

der staatsrechtlichen Wissenschaft gerettet" durch die Anwendung der "partikulärrechtlichen, streng wissenschaftlich-positivistischen" Methode.

I. Der Umsturz in Hannover

87

schlechthin mit den Implikationen bürgerlicher Freiheit und Gleichheit für eine liberale, d. h. über den Inhalt ihrer wirtschaftlichen Betätigung und über den Umfang zentraler Organisation von oben selbst mitbestimmende bürgerliche Gesellschaft. Zum anderen aber beginnt diese Vernunftrechtsposition überlagert zu werden von einer konservativhistorischen Argumentation als Folge eines bereits realisierten Konstitutionalismus (verfassungsmäßiger Gehorsam, Zurücktreten des traditionellen vertragstheoretischen Deduktionszusammenhangs). Weiter beschränkt sich die Gewaltsanktion eindeutig nur noch auf den Fall des historisch konkret drohenden konterrevolutionären Umsturzes, was die bürgerliche Revolution als in ihrer Spätphase befindlich ausweist. Schließlich beginnt sich diese Widerstandslehre deutlich abzugrenzen gegenüber weitergehenden, die offenen Kategorien der Vertragslehre mit anderen Inhalten ausfüllenden Bestrebungen, womit für die Widerstandstheorie die eigentliche Logik der Unterscheidung zwischen Widerstandsrecht (verfassungsmäßigem Gehorsam) und Revolution begründet wird. All diese Elemente kehren in der Widerstandsdiskussion um den hannoverschen Verfassungskonflikt seit 1837 ausgeprägt wieder. Darüber hinaus finden sich Anzeichen für eine weitgehende Annäherung zwischen den Konstitutionellen und einem seit Karlsbad größergewordenenTeil der in den Regierungen repräsentierten alten Mächte: sowohl in der Argumentationsstruktur als auch - damit zusammenhängend - in der Auffassung konstitutioneller Axiome. Mit diesem Ansatz zu faktischer Übereinkunft, zum konkreten Vertrag über das konstitutionelle System beginnt praktisch-politisch der historische Anlaß der bisherigen Souveränitäts- und Widerstandstheorien zu schwinden, die nach der Kritik durch die idealistische Philosophie ohnehin nur als je einseitige Konfliktstandpunkte Wahrheit haben konnten. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund eines unaufhaltsamen Fortschreitens der konstitutionellen Revolution im Vormärz, ohne daß diese sich freilich schon allenthalben als stabile, gegen den konterrevolutionären Rückschlag gefeite Verfassungswirklichkeit durchgesetzt hätte. Im Gefolge der Juli-Revolution von 1830 wurden auch in norddeutschen Bundesstaaten Repräsentativverfassungen eingeführt. Dies geschah meist nach vorangegangenen Krisen oder gar gewaltsamen Ausbrüchen, zumal in Staaten des ehemaligen Königreichs Westfalen, die nach der Franzosenzeit in altständische Verhältnisse restauriert worden waren1 . Diese Entwicklung, von liberaler Seite grundsätzlich als die notwendige Anpassung der Verfassungsverhältnisse an den ver1

Vgl. zur Entwicklung in Braunschweig, Kurhessen, Sachsen und Hannover

Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Kap. 1, S. 46 ff. und die Schilderung von Treitschke: Deutsche Geschichte, Bd. 4, Abschnitt 2, S. 98 ff.

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

änderten Zeitgeist begrüßt und geradezu als Garantie künftigen Friedens apostrophiert2 , veranlaßte die Gegenseite abgesehen von der verstärkten Verfolgung des Radikalismus auch zu erneuten Eindämmungsversuchen gegenüber der konstitutionellen Bewegung. Die Bundespolitik selbst unternahm mit den Bundesbeschlüssen des Jahres 1834 Eingriffe in das Landesverfassungsrecht, um die Kompetenzen der Repräsentativkörperschaften und überhaupt ihre gesamte Stellung im Verfassungsgefüge zu restringieren, mied aber wie nach Karlsbad den offenen Umsturz3 • Der Sache nach lief diese Politik freilich auf einen Restaurationsversuch mit anderen Mitteln hinaus 4 • Die Verschärfung der Reaktion nach 1830 und ihre Stoßrichtung auch gegen die Repräsentativverfassungen veranlaßte Rotteck im Vorwort zu dem 1834 erschienenen ersten Band des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons zu der vorsichtigen, aber doch deutlichen Drohung, die bisher in ganz überwiegender Mehrheit konstitutionell-monarchisch gesinnten Liberalen könnten sich in größerem Umfang republikanisch-demokratisch radikalisieren5 • Die angespannte Verfassungssituation zeitigte jedoch andererseits eine noch tiefere Spaltung im Regierungslager, als sie schon im Karlsbader System ansatzweise sich ankündigte. Man handelte längst nicht mehr so geschlossen wie früher 6 • Verstand man einerseits, auf der Seite der konstitutionellen Staatengruppe, den Artikel56 der Schlußakte von 1820 als Garantie aller bestehenden Verfassungen, so wollte der harte Kern der "Reaktionspartei" ihn allenfalls als Gewährleistung der 1820 bereits existenten Konstitutionen gelten lassen, nicht aber zugunsten der erst jüngst im revolutionären Wege durchgesetzten7. Diese Richtung manifestierte sich 1837 in dem restaurativen Verfassungsumsturz im Königreich Hannover8 • Diese Gefahr des Um2 Vgl. etwa Krugs zuerst 1830 in Leipzig erschienene Gelegenheitsschrift: Worte der Beruhigung in unruhiger Zeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 483 ff., 486, 487, wo die Unruhen auf die bisherige Verweigerung der Repräsentativverfassung zurückgeführt werden. Es sei an der Zeit zu gewähren, was nicht mehr verweigert werden könne. Ähnlich Rotteck: Vorläufiger Blick auf die Aufstände in Belgien und Deutschland, in: Allgemeine Politische Annalen, Neueste Folge, 4 (1830), S. 62 ff., 78, der zum Beweis für den friedensstiftenden Charakter des Konstitutionalismus auf die relative Ruhe in den süddeutschen Staaten hinweist. 3 Vgl. den Text des Schlußprotokolls der Wiener Konferenzen vom 12. Juni 1834, in: Klüber/Welcker: Wichtige Urkunden, S. 373 ff. und Altmann: Ausgewählte Urkunden, Teil1, 10., S. 176 ff. Zum Bewußtsein der Regierungen, daß die Vernichtung des konstitutionellen Systems unmöglich sei, vgl. Meisner: Die Lehre vom monarchischen Prinzip, S. 210 ff., 213. 4 So wurden die Beschlüsse von 1834 verstanden, als sie in den Jahren 1843, 1844 bekannt wurden; vgl. Welcker in Klüber/Welcker, S. 411 ff. s Vgl. Rotteck: Vorwort in Staatslexikon hrsgg. von Rotteck und Welcker, Bd. 1 (1834), S. III ff., XIX, XX, XXI. 6 Dazu Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Kap. 2, S.l78, 180. 7 Dieses unterschiedliche Verständnis zeigt sich mit voller Klarheit während des Hannoverschen Verfassungsstreites; vgl. im folgenden. s Vgl. Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd.. 4, 9. Ab-

I.

Der Umsturz in Hannover

89

sturzes einer konstitutionellen Verfassung durch einen im Prinzip nicht verfassungstreu, sondern absolutistisch gesinnten Fürsten und seinen Exekutivapparat ist das reale Konfl.iktstadium, das die Widerstandslehre in ihrer Wendung bei Robert von Mohl in Bezug nimmt. Der historische Kontext und eine direkt darauf bezogene Widerstandslehre als Parteidoktrin im Konflikt vereinigen sich im Gutachten der Tübinger Juristenfakultät zur hannoverschen Verfassungsfrage. Seit dem Jahre 1833 bestand im Königreich Hannover eine Verfassung des konstitutionellen Typs als Folge der revolutionären Bewegung nach der Julirevolution9 • Als mit dem Tode König Wilhelms IV. im Jahre 1837 die Personalunion Hannovers mit England endete und des verstorbenen Königs Bruder Ernst August in Hannover zur Herrschaft gelangte, verweigerte dieser in seinem Patent zum Regierungsantritt vom 5. Juli 1837 den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung, erklärte im Patent vom 1. November 1837 die Ständeversammlung für aufgelöst und "die verbindliche Kraft des Staatsgrundgesetzes vom 26. September 1833 von jetzt an" für erloschen. Zugleich stellte er sich auf den Standpunkt, die vor der Verfassung von 1833 gültige Verfassung (Patent vom 7. Dezember 1819) sei noch in Kraft. Auf deren Grundlage werde er eine Ständeversammlung berufen, um über die Verfassungsverhältnisse zu verhandeln10 • In der liberalen Öffentlichkeit ganz Deutschlands erhob sich, initiiert vor allem durch die Protestation der sieben Göttinger Professoren11 , ein Sturm der Entrüstung. Die Opposition in Hannover selbst suchte, geführt von der Stadt Osnabrück, durch vielfache Vorstellungen beim Bundestag den deutschen Bund zum Einschreiten zu veranlassen12 • Das gelang zwar nicht. Jedoch machte sich innerhalb der Bundesversammlung gegen das gefährlich schneidige Vorgehen des hannoverschen Königs die Opposition einer starken Minderheit konstitutioneller Staaten (Bayern, Baden, Württemberg, Großherzogtum Hessen, Königreich Sachsen und die großherzoglich und herzoglich sächsischen Häuser) geltend, die auf mehr oder weniger nachdrückliches Eingreifen des Bundes drangen, schließlich aber unterlagen13 • Als unmittelbare innere Gegenmaßnahme der schnitt, S. 643 ff. Überblick bei Huber, Kap. 1, S. 91 ff. und Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3, § 25, S. 124 ff. 9 Text des Staatsgrundgesetzes vom 26. September 1833 bei Pölitz; Europäische Verfassungen, Bd. 3, S. 571 ff. 1o Texte der Patente von 1837 bei Huber: Dokumente, Bd. 1, S. 249 ff., vollständig bei DahZmann: Zur Verständigung, S. 10 ff. Text des Patentes vom 7. Dezember 1819 (Verfassung) bei Pölitz, Bd. 1, S. 263 ff. u Umfangreiche Darstellung der Einzelheiten bei Kück: Die Göttinger Sieben. Vgl. auch Smend: Die Göttinger Sieben, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Schließlich die Schilderung Treitschkes, S. 643 ff., 658 ff. 12 Ein Teil enthalten in: Hannoversches Portfolio. 13 Das Bestreben der Hannoverschen Regierung ging offenbar dahin, möglichst rasch durch eine Vereinbarung mit den auf Grund der alten

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Kapitel 6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

Opposition wurde die Steuerverweigerung für das Rechnungsjahr 1839 ins Auge gefaßt, da ein im konstitutionellen Sinne ordnungsgemäßes, nämlich von der staatsgrundgesetzliehen Ständeversammlung verabschiedetes Budget nicht vorlag. In diesem Zusammenhang erstatteten - auf Ersuchen der Stadt Osnabrück - die Juristenfakultäten der Universitäten Heidelberg, Jena und Tübingen Gutachten über sechs Einzelfragen, in die man das Steuerverweigerungsproblem näher aufgegliedert hatte14 • Im Kern handelte es sich feilich nur um zwei wirkliche Probleme, die sich als Vorfragen stellten: Einmal um die Rechtmäßigkeit des königlichen Verhaltens bzw. die weitere Gültigkeit des Staatsgrundgesetzes von 1833, zum anderen um das Recht zum Ungehorsam (Widerstand) der hannoveranischen Untertanen und Subalternbehörden, insbesondere der Städte. Alle drei Gutachten verfahren Verfassung von 1819 berufenen Ständen eine neue Verfassung zu schaffen und damit den Bund vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auf das Aufklärungsv~rlangen des Bundes zufolge dem Bundesbeschluß vom 6. September 1838 suchte sie in einer Mitteilung an die übrigen Bundestagsgesandtschaften vom 29. 11. 1838 (Hann. Portfolio, Bd. 2, S. 279 ff.) und in einer Erklärung an die Bundesversammlung (Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 34. Sitzung vom 29. November 1838, § 373, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 69) den Eindruck zu erwecken, man sei auf dem besten Wege zur gütlichen Streiterledigung. Da dies aber durch die weitere Entwicklung nicht bestätigt wurde, unternahmen die Staaten Bayern und Baden in der Sitzung vom 26. 4. 1839 einen erneuten Vorstoß für ein Eingreifen des Bundes (Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 5. Sitzung vom 26. April 1839, § 69, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 70 ff.). Den Anträgen wurde von der Bundesversammlung nicht stattgegeben (Beschluß vom 5. September 1839, Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 19. Sitzung vom 5. September 1839, § 256, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 146). 14 Die Fragen, aufgeführt eingangs des Heidelberger Gutachtens, in: Gutachten der Juristenfakultäten in Heidelberg, Jena und Tübingen, die hannoversche Verfassungsfrage betreffend, S. 15, 16, lauten: "I. Ist eine Obrigkeit im Königreiche Hannover nach dem ersten Januar 1839, falls eine Ständeversammlung nach dem Grundgesetze vom 26. Septbr. 1833 nicht

berufen würde, und die Steuer bewilligte, berechtigt und verpflichtet, die in den Steuergesetzen vorgeschriebene Hülfe zur Beitreibung sowohl der directen als der indirecten Steuern zu leisten? II. Setzt eine Obrigkeit, welche die gedachte Hülfe, namentlich zu Beitreibung der Steuern leistet, sich dadurch der Gefahr aus, gerichtlich in Anspruch genommen zu werden? III. Welche Klagen würde die gedachte Obrigkeit zu besorgen haben, und welcher Schutzmittel gegen dieselben würde solche sich zu versichern haben? IV. Welchen rechtlichen Einfluß würde es namentlich auf eine solche Klagsache haben, daß die Obrigkeit einerseits sich gegen die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Staatsgrundgesetzes vom J. 1833 ausgesprochen, andererseits aber die Beschreibungen (d. i. die Entwerfung der Steuerrollen) bislang nach dem Gesetze vom 21. October 1834 vorgenommen hat? V. Welchen Ein!luß würde es auf die Rechtsverhältnisse äußern, wenn die in diesem Frühjahre berufene am 29. Juni vertagte Versammlung wieder zusammen berufen würde oder gar Abänderungen der Verfassung genehmigte? VI. Setzt sich der Ortsvorsteher oder dessen Stellvertreter Klagansprüchen aus, falls er die ihm anvertrauten Functionen ausführt, und welche Vertheidigungsmittel stehen demselben casu quö zu Gebote?"

II. Konfliktgegenstände und Argumentationsstruktur

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nun so, daß sie praktisch nur diese Kernfragen erörtern. Alle gelangen sie auch zu dem Schluß, daß das Staatsgrundgesetz von 1833 durch das königliche Patent von 1837 nicht aufgehoben sei. Aber nur die Tübinger Fakultät bejaht das Widerstands- insbesondere das Steuerverweigerungsrecht. Das von Reyscher verfaßte Tübinger Gutachten15 ist nicht nur am umfangreichsten, es vertieft sich auch von allen Gutachten am weitestgehenden in die Kernfragen16 • Darüber hinaus lassen das Gutachten selbst und die scharfe Reaktion des Bundes auf seinen Inhalt und seine Verbreitung erkennen, wie hochpolitisch notwendigerweise eine solche "juristische" Stellungnahme in diesem historischen Konflikt sein mußte17•

II. Die Gegenstände des Konflikts und die Argumentationsstruktur Bevor das Tübinger Gutachten das Widerstandsproblem behandelt, erörtert es als notwendige Vorfrage die Rechtmäßigkeit des monarchischen Vorgehens und insbesondere, ob das Staatsgrundgesetz von 1833 dadurch berührt oder noch als in Kraft befindlich anzusehen ist. Dabei werden die Einwendungen der Gegenseite gegen die Verfassung geprüft, die sich schon im Patent vom 1. November 1837 finden und die die hannoversche Regierung später in ihren Stellungnahmen gegenüber dem deutschen Bund zwar ausführlicher, im Kern aber gleichliegend entwickelt hat18• Im Gegeneinander der Argumentation entfaltet sich recht anschaulich der Konfliktstoff der Zeit, der auch das Widerstandsproblem ausfüllt und als ein historisch je bedingtes ausweist. Schichtet man offensichtlich weniger bedeutsame inhaltliche Einwendungen gegen das Staatsgrundgesetz von 1833 ab- Einwendungen, die sich übrigens noch nicht im Novemberpatent finden, sondern erst in der Bundesversammlung nachgeschoben werden -, so bleibt folgender Kern des Streits: rs Das Gutachten ist vom damaligen Dekan Reyscher gezeichnet. Dieser hat den Kern des Gutachtens später in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift für das deutsche Recht, Bd. 2 (1839), S. 1 ff. unter seinem Namen nochmals veröffentlicht. 16 Es ist beinahe doppelt so umfangreich wie das Heidetberger und Jenaer zusammengenommen; vgl. in der Ausgabe von Dahtmann: Heidelberger Gutachten, S. 8-87, Jenaer Gutachten, S. 88-130, Tii.binger Gutachten, 8.131-358.

17 Dazu noch im folgenden. Vgl. auch Kaltenborn: Geschichte der deutschen Bundesverhältnisse, Bd. 1, S. 446 ff., 464 ff., wo die Reaktion des Bundes in das Gesamtverhalten des Bundes im Vormärz eingeordnet ist. 18 Vgl. die Erklärung der hannoverschen Regierung über die Verfassu!lgsangelegenheit, der Bundesversammlung übergeben in der Sitzung vom 27. Juni 1839 (Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, § 161, in: Hann. Portfolio, Bd. 2, S. 175 ff.).

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Kapitel 6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

Zum einen handelte es sich um die Stellung der Ständeversammlung, was den Erlaß von Gesetzen angeht. Hier hatte die Verfassung des Jahres 1833 in ihren Artikeln 83 ff., 85 ein weitgehendes Zustimmungserfordernis eingeführt, während den Ständen nach der vorher gültigen Verfassung des Jahres 1819 nur "Zuratheziehung" zugestanden hatte. Zum anderen betraf der Streit die Umwandlung der königlichen Domänen in faktisches Staatseigentum19 • Vor 1833 hatte dem König die alleinige Dispositionsbefugnis über die umfangreichen Domänen und ihre Einkünfte zugestanden. Das Staatsgrundgesetz hatte demgegen·· über einschneidende Veränderungen gebracht. Einmal wurden Verfügungen über die Domänengüter (sog. Krongut) der ständischen Zustimmung unterworfen. Zum anderen standen nunmehr die Einkünfte aus den Domänen nur zu einem bestimmten verfassungsmäßig festgelegten Teil dem König, seiner Familie, der Hofhaltung usw. zur Verfügung, im übrigen waren sie für Staatsausgaben zu verwenden. Diese Verwendung hatte vorrangig vor dem sonstigen Steueraufkommen und selbstverständlich unter ständischer Mitwirkung (Kassenvereinigung) zu geschehen. Die technischen Einzelheiten der sehr detaillierten Verfassungsvorschriftn sind hier weniger von Interesse. In der Sache handelte es sich um eine materielle Entlastung des wirtschaftenden Steuerbürgers zu Lasten des Monarchen, sodann um eine im Sinne des Konstitutionalismus konsequente Ausdehnung parlamentarischer Mitdisposition über öffentliche Finanzen. Zusammengenommen brachten diese Kernpunkte der Verfassung von 1833 eine erhebliche Gewichtsverschiebung zugunsten der Repräsentativkörperschaft, insbesondere also zugunsten der liberalen zweiten Kammer. Diese von der durchgesetzten Machtposition wieder zu verdrängen, war denn auch das Motiv des Staatsstreiches. Die Domänen und das daraus fließende Finanzaufkommen sollte ständischer Mitdisposition wieder entzogen, das ständische Recht der Zustimmung zu Gesetzen auf das vorkonstitutionelle bloße Beratungsrecht zurückgeführt werden. Im übrigen sollte die Ständeversammlung einmal durch eine Verlängerung der sitzungsfreien Zwischenperioden auf drei Jahre, zum anderen dadurch weiter entmachtet werden, daß nach dem Gutdünken der Regierung wieder mehr die alten Provinziallandstände, deren Kurialsystem den alten Mächten das Übergewicht sicherte, mit anstehenden Fragen befaßt werden sollten20 • 19 Vgl. das sehr eingehende 7. Cap. "Von den Finanzen", §§ 122-149 des Grundgesetzes des Königreiches Hannover vom 26. September 1833, in: Pölitz: Europäische Verfassungen, Bd. 3, S. 571 ff., 592 ff. 20 Vgl. das Patent vom 1. November 1837, in: Dahlmann: Zur Verständigung, S. 10 ff., 14, 15; und Tübi nger Gutachten, S. 189 ff., 202 zum Verfassungsentwurf der Regierung.

li. Konfliktgegenstände und Argumentationsstruktur

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Daß nun die monarchische Seite zur Begründung auf die historische Dignität ihrer Position pocht, ist nicht überraschend. Erstaunlich ist jedoch, daß die Tübinger Gutachter sich auf diese Argumentationsweise einlassen und- zumindest vordergründig- die umstrittenen konstitutionellen Inhalte gleichfalls historisch zu legitimieren suchen. Das Gutachten hebt hinsichtlich der landständischen Ausübungsbeschränkungen der monarchischen Gewalt darauf ab, daß die deutschen Regierungen niemals unbeschränkt gewesen seien21 • Eine ausführliehe Diskussion der altständischen Kompetenzen erweist allerdings die Umstrittenheit der altständischen Zustimmungskompetenz und zumal in absolutistischer Zeit auch für Hannover ein Zurücktreten jener Mitwirkung. Schließlich muß das Gutachten auch einräumen, daß dem Verfassungszustand in Hannover vor 1833 eben nur eine "Zuratheziehung", nicht aber eine Zustimmung der Stände entsprach. Doch wird, um das abzuschwächen, die absolutistische Periode als eine Zeit des bloßen Zurücktretens an sich bestehender Rechte verstanden22 • Die Argumentation ist also schon in sich - als historische - schwach, selbst wenn man als denkbar unterstellt, daß eine historisch weiter zurückliegende Seinsgegebenheit Ansprüche hic et nunc begründen oder widerlegen könnte, was nicht der Fall ist. Diese für die historische Schule, deren Einfluß hier jedenfalls verbal spürbar wird, typische Argumentationsweise hat Regel gegen Hugo treffend kritisiert23 • Hiervon abgesehen, ist aber eben dies das Neue in der Argumentation der Konstitutionellen, daß man das neue, revolutionär durchgesetzte Verfassungssystem gegen das "historische" Recht selbst als historisch zu legitimieren, den Gegner also gewissermaßen mit eigenen Waffen zu schlagen sucht. Doch auf diesem Felde ist dessen Position stärker2 4, so daß sich das Tübinger Gutachten letztlich und wesentlich doch auf eine "vernünftige", bürgerlich-naturrechtliche Argumentation stützt, wenn auch in keiner Weise die alte explizite Entgegensetzung des vernünftigen Rechts gegen das historische Unrecht (Rotteck) aufgenommen wird. Das zeigt sich zunächst, wo das Repräsentativprinzip gegen das Ansinnen, die Provinzialstände zu restaurieren, verteidigt wird: Dies sei eine "politische Unmöglichkeit". "Die nützliche Erfindung der neueren Staatstheorie, der Grundsatz des Repräsentativsystems" wird abgehoben "gegen den Partikularismus der zerstreuten Stände"; "das große Werk der Vereinigung ... würde wieder zertrümmert werden25 ." An der entVgl. Tübinger Gutachten, S. 187. s. 204 ff. 23 Vgl. Heget: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ein!., § 3, Anm., Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 44 ff. 24 Vgl. die Erklärung der hannoverschen Regierung an die Bundesversammlung vom 27. Juni 1839, S. 191 ff. 25 Vgl. Tübinger Gutachten, S. 200, 201. 21

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

scheidenden Stelle werden also in Wahrheit die historischen Begründungsversuche fallen gelassen. Der Grund der neuen Institutionen wird in der Vernunft des eigenen Zeitalters gesucht. Noch deutlicher schlägt die naturrechtliche Argumentation durch, wo es die Domänenregelung zu legitimieren gilt und der Einwand, diese sei mangels agnatischer Zustimmung des nunmehrigen Königs unwirksam, zu erörtern ist26 • Damit macht der Monarch geltend, die Regelung des Staatsgrundgesetzes von 1833 habe im Grunde genommen eine Veräußerung des Kammergutes enthalten, die nicht ohne Zustimmung der Agnaten (d. h. der männlichen Verwandten) in ihrer Eigenschaft als potentielle Oberhäupter der königlichen Familie Gültigkeit beanspruchen könne27• Diese historische Argumentation geht auf die alte Unterscheidung von Lehensgut und Eigen-(Allodial)-gut zurück, welch letzteres als das eigentliche Familiengut das Oberhaupt der Familie nicht ohne agnatische Zustimmung veräußern konnte. Für das ältere Staatsrecht ist diese Begründung durchaus ernst zu nehmen. Zwar hatte sich seit dem 17. Jahrhundert, wie das Tübinger Gutachten zutreffend ausführt, die Auffassung durchgesetzt, daß Regentenhandlungen des Vorgängers (z. B. Verfassungsverträge mit der Landschaft) den Nachfolger auch ohne dessen vorherige Zustimmung binden28 • Im Unterschied dazu bedurften aber Verfügungen über das Kammergut als Privathandlungen, sollten sie für den Nachfolger gültig sein, dessen Zustimmung29 • Dagegen versucht nun das Tübinger Gutachten ausführlich, die Veränderungen des Staatsgrundgesetzes als dem früheren Rechtszustand nicht widersprechend darzustellen30. Die in der Landesverfassung vorgesehene primäre Verwendung des Kammergutes zu Staatszwecken wird freilich aus dessen Natur (!) abgeleitet, die eine historisch entwickelte öffentliche Funktion beinhalte31 . Die entscheidende quasi-enteignende Kompetenzverschiebung, nämlich die Mitdispositionsbefugnis der Repräsentativversammlung, wird mit keinem Wort begründet. Dafür wird eine zu dieser Zeit häufig verwendete, die teilweise Entmachtung des Monarchen verschleiernde Wendung gebraucht: Das Kammergut stehe noch nach wie vor im vollen Eigentum des Monarchen, nur dessen Ausübung sei beschränkt32. Da so gesehen der Abschluß der Verfassung von 1833 eine

s. 213 ff. Vgl. das Patent vom 1. November 1837, S. 10 ff. Ausgeführt näher in der Erklärung an die Bundesversammlung vom 27. Juni 1839, S.175 ff., 191 ff. 28 Vgl. etwa Pütter: Teutsches Staatsrecht, 10. Buch, § 271, S. 235. Ferner die ausführliche Darstellung im Tübinger Gutachten, S. 169 ff., 175. 29 Vgl. Häberlin: Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 3, 12. Buch, Cap. 2, § 456, S. 530, 531. Leist: Teutsches Staatsrecht, § 48, S. 145. so Tübinger Gutachten, S. 248 ff. 31 s. 250 ff., 253. 32 Vgl. S. 259. Diese verschleiernde Unterscheidung zwischen Innehabung 26 27

11. Konfliktgegenstände und Argumentationsstruktur

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Veräußerung des Kammergutes nicht enthält, wird der Einwand der mangelnden agnatischen Zustimmung als erledigt betrachtet33 • Dem bemerkenswerten Verhältnis der historischen zur apokryph naturrechtliehen Begründungsweise - dem Versuch also, dem Vernunftsrecht der Repräsentativverfassung unter Verdrängung seiner revolutionären Genesis das Ansehen historisch überkommenen und dadurch legitimierten Rechts zu verleihen- gesellt sich die Berufung auf den Artikel 56 der Wiener Schlußakte von 1820 zu: Schon die Verfahrensweise der einseitigen Verfassungsaufhebung sei unrechtmäßig da diese seit ihrer Bekanntmachung "in anerkannter Wirksamkeit" bestanden habe34• Damit ist als Legitimation der Repräsentativverfassung auf die Anerkennung durch die Gegenseite abgehoben. Der Konflikt vorher, die revolutionäre Durchsetzung eben dieser Verfassung soll nicht mehr in Betracht kommen. Man beruft sich auf eine schon erfolgte Einigung, darauf, daß die Gegenseite auf ihre absolutistische Position verzichtet und die Unverbrüchlichkeit auch der konstitutionellen Verfassungen selbst zugestanden, daß sie sozusagen die Vertragstheorie der Vernunftrechtslehre in wesentlichen Stücken faktisch akzeptiert habe. Diese Begründung der neuen Ordnung ist freilich, das zeigt der hannoversche Staatsstreich, noch umstritten, die Anerkennung nicht allgemein. Das erklärt die Doppelgleisigkeit der Argumentation im Tübinger Gutachten und das Übergewicht der historisch-inhaltlichen Legitimierung der Verfassung. Auf diese muß man sich ausführlich einlassen, weil der bloße formelle Hinweis auf Artikel 56 als nicht genügend empfunden wird. Für das heutige positivistische Verständnis von der Verfassung als oberster, der Begründung und Anfechtung rechtlich nicht fähiger Norm ist dieser Zusammenhang, der die fundamentale Umstrittenheit des konstitutionellen Systems widerspiegelt, schwer nachvollziehbar. Wie freilich diese Umstrittenheit historisch schon im Verschwinden begriffen ist, zeigt sich aber daran, daß sie nur relativ ist. Zwar dominieren die alten Mächte noch in der Bundesversammlung. und Ausübung findet sich, bezogen auf die Staatsgewalt überhaupt, in vielen Verfassungen des 19. Jahrhunderts; vgl. aber auch Art. 20 Abs. 1 GG. 33 Vgl. Tiibinger Gutachten, S. 259. Dahlmann: Zur Verständigung, S. 28, 29 begründet die Zurückweisung des Einwandes mangelnder agnatischer Zustimmung mit einer Art Derogation seit Anfang des 19. Jahrhunderts: "Die deutschen Agnaten sind heute staatsrechtlich nicht mehr das, was sie zu Zeiten des deutschen Reiches waren, sie sind wirklich Untertanen ... Kein Agnat ward gefragt, als die Reichsfürsten sich lossagten vom deutschen Reiche, als deren welche in den rheinischen Bund traten, als in völlig friedlicher Uebereinkunft der deutsche Bund geschlossen ward. Das öffentliche Recht der höchsten Familie des Staates und ihre Privatrechte werden die Agnaten fortan als Mitglieder der Ständeversammlungen zu wahren wissen." Dahlmanns Hauptargument im konkreten Fall ist freilich, daß der nun regierende König als Thronfolger nicht gegen den Abschluß der Verfassung protestiert habe. 34 Vgl. Tiibinger Gutachten, S. 140 und 269 ff.

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

Die Minderheit der Regierungen freilich, die, was Artikel 56 der Schlußakte und die Unverbrüchlichkeit auch der konstitutionellen Verfassungen angeht, mit der konstitutionellen Partei praktisch übereinkommt, macht ihren Standpunkt unüberhörbar geltend. Es ist dieselbe Argumentation, mit der Metternich den badischen Minister Berstett vom Staatsstreich gegen das konstitutionelle System abhielt, die nun auch seitens der Regierungen konstitutioneller Staaten im Bund hervortritt: Der status quo sei gerade deshalb auch zu wahren, damit nicht die eigene Position aufs Spiel gesetzt werde35• Diese Argumentation mußte um so gewichtiger erscheinen, als ja tatsächlich die konstitutionellen Staaten von den Erschütterungen der Julirevolution im ganzen verschont geblieben waren. Deshalb wird ohne Rücksicht auf sogenannte materielle Rechtsfragen auf strikte Wahrung des "formellen öffentlichen Rechtszustandes" gedrungen36 • Viel radikaler als die Tübinger Juristen stützen sich also diese Regierungen ebenso wie übrigens auch die Gutachten der Juristenfakultäten zu Jena und Heidelberg nahezu ausschließlich auf den Artikel 56 der Schlußakte. auf den formellen Gesichtspunkt, auf das Faktum der "anerkannten Wirksamkeit" der Verfassung. Sie verstehen so das konstitutionelle System als völligen Neubeginn, hinter den auch nur in der rechtlichen Argumentation zurückzugehen nicht zulässig ist. Die revolutionäre Entstehung des konstitutionellen Systems kommt deshalb hier ebensowenig wie im Tübinger Gutachten in Betracht37• In diesem Punkte ist nun freilich die Argumentation der Gegenseite bezeichnend anders. Daß die revolutionäre Entstehung des konstitutionellen Systems überhaupt und insbesondere auch in Hannover ausführlich hervorgehoben wird38 , zeigt, daß man mit dessen Inhalten, die man für zutiefst illegitim hält, sich noch nicht abzufinden bereit ist. Auch will man Artikel 56 der Wiener Schlußakte von 1820 nicht so formell verstanden wissen, wie der konstitutionelle Gegner und die 35 Vgl. vor allem den bayrischen Antrag in der Sitzung der Bundesversammlung vom 26. April 1839, in: Portfolio, Bd. 3, S. 70 ff.: die sorgsamste Aufrechterhaltung der Grundgesetze des Bundes verbürge dessen Bestand und Würde sowie die öffentliche Ordnung und Ruhe (S. 74); mit den Vorgängen in Hannover würden den Gegnern des monarchischen Prinzips Angriffsmittel an die Hand gegeben (S. 75). Ganz ähnlich die königlich sächsische Stellungnahme, wo von der Gefährdung des monarchischen Prinzips die Rede ist (a.a.O., S. 75). 36 So der badische Gesandte in derselben Sitzung der Bundesversammlung, s. 77. 37 Im Tübinger Gutachten, S. 146 ist nur davon die Rede, daß "die Ereignisse der Jahre 1830 und 1831 die Bedürfnisse und Wünsche der Regierung und Stände sich näher gebracht und namentlich die Vorteile einer kräftigen und durchgebildeten Staatseinheit deutlicher als jemals empfinden lassen" hätten. as Vgl. die Erklärung der Hannoverschen Regierung an die Bundesversammlung vom 27. Juni 1839, S. 175 ff., 179 ff.

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bayrische und badische Opposition in der Bundesversammlung: Auf eine der Form und dem Inhalt nach nichtige Verfassung könne diese Vorschrift nicht angewendet werden39 • Gleichwohl haben die gedanklichen Positionen des Gegners wohl unbewußt die eigene Denkweise mit besetzt. Daß der Fürst überhaupt an eine Verfassung nicht gebunden sei, diese hobbesianisch-absolutistische Position nimmt man nicht ein. Im Gegenteil: Die Bindung an eine Verfassung, auf die der König seinen Eid geleistet hat, wird als selbstverständlich eingeräumt40 • Vielmehr ist ein Hauptargument gegen die Gültigkeit der Verfassung unmittelbar aus den Kategorien des Gegners- aus der Vertragstheorieentnommen. Es habe bei der Errichtung des Staatsgrundgesetzes am einhelligen Zusammenwirken des Königs und der Stände gefehlt; der Dissens hinsichtlich mehrerer Punkte ergreife die ganze Verfassung. Diesem ersten Argument im Aufhebungspatent vom 1. November 1837 schließen sich dann erst die materiellen Einwendungen, die schon erwähnten Kernstreitpunkte, an41 • Dem Argument des fehlerhaften Vertragsabschlusses konnten die Tübinger Juristen natürlich leicht entgegenhalten, daß zwar in der Tat über einige Punkte bei der Verfassungsentstehung keine Übereinkunft erzielt worden sei, daß man sich aber ständischerseits mit der Zurückweisung einiger Wünsche durch den damaligen König abgefunden und die Verfassung wie vom König genehmigt akzeptiert habe42 • So grotesk also jener im Novemberpatent geltend gemachte Grund sein mochte, er ist doch ein wesentliches Indiz dafür, wie zwingend doch der Druck bestimmter konstitutioneller Positionen (Vertragscharakter der Verfassung, formelle Unverbrüchlichkeit) war: So zwingend, daß auch die restaurative Partei bei aller Aversion gegen die konstitutionellen Neuerungen jene Grundsätze zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Argumentation machen mußte. Die selbst an diesem inhaltlich zunächst noch schroffen Verfassungskonflikt zu beobachtende Verständigung über gewisse Grundpositionen ist Indikator der künftigen Verfassungsentwicklung hin zur materiellen Verständigung. Das erweist sich nach jahrelangem erbitterten Streit schließlich auch im hannoverschen Konflikt, der mit dem Verfassungskompromiß des Jahres 1840 endet. Es bleibt grundsätzlich beim konstitutionellen System, also vor allem bei der parlamentarisch-repräsentativen Mitwirkung zu Gesetzen wie in der Verfassung von 1833. Hinsichtlich der Mitdisposition über das Finanzaufkommen aus den königlichen Do39 40

s. 230 ff.

s. 222.

Vgl. das Patent vom 1. November 1837 bei Dahlmann: Zur Verständigung, S. 10 ff., 11, 12. Dieses Argument wird in der bereits angeführten Erklärung an die Bundesversammlung noch erheblich ausgebaut; vgl. s. 195 ff. 42 Vgl. Tübinger Gutachten, S. 150, 151. 41

7 Köhler

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

mänen muß sich die allgemeine Ständeversammlung insofern zurückdrängen lassen, als das alleinige Dispositionsrecht des Königs hier wieder Platz greift43 • Von einer gelungenen Restauration kann aber im ganzen nicht die Rede sein. Das konstitutionelle System ist auch mit Gewalt nicht wieder zu verdrängen44 • III. Die Theorie vom verfassungsmäßigen Gehorsam zur Bewahrung der Revolution vor dem konterrevolutionären Rückschlag als Endphase der bürgerlich-revolutionären Widerstandsdoktrin Der historische Konflikt, auf den die Widerstandsproblematik sich bezieht, steht also an der Schwelle zur Verständigung. Das signalisiert die aufgezeigte Argumentationsweise der Kontrahenten. Nicht nur wird das "Reaktionssystem" unter dem Druck einer nun gesamtdeutschen konstitutionellen Bewegung brüchig, was sich in der Übereinkunft zwischen dieser und den Regierungen konstitutioneller Staaten etwa über die Auslegung von Artikel 56 der Wiener Schlußakte ausdrückt. Andererseits wird vielmehr auch die Annäherung der Wirklichkeit an die konstitutionellen Bestrebungen erkennbar, eine Annäherung, die sich in einer schon historisch-positivistischen Argumentationsweise der konstitutionellen Seite widerspiegelt. So steht auch die bürgerlichrevolutionäre Widerstandsdoktrin in ihrer Spätphase gegen den noch drohenden konterrevolutionären Rückschlag, aber schon an der Grenze zu ihrer historischen Erledigung zugleich mit der Gegenlehre der Fürstensouveränität. Dieser Zusammenhang der Aufhebung der entgegengesetzten Konfliktideologien wird klar, wenn Dahlmann im Vorwort zur Ausgabe der drei Fakultätsgutachten meint: "Wenn das Kapitel Vom Rechte des Widerstandes in meiner Politik ... nicht so durchaus nach allgemeinen Gesichtspunkten behandelt wäre, so würde ich allerdings in bezug auf die Staaten des deutschen Bundes hinzugefügt haben, daß in ihnen dieses Verfassungsnotrecht darum nicht wohl praktisch werden könne, weil die Bundesversammlung jeden Versuch, deutsche Untertanen der Rechtlosigkeit preiszugeben, durch das Gewicht ihrer Mahnung schon im Keime zu ersticken vermag45." Das ist zweifellos nur als Appell zum Eingreifen des deutschen Bundes ge43 Darstellung der Änderungen bei Bülau: Europäische Verfassungen, S. 79 ff. Text des Landesverfassungs-Gesetzes für das Königreich Hannover vom 6. August 1840 bei Altmann: Ausgewählte Urkunden, Teil 1, 11., s. 195 ff. 44 Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Kap. 1, S. 114 stellt fest, daß es sich um des dann letztlich erreichten Ergebnisses willen für König Ernst August nicht gelohnt habe, das Odium des Verfassungsbruchs auf sich zu nehmen und das Land in einen dreijährigen erbitterten Verfassungsstreit zu stürzen. 45 Vgl. Dahlmanns Vorwort, S. IV.

III. Verfassungsmäßiger Gehorsam gegen Konterrevolution

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meint, ein Appell, den man gewissermaßen als Angebot des Gewaltverzichts gegen die Sicherstellung des konstitutionellen Systems und den Verzicht auf den absoluten Souveränitätsanspruch der Fürsten auffassen könnte. Denn eine Theorie, die nicht praktisch werden kann, erübrigt sich schließlich auch als Theorie. Soweit ist es freilich noch nicht. Der deutsche Bund kann angesichts des Selbstwiderspruchs, in den sich die ihn dominierenden nichtkonstitutionellen Mächte anderenfalls versetzt hätten, letztlich nicht als Garant des konstitutionellen Systems auftreten. Freilich kann er auch nicht seinen Siegeszug verhindern. Die noch bestehende Angefochtenheit des konstitutionellen Systems gibt also der Widerstandstheorie noch praktische Relevanz, aber eben schon im ausschließlichen Zuschnitt auf die Verteidigung schon erreichter Positionen gegen Rückschläge. Dementsprechend wird nun im Gutachten der Tübinger Juristenfakultät unter dem allgemein formulierten Titel "Vom Rechte des Widerstandes überhaupt" 46 das Problem ausschließlich auf die Wahrung der durch Staatsstreich in Frage gestellten konstitutionellen Ordnung bezogen. Der Schlüsselbegriff für diese Position ist der des "verfassungsmäßigen Gehorsams": "Auch der staatsbürgerliche Gehorsam ist keine unbedingte, sondern eine durch die Verfassung bedingte Pflicht (verfassungsmäßiger Gehorsam)47." Daraus wird letztlich- wie bei Robert von Mohl- die Befugnis zum Ungehorsam und auch zum gewaltsamen Handeln ("tätiger Widerstand") abgeleitet, freilich unter einer Anzahl traditioneller, einschränkender Voraussetzungen. So soll das Widerstandsrecht nur im Evidenzfall ("Verletzung der Verfassung oder einer sonstigen offenbaren Gesetzesübertretung von Seite der Staatsgewalt"), nur bei Gefährdung unwiederbringlicher Rechte, nur als ultima ratio und schließlich nur in mildestmöglicher Weise gegeben sein48 • Die Begründungsstruktur ist nun in derselben charakteristischen Weise zwiespältig wie schon die Argumentation zur Legitimierung der Repräsentativverfassung. Zum einen findet sich ein kaum positivistisch verhüllter Rekurs auf die naturrechtliche Vertragstheorie. Der Grundsatz des verfassungsmäßigen Gehorsams, wenn er auch nicht wie in anderen Verfassungsurkunden ausdrücklich im hannoverschen Staatsgrundgesetz hervorgehoben sei, verstehe sich doch von selbst, "da jedes Recht, also auch das auf Gehorsam nur gedenkbar ist unter der ihm zur Seite stehenden Verbindlichkeit, die Rechte anderer zu achten, und niemand verpflichtet seyn kann, der nicht auch Rechte hat, namentlich gegen 46 Vgl. § 14 (im Text angeführter Titel), S. 296 ff. und § 15 ("Anwendung auf die gegenwärtigen Verhältnisse in Hannover"), S. 308 ff. 47 s. 300. 48 S. 307, 308. Die Beschränkungen werden ausdrücklich aus den Notwehrgrundsätzen der Strafrechtstheorie entnommen, vgl. S. 302 ff.

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

denjenigen, der ihn verpflichtet. Wie also der Staatszweck und die verfassungsmäßige Befugnis der Obrigkeit ihre Grenzen haben, so auch der Gehorsam der Untertanen, welche in dieser Eigenschaft nicht aufhören, Menschen und Staatsbürger zu seyn". Das ist in der Sache die Theorie vom bedingten oder beschränkten Herrschaftsvertrag, was sich schon an den zustimmend zitierten Autoren (Klüber, Jordan, Feuerbach), insbesondere aber an der ablehnenden Erwähnung des konservativen Schmalz und der hobbesianischen Position erweist49 • Die Vertragstheorie wird zwar ausdrücklich nicht in dem Sinne angewandt, daß schon das Verweigern des Verfassungseides den König zum ,. tyrannus ex titulo" macht, d. h. zum rechtlich gar nicht zur Regierung gelangten Usurpator. In dieser Anwendung sei die Vertragstheorie umstritten. Deshalb läßt die Tübinger Fakultät sie insoweit auf sich beruhen und hebt nur auf den Staatsstreich als solchen ab50 • Dabei werden Volk und Regierung als Kontrahenten des Verfassungsvertrages begriffen: ,.Jeder Staat nämlich, sei er nun Patrimonialstaat, Freistaat, hierarchischer Staat, wird gebildet durch seine Verfassung, d. h. durch die Summe von Rechten und Pflichten, welche von Regierung und Volk gegenseitig übernommen werden." Daraus folgt: ,.Wird nun aber diese Verfassung von dem einen oder anderen Teile aufgehoben, so ist eben damit der Staat selbst vernichtet und es kann dem anderen Teile nicht zugemutet werden, seinerseits allein verpflichtet zu bleiben, oder zu erfüllen, während der andere Teil nicht nur in seiner Erfüllung säumig ist, sondern sogar geradezu die Quelle jeder gegenseitigen Verpflichtung in Abrede zieht. Durch Aufhebung des Grundgesetzes haben sonach streng genommen Seine Majestät Ihre Untertanen aller Pflichten gegen Dieselben entbunden, und es besteht für diese auch die Verpflichtung des Gehorsames nicht mehr-51." Hier erscheint der Widerstandsfall in der überkommenen Weise als der fundamentale Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten (,.Regierung und Volk") über ihr Verhältnis zueinander, freilich im ausschließlichen historischen Zuschnitt auf das Stadium des Zeitkonflikts. Die Auskunft impliziert dieselbe verdeckte Volkssouveränitätsposition wie die vorkantische Naturrechtslehre: Das in sich verfaßte Bürgervolk soll letztlich über Monarch und Verfassung urteilen. Die andere Seite der Argumentation ist nun aber der nachfolgende Versuch einer positiv-rechtlichen und historischen Begründung. ,.Mit all diesem stimmt das positive Recht überein." Es folgen Literaturstellen aus der Strafrechtslehre zum strafbaren Ungehorsam, wonach, soll eine Widersetzlichkeit gegen staatliche Akte strafbar sein, die formelle 49

s. 300,

51

s. 314.

301.

so Vgl. Tiibinger Gutachten, S . 312, 313.

III. Verfassungsmäßiger Gehorsam gegen Konterrevolution

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Rechtmäßigkeit der obrigkeitlichen Anordnung gegeben sein muß52 • Zum zweiten wird für den Grundsatz des verfassungsmäßigen Gehorsams alte reichsstaatsrechtliche Dignität beansprucht. Deshalb zitieren die Tübinger Juristen das reichshofrätliche Votum an Kaiser Joseph II. hinsichtlich des württembergischen Erbvergleiches aus dem Jahre 1770. Dort heißt es, daß kein Reichsstand von seinen Untertanen einen anderen als reichsverfassungsmäßigen Gehorsam fordern könne53 • Die These von der alten Rechtsqualität des Grundsatzes des verfassungsmäßigen Gehorsams wiederholt die Tübinger Fakultät später in ihrer Stellungnahme zu den Anwürfen der hannoverschen Regierung gegen das Gutachten54 und erweitert sie dahin, "daß schon das ältere Recht ... in dem Lehens- und Dienst-, sowie in dem, diesen später nachgebildeten Untertanennexus ein Verhältnis gegenseitiger (nicht bloß einseitiger) Treue erkennt" 55 • Auch hier ist nun allerdings die historische und positivrechtliche Begründung des Ergebnisses schon in sich unzutreffend. Nach Reichsverfassungsrecht stand dem Untertanen gegenüber landesherrlichen Zumutungen zwar der Appell an die Reichsjustiz (Reichskammergericht und Reichshofrat i. d. R. konkurrierend), also der "Weg rechtens", nicht aber Selbsthilfe zu56 • So versteht sich auch die von der Tübinger Juristenfakultät zitierte reichshofrätliche Erläuterung zum reichsverfassungsmäßigen Gehorsam und die entsprechende Stelle im württembergischen Erbvergleich von 1770, der übrigens selbst eine Schlichtungsklausel ad imperatorem enthält57 • Die zur positiv-rechtlichen Begründung angeführten strafrechtlichen Stellen setzen ihrerseits gerade die strafgerichtliche Anerkennung bzw. Entscheidung als maßgeblich voraus. Für ein letztinstanzlieh selbst beurteiltes Volks52

s. 306.

sa Vgl. S. 318. Vgl. Paulus: Haupturkunden der Württembergischen LandesGrundverfassung, 2. Abt., S. 37; der entsprechende § 3 der Ersten Classe des Erbvergleichs findet sich bei Paulus, S. 105 ff., 108. 54 Die Hannoversche Regierung befaßte nicht nur die Bundesversammlung mit dem Tilbinger Gutachten und seiner Verbreitung, sondern wandte sich mit Schreiben vom 19. April 1839 auch unmittelbar an die Württembergische Regierung und suchte wegen des Inhaltes des Gutachtens um Anwendung der Karlsbader Beschlüsse bzw. der entsprechenden Bundesbeschlüsse gegen die beteiligten Professoren nach (Beilage 1 zu § 263 des Protokolls der 20. Sitzung der Deutschen Bundesversammlung vom 9. September 1839, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 198 ff., 202, 203). Die Württembergische Regierung forderte zwar daraufhin von der Tübinger Juristenfakultät einen Bericht an (Beilage 4 ..., S. 214 ff.), stellte sich dann aber in ihrem Antwortschreiben an die Hannoversche Regierung vor die Gutachter und wies das Verfolgungsansinnen zurück (Antwortschreiben vom 15. Juni 1839, Beilage 3, S. 210 ff.). 55 Vgl. den Bericht der Juristen-facultät zu Tübingen, S. 214 ff., 226. s& Vgl. zur reichsstaatsrechtlichen Theorie oben Kap. 2. 57 Vgl. I. Classe, Gravamen I, § 2 des Erbvergleichs von 1770, in: Paulus, S. 108. Zutreffend die Interpretation der von der Bundesversammlung zur Begutachtung des Tilbinger Gutachtens eingesetzten Kommission; vgl. Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 9. Sitzung vom 6. Juni 1839, § 132, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 160 ff., 169, 170.

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

recht zum Widerstand (verfassungsmäßiger Gehorsam), wie es das Gutachten behauptet, geben sie mithin nichts her58 • Es findet sich also hier die gleiche Struktur wie oben bei der Legitimierung des neuen Verfassungsverhältnisses. Die traditionelle naturrechtliche Begründung umgibt sich mit dem Mantel einer schon in sich unschlüssigen historischen und positiv-rechtlichen Argumentation. Dieser Versuch ist ersichtlich noch ausgeprägter als bei Robert von Mohl. Ebenso ist die Argumentation ganz defensiv auf das existente konstitutionelle System bezogen, dessen positive Existenz und historische Legitimität man darzutun vorher sich bemüht hat. In dieser eher schon konservativen Argumentationsstruktur, sich auf geschriebenes Recht, auf Herkommen zu stützen, erinnert dies an die ältere positive Reichsstaatsrechtslehre. Dazu paßt auch die Herkunft des Schlüsselbegriffs vom "verfassungsmäßigen Gehorsam". Johann Ludwig Klüber, der bekanntlich noch Reichspublizist war, hat ihn zuerst beiläufig in bezug auf das Widerstandsrecht verwendet. Der Begriff taucht dann sicherlich in bewußter Anknüpfung an den württembergischen Erbvergleich des Jahres 1770 in der württembergischen Verfassungsurkunde auf. Von daher wird er schließlich bei Mohl und im Tübinger Gutachten zur vermeintlichen positiven Begründung für das Widerstandsrecht gegen den Umsturz von oben herangezogen. All dem entspricht es, daß die Theorie vom verfassungsmäßigen Gehorsam den Zeitkonflikt nun bewußt mit dem historischen Konflikt zwischen den alten Ständen und den absolutistisch expandierenden Landesherren parallelisiert59• Die bürgerliche Revolution beginnt sich in ihrer Spätphase in seltsamer Verkehrung der Fronten wie das ancien regime zu verhalten. Zu dieser Begründungsstruktur und dem ihr zugrundeliegenden Verständnis des Zeitkonfliktes gesellt sich schließlich das auch im Tübinger Gutachten wie bei Aretin und Mohl entschiedene Auseinandertreten von verfassungsmäßigem Gehorsam (rechtmäßigem Widerstand) und Revolution. Den Vorwurf, eine revolutionäre Theorie zu vertreten, weist man zurück60 • Im Gegenteil: man versteht sich als Verteidiger des historisch-positiven konstitutionellen Rechts gegen die Revolution von oben. Diese Trennung gewinnt ihre innere Logik aus der soeben analysierten Reduktion des Widerstandsproblems. Die Rechtsfrage nach der So mit Recht das in Anm. 57 angeführte Kommissionsgutachten, S. 169. Vgl. Tübinger Gutachten, S. 298, 299 und von Mohl: Staatsrecht, Bd. 1, s. 151 ff., 154. 60 Im Antrag von Hannover an die Bundesversammlung, in dem auf ein allgemeines Verbot des Gutachtens durch den Bund gedrungen wurde, heißt es, das Tübinger Fakultätsgutachten enthalte "eine völlige Theorie des Rechts der Revolution"; vgl. Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 5. Sitzung vom 26. April 1839, § 71, Hann. Portfolio, Bd. 3, S. 159. Daraufhin die Verwahrung der Juristenfakultät zu Tübingen gegen diesen Vorwurf in ihrem Bericht, S. 214 ff., 228. 58 59

III. Verfassungsmäßiger Gehorsam gegen Konterrevolution

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Gewalt des Volkes stellt sich ja, um es zusammenzufassen, für die konstitutionellen Autoren von Klüber bis zum Tübinger Gutachten allenfalls zugunsten des konstitutionellen Systems, dessen Kern die mitwirkende Stellung der Repräsentativkörperschaft ist, und das als ein schon existentes, "in anerkannter Wirksamkeit" bestehendes Verfassungsverhältnis vorausgesetzt ist. Dem schon im Ansatz reduzierten Widerstandsproblem wird ein Begriff von Revolution gegenübergestellt, der das Merkmal der Unrechtlichkeit eo ipso schon enthält. Darin kommt man mit dem Gegner überein. Es liegt nun dieser Unterscheidung ersichtlich nicht die Vorstellung von dem äußeren Ablauf nach verschiedenen Konfliktformen zugrunde. Mit Widerstand, mit verfassungsmäßigem Gehorsam ist vielmehr von Klüber bis Mohl und bis zum Tübinger Gutachten durchaus der Gesamtkomplex der je nach der Erforderlichkeit abgestuften Konfliktverhaltensweisen vom Ungehorsam bis zur Überwältigung und Absetzung des verfassungsumstürzlerischen Fürsten gemeint. Eine Unterscheidung der Begriffe Widerstand und Revolution ist dann aber nur sinnvoll, wenn die dem Phänomen nach nicht unterscheidbaren Konflikte gemäß ihren Inhalten, Zielen, Parteien usw. geschieden werden. Dies meint ja auch die Formel vom verfassungsmäßigen Gehorsam: Daß letztlich auch Gewalt rechtlich sei, wenn die schon in Übung gewesenen konstitutionell-repräsentativen Verfassungsbefugnisse der Ständeversammlung anders nicht aufrecht erhalten werden können. Ansonsten kommt rechtmäßiger Widerstand nicht in Betracht, sondern nur (rechtswidrige) Revolution. Die Begriffe Widerstand und Revolution erhalten damit die Implikation rechtlicher Wertung. Daraus folgt, daß sie auf ein und denselben Konflikt bezogen werden können, je nach der rechtlich wertenden Sicht der Parteien. Was der einen verfassungsmäßiger Gehorsam (rechtmäßiger Widerstand) ist, erscheint der anderen als revolutionäre und das bedeutet schon: unrechtmäßige Gewalt. Diese dem heutigen Betrachter durchaus geläufige Erscheinung zeigt sich in der Rechtsargumentation zum hannoverschen Verfassungskonflikt. Vom absolutistischen Standpunkt aus muß jegliche Gewalt gegen die einzig als legitim angesehene monarchische als revolutionär erscheinen61 • Schon das Nachdenken über diese Frage erscheint suspekt62 • Dieser Revolutionsbegriff umfaßt mithin jegliche Zwangsgewalt gegen die monarchische Exekutive. Er wird auch Vgl. Anm. 60. Anläßlich des Tübinger Gutachtens wurde dann auch konsequenterweise erwogen, ob man nicht den "Universitäten die Erstattungen von Gutachten über Fragen, welche die Bundes= oder die specielle Landesverfassung eines einzelnen deutschen Staates betreffen, ein- für allemal" untersagen solle (so die kaiserlich-königliche Stellungnahme; vgl. Protokoll der Deutschen Bundesversammlung, 15. Sitzung vom 1. August 1839, § 205, Hann. Portfolio, Bd. 3, 8.175 ff., 179). Die konstitutionellen Bundesstaaten verhielten sich dazu überwiegend reserviert. 61

62

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Kapitel6: Das Gutachten der Tübinger Juristenfakultät

von den publizistischen Gegnern der hier erörterten konstitutionellen Autoren, z. B. von Maurenbrecher vertreten, der ihre Lehre eine Theorie des Revolutionsrechts nennt63 . Die konstitutionellen Autoren dagegen differenzieren. Für sie ist das gewaltsam zwingende Umstürzen des "in anerkannter Wirksamkeit bestehenden" Verfassungsverhältnisses revolutionär. Die reaktionäre Bundespolitik ist revolutionär64. Der Staatsstreich des Königs von Hannover stellt sich ihnen als Revolution von oben, im Tübinger Gutachten sogar als Hochverrat dar65 • Trotz dieses Dissenses zeichnet sich doch zumindest eine Übereinkunft zwischen den Konstitutionellen und den alten Mächten über den unrechtlieh-revolutionären Charakter von Positionen ab, die über das System der konstitutionellen Monarchie hinausweisen. Gemeint ist der republikanisch-demokratische Radikalismus. Schon in den 20er Jahren verstanden sich die Konstitutionellen als die goldene Mitte zwischen den absolutistischen und den demokratischen Extremen (Aretin). Bezeichnend war etwa Klübers Differenzierung in der nach Karlsbad erschienenen Auflage seines Öffentlichen Rechts. Diese Tendenz setzt sich nach 1830 fort, als der Radikalismus verstärkt und selbständiger auftritt66 • So bietet Carl von Rotteck das konstitutionelle System geradezu als die Basis eines Friedens zwischen den gemäßigten Liberalen und den "Wohlgesinnten" im konservativen Lager an67. Dieser Abgrenzung entspricht von Aretin bis zum Tübinger Gutachten die Trennung zwischen einem Widerstand für das konstitutionelle System (verfassungsmäßiger Gehorsam) und der darüber hinaus weisenden Revolution. Nach allem bisher Gesagten ist dies freiich nur die Differenzierung zweier revolutionärer Theorien, wobei die bürgerlich-konstitutionelle mit ihrer im Kern gleich gebliebenen Begründung (Herrschaftsvertragslehre) sich allerdings auf einen in der Endphase befindlichen Konflikt mit einem großteils schon zum Einlenken geneigten ancien regime bezieht. Deshalb vermag sie in ihrem Selbstverständnis von der revolutionären Genesis des konstitutionellen Systems mehr und mehr zu abstrahieren. 63 Vgl. Maurenbrechers auch mit Blick auf den Verfassungskonflikt geschriebene Abhandlung: Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, S. 158 ff., wo er Recht des Widerstandes mit Recht der Thronentsetzung oder der Revolution gleichsetzt. 64 Vgl. Welcker zu den Bundesbeschlüssen des Jahres 1834 oben Anm. 4. &s Tübinger Gutachten, S. 308, 309: Die Handlung des Königs würde, wäre sie von einem Untertanen des Königreiches unternommen worden, nach allgemeinem Strafrecht unter den Begriff des Hochverrates fallen. 66 Vgl. zum Radikalismus nach 1830 etwa Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, 4., S. 221 ff. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Kap. 2, S. 125 ff. 67 Vgl. Rottecks Vorwort, in: Staatslexikon von Rotteck und Welcker, Bd. 1 (1834), S. XXII, XXIII.

3. Abschnitt

Die Neutralisierung der überkommenen Konfliktpositionen im konstitutionellen Positivismus Kapitel 7 Der konterrevolutionäre Positivismus des historischen Rechts I. Die konterrevolutionäre Theorie der Restauration

Die Positivität des Widerstandsrechtes bzw. des bloß verfassungsmäßigen Gehorsams suchten also die Tübinger Gutachter darzutun. Dagegen erblickte gerade im "Schein einer positiven Begründung" die von der Bundesversammlung eingesetzte Kommission das Gefährliche des Gutachtens1• Die Heidelberger Juristenfakultät nun verneint das Widerstandsrecht mit dem Argument fehlender Positivität. Das Bemerkenswerte an diesen Stellungnahmen ist zunächst die verbale Übereinkunft, der freilich eine Annäherung in der Sache entspricht: Die prinzipielle Identifizierung von Recht und geschriebener Verfassung. Wenn auch die Auffassungen über deren Inhalt noch auseinandergehen, wenn somit die behauptete Positivität in manchem und gerade in der Widerstands- und Souveränitätsfrage nicht mehr als eine Parteiposition ist, so ist doch mit der Gleichsetzung von Konstitution und Recht der Rahmen eines möglichen konkreten Vertrages schon bezeichnet: Ein Vertrag, der die Kampfideologien von Fürstensouveränität und Volkssouveränität (Widerstandsrecht) als bloß einseitige vernichten muß. Das Heidelberger Gutachten enthält einesteils schon diesen Begriff des positiven (konstitutionellen) Rechts. "Keine deutsche Verfassung", heißt es dort zum abgelehnten Widerstandsrecht, "hat diesen Weg den Unterthanen eröffnet, ja keine konnte ihn den Unterthanen eröffnen, da das Gebieth des positiven Verfassungsrechtes aufhört, wo die äußersten Fälle anfangen2 ." Mit dem Konflikt also hat das Recht abgedankt. Ist die Ebene des konstitutionellen Vertragens (Verfassung, 1 2

Vgl. das Kommissionsgutachten (Anm. 57 des 6. Kap.), S. 173. Vgl. in der Ausgabe von Dahlmann, S. 8 ff., 71.

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

Gesetz, Gericht) erst verlassen, so ist keine Plattform auszumachen, von der aus der Streit entschieden werden könnte. Bis zur neuen Verständigung herrscht der Naturzustand eines beiderseits gleichen Rechts. Diese Auskunft des konstitutionellen Positivismus, die eigentlich jede Souveränitätsrechtsbehauptung ausschließt, wird nun freilich im Heidelberger Gutachten nicht konsequent durchgehalten. Widersprüchlich genug finden sich nämlich daneben auch beide Souveränitätspositionen der Vergangenheit. Zunächst die Volkssouveränität. Wie die Tübinger konstatieren die Heidelberger Gutachter nämlich den rechtlichen Fortbestand der umgestürzten Verfassung3 • Damit wird jenseits des konkreten konstitutionellen Vertragens eben doch wieder ein Recht behauptet: Denn bewahrt die Verfassung ihre verpflichtende Kraft, so ist eigentlich die Folgerung nicht zu umgehen, daß man den Monarchen zu ihr wird zurückzwingen dürfen. Das Beharren auf der Verfassung auch im Konflikt impliziert also eigentlich das Ergebnis des Tübinger Gutachtens. So gesehen ist es unverständlich, daß die behauptete Verfassungsbindung dann doch gänzlich unsanktioniert bleiben, ja daß das Staatsrecht überhaupt aufhören soll. Das Widersprüchliche des Gutachtens gipfelt schließlich noch in der ganz entgegengesetzten Position der Fürstensouveränität. Ein Steuerverweigerungsrecht der Untertanen, und demgemäß auch ein Recht untergeordneter Behörden, sich an der Steuereinziehung nicht zu beteiligen -, bestehe "selbst in dem Falle nicht, da die Steuern von der Regierung auf eine mit der Verfassung nicht übereinstimmende Weise", also insbesondere ohne parlamentarische Mitbewilligung ausgeschrieben werden4 • Obwohl also die Regierung im Unrecht ist, sollen die Unterbehörden doch zur Steuereinziehung verpflichtet sein, soll der Regierung doch ein Recht auf - nicht bewilligte - Steuern zustehen. Das Recht hört also mit dem Verfassungskonflikt doch nicht auf! Die Lücke im konstitutionellen Vertrag wird hier auf einmal durch die monarchische Souveränität ausgefüllt. Insofern ist diese Seite des Heidelberger Gutachtens ein früher Beleg für die Lückenhypothese im preußischen Budgetkonflikt. Insgesamt enthält das Heidelberger Rechtsgutachten zur hannoverschen Verfassungsfrage also drei Antworten zur Widerstands- und Souveränitätsfrage: Zunächst ein Recht des Volkes d. h. der konstitutionellen Partei auf die Verfassung, auf Steuerbewilligung; sodann das Recht des Monarchen, Steuern auch ohne eben diese verfassungsmäßige parlamentarische Mitwirkung einzuziehen. Schließlich enthält es die zukunftweisende Kompromißformel des konstitutionellen Positivismus: Das Recht endet jenseits des konstitutionellen Vertrages; ob im Konflikt einer Seite ein Vorrecht zusteht, bleibt eine nicht zu beantwortende Frage. 3

4

s. 16 ff. s. 71.

I.

Die konterrevolutionäre Theorie der Restauration

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Was positives Recht sei, ist also im Heidelberger Gutachten mehrfach und widersprüchlich beantwortet. Das braucht nicht zu überraschen, da in einem unverständigten Verfassungskonflikt von Positivität nur im Sinne je entgegengesetzter Parteipositionen die Rede sein kann. Hinzu kommt freilich noch ein besonderes Dilemma, das sich angesichts des Positivitätsbegriffs für konstitutionelle Juristen jener Zeit stellte und das auch die Heidelberger Gutachter offenbar nur halb bewältigt haben. Der Begriff ist ursprünglich eine Kampfformel der konservativen und konterrevolutionären Seite gegen die naturrechtliche Begrifflichkeit. Die Formel des historischen positiven Rechts stattet auf diese Weise das alte Rechts- und Verfassungsverhältnis, als das überkommene Machtverhältnis mit der Würde einer transzendental vorgegebenen Objektivität aus. Dem Widerstandsrecht der naturrechtliehen Vertragstheorie steht der Souveränitätsanspruch der alten Mächte gegenüber. Die gegnerische Theorie5 hat nun zunächst eine kritische Seite, in der sie mit der Naturrechtskritik etwa Kants und Hegels übereinkommt. Wie diese hebt sie auf die Einseitigkeit der naturrechtliehen Abstraktionen (isoliertes Subjekt, Volk, Vertrag etc.) ab, die jegliche nicht in ihre Begriffe passende historische Individualität der Vernichtung anheim gibt. Im V erdergrund steht zunächst der überragende Eindruck der Schreckensperiode der französischen Revolution, die eine kritische Reflexion gewissermaßen emotional veranlaßt6 • Dieser Eindruck eines alle private Ruhe und Glück vernichtenden Despotismus der Revolution resultiert nicht nur aus den Schicksalen aristokratischer Emigranten (Haller, de Maistre). Er beherrscht übrigens auch Denker wie Schelling, Regel, Feuerbach, die zunächst die französische Revolution uneingeschränkt begrüßen, sich vom terreur aber zu kritischer Distanz veranlaßt sehen, wenngleich in ihrer nach wie vor positiven Beurteilung der neu zur Geltung gebrachten Inhalte ihre wesentliche Differenz zu Restauratoren wie Haller besteht. Hallers Werk etwa durchzieht wie ein Grundmotiv die Angst davor, daß die überkommenen Inhalte der revolutionären und das bedeutet für ihn auch: der reformabsolutistischen Begrifflichkeit zum Opfer fallen könnten7 • Viel 5 Vgl. etwa die Aufgliederung der Gegenpositionen bei Warnkönig: Die gegenwärtige Krisis der Rechtsphilosophie in Deutschland, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 4 (1839), S. 255 ff., 270. Grosser: Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, S. 2 ff. Zum Konservatismus neuerdings WHtms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, s. 99 ff. 6 Zu dieser Grunderfahrung der Intellektuellen der Revolutionszeit vgl. Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, S. 12 ff. Für die Restauration Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 11 ff. 7 Vgl. Haller: Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1, schon in der

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

allgemeiner scheint dagegen bei Kant und Regel das Bedenken gegen einen Zustand an sich zu sein, in dem jede stabile Verfaßtheit aufs Ungewisse hin aufgelöst ist: Ein tief verwurzeltes Gefühl des Abscheus gegen einen Naturzustand, wie es als Kontinuum des neuzeitlichen Denkens zumindest seitGrotius erweislich ist8 • Der Hauptangriffspunkt an der naturrechtliehen Doktrin ist das Axiom von den freien und gleichen Individuen, die das Gemeinwesen konstituieren sollen. Dagegen richtet sich Hallers Bild eines ständisch geschichteten Gemeinwesens, dessen Ungleichheiten an Freiheit einem göttlich gefügten Naturgesetz entsprechen9 • Dagegen auch wendet sich im Ansatz Savignys Begriff einer objektiv vorgegebenen, an sich existenten Wesenheit "Volk", die die Subjekte bestimmt10 • Dem entspricht aber vor allem die Negierung der naturrechtliehen Vertragslehre. Zwar gibt es zur Revolutionszeit auch Autoren, etwa Friedrich von Gentz und Theodor Schmalz, die die Nomenklatur der Vertragslehre äußerlich übernehmen, um sie dann freilich durch Unterstellung anderer Inhalte im konservativen Sinne umzudeuten11 • In erster Linie findet sich aber schon das Argument, das bis auf Friedrich Julius Stahl und Friedrich Christoph Dahlmann zum Stereotyp der Naturrechtskritik werden sollte: Die behaupteten Verträge seien unwirklich12 • Damit wird die Vertragsfiktion naturrechtliehen Inhalts kritisiert, die einen bloß einseitigen Anspruch mit der Würde eines pactum versieht. Eine ähnlich gerichtete Kritik, daß nämlich nicht der revolutionäre Verfassungsvertragsanspruch, sondern das konkrete Vertragen allein Recht sei, impliziert Burkes bekannter Satz: "Society is indeed a contract13." Diese Kritik am revolutionären Naturrecht negiert natürlich auch dessen letzte Konsequenz- das revolutionäre Widerstandsrecht-und kommt darin mit den kritischen Ansätzen der idealistischen Philosophie selbst überein. Die entscheidende Differenz zu dieser ist freilich, daß diese an sich berechtigte Naturrechtskritik14 vom Boden eines vorkantischen Objektivismus her erfolgt. Das positive, historische Recht, in dessen Namen Vorrede, S. VII ff., XII ff. Zum "Despotismus" des "pseudophilosophischen revolutionären Staatsrechts" vgl. Bd. 2, Kap. 39, S. 372 ff., 373-375, 401 ff. s Vgl. oben Kap. 3. 9 Vgl. Haller, insbes. Bd. 1, Kap. 13, S. 355 ff. 1o Vgl. Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 12 ff. Zum Volksbegriff der historischen Schule, der das Individuum funktionalisiert, Rexius: Studien zur Staatslehre der historischen Schule, in: Historische Zeitschrift, Bd. 107 (1911), S. 496 ff., 498 ff. Ferner Heller: Staatslehre, S. 158 ff. u Vgl. im folgenden. 12 Vgl. etwa Hatler: Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1, Kap. 11, S. 295 ff. Hugo: Lehrbuch des Naturrechts ... , Bd. 2, 3. Auflage, §§ 369 ff., s. 436 ff. 13 Burke: Reflections on the Revolution in France, S. 143. 14 Vgl. schon Hegel in dem bereits angeführten Naturrechts-aufsatz, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 435 ff., 453 ff.

J. Die konterrevolutionäre Theorie der Restauration

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der Angriff vorgetragen wird, versteht sich selbst wieder als vorgegebene, die Menschen objektiv bestimmende Wesenheit. Die kantische Einsicht, daß Recht etwas durch das Subjekt Vermitteltes sei, womit wie Heget gezeigt hat, nicht unbedingt schon das isolierte Subjekt der hobbesianischen Tradition gemeint zu sein braucht, und daß mithin auch menschliche Freiheit, menschliche Selbstsetzung den Rechtsbegriff konstituiere, jene "große Seite" der Philosophie Kants15, geht darin verloren zugunsten eines in letzter Ausprägung theologischen Transzendenzdenkens16. Im Extrem ist diese Lehre nun zunächst offen konterrevolutionär. Der Revolution der bürgerlichen Autonomie wird ein Recht zur Gewalt für die bedrohten alten Mächte entgegengesetzt17. Das ist die Position, die Friedrich von Gentz in seinem Memorandum zur Karlsbader Konferenz vertriW 8 • Damit setzt er im Grunde folgerichtig seine Stellungnahme zur Revolutionszeit gegen Kants Aufsatz über das Verhältnis von Theorie und Praxis fort, obwohl sich seine monarchischabsolutistische Position damals nicht in einer eindeutigen Zurückweisung der naturrechtliehen Vertragslehre, sondern verbrämt in der Annahme eines freilich unbedingt abgeschlossenen Herrschaftsvertrages äußerte19. Im Grunde dieselbe explizit konterrevolutionäre Position bezieht Theodor Schmalz in seinem 1825, also inmitten der Restaurationsperiode ersChienenen Staatsrechtslehrbuch. Zur Revolutionszeit hatte auch Schmalz, hierin ähnlich wie Gentz, äußerlich noch die naturrechtliehe Vertragslehre übernommen. Nur machte er sie zum Instrument altständischer Inhalte, indem er als Subjekte des Staatsvertrages, des Unterwerfungsvertrages mit dem Fürsten und der Widerstandssanktion ausschließlich die Grundbesitzer anerkannte20 • Nunmehr, in der Restau15 Hegel, S. 453 ff. 1& Stahl: Rechtsphilosophie, Bd. 2, 1. Abt., S. 1 faßt die Gegenströmungen gegen das revolutionäre Naturrecht seit Ende des 18. Jahrhunderts dahin zusammen, daß als "rechtsbegründend nicht mehr der menschliche Wille, sondem die höhere Macht über ihm" gedacht werde. 17 Damit ist nicht die im weiteren Sinne konservative Publizistik (vgl. dazu im Hinblick auf die Verfassungsdiskussion Brandt: Landständische Repräsentation, Kap. 4), sondem nur die eine gewaltsame Revision ins Auge fassende Lehre gemeint. Diese Differenz offenbart sich u. a. auf der Karlsbader Konferenz und anläßlich des Hannoverschen Verfassungskampfes auf der praktisch-politischen Ebene. Differenzierend Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, § 29, S. 326. 1s Vgl. oben Kap. 4. 19 Vgl. Gentz: Nachtrag zu dem Räsonnement des Herm Professor Kant über das Verhältnis von Theorie und Praxis, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 22, Juli-Dezember 1793, S. 518 ff., 544 ff. Der Unterwerfungsvertrag könne nur unbedigt sein, weil anderenfalls die Möglichkeit der Anarchie Vertragsinhalt sei (S. 544). Daher sei Widerstand nicht rechtens, sondern allenfalls entschuldbar (S. 545), selbst wenn er durch die blutigste Tyrannei veranlaßt sei (S. 546). 20 Vgl. Schmalz: Das natürliche Staatsrecht, S. 42, 49 (Staatsvertrag), S. 56, 62 (Unterwerfungsvertrag), S. 125, 126 (Widerstandssanktion bei Mißbrauch).

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

rationszeit, negiert auch er die naturrechtliche Vertragslehre. Seine bloß verbale Konzession ist die Annahme eines unbedingten Unterwerfungsvertrages freilich nicht zwischen Volk und Fürst, sondern zwischen den je einzelnen und dem "Schutzherren" 21 • Die analytische Folgerung daraus ist dessen rechtliche Unwiderstehlichkeit und das Unrecht jeglichen Widerstandes von unten22 • Eine andererseits statuierte Verpflichtung des Regenten auf den Staatszweck (Schutz) bleibt ohne jede Sanktion: diese Pflicht ist nicht erzwingbar23 • Die konterrevolutionäre Implikation ist schon darin angelegt, daß Schmalz einen Vertrag im naturrechtliehen Sinne zwischen einem als selbständige Person gedachten Volk und seinem Regenten nicht anerkennt; überhaupt ist für ihn "Volk" nur der Inbegriff aller einzelnen24 • Daraus ergibt sich folgerichtig, daß eine Verfassung für Schmalz kein Vertragswerk darstellt, sondern bloß eine vom Souverän beliebig abänderbare Regelung zur Ausübung seiner a priori vorgegebenen höchsten Gewalt25 • Wenn dem Fürsten also eine ungewollte Verfassung aufgezwungen wird. steht es bei ihm, sie wieder zu vernichten26• Bemerkenswert an den Stellungnahmen von Schmalz ist der an einem Autor aufweisbare Übergang von einer zunächst im altständischen Sinne konterrevolutionären Position, die sich durchaus auch gegen den Reformabsolutismus richtet, zu einer Übereinkunft der monarchischen und altständischen Interessen im Verfassungskonfliktmit dem Liberalismus27 • In offen religiöser Verankerung bringt sich das historische Recht der altständischen Gesellschaft schließlich noch bei Carl Ludwig von Haller zur Geltung. Um der Zweideutigkeit seines grundlegenden Naturgesetzes, daß der Stärkere herrsche28 , zu entgehen- denn dies könnte gerade auch die Revolution für sich geltendmachen29 - , bindet er die überkommenen Schichtungsverhältnisse einer nach Privatrechten gestuften Gesellschaft zurück in ein göttliches Gesetz30 • Den je individuellen Trägern dieser Privatrechte billigt Haller, sollten diese bedroht 21 22 23 24 25

Vgl. Schmalz: Das teutsche Staatsrecht, Vorwort, S. IV, S. 8. Schmalz, S. 201, 202. Schmalz, S. 200. Vgl. S. 9.

s. 10,

13, 14.

S. 15 Anm. b). Vgl. zu der allgemeinen Erscheinung der Anpassung des Adels an den monarchischen Absolutismus Brandt, S. 48, 49. 2s Vgl. Haller, Bd. 1, Kap. 13, S. 355 ff., 359. 2o So Hagemann: Die Staatsauffassung Karl Ludwig von Hallers, S. 32, 33. Vgl. schon Stahl: Rechtsphilosophie, Bd. 2, 1. Abt., S. 8. 30 Vgl. Haller, dem Ansatz nach schon S. 375, 383 ff., wo von Mißbrauch der Macht die Rede ist, was ja ein - außer der Stärke bestehendes - Kriterium voraussetzt. Vgl. aber insbes. Kap. 14, S. 388 ff.: allgemeines Gesetz "Meide Böses und thue Gutes" (S. 396, 397) als Faktum der Natur (S. 394), aber gleichwohl in göttlich-transzendentaler Verwurzelung (S. 400 ff., 407 ff.). 26 27

I. Die konterrevolutionäre Theorie der Restauration

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sein, notfalls eine ins eigene Rechtsgewissen gestellte Selbsthilfe zu31 • Schon dieser individualistische Ausgangspunkt weist darauf hin, daß hier ein konterrevolutionäres Selbsthilferecht postuliert ist. Der Eindruck einer solchen Zielrichtung verstärkt sich, zieht man die Stellen hinzu, wo Haller in extenso gegen das Bündnis des "pseudophilosophischen, revolutionären Staatsrechts" mit dem Reformabsolutismus, den er schlicht Despotismus nennt, polemisiert: "All das (scil. die zuvor ausführlich geschilderte Aufbrechung ständischer Strukturen) sind lauter Tyranneien, welche das pseudophilosophische revolutionäre Staatsrecht, d. h. die falsche Idee einer delegierten Gewalt, hervorgebracht hat32 ." Die Legitimierungsfunktion Hallers für die konterrevolutionäre Restaurationspolitik zumal in Preußen ist bekannt33 • Andererseits ist nicht zu verkennen, daß sich in Hallers Selbsthilfelehre auch Begriffe der von ihm so bekämpften naturrechtliehen Theorie einschleichen, die seinen Ausführungen eine gewisse Zweideutigkeit verleihen. Diese zeigt sich insbesondere da, wo Haller abgesehen von seinem Postulat individuell-ständischer Selbsthilfe die Frage des Insurrektionsrechtes der Völker erörtert und bejaht34 • Der Widerspruch zwischen diesen eigentlich in der Tradition der revolutionären Widerstandslehre stehenden Ausführungen und seinen privatrechtlich-ständischen Grundpositionen ist für Haller wohl von der einheitlichen Gegnerschaft gegen den monarchischen Absolutismus überlagert. Diese konterrevolutionäre Publizistik mag Indiz sein für die zumal in den 20er Jahren noch mächtige Stellung der alten Führungsschichten in Deutschland35• Zugleich zeigt sich daran, wie sich in einem konkreten historischen Konflikt verschiedene Widerstandslehren gegenüberstehen. Das weist sie als Konfliktideologien aus, die nur je relative Wahrheit als Parteipositionen besitzen können36 • Freilich haben die objektivistischen Gegenpositionen zum revolutionären Naturrecht in dieser inhaltlichen Ausprägung keine Zukunft im deutschen Staatsdenken. Selbst Konservative wie Friedrich Julius Stahl kritisieren den der unaufhaltsamen Verfassungsentwicklung ganz unangemessenen, komVgl. Haller, Bd. 1, Kap. 15, S. 410 ff., 414 ff. Vgl. Haller, Bd. 2, Kap. 39, S. 402 ff., 406. Haller weist hin auf die alsbald praktische - Interessenallianz zwischen der Feudalaristokratie und der Monarchie: "dergleichen (scil. reformabsolutistische) Gewalttätigkeiten" seien für die Fürsten ohne Interesse, sie "untergraben die Heiligkeit der fürstlichen Rechte selbst, welche auf dem nemlichen Fundament wie alle übrigen beruhen". (S. 407). 33 Vgl. dazu Huber, S. 328, 331. 34 Vgl. Haller, Bd. 2, Kap. 41, S. 435 ff., 454 ff. 35 Vgl. Schnabel, Bd. 2, S. 8 ff. und, zu den sozialen Grundlagen der Restauration, S. 11 ff. se Vgl. Regel im bereits angeführten Naturrechtsaufsatz, S. 455, 457 über das bloß "relative" Recht der Gegenpositionen zum kantisch-fichteschen Naturrecht. 31

32

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

promißlos reaktionären Standpunkt dieser Publizistik37 • Zur Herrschaft gelangt dagegen eine Lehre, die, obzwar auch rechtsobjektivistischpositivistisch im Sinne der alten Mächte, doch offen ist, den konstitutionellen Kompromiß in sich aufzunehmen. Für die bisherige Widerstandslehre und überhaupt für die bisher entgegengesetzten Souveränitätsiehren bedeutet das die Möglichkeit ihrer Neutralisierung. Diese Lehre ist der Geschichtsobjektivismus der historischen Rechtsschule oder, wie Max Weber sie genannt hat, das "Naturrecht des historisch Gewordenen" 38 •

Il. Souveränität des historischen Rechts und historischer Wandel bei Friedrich Carl von Savigny und Gustav Hugo Die historische Schule, im Privatrecht der Vormärzzeit bereits uneingeschränkt herrschend39, wirkt erst relativ spät in das juristische Staatsdenken hinein40 • Das ist einmal auf ihre vornehmlich privatrechtliehe Interessenrichtung zumal bei den Schulgründern selbst zurückzuführen41. Die Hauptursache dafür war aber wohl, daß die Schule zunächst auch verfassungspolitisch eher reaktionär im Sinne der Fürstensouveränität (Hugo) bzw. der altständischen Gesellschaft (Sa37 Vgl. Stahl: Rechtsphilosophie, Bd. 2, 1. Abt., S. 2: "Ihr (scil. der konterrevolutionären Schriftsteller) gemeinsamer Fehler ist es, daß sie in der revolutionären Richtung selbst durchaus kein wahres Motiv anerkennen, sie müssen deshalb notwendig den vorausgegangenen Zustand als einen völlig genügenden annehmen, der aber in Wahrheit nicht der genügende sein kann, weil in diesem Falle keine Revolution erfolgt wäre. Sie überwinden daher wohl den Irrthum der Revolution; aber sie setzen einseitige Lehren an die Stelle." 38 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 7, S. 497. Zur historischen Schule vor allem Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, §§ 20, 21, S. 348 ff., 377 ff. Ders.: Wandlungen im Bilde der historischen Schule. Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 431 ff. Böckenförde: Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Collegium philosophicum, S. 9 ff. Rexius: Studien zur Staatslehre der historischen Schule, S. 496 ff. - Der Einfluß der historischen Schule auf die Staatstheorie scheint trotz der Arbeit Wilhelms: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, noch nicht umfassend geklärt. 39 Dazu aufschlußreich Savignys Laudatio auf Gustav Hugo anläßlich dessen 50. Doktorjubiläum: Der zehnte Mai 1788, in: Zeitschrift für Geschichtliche Rechtswissenschaft, 9 (1838), S. 421 ff., 430: "Dasjenige ..., was bei Seinem (scil. Hugos) ersten Auftreten als Neuerung erschien, und bey vielen Anstoß erregte, ist seitdem unvermerkt Gemeingut geworden ..." Ähnlich Bluntschli: Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen, S. 27. 40 Diese Phasenverschiebung konstatieren die ältere und neuere Literatur übereinstimmend; vgl. Wieacker, § 21, S. 412 und Bluntschli: Geschichte ..., Kap. 19, S. 622. 41 Der Anlaß für Savignys Programmschrift war bekanntlich die Abwehr reformabsolutistischer Privatrechtskodifikationen. Vgl. dazu Wieacker, § 20, S. 348 ff.; § 21, S. 390 ff. Die gesellschaftspolitisch antiliberale Motivation der Polemik Savignys betont Wieacker mehr in: Wandlungen ... , S. 15. Dazu auch Wilhelm, S. 37, 38.

li. Savigny und Hugo

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vigny) eingestellt war42 • Ihr historischer Positivismus ist staatsrechtlich ein solcher des alten Rechts. Diesen Zusammenhang reflektiert die behutsame Bemerkung Johann Caspar Bluntschlis, der später "philosophische" und "historische" Schule zu vereinigen unternimmt, in seiner Schrift über die "Neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen", daß "dem Credit der historischen Juristenschule ... die Ausbeutung ihrer Lehren zu den Zwecken einer unfruchtbaren Restauration und im Dienst~ der politischen Reaction sehr geschadet" habe 43 • Der juristische Historismus unterscheidet sich in seiner Auffassung des Rechts von den oben angeführten Autoren nun insofern nicht, als auch ihm Recht eine historisch überkommene, objektive, wenn nicht transzendental-göttliche Ordnung ist, in der menschliche (bürgerliche) Autonomie keine Stelle hat44 • Richtet sich das zunächst gegen den Liberalismus und seine Verfassungsbestrebungen, so liegt doch die wesentliche Differenz zu der im Kern restaurativen Lehre darin, daß der Fortschritt- freilich als objektive historische Kategorie, nicht als von menschlicher Freiheit gestaltet- im Recht doch mitgedacht ist (Entwicklungsgedanke, Organismusmetapher) 45 • Das führt im hier interessierenden Zusammenhang zu jener charakteristischen Doppelung: Zunächst zur Stellungnahme für die Souveränität der alten Gewalt gegen das Neue (Ausschluß der revolutionären Widerstandslehre), dann aber zu einer Neutralisierung des Konfliktes in Anerkennung des historisch Gewordenen (Konflikt als rechtsneutrales Faktum). Das ist nun näher darzulegen. Die Grundgedanken des juristischen Historismus, wie sie sich am klarsten bei Friedrich Carl von Savigny finden, lassen sich folgendermaßen wiedergeben46 : Alles Recht, Privatrecht wie Verfassungsrecht, wurzelt wie Sprache und Sitte in der gemeinsamen Überzeugung des Volkes. Als solches ist es eine objektive notwendige Gegebenheit, welche "allen Gedanken an zufällige und willkürliche Entstehung 42 Savigny stand in der Konfliktsperiode eindeutig aufseitender Reaktion; vgl. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,§ 21, S. 383 ff., 385. Wilhelm, S. 39, 40. Schönfeld, S. 431 ff., 445. 43 Vgl. Bluntschli: Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen, S. 59. 44 Näheres vgl. im folgenden Absatz. 45 Vgl. Stahl: Rechtsphilosophie, Bd. 2, 1. Abt., S. 12 ff. hinsichtlich des Entwicklungsgedankens in der historischen Schule; er hebt ihren "Zug der Frömmigkeit" gegenüber dem Bestehenden hervor (S. 12, 13), meint aber andererseits: "Sie ist ... bewahrt vor Maistres Einseitigkeit, die Leitung Gottes nur in den Handlungen der öffentlichen insbesondere der kirchlichen Autoritäten zu suchen, da sie im Gegenteil vorzüglich die innere Umwandlung, und was durch sie hervorgeht, als Sein Werk erkennt." (S. 13). Sodann betont Stahl die Zukunftsoffenheit des Entwicklungsgedankens (S. 14, 15). 46 Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 8 ff.-14. Zur Axiomatik der historischen Schule näher Wieacker: Privatrechtsgeschichte ..., § 20, S. 348 ff., 367 ff. Ders.: Wandlungen ..., S. 5, 6, 15. Wilhelm, S. 17 ff. B öckenförde, S. 11-15.

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

ausschließt". Dieselbe Notwendigkeit fern aller Willkür gilt für seine Fortentwicklung. So wird der Konstitutionsprozeß allen Rechts gerade nicht als rationalistische Willensvereinigung der freien und gleichen Individuen (Vertragstheorie) gedacht. Ein wichtiger Schritt ist nun aber, daß diese objektive Notwendigkeit des sich entwickelnden Volksbewußtseins letztlich doch in bestimmten Subjekten repräsentiert sein soll: "Allein jene geistigen Functionen bedürfen eines körperlichen Daseyns, um festgehalten zu werden. Ein solcher Körper ist für die Sprache ihre stete, ununterbrochene Uebung, für die Verfassung sind es die sichtbaren öffentlichen Gewalten", für das Privatrecht soll es auf höherer Kulturstufe, so Savigny, der Juristenstand sein. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vornehmlich die kurze Bemerkung zur Verfassung. Der Schritt von der objektiv-historischen Vorgegebenheit zu den existenten Subjekten, die über die öffentliche Gewalt verfügen, ist erstaunlich. Dies einmal deshalb, weil die Wendung gegen die Willkür des (reformabsolutistischen) Gesetzgebers, die die privatrechtlich orientierte Schrift sonst beherrscht, in puncto Verfassung und öffentlicher Gewalt offenbar schon im Ansatz fehlt. Das zeigt andererseits, daß die Wendung gegen Willkür nur eine historisch bestimmte Willkür, nämlich diejenige bürgerlich-naturrechtliehen Inhalts, meint. Der Gegenangriff gilt einer reformgeneigten Bürokratie, die zunächst die Feudalstruktur in ökonomischer Hinsicht bedroht. Verfassungspolitisch ist dagegen der Konflikt noch nicht virulent, das historische Recht der sichtbaren öffentlichen Gewalten noch scheinbar unangefochten. In der Sache ist also kein Bruch. Der historische Rechtsobjektivismus steht in Antithese zum Selbstsetzungsanspruch der freien und gleichen Vernunft des bürgerlichen Naturrechts47 • Recht ist prinzipiell heteronom, als den einzelnen mit quasi naturgesetzlicher Notwendigkeit determinierend gedacht, was verfassungspolitisch auf die bestehende Gewalt hinausläuft. Die revolutionäre Autonomie des dritten Standes hat darin keine Stelle48 • Wenn der Mensch dieserart als unter 47 Die Kritik an den Einseitigkeiten der aufklärerischen Vernunftrechtslehre hat bereits Heget in dem bereits angeführten Naturrechtsaufsatz, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 435 ff., 453 ff. als relativ berechtigt anerkannt. Vgl. etwa auch Btoch: Naturrecht und menschliche Würde, S. 103. 48 Das Zurückfallen hinter das kantische Autonomiedenken ist ein Kernpunkt aller Kritik an der historischen Rechtsschule bzw. dann auch an den positivistischen Rechtsauffassungen. Vgl. schon hinsichtlich des Objektivismus des historisch Gewordenen und der Autonomieverweisung die germanistische Kritik, Reyscher: Ueber das Daseyn und die Natur des deutschen Rechts, Einleitender Aufsatz in: Zeitschrift für das deutsche Recht, Bd. 1 (1839), S. 11 ff., 27 ff., 31, 34. Btuntschti: Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen, S. 65: die schöpferische Seite des menschlichen Geistes und der menschlichen Freiheit müsse von der "wahrhaft" historischen Schule anerkannt werden. - Der Gegensatz spiegelt sich in verfassungspolitischer Dimension (Octroi von oben oder bürgerliche Autonomie) im Streit zwischen den eher konservativen Romanisten (Gerber)

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einem vorbestimmten historischen Prozeß stehend gedacht wird, hat Philosophie Berechtigung nurmehr im Nachdenken und Nachvollziehen einer objektiven historischen Notwendigkeit. "Naturrecht als Philosophie des positiven Rechts", nennt Gustav Hugo, der Initiator der historischen Rechtsauffassung49 , programmatisch sein Lehrbuch. Das eigentlich Juristische, heißt es schon bei Hugo, sei zu erlernen und sich in das als notwendig zu fügen, "was nun einmal ist". Demgegenüber gehe zwar Philosophie "auf Freiheit, auf Selbstdenken, auf Unabhängigkeit von fremden Vorschriften"; Hugo verweist sie aber aus dem Recht50. Das Chiffre dieses strikt objektivistischen Rechtsdenkens, wie es dann letztlich in den sich als objektiv-notwendige Seinsgegebenheiten verstehenden Begriffssystemen der Juristen Puchta, Jhering, Gerber kulminiert51, ist der Begriff der Positivität des Rechts. Schon bei der Betrachtung der grundlegenden Lehre Savignys zeigte sich auch eine gewisse Ambivalenz. Wird zwar das positive Recht einerseits durch die bestehende Obrigkeit definiert, was Rechtssetzung, geschweige denn Gewalt von anderer Seite ausschließt, so ist doch andererseits im Entwicklungsgedanken die Möglichkeit der Veränderung angelegt. Wie diese Möglichkeit sich freilich zum zunächst statuierten Positivismus des Bestehenden verhält, wie also dieser ja höchst praktische Konflikt zu lösen ist, bleibt eine ganz ungeklärte Leerstelle, die allerdings durchaus offen ist für neue Inhalte. Diese im Ansatz des historischen Positivismus angelegte Zwiespältigkeitangesichthistorischer Konflikte läßt sich speziell für die Gehorsamsfrage vor allem an Hugo zeigen52 • Bei ihm entfaltet sich ganz radikal jener Begriff des positiven Rechts als Gegenbegriff zur naturrechtliehen Philosophie, die das Widerstandsrecht legitimiert. Diese Entgegenund überwiegend liberalen Germanisten (Beseler, Reyscher) wider; dazu Wieacker insbes. in: Wandlungen ..., S.18. - Zur Kritik an Hugos Ersetzung der Vernunft durch die historische Notwendigkeit Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einl., § 3 Anm., Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 44, 45. Vgl. auch die pointierte Kritik Blochs: Naturrecht und menschliche Würde, S. 102 ff., 103, 104. Anders Böckenförde, S. 18, der jedoch wohl verkennt, daß

durch die auch von ihm selbst analysierte objektivistische Wendung der historischen Schule gerade die wesentliche Seite des neuzeitlichen Autonomiedenkens verloren geht. 49 So schon Stintzing-Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 3,2, S. 1 ff., 28. Vgl. auch Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 21, S. 377 ff., 379. Zu Hugos empiristisch-positivistischer Grundhaltung Buschmanns speziell Hugo gewidmete Arbeit: Ursprung und Grundlagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft, S. 39 ff., 45, 46. 50 Vgl. Hugo: Lehrbuch des Naturrechts, 4. Auflage, Einl., § 1, S. 1. Noch nicht so entschieden in den Vorauflagen; vgl. 3. Auflage, Einl., § 1, S. 1. s1 Vgl. vor allem Wilhelm, S. 36, dessen Grundthese diesen Zusammenhang beinhaltet. Vgl. auch Böckenförde, S. 22, 23. 52 Vgl. Hugo: Lehrbuch des Naturrechts etc.; zitiert wird im folgenden nach der im wesentlichen mit den vorherigen Auflagen übereinstimmenden 4. Auflage.

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Kapitel 7: Der Positivismus des historischen Rechts

setzung von historisch gewordener Notwendigkeit 1Jnd Freiheit hat verfassungspolitisch eindeutig die Farbe einer Stellungnahme gegen Liberalismus und konstitutionelle Bewegung53 • Die bestehende Gewalt ist einzig durch ihre Faktizität legitimiert, nicht durch ein Element der Einwilligung von unten. Das zeigt sich allererst an I-lugos Verwerfung der naturrechtliehen Vertragslehre: Die Geschichte weise vielfach gewaltsame Regenten- und Verfassungsänderungen ohne Einwilligung der Untertanen auf54 • Jede bestehende Verfassung sei provisorisch rechtlich55 • Recht ist damit also schlechthin durch den organisierten Zwangsapparat definiert56• Der entscheidende Schritt für die Konfliktproblematik ist nun, daß aus diesen Grundannahmen eine unbedingte Gehorsamspflicht folgen soll. "Daß es eine heilige Gewissenspflicht sey, der Verfassung, zu welcher man gehört, der Obrigkeit, welche die Gewalt in Händen hat, und durch ihren Schutz einen rechtlichen Zustand wenigstens provisorisch bewirkt, zu gehorchen, und daß der Einzelne sich dieser Pflicht, weder um deswillen, weil er eine andere Verfassung für besser hielte, noch weil er glaubt, die Regierungsgewalt sey nur durch einen Zufall in diese Hände gekommen, entziehen dürfe. Dieß folgt aus den ersten Begriffen von Sittlichkeit und rechtlichem Zustand ...57 ." Die gleichfalls statuierte Bindung des Herrschaftsträgers an das Gemeinwohl bleibt hingegen ohne jede Sanktion. Im Zusammenhang mit der oben wiedergegebenen Stelle verweist Hugo auf vorhergehende Ausführungen, in denen er von der seit Hobbes bis Kant üblichen Voraussetzung der vielfältigen Kollisionen menschlicher Zwecke und der daraus resultierenden Gefahr unendlicher Streitigkeiten ausgeht58 • Es sei also vernünftig, "sobald auf irgendeine Art eine Entscheidung durch Dritte zustande kommt", sich dieser zu fügen. Hugo merkt ausdrücklich an, daß das "Wie" der Entscheidung gleichgültig sei: 53 Vgl. Hugos Option für das Bestehende in der Verfassu.ngsfrage, § 384, S. 519 ff., 520. Von Haller trennt Hugo nach eigenem Dafürhalten nur wenig, § 383, S. 518, 519. Begreiflicherweise ist er von liberaler Seite schärfster Kritik ausgesetzt; vgl. etwa Murhard: Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung ..., S. 168, 169: "... vereinigt das Hugo'sche System alle Scheußlichkeiten des Despotismus, die man sonst nur in verschiedenen despotischen Staaten und Theorien zerstreut findet." 54 Hugo, § 380, S. 514, 515. 55 Die Unterscheidung zwischen provisorisch und peremtorisch bezeichnet, anders als bei Kant, zwei materiell unterschiedliche Rechtszustände, wie peremtorisch = Idealzustand, provisorisch = noch ungeläuterter Zustand; vgl. von Hippel: Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan, jetzt in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 47 ff., 82, 83. Damit ist jeder Zustand provisorisch - gerechtfertigt, z. B. die Sklaverei; vgl. S. 86, 87. ss Hugos eigenes Resurne seines Naturrechts lautet in: Beyträge zur civilistischen Bücherkenntniß der letzten vierzig Jahre, Bd. 1, S. 374: "Niemand kann also juristische Rechte gegen irgend eine höchste Gewalt, als Solche, haben." 57 Hugo : Lehrbuch des Naturrechts, § 378, S. 512. 58 § 78, s. 97, 98.

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Es sei auch Pflicht, der durch Zufall, durch Gewalt entstandenen Obrigkeit zu gehorchen. All dem entsprechend ist für ihn das praktische Postulat für die Gehorsamsfrage überhaupt und damit erst recht für das Widerstandsproblem: "Alle Verfassung kommt von Gott59 ." Hier interessiert weniger die Kritik dieser Souveränitätsposition, die wie jede und wie insbesondere auch die Gegenlehre des revolutionären Widerstandsrechts (Volkssouveränität) nur geglaubt, nicht aber einsichtig gemacht werden kann. Denn natürlich ist nicht einzusehen, wie aus der puren, das Recht konstituierenden Faktizität bestehender Herrschaft ein nicht in diesem Sinne seinsmäßig begriffenes Sollen folgen soll60 • Eigentlich müßte ja doch einer neu sich geltend machenden Faktizität als Positivität, gleiches Recht zukommen. Wenn - um mit einem der späteren extremen Positivisten zu sprechen-, nur das Recht ist, "was als Recht funktioniert, sonst nichts" 61, so wäre es dies demnach auch nur solange, als es funktioniert, und verlöre sich gegenüber jeder autonomen Abweichung. Für die Konfliktproblematik heißt das: Es wird schon vom Positivismus Hugos kein Grund angegeben, weshalb dem bisherigen Herrschaftswillen ein Vorrecht gegenüber einem abweichend sich konstituierenden Willen in dem Sinne zukommen soll, daß jener diesen, nicht aber dieser jenen soll überwältigen dürfen. Diesen Konsequenzen aus dem eigenen Ansatz kann der historische Positivismus nur durch eine stillschweigende inhaltliche Einschränkung "der" historischen Positivität auf eine bestimmte unter Ausschluß einer anderen entgehen62 • Diese Kritik an Hugos Positionen ist für den vorliegenden Zusammenhang aber wie gesagt von geringerem Interesse. Wichtiger ist vielmehr, daß es ganz offenbar ein so zufälliges Ergebnis ist. Anstelle der monarchischen Souveränität könnte bei ihm nämlich jede andere eben "bestehende Gewalt" gesetzt werden. Daran zeigt sich wieder die andere Seite des historischen Objektivismus. Das Problem der Veränderung des Rechts und damit auch die Frage des Konfliktes ist eigentlich ungeklärt. Einerseits wird die Souveränität 59 Vgl. § 382, S. 517. Hugos Begriffe erinnern streckenweise sehr an Kant; vgl. auch Rexius, S. 508 ff. Sein historischer Relativismus der bestehenden Gewalt ist jedoch viel radikaler. 60 Dem liegt Hegels Kritik an Hugos Verfahren zugrunde, aus einem historisch früher gerechtfertigten Verhältnis auf eine Rechtfertigung für die Gegenwart zu schließen; vgl. Heget: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einl., § 3, Anm., Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 44, 45. 61 Vgl. Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Einl., S. 80. 62 Vgl. den Hinweis von Fechner: Ideologie und Rechtspositivismus, in: Ideologie und Recht, S. 97 ff., 99, daß der Positivismus nicht spezifisch bürgerlich sei, sondern verschiedene historische Inhalte habe. Die Kritik am älteren Positivismus der historischen Schule verdichtet sich bei neueren Positivisten zu dem Vorwurf ihrer eigentlichen Ungeschichtlichkeit im Sinne eines Verlustes an Bezug zur "sozialen Wirklichkeit"; vgl. etwa Böckenförde, S. 15, 16. Wilhelm, S. 32 ff.

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KapitelS: Das historisclle Recht des Konstitutionalismus

eines bestimmten historischen Rechts (Fürstensouveränität) behauptet und jedes Recht dagegen (Widerstand) ausgeschlossen, andererseits wird diese Aussage aber für "jede bestehende Gewalt" verallgemeinert. Ist damit also doch die Möglichkeit einer Veränderung der politischen Verhältnisse gedacht, so bleibt gänzlich offen, wie es kommt, daß eine bisher illegitime Gewalt eine bisher legitime verdrängt und selbst legitim wird: Der Konflikt zwischen alter Gewalt und Widerstand (Revolution) ist damit rechtsneutrales Faktum. Diese doppelte Antwort zur Widerstands- und Souveränitätsfrage, wie sie anfangs bei Kelsen und JelZinek konstatiert wurde, findet sich also schon, wenn auch mit anderem Inhalt, in der Axiomatik des historischen Positivismus von Hugo und Savigny. Der Positivismus des früheren historischen Rechts kommt bei Hugo und Savigny im Ergebnis solange mit konterrevolutionären Autoren überein, als der Liberalismus nur erst Ansprüche erhebt. Mit dessen verfassungspolitischen Erfolgen muß die Differenz sich zeigen. Denn der Rechtsbegriff der historischen Schule ist nicht konterrevolutionär in dem konsequenten Sinne, daß bereits vollzogene institutionelle Wandlungen rückwärts verändert werden sollen, wie dies die Restauration anstrebt. Die Kategorie historischer Veränderung erlaubt vielmehr durchaus die Anerkennung der neuen konstitutionellen Verfassung als einer bestehenden Gewalt. Der Name des positiven, historischen Rechts erhält so in den 30er Jahren von Autoren wie Friedrich Julius Stahl, Friedrich Christoph Dahlmann und anderen den neuen Inhalt der konstitutionellen Verfassung. In der Friedensformel des konstitutionellpositiven Rechts, die den alten Namen mit einem neuen Kompromißinhalt geschickt verbindet, wird der Zeitkonflikt und werden die Fragen von Souveränität und Widerstand dieses bestimmten historischen Kampfes rechtlich neutralisiert.

KapitelS Die Vbertragung des historisehen Reclttsobjektivismus auf den konstitutionellen Staat

I. Oberblick Edmund Burke hat vom Boden eines etablierten englischen Konstitutionalismus aus mit Blick auf die französische Revolution und ihre Rechtsbehauptung für die Beseitigung mißbräuchlichen Regiments bemerkt, solche Ereignisse seien Fälle des Krieges und nicht Verfassungsfragen. Gesetze und Gerichte spielten keine Rolle mehr, vielmehr han-

I. Überblick

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dele es sich um eine außerordentliche Staatsfrage gänzlich außerhalb des Rechts mit ganz eigentümlicher Gesetzlichkeit1 • Dem distanzierten Betrachter eines historischen Konfliktes stellt sich dieser also als ein Ereignis dar, über das ganz verschiedene Anschauungen existieren, und in dem Recht und Unrecht zuteilen zu wollen sinnlos erscheint. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis der Verweisung des revolutionären Konfliktes, der Widerstandslage aus dem Recht in einen letztlich undefinierten, bloß faktischen Bereich gelangen nun auch deutsche Publizisten der 30er Jahre, die die Begriffsgrundlagen der historischen Schule in das Staatsrecht übernehmen. Freilich ist für sie das positive, das historische Recht unversehens nicht mehr dasselbe wie bei Hugo und Savigny. Die Veränderung spiegelt sich in der wachsenden Einsicht wider, daß das Neue nicht aufgehalten werden könne. Restauration haben selbst die eher Konservativen der im folgenden zu betrachtenden Autoren nicht mehr im Sinn. Dieser Bereitschaft zum Frieden entspricht eine vorsichtige Kritik an den reaktionären Inhalten der älteren historischen Schule: Die geschichtliche Richtung habe "bis jetzt nur eine treue Auffassung des V ergangenen oder äußerlich noch Bestehenden erreicht ..., ohne daß das Band mit den gegenwärtigen Verhältnissen und ihren Bedürfnissen erkannt wäre" 2 • Die geschichtliche Gewordenheit wird unaufhaltsam von derjenigen des ancien regime zu der des konstitutionellen Systems, das nun freilich wiederum aufgefaßt wird als objektive, bei Friedrich Julius Stahl: göttliche historische Positivität. Unter Absehen von ihrer revolutionären Genesis, unter Negierung der Vertragstheorie wird doch die konstitutionelle Einbindung des Monarchen in Verfassung und Gesetz, der konkrete Vertrag des Fürsten mit dem Bürgervolk als historische Positivität anerkannt. Die historische Begrifflichkeit rezipiert den naturrechtliehen Inhalt von dem im Vertrag gebundenen Volk und seinem Fürsten. Der neue Positivismus der historisch gewordenen konstitutionellen Verfassung - die weitgehende Übereinkunft im hannoverschen Konflikt deutet das an - wird nun einerseits zur Friedensformel der bisher kämpfenden Positivitäten. Nur das konkrete konstitutionelle Vertragen, nur der übereinstimmende Wille der monarchischen Exekutive und der 1 Burke: Reflections on the Revolution in France, S. 37 ff., 42, 43: "The ceremony of cashiering kings ... a case of war, and not of constitution . . ., ... an extraordinary question of state, and wholly out of the law; a question of dispositions, and of means, and of probable consequences, rather than of positive rights .. . Times and occasions, and provocations, will teach their own lessons." ~ Staht: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, 1. Auf!., Bd. 1, Vorrede, S. IX. Vgl. auch Btuntschtis Kritik oben Kap. 7, Anm. 43. Dazu mit weiteren Nachweisen Withelm: Juristische Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S . 32 ff.

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KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

parlamentarischen Repräsentanz der Untertanen ist Recht. Nur dem so verfaßten Staat kommt die Souveränität zu ("Staatssouveränität"), also nicht etwa einer der an der Verfassung beteiligten Parteien über die andere. Vielmehr fällt das Zerbrechen der Positivität, der Konflikt insgesamt, ganz außerhalb des Rechts: "Das Staatsrecht hört auf." Es gibt also kein Widerstandsrecht (Volkssouveränität) und keine Fürstensouveränität, da dies das Recht wieder in einer Seite verankern hieße, was dem Ausgangspunkt konstitutionellen Vertragens widerspräche. Es bleibt also dann nur das Faktum des Kampfes. Diese Auskunft ist bei den konstitutionellen Positivisten im Vormärz freilich nicht eindeutig. Das Stadium des Zeitkonfliktes entspricht ja auch noch nicht der FriedensformeL So zeigen sich bei denselben Autoren widersprüchliche Ausbruchsversuche aus dem eigenen Ansatz, Versuche, doch Recht und Unrecht im Konflikt zuzuteilen: Zumindest ein Recht zum Ungehorsam (passiven Widerstand) oder gar eine, wenn nicht rechtliche, so doch "sittliche" Befugnis zum gewaltsamen Widerstand. In diesen Widersprüchen spiegeln sich vergangene und noch drohende Kämpfe vor dem Frieden wider. Auf dem Hintergrund noch diskrepanter deutscher Verfassungsverhältnisse war dafür das Heidelberger Gutachten mit seinen widersprüchlichen Ergebnissen Beleg. Ist in diesen Wandlungen der Staatstheorie der Friedensschluß zwischen den bisherigen historischen Kontrahenten der Tendenz nach in Sicht, so ist die andere Seite des konstitutionellen Positivismus sein neuer Souveränitätsanspruch. Schon bei Carl von Rotteck erhob das neue System, noch in den Kategorien des Vernunftrechts, absoluten Richtigkeitsanspruch. Eine Abweichung davon war ohnehin nur als vereinzelte, jedenfalls aber niemals rechtens denkbar. Das setzt sich nicht nur fort, es verstärkt sich durch eine Verbindung der zwei bisher streitenden Momente. Der Objektivismus des vorkantischen Naturrechts, rezipiert in den Objektivismus der historisch gewordenen Gestalt, schließt sich gegen jede abweichende historische Individualität ab. Die prinzipielle Offenheit der Vertragslehre für andere historische Momente, ohnehin durch den Bezug auf die Repräsentativverfassung der französischen Revolution schon verkürzt, geht mit dem Rechtsobjektivismus der historischen Begriffe vollends verloren. Für kommende Konflikte heißt das: Der konstitutionelle Staat wird mit dem Pathos von Vernunftrecht und historischem Recht seinen Gewaltanspruch gegen Abweichung behaupten. Die Friedensformel der Staatssouveränität hat so die Neigung, neue Kampfideologie gegen andere Kampfideologien (Widerstandslehren) zu werden. All diese Elemente zeigen sich zumindest ansatzweise schon im Denken der folgenden konstitutionellen Staatsrechtsautoren zum Problem des politischen Konfliktes.

II. Stahl

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II. Friedrich Julius Stahl Die Rechtsphilosophie Friedrich Julius Stahls muß für den angedeuteten Zusammenhang wohl an erster Stelle stehen. Stahl, der konservative Ideologe des nach 1848 dann für Preußen gültigen Verfassungskompromisses eines konstitutionellen Systems mit deutlichem monarcho-aristokratischem Übergewicht3, steht in manchem der historischen Schule nahe. Auch ihm sind Recht und Staat über den Subjekten stehende objektive Vorgegebenheiten, wobei die Stelle der historischen Gewordenheit freilich bei Stahl von der göttlichen Vorsehung eingenommen wird4 • Als diese göttliche Gegebenheit stellt sich für ihn aber doch schon die beschränkte Monarchie dar. So meint er gegenüber der absolutistischen Theorie: "Ein Recht der Herrschaft an sich, sohin eine absolute Gewalt kann nur ein Wesen höherer Art über die Geringeren haben. Unter gleichartigen Wesen aber kann eines über das andere aus persönlichem Rechte nicht herrschen, das ist gegen die Ordnung der Natur ... " Der König "darf nicht herrschen gegen das Gesetz, er darf nicht herrschen ohne Vermittlung von Beamten, nicht ohne Vertretung des Volkes. Hierin liegt also die Notwendigkeit der beschränkten Monarchie, daß der König nur ein Theil und Glied, wenngleich das oberste, der Anstalt ist, die Gottes Herrschaft vertritt ... Das Gesetz soll also dem König nicht bloß eine innere Anforderung seines Gewissens seyn, wie die Absolutisten wollen, sondern eine äußere beschränkende Macht" 5 • Der Verfassung kommt, wie der königlichen Gewalt, Würde und Wert aus der Geschichte als einer Fügung Gottes zu6 • Stahls Absage an die Restaurationslehren ist eindeutig, wenn er die Ansicht als irrig verwirft, "daß die königliche Gewalt von Gott als eine unumschränkte eingesetzt sey, so daß alle Schranke bloß als Usurpation erscheint, die man, wie man Macht hat, wieder hinaustreibt, oder daß zur Erhaltung von Gottes Ordnung alles erlaubt sey" 7 • Freilich tritt die konservative Färbung der Staatstheorie Stahls in den Ausführungen zu den Kompetenzen und zur Zusammensetzung der Repräsentativkörperschaft deutlich zutage8 • Gleichwohl ist die Übernahme der 3 Vgl. dazu Grosser: Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, S. 74 ff., 82 ff., wo die Grundpositionen von Stahls verfassungspolitischer Konzeption dargestellt sind. 4 Seinen Rechtsbegriff lehnt Stahl weithin an denjenigen der historischen Schule an; vgl. Stahl, Bd. 2,1, 2. Buch, Kap. 5, S. 136 ff.: Hervorbringung des Rechts aus dem Bewußtsein des Volkes (S. 136) als Wirklichkeit (S. 137, 144), ,,ohne daß die Menschen es wollen und suchen, von selbst ..." (S. 138). Hinzu kommt freilich noch die religiöse Verankerung des Rechts; vgl. Kap. 1, s. 109 ff., 110, 113. 5 Vgl. Stahl, Bd. 2,2, Kap. 4 ("Die Schranken des Königs"), S. 88, 89. 6 Vgl. Stahl, Kap. 5, S. 104. 1 Stahl, Kap. 15, S. 274. s Vgl. Stahl, Kap. 9, S. 145 ff., wo die Rolle der Repräsentativkörperschaft sehr restriktiv interpretiert wird. Grundsatz ist, daß der Regierung die

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Kapitel E: Das historische Recht des Konstitutionalismus

konstitutionellen Axiome, insbesondere die Auffassung von der Verfassung als einer konkreten, beiderseits verbindlichen Norm, nicht zu bezweifeln. Wenn später Maurenbrecher meint, bei Stahl nehme das Postulat göttlicher Stiftung ohne wesentlichen Unterschied in den Auswirkungen die Stelle des Herrschaftsvertrages nach der Vertragslehre ein9 , so trifft dies wohl genau zu. Steht nun schon in der Verfassungsfrage Stahls Argumentation ganz im Banne der Fronten des Zeitkonfiiktes, so wird das noch deutlicher gerade in der hier vornehmlich interessierenden Frage von Gehorsam und Widerstand. Hier bricht das Dilemma eines konstitutionell-positivistischen Rechtsbegriffs einerseits, einer noch nicht befriedeten VerfassungsJage andererseits auf. Stahls Stellung zwischen den Linien zeigt sich daran, daß er zwar mit dem Konstitutionalismus gegen die absolutistische Restauration die Einbindung des Monarchen in den Verfassungsstaat postuliert, in der Frage der Sanktion aber einen Mittelkurs zu steuern sucht. Denn er verweigert der herrschenden konstitutionellen Theorie die Gefolgschaft darin, "daß man den König zu deren (scil. der Verfassung) Einhaltung mit äußerer Gewalt zwingen dürfe, und das Volk das Gericht über die Einhaltung habe" 10 , will aber dann doch autonome Sanktionen zulassen. Stahls zwiespältige Position läßt sich an den folgenden Stellen verdeutlichen: "Überschreitet der König", heißt es im Anschluß an seine Grundthesen zur rechtlichen Bindung der monarchischen Gewalt, "die gesetzliche Schranke, geht er auf Umsturz der Verfassung aus, so darf seine Herrschaft ihm deshalb nicht genommen werden, es gibt kein Gericht über ihn; aber sein Gebot soll keine Vollziehung finden. Denn der Unterthan darf zwar nicht richten über seinen Regenten, allein er darf und muß richten über sein eigenes Gewissen, und da muß irgendwo eine Gränze des Gehorsams und der Willfährigkeit sich finden" 11 • Ähnlich lautet seine Auskunft dort, wo das Thema des Verfassungsumsturzes eigentlich gestellt wird: "Der aktive Widerstand, namentlich die Empörung" - bei Stahl identisch mit Revolution - 12 "ist unerlaubt, dagegen der passive Widerpositive Leitung, den Ständen aber nur beschränkende Funktion zukommen soll (S.154). Er bejaht die Mitwirkung an Gesetzen (S. 162), negiert freilich die parlamentarische Initiative (S. 163) und ein Steuerverweigerungsrecht (S. 156 ff.). Am ausgeprägtesten zeigt sich Stahls Konservatismus bei der Zusammensetzung der Ständeversammlung; vgl. Kap. 11, S.182, 183, 196 ff. Zu Stahls konstitutioneller Lehre näher Brandt: Landständische Repräsentation, S. 106 ff. und Meisner: Die Lehre vom monarchischen Prinzip, S. 298 ff., die beide, entgegen der Vorstellung vom Reaktionär Stahl, den Kompromißcharakter seiner Theorie betonen. 9 Vgl. Maurenbrecher: Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, S. 30 Anm. 1. 1o Vgl. Stahl, Kap. 5, S. 103. 11 Stahl, Kap. 4, S. 90. 12 Kap. 15 ("Ueber Revolutionen und Staatsstreiche"), S. 256.

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stand, das Bekenntniß und die Verweigerung des Gehorsams, ist erlaubt und nach Umständen Pfl.icht" 13 • Auch hier folgt zur Begründung das Richter-Argument: "Es ist keine Empörung möglich, ohne daß die, welche gehorchen sollen, sich zum Richter und zur höheren Gewalt aufwerfen gegen die, welche über sie zu herrschen berufen sind14 ." Die Gewalt im Staate sei eine selbständige, ursprüngliche15 • Diese Lehre, sagt Stahl selbst, habe zur Voraussetzung die "Erkenntniß, daß die Obrigkeit eine von den Unterthanen unabhängige in göttlicher Ordnung liegende Autorität hat", im Gegensatz zur Theorie von der übertragenen Gewalt16• Stahls Unterscheidung zwischen dem Verbot der Empörung und der Zulassung passiven Widerstandes ist nun zwar als Kompromißversuch, als Postulat eines von der Gewaltsamkeit entschärften Zeitkonfliktes begreiflich. Von seinem Rechtsbegriff her, darauf weist die religiöse Abstützung hin, ist sie nicht einsehbar zu begründen. Die Logik eines in der Transzendenz verankerten konstitutionell-positivistischen Rechtsbegriffs einerseits und Stahls Anliegen andererseits, in dem noch brennenden Konflikt zwischen den Parteien der neuen Verfassung Antworten zu geben, verwickeln ihn in einen handgreiflichen Widerspruch. Wenn nach Stahls Grundannahme nur das übergeordnete Band zwischen Volk und Fürst Recht ist und also kein in der Autonomie einer Seite liegendes Urteil über die andere besteht, so muß nicht nur Revolution unerlaubt sein. Schon vom Urteil des Verfassungsbruches, geschweige denn von irgendeiner Ungehorsamssanktion kann rPr.htPn.c; nie die Rede sein. Denn schon der Satz, der Monarch habe Verfassung oder Gesetz gebrochen, impliziert doch die Behauptung eines rechtsgültigen, autonomen Urteils der Untertanen über ihn. Diesen Widerspruch verdeckt Stahl mit problematischen Formulierungen wie der bereits zitierten, der Untertan dürfe zwar nicht über seinen Regenten, aber über sein eigenes Gewissen richten17, oder: Notwehr (aktiver revolutionärer Widerstand) stehe nur zu gegen eine unrechtmäßige Gewalt, nicht aber gegen einen unrechtmäßigen Gebrauch rechtmäßiger Gewalt18 • Diese Sätze können die Unterscheidung nicht verständlicher machen. Denn das Richter-Argument ist, wie sich bei Kant zeigte, unteilbar: Es schließt jedes nur eigenmächtige Urteil, mithin jede Sanktion als Recht aus. 13 Vgl. S. 252. Dieselben Positionen hat Stahl auch in späteren Auflagen beibehalten; vgl. Philosophie des Rechts, 3. Aufl., Bd. 2,2, Kap. 19, S. 541 ff. 14 Stahl: Philosophie des Rechts, 1. Aufl., Bd. 2,2, Kap. 15, S. 253. Ebenso S. 254: .,außer ihr (scil. der Gewalt im Staate) ist niemand befugt, über das Gesetz in höchster und letzter Weise zu entscheiden ..." Vgl. auch S. 256, 257. 15 s. 254. 18 s. 268. 11 Vgl. Stahl, Kap. 4, S. 90. 1s Kap. 15, S. 256.

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KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

Doch diese Inkonsequenz in der Zulassung einseitigen Urteils ist nur die eine Seite der Argumentation Stahls. Andererseits bringt sich nämlich zumindest für den gewaltsamen revolutionären Konflikt die Logik des konstitutionell-positivistischen Rechtsbegriff ganz unvermittelt doch zur Geltung. Von seiner Basis aus ist der fundamentale, die institutionelle Verständigung sprengende Konflikt zwischen den Verfassungspartnern per definitionem nicht zu entscheiden. Tyrannis und Revolution sind, so Stahl, gleichermaßen Unrecht und bloß historisches Faktum19. Hatte es zuvor noch den Anschein, als wolle Stahl im revolutionären Konflikt dem Monarchen, obzwar auch im Unrecht, doch ein Übergewicht, gewissermaßen noch einen Rest von Recht im Unrecht zugestehen20, so verschiebt sich nun das Bild: "Die Revolution ist zwar rechtlich und nach christlichem Sittengebothe absolut unstatthaft; allein sie ist thatsächlich die nothwendige Folge der Tyranney, und ist als solche thatsächliche Folge in der göttlichen Ökonomie und Weltlenkung allerdings begründet. Gott gibt seine Ordnung der Tyranney eines Königs nicht preis; sondern er erhält sie in der einen oder in der anderen Weise, je nach dem die Menschen sich dazu verstehen21." Das Faktum des revolutionären Konfliktes, vom konstitutionell-positivistischen Rechtsbegriff nicht gedeckt, wird so zu einem göttlichen Weltengesetz mit durchaus positivem Akzent22 - so positiv, daß man fragen könnte, weshalb den nach göttlichem Weltenplan revolutionär handelnden Menschen gleichwohl nach eben dieser göttlichen Verhaltensordnung dieses Handeln verboten ist. Doch das ist nicht entscheidend. Hervorzuheben ist vielmehr der schon im Ansatz des von Stahl ja übernommenen konstitutionellen Rechtsbegriffs liegende, hier nun unvermittelt vollzogene Schritt zum Ausklammern des revolutionären Konfliktes aus der Rechtsbetrachtung überhaupt. Nichts anderes bedeutet nämlich die Auskunft, beides: Tyrannei und Revolution seien gemessen an einer transzendenten Ordnung Unrecht und nur faktisch. Ein Teil der Wirklichkeit wird so schlechthin zum Unrecht deklariert. Darin kehrt unversehens jener Dualismus zwischen Rechtszustand und Naturzustand (Unrechtszustand) der Naturrechtslehre bis auf Kant wieder, mit dem Unterschied freilich, daß jener Rechtszustand zum konstitutionellen Regime konkretisiert ist und nicht als durch Vertrag der Subjekte gemacht, sondern als durch göttliche Fügung gestiftet gilt. Auch das prinzipielle Wertgefälle zwischen beiden Zuständen in der Naturrechtsdoktrin (exeundum est e statu naturali)

s. 258 ff., 260, 261. Vgl. Stahl, S. 258, 259: "Bedenkt man nun vollends, daß tyrannische Könige oft nur Gottes Züchtigung für den Frevel der Völker sind, so erscheint die Empörung als das unrechtmäßige Mittel ein gerechtes Gericht zu vereiteln." 21 s. 261. 22 s. 263. 19 20

lii. Dahlmann und Albrecht

125

kehrt bei Stahl wieder, sieht man von der Gleichheit der göttlichen Fügung ab. Fragt man schließlich nach der eigentlichen ratio dieser Unterscheidung, so zeigt sich auch bei Stahl jenes Kontinuum im neuzeitlichen Staatsdenken: Das Unbehagen vor dem regellosen, ungesicherten Zustand der Nichtverfaßtheit, das sich auch bei Stahl am Beispiel der großen Revolution konkretisiert23 • Wie in Wahrheit auch in der idealistischen Philosophie steht also im Hintergrund von Stahls vorgeblich transzendentaler Gesetzlichkeit ein empirisches Motiv, nämlich die menschliche Glückseligkeit. Der entscheidende Schritt für die überkommene revolutionäre Widerstandslehre ist dieser: Die Sicherung des Rechtszustandes wird zwar auch objektivistisch-transzendental verstanden, doch ist sie nicht mehr dem Fürstenabsolutismus überantwortet. Vielmehr wird der Inhalt der Revolution in die objektive Gegebenheit des positiven Rechts (bei Stahl: göttlicher Fügung) mit hineingenommen. Vor diesem den partiellen Frieden seiner Zeit reflektierenden Rechtsbegriff Stahls muß der noch latente Konflikt zwischen Fürst und Volk als total außerrechtlich, als bloßes Faktum erscheinen. Durchbrechungen dieser Konfliktverweisung aus dem Recht (das Urteil des Verfassungsbruchs, das zugestandene Recht zum Ungehorsam) sind Inkonsequenzen, die sich einem Konfliktstadium verdanken, das der Friedensformel offenbar noch nicht entspricht.

111. Friedrich Christoph Dahlmann, Wilhelm Eduard Albrecht Stahls Kennzeichnung als Ideologe des Verfassungskompromisses wäre fragwürdig, ließen sich ihm nicht Autoren an die Seite stellen, die, wenn auch von mehr liberaler Herkunft, in den wesentlichen Grundpositionen einschließlich der Gehorsamsfrage mit ihm übereinkommen. Es sind dies der Polit-Historiker Friedrich Christoph Dahlmann24 und der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht25 , beide zu den Göttinger Sieben gehörig, dieser mehr in Fachkreisen durch seine Maurenbrecher-Rezension26 berühmt, jener durch seine Rolle im hannoverschen Verfassungsstreit wohl einer der politisch wirksamsten Persönlichkeiten des an Führungsfiguren armen Liberalismus 27 • 23

s. 268,

269.

für diesen Zusammenhang wichtige Stellungnahmen finden sich in seiner 1835 zuerst publizierten "Politik", hier zit. nach der unwesentlich veränderten 3. Aufl. 1847, und in seiner aus Anlaß des Hannoverschen Verfassungstreites erschienenen Kampfschrift: Zur Verständigung. 25 Ausführungen zum Widerstandsproblem in seiner Schrift: Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren. 26 Vgl. Albrecht: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts. 27 Nicht nur daraus, sondern auch wegen seiner Präsenz in der juristischstaatswissenschaftliehen Diskussion sowie wegen seines Einflusses auf spätere Politikbücher von Waitz bis Treitschk e rechtfertigt sich die Betrachtung 24

Dahlmanns

126

Kapitel 8: Das historische Recht des Konstitutionalismus

In der Widerstandsfrage nehmen beide, freilich mit entschieden konstitutionellem Bekenntnis, den Standpunkt ein, den auch Stahl teilt. Obzwar die "Chimäre des ursprünglichen Staatsvertrages" 28 verwerfend und - darin ein Abkömmling der historischen Schule - den mechanistischen Übertreibungen der Aufklärung zutiefst abhold, verficht Dahlmann doch eindeutig den konkreten Verfassungsvertrag der konstitutionellen Monarchie. Eben darin besteht seine wesentliche Differenz zu den Restaurationsautoren und auch zu den Vätern der historischen Rechtsschule29 , daß für ihn schon das neue Repräsentativsystem sich als die positiv bestehende, den historisch gewordenen realen Grundlagen seines Zeitalters entsprechende und dadurch legitimierte Verfassungsform darstellt30 • Die konkretisierten Kategorien der naturrechtliehen Vertragslehre - also das Gegenübertreten der monarchischen Regierung und des politischen Subjektes Volk und ihre Einbindung in das Verfassungsverhältnis- erscheinen bei Dahlmann als unbefragte Selbstverständlichkeiten historischen Rechts31 • Der Geschichtsobjektivismus der historischen Schule findet sich hier mit klar konstitutionellem Inhalt wieder. Dahlmanns auf dem Hintergrund der krisenhaften Verfassungsentwicklung der norddeutschen Mittelstaaten nach der JuliRevolution geschriebene "Politik" 32 hat allerdings auch noch die latente Gefahr eines Staatsstreiches der Reaktion im Blick33 • Was gilt, wenn die Regierung beharrlich über ihre verfassungsmäßigen Grenzen hinausschreitet34? So eindeutig damit die historische Konfliktebene absolut gesetzt ist, so entschieden ist doch die erste Grundposition schon darin enthalten: Die Regierung ist nicht immer und an sich schon im Recht. Dahlmanns. Er ist wohl der typische Vertreter des gemäßigten norddeutschen Liberalismus; vgl. Angermann, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3 (1967),

s. 478 ff.

:s Vgl. Dahlmann: Politik, Kap. 9, S. 233 und Einleitung, S. 3: "Dem Staate geht kein Naturzustand voran ... Der Staat ist ... kein Vertragswerk .. ., er ist eine ursprüngliche Ordnung ... " 29 Vgl. S. 233, wo er Haller und andere Restaurationsautoren deshalb kritisiert, weil sie "das Terrain, welches sie den flachen politischen Freigeistern glücklich abstritten, alsbald dadurch wieder eingebüßt" hätten, "daß sie die Geschichte da abschlossen, wo sie ihnen unbequem ward, und ihren Staat auf der Wiederherstellung von Verhältnissen bauten, welche bei dem besten Willen schon darum unwiederherstellbar sind, weil auf bessere Erkenntniß nicht willkürlich verzichtet werden kann". so Vgl. Kap. 4, S. 80 ff., 83, 84 und insbes. Kap. 6, S. 116 ff., 120 ff. : gegen Gentz und die "Reaktionspartei" die historische Entwicklung zum Konstitutionalismus ins Feld führend, gelangt D. zu dem für seine Begründungsweise typischen Satz: "wo jetzt landständische Verfassungen wieder erwachen, oder gar ganz neue sich bilden sollen, da darf die neue Bildung nicht auf gewichenen, für immer verschwundenen Grundlagen ruhen." (S.121, 122). 31 Vgl. Kap. 8 ("Vom Rechte des Widerstandes"), S. 195 ff., 196. 32 Vgl. das bezeichnende Vorwort zur 3. Auflage 1847, S. V. 33 Dahlmann fürchtet offenbar gerade den Deutschen Bund als Hebel einer Restauration; vgl. Kap. 7, S. 194. 34 Kap. 8, S. 195, 196, 201.

111. Dahlmann und Albrecht

127

Die unbedingte Gehorsamspflicht bei Bodin, Hobbes und ihren Nachfolgern ist mit dem Verfassungsverhältnis unvereinbar; ein Unterschied zwischen rechtmäßiger Regierung und bloßer Gewalt wäre sonst nicht mehr aufzuweisen: "Wenn das Volk verpflichtet ist, jedem Regierungsbefehle, auch demjenigen, welcher unzweideutigen Verfassungsbestimmungen, mithin anderen Regierungsbefehlen, geradezu widerspricht, oder gar die Verfassung aufhebt, ohne Widerrede Folge zu leisten, alles Unrecht nicht bloß schweigend zu dulden, sondern selbst es vollenden zu helfen, so ist jede Verfassung Lüge35 ." Was aus dieser klar konstitutionellen Grundannahme weiter folgt, wird Dahlmann zum eigentlichen Problem. In zunächst eindeutiger Weise trifft er jene Unterscheidung, die auch Stahl teilt. Gewaltsamer Widerstand, synonym mit Revolution36, verbietet sich, "er liegt dem Grundgesetz so fern, als der wahrhaften Ehe der Streit der Kirchen über die Zulässigkit der Scheidung"37 • Das Argument lautet: Gewaltsamer Widerstand passe nicht in die moderne Staatsordnung. Er sei ein Rechtsinstitut, das der altständischen Mitregierung eigentümlich gewesen und mit ihrem Untergang gleichfalls derogiert sei36 • Erlaubt sind dagegen zwei Formen des Widerstandes, zum einen "gewisse Weigerungen, ein Verneinen des Gehorsams in gewissen Fällen, ein Nichttun ohne alle aggressive Zutat", etwa Steuerverweigerung, zum anderen und vor allem Bitte, Vorstellung und Rechtsverwahrung, also "Protestation" 39 • Dahlmann wiederholt diese Differenzierung während des hannoverschen Verfassungskonfliktes40 , und im gleichen Kontext übernimmt sie Albrecht41 • Offenbar ist es eben diese Überzeugung, die das Kampfverhalten der Göttinger Sieben, demonstrative Weigerung und "Federkrieg", prägt. Der Konflikt im gewaltsamen Stadium - Albrecht wie Dahlmann als konkrete historische Möglichkeit voll bewußt - verfällt dagegen derselben Auskunft wie Stahl sie gibt. Er ist bloß historisches Faktum, rechtlichen Entscheidungen jedoch nicht zugänglich. Der revolutionäre Konflikt sei, so meint Dahlmann unter Berufung auf 35 36 37

38 39

8.196. 8. 200ff. 8.198. 8. 198 und ähnlich Albrecht: Rezension ..., S . 15. Dahlmann, S. 199.

Vgl. Dahlmann: Zur Verständigung, S. 30, 31. Vgl. Albrecht: Die Protestation und Entlassung ..., 8. 19, 20: es gebe zwei Rechte, "einmal das, seine Überzeugung von der Gültigkeit des Grundgesetzes nicht blos überhaupt, sondern gerade in der (juristischen) Form einer gegen die Aufhebung desselben gerichteten Protestation zu erklären, und zweitens das Recht, sich solcher Handlungen in denen ein Anerkenntniß der entgegengesetzten Überzeugung läge, zu enthalten ...". Letzteres, "das Recht eines s. g. negativen (passiven) Widerstandes", unterscheidet A. strikt "von einem revolutionären, d. h. einem aktiven Widerstande, der, um wirklichem oder vermeintlichem Unrechte zu begegnen, selbst zum Unrechte, zur Gewalt greift .. .". 40 41

128

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

Burke, eine außerordentliche Staatsfrage und keine Rechtsfrage42 • Im wesentlichen dasselbe bedeutet es, wenn Albrecht ausführt, keiner der Parteien, weder König noch Volk, komme ein Entscheidungsrecht im Konflikt zu 43 • Bei beiden Autoren zeigt sich also dieselbe Argumentationsstruktur wie bei Stahl. Einerseits beugen sie sich in der Gewaltfrage der Logik des konstitutionell-positivistischen Rechtsbegriffs, wonach nur das konkrete Übereinkommen in den konstitutionellen Formen Recht ist, sonst nichts. Andererseits durchbrechen sie diese Logik im Angesicht des virulenten Zeitkonfliktes und wollen, zumindest was gewaltlose Kampfformen angeht, einer Seite, nämlich der liberalen Öffentlichkeit, ein Vorrecht zugestehen. Bei Dahlmann wird diese widersprüchliche Durchbrechung der konstitutionellen Axiomatik sogar noch augenfälliger, wenn er die Gewaltfrage in merkwürdiger Wendung noch einmal aufnimmt und nun doch ein Gewaltrecht bejaht. Gegen Tyrannis, Despotie sei der revolutionäre Widerstand immer schon berechtigt gewesen, habe "Notwehr von jeher als sittliche Rechtfertigung gegolten" 44 • Auch dieses sittliche Widerstandsrecht stellt sich- wie Stahls göttliche Weltenökonomie, in der die Revolution mit positiven Vorzeichen doch einen Platz hat näher besehen als ein nicht einsichtig begründeter Ausbruchsversuch aus der positivistischen Axiomatik dar. Dahlmann gibt zwar nicht an, auf welche Weise dieses sittliche Kriterium konstituiert sei und wie es sich vom positiv-konstitutionellen Recht unterscheide. Darin wird er Vorbild aller seiner Nachfolger, wenn auch seine Vorgänger, wie etwa der Kantianer Erhard, die Prämissen ihrer Unterscheidung kaum offener legen. Diese Differenzierung besteht aber wohl aus den auch heute gängigen Positionen von "Recht" als der durch einen speziellen organisierten Sanktionsapparat (Staat) zur Geltung gebrachten Verhaltensordnung einerseits und andererseits "Sittlichkeit" als einer davon unabhängigen Ordnung45 • Die Unterscheidung impliziert zweierlei. Zunächst eine bloß analytische Folgerung aus dem obigen Rechtsbegriff: Da Konfliktverhalten gegen den Staatsapparat nicht von diesem selbst gewährleistet sein kann, muß es irgendwie außerrechtlich sein. So hatte 42 43 44

Vgl. Dahlmann: Politik, Kap. 8, S. 199. Vgl. Albrecht: Die Protestation und Entlassung ..., S. 21, 22. Dahlmann, S. 201, 202.

Vgl. etwa Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 95, 96. Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 207. Während bei diesen Autoren, wie in der ganz vorherrschenden Auffassung in der juristischen Rechtsphilosophie, die Vorstellung '!iner wertend-qualitativen Stufung zwischen Recht und Sittlichkeit besteht, definieren Rechtssoziologen den Unterschied der Normenordnungen nach dem Gegenstand und der Art der sozialen Sanktion und verneinen die Frage einer "höheren" Dignität oder lassen sie als wissenschaftlich nicht lösbar offen; vgl. schon Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 1, § 1, S. 181 ff., § 2, S. 191 im 2. Teil. Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 293 ff. 45

III. Dahlmann und Albrecht

129

schon Erhard argumentiert, daß Revolution mangels eines "kompetenten Gerichts" nicht Recht sein könne. Daneben und darüber hinaus wird aber eine irgendwie geartete "höhere" Legitimation, eine "höhere" Berechtigung für den Gegenstandpunkt behauptet. Ganz offenbar unterstellt Dahlmann die Möglichkeit eines begründeten, gültigen Urteils über eine Tyrannei und für den revolutionären Widerstand. Zwar bleibt diese Position undefiniert. Ähnlich aber wie Stahl auf eine göttliche Ordnung rekurriert, meint Dahlmann eine objektiv vorgeprägte, transzendente Sittenordnung, von der aus ein Urteil im fundamentalen politischen Konflikt möglich sein soll. Daran kann man freilich wohl glauben, einzusehen ist es aber nicht. Wie im vorkantischen Naturrecht scheint diese Annahme bloß eine Hypostasierung bestimmter Parteipositionen zu einer angeblich objektiven Notwendigkeit zu sein. Die Kollision von Recht und Sittlichkeit, begriffen als transzendentale Normenordnungen, ist allemal der Konflikt zweier Freiheitsansprüche. Insofern das Vorrecht einer Seite apriorinicht dargetan werden kann, sind sie sich im Konflikt gleich. Diese Unentscheidbarkeit vor dem Konfliktende, mit dem die jeweiligen Existenzweisen dann freilich sehr wohl definiert sind, wird durch die unterschiedliche Namensgebung (Recht, Sittlichkeit) nur verschleiert. So ist auch Dahlmanns sittliches Widerstandsrecht gegen Tyrannis im Gewand anderer Worte der alte, im Angesicht tiefgreifender historischer Konflikte begreifliche, aber vergebliche Versuch, ejner Seite über ihr subjektives im-Recht-sein hinaus ein irgend höheres Recht über den Gegner zu gewinnen. Wie standpunktgebunden und deshalb schwankend diese Beurteilung revolutionärer Konflikte notwendigerweise sein muß, zeigt sich schließlich an Dahlmanns Ausführungen selbst. Hält er einerseits die höhere, sittliche Rechtfertigung des revolutionären Widerstandes für möglich, so verwirft er doch andererseits jeden "revolutionären Sinn". Dieser Abgrenzungsversuch erfolgt schon deutlich mit Blick auf den vormärzliehen Radikalismus, den Dahlmann anläßlich des Aufruhrs in Göttingen nach der Juli-Revolution selbst miterlebte. Hier erhält das von der historischen Schule herkommende Mißtrauen gegen die Theorie der französischen Revolution ihr ganzes Gewicht. Zumindest im Ansatz, so kann man sagen, wendet sich die etablierte konstitutionelle Revolution gegen Weiterungen ihrer ursprünglich eigenen Theorie46 • Von diesen Ausbrüchen und Inkonsequenzen abgesehen, ist aber auch bei Dahlmann der Grundtenor einer Verfassungskompromißtheorie 46 Vgl. Dahlmann: Politik, Kap. 8, S. 202, 203: "Der revolutionäre Sinn hat seine flache Wurzel im Verstande, ist familienlos, heimatlos. Für ihn gelten nur die großen Verhältnisse. Er möchte das Jahrhundert umgestalten, unbekümmert ob die nächste Heimat mit ihrem Glücke und ihrer Sitte ein Opfer des Umschwungs wird." Vgl. auch etwa D.'s Wendung gegen die Volkssouveränitätslehre, Kap. 9, S. 228 ff. bzw. gegen die "Pöbelherrschaft", Kap. 6, S. 116 ff., 142, 143 (Plädoyer für ein Zensuswahlrecht).

9 Köhler

130

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

festzuhalten. Recht ist prinzipiell Frieden, konkretes Vertragen zwischen den Verfassungspartnern. Konflikt ist gänzlich außerrechtlich, unentscheidbar, Naturzustand. Der Sache nach kehrt also auch bei Dahlmann die alte Unterscheidung zwischen Rechtszustand und Naturzustand wieder. Wie sehr ihr im Grunde empirisch-historische Strukturverschiebungen zugrunde liegen, zeigt sich gerade an historisch denkenden und argumentierenden Autoren wie Dahlmann und etwa auc.~ Albrecht. Ihr Hinweis auf den unterschiedlichen Stellenwert der Selbsthilfe im ständischen Gemeinwesen und im modernen Staat meint doch zunächst eine historisch-faktische Gewichtsverschiebung. Mit der Bildung größerer Wirtschaftsgesellschaften, mit der fortschreitend komplizierteren Verschränkung von Einzel- und Gruppenexistenz und mit der wachsenden Abhängigkeit aller kommt es dahin, daß die Vernichtung des Gegners im Konflikt eine zumindest teilweise Selbstvernichtung mehr und mehr beinhaltet. Dieser Entwicklung zu einem Gesellschaftsverhältnis wachsender Anfälligkeit und Abhängigkeit scheint eine historische Tendenz zu weniger gefährlichen, friedlicheren Konfliktregelungssystemen zu entsprechen, die wenigstens zunächst die Katastrophe der Gewalt hintaohalten sollen47 • Wenn das also zunächst nur eine empirische Strukturverschiebung ist, so wird diese Differenz schon in der Naturrechtslehre zur einer transzendentalen Wesenheit, eben zu der Unterscheidung zwischen Rechts- und Naturzustand überhöht. Dieses existentielle Unbehagen gegenüber der Krise jenes extremen Konfliktverhältnisses, wie es von Grotius bis Kant nachweisbar ist, zeigt sich auch bei Dahlmann, wenn er zum Phänomen der Revolution meint: "Denn was allein auf den Herrscher oder die Dynastie angesehen ist, schlägt gar leicht zu einem Umsturze der ganzen gesellschaftlichen Ordnung aus, und wenn sich auch der bessere Wille der neuen Herrschaft verbürgen ließe, wird sie sich auch befestigen können48 ?" Der konstitutionellpositivistischen Friedensformel für den historischen Verfassungskampf liegt also auch der Motivation und ihrem empirischen Bezug nach ein schon im Naturrechtsdenken Vorgeprägtes zugrunde.

IV. Romeo Maurenbrecher Die gleiche Logik eines konstitutionellen Positivismus und eben dasselbe Dilemma angesichts des Verfassungskonfliktes realisieren sich 47 Gut nachweisbar ist dieser Zusammenhang zwischen Friedensmotivation, Staatsbildung und Ausbau einer Gerichtsbarkeit an der Landfriedensbewegung; vgl. Angermaier: Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, S. 6 ff., 29 ff. Brunner: Land und Herrschaft, S. 18 ff., 35 ff. und Gernhuber: Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, S. 20 ff., der auch auf die mitwirkende ökonomische Motivation - etwa der cluniazensischen Reformideen - hinweist. 48 Dahlmann, Kap. 8, S. 202.

IV. Maurenbrecher

131

auch bei ausgesprochenen Fachjuristen, die die historisch-positivistische Begrifflichkeit mit wesentlich schon konstitutionellem Inhalt im Staatsrecht zur Anwendung bringen. Hier kommt zunächst der Bonner Professor Romeo Maurenbrecher in Betracht, der sich wie später etwa Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband charakteristischerweise zunächst dem Privatrecht gewidmet hatte, bevor er sich mit staatsrechtlichen Fragen beschäftigte49 • In seiner Kampfschrift "Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität" erscheint nun die Widerstandsproblematik als reines Folgeproblem der Souveränitätsfrage50. Gegen die herrschende "Klüber-Schule" im Staatsrecht sucht er die Fürstensouveränität zu begründen51 • Klübers Lehre von der Staatssouveränität negiert die Fürstensouveränität bekanntlich, indem sie die Souveränität dem Abstractum Staat als juristische Person zuordnet und sie nur als vom Fürsten unter verfassungsmäßigen Bindungen "ausgeübt" denkt. Diese Doktrin sucht Maurenbrecher in ihrer Grundlegung, dem Vertragstheorem, und in all ihren Folgerungen, also unter anderem auch in der Widerstands- und Absetzungssanktion zu widerlegen52. Das Erstaunliche an seiner Schrift ist aber, daß er, obzwar mit dem Anliegen der Fürstensouveränität beginnend, letztlich auch in der Konfliktfrage zu Ergebnissen gelangt, die der Staatssouveränitätsdoktrin viel näher sind, als ihm selbst bewußt ist.

Maurenbrechers "Widerlegung der Theorie der Staatssouveränität" bzw. sein Beweis der Fürstensouveränität versteht sich rein positivrechtlich. Nach der Darstellung der beiden Linien der naturrechtliehen Lehre von Grotius einerseits, von den Monarchomaehen und Rousseau bis auf Klüber andererseits, heißt es: "Damit ist dann aber auch das philosophische Element dieser Untersuchung über die Staatssouveränität völlig abgethan. Wir sind von jetzt an reine Publicisten und dürfen sogar nichts anders seyn, wenn wir nicht selbst in die an unseren Gegnern sosehr zu rügende philosophische Manier fallen wollen53 ." Wie er seine ,.rein publizistische" Methode versteht, zeigen seine kritischen 49 Vgl. Stintzing-Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 3,2, S . 398 ff. so Die Schrift ist wohl einmal als Replik auf Albrechts Rezension, in der dieser die Lehre von der Staatspersönlichkeit (Staatssouveränität) vertreten hatte, zu sehen. Zumindest in den Einzelfolgerungen hat die Schrift aber auch aktuellen Bezug auf die Hannoversche Verfassungsfrage z. B. hinsichtlich des Problems der Bindung des Thronfolgers an Regentenhandlungen des Vorgängers. Zum letzteren vgl. die zeitgenössische Schrift von Nebelthau: Wahrheit und Irrtum in der Maurenbrechersehen Schrift: ..Die deutschen regierenden Fürsten ...". Die Reaktion von liberaler Seite (Mohl) auf Maurenbrechers Polemik war sehr scharf; vgl. Landsberg, S. 398 ff. 51 Dazu speziell Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 487 ff. 52 Vgl. die Analyse der konstitutionellen Theorie Klübers bei Mauren-

brecher, S . 76 ff., 79, 80.

53 s. 84.

g•

Kapitel 8: Das historische Recht des Konstitutionalismus

132

Bemerkungen zu Klüber: "Was würde aber Jacob Moser zu allen diesen Sätzen sagen ..., was würde er zu einem deutschen Publicisten sagen, der solche Sätze (scil. Staatssouveränität und Folgerungen) aufstellt, ohne sie aus den Quellen zu beweisen54 ?" Klüber hätte seinem Lehrbuch statt "Öffentliches Recht" den Titel "Politik des deutschen Bundes und der Bundesstaaten" geben müssen55• Maurenbrecher will also die Frage der Souveränität mit ihren Konsequenzen anhand des "positiven Rechts" und d. h.: Der geschriebenen Rechtsquellen, nämlich der neuesten Friedensschlüsse und Staatsverträge, der Staatsgrundgesetze und der Gesetze des deutschen Bundes entscheiden56 • Dabei gelangt er, wie nicht anders zu erwarten, zum gewünschten Ergebnis. Denn natürlich ist den wesentlich von der monarchischen Seite konzipierten geschriebenen Rechtsquellen insgesamt eindeutig die Rechtsbehauptung für die monarchische Souveränität zu entnehmen. Woher diese aber, über das Faktum der Geschriebenheit hinaus, ihre von Maurenbrecher geltend gemachte Rechtlichkeit, Verbindlichkeit, Gültigkeit im Konflikt gerade auch gegenüber der Gegenseite erlangen soll, bleibt diesem "rein staatsrechtlichen", alle "philosophische" Begründung vorgeblich verweisenden Ansatz entrückt. Im weiteren Verlauf der Argumentation zeigt sich nun allerdings, daß die Polarisierung zwischen positivem Recht und philosophischer (naturrechtlicher) Anschauung nicht durchgehalten wird. Einerseits erschließt Maurenbrecher zwar aus den Quellen, vor allem aus den einschlägigen bundesrechtlichen Sätzen die Fürstensouveränität. Deren konkreter verfassungspolitischer Inhalt ist bei Maurenbrecher ganz eindeutig ein weitestmögliches Freihalten der monarchischen Exekutive von jedem parlamentarischen Einfluß, also Ausschluß ständischer Gesetzesinitiative57, Beschränkung der Ministerverantwortlichkeit58, ausschließliche Bindung der Beamten an den Monarchen59 • Der monarchischen Exekutive ist auch das alleinige Zwangsrecht vorbehalten: "Das Recht des Regenten" wird "zum juristischen, erzwingbaren Rechte ..., während seine Pflicht eine blos sittliche, nicht erzwingbare bleibt" 60 • Schon in diesem Satz, der doch eine Pflicht, eine Bindung des Monarchen einräumt, zeigt sich dann allerdings das Dilemma jener Fürstensouveränität Maurenbrechers. So ganz hobbesianisch soll sie sich eben doch nicht verstehen. Deutet sich in der 54 55 56

s. 81.

s. 83.

S. 84 ff., 86. An anderer Stelle (S. 85) heißt es offener, es komme auf das "positive Recht oder die offiziellen Theorien der politischen Gesetzgebung Deutschlands" an. Vgl. auch die Argumentation S. 232 ff. 57 s. 197 ff. 58 s. 200. 59 Vgl. S. 207, 208-210. Bezeichnende Ausnahme ist der Schutz einer relativ unabhängigen Justiz durch die Beschränkung willkürlicher Richterentlassung. oo Maurenbrecher, S . 170 ff., 175.

IV. Maurenbrecher

133

Zugabe sittlicher Bindung schon ein Widerspruch an, so wird dieser evidenter, wenn der Autor wesentliche Grundpositionen des Konstitutionalismus in seine "Positivität" übernimmt. Dazu zählt in allererster Linie die Bindung des Monarchen an die Verfassung und an deren Kernelement, die ständische Mitwirkungsbefugnis zu Gesetzen61 • Trotz aller verbalen Verwerfung der Vertragslehre, trotz der behaupteten Fürstensouveränität läßt Maurenbrecher schon in der Einleitung seines Buches am Rechtscharakter der Beschränkungen des Fürsten keinen Zweifel62• An anderer Stelle heißt es bezeichnend: "Die deutschen Fürsten sind in ihrer rechtlichen Beziehung zur Staatsgewalt immer dieselben geblieben; aber die Grundsätze, wonach sie die Staatsgewalt auszuüben haben, sind andere geworden63 . " Das ist nahezu dieselbe Formel, mit der die konstitutionellen Verfassungen die Ablösung der absolutistischen Allgewalt (Fürstensouveränität) durch das konstitutionelle Regime verschleiern. Damit sieht Maurenbrechers Fürstensouveränität der zunächst verworfenen Staatssouveränitätslehre ganz ähnlich. Keineswegs soll das Recht im Staate einer Seite, dem Fürsten anheim gegeben sein, vielmehr wird es im Ansatz als ein Verhältnis, als eine in beiden Parteien verankerte Beziehung begriffen. Unversehens setzt sich so ein Grundgedanke des Vertragstheorems selbst in der Theorie des Gegners durch. Diese Logik des konkreten Vertragens, das im konstitutionellpositivistischen Rechtsbegriff für den Zeitkonflikt bereits begriffen ist, aber noch nicht Dasein hat, schlägt nun auch auf die Gehorsams- und Widerstandsfrage durch64 • Einesteils findet sich eine Argumentation, die dem Anliegen der Fürstensouveränität, also der schon behaupteten einseitigen Zwangsbefugnis entspricht. Maurenbrecher fragt nämlich, ob das Widerstandsrecht, das er realistischerweise identisch setzt mit "Recht der Thronentsetzung oder der Revolution" 65 , sich aus den positiven Rechtsquellen ergebe66 • Er stellt zunächst fest, daß diese darüber keine, weder eine positive noch eine negative Auskunft gäben67 • Auf der Suche nach einem "positiven Gegenbeweise" gelangt er jedoch schließlich zu dem Befund, das ius resistendi stehe im direkten Widerspruch zum monarchischen Prinzip als dem obersten der Staatsgrundgesetzgebung für Deutschland. Deshalb sei die Behauptung seiner Positivität unwahr68 • Diesen Fürstenabsolutismus impliziert auch ein weiteres Argument, 61 62 63 64 65 66 67 68

s. 195 ff. s. 229. Maurenbrecher, s. 158.

Einl., S. 3.

s. 160. s. 160.

s. 162.

S. 158 ff.

134

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus·

das nun freilich der naturrechtliehen Tradition ausdrücklich entnommen ist: "Dem Volk eine Gewalt geben, die als Wächterin der monarchischen nothwendig stark genug sein muß, diese in Collisionsfällen zu überwinden, heißt offenbar, den Begriff der höchsten Gewalt beim Monarchen zerstören und dem Volke eine stärkere, ... also recht eigentlich die höchste Gewalt verleihen69 ." Das ist die Argumentation des Thomasius mit der "summitas imperü", aufgrund deren eine rechtliche Bindung des Fürsten an die altständische Verfassung letztlich negiert wurde. Diese vom Ansatz her einzig konsequente Fürstensouveränität meint Maurenbrecher nun aber hier ebensowenig, wie bei seinen speziellen Ausführungen zur Souveränität. Der Ausbruch deutet sich schon an, wenn er eingangs der Widerstandsproblematik den Fall der Verfassungsverletzung durch den Fürsten voraussetzt. Damit ist, ganz entgegen der Fürstensouveränität, behauptet, es gäbe ein rechtlich begründetes Urteil des Volkes über den Regenten im Konflikt. Dem Autor Maurenbrecher selbst ist wohl nicht klar, wie unvermittelt schon seine Fragestellung, nämlich das Voraussetzen des Verfassungsbruchs, in die von ihm so abgelehnten revolutionär-naturrechtliehen Begriffe, ja in die Volkssouveränitätsposition selbst verfällt. Doch bleibt es dabei nicht allein. Der Jurist gesteht vielmehr auch ein Recht des Volkes zum allgemeinen Ungehorsam bei Verfassungsbruch zu. Auch diesbezüglich stellt er zwar zunächst fest, daß diese Sanktion sich aus den "positiven Quellen" nicht ableiten lasse. Die naheliegende Folgerung, die er zuvor noch gezogen hatte, daß dann also im Hinblick auf das monarchische Prinzip jeder Ungehorsam wie jeder Widerstand ausgeschlossen sei, zieht er nun freilich nicht, sondern bricht unvermittelt aus der "positiven" Begründung aus: An einem Mittel gegen Verletzung dürfe es "keiner Verfassung fehlen .. ., wenn sie irgend Wert haben soll" 70 • Hier ist nun der Umschlag total. Nicht genug damit, daß Maurenbrecher die so verwiesene Vertragslehre in concreto doch als rechtliche Verfassungsbindung des Fürsten übernimmt. Im Konflikt soll sogar das Volk insofern souverän über den Fürsten sein, als es die Verfassungsmäßigkeit seines Tuns gültig zu beurteilen und mit Ungehorsam zu sanktionieren berufen ist. Der konstitutionelle Positivismus Maurenbrechers ist also im Hinblick auf die Problematik des Zeitkonfliktes noch ähnlich ungereimt wie bei Stahl und Dahlmann. Einerseits finden sich Stellen des Fürstenabsolutismus: Einseitiges Zwangsrecht des Monarchen. Andererseits aber der Umschlag in die Volkssouveränität: Urteil des Verfassungsbruchs, Recht zum Ungehorsam. Der Verfassungskompromiß beider deutet sich nur an. Wenn einerseits der Umsturz von oben im Urteil der Untertanen Unrecht ist, andererseits aber Zwang dagegen 69 70

Vgl. Maurenbrecher, S. 163. s. 160, 161.

V. Wippermann

135

auch, so scheint das darauf hinauszulaufen, daß das ganze Konfliktverhältnis eben Unrecht, nur das konkrete Vertragen in den Institutionen der Verfassung Recht sein soll. Diese Antwort des konstitutionellen Positivismus, wie Stahl und Dahlmann sie für den gewaltsamen Konflikt ausdrücklich gegeben haben, findet sich nun mit denselben Inkonsequenzen in Maurenbrechers "Staatsrecht". Wie in der Fürstensouveränitätsschrift gesteht er dort dem Volk das Urteil des Verfassungsbruchs gegenüber dem Fürsten und eine Ungehorsamsbefugnis zu, verwirft dagegen aber ein Widerstands- (Revolutions-) Recht71 • Dazu meint er freilich: "Aber die Weltgeschichte zeigt sie (scil. die Revolution) doch als ein Faktum, das nicht ausgeblieben ist, als den selbstbeschwörten Fluch der Herrschenden und Beherrschten, da, wo die vernunftgemäße Reform der Verfassung verabsäumt, oder in Gewissenlosigkeit und Sündhaftigkeit der bestehenden Verfassung Hohn gesprochen worden ist72 ." Hier also erscheint der Konflikt, der Verfassungskampf insgesamt aus dem Recht verwiesen als Faktum, als bloßer Naturzustand. Die Entscheidung für Souveränität bzw. Widerstand je einer der Parteien wird ganz aufgegeben.

V. Eduard Wippermann In Eduard Wippermanns 1844 erschienenem Buch "Beiträge zum Staatsrecht" prägt sich hinsichtlich der Konfliktproblematik ein weiteres, schon vorweg erwähntes Element mehr aus: Die Übertragung des historisch-positivistischen Gültigkeits- und Gehorsamsanspruchs auf den konstitutionellen Staat. Gleich in der Einleitung offenbart der Autor seine historischpositivistischen Grundlagen. Im Hinblick auf das Recht müsse Sein und Sollen strikt getrennt werden: "Hinsichtlich jedes Rechtsverhältnisses sind ebenwohl jene zwei Fragen: Wie ist dasselbe in der Wirklichkeit beschaffen, und wie sollte es beschaffen sein, wohl voneinander zu trennen73 ." Erstere Frage gehöre dem historischen, positiven Gebiet an, letztere der Philosophie oder der Politik. Nach einer Kritik an der Rechtsphilosophie (Naturrecht, Vernunftrecht), sie vernachlässige Wirklichkeit und Erfahrung und habe daher letztlich zu den Greueln der französischen Revolution geführt74, hält Wippermann dafür, daß die wesentlich juristische, staatsrechtliche Aufgabe eine positiv-juristische 71 Vgl. Maurenbrecher: Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, §54, S. 73 und § 56, S. 78, zitiert nach der mit den übrigen Auflagen insoweit identischen 2. Auflage. 72 S. 73, 74 (Hervorhebungen vom Verf.). 73 Wippermann, Einl., S. 2. 74

s. 3,

4.

136

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

und daher historische sei: "Was der Staat ist, nicht was der Staat sein sollte, will ich untersuchen75 ." Das Bild rundet sich noch ab durch den Hinweis, die historische Methode Savignys sei auf das Staatsrecht zu übertragen76• Die zu beschreibende Wirklichkeit des Staates soll nun wesentlich in seiner Souveränität bestehen: Unverantwortlichkeit, Unfehlbarkeit, Heiligkeit, Unwiderstehlichkeit, Allzuständigkeit77 • Dieser entscheidende Schritt, daß nämlich die angebliche "Wirklichkeit" in spezielle Sollensanforderungen gerade und besonders ja wohl gegenüber abweichenden Willen umgegossen wird, bleibt wie bei den Schulgründern völlig unausgewiesen. Tatsächlich entpuppt sich also die Differenzierung von Sein und Sollen wieder als eine solche zwischen einem Sollen und einem anderen. Die absoluten Eigenschaften des Leviathan kommen freilich, und darin liegt die theoriegeschichtlich wesentliche Differenz, nicht wie bei Hobbes, Rousseau, Kant dem Fürsten, dem Volk oder überhaupt einem konkret bezeichneten Subjekt zu, sondern dem Abstractum "Staat". Dessen konkrete Konstituiertheit ist prinzipiell gleichgültig. Ohnehin stellt sich jede Begrenzung der Staatssphäre dem Ausgangspunkt nach allenfalls als eine In-sich-Beschränkung, als eine Selbstbescheidung des omnimodum imperiumüber die Untertanen dar78 • Jedoch läßt Wippermann trotz des prinzipiellen Relativismus keinen Zweifel daran, daß es für seine Zeit die konstitutionelle Verfassung ist, die jene Selbstbeschränkung des Staates kennzeichnet. Er nennt sie ausdrücklich den von "beiden Seiten unterschriebenen Waffenstillstand" zwischen (scil. monarchischer) "Staatsgewalt" und "Freiheit des Volkes" 79 • Die Antwort Wippermanns auf das Gehorsams- und Widerstandsproblem kann danach nicht zweifelhaft sein: "Wenn ... die Staatssphäre eine unbegrenzte ist, so muß derselben auch ein unbegrenzter staatsbürgerlicher Gehorsam correspondieren80 ." Ungehorsam, Widerstand, Insurrektion sind also stets Unrecht, wenn nicht gar Verbrechen. Gegen eine despotische Staatsgewalt vorzugehen, mag zwar moralisch gerechtfertigt sein, noch mehr: Es kann "in einzelnen Fällen ein solcher Widerstand eine edle That sein", mitunter wird sogar "eine moralische Verbindlichkeit zur Revolution vorliegen". Gleichwohl "folgt daraus 75 76

s. 5,

6.

Vgl. S. 7. Wippermann tritt hier übrigens schon für die Einführung jener aus dem Privatrecht (Puchta) kommenden Abstraktionsmethode in das Staatsrecht ein, als deren Vermittler Gerber gilt; vgl. Withetm : Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 146 ff. Wippermann meint nämlich S. 9: "das allgemeine Staatsrecht muß insofern die Grundlage des besonderen bilden, als alle einzelnen Sätze desselben sich auf die allgemeinen zurückführen lassen müssen." 77 Wippermann, S. 35, 66, 70. 78 s. 67, 70 ff. 79 s. 73 ff., 75, 76, 81. 80

Wippermann, S. 84.

V. Wippermann

137

noch nicht ein juristisches Recht, geschweige denn eine juristische Pflicht zum Widerstande ... " 81 • So entschieden also macht sich hier zunächst der Gehorsamsanspruch der historisch gewordenen Positivität - von der älteren historischen Schule noch für den nichtkonstitutionellen Staat erhoben - nun für den neuen Verfassungsstaat geltend. In zweierlei Hinsicht nimmt der Autor seine Position aber sogleich wieder zurück. Einmal bleibt, so meint er, die Möglichkeit einer Kollision ,.der moralischen, allerdings in gewisser Weise höher stehenden Pflichten mit den Rechtspflichten des Untertanen" 82 • Damit ist die Konfliktfrage wie bei Dahlmann wieder in eine ganz ungeklärte Schwebelage versetzt. Wie sich Moral im Verhältnis zum Recht verhält, bleibt unausgewiesen. Letztlich ist wohl mit Moral wieder eine transzendente Normenordnung gemeint. So kollidiert also diese mit der gleichfalls transzendenten Gültigkeitsanforderung des konstitutionell-positiven Rechts. Der Widerspruch bleibt offen. Doch noch auf anderer Ebene widerruft Wippermann seinen zunächst entschiedenen Positivismus, nämlich da, wo er das Zerbrechen des souveränen Staates in sich selbst ins Auge faßt. Diese Frage umschreibt er mit dem Fall, daß die Staatsgewalt - nunmehr verkürzt als monarchische Exekutive - "formwidrig" handelt83 • Die Konfliktfälle, die er nun in Betracht zieht, sind dementsprechend aus dem historischen Verfassungskampf abgezogen: Der Landesherr, der ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Formen handelt, der gar vor dem formellen Regierungsantritt-also ohne noch die Verfassung beschworen zu haben- Staatsakte zu setzen sich anmaßt. Dabei handelt es sich dann, so Wippermann, um bloße Privatakte mit der Folge, daß dagegen passiver Widerstand (Ungehorsam) rechtens wird. Weshalb nun auf einmal die Untertanen doch über die Obrigkeit mit der Feststellung, diese habe die Verfassung gebrochen, soll urteilen und ihr ungehorsam sein dürfen, bleibt von den zunächst eingenommenen Grundpositionen aus offenbar unausgewiesen. Von Wippermanns Souveränitätssätzen her gibt es eigentlich schlechthin kein Urteil von unten. Auch ist nicht zu sehen, wie die Untertanen, wenn der Staat als eine dritte Person mit absolutem, bloß selbstbeschränktem Gehorsamsanspruch gesetzt ist, ihn auf eine bestimmte Selbstbeschränkung sollen fixieren können. Das Ungereimte dieses Ausbruchs aus der eigenen konstitutionell-positivistischen Axiomatik beruht also auch hier ganz offenbar auf einem äußeren Grund. Dem konstitutionellen Positivismus entspricht noch nicht ein wirklicher, von den bisherigen Konfliktparteien ganz unbezweifelter Verfassungsfrieden. Nur auf diesen ist die Formel der Staatssouveränität gemünzt. Wo aber der Verfassungskampf noch 81 82

83

s. 85, s. 86, s. 89,

86. 87. 90.

138

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

nachklingt, wo der Fall des verfassungsumstürzenden Monarchen ins Auge gefaßt wird, muß sich ihr Ungenügen erweisen. Es schlägt dann die Willkürlichkeit, der Absolutheitsanspruch je einer Parteiposition durch.

VI. Friedrich Schmitthenner Bei den bisherigen Autoren war die vom Boden des konstitutionellen Positivismus aus einzig konsequente Auskunft für die Widerstandsfrage und für das Konfliktproblem überhaupt, nämlich dessen gänzliche Verweisung aus der Rechtsfrage schon vorhanden. Durchbrachen wurde sie regelmäßig von Urteilen- dem eines unrechtmäßigen Verfassungsumsturzes, einer rechtmäßigen Weigerung oder schließlich eines sittlichen Gewaltrechts -,die vom Ansatz her nicht begreiflich waren, weil danach jenseits der konstitutionellen Übereinkunft (Verfassung und Gesetz) ein Kriterium für die Zuteilung von Recht und Unrecht im Konflikt eigentlich nicht denkbar ist. Diese Inkonsequenz beruhte offenbar darauf, daß die historische Realität des noch virulenten Verfassungskampfes der positivistischen Abstraktion konstitutionell-monarchischen Inhaltes noch nicht entsprach. Bei den angeführten Autoren waren die Konfliktfälle daher auch bezeichnenderweise ziemlich eindeutig dem typischen Zeitkonflikt entnommen. Das Bild des sich antikonstitutionellabsolutistisch gebärdenden Monarchen stand immer deutlich hinter den Disjunktionen dieser Autoren. Diese Differenz zwischen dem, was in den staatsrechtlichen Grundbegriffen schon angelegt ist, und der Inkonsequenz in den "juristischen" Folgerungen für den Verfassungskonflikt wird letztlich erst aufgehoben im Positivismus Gerbers und seiner Nachfolger, zu einer Zeit also, da auf der im konstitutionellen Staatsrecht begriffenen Konfliktebene Friede herrscht. Doch findet sich auch schon im Vormärz ein juristisches Staatsdenken, das konsequent von jedem systemsprengenden Konflikt absieht: das Werk Friedrich Schmitthenners. Nicht zufällig legt Schmitthenner seinem Staatsdenken - in Fortführung der historischen Schule und der politischen Romantik - durchgängig die Organismusmetapher zugrunde84• Diese nimmt bei ihm nämlich mehr als bloß paradigmatische Bedeutung85 ein und zeitigt konkrete Folgerungen im Sinne eines ent84 Vgl. Schmitthenner: Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, schon in der Einl., S. 1 und S. 252 ff. ss Als Paradigma ohne konkrete Folgerungen erscheint das Organismusbild schon vor SeheHing auch in der rationalistischen Philosophie; vgl. Hollerbach: Der Rechtsgedanke bei Schelling, S. 144, 145 und Sandkühler: Freiheit und Wirklichkeit, S. 124, 125. Bei Dahlmann und anderen in der Tradition der historischen Schule stehenden Autoren kommt der Terminus "organisch" häufig als Gegenbegriff zu "willkürlich" vor. Die Organismus-

VI. Schmitthenner

139

schierlenen Staats- und Rechtsobjektivismus. Insofern steht er also - darauf weist auch seine Absage an jede Staatskonstruktion nach Art der vernunftrechtlichen Vertragslehre bis Kant hin86 - in der Tradition des sich als naturrechtskritisch verstehenden Denkens. Im Organismusgedanken kulminiert die Vorstellung, in der Geschichte, in den menschlichen Verhältnissen sei eine objektiv prästabilisierte Harmonie auffindbar. Ins Staatsdenken übersetzt zielt dies auf einen subjektivitätsunabhängigen Staat außerhalb und über den Subjekten als einen Garanten der Existenz, die, wie Schreckensperiode, 18. Brumaire und Revolutionskriege zu beweisen scheinen, von den Subjekten selbst so sehr bedroht ist87 • Nun ist freilich auch diese Art von Rechtsobjektivismus, ebenso wie derjenige des vorkantischen Naturrechts, derjenige der historischen Gewordenheit in der historischen Schule usw., dazu angetan, jede nicht schon in der Objektivität begriffene Subjektivität zu negieren88 • Das münzt sich in dem optimistischen Organismusdenken weitergehend dahin aus, daß überhaupt die Möglichkeit einer Kollision mit einer nicht in den Organismus gebannten Subjekt-Autonomie gänzlich verschwiegen und verdrängt wird. Diese im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Tendenz realisiert sich bei Schmitthenner. Seine Grundaxiome sind also Staat und Recht als objektive, subjektunabhängige, letztlich transzendental-göttlich aufgefaßte Wesenheiten89, die sich in der Geschichte eines bestimmten Volkes entwickeln90 • Daraus entfalten sich die metapher hat aber noch nicht so zentrale Bedeutung wie bei Sehmitthenner; vgl. im folgenden. 86 Sehmitthenner, S. 252 ff. 87 Die Organismuskonstruktion von Staat und Recht in ihrer polemischen Wendung gegen die mechanistische Staatsauffassung der Aufklärung geht auf SeheHing zurück, der damit seine frühe, extrem individualistische Position verläßt. Vgl. einerseits Sehelling: Neue Deduktion des Naturrechts (1796), in: Schellings Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, S. 108 ff., 140, 141, und andererseits die Entwicklung des Organismusgedankens in: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), a.a.O., S. 289 ff., insbes. 10. Vorlesung: Über das Studium der Historie und der Jurisprudenz, S. 375 ff. Dazu Hollerbaeh, S. 152 ff. Zum Organismusgedanken bei SeheHing und in der politischen Romantik vgl. auch CarL Schmitt: Politische Romantik, s. 153 ff., 157 ff. 88 In diesem Sinne kritisch zu ScheHing: HoHer bach, S. 147; SandkühLer, S. 126 ff. und BLoch: Naturrecht und menschliche Würde, S. 110, 111. Der mit dem Organismusgedanken regelmäßig verbundene Rückfall in eine vorkanUsehe Position, in der die Vermittlung durch die Subjekte nicht mitgedacht wird, ist Kern der Kritik; vgl. etwa Heller: Staatslehre, S. 96 ff., 97. Krüger: Allgemeine Staatslehre, § 13, S.149. 89 Vgl. Schmitthenner, S. 4, 5. Auf S. 6 Anm. 2 heißt es: "Wie das Licht noch immer Licht bleiben würde, wenn auch alle Augen erblindeten, so würden die Bestimmungen der Idee Recht bleiben, wenn alle Menschen wahnsinnig würden"; und S. 267: der Staat sei ein "objektives ethisches Institut, das eine sittliche Idee darstellt". 90 Schmitthenne1·, S. 10.

140

KapitelS: Das historische Recht des Konstitutionalismus

für diesen Zusammenhang wesentlichen Vorstellungen. Zum einen sind Recht und Staat nicht durch die Vernunftvorstellung, den Verständigungsprozeß der Subjekte vermittelt91 • Die Stellung der Person als Glied des Organismus, die Zuteilung von Rechten und Pflichten ("organische Rechte") ist also nicht "willkürlicher Natur", sondern wird vielmehr als eine objektiv-vorgegebene aufgefaßt92 • Andererseits ergibt sich daraus aber auch, daß die Staatsgewalt - verstanden als monarchische Exekutive-, obzwar als Ordnungsmacht notwendig, in gleicher Weise transzendental gesetzt und beschränkt ist. So verwirft Schmitthenner den Gedanken einer Staatsgewalt im Sinne einer unbeschränkten, absoluten Herrschergewalt (innere Souveränität)93• Auch sie ist an sich schon eingebunden in die transzendentale Gesetzlichkeit des Organismus. Man braucht kaum hinzuzufügen, daß für Schmitthenner dieser an sich existente, seine Elemente in sich beschränkende Organismus Staat in concreto in den Institutionen der konstitutionellen Monarchie, und das bedeutet auch bei Schmitthenner wesentlich im Institut der "Volksrepräsentation", seine Ausprägung findet94 • Diese Verfassung, so meint Schmitthenner apologetisch, realisiere die Freiheit des Volkes. Schließlich folgt aber aus dieser Einbindung aller Elemente in den Organismus, daß, ebenso wie ein als deus ex machina über dem Staat schwebender souveräner Monarch ausgeschlossen ist, auch jedes nicht"organische" politische Handeln der Bürger negiert wird. Das ist schon im Entwicklungsgedanken angedeutet, der retrospektiv auch die bürgerliche Revolution als bloß objektiven historischen Prozeß begreift95• Zwar erörtert auch Schmitthenner die Gehorsamsfrage. Wie die Staatsgewalt durch den Staatszweck begrenzt sei, so habe auch der Untertanengehorsam Schranken (verfassungsmäßiger Gehorsam) 96 • Doch versteht sich das, wie sich zeigt, nicht im Sinne der traditionellen Theorie etwa Robert von Mahls als ein autonomes, letztinstanzlieh von den Subjekten entschiedenes Ungehorsamsrecht. Vielmehr ist die Grenze ex post definiert durch den Gerichtsspruch97. Es handelt sich also um einen positivistisch-konstitutionellen, "organischen" Gehorsam bzw. Ungehorsam, dem gedanklich das in sich selbst beschränkte System des gewaltenteilenden, konstitutionellen Rechtsstaates zugrunde liegt. Hinter demselben Terminus, wie er in der revolutionären Widerstandslehre des Endstadiums gebraucht wird, verbirgt sich also eine gänzlich andere Auffassung. "Rechte und Pflichten", so lautet der entscheidende 91

92

93 94 95 96 97

Schmitthenner wie Anm. 86 und Einl., S. 5.

S.l.

s. 287.

s. 557 ff. Schmitthenner, S. 11. s. 389. s. 391.

I. Der Verfassungsfrieden

141

Satz bei Schmitthenner, "kann jemand nur in einer sittlichen Gemeinheit haben, außerhalb deren selbst für Verträge der sittliche Grund der Verpflichtung fehlen würde" 98• Als Rechtsproblem kann also allenfalls die individuelle Kollision mit der Staatsgewalt sich stellen, ein Konflikt, dessen Lösung schon im Organismus (Rechtsweg) angelegt ist. Dagegen kommt der den Organismus Staat sprengende Konflikt - Tyrannis und Revolution - als Frage, die mit dem Rechtsbegriff etwas zu tun hätte, überhaupt nicht in Betracht. Er erscheint nicht mehr als Rechtsproblem, höchstens als Faktum historischer Entwicklung. Kapitel 9 Schluß

I. Der Verfassungsfrieden Mit den bisher angeführten Autoren aus der Vormärzperiode sind schon die Positionen erreicht, die in den Jahrzehnten nach der Märzrevolution zu den ganz herrschenden werden. Zwar verschwindet die konstitutionell-revolutionäre Widerstandslehre auch nach der Revolution von 1848/49 nicht "mit einem Schlage" 1 aus dem Staatsdenken. Robert von MohL wiederholt in seiner "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" die frühere Lehre vom autonomen bloß verfassungsmäßigen Gehorsam2 • In seiner "Enzyklopädie der Staatswissenschaften"3 reflektiert er außerdem umfassend das Recht zur Revolution als Notrecht gegenüber starren, sich notwendigen Änderungen widersetzenden Verhältnissen. Deutlich rückblickend auf den Kampf zwischen Absolutismus und "Rechtsstaat" 4 faßt er nach Begriffen und Motiven die traditionelle Theorie und ihre ideologischen Elemente noch einmal zusammen: Der Veränderung heischende Wille eines gesamten "Volkes" gegen das Konservierungsanliegen der vereinzelten Machthaber und die Erschöpfung aller "verfassungsmäßigen" Mittel einerseits, andererseits aber auch die Gefahren der Revolution als eines Zustandes des Abgleitens in das Chaos. Auch die Antwort auf die

s. 388.

98 1 So

aber Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht, S. 457 mit einer von der folgenden Deutung ganz abweichenden Beurteilung der Bedeutung der Revolution von 1848/49. z Vgl. Mohl, Anhang an V des 1. Bandes, S. 320 ff., 330 ff. unter vollem Anschluß an die naturrechtliche bzw. konstitutionelle Tradition. s Vgl. Mohl: Encyklopädie der Staatswissenschaften, Allgemeine Staatslehre, § 22, S. 158 ff. 4 Diese retrospektive Tendenz verstärkt sich noch in den Zusätzen der 2. Auflage (1872), wie Anm. 3, S. 163-167.

142

Kapitel9: Schluß

Ausgangsfrage, "ob der Mensch Gewalt und Unrecht bis zu wesentlicher Beeinträchtigung seiner ganzen Lebenszwecke widerstandslos zu tragen verpflichtet ist? ob es im Staatsleben keinen Zustand der Notwehr gibt?", fällt im Sinne der traditionellen Lehre aus. Gegenüber der Lehre vom Faktum, vom bloßen "Naturereignis" des revolutionären Konfliktes beharrt Mohl auf der naturrechtliehen Überzeugung, eine höhere, objektive Zuteilung von Recht und Unrecht sei möglich5 • Doch bleibt diese Äußerung vereinzelt als der inhaltlich eindeutig fixierte Rückblick eines noch in der Kampfzeit des Frühkonstitutionalismus tief verwurzelten Autors. Die demgegenüber herrschende Doktrin entspricht nun einesteils dem Verfassungsfrieden auf der bisherigen Ebene des Kampfes. Die Wirklichkeit konstitutionellen Vertragens ist durch keine latent sprengenden Konflikte mehr in Frage gestellt. Das ist eines der historischen Ergebnisse der Revolution von 1848/49 und der darauf folgenden Reaktionsperiode, - in Preußen freilich erst nachvollzogen mit dem Frieden nach dem Budgetkonflikt. Die nach dem Urteil einer freilich am Ziel der Einheitsbestrebung unter bürgerlich-parlamentarischer Führung messenden Geschichtsschreibung "gescheiterte" Revolution von 1848/496 bringt doch zumindest dies, daß die Verfassungsform bürgerlicher Freiheit und Repräsentativmitwirkung am Staat, also der Gesetzes-Rechtsstaat, auf Landesverfassungsebene überall mindestens in der Vormärzlage sich stabilisiert. Die Reaktion, selbst von Liberalen als maßvoll apostrophiert', beschränkt sich auf die Revision allzu parlamentarisch-demokratischer Veränderungen der Revolutionszeit, so vor allem der Ausschaltung der ersten Kammern, der Ausweitung parlamentarischen Einflusses auf die Exekutive u. ä.8 • Der Verständigungsprozeß zwischen einem mehr und mehr konstitutionell gewordenen Konservatismus einerseits und einem gemäßigten Liberalismus anderers Vgl. Moht (1. Auflage), S. 162 ff., 165, Anm. 9 S. 169. Vgl. Vatentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848--49, Bd. 2, S. 545 ff., der das Urteil des Scheiterns darüber hinaus wohl noch von der demokratischen Idee her fällt. Stadetmann: Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, S. 216 ff., 217, 220. 7 Vgl. Mohts Aufsatz: Das Repräsentativsystem, seine Mängel und die Heilmittel (zuerst erschienen 1852), in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1, S. 367 ff., wo er für das parlamentarische Regime plädiert und zum Scheitern der Revolution bemerkt: "Es muss zugegeben werden, dass der Sieg mit Mässigung benützt worden ist, etwa Hannover und Kurhessen ausgenommen. Die abgedrungenen Verwilligungen und Veränderungen sind zwar zurückgenommen worden, allein man hat die Verfassungen in ihrem früheren Bestande gelassen und nicht etwa versucht, neuen widrigen Forderungen und Verhältnissen durch eine Zurückführung der Volksrechte auf ein unentwicklungsfähiges Minimum für immer zuvorzukommen." (S. 422). s Vgl. den Überblick der Revisionen bei Kaltenborn: Geschichte der deutschen Bundesverhältnisse, Bd. 2, S. 401 ff. Ausführlich Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, § 8, S. 134 ff. 6

I. Der Verfassungsfrieden

143

seits kommt zum Abschluß9 • Im erst jüngst nach vormärzlichem Standard konstitutionell gewordenen preußischen Staat vollziehen sich Konflikt und Verständigung in einer den frühkonstitutionellen Verfassungsstreitigkeiten ähnlichen Weise nach, freilich in zeitlicher Raffung10 • Doch von vorneherein handelt es sich bei aller Schärfe des Streites lediglich darum, ob es bei einem konstitutionellen Regime mit monarchischem Übergewicht vor allem im Bereich der Exekutive bleibt oder ob die Bahn zum parlamentarischen Regiment englischer Prägung betreten wird. Die konstitutionelle Basis selbst wird, sieht man von den aussichtslosen Umsturzplänen einer ultra-konservativen Fraktion ab, nicht verlassen. Hinter das Jahr 1848 führt nichts zurück. So stellt sich in diesem Konflikt allenfalls die Alternative der kalten parlamentarischen Revolution oder des partiellen Staatsstreiches eines budgetlosen Regimentes. Dieses relativ gemäßigte Stadium des Konfliktes spiegelt sich deutlich in der berühmten "Lückentheorie" 11 wider, die im Grunde auf dem konstitutionellen Positivismus basiert und der ganz ähnliche Positionen zugrunde liegen wie dem positivistischen Staatsdenken zum Widerstandsproblem. Denn auch sie neigt einerseits zur Verweisung des Konfliktes in einen rechts- und verfassungsvertragsfreien Raum, andererseits aber zur Behauptung eines irgend übergeordneten, verfassungstranszendenten, in Wahrheit jedoch autonomen Rechtes je einer der Konfliktparteien. Der erste Teil der Lückentheorie, daß mangels einer von der Verfassung prätendierten Einigung der drei Gesetzgebungsträger (Monarch, beide Kammern) über den Staatshaushalt politisches Handeln in einem der verfassungsmäßigen Gründung ent9 Die Differenzierung zwischen dem stabilisierenden Effekt der Revolution für das konstitutionelle System und dem Scheitern weitergehender Zielsetzungen ist bei zeitgenössischen Autoren ausgeprägt. Vgl. außer Mohl oben Anm. 7 etwa Kaltenborn: Einleitung in das konstitutionelle Verfassungsrecht, S. 298: "eine sog. parlamentarische Regierung nach englischbelgisehern Muster und die Volkssouveränität mit ihren Consequenzen ist nirgends praktisch gewor den. Das monarchische Princip hat schließlich überall den Sieg davon getragen und die demokratischen Forderungen sind auf ein gewisses Maß beschränkt, so daß im Ganzen überall ein gesundes constitutionell-monarchisches Staatsrecht in den deutschen Landen erhalten oder auch erst eingeführt worden ist." Zöpfl: Die Demokratie in Deutschland, S. 47 ff., erklärt Freiheit und Gleichheit mit 1848 als auf Landesverfassungsebene verwirklicht. In den für die liberale Publizistik repräsentativen lexikalischen Werken, dem Rotteck-Welckerschen Staatslexikon und dem Staatswörterbuch von Bluntschli und Brater, wird das konstitutionelle Herrschaftssystem als unumstößliches historisches Ergebnis gekennzeichnet und begrüßt; vgl. Welcker: Art. Recht, in: Das Staatslexikon etc., 2. Auflage, Bd. 12 (1865), S. 323 ff., 338, 340, insbes. S. 333, wo er von der Erfüllung seiner Lebensaufgabe spricht. Bluntschli: Art. Repräsentativverfassung, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 8 (1864), S. 586 ff., 592. Ders.: Geschichte der neueren Staatswissenschaft, S. 717 ff. 10 Zum Konfliktverlauf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, §§ 18 ff., s. 273 ff. 11 Dazu Huber,§ 22, S. 333 ff. Forsthoff: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 140. Carl Schmitt: Verfassungslehre, S. 53 ff., 56.

144

Kapitel 9: Schluß

behrenden, rechtsleeren Raum sich vollziehe, impliziert nämlich eigentlich den konstitutionell-positivistischen Standpunkt, daß nur das konkrete Vertragen der konstitutionellen Verfassungsorgane Recht ist. Demgemäß formuliert Anschütz später, der Budgetkonflikt sei überhaupt keine Rechtsfrage 12 • Darüber hinaus suchen aber in der Konfliktzeit beide Seiten, in jenem verfassungsvertragslosen Zustand für sich vertragstranszendente Rechtspositionen in Anspruch zu nehmen, sei es ein auf die monarchische Souveränität gegründetes Notrecht budgetlosen Regimentes, das sich dann ja auch faktisch durchsetzt, sei es eine das Übergewicht der liberalen zweiten Kammer implizierende Rücktrittspflicht der Regierung13• Insoweit also sind beide Gestaltungen der Lückentheorie Abbilder der alten Souveränitäts- und Widerstandslehren: Das Recht auf partiellen Staatsstreich einerseits, der Anspruch auf parlamentarisches Regiment - "Revolution auf kaltem Wege" (Huber) - andererseits. Nicht nur praktisch-politisch läßt sich also der preußische Budgetkonflikt bis zur Indemnität als ein geraffter Nachvollzug des sich bis 1848 überall durchsetzenden Verfassungskompromisses begreifen. Auch die Theorie nimmt in den ambivalenten Zügen der Lückenhypothese Konflikt- und Verständigungspositionen, wie sie hier nachgezeichnet wurden, in sich auf.

II. Der konstitutionelle Positivismus als Abstraktion des naturrechtliehen Vertragstheorems und seine Relativität Dem staatstheoretischen Denken zur Widerstandsfrage und überhaupt zum Problem des politischen Konfliktes liegt also einesteils die Axiomatik der Naturrechtslehre in der kantischen Gestalt zugrunde. Monarch und Bürgervolk (Repräsentation) konstituieren durch ihr notwendiges Vertragen den Staat. Nach dem Vorgang der französischen Revolution konkretisiert sich freilich die noch relativ zukunftsoffene Vertragsnomenklatur inhaltlich auf das konstitutionelle Regierungssystem mit seinen wesentlichen Elementen: Dem monarchischen Exekutivapparat, der in Verfassung und Gesetz zurückgebunden ist an die Mitwirkung der in einem Vertretungsorgan repräsentierten Untertanschaft. Wurde dies schon in der frühkonstitutionellen deutschen Doktrin mit dem Vernunftrecht schlechthin identifiziert, so fügt dem die historische Schule die Abstraktion von den naturrechtliehen Grundannahmen hinzu. Ihr Geschichtsobjektivismus transzendiert das konstitutionelle System zu einer nicht subjektvermittelten Positivität (Organismus), derkrafthistorischer Gewordenheit Recht und d. h.: objektive (göttliche) Dignität zukommt. Die Vertragsaxiomatik wird geradezu 12

Vgl. Meyer-Anschütz: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, § 207, S. 905,

13

Zu dieser Ambivalenz der Lückenfüllung Huber, S. 335, 336.

906.

II. Der Positivismus als Abstraktion des Vertragstheorems

145

geleugnet - bei Juristen von Romeo Maurenbrecher bis zu Friedrich von Gerber sogar jedes "Vorspiel im philosophischen Himmel" überhaupt als außerjuristisch abgewiesen14 - , obwohl in concreto die analytischen Folgerungen der Vertragslehre, insbesondere die Verfassungsund Gesetzesbindung unterstellt werden, also sehr wohl einer bestimmten Philosophie gefolgt wird. In der konstitutionell-liberalen Inhaltlichkeit liegt die prinzipielle Übereinkunft mit den mehr vom Naturrecht herkommenden Autoren, die ihrerseits die konkreten verfassungspolitischen Inhalte zu einer Vernunftnotwendigkeit hypostasieren. Mit Recht konnte Otto von Gierke daher feststellen, daß das alte Naturrecht in positivistischer Gewandung fortlebe1s. Es kann daher nicht überraschen, daß die konstitutionell-positivistische Lehre zur Konfliktproblematik mit der Kritik der idealistischen Philosophie selbst insoweit übereinstimmt, als dem Konfliktverhältnis insgesamt Rechtscharakter abgesprochen wird. Wenn nur der Vertragsübereinkunft Recht zukommt, so ist alles nichtvertragene politische Handeln außerhalb des Rechts, ohne daß - mangels eines Vertragskriteriums - die Zuteilung von Recht und Unrecht möglich wäre. Für keine der Parteien eines historischen Verfassungskampfes ist also ein (Gewalt-)Recht über die je andere darzutun. Dieses Ergebnis kommt in dem Satz, niemand könne Richter in eigener Sache sein, am klarsten zum Ausdruck. Freilich besteht eine wesentliche Differenz zwischen den kritischen Ansätzen der idealistischen Philosophie selbst und dem konstitutionellen Positivismus. Jene rekurriert auf den Begriff des Vertrages und ist damit allgemein gegenüber jedweden historischen Konfliktparteien, deren Rechtsbehauptungen sie als ideologisch und nur im Sinne von Parteistandpunkten wahr zu kritisieren in der Lage ist. Der Begriff des Vertrages impliziert eben ganz allgemein zunächst, daß Rechtsfrieden aus der Verständigung beider in Frage kommenden Parteien fließe und nicht die Leistung nur je einer Seite und ihrer Selbstsetzung sei. Weiter meint der Begriff aber auch eine bestimmte Art des Sich-zueinander-Verhaltens, die vornehmlich negativ definiert ist: Durch den Ausschluß physisch-mechanischer Gewalt als eines Verständigungsmittels. Positiv impliziert er ein relativ friedliches Verfahren der Konfliktbewältigung. So bieten alle großen naturrechtliehen Systeme auf der Ba~is des Vertrages detaillierte Verfassungsentwürfe, letztlich- etwa bei Fichte -mit dem Optimismus, jeglichen Konflikt einfangen zu können16• Die Vertragslehre 14 Vgl. Gerber: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 3. Auflage, Beilage III, S. 235 ff., 238. 15 Vgl. Otto von Gierke: Labands Staatsrecht und die Rechtswissenschaft, s. 95, 96. 16 Vgl. auch Wolzendorff, S. 400 ff., 436 ff. zu Autoren wie Condorcet, Grävell, die die Konfliktproblematik institutionell (höchste Gerichte etc.) restlos bewältigen zu können meinen.

10 K ö hle r

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Kapitel9: Schluß

reflektiert somit eine Tendenz in der neuzeitlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte, die sich darstellt als Verfeinerung und Ausweitung relativ "friedlicher Konfliktbewältigung" angesichts wachsender Kollisionsmöglichkeiten (Friedensbewegung, moderner Staat). Dem entsprechen die hier begegneten begrifflichen Entgegensetzungen wie: Naturzustand - Rechtsvertragszustand, Gewalt - Weg Rechtens, Fehde- Gericht. Im konstitutionellen Positivismus sind nun zwar diese Elemente gleichfalls anwesend. Die Souveränitätspositionen der Vergangenheit (sittliches Recht zum Widerstand, Ungehorsam, einseitiges Zwangsrecht des Monarchen) erscheinen nur noch als inkonsequente Relikte des noch nicht ganz befriedeten Verfassungskampfes; wesentlich wird das Konfliktverhältnis schon als insgesamt außerrechtliches Faktum begriffen. Aber dieses Ergebnis versteht sich nicht als allgemeine Folgerung aus dem Vertragstheorem, sondern bleibt verkürzt auf den Zeitkonflikt. Darin liegt die Relativität dieses Ansatzes. Insofern der konstitutionelle Positivismus einen bestimmten historischen Frieden absolut setzt, hat er die Neigung, nicht einbegriffenen historischen Bestimmtheiten auf neuer Konfliktebene selbst eine absolutistische Rechtsbehauptung entgegenzusetzen. Das Friedenssystem wird dann wieder zum Zwangssystem einer historischen Subjektivität. Der konstitutionelle Positivismus unterliegt hierin derselben absolutistischen Gefahr wie seine Zeugen: Volks- und Fürstensouveränität. Für den sozusagen "innerkonstitutionellen" Konflikt (Muster: Budgetstreit), dessen Friedensformel das konstitutionelle Staatsrecht ist, dem Ansatz nach neutral, wendet es sich mit naturrechtlichem Geltungsanspruch gegen Wirklichkeiten, die als historisch neue erscheinen. Daraus resultiert dann die anfangs konstatierte Zweideutigkeit: Das Widerstandsverbot verstanden als Vorrecht, als Souveränitätsanspruch des konstitutionellen Staates einerseits, andererseits aber das Widerstandsverbot im Sinne einer gänzlichen Konfliktverweisung, einer Verneinung jeglichen Souveränitätsanspruchs ("das Staatsrecht hört hier auf"). Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Antworten beziehen sich also auf zwei verschiedene Konfliktebenen und gewinnen daraus ihre Logik.

III. Die neue Konfliktebene in der zweiten Jahrhunderthälfte Gerade in der Widerstandsfrage zeigt sich die Relativität des Friedens nach 1848. Die Staatssouveränität - Friedensformel der bishe:::- kämpfenden Parteien - richtet sich als neue Kampfformel gegen einen neuen Gegner. Das deutete sich schon bei frühkonstitutionellen Autoren in ihren Parteidifferenzierungen an. Es klärt sich vollends im Verlauf

III. Die neue Konfliktebene

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der Märzrevolution17 • Die Frontenverschiebung kennzeichnet vielleicht am besten Johann Caspar Bluntschlis Wort über die nun endgültig durchgesetzte Repräsentativverfassung: "Ihre Gegner wurden sogar zuletzt genötigt, in ihr den einzigen Ausweg aus dem Wechsel der Gefahr der Anarchie und Despotie zu erkennen18." Für die Widerstands- und Revolutionsproblematik wirkt sich das dahin aus, daß, soweit das Recht zur Revolution im demokratischen Sinne bzw. zur Verwirklichung "sozialer" Forderungen überhaupt problematisiert wird, es der Ablehnung gewiß ist. In einer Gelegenheitsschrift des Staatsrechtiers Heinrich Zöpfl auf der Höhe der Märzrevolution mit dem sehr bezeichnenden Titel "Constitutionelle Monarchie und Volkssouveränität" findet sich zum Revolutionsproblem folgende Unterscheidung: "Die Anwendung von Gewalt zur Bewirkung eines neuen Verfassungszustandes läßt sich vom allgemeinen Standpunkte aus nur rechtfertigen unter der Voraussetzung, daß eben ein Einzelner oder eine Minorität selbst durch Gewaltherrschaft den allgemeinen Geist, den Willen der Majorität unterdrückt: Durchaus verwerflich und Verbrechen aber ist sie da, wo bereits eine Verfassung bestehet, welche eine legislative Repräsentation des Volkes auf den Willen der Majorität bereits begründet hat ...19 ." Die Wahrung des konstitutionellen Königtums wird wenige Seiten später geradezu als notwendiger Schutz gegenüber demokratischer Anarchie und Entmachtung des Bürgertums selbst bezeichnet20 • In dieser Differenzierung kommt er weithin mit dem konservativen Konstitutionalismus Friedrich Julius Stahls überein, der die liberalen Märzrevolutionäre vor einer Inanspruchnahme des Revolutionsrechts durch andere Gruppen warnt21 • Dem entspricht es, wenn die Wendung gegen Rousseau und seine demokratische Interpretation - bei gemäßigten Liberalen vor 1848 von Klüber und Aretin bis zu von Mohl schon im Ansatz vorhanden - in den Staatsrechtswerken und Staatslehren nach 1848 zum durchgängigen Stereotyp wird. Sc.lJ.ließlich kann als 17 Vgl. Stadelmann: Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, S. 205 ff. Die Voraussetzungen für den neuen Konflikt wurzeln schon in der Sozialstruktur, wie sie sich im Vormärz ausbildet; vgl. für Preußen Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 606 ff. 18 Vgl. Bluntschli: Art. Repräsentativverfassung, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 8 (1864), S. 586 ff., 592. 19 Zöp fl, S. 19. 20 Vgl. S. 26 ff. In derselben Richtung noch ausgeprägter Zöpfls Schrift aus dem Jahre 1853: Die Demokratie in Deutschland, S. 21 ff., 44 ff., 99 ff.: mit 1848 hält er das Optimum für erreicht; ein Mehr an Demokratie führe zur Anarchie. 21 Vgl. Stahl: Betrachtungen über die Revolution, in: Die Revolution und die konstitutionelle Monarchie, S. 6: "Hat man einmal den Strassenkampf als Verdienst und Ruhm verkündet, warum sollte er sich nicht bei jeder künftigen Gelegenheit wiederholen? Diesmal w a r es für den Sturz des alten Systems, ein andermal ist es für das allgemeine Stimmrecht, für die Republik, für die Güter=Gemeinschaft." 10*

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Kapitel9: Schluß

Indiz gelten, daß die neue Ebene des Konfliktes, wenn sie in der konstitutionellen Staatstheorie überhaupt erscheint, nicht als Rechtsproblem, sondern eben als "soziale" Frage, als "politisches" Problem usw. erscheint. Der Absolutsetzung des konstitutionellen Staates entgeht in gewisser Weise ein Altliberaler wie Robert von MohZ. Zwar ist auch ihm die Legitimität des "modernen" und d. h.: konstitutionell-monarchischen Staates gewiß, doch nicht in derselben entschieden selbstverständlichen Weise, wie das etwa bei den Staatsrechtlern Heinrich Zöpfi, Heinrich Albert Zachariä, Friedrich von Gerber der Fall ist. In seinem Aufsatz zur Arbeiterfrage, der sich eindringlich mit der brennenden Problematik befaßt, postuliert Mahl ein Recht zum kollektiven Arbeitskampf. Diese Waffe sei zwar eine zweischneidige, der Staat habe aber, so bestreitet Mohl den konstitutionellen Absolutismus, kein Recht (!), sie den Arbeitern zu entziehen~. In seinem späten, freilich stärker der Räson des neuen Reiches verpflichteten Buch "Das deutsche Reichsstaatsrecht" findet sich neben einer klaren Ablehnung der sozialistischen Opposition23 doch die Forderung nach Beseitigung von Mißständen: "Erst dann hat man das Recht, rohem und unbekehrbarem Wahnsinne eine stählerne Schranke zu setzen24 ." Die Wendung der neuen konstitutionellen Staatssouveränität gegen die neue Konfliktpartei und die daraus erklärliche, zunächst unklare Doppelantwort der positivistischen Doktrin zum Problem des politischen Konfliktes ließe sich wohl noch besser kontrastieren, stellte man ihr die Revolutionsrechtslehren radikaldemokratischer bzw. sozialistischer Theoretiker gegenüber. Das soll hier nur beispielsweise geschehen. Die neue Inhaltlichkeit macht sich im Anspruch auf einen neuen Vertrag, auf neue Verfaßtheit geltend und verbindet damit, wie früher die konstitutionell-revolutionäre Widerstandslehre, den Anspruch notfalls gewaltsamer Durchsetzung. Die alte Doktrin wechselt wesentlich nur die inhaltliche Konfliktebene. Sehr klar wird dieser Zusammenhang an der Schrift eines 48er-Demokraten, die hier zum Schluß kurz betrachtet werden soll: Dem 1847 erschienenen "System der sozialen Politik" von Julius Fröbel, der nach der Niederlage des Radikalismus zunächst wie viele seiner Gesinnungsgenossen ins Exil ging, später aber zurückkehrte und sich den Realitäten anpaßte25 • Ausgehend von der 22 Vgl. Moht: Die Arbeiterfrage, in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 3, S. 571, 572. 23 Vgl. Moht: Das deutsche Reichsstaatsrecht, S. 80, 81 und 119 ff. 24 s. 120. 2s Vgl. Fröbets sehr gemäßigte, 1861 und 1864 nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Wien erschienene Schrift: Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, in der er sich im wesentlichen der konstitutionellen Doktrin anschließt.

III. Die neue Konfliktebene

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Setzung eines sogenannten Urrechtes als eines angeborenen, natürlichen, unveräußerlichen Menschenrechtes26, das wesentlich in der Gleichheit im Rechte bestehen soll und sich damit eindeutig gegen die privatrechtlich-soziale Schichtung der bürgerlichen Gesellschaft wendet27 , entwickelt Fröbel seine Konsequenzen für ein neues Verfassungsverhältnis. Da zur Verwirklichung des Urrechtes alle Rechtsungleichheiten beseitigt werden müssen, bedarf es einer Umgestaltung des öffentlichen Rechts und des Privatrechts. Dabei kommt jenem der Vorrang zu, weil von ihm aus sich das Privatrecht "bis zur gänzlichen Absorption" reformieren läßt28 • Hinsichtlich der Gestaltung des Staates kann es für Fröbel nur einen traditionellen Anknüpfungspunkt geben: Die Theorie Rousseaus, freilich in radikaldemokratischer Interpretation29 • Die Staatsverfassung (Staatsvertrag) der im Urrecht völlig Gleichen ist notwendig und "unter allen Umständen das Product der Einstimmigkeit, weil sie für die nicht Beistimmenden gar nicht den Charakter einer solchen hat, sondern nur die Methodik des Verfahrens ihrer Zwingherren ist" 30• Für die nicht "Beistimmenden", für die nicht Stimmberechtigten ist Staatsverfassung also allemal nur ein Gewaltverhältnis, nichts rechtliches31 • Das richtet sich eindeutig gegen den bürgerlichmonarchischen Staat, dessen neuständisches Repräsentativprinzip folgerichtig herber, auch hier auf Rousseau beruhender Kritik verfällt: "Das Volk ist für diese scharfsinnigen Politiker immer zur Freiheit bestimmt, und niemals zur Freiheit reif. Es ist der Besitzer der Souveränität, aber niemals darf es selbst diese ausüben ... Das englische Parlament hat einen Theil der Bevölkerung des vereinigten Königreiches ins Elend, hat die Irländer fast zu Tode repräsentiert32 ." Schließlich folgt aus der Unbedingtheit des Urrechtes und seiner institutionellen Folgerungen notwendig, daß es sich, schlägt der friedliche Weg der Reform fehl, gewaltsam-revolutionär zur Geltung bringen darf: "Die Revolution hat Recht, die Reaction hat Unrecht; die Revolution ist rechtmäßig, die Reaction ist unrechtmäßig; denn Revolution ist der Fortschritt der Rechtsgleichheit im Rechtsbewußtsein und in der Rechtsgiltigkeit, Reaction ist der Widerstand dagegen und der Rückschritt zur Ungleichheit ... Den liberalen Legalitätsmännern, welche an dieser Lehre von der Revolution Anstoß nehmen, können wir nicht verargen, daß sie wie der Ochs am Berge - da stillstehen wo das Ende ihrer Philosophie ist; und es ist auch natürlich, daß sie dieses Ende für das Ende der Vgl. Fröbel: System der sozialen Politik, Bd. 1, S. 93. s. 108 ff. 28 s. 109. 29 Fröbel, Bd. 2, S. 80 ff. 30 s. 81. 31 s. 10 ff. 32 Vgl. Fröbel, S. 142 ff., 144, 145. Zu Fröbels Kritik am Repräsentativprinzip vgl. Brandt: Landständische Repräsentation, S. 273 ff. 26 27

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Kapitel9: Schluß

Welt halten, denn ,wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, stellt es sich gleich das Ende vor'. Aber die Welt hat kein Ende33." Auch hier also kehrt, wenngleich mit anderem Inhalt, der alte, willkürlich gesetzte Absolutheitsanspruch wieder. Da die fortwährende Möglichkeit der Kollision menschlicher Zwecke als unabänderlich vorausgesetzt werden muß, wird es offenbar auch kein Ende der Konfliktideologien geben. Ob Fürstenabsolutismus, bürgerlich-revolutionäre Widerstandslehre (Volkssouveränität), konstitutioneller Positivismus (Staatssouveränität) oder demokratische Revolutionsrechtsdoktrin: Immer werden, in dichtem Bezug zu Inhalt und Stadium eines historischen Konfliktes, die Parteien je über die Form ihrer Friedensvorstellung hinaus diese als transzendental notwendig zu erweisen und ihre gewaltsame Realisierung, sei es auch bis zur Vernichtung anderer historischer Individualität, zu legitimieren suchen. In diesem Sinne als historisches Faktum - ist "die" Widerstandslehre, mag sie ihre Termini mit der Identität der historischen Kollision auch jeweils ändern, alles andere als erledigt.

33

Fröbel , B d. 1, S. 109 ff., 110, 111, 112.

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