Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung: Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428497720, 9783428097722

Die Entwicklung des Chausseebaus im späten 18. sowie im 19. Jahrhundert ist von den deutschen Wirtschaftshistorikern bis

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German Pages 586 Year 2000

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Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung: Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428497720, 9783428097722

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UWE MÜLLER

Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 57

Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts

Von

Uwe Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Uwe: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung : der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts / von Uwe Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 57) Zugl.: Berlin, Humboldt-Uni v., Diss., 1997 ISBN 3-428-09772-6

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-09772-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit beruht auf meiner 1997 an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten und verteidigten Promotionsschrift. Die ursprüngliche Fassung wurde nach Absprache mit den Gutachtern im ersten und zweiten Kapitel gekürzt (jetzt Abschnitt A). Beiden Gutachtern, also meinem Doktorvater Prof. Dr. Lothar Baar von der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Herrn Prof. Drs. Dr. h.c. Wolfram Fischer von der Freien Universität Berlin, gilt mein besonderer Dank für die wohlwollend-kritische Begleitung meines Vorhabens. Ihrer reichhaltigen akademischen Erfahrung verdanke ich nicht nur inhaltliche Hinweise, sondern auch so manchen praktischen Rat. Vor allem wiesen sie mich auf den Zeitpunkt hin, an dem trotz mancher offen gebliebener Frage ein Ergebnis vorgelegt werden mußte. Prof. Fischer war außerdem so freundlich, das Buch in die von ihm herausgegebene Reihe „Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte" aufzunehmen. Dank schulde ich auch den Freunden und Kollegen, die Teile des Manuskripts oder sogar den gesamten Text gelesen und mich durch ihre ergänzenden Hinweise, kritischen Bemerkungen oder auch nur durch einfaches Nachfragen unterstützt haben. Hier wäre vor allem Dr. Frank Zschaler zu nennen, aber auch Dr. Rita Gudermann, Dr. Rainer Karisch, Prof. Dr. Hubert Kiesewetter und Dr. Bernd Schilfert haben zum Gelingen beigetragen. Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei Herrn Prof. Dr. Werner Deich bedanken, der meine Beschäftigung mit der Rolle der Infrastruktur in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen des 19. Jahrhunderts ursprünglich angeregt hat. Im Laufe der Jahre habe ich Teile meiner Forschungsergebnisse im Kollegenkreis an der Universität Leipzig und der Humboldt-Universität zu Berlin, bei Vorträgen an der Freien Universität Berlin, der Katholischen Universität Eichstätt, der Rijksuniversiteit Groningen, der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg und der Universität Wien sowie - last but not least - in meinen Lehrveranstaltungen an der hiesigen Fakultät vorgestellt. Die vielen Diskutanten können hier nicht namentlich aufgeführt werden, sollen aber gleichwohl nicht unerwähnt bleiben. Für die praktische Hilfe, die mir etwa Herr Prof. Dr. Gerhard Schildt von der Technischen Universität Braunschweig während meiner Studien in Wolfenbüttel, aber auch zahlreiche Mitarbeiter des dortigen Niedersächsischen Staatsarchivs, des Landeshauptarchivs von Sachsen-Anhalt in Magdeburg und des Geheimen Preußischen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem

6

Vorwort

sowie schließlich Frau Frank vom Verlag Duncker & Humblot angedeihen ließen, möchte ich mich ebenfalls bedanken. Die Publikation der Dissertation wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit einem Druckkostenzuschuß unterstützt. Ich möchte an dieser Stelle einige kurze Bemerkungen zum Aufbau der Arbeit vorausschicken, um dem Leser die Benutzung zu erleichtern. Größere Tabellen, die „Urdaten" enthalten und auf deren Inhalt mehrfach Bezug genommen wird, wurden in einem Anhang am Ende des Buches zusammengestellt. Tabellen und Grafiken, die die Argumentation unmittelbar unterstützen, befinden sich hingegen innerhalb des Textes. Das erste Kapitel stellt eine etwas umfangreichere Einleitung dar, in der auf das Erkenntnisinteresse und die theoretischen Ausgangspunkte eingegangen wird. Es ist daher logisch, daß die innere Gliederung der Studie erst am Ende dieses Kapitels vorgestellt werden kann. Durch die Nutzung der Fußnoten für Querverweise und die Erstellung eines Personen-, Orts- und Sachregisters konnten hoffentlich die unvermeidbaren Probleme bei der Darstellung komplexer Zusammenhänge in einem eindimensionalen Text verringert werden. Schließlich habe ich natürlich meiner Frau Sybille zu danken, die das Projekt mit viel Geduld begleitet, und mich gerade während der Phasen mangelnden Fortschritts unterstützt hat. Ihr sowie meinen Töchtern Katharina und Sylvia ist dieses Buch gewidmet.

Berlin, im Juli 1999

Uwe Müller

Inhaltsverzeichnis

Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

17

I. Die Gründe für die Auswahl des Forschungsgegenstandes sowie die regionale und zeitliche Eingrenzung der Untersuchung II. Die Rolle des Staates in der Industrialisierung

19 24

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung

29

1. Die historische Entwicklung der Infrastrukturtheorie

30

2. Die Operationalisierbarkeit des Infrastrukturbegriffs für die historische Forschung 3. Die Merkmale der Infrastruktur

32 36

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung und Modernisierung der Infrastrukturpolitik V. Untersuchungsschwerpunkte und Chronologie der Darstellung

38 46

B. Entwicklung von Agrarkapitalismus sowie beginnende Industrialisierung in der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig

47

I. Institutionelle Rahmenbedingungen

48

II. Die Herausbildung einer kapitalistischen Landwirtschaft in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig

58

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung

63

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

72

1. Bergbau und Hüttenindustrie

72

2. Textilgewerbe

75

3. Nahrungs- und Genußmittelindustrie

77

4. Maschinenbau

78

Inhaltsverzeichnis

8 5. Handel und Verkehr

V. Die demographische Entwicklung

C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815 I. Veränderungen der Landstraßenfunktion im 18. Jahrhundert

79 84

93 95

II. Die Entwicklung der Chausseebautechnik und ihre ersten Anwendungen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation

101

III. Die Wirkung der territorialen Zersplitterung auf den beginnenden Chausseebau

111

IV. Die Regelung der Straßenbau- und -unterhaltungspflicht als Hauptbestandteil des Wegerechts

121

V. Der Aufbau von Wegeverwaltungen und die Entwicklung der Wegegesetzgebung in Kursachsen, Braunschweig und Preußen

124

VI. Die Gemeinwirtschaftlichkeit der Chausseen aus der Sicht der Gemeinen VII. Technische und finanzielle Probleme des beginnenden Chausseebaus

133 136

D. Die Entwicklung des provinzialsächsischen und des braunschweigischen Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts

142

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

142

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen von ihrer Gründung bis zur Überführung der Staatschausseen in die provinzielle Selbstverwaltung (1815-1876)

152

1. Die Chausseen als Fernhandelsträger und Mittel der preußischen Zollpolitik

152

2. Die Chausseenetzentwicklung unter dem Einfluß von Eisenbahnbau und beginnender Industrialisierung

166

3. Der Entwicklungsstand der Verkehrsinfrastruktur der preußischen Provinz Sachsen im Jahre 1862

175

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig von 1815 bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts

179

1. Das im Jahre 1815 vorhandene Chausseenetz und sein Ausbau bis in die dreißiger Jahre

179

Inhaltsverzeichnis 2. Die Verdichtung des Staatschausseenetzes in den dreißiger und vierziger Jahren

189

3. Der braunschweigische Staatschausseebau unter dem Einfluß des Eisenbahnbaus

191

4. Die Chaussierung der Kommunikationswege im Herzogtum Braunschweig

E. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

194

199

I. Das Verhältnis von allgemeiner Wirtschaftspolitik, Infrastrukturpolitik und Straßenbaupolitik

199

II. Die Modernisierung infrastrukturpolitischer Ziele

207

III. Das Verhältnis zwischen fiskalischen und gemeinnützigen Motiven .

210

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik

212

V. Straßenbau als Mittel zur Verbesserung der Bevölkerungsversorgung .

221

VI. Straßenbau als Mittel der Wirtschaftsförderung

223

VII. Straßenbau als Instrument regionaler Strukturpolitik

228

VIII. Die Bedeutung militärischer Motive für die Straßenbaupolitik

233

IX. Grundtendenzen des Motivwandels in der Straßenbaupolitik

237

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen: Der Bau von Chausseen durch Gebietskörperschaften und Privatunternehmen

239

I. Die Trägerstruktur beeinflussende Faktoren

240

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Sachsen

243

III. Der Kreischausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

263

IV. Der Gemeindechausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

270

V. Die Stärkung der Selbstverwaltung in den siebziger Jahren und ihre Auswirkungen auf die Trägerschaft im Straßenwesen

272

VI. Die Übernahme der Kommunikationswege durch die braunschweigischen Kreiskommunalverbände im Jahre 1871

275

10

Inhaltsverzeichnis

G. Der Staat als Gesetzgeber. Die Entwicklung des Wege- und Chausseerechts

278

I. Die Zersplitterung der Rechtsordnungen als Modernisierungshemmnis. Das Problem der fiskalischen Straßen in der preußischen Provinz Sachsen

279

II. Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen

282

1. Die Diskussion um eine gesamtpreußische Wegeordnung

282

2. Die Diskussion um eine Wegeordnung für die Provinz Sachsen ....

287

3. Die Wegegesetzgebung im Herzogtum Braunschweig

288

4. Die Bedeutung der Wegegesetzgebung für den Chausseebau

289

III. Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen

290

IV. Die Bau- und Unterhaltungspflichten der Adjazenten

298

1. Die Unterhaltung der Gemeindewege und die Lastenverteilung innerhalb der Gemeinden

298

2. Die Beiträge der Anlieger zur Unterhaltung der fiskalischen Landstraßen sowie zum Bau und zur Unterhaltung der Staatschausseen in der preußischen Provinz Sachsen 3. Die Beiträge der Anlieger im Herzogtum Braunschweig

299 306

V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken und die Bereitstellung von Straßenbaumaterial

309

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften für die Entwicklung des Straßennetzes

316

1. Die Entwicklung der Straßenbautechnik

318

2. Technische Vorschriften über die Herstellung und Unterhaltung der Chausseen

320

3. Vorschriften über die Beschaffenheit der Straßenfahrzeuge

323

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung I. Die Entwicklung der horizontalen Verwaltungsstruktur

327 328

1. Die Zentralbehörden in Preußen

328

2. Die Zentralbehörden im Herzogtum Braunschweig

331

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung 1. Die Kompetenzverteilung in der preußischen Straßenbauverwaltung

333 336

Inhaltsverzeichnis 2. Die vertikale Verwaltungsstruktur im Herzogtum Braunschweig ...

340

III. Die Tätigkeit der Wegeverwaltungen

343

IV. Bemühungen um die Senkung des Verwaltungsaufwandes

346

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung .... I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

351 352

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau- und -Unterhaltung

364

1. Die Ausgaben für Straßenbau, Straßenunterhaltung und Subventionierung von Nichtstaatschausseen in Preußen

365

a) Die Finanzierung der Staatschausseeneubauten in Preußen

367

b) Die Entwicklung der Ausgaben für die Unterhaltung der preußischen Staatschausseen

371

c) Die Entwicklung der Staatsausgaben fur die Subventionierung der preußischen Nichtstaatschausseen

375

2. Die Ausgaben für Straßenbau, Straßenunterhaltung und Subventionierung von Nichtstaatschausseen in der preußischen Provinz Sachsen

377

3. Die Ausgaben für Straßenbau und Straßenunterhaltung im Herzogtum Braunschweig

380

4. Die Ausgaben für das Straßenwesen im Rahmen der Gesamthaushalte III. Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus

383 389

1. Finanzierungsquellen des Kreischausseebaus in der preußischen Provinz Sachsen 2. Die Straßenbaufinanzierung in den braunschweigischen Kreiskommunalverbänden IV. Die Chausseegelderhebung

389

396 399

1. Chausseegelder zwischen Wegezoll und Nutzungsgebühr

399

2. Chausseegeldtarife und Befreiungen von der Gebührenpflicht

401

3. Die Entwicklung der Chausseegeldeinnahmen im Königreich Preußen, der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig 4. Die Einstellung der Chausseegelderhebung in Preußen und Braunschweig in den siebziger Jahren

406

412

12

Inhaltsverzeichnis

J. Wechselwirkungen zwischen Straßenverkehrsinfrastruktur und regionaler Wirtschaftsentwicklung

417

I. Volks- und regionalwirtschaftliche Effekte von Straßenbauinvestitionen

419

1. Kopplungseffekte

419

2. Marktintegration

421

3. Regionale Konvergenz und Divergenz

422

4. Weitere Effekte

424

II. Die Messung wirtschaftlicher Effekte des Infrastrukturausbaus

425

1. Das Kausalitätsproblem. Verkehrsinfrastrukturinvestitionen als Vorleistung für und Reaktion auf Wirtschaftswachstum 2. Die Indikatorenwahl

425 428

III. Korrelationen zwischen Verkehrsnetzdichten sowie Industrialisierungsgrad und Bevölkerungsentwicklung IV. Schlußfolgerungen fur weitere quantitative Untersuchungen

431 436

K. Resümee

439

Tabellenanhang

451

Quellen- und Literaturverzeichnis

505

Personenregister

548

Ortsregister

551

Sachregister

561

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen im Text Vorbemerkung: In den Tabellen des Anhangs werden aus den unterschiedlichen Quellen erhobene Daten sowie die daraus berechneten Maßzahlen über Netzdichten, Bevölkerungsdichten und Wachstumsraten präsentiert. Dabei handelt es sich um das die Studie tragende Datenmaterial, auf das im Text mehrfach Bezug genommen wird. Die in den Text integrierten Abbildungen und Tabellen stehen dagegen in unmittelbarem Zusammenhang mit den jeweiligen Ausführungen oder enthalten ergänzende quantitative Informationen.

1. Verzeichnis der Tabellen

1. Dampfmaschinen und Zuckerfabriken in den Kreisen der preußischen Provinz Sachsen im Jahre 1849

67

2. Dampfmaschinen und Zuckerfabriken in den provinzialsächsischen Regierungsbezirken 1846-1858

68

3. Dichte des Eisenbahnnetzes im Herzogtum Braunschweig und in den provinzialsächsischen Regierungsbezirken im Jahre 1862

69

4. Anteil der Einwohner der Amtsgerichtsbezirke an der Gesamtbevölkerung der braunschweigischen Kreise 1831-1867

92

5. Durchschnittliches jährliches Wachstum des Staatschausseebestandes in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1875

164

6. Dichte des Staatschausseenetzes in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1875

165

7. Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der preußischen Provinz Sachsen bis

1862

167

8. Anteil der Nichtstaatschausseen am gesamten Chausseenetz in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1874 9. Im Jahre 1862 im Herzogtum Braunschweig vorhandene Eisenbahnlinien ..

174 192

10. Länge, Dichte und Qualität des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes der beiden Hauptteile des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1850

195

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

14

11. Länge, Dichte und Qualität des Gemeindewegenetzes der beiden Hauptteile des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1871

197

12. Kostenvoranschlag für den Bau einer Anschlußstraße zwischen Förderstedt und der Magdeburg-Leipziger Chaussee aus dem Jahre 1852 13. Durchschnittliche

Kosten

für

die

Unterhaltung

der

358

preußischen

Staatschausseen 1835-1845

362

14. Straßenbau- und -unterhaltungsausgaben in Preußen von 1835 bis 1844 nach den veröffentlichten Finanz-Etats

365

15. Ordentliche Staatsausgaben im Königreich Preußen für Unterhaltung und Neubau der Staatschausseen sowie für Zuschüsse 1816-1845 16. Tatsächliche Neubauausgaben für den preußischen Staatschausseebau aus den Etats des preußischen Handels- bzw. Finanzministeriums 1816-1846 .

366

369

17. Ordentliche Ausgaben für Staatschausseeneubauten in Preußen zwischen 1837 und 1848 sowie zwischen 1853 und 1873

370

18. Außerordentliche Ausgaben für den Chaussee- und Wegebau in Preußen 1842-1845

371

19. Ausgaben für die materielle Unterhaltung und außerordentliche Instandsetzungen der Staatschausseen in Preußen von 1835 bis 1848

372

20. Ausgaben für die materielle Unterhaltung und außerordentliche Instandsetzungen der Staatschausseen in Preußen von 1849 bis 1866

374

21. Staatliche Subventionen für die „Prämienchausseen" in Preußen 18431873

375

22. Prämienzahlungen für Nichtstaatschausseen in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1853-1873

379

23. Jährliche Ausgaben für den Neubau von Staatschausseen in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1853-1873

379

24. Ausgaben für Chausseeneubau, Instandsetzung und Unterhaltung der Staatschausseen im Herzogtum Braunschweig 1816-1833

381

25. Der Stellenwert der Ausgaben fur Wege-, Brücken- und Wasserbau im Staatshaushalt des Herzogtums Braunschweig 1833-1872 26. Ausgaben der Kreiskommunalwegebaukassen

382

im Herzogtum Braun-

schweig 1872-1886

382

27. Wachstum der Staatsausgaben und Bevölkerungsentwicklung im Herzogtum Braunschweig 1831-1871

3 84

28. Struktur der Staatseinnahmen des Herzogtums Braunschweig 1814-1872 .

385

29. Struktur der Staatseinnahmen im Königreich Preußen 1821-1867

388

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 30. Finanzierungsquellen für den Bau von Kreischausseen in der preußischen Provinz Sachsen in den fünfziger Jahren

392

31. Einnahmen der Kreiskommunalwegebaukassen im Herzogtum Braunschweig 1872-1886

397

32. Chausseegeldeinnahmen im Königreich Preußen 1829-1874

407

33. Chausseegeldeinnahmen auf den Staatschausseen in der Provinz Sachsen 1837-1870

408

34. Chausseegeldeinnahmen im Herzogtum Braunschweig 1833-1871

409

35. Bedeutung der Chausseegeldeinnahmen für die Staatshaushalte in Preußen und Braunschweig 1829-1867

410

36. Das Verhältnis von Chausseegeldeinnahmen und Unterhaltungsausgaben im Königreich Preußen 1837-1866

411

37. Anteil der verpachteten Chausseegeldhebestellen an den Chausseegeldeinnahmen in der Provinz Sachsen 1843-1870

413

38. Unternehmen in der preußischen Provinz Sachsen mit mehr als 50 Beschäftigten im Jahre 1858

432

2. Verzeichnis der Abbildungen 1. Allgemeines und städtisches Bevölkerungswachstum in der Provinz Sachsen (1816-1885)

86

2. Anteile der Nichtstaatschausseen am jeweiligen gesamten Chausseebestand in acht preußischen Provinzen in den Jahren 1846, 1852 und 1862

247

3. Durchschnittliches jährliches Wachstum der Staatschausseenetzdichte in den preußischen Provinzen 1816-1862

249

4. Jährliche Ausgaben des preußischen Staats für Neubau, Unterhaltung und Subventionierung des Nichtstaatschausseebaus

376

5. Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad (1858) und Chausseenetzdichte (1862) in 39 Landkreisen der preußischen Provinz Sachsen

433

6. Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad (1858) und Verkehrsnetzdichte (1862) in 14 Landkreisen des preußischen Regierungsbezirks Magdeburg 7. Zusammenhang zwischen

434 Industrialisierungsgrad

(1858)

und

Nicht-

staatschausseenetzdichte (1862) in 9 Landkreisen des preußischen Regierungsbezirks Erfurt

435

8. Zusammenhang zwischen dem Bevölkerungswachstum zwischen 1867 und 1885 und der Chausseenetzdichte (1862) in 39 Landkreisen der preußischen Provinz Sachsen

436

Abkürzungsverzeichnis

Β

Bundesstraße

fl.

Florinen

Fsm.

Fürstentum

ggr.

Gütergroschen oder gute Groschen

GS

Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten

GStA PK Berlin

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin

Hztm.

Herzogtum

Kgr.

Königreich

KO

Kabinets-Ordre

LHA SA ASt. Oranien-

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Außenstelle Ora-

baum

nienbaum

LHA SA Magdeburg

Landeshauptarchiv Sachsen - Anhalt Magdeburg

Nds STA Wolfenbüttel

Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel

pCh Nr.

preußische Staatschaussee, Nr. (nach dem Verzeichnis von 1840)

Pf.

Pfennig

r

Pearsonscher Korrelationskoeffizient

Rthlr.

Reichsthaler

Sgr.

Silbergroschen

Thlr.

Taler

tkm

Tonnenkilometer

Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte Diese Studie untersucht einen bei den Forschungen über die Entstehung der Industriegesellschaft in Deutschland bislang wenig berücksichtigten Aspekt. Dabei werden weder revolutionäre Umbrüche und politische Machtveränderungen noch die im allgemeinen als elementar angesehenen Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen im Mittelpunkt stehen. Es geht vielmehr um im Vergleich dazu langsame und unspektakuläre, aber im Maßstab der gesamthistorischen Entwicklung sehr rasche und vor allem prinzipielle Veränderungen im ökonomischen und sozialen System: um die Herausbildung der modernen Infrastruktur. Die Bedeutung dieses Prozesses erschließt sich nur unzureichend aus der Rezeption historischer Gesamtdarstellungen. Viele Bereiche, die heute zur Infrastruktur gerechnet werden und somit Basisfunktionen der Gesellschaft erfüllen, erschienen zunächst nur als marginale Begleiterscheinungen des Industrialismus. Sie entwickelten jedoch in der Folgezeit oft eine so starke Eigendynamik, daß sie ihrerseits auf die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft entscheidenden Einfluß nahmen. Heute wird die Bedeutung verschiedener Infrastrukturen für die Funktionstüchtigkeit einer marktwirtschaftlich, demokratisch, sozial und rechtsstaatlich orientierten Gesellschaft besonders durch die Wahrnehmung ihrer Defizite, etwa beim Vergleich zwischen der „westlichen" und der „dritten Welt", deutlich. Auch die erst am Beginn stehende Vernetzung der Erde zum Transport digitalisierter Informationen sollte uns zu einem Blick in die Historie bewegen, denn man kann offensichtlich „die Bedeutung eines Infrastrukturwandeis ... letztlich erst erfassen, wenn er weitgehend vollzogen ist." 1 Insofern veranlassen uns auch aktuelle Probleme, die Wertigkeit einzelner Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts neu zu bestimmen. Dafür bieten eine gesellschaftsgeschichtliche Betrachtungsweise und der damit verbundene strukturgeschichtliche Ansatz die besten methodischen Voraussetzungen. Geschichtsforschung wird dabei als historische Sozialwissenschaft verstanden, so daß ganz bewußt Erkenntnisse systematischer Nachbarwissenschaften, in diesem Falle vor allem der wirtschaftswissenschaftlichen Infrastrukturtheorie, genutzt werden. 1

Infrastruktur ist die Erfindung, in: Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, 28. Jg., Nr. 10, 4. März 1998. 2 Uwe Müller

18 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Bei einem derartigen Herangehen wird die Herausbildung der modernen Industriegesellschaft durch die Ermittlung von Strukturveränderungen, in deren Ergebnis Systeme mit neuen Ordnungsprinzipien entstanden sind, untersucht. Es geht dabei um den Nachweis sich entstabilisierender, dann in einen chaotischen und schließlich in einen durch eine neue Symmetrie gekennzeichneten, stabilen Zustand übergehender Strukturen. 2 Ein solches Verfahren beruht auf zwei methodischen Grundprinzipien. Die Strukturveränderungen müssen zunächst gemessen werden. Die Ergebnisse der Messungen fließen anschließend in zeitliche und regionale Vergleiche ein. Die Messungen werden durch die Nutzung von Theorien und Methoden der Sozial-, speziell der Wirtschaftswissenschaften erleichtert. 3 Aus der industrialisierungstheoretischen Debatte erwachsen zudem Anregungen für die Strukturierung der Problemfelder. 4 Um die Praktikabilität historischer Forschung zu gewährleisten, werden einzelne Systeme innerhalb der Gesellschaft abgegrenzt und unter Nutzung von „Theorien mittlerer Reichweite" relativ isoliert betrachtet.5 In der vorliegenden Studie stellt die Straßenverkehrsinfrastruktur das Objekt dar, das unter Zuhilfenahme der Infrastrukturtheorie und des Konzeptes der regionalen Industrialisierung untersucht wird. 6 Gerade „eine umfassende Geschichte des menschlichen Verkehrs im Sinne einer Raumüberwindung von Personen, Gütern und Nachrichten ist... eine allmählich ablaufende Strukturgeschichte und läßt sich nicht 2 Vgl. I. Prigogine / I. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, 5. Aufl., München 1986, S. 176 ff. 3 Umgekehrt stellt die Historizität ein wesentliches Kriterium für die Bestimmung des Geltungsbereiches einer Theorie systematischer Wissenschaften dar. Zu Fragen der Wissenschaftstheorie sowie zur Forschungsstrategie der Historischen Sozialforschung zusammenfassend: W.H. Schröder, Historische Sozialforschung: Forschungsstrategie Infrastruktur - Auswahlbibliographie, Köln 1988, S. 5 ff. Ausführlicher: D. Ruloff, Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft. Eine vergleichende Untersuchung zur Wissenschafts- und Forschungskonzeption in Historie und Politologie, München 1984. 4 Die Literatur zur Industrialisierungsgeschichte ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Ihre Aussagen zur Rolle von Straßenbau und Straßenbaupolitik im Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß werden hier nicht explizit, sondern im Rahmen der verschiedenen Einzelfragen dargelegt. 5 J. Kocka, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Begriffe, Tendenzen und Funktionen in West und Ost, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Geschichte und Soziologie, 2. Aufl., Königstein/Ts. 1984, S. 313 f. 6 Zur Infrastrukturtheorie Abschnitt A.III.. Zum Konzept der regionalen Industrialisierung grundlegend: S. Pollard, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten 2 Jahrhunderte, Göttingen 1980, S. 12 ff.; R.Fremdling/ T. Pierenkemper / R.H.Tilly, Regionale Differenzierung in Deutschland als Schwerpunkt wirtschaftshistorischer Forschung, in: R. Fremdling / R.H. Tilly (Hrsg.), Industrialisierung und Raum: Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 17 ff.

I. Auswahl des Forschungsgegenstandes

19

allein an einzelnen technischen Innovationen oder Personen festmachen." 7 Besonderes Gewicht wird auf die Straßenbaupolitik zu legen sein, denn schließlich war die Modernisierung der Infrastruktur und auch speziell des Straßennetzes im Vergleich mit den beinahe „naturgesetzlichen" Take-offs in den Führungssektoren der Industrialisierung stärker vom bewußten Handeln organisierter Individuen abhängig.

I. Die Gründe für die Auswahl des Forschungsgegenstandes sowie die regionale und zeitliche Eingrenzung der Untersuchung Die Auswahl des Untersuchungsobjektes, also des konkreten Infrastrukturbereiches erfolgte aus einer Vielzahl von Überlegungen heraus, die zum Teil erst aus der Beschäftigung mit der Infrastrukturtheorie und der Industrialisierungsgeschichte resultierten. Erläuterungen zur Themenwahl können daher an dieser Stelle nur thesenartig erfolgen. Die Straßen Verkehrsinfrastruktur 8 erfuhr mit dem Beginn des Chausseebaus eine wesentliche Qualitätsverbesserung. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war die durchschnittliche Zugkraft eines Tieres auf einer Steinstraße im Vergleich zu einer unbefestigten Landstraße drei- bis viermal größer. 9 Die Chaussierung ermöglichte aber nicht nur die Steigerung der Frachtwagenkapazität, sondern garantierte auch die ganzjährige Befahrbarkeit der Wege, während die herkömmlichen Landstraßen vor allem bei feuchter Witterung im Herbst und Frühjahr häufig nicht passierbar waren. Es wurden allerdings mehrere Jahrzehnte benötigt, bis die technischen Grundlagen und die Ausführung der Arbeiten ein Niveau erreichten, das dauerhaft eine derartige Leistungs7

H.-J. Teuteberg, Entwicklung, Methoden und Aufgaben der Verkehrsgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1994, T. I, S. 175. 8 Der etwas umständliche Begriff der Straßenverkehrsinfrastruktur wurde hier gewählt, um die Relevanz infrastrukturtheoretischer Ansätze zu verdeutlichen. „Verkehrsinfrastruktur" sollte auch immer dann „Verkehrsweg" vorgezogen werden, wenn außer dem unmittelbaren Weg auch andere Anlagen, wie Brücken, Kreuzungs- und Anschlußstellen, ortsfeste Signal-, Leit- und Sicherheitseinrichtungen ... zu betrachten sind. Vgl. R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland in drei Bänden, Bd. 1. Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870, Berlin 1990, S. 352. Da der Brückenbau hier jedoch weitgehend unbeachtet bleibt und andere Anlagen im Straßenwesen des 19. Jahrhunderts kaum eine Rolle spielten, wird im folgenden zur Vermeidung des inflationären Gebrauchs von „Straßenverkehrsinfrastruktur" auch von „Straßen" und „Chausseen" sowie entsprechend von „Straßen- und Chausseebaupolitik" statt „Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik" gesprochen. 9

E. Rehbein/ J.Lindow/ K. Wegner/ H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen 18351985, Berlin 1985, S. 9. Ausführlicher dazu Abschnitt C.II.

20 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Steigerung bewirkte. Im Untersuchungsgebiet wurden die ersten für den Fernverkehr wichtigen Chausseen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts nach der bereits um 1700 von Hubert Gautier entwickelten, französischen Bautechnik errichtet. Der Übergang zur in den siebziger Jahren in Frankreich von Pierre-Marie Jérôme Trésaguet eingeführten Straßenkonstruktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglichte durch die niedrigeren Kosten ein höheres Bautempo. Die Chaussierung stellt also im Landverkehrswesen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts die entscheidende Innovation dar. Deshalb kann bis zum Beginn des Eisenbahnbaus die Chausseenetzdichte als wichtigster Indikator für die Leistungsfähigkeit der Landverkehrswege dienen.10 Sie liefert aber nicht nur Hinweise auf die Qualität der Infrastruktur. Weil im Bereich der Verkehrsmittel erst die Einführung der Kraftwagen wesentliche Effektivitätssteigerungen bewirkte, resultierten die Kapazitätserhöhung der Frachtfuhrwerke und die Verkürzung der Reisezeiten vom späten 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich aus der besseren Qualität der neu gebauten Chausseen.11 Da die Bewertung von Infrastrukturqualitäten auf der Grundlage von Regionalvergleichen erfolgen sollte, ergab sich auch aus methodischer Sicht ein Argument für die Auswahl der Straßenverkehrs infrastruktur. Im Gegensatz zu Eisenbahnlinien und Binnenschiffahrtswegen erschien das flächenerschließende Chausseenetz als praktikablerer Indikator für auf der Basis kleinerer Territorialeinheiten, vor allem auf Kreisebene, anzustellende Regionalvergleiche. Trotzdem erfuhr der Straßenbau durch die wirtschaftshistorische wie speziell auch verkehrshistorische Forschung über das 19. Jahrhundert eine verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit. 12 Vor allem die Eisenbahn, aber auch See- und Binnenschiffahrt standen stärker im Blickfeld. Das liegt zum einen daran, daß der sich mit dem Straßenbau beschäftigende Historiker eine vergleichsweise 10 A.Kunz / R. Federspiel, Die Verkehrsentwicklung Oberschlesiens im 19. Jahrhundert - zur marktwirtschaftlichen Erschließung einer räumlich isolierten Region, in: T. Pierenkemper (Hrsg.), Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert. Rahmenbedingungen - Gestaltende Kräfte - Infrastrukturelle Voraussetzungen - Regionale Diffusion, Wiesbaden 1992, S. 222. 11 W. Treue, Achse, Rad und Wagen. 5000 Jahre Kultur- und Technikgeschichte, München 1965 S. 278 ff.; M.G. Lay, Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt a.M.-New York 1995, S. 50 ff. und 95 ff. 12 Vgl. T.C. Barker, Transport: the Survival of the Old beside the New, in: P. Mathias / J.A. Davis (Hrsg.), The first industrial revolutions, Oxford 1989, S. 86. Zum in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg generell nachlassenden Interesse an verkehrshistorischen Forschungen: K.H. Kaufhold, Deutschland 1650-1850, in: I. Mieck (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, S. 575 f.; H.-J. Teuteberg, Entwicklung, S. 187 ff.

I. Auswahl des Forschungsgegenstandes

21

komplizierte Quellenlage vorfindet, die tiefergehende Studien nur in engeren regionalen Grenzen ermöglicht. Zum anderen wird die Eisenbahn vor allem in Deutschland geradezu als Symbol der dynamischen Industrialisierung angesehen, während der im Vergleich dazu langsame Straßenverkehr eher als Sinnbild eines behäbigen Traditionalismus gilt. Dabei übertraf der Umfang des Straßenverkehrs mit Gütern und Personen noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts alle anderen Verkehrsträger. 13 Trotz der zweifellos überragenden volkswirtschaftlichen Bedeutung von Eisenbahnbau und -betrieb sollte also beachtet werden, daß „die Bemühungen um eine qualitative Verbesserung von Landstraßen und Wasserwegen vor 1870/71 ... zusammen mit dem Eisenbahnnetz die Grundlage für das Entstehen des modernen Verkehrssystems" bildeten.14 Die Auswahl des Untersuchungsgebietes wurde vor allem mit dem Ziel vorgenommen, regionale Vergleiche anstellen zu können. Dabei ging es zunächst um Vergleiche innerhalb der beiden Untersuchungsgebiete, also zwischen den 41 provinzialsächsischen Kreisen sowie zwischen den 6 braunschweigischen Kreisen bzw. 23 braunschweigischen Ämtern, was natürlich die Existenz meßbarer Indikatoren auf diesen niedrigen Aggregationsebenen voraussetzte. Zweitens sollten mit der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig zwei Territorien verglichen werden, die nicht nur geographisch benachbart waren, sondern auch ähnliche natürliche Voraussetzungen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und dementsprechend zahlreiche Gemeinsamkeiten in ihren jeweiligen Industrialisierungsgeschichten aufwiesen. Die benachbarten Territorien umfaßten jeweils einen Teil des Harzes, außergewöhnlich fruchtbare Gebiete mit einer ertragreichen Landwirtschaft und weniger fruchtbare Gebiete, die im 18. Jahrhundert von der Protoindustrialisierung erfaßt wurden. In beiden Territorien spielte der Transithandel eine wichtige Rolle. 15 Natürlich war dieser Gegenüberstellung schon aufgrund der unterschiedlichen Größe der Untersuchungsgebiete und der verschiedenen Erfassungskriterien der statistischen Ämter in Preußen und Braunschweig nicht unproblematisch. Dennoch wurde der Versuch unternommen, da der Vergleich der Straßenbaupolitik in einer Provinz des größten deutschen Bundesstaates einerseits und einem Kleinstaat andererseits sehr reizvoll erschien. Dabei ging es unmittelbar um die unterschiedlichen Auswirkungen zentraler und dezentraler Verwaltungsstrukturen, aber auch ganz allgemein um den Stellenwert bestimmter wirtschaftspolitischer Ziele und Instrumente in Preußen und Braunschweig. Die Vergleichsindikatoren waren auf dieser Ebene also eher qualitativer Natur, so

13 R.H. Tilly, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Handel, Geld- und Versicherungswesen 1850-1914, in: H. Aubin / W. Zorn, Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2. Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 575. 14 R. Berthold u.a., Produktivkräfte, S. 352. 15 Vgl. Abschnitt B.

22 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

daß die Inkompatibilitäten zwischen den statistischen Erhebungen kaum ins Gewicht fielen. Drittens wurde die Provinz Sachsen auch vor dem Hintergrund anderer preußischer Provinzen und Regierungsbezirke bzw. des Gesamtstaates bewertet. Dabei ging es sowohl um die Einschätzung des Entwicklungsniveaus der Infrastruktur selbst als auch um die regionalen Besonderheiten der praktizierten Infrastrukturpolitik oder die regionalen Spezifika in der Wirkung einer gesamtstaatlich orientierten Politik. Der zeitliche Beginn der Untersuchung wurde durch die Inangriffnahme der Chaussierungen auf den wichtigsten Landstraßen der Untersuchungsgebiete bestimmt. Der Ausbau der Chausseenetze und die damit verbundene Vervollkommnung der Straßenbau- und -unterhaltungstechnik seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts verliefen parallel zur Frühindustrialisierung und wurden außerdem seit 1807 bzw. 1815 durch die in Preußen und auf dem Territorium des Königreichs Westfalen begonnenen gesellschaftlichen und politischen Reformen beeinflußt. Viele der in der Reformzeit eingeleiteten und durch die Revolutionen von 1830 und 1848 vorangetriebenen, für die wirtschaftliche Entwicklung wesentlichen Modernisierungsprozesse, wie die Agrarreform, die Liberalisierung der Gewerbeverfassung und die Schaffung eines zollgeeinten Binnenmarktes waren in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Dies gilt auch für die erste und in qualitativer Hinsicht entscheidende Phase der Industrialisierung. In der deutschen Verkehrsgeschichte stellen die siebziger Jahre ebenfalls eine wichtige Zäsur dar. Der Bau der wichtigsten Eisenbahnlinien war vollendet, so daß die Verdichtung des Streckennetzes und die Erweiterung des Transportvermögens im Mittelpunkt standen.16 Die Eisenbahnverstaatlichung stellte einen wichtigen Teil der ordnungspolitischen Trendwende dar. Während die Binnenschiffahrt ihren Stellenwert im Verkehrssystem und auch im Rahmen der Verkehrspolitik seit dieser Zeit wieder steigern konnte, hatten die Straßen keine Bedeutung mehr für den überregionalen Verkehr, so daß auch die Zuständigkeiten für das Straßenwesen weitgehend dezentralisiert wurden. 17 So gab es in Preußen faktisch keine zentralstaatliche Straßenbaupolitik mehr. Insofern bieten sich die siebziger Jahre nicht nur aus der Sicht der allgemeinen Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte, sondern auch

16

E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Eisenbahnen, S. 55. Zur „Renaissance" der Binnenschiffahrt F. Voigt, Verkehr, Bd. 2. Die Entwicklung des Verkehrssystems, Berlin 1965, S. 325 f.; O. Most, Binnenschiffahrt und Kanalbau im 19. Jahrhundert, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, 2. Teil, Hannover 1967, S. 45 f. - In Preußen wurde die Zuständigkeit für die Staatschausseen mit Wirkung vom 1.1.1876 auf die Provinzialverbände übertragen. Vgl. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik des deutschen Straßen- und Wegerechts, Bielefeld 1957, S. 16 f. und 42 f. sowie Kapitel G. 17

I. Auswahl des Forschungsgegenstandes

23

mit Rücksicht auf die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur sowie der Straßenbaupolitik als Zäsur an. Der Betrachtungszeitraum wird also aus gesellschaftshistorischer Perspektive durch den Kernprozeß der Modernisierung, der in der Durchsetzung des Kapitalismus und der Herausbildung des Industriekapitalismus bestand,18 sowie aus wirtschaftshistorischer Sicht durch den Aufbruch zur Industrialisierung und die erste Industrialisierungsphase geprägt. 19 Aus dieser zeitlichen Konstellation ergibt sich natürlich die Frage, inwieweit der Chausseebau auf den Beginn und den Verlauf des industriellen Wirtschaftswachstums gewirkt hat oder seinerseits von diesem beeinflußt wurde. Nicht geringeres Interesse verdient aber auch die Straßenbaupo/rt/Ä;, denn sie stellte eines der ersten Versuchsfelder bei der Entwicklung einer gemeinwirtschaftlich orientierten und die Modernisierung der Wirtschaft unterstützenden Infrastrukturpolitik dar. 20 Lange vor dem Bau der ersten Staatseisenbahn und auch vor dem Beginn der Industrialisierung investierte der Staat in den Chausseebau, obwohl sich die ursprüngliche Erwartung, es handele sich hier um gewinnträchtige Unternehmen, sehr rasch als Irrtum herausstellte. Straßenbauten wurden in den deutschen Bundesstaaten, im Gegensatz zur Eisenbahn und zu England, fast ausschließlich durch die öffentliche Hand vorgenommen, waren daher „reine" Infrastrukturmaßnahmen. Die Chausseebaupolitik kann somit als ein wichtiger Indikator für den in der Forschung nach wie vor umstrittenen Einfluß des Staates auf die Industrialisierung dienen.21

18 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 2. Aufl., München 1989, S. 14. 19 F.-W. Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, 7. Aufl., Paderborn-München-Wien-Zürich 1989. A u f die Debatte über den Inhalt und die Anwendung der Begriffe Industrialisierung bzw. industrielle Revolution kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes aus deutscher Sicht, u.a. der verschiedenen Periodisierungen, ist zu finden bei: R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914, München 1990, S. 180 ff. Vgl. dazu auch H. Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland 1815-1914, Frankfurt a.M. 1989, S. 13 ff.; Chr. Buchheim, Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994, S. 11 ff. 20 Die Begriffe „gemeinwirtschaftlich" und „gemeinnützig" werden hier entsprechend der Vorgehensweise in der Mehrzahl der volkswirtschaftlichen Literatur synonym verwendet. Vgl. Th. Thiemeyer, Gemeinwirtschaft, in: W. Albers u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 3, Stuttgart-New York-Tübingen-Göttingen-Zürich 1988, S. 525 ff. 21 W. Fischer / A. Simsch, Industrialisierung in Preussen. Eine staatliche Veranstaltung?, in: W. Süß (Hrsg.), Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zu Philosophie, Gesellschaft und Politik. Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag, Berlin 1989, S. 103 ff.

Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

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I I . Die Rolle des Staates in der Industrialisierung Es existiert in der Forschung eine relativ breite Zustimmung zur These Gerschenkrons, daß mit zunehmender Rückständigkeit eines Landes zum Zeitpunkt des Beginns seiner Industrialisierung die Bedeutung von Substitutionsprozessen während der Industrialisierung, also die „künstliche" Herstellung ihrer „Vorbedingungen" steigt.22 Auch über die Tatsache, daß der Staat bei der konkreten Gestaltung der Industrialisierung auf dem Kontinent eine wesentlich wichtigere Rolle als in England gespielt hat, herrscht weitgehend Einigkeit. Über die konkreten Einflüsse der Staaten auf die jeweiligen Industrialisierungsprozesse wird hingegen in der historischen Forschung nach wie vor gestritten. 23 Die Diskussionen drehen sich im allgemeinen um Richtung und Intensität der staatlichen Interventionen. Die Modernisierung der wirtschaftspolitischen Ziele und Instrumente selbst steht dagegen weniger im Mittelpunkt. In ganz allgemeiner Form kann man die Erhöhung der Staats-, insbesondere der Steuereinnahmen und die Hebung des Wohlstandes der Bevölkerung durch Nahrungssicherung und Konservierung der Sozialstrukturen als die wichtigsten Ziele absolutistisch-merkantilistischer Wirtschaftspolitik bezeichnen.24 In der Wirtschaftspolitik des modernen industriekapitalistischen Staates standen hingegen die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Entschärfung der durch Strukturveränderungen zwangsläufig entstehenden sozialen Konflikte stärker im Mittelpunkt. Gleichzeitig erfolgte der Übergang von staatsdirigistischen und -interventionistischen zu liberaleren Methoden. „An die Stelle direkter Bevormundung und (meist untauglicher) Lenkungsversuche trat die ordnungssetzende Gewalt durch Gesetzgebung und eine vielfältige indirekte Inter-

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A. Gerschenkron, Die Vorbedingungen der europäischen Industrialisierungen im 19. Jahrhundert, in: W. Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, S. 25 f.; H.-U. Wehler, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie, 2. Aufl., Königstein/Ts. 1985, S. 24 f. 23 Die theoretische Bewältigung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in der Frühindustrialisierung steht „trotz der auch in dieser Phase großen Bedeutung staatlicher Eingriffe noch in den Anfängen." Vgl. H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980, S. 81. Daher zur Rolle der deutschen Staaten in der Industrialisierung immer noch grundlegend: W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 60 ff. Vgl. auch Abschnitt E.I. 24 F.-W. Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Paderborn-München-Wien-Zürich 1991, S. 756 und 772. Das Primat der Nahrungssicherung im Sinne von Produzentenschutz wird ausführlich belegt durch: P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaus im Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel im Spiegel der Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts (1671-1806), Braunschweig 1980.

II. Die Rolle des Staates in der Industrialisierung

25

vention." 25 Die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erlebten den Höhepunkt einer von liberalen Prinzipien getragenen Wirtschaftspolitik. 26 Dementsprechend wuchsen bis zur Reichsgründung auch die Staatsausgaben pro Kopf langsamer als das Sozialprodukt. 27 Bei einer Untersuchung des Einflusses der staatlichen Tätigkeit auf die Industrialisierung sollten verschiedene Aspekte beachtet werden. Zum ersten ging es um die Herstellung der allgemeinen politisch-juristischen Voraussetzungen der Industrialisierung, was in Deutschland durch die gesellschaftspolitische Modernisierung erfolgte. 28 Zweitens ergab sich die Notwendigkeit staatlicher Aktivitäten aus der Divergenz zwischen privaten und gesellschaftlichen Nutzen und Kosten. Wenn also der Maximierung des Sozialprodukts dienende Vorhaben nicht durchgeführt wurden, weil es ihnen an privatwirtschaftlicher Rentabilität mangelte, mußte der Staat einspringen. 29 Drittens konnte der Staat, merkantilistischen Traditionen folgend, durch Steuern, Zölle, Subventionen oder eigene unternehmerische Tätigkeit direkt in Marktbeziehungen eingreifen. Die Beachtung der Vielfalt staatlicher Einflüsse auf die Wirtschaft ist wichtig, da die historische Bewertung von Wirtschaftspolitiken als „liberal" oder „interventionistisch" fast ausschließlich anhand ihrer Maßnahmen innerhalb des hier letztgenannten Bereiches erfolgt. Auch die erwähnte „künstliche Herstellung" der Vorbedingungen der Industrialisierung, die in Ländern wie Italien oder auch Rußland zu beobachten war, erfolgte vornehmlich durch direkte Subventionen, Gewährung von Steuervorteilen, gezielte Vergabe öffentlicher

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W.Fischer, Deutschland 1850-1914, in: Ders. (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 425. 26 K.H. Kaufhold, Die preußische Gewerbepolitik im 19. Jahrhundert (bis zum Erlaß der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund 1869) und ihre Spiegelung in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland, in: B. Sösemann (Hrsg.), Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993, S. 158. 27 0 . Weitzel, Die Entwicklung der Staatsausgaben in Deutschland. Eine Analyse der öffentlichen Aktivität in ihrer Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum, Diss., Erlangen 1969, S. 37. Vgl. auch Abschnitt I.II. 28 Diese „außerwirtschaftlichen" Bedingungen werden auch als „institutionelle Voraussetzungen" bezeichnet. Dabei ging es neben der kapitalistischen Agrarreform, der Liberalisierung der Gewerbeverfassung und der Schaffung eines zollvereinten Binnenmarktes auch um Steuerreformen, die Einführung eines stabilen Währungssystems, eines modernen Vertrags- und Unternehmenrechts usw. 29 B. Supple, Der Staat und die Industrielle Revolution 1700-1914, in: C.M. Cipolla (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Dt. Ausg. hrsg.v. K. Borchardt, Bd. 3. Die Industrielle Revolution, Stuttgart-New York 1976, S. 196 nennt als Beispiele für derartige Vorhaben „die Verbreitung von technischer Information und Bildung, die Schaffung eines Erziehungssystems, Investitionen für ein Bewässerungsprojekt, ein Stromnetz oder ein neues Straßensystem."

26 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Aufträge, Schutzzölle und Staatsunternehmen.30 In den industriellen Führungsregionen Mittel- und Westeuropas wurden hingegen direkte staatliche Interventionen im Verlauf der Früh- und Hochindustrialisierung bewußt abgebaut. Innerhalb des Deutschen Bundes reichte das Spektrum von der liberalen Gewerbepolitik Preußens bis zur Verstärkung des Interventionismus in einigen süddeutschen Staaten.31 Die Mehrzahl der deutschen Staaten waren im Bereich der Gewerbe- und Industrialisierungspolitik relativ inaktiv, betrieben jedoch eine merkantilistischen Traditionen entsprechende Handelsförderung, wie am Beispiel des Herzogtums Braunschweig zu zeigen sein wird. 32 In diesen Ländern zielten die wirtschaftspolitischen Aktivitäten zunehmend auf den zweiten Bereich, also auf die Hervorrufung externer Effekte durch Investitionen in gesamtwirtschaftlich nützliche Einrichtungen, die wegen nicht existierender oder ungewisser Gewinnaussichten durch die Privatwirtschaft nicht getätigt wurden. Der Übergang vom merkantilistischen zum modernen Interventionsstaat wurde also nicht nur durch ein liberales Intermezzo, sondern auch von einer Ausweitung infrastrukturpolitischer Maßnahmen begleitet.33 Sowohl der preußische als auch der braunschweigische Staat gaben in diesem Bereich zu keinem Zeitpunkt ihre Ansprüche auf Strukturgestaltung auf und entsprachen damit durchaus den wirtschaftspolitischen Auffassungen des Smithschen Liberalismus. 34 Die Infrastrukturpolitik hatte bereits im Rahmen merkantilistischer Wirtschaftspolitik einen wichtigen Platz eingenommen. Hier konzentrierte sie sich jedoch noch auf einzelne Großprojekte, wie Melioration und Kanalbau, die zwar regional sehr bedeutsam waren, aber weder Wirtschaftsform noch Sozial30

Ebenda, S. 221 ff.. Es ist allerdings zu beachten, daß Italien und Rußland ihren „Take-off erst im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts erlebten. In dieser Zeit tendierten auch die wirtschaftlich fuhrenden Staaten West- und Mitteleuropas bereits zu einer verstärkten staatlichen Regulierung der Wirtschaft und schirmten insbesondere ihre Märkte ab. Vgl. auch I.T. Berend / G. Rânki, The European Periphery and Industrialization 1780-1914, Cambridge 1982, S. 328 ff. 31 W. Conze, Sozialer und wirtschaftlicher Wandel, in: K.G.A. Jeserich/ H. Pohl/ G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 35 f. Vgl. auch Kapitel E.I. 32 J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung in Agrarregionen Norddeutschlands im 19. Jahrhundert, in: H. Kiesewetter / R. Fremdling (Hrsg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985, S. 181. 33 K. Borchard, Staatsverbrauch und öffentliche Investitionen in Deutschland 17801850, Diss., Göttingen 1968, S. 13 ff.; V. Hentschel, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik 1815-1945, Düsseldorf 1980, unterbewertet m.E. diesen Aspekt. 34 Aufgabe des Staates ist es, „solche öffentlichen Anlagen und Einrichtungen aufzubauen und zu unterhalten, die, obwohl sie für ein großes Gemeinwesen höchst nützlich, ihrer ganzen Natur nach niemals einen Ertrag abwerfen, der hoch genug für eine oder mehrere Privatperson sein könnte, um die anfallenden Kosten zu decken, weshalb man von ihnen nicht erwarten kann, daß sie die Aufgabe übernehmen." A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch 5, München 1974, S. 612.

II. Die Rolle des Staates in der Industrialisierung

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struktur des Gesamtstaates wesentlich veränderten. 35 Die industrielle Revolution aber mit ihren umfassenden ökonomischen wie sozialen Konsequenzen erforderte eine Diversifizierung infrastrukturpolitischen Handelns, also die Gleichzeitigkeit von Verbesserungen im Verkehrs-, Bildungs-, Gesundheitswesen usw.. Wachsende gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Ausweitung von marktwirtschaftlichen Beziehungen benötigten eine Erhöhung der Infrastrukturqualität, denn ,je größer der Grad der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft ist, um so deutlicher muß neben das Lenkungssystem Markt ... ein Planungssystem treten..., das die notwendige Infrastruktur vorbereitet und realisiert". 36 Zum anderen ließ sich die Modernisierung dieser Bereiche nur durch die Zurückdrängung und zum Teil auch Beseitigung jahrhundertealter politischer und juristischer Verhältnisse durchführen, während die absolutistische Politik im allgemeinen neue Verhältnisse nur neben alte Strukturen gesetzt hatte. Der Übergang zu neuen Strukturen, den die Modernisierung in den Bereichen des Verkehrs-, Erziehungs- und Gesundheitswesen, der Energie- und Wasserwirtschaft tatsächlich darstellte, erforderte aber in mehrfacher Hinsicht auch eine Modernisierung der Infrastrukturpo/M. Die Betrachtung dieser politischen Ebene ist in der historischen Infrastrukturforschung besonders wichtig. Die Höhe der notwendigen Investitionen und deren allenfalls langfristige und nicht nur ökonomisch zu bestimmende Rentabilität bewirkten, daß die Infrastrukturentwicklung in geringerem Maße als die Herausbildung der Industrie als selbstorganisatorischer Prozeß verlief. Zudem riefen die unmittelbar zu erkennenden gesellschaftlichen Wirkungen von Infrastrukturveränderungen eine relativ intensive Staatstätigkeit hervor. Die Infrastrukturentwicklung bietet daher auch ein günstiges Untersuchungsobjekt für den Vergleich der real existierenden Infrastrukturen mit den infrastrukturpolitischen Intentionen, der durch die Verbindung quantitativer und eher „traditioneller" Untersuchungsmethoden der Geschichtswissenschaft anzustellen ist. Ein solcher Vergleich gewinnt für die deutsche Industrialisierungsgeschichte zusätzlich an Bedeutung, da man nicht davon ausgehen kann, daß die Politik von „bürokratisch regierten halbfeudalen Ordnungs- und Obrigkeitsstaaten" 37 auf

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E. Tuchtfeldt, Infrastrukturinvestitionen als Mittel der Strukturpolitik, in: U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977, S. 145. Flächendeckende Infrastrukturverbesserungen wurden durch die absolutistischen Staaten in Deutschland allenfalls im Bereich der Verwaltung (institutionelle Infrastruktur) und zum Teil auch im Volksschulwesen erreicht. 36 H. Körte, Infrastrukturentwicklung und gesellschaftliche Differenzierung. Überlegungen zu einer soziologischen Reformulierung der Infrastrukturtheorie, in: D. Petzina/ J. Reulecke (Hrsg.), Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für W. Köllmann zum 65. Geburtstag, Hagen 1990, S. 413; Vgl. auch F. Voigt, Verkehr, S. 1113 ff. 37 So H.J. Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates. Bilder und Zeugnisse, Frankfurt a.M.-Berlin 1992, S. 171, über Preußen. Die Geschichtsforschung hat bis heute

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Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Industrialisierungsförderung gerichtet war. So wird in einer jüngst erschienenen Studie die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten, von kritischeren Einschätzungen der siebziger und achtziger Jahre abweichend, als in der Summe industrialisierungsfördernd charakterisiert. 38 Gleichzeitig sei man aber noch von einer modernen Infrastrukturpolitik im Sinne einer bewußt von der öffentlichen Hand vorgenommenen Basisinvestition „sehr weit entfernt" gewesen.39 Eine Darstellung der Infrastrukturentwicklung unter den Bedingungen der Industrialisierung und der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft sollte sich nicht auf die Messung der tatsächlichen Strukturveränderungen beschränken, sondern diese auch mit den Intentionen und Durchsetzungsmechanismen der Reformpolitik konfrontieren. Dabei geht es nicht nur um Richtung und Maß der Industrialisierungsforderung, sondern auch um die bewußte oder unbewußte Wirkung auf die durch die Industrialisierung hervorgerufenen sozialen Veränderungen. In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage nach den möglicherweise in der Infrastrukturpolitik enthaltenen Ursprüngen einer industriekapitalistischen, antizyklischen Regional- und Sozialpolitik. 40 Die bis in die siebziger Jahre praktizierte Infrastrukturpolitik sollte also auch hinsichtlich ihrer Wirkung auf den seit etwa 1880 zunehmenden Staatsinterventionismus gesehen werden. 41

Probleme, eine prägnante Bezeichnung für die Herrschaftsverhältnisse in Preußen, aber auch in anderen deutschen Staaten für die Zeit zwischen 1806/07 und 1871 zu finden. Hervorgehoben wird jedoch von allen Autoren die große Rolle der Bürokratie, insbesondere zwischen 1807 und 1848. Die Forschungsmeinungen über die Rolle der Bürokratie im preußischen Herrschaftssystem referiert zuletzt: H. Beck, The Origins of the authoritarian welfare State in Prussia. Conservatives, Bureaucracy, and the Social Question, 1815-70, Michigan 1995, S. 125 ff. - Das Herzogtum Braunschweig wurde nach dem Umsturz von 1830/31 als „Beamtenstaat" bezeichnet. Vgl. Chr. Römer, Regierung und Volk im 19. Jahrhundert. Die Zeit Herzog Wilhelms (1831-1884), Braunschweig 1979, S. 6. - Im hier vorliegenden Kontext ist jedoch lediglich von Bedeutung, daß die Politik dieser Staaten in einem jeweils zu bestimmendem Maße durch Monarchen, Bürokratien, adlig dominierte Ständevertretungen, jedoch nicht durch von der Frühindustrialisierung direkt betroffene Schichten bestimmt wurde. 38 D. Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung: die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, 127). 39 Ebenda, S. 43 f. 40 Für H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 1815-1845/49, 2.Aufl., München 1989, S. 610 f f , stellt der Interventionsstaat ein wesentliches Charakteristikum des Industriekapitalismus dar. Seine Notwendigkeit ergibt sich insbesondere aus seiner Tendenz zur sozialen Polarisierung sowie aus den Gefahren der Ungleichmäßigkeit des industriekapitalistischen Wachstums, in konjunktureller, branchenmäßiger, aber auch regionaler Hinsicht. 41 Zu den umstrittenen Konzepten der „ordnungspolitischen Wende", des „organisierten Kapitalismus" und „Korporatismus" zusammenfassend G. Ambrosius /

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung

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I I I . Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung Ins allgemeine Bewußtsein gerät die Infrastruktur meistens durch die Wahrnehmung ihrer Defizite. Sie ist „eine jener zentralen Staatsaufgaben, in denen eine ständig neue Leistungen begehrende Industriegesellschaft den Daseinswert des Staates par excellence zu sehen geneigt ist. Ihre Güte gilt nachgerade als Qualitätsmaßstab für die innenpolitische Potenz des Staates."42 Nach Jochimsen befinden sich nämlich Infrastruktureinrichtungen „in aller Regel im Eigentum ... der öffentlichen Hand". 43 In der Gegenwart spielen privatwirtschaftlich getragene Infrastrukturinvestitionen jedoch eine wesentlich größere Rolle als vor 30 Jahren. 44 Im 19. Jahrhundert, als die Grundlagen für viele der heutigen Infrastrukturen gelegt wurden, war es ebenfalls nicht selbstverständlich, daß sich diese in der Verfügungsgewalt und im Besitz des Staates befanden. 45 Die Frage nach dem Träger der Infrastruktur stellt somit ein zentrales Problem für die Infrastrukturpolitik dar und wurde in den einzelnen Ländern auch unterschiedlich gelöst. Die während der Industrialisierung getroffenen Richtungsentscheidungen schlagen sich in der Regel noch heute im Maß des direkten staatlichen Engagements im Infrastrukturbereich nieder. In den USA befinden sich beispielsweise wesentlich mehr Infrastrukturbereiche in privater Trägerschaft als in Deutschland. Diskussionen um Infrastrukturpolitik drehen sich hier meist nur um das Ausmaß der staatlichen Kontrolle, also um die Frage von Regulierung oder Deregulierung, kaum um die Verstaatlichung dieser Sektoren. 46 Trotz die-

D. Petzina / W. Plumpe (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, S. 57 f., 343 ff. und 364 f f 42 K. Stern, Infrastrukturpolitik und Regierungs- und Verwaltungsorganisation, in: U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977, S. 232. 43 R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, Tübingen 1966, S. 105. 44 Einen gewissen Überblick zur internationalen Diskussion bieten: D.J. Gay le / J.N. Goodrich (Hrsg.), Privatization and Deregulation in Global Perspective, New YorkWestpoint/Conn. 1990; Sunita Kikeri / John Nellis / Mary Shirley, Privatization: Lessons from Market Economies, in: The World Bank Research Observer, Bd. 9, 1994, S. 241 ff. - Für Deutschland: U. Scheele, Privatisierung von Infrastruktur. Möglichkeiten und Alternativen, Köln 1993, S. 32; St. Bach / M. Gornig/ F.Stille/ U.Voigt, Wechselwirkungen zwischen Infrastrukturausstattung, strukturellem Wandel und Wirtschaftswachstum, Berlin 1994, S. 80 ff. 45 J. Wysocki, Infrastruktur und wachsende Staatsausgaben. Das Fallbeispiel Österreich 1868-1913, Stuttgart 1975, S. 14. 46 Vgl. H. Arndt, Einleitung, in: Ders. / D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971, S. 5; U. Müller, Editorial, in: Ders. (Hrsg.), Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung zwischen Liberalismus, Regulierung und staatlicher Eigentätigkeit, Leipzig 1996, S. 8 ff.

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Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

ser länderspezifischen Kontinuitätslinien spielt die Frage, „ob der Staat die Bereitstellung öffentlicher Güter selbst übernehmen soll oder ob eine solche Änderung der Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft möglich ist, daß auch das marktwirtschaftliche System gewünschte Resultate in bezug auf eine gegebene Zielfunktion bringt und falls diese Frage als möglich bejaht wird, ob solche technokratisch möglichen Änderungen im Datenkranz der Marktwirtschaft auch politisch durchsetzbar sind", in den wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Diskussionen unseres Jahrhunderts immer wieder eine wichtige Rolle. 47 Wenn mangelnde Infrastrukturqualität das Wirtschaftswachstum behindert oder die Höhe des Haushaltsdefizits eine Begrenzung der Staatsausgaben erfordert oder sogar beides gleichzeitig eintritt, folgen den Debatten meist auch Taten. Die Infrastrukturpolitik stellt daher gerade in Zeiten tiefgreifender ökonomischer und sozialer Wandlungen einen wichtigen Gradmesser für den Erfolg reformerischer Politik dar.

1. Die historische Entwicklung der Infrastrukturtheorie Der Begriff der Infrastruktur ist relativ jung. Er wurde zunächst im militärischen Bereich angewandt und zu Beginn der sechziger Jahren von der Wirtschaftswissenschaft aufgegriffen. 48 Speziell im deutschen Sprachraum wird er seitdem vielfach als Synonym für den schon zuvor in den USA gebräuchlichen Begriff des „Social Overhead Capital" verwendet. Reimut Jochimsens Buch zur Theorie der Infrastruktur aus dem Jahre 1966 bildete dabei den wichtigsten Bezugspunkt für die Diskussion zahlreicher theoretischer Fragen, vor allem aber auch für eine zunehmende Zahl von Studien, die sich mit Infrastrukturausstattung, Infrastrukturbedarf, der Höhe erforderlicher Infrastrukturinvestitionen, der räumlichen Komponente der Infrastruktur usw. beschäftigten. 49 Es ist durchaus kein Zufall, daß diese Handreichungen für eine wirksame Infrastrukturpolitik am Ende des „Wirtschaftswunders" entstanden.50 Auch in 47 H. Siebert, Infrastruktur und Wachstum, in: U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977, S. 139. 48 R.L. Frey, Infrastruktur, in: W. Albers u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 4, Stuttgart-New York-Tübingen-Göttingen-Zürich 1988, S. 201 49 R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur. Zur Diskussion vgl. v.a.: H . A r n d t / D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971 und U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977. 50 H. Ehrenberg, Strategien langfristiger Infrastrukturpolitik, in: H. Arndt / D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971, S. 646 ff.; E. Tuchtfeldt, Marktwirtschaft im Wandel, Freiburg i.B. 1973, S. 160 ff.

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen f r die historische Forschung

31

der Diskussion um den Finanzausgleich zwischen den Bundesländern und um die Förderung strukturschwacher Gebiete spielten diese Untersuchungen eine Rolle. Für den Bereich der Infrastruktur wurde eine aktive Strukturpolitik gefordert, denn „die marktwirtschaftliche Ausrichtung am Gewinn versagt in allen Bereichen, in denen die Kosten nicht primär von jenen aufzubringen sind, die den ökonomischen Nutzen haben, oder in denen die Gesellschaft außerökonomische Gesichtspunkte höher als ökonomische bewertet." 51 Angesichts des konstatierten Marktversagens wurde zur Aufrechterhaltung des „sozialen Gleichgewichts" von einigen Wissenschaftlern „die Frage nach der Möglichkeit eines Umbaus unserer Wirtschaftsordnung durch systemüberwindende Reformen in dem Sinne, daß politische Gegenkräfte gegen die Vorherrschaft privatwirtschaftlicher Rentabilitätsüberlegungen und privat geplanter Prioritätensetzungen geschaffen werden", aufgeworfen. 52 Mit dem Beginn der achtziger Jahre ließ die Diskussion zu dieser Frage im Rahmen der Infrastrukturproblematik innerhalb der theoretischen Wirtschaftswissenschaften nach, was wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, daß sich zu dieser Zeit neoklassische und institutionelle Erklärungsansätze zu weit auseinander entwickelt hatten, um an der Fortentwicklung einer geschlossenen Infrastrukturtheorie mitwirken zu können.53 Die Infrastruktur wurde entweder zum Gegenstand vorwiegend empirischer Untersuchungen oder allein im Rahmen der Wohlfahrtsökonomik betrachtet. Da insgesamt der Zusammenhang von Infrastrukturausbau und Wirtschaftsentwicklung die theoretische Debatte dominiert hatte, basierte auch der praktische, kommunale und regionale Infrastrukturplanungsprozeß im wesentlichen auf technisch-monetären Überlegungen und Daten. In der jüngsten Vergangenheit bedient sich aber auch die nichtökonomische sozialwissenschaftliche Forschung des Infrastrukturbegriffs, ohne daß bislang eine breite interdisziplinäre Diskussion zustande kam. Sollte dieser Trend der Soziologisierung des Infrastrukturbegriffs anhalten, dürfte sich in der Zukunft auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften die Perspektive der

51 H. Arndt, Einleitung, in: H. Arndt / D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971, S. 4. 52 S. Katterle, Infrastrukturpolitik und Wirtschaftsordnung, in: U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977, S. 293. Die These vom „Marktversagen" bei der Herstellung und Erhaltung der Infrastruktur war in der Wirtschaftswissenschaft vor 25 Jahren weitgehend unstrittig. Vgl. R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Hannover 1970, S. 1322. 53 Th. Schulze, Infrastruktur als politische Aufgabe: dogmengeschichtliche, methodologische und theoretische Aspekte, Frankfurt-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1993, S. 1 weist daraufhin, daß „das Thema der Infrastrukturpolitik seit Ende der siebziger Jahre in der wissenschaftlichen Versenkung verschwunden" ist. Vgl. auch Ebenda, S. 166 f. und U. Scheele, Privatisierung, S. 18.

32 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

bislang stark an der neoklassischen Wachstumstheorie orientierten Forschung erweitern. 54

2. Die Operationalisierbarkeit des Infrastrukturbegriffs für die historische Forschung Jochimsen definiert Infrastrukturen von ihren volkswirtschaftlichen Effekten her als „Wachstums-, integrations- und versorgungsnotwendige Basisfunktionen einer Gesamtwirtschaft" 55. Ein Vergleich der verschiedenen Begriffsdefinitionen zeigt, daß nur auf dieser hohen Abstraktionsebene ein gemeinsamer Nenner existiert. 56 Eine Mehrzahl der Autoren betont den investiven Charakter der Infrastruktur. 57 Infrastrukturinvestitionen werden als „Gesamtheit aller vorwiegend von der öffentlichen Hand vorgenommenen Investitionen ..., die Voraussetzung für die Integrations- und Entwicklungsfähigkeit einer Volkswirtschaft sind", definiert. 58 Eine darüber hinausgehende, allgemein akzeptierte Definition fehlt bis heute.59 Es gilt also weiterhin die Feststellung Knut Borchardts, daß „die Suche nach Merkmalen, die diese Bereiche streng und eindeutig von anderen Sektoren der Wirtschaft unterscheiden und zugleich hinreichende interne Homogenität des Aggregats sichern", erfolglos blieb. 60 Dementsprechend vermeiden viele Untersuchungen theoretische Reflexionen und nutzen rein enumerative Definitionen, also Listen darüber, welche Teilbereiche zur Infrastruktur zu zählen seien. Diese Vorgehensweise entspringt nicht nur pragmatischen Überlegungen. Wenn nämlich die Infrastruktur aus den „Einrichtungen und Vorkehrungen, die zu einem bestimmten, fortgeschrittenen Entwicklungsstadium der Gesellschaft als Grundausstattung not-

54

H. Körte, Infrastrukturentwicklung, S. 411 ff. (v.a. S. 415). R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, in: U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977, S. 38. 56 Einen ausführlicheren Vergleich der unterschiedlichen Definitionen liefert Th. Schulze, Infrastruktur, S. 40 ff. 57 Vgl. die ebenda referierten Auffassungen von Littmann, Tinbergen, Stohler und R. Frey. 58 E. Tuchtfeldt, Infrastrukturinvestitionen, S. 128. 59 R.L. Frey, Infrastruktur, S. 201; Th.. Schulze, Infrastruktur, S. 52. 60 K. Borchardt, Die Bedeutung der Infrastruktur für die sozialökonomische Entwicklung, in: H. Arndt / D. Swatek (Hrsg.), Grundfragen der Infrastrukturplanung für wachsende Wirtschaften, Berlin 1971, S. 13. Auch J. Wysocki, Infrastruktur, S. 8, mußte feststellen, daß es „bei aller Fülle von Abhandlungen ... derzeit keine Lösung des definitorischen Problems" gibt. 55

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung

33

wendig sind," besteht, dann sind auch ihre Bestandsgrenzen entsprechend der jeweiligen historischen Situation zu bestimmen.61 Generell sollten moderne, an wirtschaftstheoretischen oder planungspraktischen Interessen orientierte Definitionen für historische Untersuchungen nicht kritiklos übernommen werden. Jochimsens Infrastrukturbegriff ist in bestimmten Bereichen zu umfassend, um in der historischen Forschung sinnvoll angewendet zu werden. Dies gilt beispielsweise für die als personale und institutionelle Infrastruktur bezeichneten Bereiche. Nach Jochimsen umfaßt Infrastruktur „die Summe der materiellen, institutionellen und personalen Einrichtungen und Gegebenheiten ..., die den Wirtschaftseinheiten zur Verfügung stehen und mit beitragen, den Ausgleich der Entgelte für gleiche Faktorbeiträge bei zweckmäßiger Allokation der Ressourcen, d.h. vollständige Integration und höchstmögliches Niveau der Wirtschaftstätigkeit, zu ermöglichen." 62 Dabei umfaßt die personale Infrastruktur „die Zahl und die Eigenschaften der Menschen der arbeitsteiligen Marktwirtschaft im Hinblick auf ihre Fähigkeit, zur Erhöhung von Niveau und Integrationsgrad der Wirtschaftstätigkeit beizutragen. ... Die institutionelle Infrastruktur umfaßt die gewachsenen und die gesetzten Normen, Einrichtungen und Verfahrensweisen in ihrer 'Verfassungswirklichkeit'..., so z.B. die Vertrags-, Eigentums- und Erbordnung, Berufsordnung und die geltende Koalitionsfreiheit." 63 Diese weite Begriffsfassung wird nicht von allen Wirtschaftswissenschaftlern akzeptiert. 64 Obwohl Historiker oft komplexe Betrachtungsweisen präferieren, 65 sollten sie m.E. in diesem Fall die Elemente der personalen und institutionellen Infrastruktur in die ihnen geläufigen Beziehungsgefüge, zum Beispiel im Rahmen der Sozial-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte, einordnen. Die Definition der materiellen Infrastruktur kann dagegen relativ problemlos als Hilfsmittel für historische Untersuchungen dienen.66 „Unter materieller 61 K. Stern, Infrastrukturpolitik, S. 232. Vgl. auch K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 36. Eines der wenigen praktischen Beispiele für eine am historischen Gegenstand orientierte Diskussion des Infrastrukturbegriffs liefert J. Wysocki, Infrastruktur, S. 12. 62 R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur, S. 100. 63 Ebenda, S. 117 f. und 133. 64 Th. Schulze, Infrastruktur, S. 45. 65 Zur Vorliebe der Ökonomen für innerlich logische, jedoch stark selektive Modelle sowie der Historiker für eher ungenaue, jedoch die Totalität der historischen Entwicklung erfassende Deskriptionen: T. Pierenkemper, Gebunden an zwei Kulturen. Zum Standort der modernen Wirtschaftsgeschichte im Spektrum der Wissenschaften, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1995, T. 2, S. 169 f. 66 Diese Verfahrensweise u.a. auch bei: W.R. Ott, Grundlageninvestitionen in Württemberg. Maßnahmen zur Verbesserung der materiellen Infrastruktur in der Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Heidelberg 1971, S. II und J. Wysocki, Infrastruktur, S. 9 f. 3 Uwe Müller

34 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Infrastruktur wird erstens die Gesamtheit aller Anlagen, Ausrüstungen und Betriebsmittel in einer Volkswirtschaft verstanden, die zur Energieversorgung, Verkehrsbedienung und Telekommunikation dienen; hinzu kommen zweitens die Bauten usw. zur Konservierung der natürlichen Ressourcen und Verkehrswege im weitesten Sinne (z.B. Deichbau und Flutschutz, Entwässerung und Bewässerung, Verhinderung von Wind-, Wasser- und Temperaturerosion, Abwässer» und Abraumbeseitigung) und drittens die Gebäude und Einrichtungen der staatlichen Verwaltung, des Erziehungs- und Forschungs- sowie des Gesundheits- und Fürsorgewesens." 67 Die Konzentration auf die materielle Infrastruktur hat unter anderem den Vorteil, daß die qualitative und quantitative Entwicklung der Infrastruktur besser gemessen werden kann. Vor allem aber weisen die Elemente der materiellen Infrastruktur in jeweils großen Mehrheiten gemeinsame Merkmale auf, was ja als Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit eines Oberbegriffes anzusehen ist. 68 Andererseits ist für Historiker und Sozialwissenschaftler der wirtschaftswissenschaftliche Begriff der materiellen Infrastruktur zu eng gefaßt, da nicht die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft in ihrer Totalität Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist. Wenn aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Infrastrukturbegriff dynamisiert werden soll, um „die Infrastrukturentwicklung selbst als einen Teilprozeß von miteinander verflochtenen ökonomischen, technologischen und sozialen Prozessen zu analysieren", 69 so hat auch die Geschichte dazu ihren Beitrag zu leisten. Schließlich ist die Ausrichtung der Infrastrukturpolitik an ökonomischen Zielen zumindest teilweise erst als Ergebnis der Modernisierung im 19. Jahrhundert anzusehen. In vorindustrieller Zeit war der Einfluß der Ökonomie, vor allem auf personale und institutionelle, aber auch auf die materielle Infrastruktur wesentlich geringer als in unserem Jahrhundert. So wie sich die auf Nahrungssicherung gerichtete feudalabsolutistische Wirtschaftspolitik zur wachstumsorientierten industriekapitalistischen Wirtschaftspolitik wandelte, wurden im Bereich der Infrastrukturpolitik Sozialstrukturen konservierende und fiskalpolitische, also letztlich machtpolitische, Motive durch industrialisierungsfördernde Zielsetzungen zurückgedrängt. 70 Das Problem der außerökonomischen Bedeutung von Infrastruktur wird in einigen Studien durch eine Unterscheidung von ökonomischer und sozialer Infrastruktur reflektiert, die auf der Ebene der Zweckbestimmung durchaus hilfreich ist. „Darf man als Aufgabe der ökonomischen Infrastruktur die Erzielung des höchstmöglichen Integrationsgrades und damit die Verwirklichung

67 68 69 70

R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur, S. 103 u. Anm. 48. K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 13. H. Körte, Infrastrukturentwicklung, S. 412. Vgl. Abschnitt E.

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung

35

des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsmaximums bezeichnen, so ist in einer gewissen Symmetrie die Aufgabe der sozialen Infrastruktur vielleicht in der Minimierung gesellschaftlicher Friktionen zu suchen." Der wesentliche Unterschied zwischen ökonomischer und sozialer Infrastruktur besteht darin, „daß die fundamentalen Imperative der letzteren selbst ein Variationen unterworfenes Produkt der Gesellschaft sind, während erstere ein notwendiges Korrelat bestimmter ökonomischer Entwicklungssituationen darstellt." 71 Wenn sich die ökonomische Infrastruktur in erster Linie als zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Notwendigkeiten entwickelt, während die soziale Infrastruktur primär ein Resultat sozialer und kultureller Traditionen darstellt, wäre der Gestaltungsspielraum für die soziale Infrastruktur in Umbruchphasen wie der europäischen Modernisierung des 19. Jahrhunderts größer. Es ist allerdings zu beachten, daß die Teilung in ökonomische und soziale Infrastruktur eine zweckbestimmte ist, während die Wirkung beider Infrastrukturteile immer sowohl ökonomisch als auch sozial ist. Aus diesem Grunde ist die angesprochene symmetrische Entwicklung der einzelnen Infrastrukturelemente wichtig für das Gleichgewicht der gesamten Gesellschaft. Gerade während der Transformationsprozesse des vorigen Jahrhunderts zielte Infrastrukturpolitik sowohl auf die Förderung des mit der neuen Industrie verbundenen Wachstums als auch auf die Wahrung alter oder Herstellung neuer Gleichgewichtszustände in der Gesellschaft. Eine für historische Epochen besonders wichtige Differenzierung erfolgt schließlich durch die Unterscheidung von natürlicher und produzierter Infrastruktur. 72 So sollten beispielsweise natürliche Wasserwege immer dann in die Betrachtung einbezogen werden, wenn sie nach erfolgter Regulierung wie künstliche Verkehrswege wirken. 73 Infrastrukturpolitik bildet also nicht nur einen wesentlichen Bestandteil der Wirtschafts-, sondern auch der Sozial- bzw. Gesellschaftspolitik. So wie die industrielle Revolution nur als Kombination von ökonomischen und sozialen Prozessen und in Wechselbeziehung zu den politischen Umwälzungen erklärt werden kann, benötigt auch eine Analyse der Infrastrukturentwicklung während der Industrialisierung eine gesellschaftsgeschichtliche Betrachtungsweise.74 Gerade dieses breite Blickfeld erfordert jedoch im Interesse der Hand-

71

J. Wysocki, Infrastruktur, S. 10. B.S. Frey, Möglichkeiten und Grenzen des ökonomischen Denkansatzes, in: H.B. Schäfer / K. Wehrt (Hrsg.), Die Ökonomisierung der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M.-New York 1989, S. 70. 73 Im Gegensatz dazu: K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 33 und 39. Nur auf das Problem hinweisend: H.-J. Teuteberg, Das Kanalwesen als Beitrag zur Entstehung der modernen Welt, in: Scripta Mercaturae, 18. Jg., 1984, S. 2. 72

74

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 3 ff., 584 ff.

Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

36

habbarkeit des Infrastrukturbegriffs die Konzentration auf einzelne Infrastrukturbereiche. Im folgenden wird daher unter „Infrastruktur" immer „materielle Infrastruktur" verstanden, wobei im Zentrum der Betrachtung die Verkehrsinfrastruktur stehen wird.

3. Die Merkmale der Infrastruktur Neben der Diskussion über Definition und innere Einteilung der Infrastruktur liefert auch die Rezeption der in der Literatur angegebenen gemeinsamen Merkmale der Infrastruktur interessante Ausgangspunkte für die historische Forschung und deren Rückwirkung auf die moderne Infrastrukturtheorie. Bei der materiellen Infrastruktur „sind in der Regel folgende vier Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt: 1. Es sind Vorleistungen, die in der arbeitsteiligen Wirtschaft überall für Produktion und Konsum notwendig sind und deshalb universal verwendet werden. 2. Es sind standortgebundene Nutzungen, bei denen Leistungserstellung und Leistungsverzehr zusammenfallen bzw. sehr hohe Transportkosten auftreten, die u.a. auch eine Ein- und Ausfuhr ausschließen. 3. Es sind Nutzungen, deren Erstellungen von technologischen Unteilbarkeiten und hohen Kapitalkoeffizienten (und niedriger Umschlagshäufigkeit des Kapitals) gekennzeichnet sind. 4. Es handelt sich überdies um Einrichtungen, die sich in aller Regel im Eigentum oder in der direkten oder indirekten Kontrolle der öffentlichen Hand befinden (insbesondere hinsichtlich der Preis- und Investitionspolitik)." 75 Eine andere Klassifizierung zählt zu den technischen Merkmalen der Infrastruktur „die weitgehende Unteilbarkeit (große minimale Projekteinheiten), die lange Lebensdauer, die Interdependenz zwischen einzelnen Bestandteilen jeweils eines Infrastrukturbereichs (Systemeffekte), den Charakter der Infrastrukturleistungen als generell verwendete Inputs, die geringe Importmöglichkeit sowie die Leichtigkeit, mit der oft der Output mengenmäßig zu Lasten der Qualität gesteigert werden kann. In ökonomischer Hinsicht sind für die Infrastruktur charakteristisch: die Kostendegression (economies of scale), die Sprungkosten, der hohe Fix- oder Gemeinkostenanteil und der hohe Kapitalkoeffizient, die externen Effekte und die Nutzendiffusion (Kollektivgutcharakter) sowie der große Umfang und/oder das hohe Risiko der Investitionen. 75

R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur, S. 105.

III. Die Theorie der Infrastruktur und ihr Nutzen für die historische Forschung

37

Institutionell bezeichnend sind meist die Absenz von Marktpreisen, die defizitäre Betriebsführung (d.h. die Finanzierung aus allgemeinen Steuern) sowie die zentrale Planung, Herstellung, Betriebsfuhrung und / oder Kontrolle." 76 Die Defmtion dieser allgemeinen Charakteristika liefert zweifellos wertvolle Hinweise für die Systematisierung, birgt aber auch die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerungen in sich. So korrespondiert die Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen aus allgemeinen Steuern nicht zwingend mit defizitärer Betriebsführung. Tatsächlich erwiesen sich gerade die Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke der Jahrhundertwende als wichtige Einnahmequellen der Kommunen. 77 Da mehrere der Eigenschaften untereinander eng zusammenhängen, lassen sich aus der Sicht der Industrialisierungsgeschichte die Infrastrukturmerkmale in folgenden Problemkreisen zusammenfassen. Untersucht man Infrastrukturmaßnahmen als Vorleistungscharakter aufweisende Grundlageninvestitionen, so gerät der Zusammenhang von technischer Unteilbarkeit, großem Fixkostenanteil und hohem Kapitalkoeffizient in den Mittelpunkt. 78 Besonders netzförmige Infrastruktureinrichtungen treten oft als natürliche Monopole auf, woraus sich hohe sunk costs, Wettbewerbsbeschränkungen und Monopolisierungstendenzen ergeben. Die Vermeidung privater Monopole stellt häufig ein wichtiges Motiv für staatliche Eigentätigkeit dar oder ruft zumindest die Notwendigkeit staatlicher Regulierungen hervor. Betrachtet man Infrastrukturmaßnahmen unter dem Aspekt staatlicher Strukturpolitik, so stehen deren externe Effekte, die lange Lebensdauer, die Finanzierung aus allgemeinen Steuern und die Frage nach dem Ausmaß des staatlichen Eigentums bzw. der staatlichen Regulierung im Blickfeld. Für die Infrastruktur als Bestandteil regionaler Wirtschaftssysteme sind unter anderem die Standortgebundenheit ihrer Nutzungen, die geringe Importmöglichkeit und die lange Nutzungsdauer von Bedeutung.

76

R.L. Frey, Infrastruktur, S. 201. Vgl. allgemein: G. Ambrosius, Die wirtschaftliche Entwicklung von Gas-, Wasser· und Elektrizitätswerken (ab ca. 1850 bis zur Gegenwart), in: H.Pohl (Hrsg.), Kommunale Unternehmen. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1987, S. 127 ff., und am Beispiel Berlins: L. Baar, Unternehmerische Initiativen in der Berliner Versorgungswirtschaft im Spannungsfeld von Regulierung und Deregulierung, in: J. Wysocki (Hrsg.), Kommunalisierung im Spannungsfeld von Regulierung und Deregulierung im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 165 ff. 77

78 Diese hängen wiederum mit der zentralen Planung, dem Kollektivgutcharakter und der Eigentums- bzw. Kontrollfunktion des Staates zusammen. Nach U. Scheele, Privatisierung, S. 95, wirken hohe Kapitalintensität, niedrige Produktivität und ein hohes Maß an technisch-ökonomischer Unteilbarkeit „in ihrer Gesamtheit eher abschreckend auf private... Investoren."

38

Α. Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung und Modernisierung der Infrastrukturpolitik Bislang sind infrastrukturtheoretische Überlegungen in industrialisierungsgeschichtlichen Forschungen explizit nur i m H i n b l i c k auf die Eisenbahnentw i c k l u n g angewendet worden. 7 9 Dabei ging es zunächst grundsätzlich u m den Beitrag der Eisenbahn zum Beginn und Verlauf des industriellen Wirtschaftswachstums, wobei zwischen den Wirkungen der Wirtschaftszweige Eisenbahnbau und Eisenbahn betrieb

sowie des Infrastrukturbereiches

Eisenbahnwe/z

unterschieden werden sollte. Eisenbahnbau und Eisenbahnbetrieb stimulierten als Führungssektoren in der deutschen industriellen Revolution vor allem durch backward linkages Industrialisierungs- bzw. Wachstumsprozesse in verschiedenen Branchen, etwa i m Kohle- und Eisenerzbergbau, in der Montanindustrie, im L o k o m o t i v - und Waggonbau sowie i m Tief- und Brückenbau. 8 0 Der Infrastrukturbereich Eisenbahnnetz bewirkte nicht nur eine Transportkostensenkung, besonders für den Massengutverkehr, sondern stellte auch einen erstrangigen Integrations- und Raumordnungsfaktor bei der Herausbildung der deutschen Volkswirtschaft dar. Die Rolle des Staates kam zunächst in dessen prinzipieller Haltung zur Eisenbahn zum Ausdruck, die sich nach einer in den dreißiger Jahren verbreiteten „Eisenbahnfeindlichkeit" 8 1

in dem Maße in eine positive Einstellung

79 Vgl. Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 18401879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur, Dortmund 1975, insb. S. 86 ff. 80 Zum Führungssektorkonzept sowie speziell zur Rolle des Eisenbahnbaus als Führungssektor: Ebenda, S. 12 f f , sowie stark komprimiert jüngst D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 12 ff. Vorwärts- und Rückwärtskopplungseffekte bildeten im Zusammenspiel mit Knappheitssituationen die Triebkraft des Industrialisierungsprozesses. Vgl. R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 55 ff. und 74 ff.; R. Spree / J. Bergmann, Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840-1864, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 314 ff.; R. Spree, Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880, Berlin 1977, S. 260 ff. - Im Gegensatz dazu sieht F.-W. Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, S. 112, in Metallgewerbe und Eisenbahnbau keine „wirklich führenden Sektoren." - Für H. Theissen, Industrielle Revolution und bürgerliche Umwälzung im Herzogtum Braunschweig. Zur Genese einer landwirtschaftlich initiierten Industrialisierung in einem deutschen Kleinstaat des 19. Jahrhunderts, Diss., Berlin 1988, S. 129, steht in der braunschweigischen Industrialisierung die Rolle des Eisenbahnbaus als Produzent eines Verkehrsnetzes im Vordergrund, während „Impulse in Richtung auf eine verstärkte Anwendung industrieller Produktionsmethoden ... aus dem Eisenbahnbau nur in geringem Maße hervorgegangen" sind. 81 Die Gründe für die anfangliche Eisenbahnfeindlichkeit großer Teile der preußischen Regierung und auch der Bürokratie waren sehr vielfältig. In den verschiedenen Argumentationen spielten Straßenwesen und Straßenbaupolitik immer wieder eine Rolle. Ein wesentliches Motiv für die Ablehnung der Eisenbahn resultierte aus dem politischen Konservatismus, der mit der Furcht vor massenhafter sozialer Entwurzelung

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung

39

wandelte, in dem man die volkswirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn sowie ihren Stellenwert für den zwischenstaatlichen Wettbewerb erkannte. Anschließend war eine Entscheidung über das Ausmaß staatlicher Eigentätigkeit zu treffen, die nicht nur in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich ausfiel, sondern auch im Zeitabschnitt zwischen 1840 und 1879 vielfältigen Modifikationen unterlag. 82 Schließlich wurden die privatwirtschaftlichen Eisenbahngesellund Arbeitslosigkeit verbunden war. Dabei ging es nicht zuletzt um die am Straßenverkehr partizipierenden Berufe, wie Kutscher, Hufschmiede und Sattler. Fuhrunternehmer protestierten ihrerseits bei den Regierungen gegen Eisenbahnbauten. Vgl. W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn. Zur Jahrhundertfeier der ersten deutschen Staatsbahn Braunschweig-Wolfenbüttel, Braunschweig 1938, S. 11; F. Voigt, Verkehr, S. 503; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, Stuttgart-Berlin-KölnMainz 1982, S. 98; M. Jehle, Eiserne Kunststraßen. Zur Vor- und Frühgeschichte der Eisenbahn, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 79 und 85. - Unter fiskalischen Gesichtspunkten wurde neben den negativen Folgen für die Posteinnahmen auch der Rückgang der Wegegeldeinnahmen als Argument angeführt. Seehandlungspräsident Rother verwies darauf, daß der Staat in den letzten Jahren große Mittel in Neubau und Unterhaltung der Straßen sowie in den Aufbau des Schnellpostdienstes investiert hatte, wodurch ein den Verkehrsbedürfnissen durchaus entsprechendes Chausseenetz entstanden sei. Schließlich ging es von Anfang auch um die Frage, ob die Eisenbahnen vom Staat oder mit privatem Kapital gebaut werden sollten. Der eher konservative Finanzminister von Alvensleben verwies auch aus Furcht vor Aktienspekulationen darauf, daß öffentliche Wege prinzipiell vom Staat zu errichten und unterhalten seien. Die Situation der Staatsfinanzen erlaubte aber keine Inangriffnahme von derart teuren Großprojekten. In Preußen stand zudem einer Kreditaufnahme des Staates die Staatsschuldenverordnung von 1820 entgegen. Vgl. zu diesen und anderen Motiven für die anfangliche Eisenbahnfeindlichkeit C. Matschoss, Preußens Gewerbeförderung und ihre großen Männer. Dargestellt im Rahmen der Geschichte des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes 1821-1921, Berlin 1921, S. 67 f.; D. Eichholtz, Junker und Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin 1962, S. 94 ff.; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 616; W. Radtke, Die Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung, Berlin 1981, S. 262 ff.; H. Kunze, Das Wegeregal, die Post und die Anfänge der Eisenbahnen in den Staaten des Deutschen Bundes, Bochum 1982, S. 11 ff., 76 und 78 ff.; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 98 f.; H.St. Seidenfus, Eisenbahnwesen in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 235 ff.; W.Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens, Berlin-New York 1984, S. 429 f.; E. Rehbein/ J . L i n d o w / K. Wegner/ H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 30; D. Ziegler, Kommerzielle oder militärische Interessen, Partikularismus oder Raumplanung? Bestimmungsfaktoren für die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: J. Wysocki (Hrsg.), Wirtschaftliche Integration und Wandel von Raumstrukturen im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 44. 82 Während in Preußen im Jahre 1850 78,6% der Eisenbahnstrecken im Besitz privater Gesellschaften waren, befanden sich in den übrigen Staaten nur 37,5% der Strekken in privater Hand. Vgl. K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 295; B. Breitfeld, Von der Privat- zur Staatsbahn. Zur Finanzierung der deutschen Eisenbahnen, in: Zug der Zeit Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 185 ff.; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 165 ff. - In den vierziger Jahren wurden die Ent-

40 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte Schäften durch gesetzliche Vorschriften und Konzessionsverfahren vielfältigen Regulierungen unterworfen, aber auch durch staatliche Beteiligungen, Zinsgarantien und ähnliche Subventionen gefördert. 8 3 Die wirtschaftshistorische Forschung hat außerdem die durchaus „ambivalenten" Effekte der Kleinstaaterei auf den Fortgang des Eisenbahnbaus 84 sowie dessen Beteiligung am m i t der Industrialisierung einhergehenden Wachstum regionaler Einkommensgefälle thematisiert. 8 5 Aus der Infrastrukturtheorie selbst und vor allem aus der infrastrukturtheoretischen Perspektive auf die Eisenbahngeschichte ergaben sich wesentliche Hilfen bei der Formulierung eines Fragenkataloges für die vorliegende Untersuchung. Es w i r d hier allerdings bewußt darauf verzichtet, dessen Erstellung nachzuvollziehen, da dies m i t einer umfangreicheren Diskussion der Eisenbahngeschichte verbunden werden müßte. 8 6 Statt dessen soll an den geeigneten

Scheidungen der Staaten in der Trägerfrage weniger aus ordnungspolitischen Überlegungen heraus gefällt, sondern waren in erster Linie von der Verfügbarkeit privaten und öffentlichen Kapitals abhängig. D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 21. 83 Ebenda, S. 39 ff., 534 ff.; H.I. Helmke, Der Verkehr im Raum zwischen Weser und Elbe im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Eisenbahnen, Diss., Köln 1957, S. 114 ff.; H. Kunze, Das Wegeregal, S. 16 f., 103 ff., 239 f.; E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 30 f.; H.St. Seidenfus, Eisenbahnwesen, S. 237 ff.. 84 D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 314. Eine differenzierte Sichtweise findet sich dazu bereits bei: R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 122, 132 und 165. - Einige Beispiele für die kontraproduktiven Auswirkungen des Partikularismus: Ebenda, S. 111 ff.; H.F. Gisevius, Zur Vorgeschichte des Preußisch-Sächsischen Eisenbahnkrieges. Verkehrspolitische Differenzen zwischen Preußen und Sachsen im Deutschen Bund, Berlin 1971, S. 100 ff.; B. Mester, Partikularismus der Schiene. Die Entwicklung einzelstaatlicher Eisenbahnsysteme bis 1870, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 18351985, Bd.l, Berlin 1985, S. 198 ff.; D. Ziegler, Kommerzielle oder militärische Interessen, S. 47 ff.; Ders., Eisenbahnen, S. 26 ff. - A u f der anderen Seite „beschleunigte der regionale Wettbewerb zwischen den deutschen Bundesstaaten den Eisenbahnbau.ct H. Kiesewetter, Zur Dynamik der regionalen Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert - Lehren für die europäische Union?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1992, T. I, S. 94 f.; Vgl. auch D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 31 und 42. 85

F. Voigt, Verkehr, S. 527, 578; P.B. Huber, Regionale Expansion und Entleerung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Eine Folge der Eisenbahnentwicklung?, in: R. Fremdling / R.H. Tilly (Hrsg.), Industrialisierung und Raum, Stuttgart 1979, S. 28 ff.; W. Abelshauser, Staat, Infrastruktur und regionaler Wohlstandsausgleich im Preußen der Hochindustrialisierung, in: F. Blaich (Hrsg.), Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive. Beiträge zur Entwicklung des Staatsinterventionismus in Deutschland und Österreich, Berlin 1980, insb. S. 21; D. Petzina, Wirtschaftliche Ungleichgewichte in Deutschland. Ein historischer Rückblick auf die regionale Wirtschaftsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Nord-Süd in Deutschland, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1987, S. 61 ff.; D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 504 ff. 86 Ausführlicher dazu: U. Müller, Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung

41

Stellen auf einzelne Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen der Eisenbahn- und Straßenbauentwicklung bzw. -politik hingewiesen werden. Im Schlußkapitel wird dann noch einmal resümierend auf diesen Vergleich eingegangen. Die Eisenbahnpolitik kann ohnehin trotz der großen Bedeutung der Eisenbahn für die Industrialisierung in vielerlei Hinsicht nicht als repräsentatives Beispiel für Modernisierungsprozesse im Bereich der Infrastrukturpolitik dienen. Es ist zunächst zu beachten, daß die Eisenbahn erst im Zuge der Industrialisierung entstand, es demnach keine vorindustrielle Eisenbahnpolitik gab. Ein Transformationsprozeß läßt sich jedoch nur am Beispiel von Infrastrukturbereichen untersuchen, die bereits vor der Industrialisierung existierten. Da die Veränderungen in diesen Bereichen in der Regel nicht so elementar wie beim Eisenbahnwesen waren, und der Modernisierungsprozeß stärker durch evolutionäre Prozesse gekennzeichnet wurde, ergibt sich die Frage, ob und wann sich ein gravierender Wandel in den Zielen und Instrumenten seiner politischen Steuerung feststellen läßt. Der Zeitpunkt könnte darüber Aufschluß geben, welche sozialen Prozesse die Reformen der Infrastrukturpolitik erzwangen. Die Reformen wären zum einen als Reaktion auf die Industrialisierung denkbar. Sie könnten aber auch bereits Folge der Veränderungen in der agrarischen Produktion, der Ausbreitung der Protoindustrie oder des beschleunigten Bevölkerungswachstums seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewesen sein. Sicherlich hat sich zum zweiten ihre Notwendigkeit aus der sich im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen vollziehenden Zerstörung traditioneller Gesellschaftsstrukturen ergeben. Dementsprechend mußte der moderne Staat Aufgaben der Dorfgemeinden, Adligen und Kirchen übernehmen oder zumindest neue Ordnungen schaffen. 87 Für die Bewertung einer Reformpolitik ist in diesem Zusammenhang auch die Frage zu stellen, in welchem Maße sie „nur" eine Reaktion auf Sachzwänge oder bereits aktive Strukturgestaltung darstellte. Zur Bestätigung oder Verwerfung derartiger Hypothesen müssen also die der konkreten Infrastrukturpolitik zu Grunde liegenden Motive untersucht werden. 88 Beim staatlichen Eisenbahnbau stellten neben den gesamtwirtschaftlichen Effekten die Aussicht auf unmittelbare und mittelbare Gewinne aus dem

vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Diss., Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin 1997, S. 28-50. 87 „Im Maß, wie die ländlichen Herrschaftsverbände sich auflösten, die Gemeinheiten und Besitzungen umverteilt und so zum Privateigentum verwandelt wurden, wie der Bodenmarkt in Bewegung geriet und die Besitzgrößen sich laufend wandelten, wie ganz neue Gemeinden entstanden, wurden zwangsläufig die alten Observanzen - etwa zu Kommunaldiensten und -steuern - überholt oder zerstört." R. Koselleck, Preußen, S. 48. 88 Vgl. dazu Abschnitt E.

42 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

Betrieb sowie dessen Folgen für die Richtung des Handelsverkehrs die wichtigsten Motive dar. 89 Daraus ergibt sich ein Unterschied zu Infrastrukturbereichen, deren Herstellung und Unterhaltung im 19. Jahrhundert defizitär erfolgten. Diese unterlagen auch während der Industrialisierung, jeweils beinahe vollständig, nicht nur der Kontrolle, sondern auch dem Eigentum der öffentlichen Hand. Dies galt vor allem für die traditionell durch Staat oder Kirche erbrachten Leistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen.90 Dazu kamen aber auch Infrastrukturbereiche, bei denen die technologische Unteilbarkeit und der vergleichsweise hohe Kapitalkoeffizient private Investoren abschreckten, wie beim Kanal- und Chausseebau. Beim Aufbau neuer Infrastrukturen, beispielsweise dem Elektroenergieversorgungssystem, ging hingegen auch in der zweiten Industrialisierungsphase, wie 50 Jahre zuvor beim Eisenbahnbau, die private Wirtschaft voran. 91 Der Wandel von einer vorwiegend fiskalisch motivierten Infrastrukturpolitik zur hauptsächlich dem Gemeinwohl verpflichteten Politik wird aber nicht allein durch die Gestaltung der Trägerstruktur bestimmt. 92 Ein durch die Transformation der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft hervorgerufener Prämissenwechsel war vielmehr mit der Modernisierung des gesamten infrastrukturpolitischen Instrumentariums verbunden, insbesondere der Investitionsfinanzierung. 93 Die Finanzierung durch allgemeine Steuern bewirkte, daß sich, abhängig vom Bedarf sowie der Rentabilität der Infrastrukturmaßnahmen, Veränderungen infrastrukturpolitischen Denkens und Handelns auf die innere Struktur und den Gesamtumfang der Staatsausgaben auswirkten. Das Wachstum der Staatsausgaben wird sogar in erster Linie auf Infrastrukturinvestitionen zurückge-

89 W.O. Henderson, The State and the Industrial revolution in Prussia 1740-1870, Liverpool 1958, S. 169 ff.; R.Fremdling, Eisenbahnen, S. 132 f.; K.Fuchs, Zur Geschichte der Eisenbahnen und der Autobahnen in Deutschland von den Anfangen bis zur Gegenwart. Versuch eines kritischen Vergleichs, in: Scripta Mercaturae, 1985, Heft 1/2, S. 128; D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 46 ff. 90 Erhaltung und Ausbau der sozialen Infrastruktur vollzogen sich zum Teil unter kirchlicher Verantwortung, was man im 19. Jahrhundert sicher nicht mehr mit staatlicher Trägerschaft gleichsetzen, aber noch weniger als private Initiative bezeichnen kann, da die Trennung von Kirche und Staat in vielen Bereichen (noch) nicht vollzogen war. Im katholischen Österreich wirkten kirchliche Bildungseinrichtungen während des gesamten 19. Jahrhunderts als „öffentliche Institutionen". Vgl. J. Wysocki, Infrastruktur, S. 26 ff. 91 Vgl. W.R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung: die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart-BerlinKöln-Mainz 1985, S. 49 ff.; H. Ott (Hrsg.), Statistik der öffentlichen Elektrizitätsversorgung Deutschlands 1890-1913, St. Katharinen 1986, S. X X X V ff. 92 Vgl. zur Trägerpolitik Abschnitt F. 93 Vgl. dazu Abschnitt I.

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung

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führt. 94 Deren Finanzierung verlangte nach einer Steigerung der Staatseinnahmen. Wenn man vom Königreich Preußen absieht, das sich durch das Staatsschuldengesetz von 1820 bei der Kreditaufnahme selbst beschränkt hatte, ist in allen größeren deutschen Staaten im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts eine immense Steigerung der Pro-Kopf-Verschuldung festzustellen. 95 Als wichtigste Ursache wird die „Inanspruchnahme des öffentlichen Kredits für den Straßenund Eisenbahnbau und zur Ordnung der agrarwirtschaftlichen Verhältnisse" genannt.96 Es wird also zu untersuchen sein, wie sich die Ausgaben für Errichtung und Unterhaltung einzelner Infrastrukturbereiche entwickelt haben, welchen Stellenwert sie innerhalb des Etats einnahmen und in welchem Verhältnis allgemeine Steuereinnahmen und Nutzungsgebühren zur Investitionsund Instandhaltungsfinanzierung beitrugen. 97 Neben der Lösung des Finanzierungproblems war die Ausweitung der Staatstätigkeit im Infrastrukturbereich auch mit der für das 19. Jahrhundert typischen Professionalisierung der Verwaltung verbunden. Gleichzeitig erfolgte die Suche nach den effektivsten Organisationsformen der Infrastrukturherstellung und -erhaltung. Einen wesentlichen Bestandteil einer Analyse der Infrastrukturpolitik stellt daher die Entwicklung der administrativen Verhältnisse dar. Bis heute ergeben sich bei der Suche nach dem für eine rationelle Infrastrukturpolitik optimalen Organisationsgefüge des Staates zwei wesentliche Konfliktebenen. Diese bestehen zwischen Ländern und Gemeinden sowie zwischen der Legislative und der Exekutive. 98 Die Modernisierung der Infrastruktur wurde von einer besonders intensiven Auseinandersetzung um die Verteilung der Kompetenzen zentralstaatlicher, regionaler und kommunaler Verwaltungen, aber auch schon um Grad und Formen der Mitbestimmung zunächst der unmittelbar betroffenen Bevölkerungsteile bei der Entscheidung über Infrastrukturmaßnahmen begleitet.99 Der Deutsche Bund entwickelte trotz des in seiner Gründungsakte enthaltenen, eine Koordinierung der Handels- und Verkehrspolitik der Bundesstaaten versprechenden Artikels 19 keine staatenübergreifende Straßenverkehrspolitik. Für die Entwicklung der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung spielte hingegen die Straßenbaupolitik eine wichtige Rolle. So wurde der Ausbau der Selbstverwaltung in Preußen nach 1850 und noch einmal nach 1871 maßgeblich durch die Notwendigkeit einer wirkungsvollen und gleichzeitig kostengün-

94

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 369. K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 91 ff. 96 Ebenda, S. 89. Vgl. auch O. Weitzel, Entwicklung der Staatsausgaben, S. 163. 97 Die bisherigen Untersuchungen gingen in der Regel über eine Analyse der Ausgabenstruktur der Staatshaushalte nicht hinaus. 98 K. Stern, Infrastrukturpolitik, S. 232 f. 99 Vgl. dazu Abschnitt H. 95

44 Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

stigen Organisation des Baus und der Unterhaltung der Straßen verursacht. Die insgesamt sehr begrenzten Kompetenzen der preußischen Provinzial- und Kreisstände lagen zum großen Teil in der Gestaltung der Infrastruktur und speziell auch in der Straßenbaupolitik. 100 Die Probleme der Infrastrukturfinanzierung und -Verwaltung zeigen, daß die Modernisierungsversuche im Bereich der Infrastrukturpolitik generell in ihrer Einbettung in den allgemeinen Modernisierungsprozeß gesehen werden müssen. Aus diesem Kontext ergeben sich aber auch einige spezielle Aspekte. So hatte beispielsweise die preußische Reformpolitik seit 1807 zahlreiche Funktionsmechanismen der ständischen Gesellschaft zerstört, ohne in der Lage zu sein, diese auch nur mittelfristig durch neue Ordnungen zu ersetzen. „Der Staat, selber wenig kapitalkräftig, beließ die Verpflichtungen weiterhin einer ständisch gegliederten Gesellschaft, die sie nicht erfüllen konnte, weil sie selber aufgelöst wurde." 101 Erfolgte also die Mehrzahl der Arbeiten zur Errichtung und insbesondere Erhaltung der Infrastruktur in der traditionellen Gesellschaft durch die Inanspruchnahme von Frondiensten, 102 so mußte der moderne Staat neue Formen der Rekrutierung von Arbeitskräften für derartige Maßnahmen entwickeln. So ergab sich beispielsweise aus der Beseitigung feudaler Bindungen die Notwendigkeit, die Wegebau- und Wegeunterhaltungsarbeiten neu zu organisieren. In der traditionellen Gesellschaft war die übergroße Mehrzahl der Wege im Rahmen der Dienstleistungen feudalabhängiger Bauern gebaut und instandgehalten worden. Der Staat nahm allenfalls Aufsichtspflichten wahr. Im modernen Staat hingegen wurden diese Arbeiten durch Lohnarbeiter geleistet und mußten vom Staat organisiert werden. Meistens leiteten die Wegebaumeister, staatliche Angestellte oder Beamte, die Arbeiten selbst. In einigen Fällen wurde die Durchführung der Straßenbauarbeiten aber auch an Unternehmer, also „in entreprise", vergeben. 103 Infrastrukturmodernisierung erforderte aber auch über den Bereich der Finanzierung, Verwaltung und Arbeitsorganisation hinausgehende Gesetzesänderungen. Technische Anforderungen mußten per Gesetz festgeschrieben werden, die Expropriation von Grundstücken war zu regeln und vieles mehr. 104 Diese neuen oder überarbeiteten Gesetze hatten in vielen Fällen nicht nur den Charakter bloßer Verwaltungsvorschriften, sondern brachen lange gewach-

100

Vgl. dazu Abschnitt F. R. Koselleck, Preußen, S. 622. 102 Nur bei einigen Großprojekten der absolutistischen Wirtschaftspolitik, wie den Kanalbauten in Preußen, wurden neben frondienstleistenden Bauern auch Lohnarbeiter eingesetzt. 101

103 104

Vgl. Abschnitt G.I. und G.IV. Vgl. Abschnitt G.V. und G.VI.

IV. Infrastrukturpolitik in der Modernisierung

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sene Machtstrukturen auf. Die Ausweitung und Umverteilung der durch den Infrastrukturausbau entstehenden Lasten rief selbstverständlich den Widerstand der auf althergebrachte Privilegien oder Begrenzungen ihrer Dienstpflicht verweisenden Bevölkerungsschichten hervor. Angesichts des „defensiven Charakters der Modernisierung in Deutschland" 105 war dieser Umstand mitverantwortlich für die teilweise langwierige, verschiedentlich von mehreren Rückschlägen begleitete juristische Fixierung moderner Regelungen.106 Die Haltung der in verschiedener Hinsicht von ihren Folgen Betroffenen muß daher in die Bewertung der Infrastrukturpolitik einfließen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis, und man gelangt erneut zur Frage des Motivwandels in der Infrastrukturpolitik, der letztlich auf einer Änderung der öffentlichen Meinung zur Bedeutung von Infrastrukturen beruhen dürfte. Aufgrund ihres Charakters als „diskutierende Verwaltung" 107 lassen sich die Motive der Bürokratie durch die Rezeption der von der Administration hinterlassenen Akten relativ gut rekonstruieren. Die analogen Wandlungen in der Verwaltungs- und Finanzwissenschaft, die Bedeutung von in den Interessenverbänden einzelner sozialer Gruppen entwickelten Ideen und Konzeptionen über infrastrukturpolitisches Handeln kann jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nicht explizit behandelt werden, zumal die politische Interessenvertretung noch auf sehr instabilen Konstruktionen beruhte. 108 Das Wirken der preußischen Kreisstände war hingegen in die Darstellung einzubeziehen, da diese unmittelbar zum Träger des Kreischausseebaus wurden. 109

105

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 531 ff. Eine Wegeordnung für die preußische Provinz Sachsen wurde nach über siebzigjähriger Diskussion erst im Jahre 1893 erlassen. Vgl. Abschnitt G.II. 107 R. Koselleck, Preußen, S. 280. 108 Dies gilt für wirtschaftliche Interessenverbände, für politische Parteien und für die Ständevertretungen. Untersuchungen über diesen Aspekt konzentrierten sich bislang auf die Revolutionszeit 1848/49. Vgl. u.a. P. Albrecht, Die volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen in der Frankfurter National-Versammlung, Halle (1914); W. Conze/ W. Zorn, Die Petitionen an den Deutschen Handwerker- und Gewerbekongreß in Frankfurt 1848, bearb.v. R. Moldenhauer, Boppard am Rhein 1994; H. Best, Interessenpolitik. Die vorliegende auf die Entwicklung von Strukturen sowie deren Gestaltung konzentrierte Betrachtung kann diesen Gesichtspunkt leider nur in geringem Maße berücksichtigen. 106

109 Vgl. Abschnitt F.III, und I.III, sowie U. Müller, Der preußische Kreischausseebau im 19. Jahrhundert zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Regulierung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1999/1.

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Α . Theoretische Grundlagen und inhaltliche Schwerpunkte

V. Untersuchungsschwerpunkte und Chronologie der Darstellung Die vorliegende Studie untersucht also die Bedeutung der Infrastruktur im gesellschaftlichen Modernisierunsprozeß des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Entwicklung des Straßennetzes in der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig. Die größte Aufmerksamkeit wird dabei die Straßenbaupolitik erfahren. Im folgenden Abschnitte wird zunächst ein Überblick über die für die Infrastrukturentwicklung relevanten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des Untersuchungsgebietes gegeben. Der Abschnitt C widmet sich den Anfängen des Chausseebaus bis 1815, wobei dessen Einbettung in die spätmerkantilistische Wirtschaftspolitik sowie der Einfluß traditioneller Wirtschafts-, Sozial- und Rechststrukturen im Mittelpunkt stehen werden. 110 Für die Zeit seit 1815 lassen sich quantitative Aussagen über die Qualität der Infrastruktur, insbesondere über die Dichte des Chausseenetzes treffen. Das Wachstum des Straßennetzes in der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig wird in seiner regionalen Differenzierung im Abschnitt D dargestellt. Die Kapitel Ε bis I befassen sich in systematischer Form mit den Motiven und Instrumenten der Straßenbau- und -unterhaltungspolitik sowie ihrem Verhältnis zur allgemeinen Wirtschaftspolitik. Diese Vorgehensweise dient auch der Erklärung von Differenzen zwischen der tatsächlichen Infrastrukturentwicklung und den infrastrukturpolitischen Intentionen durch die Betrachtung des infrastrukturpolitischen Instrumentariums. Im Abschnitt J werden einige methodische Überlegungen zum statistischen Nachweis des Verhältnisses zwischen Verkehrsinfrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung im untersuchten Zeitraum angestellt. Davon ausgehend werden unter Nutzung der im Rahmen der Kapitel Β und D erhobenen Daten Korrelationsanalysen vorgenommen, deren Ergebnisse mit Hilfe der in den Kapiteln Ε bis I gewonnenen Erkenntnisse zu interpretieren sind. Die Studie schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse.

110 Vgl. Abschnitt C. Das Jahr 1815 stellt einen Einschnitt in der politischen Geschichte dar, der durch die Schaffung völlig neuer administrativer Territorialstrukturen für die methodische Vorgehensweise bei regionalen Vergleichen von Bedeutung ist. In der preußischen Straßenbaugeschichte ist es aber auch eine inhaltliche Zäsur. H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, S. 17, betont im übrigen die Bedeutung dieses Jahres auch für die allgemeine Wirtschaftsgeschichte.

Β. Entwicklung von Agrarkapitalismus sowie beginnende Industrialisierung in der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig Die ökonomische und politische Geschichte der Provinz Sachsen und des Herzogtums Braunschweig können hier nicht Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung sein, o b w o h l der Bedarf nach einer solchen Darstellung, besonders der provinzialsächsischen Geschichte durchaus vorhanden ist. 1 Vielmehr sollen die regionalen Besonderheiten des Untersuchungsgebietes in der durch Industrialisierung, agrarkapitalistische Entwicklung und Entstehung des deutschen Nationalstaates geprägten Epoche i m Mittelpunkt stehen, die für das 1 Die Landesgeschichtsforschung über Sachsen-Anhalt ist in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu anderen deutschen Regionen vernachlässigt worden. Th. Klein, Ein halbes Jahrhundert Forschung zur neueren Geschichte Sachsen-Anhalts (1940-1992/93). Eine Bestandsaufnahme, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt, hrsg. v. E. Schubert, Bd. 8, Weimar 1994, S. 171, hat zu Recht auf verschiedene Defizite, wie das Fehlen einer „neuen landeskundlich und landesgeschichtlich relevanten Gesamtdarstellung" über die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft, hingewiesen. Überblicksdarstellungen wie H. Heckmann (Hrsg.), Sachsen-Anhalt. Historische Landeskunde Mitteldeutschlands, Würzburg 1986; A. und H. Asmus, Sachsen-Anhalt. Landesgeschichte, Magdeburg 1991; H.-J. Bartmuß / H. Käthe, Kleine Geschichte Sachsen-Anhalts. Von den Anfangen bis zur Gegenwart, Halle 1992 sowie H. Asmus, Politische und agrarisch-industrielle Neu- und Umgestaltung im Elbe- und Saale-Departement des Königreiches Westfalen, in der preußischen Provinz Sachsen und in den anhaltinischen Herzogtümern 1806-1871, in: Geschichte Sachsen-Anhalts, hrsg. vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V., Bd. 2. Reformation bis Reichsgründung 1871, München-Berlin 1993, verdeutlichen das Forschungsdefizit in der hier interessierenden Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts mehr, als daß sie es abbauen würden. Aus diesem Grunde muß nach wie vor auf ältere Literatur, v.a. A.Zander, Die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Sachsen im 19. Jahrhundert, Halle 1934, zurückgegriffen werden. - Einen Überblick zum bis dahin erreichten Forschungsstand über das Herzogtum Braunschweig findet man bei: R. Moderhack (Hrsg.), Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick, Braunschweig 1976. Weiterhin sind zu nennen: G. Schildt, Tagelöhner, Gesellen, Arbeiter. Sozialgeschichte der vorindustriellen und industriellen Arbeiter in Braunschweig 1830-1880, Stuttgart 1986 (allerdings aus sozialhistorischer Sicht und mit Konzentration auf das braunschweigische Kerngebiet); H. Theissen, Industrielle Revolution (eine m.W. unveröffentlichte Berliner Dissertationsschrift). Für einige Aspekte der Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft im Herzogtum Braunschweig muß nach wie vor zurückgegriffen werden auf: R. Bettgenhäuser, Die Industrien des Herzogthums Braunschweig, 1. Teil, Braunschweig 1899; G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie. Ein Beitrag zur Wirtschaftskunde Niedersachsens, Hannover 1928; R. Buerstenbinder, Die Landwirtschaft des Herzogthums Braunschweig, Braunschweig 1881.

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Β. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Verständnis von Infrastrukturentwicklung und Infrastrukturpolitik von besonderer Bedeutung sind. Zahlreiche Gemeinsamkeiten in der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Provinz Sachsen und des Herzogtums Braunschweig erlauben es, auf eine regionale Trennung der Ausfuhrungen über diese Aspekte zu verzichten. Es soll also der Rahmen, in dem sich die Infrastruktur, speziell das Straßenwesen, entwickelte, dargestellt werden, wobei es gleichzeitig um die Bestimmung der Stellung der Infrastruktur in der Wirtschaft und teilweise auch in der Gesellschaft gehen muß. Die vorrangig verbalen Beschreibungen der Entwicklung regionaler Wirtschaftsstrukturen sowie die quantifizierenden Analysen der Bevölkerungsentwicklung der provinzialsächsischen Kreise und braunschweigischen Ämter sind notwendig, um die Bedeutung regionaler Unterschiede der Verkehrsinfrastrukturentwicklung zu erklären.

I. Institutionelle Rahmenbedingungen Die Gründung der preußischen Provinz Sachsen war ein direktes Ergebnis der territorialen Veränderungen nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums. Sie bestand aus schon länger zu Preußen gehörenden bzw. unter preußischer Lehnshoheit stehenden Gebieten, von denen ein großer Teil in der napoleonischen Zeit dem Königreich Westfalen zugeschlagen worden war, aus ehemals kursächsischen Gebieten, die nach dem Wiener Kongreß an Preußen abgetreten wurden und aus meist kleineren Territorien, die durch den Frieden von Lunéville bzw. den Reichsdeputationshauptschluß oder 1815 durch Abtretungen oder Tausch von oder mit Nachbarstaaten preußisch geworden waren. 2 Sie war nach Treitschke „der einzige völlig künstliche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken." 3

2 Die Provinz Sachsen bestand bei ihrer Gründung aus: der Altmark, den ehemals zur Kurmark gehörenden Dörfern Bahnitz, Nitzahne, Werder und Grähnert, dem Herzogtum Magdeburg, dem Fürstentum Halberstadt, dem Stift Quedlinburg, der Grafschaft Wernigerode, der Grafschaft Mansfeld altpreußischen und altsächsischen Anteils, der Grafschaft Hohenstein, dem Fürstentum Eichsfeld, den ehemaligen freien Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen, der Voigtei Dorla, der Gauerbschaft Treffurt, dem Fürstentum Erfurt, ehemaligen Bestandteilen des Herzogtums Sachsen, nämlich dem Thüringer Kreis, den Ämtern Barby und Gommern, dem Stift Merseburg, dem Hochstift Naumburg-Zeitz und den Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla sowie Teilen vom Neustädter Kreis, des Fürstentums Querfurt, des Kurkreises, des Leipziger Kreises, des Meißner Kreises und der Grafschaft Henneberg, dem ehemals hannoverschen Amt Klötze und den ehemals hannoverschen Dörfern Gänseteich und Rüdigershagen, ehemals schwarzburgischen Gebieten, wie den Ämtern Bodungen, Heringen und Kelbra, den Gerichten Allersberg und Hainröden sowie den Dörfern Bruchstaedt,

I. Institutionelle Rahmenbedingungen

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Diese komplizierte Zusammensetzung beschränkte nach 1815 die Durchsetzbarkeit von Reform-, aber auch Restaurationsbestrebungen. Preußen zielte zwar prinzipiell darauf, die politischen und juristischen Verhältnisse der neu erworbenen Landesteile den eigenen Gegebenheiten anzugleichen. Bei der Übertragung der preußischen Gesetze aus der Stein-Hardenbergschen Regierungszeit auf die neue Provinz wurden die Beamten jedoch mit den ersten Ergebnissen der westfälisch begonnenen Reformen und den unterschiedlichen Gewohnheitsrechten der verschiedenen Landesteile konfrontiert. 4 Vor allem aber behinderte das eigene Rechtsverständnis und das Abklingen des preußischen Reformeifers ab 1815 die radikale Veränderung oder zumindest Vereinheitlichung der mannigfaltigen feudalen Rechte und Gepflogenheiten. 5 Durch die Patente vom 15. November 1816 und 1. März 1817 wurde zwar prinzipiell das Allgemeine Landrecht auch in den ehemals sächsischen Gebieten eingeführt. Aus seinem subsidiarischen Charakter ergab sich jedoch die weitere Gültigkeit zahlreicher provinzieller Sonderbestimmungen.6 Auch die Revidierung der westfälischen Gesetze wurde im Interesse einer behutsamen Integration der neuen preußischen Staatsbürger nur langsam vorangetrieben. 7 So unterlag die Provinz Sachsen in besonderem Maße dem Wechsel- und Spannungsverhältnis von staatlicher Einheit und regionaler Vielfalt. 8 Dabei dominierte die Tendenz,

Utterode und Wolkramshausen, dem ehemals weimarschen Dorf Ringleben und der ehemals reichsfreien Herrschaft Schauen. Vgl. Handbuch der Provinz Sachsen, Magdeburg 1877, Anhang; R. Dietrich, Die Eingliederung der ehemals sächsischen Gebiete in den preußischen Staat nach 1815, in: P. Baumgart (Hrsg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat, Köln-Wien 1984, S. 274 ff.; O. Schlüter / O. August, Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes, Leipzig 1958, Bl. 21. 3 Zitiert in: R. Nürnberger, Städtische Selbstverwaltung und sozialer Wandel in der Provinz Sachsen während des 19. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 112. Jg., 1976, S. 230; Vgl. auch H. Asmus, Politische und agrarischindustrielle Neu- und Umgestaltung, S. 106 ff. 4 R. Dietrich, Eingliederung, S. 278. Zur Übertragung der Steinschen Städteordnung von 1808 auf die Provinz Sachsen: R. Nürnberger, Städtische Selbstverwaltung, S. 231 ff. 5 Die Wahrung historischer Eigentumsrechte war eines der Grundprinzipien des zu dieser Zeit entstehenden politischen Konservatismus. Vgl. S. Schmidt, Junkertum und Genesis des deutschen Konservatismus im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1979, H. 11, S. 1065. 6 1. Mieck, Die Integration preußischer Landesteile französischen Rechts nach 1814/15, in: O. Büsch / M. Neugebauer-Wölk, Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789, Berlin-New York 1991, S. 354 f. 7 R. Dietrich, Preußen zwischen Absolutismus und Verfassungsstaat, in: M. Schenke (Hrsg.), Preußische Geschichte. Eine Bilanz in Daten und Deutungen, 2. Aufl., Freiburg-Würzburg 1991, S. 199; R. Koselleck, Preußen, S. 39 und 47. 8 R. Schütz, Preußen und seine Provinzen. Integration und Regionalismus in der preußischen Geschichte, in: M. Schenke (Hrsg.), Preußische Geschichte. Eine Bilanz in Daten und Deutungen, 2. Aufl., Freiburg-Würzburg 1991, S. 28. H.Harnisch, Wirt4 Uwe Müller

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in „den einzelnen Landesteilen die eingebürgerten Rechtsordnungen und provinziellen Eigentümlichkeiten zu erhalten." 9 Unter diesen Bedingungen entwickelte sich schon die Rechtsangleichung innerhalb der Provinz in einigen Bereichen zu einem mehrere Jahrzehnte währenden Prozeß und konnte beispielsweise beim Wegerecht erst in den neunziger Jahren erreicht werden. 10 Die schleppende Angleichung und Modernisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen wirkte aus heutiger Sicht auf den Aufbau einer marktorientierten Wirtschaft entwicklungshemmend. Allerdings fühlte sich die preußische Politik jener Zeit durch das Trauma der französischen Revolution zur behutsamen ökonomischen Reform bei gleichzeitiger Stabilisierung der politischen Machtverhältnisse veranlaßt. Die anfangs weitgehende Respektierung der in den angeschlossenen Gebieten vorgefundenen juristisch-politischen Verhältnisse, das offensichtliche Bestreben, die sozialen und ökonomischen Strukturen der neuen Territorien zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, könnten sich bei der Betrachtung des Gesamtergebnisses der reformerischen Transformation durchaus als Positivum erweisen. 11 Der Bruch mit sächsischen Traditionen bei der Gründung der Kreise resultierte in erster Linie aus dem Streben nach rationalen Verwaltungsstrukturen. Überzogene Vereinheitlichungstendenzen, wie sie in der seit 1830 möglichen Ausgliederung von Gutsbezirken in dem grundherrschaftlich geprägten Gebiet zum Ausdruck kamen, waren hingegen ebenso

schaftspolitische Grundsatzentscheidungen und sozialökonomischer Modernisierungsprozeß in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: H.P. Ullmann/ C. Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 177 hat daraufhingewiesen, daß Preußen „nur hinsichtlich des Zollwesens, der Gewerbe- und der Klassensteuer und seiner Heeresverfassung ein Einheitsstaat" war, jedoch „sonst in allen Bereichen des Staatsaufbaus eine große Mannigfaltigkeit" aufwies. 9 Jürgen Bolenz, Wachstum und Strukturwandlungen der kommunalen Ausgaben in Deutschland 1849-1913, Diss., Freiburg 1965 10 Eine Provinzialwegeordnung wurde für die Provinz Sachsen erst 1891 erlassen. Vgl. E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen unter der Herrschaft der Selbstverwaltung, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts, 46. Jg., Berlin 1906, S. 106; D. Zimmer, Die Großgrundbesitzer der Provinz Sachsen im Wechselspiel von ökonomischer Entwicklung und politischer Macht im 19. Jahrhundert, Diss., Halle 1987, S. 45. Vgl. auch Abschnitt G. 11

R. Dietrich, Eingliederung, S. 286 f.; H. Asmus, Politische und agrarischindustrielle Neu- und Umgestaltung, S. 108 ff. - Zur Berücksichtigung von Einheimischen bei der Besetzung von leitenden Stellen in der provinzialsächsischen Verwaltung: W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit der Verwaltung in den deutschen Einzelstaaten (1815-1866), in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 176.

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Ausdruck von Besatzermentalität wie die Auflösung der Wittenberger Universität.12 In den dreißiger und vierziger Jahren gefährdete die politische Passivität angesichts der Strukturschwäche einiger Regionen die politische Stabilität des preußischen Staates.13 So glaubte man beispielsweise, daß durch die Gründung des Zollvereins die Probleme der eichsfeldischen Wirtschaftsbeziehungen „größtenteils beseitigt" werden könnten. 14 Erst in den vierziger Jahren versuchte der Staat, der Strukturschwäche dieser Region durch beschäftigungsfördernde Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur und zwar vor allem durch Straßen- und Wegebau entgegenzuwirken. 15 In der Revolution von 1848 offenbarten sich im Eichsfeld trotzdem vergleichsweise zahlreiche und tiefe soziale Widersprüche. 16 Neben der rechtlichen Zersplitterung in solch wichtigen Fragen wie der Steuerverfassung, der Formen und des Umfangs feudaler Abgaben und Dienste, die ja nun zum Teil abgelöst werden sollten, sowie des Gewerberechts fand das preußische Beamtentum in den meisten Landesteilen auch eine von den ostelbischen Verhältnissen stark abweichende Agrarstruktur vor, die mit dem Begriff der mitteldeutschen Grundherrschaft beschrieben wird. Die Bauern waren persönlich frei, verfugten über günstige Besitzrechte und hatten relativ wenige Frondienste zu leisten.17 Die Bedeutung grundherrlicher Eigenwirtschaften war geringer als in Ostelbien, aber innerhalb des Gebietes der mitteldeutschen

12 H. Schröter, Beiträge zur Geschichte des Eichsfeldes im 19. Jahrhundert, in: Unser Eichsfeld, 1935, S. 80 f.; J.Hartmann, Die Verwaltungsstruktur in der Magdeburger Börde vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1917/18, in: H.J. Räch / B. Weissei (Hrsg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges, Teil 1, 1. Halbband, Berlin 1978, S. 61. Vgl. dazu auch R. Dietrich, Eingliederung, S. 296 f. und R. Koselleck, Preußen, S. 541 ff. 13 Vgl. H. Peters, Die preußische Provinz Sachsen in der Revolution 1848/49, Diss., Halle 1978. 14 J.H.B. Burchardt, Die Wirksamkeit der Provinzialstände der Provinz Sachsen, dargestellt nach den Verhandlungen der in den Jahren 1825, 1827, 1829 und 1833 in Merseburg abgehaltenen Landtage und den Allerhöchsten Landtagsabschieden, Magdeburg 1835, S. 96. 15 H. Schröter, Beiträge, S. 112 f f ; U. Müller, Ländliche Sozialstruktur und Wegeproblematik. Fallstudie für den preußischen Regierungsbezirk Erfurt des Jahres 1837, in: Sozialökonomische Strukturvergleiche und Formationstheorie, Leipzig 1990, S. 59 ff. Vgl. auch Abschnitt E. 16 R. Stahr, Die revolutionäre Bewegung der Volksmassen auf dem Lande im März und November 1848 im Süden und Südwesten der preußischen Provinz Sachsen, Diss., Merseburg 1975, S. 20 ff. 17 Vgl. F. Lütge, Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung, 2. Aufl., Stuttgart 1957; Ders., Geschichte der deutschen Agrarverfasung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1967, S. 188 f.

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Grundherrschaft stark differenziert. 18 Dementsprechend spielte der Bauer in der Sozialstruktur eine bestimmende Rolle, obwohl vor allem in protoindustriellen Regionen Kleinstellenbesitzer bereits 1816 einen erheblichen Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche unter sich teilten. 19 In den fruchtbaren Gebieten des Harzvorlandes und des Thüringer Beckens erwarteten marktorientierte Bauern die Einleitung bzw. Vertiefung der Agrarreformen. Das Bildungsbürgertum hatte mit den Ideen der französischen Revolution und den westfälischen Reformansätzen sympathisiert. Viele Beamte waren vor, während und nach der Herrschaft König Jeromes (1807-1813) im Amt geblieben und hatten zumindest die Effizienz und klare Kompetenzabgrenzung in der Verwaltung schätzen gelernt, wie sie beispielsweise in der Grundsteuerreform und Maireverfassung zum Ausdruck kam. 20 Derartig radikale Umwälzungen blieben nach 1815 in Preußen aus, aber das soziale Klima in der sächsischen Provinz war alles in allem reformfreundlicher als in der Mehrzahl der ostelbischen Gebiete. Für die Berliner Zentralverwaltung besaß die Provinz Sachsen auch eine gesamtstaatliche Aufgabe. Sie bildete durch ihre geographische Lage das ökonomische sowie militärstrategische Bindeglied zu den Westprovinzen und schließlich den Ausgangspunkt für die Einbeziehung der mitteldeutschen Kleinstaaten in das preußische Zollgebiet, die den Auftakt zur deutschen Wirtschaftseinheit darstellte. Außerdem dienten die preußischen Besitztümer schon vor 1807 als Präzedenzfälle für Wirtschaftsreformen, vor allem auf dem Agrarsektor. Das Herzogtum Magdeburg und das Fürstentum Halberstadt hatten beispielsweise das Vorbild für die Reformen in den Domänen geliefert. 21 Die Ent-

18 Vgl. M. Jatzlauk, Bodeneigentum und Grundbesitzverteilung unter den Bedingungen der Herausbildung der kapitalistischen Ökonomie in der preußischen Provinz Sachsen (1816-1878/1882), in: Wissenschaftliche Zeitschrift. Universität Rostock, 23. Jg., gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 1974, H. 10, S. 633 ff.; Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 1. Jg., Berlin 1863, S. 128, 166 f. 19 M. Jatzlauk, Bodeneigentum, S. 638, 644 ff.; R. Berthold, Die Veränderungen im Bodeneigentum und in der Zahl der Bauernstellen, der Kleinstellen und der Rittergüter in den preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern während der Durchführung der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts, in: Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland. Sonderband des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1978, S. 63 ff., 111. 20

Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, Berlin 1853, S. 40 ff., 62 ff.; W. Strauß, Gemeindeverwaltung und Staat im Herzogtum Braunschweig, Wolfsburg 1983, S. 8 f.; H. Asmus, Politische und agrarischindustrielle Neu- und Umgestaltung, S. 90 ff. 21 H. Harnisch, Zu einigen Problemen der Veränderungen in der Landnutzung im Gefolge der kapitalistischen Agrarreformen. Dargestellt am Beispiel der ehemaligen preußischen Ostprovinzen, in: W. Strenz (Hrsg.), Historisch-geographische Forschungen in der DDR, Gotha 1986, S. 67.

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Wässerung des Drömlings stellte eines der größten Landesausbauprojekte der kameralistischen Wirtschaftspolitik in Preußen dar. 22 Anders als auf dem Gebiet der preußischen Provinz Sachsen restaurierte der Wiener Kongreß im Bereich des Herzogtums Braunschweig, das zwischen 1807 und 1813 im Königreich Westfalen aufgegangen war, die territorialen Verhältnisse, wie sie vor 1806 bestanden. „Das Herzogtum Braunschweig ab 1813/1815 ist territorial wie staatsrechtlich die Fortsetzung bzw. Wiederbelebung der Herzoglich Braunschweigischen Staaten vor 1806, nämlich des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg Wolfenbütteischen Teils, des Fürstentums Blankenburg, des Stiftamtes Walkenried und des Amtes Thedinghausen als Absplitterung vom Herzogtum (Erzbistum) Bremen." 23 Von einem abgerundeten Territorium, wie es zumindest ansatzweise der mitteldeutsche Teil Preußens darstellte, konnte hier keine Rede sein. Vom 3690 2

km betragenden Flächeninhalt des Herzogtums entfielen 49 % auf den nördlichen Hauptteil um Braunschweig, Wolfenbüttel und Helmstedt, 33,4 % auf den ehemaligen Weser- und Harzdistrikt, 12,9 % auf das Fürstentum Blankenburg und das Stiftsamt Walkenried, 4,3 % auf die Exklaven Calvörde in der Altmark und Thedinghausen bei Bremen sowie 0,4 % auf weitere 4 Exklaven. 24 Angesichts der Territorialgewinne der großen Nachbarn Preußen und Hannover mußte die braunschweigische Politik nach einer Stärkung der eigenen staatlichen Strukturen streben, um sich zwischen den beiden norddeutschen Mächten zu behaupten. Dabei hätte sie an Bestrebungen zur Gewerbeförderung, zur Schaffung eines einheitlichen Landesrechts, zur Verbesserung des internen Verwaltungsablaufs und zur Vereinheitlichung des Wirtschaftsraums und des Steuersystems aus dem späten 18. Jahrhundert anknüpfen können.25 Ein Aufgreifen dieser spätabsolutistischen Reformen und Reformpläne und ihre Verbindung mit der modernen Gesetzgebung des Königreichs Westfalen erfolgte nach 1815 aber nur in Teilbereichen und auch dort nur zögernd. 26

22 B. Tauché, Die Bevölkerungsentwicklung der Drömlingsgemeinden (Altmark) im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Landesausbaus, in: Ebenda, S. 179 ff. 23 Chr. Römer, Braunschweig, in: Th. Klein (Hrsg.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945, Reihe B, Bd. 16. Mitteldeutschland, Marburg 1981, S. 3. 24 Ebenda, S. 2. 25 Vgl. P. Albrecht, Förderung des Landesausbaus, S. 226 ff., 369, 474, über Wirtschaftsförderung und S. 546 ff. über Verwaltungs- und Rechtsreformen. Zur Wirkung von Aufklärung und französischer Revolution auf das Herzogtum Braunschweig: W. Deich, Die Regulierung der Bevölkerung im Herzogtum Braunschweig 1793-1874, Diss. Β, Leipzig 1984, S. 19 ff. 26 Zu den Reformen in westfälischer Zeit: W. Diederichs, 125 Jahre braunschweigische Landkreise. Die braunschweigischen Landkreise 1832-1957, Braunschweig 1957, S. 16; W. Strauß, Gemeindeverwaltung und Staat, S. 7 ff.

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So war die „erneuerte Landschaftsordnung" von 1820 eine altständische Verfassung und erst als Folge der Revolution von 1830 erhielt das Land mit der „neuen Landschaftsordnung" von 1832 seine „erste moderne Repräsentativverfassung", die etwa dem Niveau der süddeutschen Verfassungen entsprach. 27 Gesetzesinitiative und echte Kontrolle der Exekutive blieben dem Landtag jedoch verwehrt. Die Ständegliederung dominierte in der braunschweigischen Landschaft noch bis 1899 und ein demokratisches Wahlgesetz kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zur Anwendung. 28 Immerhin hatten aber die Stände, zu denen jetzt auch die Bauernschaft zählte, neben dem traditionellen Steuerbewilligungsrecht die Möglichkeit erlangt, die Verteilung der Mittel zwischen den Budgetabteilungen zu beeinflussen. 29 Dadurch erreichten sie ab 1832 zwar noch keinen nennenswerten Einfluß auf die konkrete Infrastrukturpolitik, aber doch auf deren Stellenwert innerhalb der Staatsausgaben. Ihren Mitbestimmungswillen bei der damit im Zusammenhang stehenden Außenhandelspolitik bekundeten die Stände bereits in ihrer ersten Adresse an den „neuen" Herzog Wilhelm vom 3. Oktober 1831, in der sie die Notwendigkeit ihrer Zustimmung zum Abschluß sämtlicher Handelsverträge einforderten. 30 Im Vergleich dazu genossen die preußischen Provinzialstände nur geringe politische Mitbestimmungsrechte. Erst nach der Revolution von 1848/50 wurde in Preußen ein parlamentarisches Ausgabenbewilligungsrecht eingeführt, das, obwohl es weiter ging als in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die regionale Strukturpolitik kaum beeinflußte, weil die Bedeutung der Provinzialstände

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K.E. Pollmann, Die Braunschweigische Verfassung von 1832, Braunschweig 1982, S. 9. Vgl. auch: R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik von 1828 bis zum Anschluß an den Deutschen Zollverein (19. Oktober 1841), Diss., Braunschweig 1930, S. 5; J. König, Landesgeschichte, einschließlich Recht, Verfassung und Verwaltung, in: R. Moderhack (Hrsg.), Braunschweigische Landesgeschichte, Braunschweig 1976, S. 93; G.Chr. von Unruh, Kommunale Selbstverwaltung 1833 und 1983, Göttingen 1983, S. 9 ff.; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 14; Chr. Römer, Regierung und Volk, S. 3. 28 H. von Frankenberg, Das Staats- und Verwaltungsrecht des Herzogtums Braunschweig, Hannover 1909, S. 4; K.E. Pollmann, Braunschweigische Verfassung, S. 29 und 45 f. 29 Ebenda, S. 26 f. 30 F.K. von Strombeck, Staatswissenschaftliche Mittheilungen, vorzüglich in Beziehung auf das Herzogthum Braunschweig, 3. Heft, Braunschweig 1832, S. 103. - Zu den Ereignissen um den Sturz Herzog Karl II. (1823/26-1830/31) im Herzogtum Braunschweig im Überblick: J. König, Landesgeschichte, S. 91 ff; R. Oberschelp, Politische Geschichte Niedersachsens 1803-1866, Hildesheim 1988, S. 64 ff. Diese wie auch die meisten anderen Darstellungen beruhen auf: O. Böse, Karl II. Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Braunschweig 1956. - Einen anderen Erklärungsansatz liefert: W. Deich, Die Julirevolution von 1830 und das Herzogtum Braunschweig, in: M. Kossok/ W. Loch (Hrsg.), Die französische Julirevolution von 1830 und Europa, Berlin 1985, S. 242 ff.

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nach 1848 sank.31 Regierung und Verwaltung entschieden also über die Infrastrukturmaßnahmen, während die Stände lediglich Petitionen zu Einzelfragen vorbringen konnten.32 Die Wirkungsrichtung der auf den verschiedenen regionalen Ebenen vorhandenen frühparlamentarischen Mitbestimmung auf die Qualität der Infrastrukturpolitik kann nicht pauschal charakterisiert werden, obwohl die preußischen Provinzialstände im allgemeinen als gesellschaftspolitisch konservativ und wirtschaftspolitisch kaum progressiver als die Bürokratie gekennzeichnet werden. 33 Die Rezeption der über diese Entscheidungsprozesse überlieferten Verwaltungsakten stützt die Charakterisierung der im Kollegialprinzip organisierten Bürokratie als „diskutierende Verwaltung" mit „quasiparlamentarischen Zügen". 34 Dadurch lassen sich die den infrastrukturpolitischen Maßnahmen zugrundeliegenden Motive nachvollziehen. Es wird aber auch deutlich, wie stark dieses System in den dreißiger und vor allem vierziger Jahren an reformerischer Gestaltungskraft eingebüßt hat. 35 Die Frage nach der jeweiligen Relevanz von Verwaltung und Verfassung für den gesellschaftlichen Fortschritt stellte im übrigen nicht nur für die historische Forschung, sondern auch schon unter den Zeitgenossen einen wichtigen Diskussionsgegenstand dar. 36 Die ersten Reformer glaubten jedenfalls mit Kant an die „Machbarkeit" einer neuen Gesellschaft und gingen in ihren Konzepten immer von einer Verwaltungsreform aus. „Die Beseitigung der Herrschaft von Menschen über Menschen, die Ablösung jeder Art von Vormundschaft durch eine sachgerechte und gesetzmäßige Verwaltung war das ideale Ziel der Reformer." 37 Der hohe Stellenwert der staatlichen Institutionen hatte aber auch einen sachlichen Hintergrund. Das Königreich Preußen war eben keine geographische, konfessionelle, ethnische, sprachliche und, wie gezeigt wurde, auch 31

H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 330; R. Mußgnug, Die rechtlichen und pragmatischen Beziehungen zwischen Regierung, Parlament und Verwaltung, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 110 ff. 32 H. Giesau, Geschichte des Provinzialverbandes von Sachsen 1825-1925, Merseburg 1926, S. 3 ff. 33 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 443 ff. 34 R. Koselleck, Preußen, S. 180, 244, 261 und 280. 35 Vgl. Abschnitt E. 36 Während für die Liberalen die deutsche Einheit und die Repräsentativverfassung die entscheidenden Forderungen während der „Restauration" und des Vormärz waren, setzten die Reformkonservativen mehr auf eine Verbesserung von Gesetzgebung und Verwaltung unter den Monarchien. Vgl. K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 34 f., 61 ff., 86 ff., 95 ff., 173, 310 f.; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 297 ff., 413 ff. 37

R. Koselleck, Preußen, S. 154 und 163 ff.

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keine rechtliche Einheit, so daß die Beamtenschaft neben dem Militär zum entscheidenden Träger der Staatsintegration wurde. 38 Für die Gestaltung der Infrastrukturpolitik und auch speziell der Angelegenheiten von Wegebau und -Unterhaltung, spielten die Dezentralisierung der Verwaltung und die Entwicklung der Selbstverwaltung auf kommunaler wie auf der Ebene kleinerer territorialer Verwaltungseinheiten eine wichtige Rolle. Angesichts der Auflösung traditioneller, meist feudal begründeter Rechtsverhältnisse und vor allem durch das Wachstum der öffentlichen Aufgaben in einer komplexer werdenden Gesellschaft im allgemeinen und beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur im besonderen war eine Dezentralisierung und Effektivierung der Verwaltung unumgänglich. Aber auch dieser Prozeß zog sich, maßgeblich durch machtpolitische Erwägungen geprägt, bis in die siebziger Jahre hin. 39 Innerhalb des Deutschen Bundes lagen aber das allein aus Berlin oder Potsdam gar nicht regierbare Königreich und das kleine, aber im Gegensatz zu den neuen Mittelstaaten ziemlich organisch gewachsene Herzogtum bei der Dezentralisierung der Verwaltung noch an der Spitze.40 Preußen und Braunschweig vollzogen wesentliche Schritte auf dem Weg zur Selbstverwaltung sachlich und zeitlich parallel. So lehnte sich die braunschweigische Städteordnung von 1834 an die preußische von 1808 und deren Revision von 1831 an.41 Auch in den vor 1815 nicht zu Preußen gehörenden Teilen der Provinz Sachsen wurde erst die revidierte Städteordnung von 1831 eingeführt. 42 Im Gegensatz zur relativ progressiven Städteordnung verhinderten vornehmlich die ostelbischen Großgrundbesitzer in den zwanziger Jahren und auch noch nach 1848 die Modernisierung der Landgemeindeordnung im östlichen und mittleren Preußen.43 Im Herzogtum Braunschweig wurde 1850 die erste Landgemeindeordnung erlassen. Seit 1832 erlebten hier vor allem die Krei-

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Ebenda, S. 398 ff. Wichtigste Ergebnisse dieser Dezentralisierung waren in Preußen die Kreisordnung von 1872 und die Reform der Provinzialverfassungen, die für die preußische Provinz Sachsen am 1.1.1876 in Kraft trat. In Braunschweig wurden nach Erlaß einer neuen Kreisordnung im Jahre 1871 Kreiskommunalverbände gegründet. Vgl. H. Mundhenke, Die Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung von 1814 bis 1884, in: Braunschweigisches Jahrbuch, Bd. 35, Braunschweig 1954, S. 139 ff.; Abschnitte F und H. 39

40 F.L. Knemeyer, Beginn der Reorganisation der Verwaltung in Deutschland, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 144 ff.; W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 173. 41 H. Heffter, Selbstverwaltung, S. 205; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 30. 42 J.H.B. Burchardt, Wirksamkeit der Provinzialstände, S. 55; R. Nürnberger, Städtische Selbstverwaltung, S. 233 f.; G. Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1984, S. 314. 43 D. Zimmer, Großgrundbesitzer, S. 40; H. Heffter, Selbstverwaltung, S. 221 ff.

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se, aber auch die Gemeinden Kompetenzgewinne gegenüber dem Zentralstaat und den Ämtern. 44 Es wird allerdings noch zu zeigen sein, daß in Straßenbausachen die preußischen Kreise zwischen den vierziger und siebziger Jahren eine größere Selbständigkeit besaßen.45 Den entscheidenden Schritt zur Selbstverwaltung gingen Preußen und Braunschweig zur gleichen Zeit. In den siebziger Jahren wurden mit der Änderung der preußischen Kreisordnung sowie der Gründung der braunschweigischen Kreiskommunalverbände die Kompetenzen der Mittelinstanzen, also der Kreise, noch einmal gestärkt und durch die Gründung von Provinzialverbänden in Preußen Selbstverwaltungskörperschaften geschaffen, die feste Zuständigkeitsbereiche übernahmen und für diese auch die finanzielle Verantwortung trugen. Für diesen Teilerfolg des Selbstverwaltungsstrebens gerade in der Phase der Reichseinigung waren neben der politischen Kräftekonstellation jener Zeit auch praktische Erfahrungen aus der Verwaltungstätigkeit in der Zeit der ersten Industrialisierungsphase und der Entwicklung des Agrarkapitalismus ausschlaggebend.46 Generell stellte die schrittweise Ausdehnung der Befugnisse von regionalen Körperschaften und Kommunen, mit Ausnahme der Einführung der preußischen Städteordnung von 1808, in erster Linie eine Reaktion auf die Erfordernisse der Verwaltungspraxis dar, wie auch an der Entwicklung der Wegeverwaltung deutlich wird. 47 Die 1808 eingeführte Gewerbefreiheit wurde in Braunschweig 1821 aufgehoben und erst 1864 wiederhergestellt. 48 Deshalb war hier der Einfluß der staatlichen Konzessionspolitik auf die gewerbliche Entwicklung größer als in Preußen, wo Hardenberg die Gewerbefreiheit schon 1811 eingeführt hatte und diese auch in den ehemals westfälischen Gebieten erhalten blieb. In den ehemals kursächsischen Gebieten galt die Gewerbefreiheit erst seit 1845.49 Feh-

44 W. Diederichs, 125 Jahre, S. 36 ff.; Th. Klein, Herzogtum Braunschweig, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 750. 45 Vgl. Abschnitt F und Kapitel G.III. 46 H. Giesau, Geschichte des Provinzialverbandes, S. 39 ff.; H. Heffter, Selbstverwaltung, S. 474 ff.; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 40 ff.; G. Heinrich, Geschichte Preußens, S. 427 f. 47 G.Chr. von Unruh, Kommunale Selbstverwaltung, S. 17, spricht in diesem Zusammenhang von der „Kraft des Faktischen". Zur Entwicklung der Wegeverwaltung Abschnitt H. 48 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 348 ff.; G. Biegel (Hrsg.), Braunschweigische Industriegeschichte 1840-1990. Ausstellung anläßlich des 125jährigen Bestehens der Industrie- und Handelskammer Braunschweig, Braunschweig 1989, (= Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums, Bd. 54), S. 46 f. 49 W. Rüfner, Die Verwaltungstätigkeit unter Restauration und Konstitution, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,

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lende Gewerbefreiheit behinderte allerdings Industrialisierung nicht zwangsläufig, zumal „krasse Widersprüche zwischen gesetzlicher Norm und Realität ... typisch für die Gewerbeverfassung des Herzogtums Braunschweig in der Mitte des 19. Jahrhunderts" waren. 50 Für deren Fortgang erwiesen sich die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen aus vorindustrieller Zeit sowie Gewerbeförderung und aktive Infrastrukturpolitik des Staates als wichtigere Einflußfaktoren.

II. Die Herausbildung einer kapitalistischen Landwirtschaft in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig Nach 1815 übernahm die Landwirtschaft der Provinz Sachsen innerhalb Preußens eine ähnliche Vorreiterrolle, wie sie sie im industriellen Bereich die Rheinprovinz innehatte. „Der Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise wurde hier am frühesten vollzogen." 51 Auch die braunschweigische Landwirtschaft galt als die modernste im nordwestdeutschen Raum.52 Der provinzialsächsische Entwicklungsvorsprung resultierte vor allem aus einer besseren Ausgangslage. In der Magdeburger Börde, der Goldenen Aue und der Wische verfugte die Provinz über außergewöhnlich fruchtbare Böden. Dort kam es schon am Ende des 18. Jahrhunderts in einzelnen Gütern und Bauernwirtschaften zur Anwendung der Fruchtwechsel- bzw. verbesserten Dreifelderwirtschaft. Die Umgestaltung der Bodennutzungssysteme war mit dem verstärkten Anbau von Hackfrüchten verbunden, wobei naturgemäß die fruchtbaren Lößbodengebiete voranschritten. 53

Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 477. Vgl. auch: W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 306 ff.; R. Koselleck, Preußen, S. 353 und 596. 50 H. Theissen, Die Entwicklung des Gewerbes im Herzogtum Braunschweig im Zeitraum zwischen 1750 und 1870, in: J. Brockstedt (Hrsg.), Gewerbliche Entwicklung in Schleswig-Holstein, anderen norddeutschen Ländern und Dänemark von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Übergang ins Kaiserreich, Neumünster 1989, S. 356. Vgl. auch G. Schildt, Tagelöhner, S. 322, Anm. 10. Auch im „Mutterland" der deutschen Industrialisierung, dem Königreich Sachsen, wurde die Gewerbefreiheit erst 1861 eingeführt. Vgl. H. Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln-Wien 1988, S. 166 ff. 51

R. Berthold, Veränderungen im Bodeneigentum, S. 15. R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 8. 53 R. Berthold, Zur Herausbildung der kapitalistischen Klassenschichtung des Dorfes in Preußen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1977, H. 5, S. 567; W. Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 52

II. Die Herausbildung einer kapitalistischen Landwirtschaft

59

Das galt in analoger Weise für die Landwirtschaft im nördlichen Hauptteil des Herzogtums Braunschweig. Ähnlich der mitteldeutschen Grundherrschaft war die feudale Abhängigkeit der Bauern im braunschweigischen Teil der nordwestdeutschen Grundherrschaft relativ mild gewesen.54 Das drückte sich in günstigen Rechtsverhältnissen für die Bauern, die ihr Land größtenteils in vollem Eigentum, Erbpacht oder Erbzinspacht besaßen, aus. Die Arbeitsrente war gering, die meisten Abgaben in geldliche Leistungen umgewandelt. Die Bauerngüter waren in der Regel traditionell unteilbar. 55 Im Herzogtum Braunschweig war die geschlossene Vererbung im Rahmen des Bauernschutzes seit 1597 sogar staatlich sanktioniert. Die Teilungsbeschränkungen für Bauerngüter wurden hier erst 1874 aufgehoben, also nachdem der Übergang zum Agrarkapitalismus im wesentlichen abgeschlossen war. 56 Die Betriebsgrößenstruktur entsprach den marktwirtschaftlichen Erfordernissen in beinahe idealer Weise.57 In den zwanziger Jahren wurden Ablösbarkeit bzw. Regulierung der Abgaben und Dienste sowie Gemeinheitsteilung und Separation auch in der preußischen Provinz Sachsen eingeführt bzw. auf die früher kursächsischen Landesteile ausgedehnt, so daß auf dem wichtigen Gebiet der Agrarreform relativ rasch weitgehend einheitliche Rechtsverhältnisse hergestellt wurden. In den dreißiger Jahren ging dann auch das Herzogtum Braunschweig durch ein relativ bauernfreundliches Ablösungsgesetz und mit der allgemeinen Initiierung von Gemeinheitsteilung und Separation die entscheidenden Schritte auf dem Wege zum Agrarkapitalismus. Diese Reform der Agrarverfassung erfolgte erst ein

3. Aufl., Stuttgart 1978, S. 320; H.-H. Müller, Die Entwicklung des Ackerbaus und der Aufschwung der landwirtschaftlichen Nebenindustrie von 1800 bis 1870 (Die Bedeutung des Kartoffel- und Zuckerrübenanbaus), in: K. Lärmer (Hrsg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution, Berlin 1979, S. 220; F.-W. Henning, Die Ansätze der industriellen Entwicklung in SachsenAnhalt im 19. und im 20. Jahrhundert, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, N.F., Bd. 4, H. 1, Berlin 1994, S. 3. 54 Zur Differenzierung innerhalb der Formen der Grundherrschaft: G. Heitz, Die Differenzierung der Agrarstruktur am Vorabend der bürgerlichen Agrarreformen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1977, H. 8, S. 913 ff. Zum Meierrecht in Braunschweig: W. Achilles, Waren die Stein-Hardenbergischen Reformen Vorbild der hannoversch-braunschweigischen Ablösungsgesetze?, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 46/47, Hildesheim 1975, S. 173 ff., 191 ff. 55 Realteilungspraxis in nennenswertem Umfang existierte, abgesehen von den „walzenden Grundstücken", innerhalb des Untersuchungsgebietes als Folge protoindustrieller Entwicklung und geringer politischer Einflußnahme im 18. Jahrhundert nur im Eichsfeld. Vgl. U. Müller, Ländliche Sozialstruktur, S. 54. 56 W. Achilles, Siedlungs- und Agrargeschichte, in: R. Moderhack (Hrsg.), Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick, Braunschweig 1976, S. 140 f., 148; E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung an der Schwelle des Industriezeitalters. Der Raum Braunschweig als Beispiel, Stuttgart 1966, S. 2; R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 28. 57 F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 7.

60

Β. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Viertel Jahrhundert nach den preußischen Agrarreformen, vermied aber auch deren Fehler. 58 Im Herzogtum Braunschweig, wo sich der Adel gegenüber Landesherrn und Bauern in einer schwächeren Position befand als in Preußen und Hannover, waren die 1834 festgelegten Tarife und Bedingungen der Ablösung bauernfreundlicher als in den Nachbarstaaten. 59 Die im Zuge der Agrarreformen anstehenden Entschädigungszahlungen belasteten aber auch die provinzialsächsischen Vollbauern nicht zu hoch. Viele von ihnen waren durch die Schafwollproduktion, den Anbau von Körner- und Handelsfrüchten oder, vorrangig in Stadtnähe, durch Feldgemüsebau zu einer gewissen Kapitalakkumulation in der Lage gewesen.60 Landabtretungen als Ablösungsentschädigung kamen in der Provinz Sachsen sehr selten und im Herzogtum Braunschweig gar nicht vor. Die infolge der geschlossenen Vererbungspraxis bestehenden relativ großen Grundstücke blieben daher weitgehend erhalten. Ihre Bewirtschaftung erforderte den Einsatz fremder Arbeitskräfte, der durch die Umwandlung der Büdner und Kossäten in letztendlich freie Lohnarbeiter ermöglicht wurde. 61 In der Praxis wies der Fortgang der Agrarreformen erhebliche regionale Differenzen innerhalb eines Gesetzgebungsgebietes auf. Das Interesse wie auch die finanziellen Voraussetzungen der Bauern im Harzvorland, Thüringer Bekken oder an der hallischen Saale an Ablösung und Modernisierung der Flurverfassung waren natürlich größer als in den stark parzellierten, unfruchtbareren oder marktferneren Gegenden des Eichsfeldes, der Altmark oder der ostelbischen Kreise Liebenwerda und Schweinitz. 62 Auch innerhalb des Herzogtums Braunschweig ging die Verwirklichung der Agrarreformen in den fruchtbaren Lößgebieten der nördlichen Kreise schneller voran als in den Gebirgsregionen. Im Kreis Blankenburg wurden die Agrarreformen größtenteils erst nach 1850 in Angriff genommen, während in den Kreisen Braunschweig, Wolfenbüttel und Helmstedt die Ablösungen zu diesem Zeitpunkt schon kurz vor dem Ab58 J. König, Landesgeschichte, S. 93 f.; J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung, S. 175; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 106 ff.; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 33 ff. 59 W. Achilles, Siedlungs- und Agrargeschichte, S. 147 f. - Die braunschweigischen Herzöge hatten mehr Abgaben und Dienste erhalten als der gesamte Adel. Bereits 1848 war daher der größte Teil der Ablösungsverfahren abgeschlossen. Vgl. G. Schildt, Tagelöhner, S. 124; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 48 f. 60 K. Bielefelds Das Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete, Berlin 1911, S. 11 ff.; Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, Braunschweig 1952, S. 172 f., 192. 61 K. Bielefelds Eindringen des Kapitalismus, S. 11 f f ; R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 140 ff. 62 B. Schlitte, Die Zusammenlegung der Grundstücke in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und Durchfuhrung, Leipzig 1886, S. 413 ff.

II. Die Herausbildung einer kapitalistischen Landwirtschaft

61

schluß standen und die Gemeinheitsteilungen und Separationen in vollem Gange waren. 63 Die schon erwähnte Proletarisierung der Kleinstellenbesitzer entwickelte sich somit auch regional unterschiedlich, da sie nicht zuletzt durch die Aufteilung der Gemeindeweiden beschleunigt wurde. 64 Da aber Separation und Gemeinheitsteilung die Voraussetzung für die Modernisierung der Bodennutzungssysteme in größerem Umfange darstellten und diese die Basis für das Einfließen städtischen Kapitals in die Landwirtschaft bildete, ist davon auszugehen, daß die regionalen Differenzierungen der Agrarentwicklung während der Entfaltung des Agrarkapitalismus wuchsen.65 Während sich der traditionelle Großgrundbesitz in der Agrarkrise der zwanziger Jahre auf die Schafwollproduktion konzentrierte, investierten die bürgerlichen Pächter vorwiegend in den Anbau von Rohstoffen für die sich entwikkelnde landwirtschaftliche Nebenindustrie. Der Anbau von Kartoffeln für Brennereien, von Zichorien für die Kaffeersatzherstellung, von Hopfen für Brauereien und von Tabak für die Zigarrenfabrikation war zunächst auf die Umgebung größerer Städte beschränkt. 66 Dabei bildeten sich regionale Zentren der Weiterverarbeitung heraus. Vom Anteil der Beschäftigten her war das Herzogtum Magdeburg um 1800 der wichtigste Standort des preußischen Nahrungs- und Genußmittelgewerbes. 67 Zur gleichen Zeit war das Herzogtum Braunschweig der Mittelpunkt der Zichorienverarbeitung im Reich.68 Diese Traditionen haben zweifelsfrei Jahrzehnte später Industrialisierungsprozesse begünstigt und gelenkt. Der wichtigste Impuls für die allgemeine Verbreitung des Agrarkapitalismus und schließlich auch für den Beginn der Industrialisierung ging allerdings in beiden Untersuchungsgebieten vom Zuckerrübenanbau aus. Während der Kontinentalsperre hatte die preußische Zuckerproduktion auch in den Gebieten der

63 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 37,40; Der Landkreis Braunschweig, S. 214; H. Klages, Die Entwicklung der Kulturlandschaft im ehemaligen Fürstentum Blankenburg. Historisch-geographische Untersuchungen über das Werk des Oberjägermeisters Johann Georg von Langen im Harz, Bad Godesberg 1968, S. 48. 64 H. Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847, Göttingen 1978, S. 180. 65 Zur Anlage städtischen Kapitals in der Provinz Sachsen: K. Bielefeldt, Eindringen des Kapitalismus, S. 19 ff. 66 Ebenda, S. 24. 67 Mit 4,4 Beschäftigten pro 1000 Einwohner war in Magdeburg unter den 12 preußischen Provinzen der Anteil der in diesem Zweig Beschäftigten am höchsten. K.P. Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie 17501914, Stuttgart 1993, S. 135. Vgl. auch Ebenda, S. 98 f. und 110 ff. 68 Ebenda, S. 128 ff.

62

. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

späteren Provinz Sachsen einen ersten Aufschwung erfahren. 69 In den dreißiger Jahren wurde die Zuckerrübe zur „Leitkultur der kapitalistischen Intensivierung". 70 Dies geschah vor allem in großen Teilen der preußischen Provinz Sachsen, des Herzogtums Braunschweig und der anhaltinischen Herzogtümer, später auch in Teilen des Königreichs Hannover. In allen diesen meist überdurchschnittlich fruchtbaren Gebieten existierten schon vorher Intensivierungstendenzen in der Landwirtschaft und Erfahrungen im Hackfruchtanbau. Die unmittelbaren Produzenten befanden sich in relativ günstigen sozialökonomischen Verhältnissen und konnten neben städtischen Investoren ebenfalls Kapital aufbringen. Schließlich erschlossen Wasser- und Landstraßen sowie der sich hier rasch entwickelnde Eisenbahnbau günstige Absatzmöglichkeiten, worauf noch ausfuhrlicher einzugehen sein wird. Es existierte außerdem ein direkter Zusammenhang zwischen der Zuckerproduktion und der Zollpolitik. In Preußen wurde die einheimische Wirtschaft zunächst durch das Zollgesetz von 1818 vor Rohrzuckerimporten geschützt. Weder die Senkung der Importzölle 1839 noch die ab 1840 erhobenen und immer wieder erhöhten Rübenzuckerverbrauchssteuern haben den bis in die siebziger Jahre anhaltenden Wachstumsprozeß der Zuckerrübenwirtschaft gefährdet, da diese durch Züchtungsmaßnahmen, Mechanisierung und Transportkostensenkung immer wieder ihre Produktivität steigerte. 71 In Braunschweig war die Hinwendung zur Rübenzuckerproduktion direkt mit dem Beitritt zum Zollverein, den das braunschweigische Kernland im Jahre 1842 vollzog, und mit dem hannoverschen Beitritt im Jahre 1854 gekoppelt.72 Der im Vergleich

69

Im Jahre 1811 wurden im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt die ersten Zuckerfabriken des Untersuchungsgebietes gegründet. C. von Seydlitz, Der Regierungs-Bezirk Magdeburg. Geographisches, statistisches und topographisches Handbuch, Magdeburg 1820, S. 40; H. Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963, S. 88; K.P. Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie, S. 119 ff. 70 H.-H. Müller, Entwicklung des Ackerbaus, S. 230; F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 6 ff. - „Der Anbau der Zuckerrübe hat nicht nur die Bauern reich gemacht, sondern auch mittelbar den Ackerbau nachhaltig beeinflußt. So zwang er zur Verwendung des Kunstdüngers und zu einer besonders sorgfältigen Bearbeitung des Bodens, wie er auch die ausgeführten Meliorationen in erheblichem Maße notwendig machte. Weiter verursachte er eine Belebung der Viehzucht, da durch Rübenblätter und Schnitzel die Stall futterung erleichtert wurde, was wiederum die zunehmende Verwandlung von Wiesen in Ackerland zur Folge hatte. Da beim Rübenbau etwa der vierfache Arbeitsaufwand gegenüber dem Getreidebau anfällt, entstand ein zusätzlicher Bedarf an Arbeitskräften, der im Lande selbst nicht mehr gedeckt werden konnte." Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 190 f. 71 M.F. Krawinkel, Die Rübenzuckerwirtschaft im 19. Jahrhundert in Deutschland. Analyse und Bewertung der betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Entwicklung, Köln 1994, S. 40 ff., 53 ff. 72 H.J. Querfurth, Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte, in: R. Moderhack (Hrsg.), Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick, Braunschweig 1976, S. 190;

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung

63

zum Regierungsbezirk Magdeburg spätere Zeitpunkt des braunschweigischen Take-off zur Industrialisierung ist maßgeblich auf diesen Umstand zurückzuführen, wobei der Rückstand etwa 10 Jahre betragen hat. 73

I I I . Die Führungssektoren der Industrialisierung Der Aufschwung des Zuckerrübenanbaus ist nur durch die parallel verlaufende Gründungswelle von Zuckerfabriken erklärbar. Im gesamtdeutschen Rahmen war die Rübenzuckerindustrie neben der Textilindustrie in den dreißiger Jahren, dem Eisenbahnbau seit den vierziger Jahren sowie der Schwerindustrie seit den fünfziger Jahren der größte Investitionsträger im Industrialisierungsprozeß. 74 Als „Vorreiter der modernen Nahrungs- und Genußmittelindustrie" gehörte sie zu den „industriellen Schlüsselsektoren". Allerdings hat die Forschung „regionalen Industrialisierungsprozessen, die von der Nahrungsund Genußmittelindustrie maßgeblich getragen wurden, ... keine größere Beachtung geschenkt. Gute Beispiele sind die preußische Provinz Sachsen oder das Herzogtum Braunschweig, deren hoher wirtschaftlicher Stand sich nicht zuletzt auf die Rübenzuckerindustrie gründete, die noch heute völlig zu Unrecht als quasi Nebengewerbe großagrarischen Junkertums und damit als Anhängsel der Landwirtschaft bewertet wird." 75 Ähnlich wie bei anderen Branchen kristallisierten sich auch bei der Zuckerindustrie relativ rasch Führungsregionen heraus. Zwischen 1840 und 1870 kamen alljährlich mindestens 50% des im Zollverein produzierten Rübenzuckers aus der Provinz Sachsen. Seit 1850 steigerte das Herzogtum Braunschweig seinen Anteil kontinuierlich und er-

G. Biegel, Braunschweigische Industriegeschichte, S. 10, 27; G. Schildt, Tagelöhner, S. 331. 73 H. Theissen, Entwicklung des Gewerbes, S. 358. Weitere industrialisierungshemmende Faktoren waren nach Ders., Industrielle Revolution, S. 330 f., die industrialisierungsfeindliche Politik zwischen 1830 und 1848 sowie die Konservierung des textilen Heimgewerbes als Folge der ländlichen Übervölkerung. Allerdings widersprechen sich Theissens Periodisierungsversuche. So datiert er in Ebenda, S. 326, den „Beginn der Industrialisierung" mit der Mitte der fünfziger und den „Durchbruch zur Industrialisierung" mit den 1860er Jahren (S. 250 ff.). In Ders., Entwicklung des Gewerbes, S. 358, wird der „Durchbruch zur Industrialisierung" in die fünfziger Jahre gelegt. 74 Deutsche Geschichte, Bd. 4, S. 230. 75 K.P. Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie, S. 37. Tatsächlich wird durch Ellerbrocks Arbeit eine wichtige Forschungslücke geschlossen. Parallel dazu, offensichtlich ohne gegenseitige Rezeption entstand: M.F. Krawinkel, Rübenzuckerwirtschaft. Beide Verfasser kannten übrigens die Arbeit von Hans Theissen nicht.

64

. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

reichte in den siebziger Jahren beinahe 10% der Reichsproduktion. 7 6 V o n 1850 bis 1867 verfünffachte sich i m Herzogtum Braunschweig die Zahl der Zuckerfabriken, während sich Anbaufläche und Menge der verarbeiteten Zuckerrüben mehr als verzehnfachten. 77 Für die regionalen Industrialisierungsprozesse in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig spielte die Nahrungs- und Genußmittelindustrie und speziell die Rübenzuckerindustrie die Rolle eines Führungssektors. Die ersten Industrieunternehmungen hatten fast immer einen Bezug zur Landwirtschaft. 78 Ein Großteil der i m 18. Jahrhundert ohne agrarischen Bezug entstandenen Fabriken und Manufakturen erlebte dagegen in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts eine Phase des Niedergangs bzw. der Stagnation. 7 9 Ergebnis dieses aus der agrarischen Entwicklung resultierenden Industrialisierungsprozesses war eine überdurschnittliche Bedeutung der Nahrungs- und Genußmittelproduktion sowie des Maschinenbaus, während Montan- und Textilindustrie einen geringeren Stellenwert besaßen als in den „klassischen" deutschen Industrialisierungsregionen. 8 0 Während man die Agrarreformen häufig als „günstige Vorbedingung" oder „eine Voraussetzung" der Industrialisierung ansieht, w i r d die Rolle des Wirt76 K.P. Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie, S. 209 und 402. Vgl. auch Ebenda, S. 178, 211 und 217 f. sowie A. Bienengräber, Statistik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollverein für die Jahre 1842-1864, Berlin 1868, S. 27 f. - M.F. Krawinkel, Rübenzuckerwirtschaft, beinhaltet 48 Graphiken, 66 Tabellen im Text sowie 41 im Anhang, wobei jedoch viele Dopplungen auftreten. Zur regionalen Verteilung bringt er nur Angaben über den Anteil der Provinzen an der gesamten Rübenfläche sowie über die Fabrikenzahl. Vgl. Tabelle 3, in Anh. S. IV sowie die identischen Tabellen auf S. 195 und Anh., S. XLII, Tabelle 41. 77 G. Biegel, Braunschweigische Industriegeschichte, S. 28. 78 Vgl. Ebenda, S. 13; H.J. Querfurth, Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte, S. 188; J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung, S. 177, 183 f.; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 329; H. Asmus, Politische und agrarisch-industrielle Neu- und Umgestaltung, S. 122; F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 9. K.H. Kaufhold, Frühindustrialisierung im Herzogtum Braunschweig. Ein Beitrag zum Problem Industrialisierungsgeschichte und Landesgeschichte (Zusammenfassung), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 48, Hildesheim 1976, S. 72 f., spricht etwas vorsichtiger von „erheblichen Impulsen", die von der Entwicklung der Landwirtschaft auf den Verlauf der Industrialisierung ausgingen, sowie einem „multisektoralen Durchbruch". - Auch die Zeitgenossen reflektierten die unmittelbare Bedeutung der Landwirtschaft für die Industrialisierung im Untersuchungsgebiet. Vgl. F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik des Königsstaats Preußen, 1. Abtheilung, Darmstadt 1853, S. 752. - Ein in der nachfolgenden Literatur weitgehend unbeachteter empirischer Beweis für den ländlichen Charakter der braunschweigischen Industrialisierung ist zu finden in: F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums auf die Gestaltung der Bevölkerungsverhältnisse im Herzogtum Braunschweig, in: Beiträge zur Statistik des Herzogtums Braunschweig, H. 17, Braunschweig 1903, S. 193 ff. 79 80

H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 177. Ebenda, S. 360 ff.

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung

65

schaftssektors Landwirtschaft für die deutsche Industrialisierung, abgesehen von seiner Bedeutung für die Lebensmittelversorgung, oft als „relativ unbedeutend" charakterisiert. 81 Das liegt sicher daran, daß eine so unmittelbare ökonomische, sozial- und raumstrukturelle Verbindung zwischen der Entstehung einer kapitalistischen Landwirtschaft und dem Beginn der Industrialisierung bei den „klassischen" Prozessen im Rheinland, im Königreich Sachsen, in Schlesien oder auch in Südwestdeutschland nicht festzustellen war. Allerdings hat bereits W.G. Hoffmann auf den Industrialisierungstyp der vorherrschenden Nahrungs- und Genußmittelindustrie hingewiesen.82 Gerade das braunschweigische Beispiel im Rahmen Nordwestdeutschlands zeigt, daß auch aus diesem Industrialisierungstyp Entwicklungsvorsprünge erwachsen können.83 Die Entwicklung der Zuckerindustrie ging zeitlich der Industrialisierung anderer Branchen voran und beeinflußte gemeinsam mit dem Eisenbahnbau deren Erzeugnisstruktur und räumliche Verteilung entscheidend.84 Als in den Gründerjahren die Industrialisierung der Stadt Braunschweig ihren „eigentlichen Aufschwung" nahm, war der Aufbau der Zuckerindustrie auf dem Lande bereits abgeschlossen.85 Während von der Zuckerrübenwirtschaft ausgehende Rückwärtskopplungseffekte Eisenbahnbau, Maschinenindustrie, Braunkohleförderung und Düngemittelproduktion beförderten, hat die gleichzeitige Einschränkung von Flachsanbau und Schafhaltung zugunsten von Zuckerrübenanbau und Fabrikrückstände verwertender Milchkuhhaltung den Niedergang des dezentralen Textilgewerbes im Untersuchungsgebiet beschleunigt.86 Gleichzeitig wurde die Intensivierung der Landwirtschaft stimuliert, denn „die Zuckerrübe verlangte eine tiefe und gründliche Bodenbearbeitung und reichlich Düngung, die durch die erhöhten Viehbestände auch möglich war." 87 Die technologische Führungsrolle wird auch durch den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zuckerindustrie und der Verbreitung von 81

Vgl. z.B. H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 49 ff., 631. W.G. Hoffmann, Stadien und Typen der Industrialisierung. Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse, Jena 1931, S. 139 ff. - Die Genesis der Industrialisierung aus der Landwirtschaft stützt m.E. nicht die Kuznets-These vom wirtschaftlichen Wachstum des 19. Jahrhunderts als langandauernden Kumulierungsprozeß. Die Rübenzuckerproduktion hat im Gegenteil die Funktion eines Führungssektors übernommen. Vgl. W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 18 f. 83 J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung, S. 184 f. 84 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 253 ff. 85 E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 67. 86 G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 27 f., 39; R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 346; Th. Müller, Ostfalische Landeskunde, S. 286, 296 ff., 300; F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 11 f.; H. Asmus, Politische und agrarisch-industrielle Neu- und Umgestaltung, S. 128. 87 Ebenda, S. 124; H.-H. Müller, Entwicklung des Ackerbaus, S. 228. 82

5 Uwe Müller

66

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Dampfmaschinen reflektiert. 88 Daten der preußischen Gewerbestatistik aus dem Jahre 1849 über die in den provinzialsächsischen Kreisen vorhandenen „Dampfmaschinen, worin die Dämpfe mechanisch wirken (also mit Ausschluß der sogenannten Dampfkessel)" sowie die „Runkelrübenzuckerfabriken" widerspiegeln außerdem regionale Unterschiede im Industrialisierungsbeginn (Vgl. Tabelle 1 auf S. 67). Zunächst verdeutlichen die Angaben über Zahl und Leistung der vorhandenen Dampfmaschinen die Lage der provinzialsächsischen Industrialisierungszentren in und um Magdeburg und Halle sowie in Erfurt und im nördlichen Harzvorland. In der preußischen Fabrikstatistik werden die Dampfmaschinen nach 10 unterschiedlichen Verwendungsarten eingeteilt. Die entsprechende Klassifizierung berücksichtigte jedoch nicht die Besonderheiten der Provinz Sachsen, so daß die Rübenzuckerindustrie in der Rubrik „Übrige Zwecke" verschwand, die hier jedoch immer wieder den größten Anteil ausmachte.89 Die vorgestellten Daten zeigen, daß bis auf wenige Ausnahmen die Kreise mit den höchsten Dampfmaschinenleistungen auch die meisten Beschäftigten in Zukkerrübenfabriken aufwiesen. Nimmt man den Sonderfall Erfurt heraus, so ergibt sich ein Pearsonscher Korrelationskoeffizient von r = 0,73, also ein starker positiver Zusammenhang.90 Die weitere Entwicklung des Dampfmaschinenbestandes und der Zuckerrübenindustrie kann hier nur anhand von Daten über die drei provinzialsächsischen Regierungsbezirke gezeigt werden. Dabei wird deutlich, daß in den fünfziger Jahren die Anzahl der Fabriken und Beschäftigten kontinuierlich anwuchs, wobei der Regierungsbezirk Merseburg gegenüber Magdeburg aufholte (Vgl. Tabelle 2 auf S. 68).

88 Auf die „überragende Bedeutung" der Rübenzuckerfabriken beim Einsatz von Dampfmaschinen im Regierungsbezirk Magdeburg ist bereits an anderer Stelle, wenn auch eher beiläufig, hingewiesen worden. H. Etzold, Einsatz und Herstellung von Dampfmaschinen im Regierungsbezirk Magdeburg (1837 bis 1875), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1990, T. II, S. 77 und 86. 89

Vgl. Ebenda, S. 89 ff. Von den 14 Kreisen, in denen überhaupt Zuckerrübenfabriken existierten, gehörten allein 11 zu den 14 Kreisen mit der höchsten Dampfmaschinenleistung. Im Kreis Erfurt sind allein 31 Maschinen mit 5050 PS dem Eisenbahnsektor zuzuordnen. Für den Kreis Delitzsch schlugen die Eilenburger Baumwollfabriken, u.a. von Degenkolb zu Buche. Die Bitterfelder Dampfmaschinen wurden im Braunkohlebergbau eingesetzt. 90

67

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung Tabelle 1 Dampfmaschinen und Zuckerfabriken in den Kreisen der preußischen Provinz Sachsen im Jahre 1849 Kreis

Dampßnaschinen

Zuckerrübenindustrie

Zahl

PS

Aschersleben

19

144

6

1023

Calbe a.d. Saale

26

311

9

1355

Gardelegen

0

0

0

0

Halberstadt

3

70

1

298

Jerichow I

32

268

2

158

Jerichow II

4

28

0

0

Magdeburg

58

979

11

2041

Neuhaidensleben

6

46

2

200

Oschersleben

6

70

6

1052

Osterburg

0

0

0

0

Salzwedel

3

24

0

0

Stendal

3

20

0

0

85

2625

15

2354

Wanzleben

Unternehmen

Beschäftigte

Wernigerode

2

7

0

0

Wolmirstedt

2

14

5

1248

Bitterfeld

6

128

0

0

Delitzsch

7

145

0

0

Eckartsberga

0

0

0

0

Halle

8

918

1

140

Liebenwerda

3

30

0

0

Mansfelder Gebirgskreis

3

23

2

144

Mansfelder Seekreis

3

100

1

150

Merseburg

0

0

0

0

Naumburg

2

22

0

0

Querfurt

0

0

3

121

Saalkreis

6

84

4

631

Sangerhausen

0

0

0

0

Schweinitz

0

0

0

0

Torgau

1

4

0

0

Weißenfels

0

0

0

0

Wittenberg

2

43

0

0

Zeitz

1

10

0

0

Erfurt

32

5062

0

0

0

0

0

0

Langensalza

2

23

0

0

Mühlhausen

0

0

0

0

Nordhausen

0

0

0

0

Schleusingen

0

0

0

0

Weissensee

1

5

0

0

Worbis

0

0

0

0

Ziegenrück

0

0

0

0

326

11.203

68

10.915

Heiligenstadt

Prov.Sachsen (41 Kreise)

Quelle: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 6, Abth. A, Berlin 1855, S. 559 f., 567, 585 f , 593, 609 f., 619, 637 f., 645, 663 f., 671.

68

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung Tabelle 2 Dampfmaschinen und Zuckerfabriken in den provinzialsächsischen Regierungsbezirken 1846-1858

Regierungsbezirk

Jahr

Dampfmaschinen Zahl

PS

Zuckerrübenindustrie Unter-

Beschäftigte

nehmen Magdeburg

1846

Merseburg Erfurt Magdeburg

1849

157

3.308

34

4.656

41

686

6

554

7

61

1

10

249

4.606

57

9.729

Merseburg

42

1.507

11

1.186

Erfurt

35

5.090

0

0

353

5.111

72

11.208

Merseburg

93

1.226

32

4.832

Erfurt

38

4.933

0

0

468

6.271

78

11.635

109

1.476

28

4.546

51

6.076

0

0

707

9.735

82

14.398

Merseburg

164

3.763

43

7.692

Erfurt

106

12.132

0

0

Magdeburg

Magdeburg

1852

1855

Merseburg Erfurt Magdeburg

1858

Quelle: Gewerbe-Tabelle der Fabrikationsanstalten und Fabrik-Unternehmungen aller Art in sämmtlichen Staaten des Zoll-Vereins nach den Aufnahmen im Monat Dezember 1846, o.O. o.J., S. 16 f., 29; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 6, Abth. A, Berlin 1855, S. 981 f., 989; Ebenda, Abth. B, S. 1551 f., 1565; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1855, Berlin 1858, S. 219 f., 233; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1858, Berlin 1860, S. 449 f., 463.

Voraussetzung fur die Übertragung der vom Führungssektor ausgehenden backward linkages war die parallel verlaufende Verkehrsrevolution, vor allem die Entwicklung der Eisenbahn. Außerdem wurden Bau und Betrieb der Eisenbahn selbst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. So war beispielsweise die vom Staat betriebene Braunschweiger Eisenbahn-Werkstätte im Jahre 1855 mit 208 Arbeitern die größte Fabrik des Herzogtums. „Das zweitgrößte Unternehmen war die Maschinenfabrik Seele u. Co. mit 135 Arbeitern, die vor allem Eisenbahnwagen herstellte." 91

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung

69

In beiden Untersuchungsgebieten wurde in kurzer Zeit ein verhältnismäßig dichtes Eisenbahnnetz aufgebaut.

Tabelle 3 Dichte des Eisenbahnnetzes im Herzogtum Braunschweig und in den provinzialsächsischen Regierungsbezirken im Jahre 1862 Territorium

Länge der Eisenbahnlinien (km)

Hztm. Braunschweig

200

3.802

52,60

RB Magdeburg

352

11.918

29,54

RB Merseburg

351

10.599

33,12

10

3.652

2,74

RB Erfurt

Fläche (km

Eisenbahnnetzdichte (km/1000 km 2)

Quellen: Tabellen A 13, A 18, A 32 und G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie. Ein Beitrag zur Wirtschaftskunde Niedersachsens, Hannover 1928, S. 84.

Das Fehlen der Rübenzuckerindustrie im Regierungsbezirk Erfurt könnte neben der ungünstigen geographischen Lage für das fast vollständige Ausbleiben des Eisenbahnbaus in dieser Region mitverantwortlich gewesen sein. Ein Zusammenhang der Entwicklungen von Zuckerrübenwirtschaft und Eisenbahnbau wird auch durch die Analyse der Kreisdaten sichtbar. Sie offenbart eine vorrangige Orientierung der ersten Eisenbahnbauten an den Fernhandelswegen und an den regionalen Wirtschaftskräften, obwohl die Industrialisierung gerade erst eingesetzt hatte. Deutlich über dem provinzialsächsischen Durchschnittswert von 27,2 km/1000 km lagen die Eisenbahnnetzdichten in den Kreisen Naumburg (119 km/1000 km 2 ), Calbe (98 km/1000 km 2 ), Weißenfels (94 km/1000 km ), im Saalkreis (82 km/1000 km ) sowie in den Kreisen Oschersleben (71 km/1000 km 2 ), Bitterfeld (69 km/1000 km 2 ) und Wanzleben (66 km/1000 km ). In diesen Regionen verbanden sich günstige natürliche Voraussetzungen für die Zuckerrübenwirtschaft, wie fruchtbare Lößböden und Braunkohlenvorkommen, mit den geographischen Lagen an wichtigen Fernhandelsstrecken. Auch im nördlichen Hauptteil des Herzogtums Braunschweig, der 49% des Gesamtterritoriums umfaßte, befanden sich im Jahre 1862 mehr als zwei Drittel der braunschweigischen Eisenbahnstrecken. Hier lagen die

91

G. Schildt, Tagelöhner, S. 324.

70

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Landeshauptstadt als Verkehrsknotenpunkt und praktisch alle Standorte der braunschweigischen Zuckerrübenwirtschaft. 92 Der Bau der braunschweigischen Eisenbahnlinien von Jerxheim nach Helmstedt im Jahre 1858 und von Büddenstedt nach Trendelbusch im Jahre 1864 sollte vorrangig den Transport von Braunkohle in die Zuckerfabriken gewährleisten. Er stellte also eine Beseitigung des Engpasses Verkehr innerhalb eines bereits begonnen Industrialisierungsprozesses dar. 93 Ein Vergleich zwischen den wichtigsten deutschen Staaten und den preußischen Provinzen fur das Jahr 1871, also zu einem Zeitpunkt, an dem sich die unmittelbaren Industrialisierungsfolgen schon deutlich offenbarten, zeigt, daß die preußische Provinz Sachsen und insbesondere das Herzogtum Braunschweig in Bezug auf die quantitative Entwicklung ihrer Eisenbahnnetze mit den Führungsregionen der deutschen Industrialisierung durchaus mithalten konnten. Das Herzogtum Braunschweig wies bei einer Gesamtlänge des Strekkennetzes von 276 km eine Eisenbahnnetzdichte von 74,8 km/1000 km auf, die preußische Provinz Sachsen mit 1233 km Streckenlänge eine Dichte von 48,8 km/1000 km . 9 4 Der Vergleich mit den anderen größeren Staaten des ehemaligen Deutschen Bundes und den2 preußischen Provinzen ergibt, daß nur Hessen-Darmstadt (87,5 km/1000 km ) ein dichteres Eisenbahnnetz als Braunschweig besaß und vor der preußische^ Provinz Sachsen außerdem nur das Königreich Sachsen (71,4 km/1000 k m ) , das Großherzogtum 2 Baden (64,6 km/1000 km ), die preußische Rheinprovinz (61,8 km/1000 km ), das Königreich Württemberg 2(52,7 km/1000 km ) und die preußische Provinz Westfalen (49,7 km/1000 km ) lagen. Die Streckenführung der braunschweigischen Eisenbahnen, die in vielfacher Hinsicht von den großen preußischen und hannoverschen Nachbarn beeinflußt wurde, berücksichtigte allerdings die Interessen Braunschweigs oft nur unzureichend. 95 Trotz des großen finanziellen Einsatzes

92

Von den 1862 vorhandenen braunschweigischen Eisenbahnlinien berührten nur die Teilstrecke von Vienenburg nach Harzburg und der größte Teil der „Braunschweigischen Südbahn" Börßum-Kreiensen Territorien außerhalb des nördlichen Hauptteils des Herzogtums. Die 1856 eröffnete „Hannoversche Südbahn" von Hannover nach Kassel ist nicht in der Statistik enthalten, weil sie vom Kgr. Hannover betrieben wurde. Sie durchschnitt den Kreis Gandersheim bei Kreiensen. Die Kreise Holzminden und Blankenburg erhielten erst in den Jahren 1865 bzw. 1869 Eisenbahnanschlüsse. Vgl. W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 46; J. Jansen, Die Entwicklung des öffentlichen Verkehrsnetzes im Raum Braunschweig (Ein Beitrag zur Linienführung und Netzgestaltung, insbesondere der Eisenbahnen), Diss., Braunschweig 1971, S. 39 ff.; E. Tacke, Der Landkreis Holzminden, Bremen-Horn 1951, S. 197; Der Landkreis Blankenburg, Bremen-Horn 1971, S. 244. 93

H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 266. G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 85; H. Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft, S. 610. 95 Eine direkte Verbindung der Stadt Braunschweig mit den Hafenstädten Bremen und Hamburg wurde nicht geschaffen. Im Jahre 1871 wurde mit der Linie von Berlin 94

III. Die Führungssektoren der Industrialisierung

71

war das Herzogtum aufgrund der geographischen Gegebenheiten letztlich nicht in der Lage, eine eigenständige Eisenbahnpolitik zu betreiben, was nach der Eingliederung Hannovers in das Königreich Preußen sogar zum Verkauf der Staatsbahnen führte. 96 Nach der sich auf fruchtbaren Böden entwickelnden Zuckerrübenwirtschaft und der raschen Herausbildung eines Eisenbahnnetzes werden als weitere positive Voraussetzungen für die braunschweigische Industrialisierung die günstige geographische Lage des Herzogtums im Zentrum Deutschlands und auch speziell der Landeshauptstadt als Schnittpunkt wichtiger Handelswege, die Existenz für die Industrialisierung wichtiger Rohstoffe im Land und die lange handwerkliche Tradition genannt.97 Diese Faktoren spielten allerdings im Vergleich mit der Bedeutung von Zuckerrübenwirtschaft und Eisenbahnbau nur eine sekundäre Rolle, sind zum Teil in ihrer tatsächlichen Ausprägung nur punktuell oder in nicht außergewöhnlichem Maße nachweisbar und werden übrigens von der, wenn auch meist schon älteren, wirtschaftsgeschichtlichen Forschung über die preußische Provinz Sachsen nicht in den Vordergrund gestellt. So profitierte der Harz nicht von seiner Lage in der Mitte Deutschlands, sondern verlor im Verlaufe des 19. Jahrhunderts gegenüber anderen Zentren des Bergbaus sowie der Metallherstellung und -Verarbeitung an Bedeutung.98 Auch die Position der Stadt Braunschweig gegenüber ihren natürlichen Konkurrenten Hannover und Magdeburg war nach der Industrialisierung schwächer als in der vorindustriellen Zeit. Handwerkliche Traditionen bildeten vor allem für die Gründung von Maschinenbauanstalten eine erstrangige Vorbedingung, konnten aber erst durch die Nachfrage der Führungssektoren der braunschweigischen Industrialisierung in dieser Richtung wirksam werden, denn entscheidend war, „daß bis zur Jahrhundertmitte durch den Anschluß an das im Bau begriffene Fernverkehrsnetz die Voraussetzungen zur weiträumigen verkehrswirtschaftli-

nach Hannover über Stendal und Oebisfelde eine nur 20 km nördlich von Braunschweig verlaufende wichtige Ost-West-Fernverbindung fertiggestellt. Im Nord-Süd-Verkehr blieb die Stadt hinter Hannover und Magdeburg zurück. - B. Pollmann, Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Braunschweig seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Strukturen und Probleme, in: Braunschweigisches Jahrbuch, Bd. 63, Braunschweig 1982, S. 99, sah Braunschweig in den 1870er Jahren auf dem „verkehrspolitischen Abstellgleis." Vgl. auch G. Biegel (Hrsg.), 150 Jahre 1. Deutsche Staatseisenbahn Braunschweig-Wolfenbüttel. Technische Entwicklungen und Auswirkungen der Bahn auf Wirtschaft und Gesellschaft, Braunschweig 1988, S. 7, 23, 27; J. Jansen, Entwicklung des öffentlichen Verkehrsnetzes, S. 145 f.; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 127. 96 D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 115 ff.; J.M. Kleeberg, The Privatisation of the Brunswick State Railways in 1869-1870, in: The Journal of Transport History, 11. Jg., 1990, S. 12 ff. 97 G. Biegel, Braunschweigische Industriegeschichte, S. 10, 19 ff. 98 Vgl. Abschnitt B.IV.l

72

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

chen Kommunikation und damit zum Aufbau von Produktionsstätten mit Fernabsatz, d.h. also Industriebetrieben im modernen Sinne, entstanden."99

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige Im folgenden soll nach Landwirtschaft, Zuckerrübenindustrie und Eisenbahnbau die Entwicklung der anderen wesentlichen Wirtschaftszweige im Untersuchungsgebiet umrissen werden, wobei es vor allem um deren Standortstruktur geht. Die einzelnen Teile des Herzogtums Braunschweig wiesen beispielsweise sehr unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen auf und nahmen infolge der Industrialisierung auch verschiedene Entwicklungen. 100

1. Bergbau und Hüttenindustrie Beim Bergbau wäre zunächst die seit dem Mittelalter eine ganze Region prägende Kupfererzförderung und -Verarbeitung im Mansfeldischen zu nennen. Sie erreichte während des gesamten 19. Jahrhunderts dank kontinuierlicher technischer Verbesserungen enorme Produktionssteigerungen. 101 Die Kupferschieferproduktion der Provinz Sachsen stieg von 13.321 Tonnen im Jahre 1816 auf 178.231 Tonnen im Jahre 1871. Das Mansfelder Revier wurde nach 1850 zum zweitgrößten Kupferproduzenten Europas. Ein in den fünfziger Jahren beginnender Konzentrationsprozeß der Gewerkschaften und der infolge der erhöhten amerikanischen Kupferproduktion seit den sechziger Jahren einsetzende Preisverfall verursachten allerdings die Schließung der Gruben um Sangerhausen, Stolberg und Camsdorf. 102 Eine im Prinzip entgegengesetzte Entwicklung nahm der Eisenerzbergbau, der 1816 noch im preußischen wie im braunschweigischen Harz, aber auch in

99

E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 66. J. Brackstedt, Anfange der Industrialisierung, S. 175 f. 101 Vgl. A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 14 f., 37, 63, 95 f. Es handelte sich dabei um die Anwendung der Dampfmaschine, des Amalgationsverfahrens und verbesserte Förderungs- und Verhüttungstechnologien. 102 F. Mathis, Förderung und Verarbeitung von Nichteisen-Metallen, in: H. Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 402. 1852 schlossen sich die fünf größten Gewerkschaften zur „Mansfeldischen Kupferschiefer bauenden Gewerkschaft" zusammen. A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 63. 100

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

73

den Kreisen Sangerhausen, Schleusingen und Ziegenrück vorhanden war. 103 Mit Ausnahme einer kurzen Konjunktur am Anfang der fünfziger Jahre stagnierte die Förderung, und zahlreiche Gruben mußten geschlossen werden. Das Verharren im „Eigenlöhnerbergbau" und die schwierigen Transportbedingungen bei gleichzeitig wachsender Konkurrenz, vor allem aus dem westdeutschen Raum, bewirkten den Niedergang. 104 Auch die mangels Kohlevorkommen im Harz mit Wasserkraft angetriebenen und mit Holzkohle betriebenen Eisenhütten konnten sich gegen die rheinische und ausländische Konkurrenz auf Dauer nicht halten. Das Holz wurde knapp und verlor auch aus technologischen Gründen an Bedeutung.105 Der fehlende Eisenbahnanschluß entwickelte sich für den Harz zum negativen Standortfaktor, da Kohlenanfuhr und Erzeugnisabfuhr zu teuer wurden. 106 „Alle Rohstoffe mußten von den mehr oder weniger weit entfernt gelegenen Gruben durch das Gebirge mit Wagen zu den Hüttenwerken transportiert und von dort erneut mit Wagen zu den Eisenbahnstationen geschafft werden." 107 Der Harz, im 18. Jahrhundert noch ein „Montanrevier von europäischer Bedeutung", galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „sekundäres Zentrum" und stellte am Ende der Industrialisierung eine ökonomische Peripherie dar. 108 Lediglich im Bereich der Förderung und Verarbeitung von Nichteisenmetallen, vor allem von Zink, blieb der Harz ein wichtiger Produktionsstandort. 109

103

K. Brüning, Der Bergbau im Harze und im Mansfeldischen. Untersuchungen zu einer Wirtschaftsgeographie der Harzer Rohstoffe, Braunschweig-Hamburg 1926, S. 80 ff. 104 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 15, 37, 64 und 96; G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 22. - Der zwischenzeitliche Aufschwung resultierte aus der Eisenbahnnachfrage. 105 H.-J. Gerhard, Holz im Harz. Probleme im Spannungsfeld zwischen Holzbedarf und Holzversorgung im hannoverschen Montanwesen des 18. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 66, 1994, S. 47 ff. 106 R. Bettgenhäuser, Industrien, S. 69 konstatierte: „Durch die Entwicklung unseres modernen Verkehrswesens, die Verwendung der Dampfkraft in den gewerblichen Betrieben und die Ersetzung der Holzkohle durch die billigere Steinkohle wurden ... auch in unserer Eisen-Industrie die grössten Umwälzungen hervorgerufen." Vgl. auch P. Albrecht, Förderung des Landesausbaus, S. 504; H. Klages, Entwicklung der Kulturlandschaft, S. 39; K. Brüning, Bergbau im Harze, S. 89. 107 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 273. 108 K.H. Kaufhold, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650-1800), in: H. Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte Nr. 78), S. 168; R. Fremdling, Eisen, Stahl, Kohle, in: Ebenda, S. 347. H. Kiesewetter, Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: VierteIjahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 73. Jg., 1986, H. 1, S. 59, bezeichnet den Harz als „deindustrialisierte Region". 109 Dies gilt allerdings vor allem für den hannoverschen Teil. - Vgl. E. Schubert, Niedersachsen vom Ende des Alten Reichs bis zum Ersten Weltkrieg, in: B.U. Hucker /

74

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Der provinzialsächsische Steinkohlenbergbau bei Löbejün und Wettin (Saalkreis) behielt lediglich lokale Bedeutung, erlebte aber zwischenzeitlich durch die örtliche Nachfrage der Zuckerindustrie und der Salinen einen Aufschwung. Gleiches galt zunächst auch für die Braunkohle. Am Anfang des 19. Jahrhunderts waren die verschiedenen Vorkommen in den Kreisen Calbe, Oschersleben und Wanzleben, im Mansfelder Seekreis und im Kreis Sangerhausen, vor allem aber im Saalkreis, in den Kreisen Bitterfeld, Merseburg, Weißenfels, Zeitz sowie im braunschweigischen Kreis Helmstedt durchaus bekannt und wurden bei Steinkohle- oder Holzmangel in den privaten Haushalten genutzt. 110 Für eine gewerbliche Verwendung existierten weder der Bedarf noch die Transportmöglichkeiten. Zudem galt in den altsächsischen Gebieten noch bis 1843 das kursächsische Bergbaumandat von 1743, das das Abbaurecht von Bodenschätzen an das Grundeigentum band. 111 Das erste wichtige Revier der Provinz Sachsen bildete sich in den vierziger Jahren im Saalkreis heraus, woher zunächst vor allem Heizmaterial für die wachsende Stadt Halle geliefert wurde. Durch die Eisenbahnanschlüsse rückte in den fünfziger Jahren das Bitterfelder Revier in den Vordergrund, das die dort ansässige Textilindustrie versorgte, aber auch nach Berlin, Leipzig und Magdeburg lieferte und zunehmend die keramische Industrie an sich zog. Zu diesem Zeitpunkt stammte bereits mehr als die Hälfte der im Deutschen Zollverein geforderten Braunkohle aus dem Sächsisch-Thüringischen Haupt-Berg-Distrikt Preußens. 112 Das dritte wesentliche Revier um Weißenfels und Zeitz errang schließlich in den sechziger Jahren durch den Beginn der Kohleverschwelung und der Mineralölherstellung größere Bedeutung.113 Seine Entstehung war nicht mehr so stark mit der Zukkerindustrie verbunden. Der Aufschwung der Braunkohlenforderung im Helmstedter Revier wurde dagegen maßgeblich durch den Brennstoffbedarf der dort ansässigen Zuckerrübenfabriken verursacht. Über die Hälfte der braunschweigischen Kohleförderung bediente von den fünfziger bis in die siebziger Jahre die einheimische Zuckerindustrie. 114 Die langfristig nicht so ergiebigen E.Schubert/ B. Weisbrod (Hrsg.), Niedersächsische Geschichte, Göttingen 1997, S. 368 ff.; F. Mathis, Förderung und Verarbeitung, S. 395 f. 110 F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 11. 111 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 63; D. Scholz, Die industrielle Agglomeration im Raum Halle-Leipzig zwischen 1850 und 1945 und die Entstehung des Ballungsgebietes, in: Hallesches Jahrbuch fur Geowissenschaften, Bd. 2, Gotha-Leipzig 1977, S. 106; R. Dietrich, Eingliederung, S. 292. 112

F.-W. Henning, Ansätze der industriellen Entwicklung, S. 13. A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 97 f.; H. Asmus, Politische und agrarisch-industrielle Neu- und Umgestaltung, S. 129 f. 114 G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 27 f.; H. Pohlendt, Der Landkreis Helmstedt, Bremen-Horn 1957, S. 178 ff.; R. Bettgenhäuser, Industrien, S. 208 f. 1,3

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

75

Vorkommen des Magdeburger Bezirks bei Oschersleben, Egeln, Altenwedding, Welsleben, Calbe und Aschersleben waren zuerst erschlossen worden. Noch 1867 gingen 4 6 % der im Regierungsbezirk Magdeburg produzierten Braunkohle an Zuckerrübenfabriken. Regionaler Schwerpunkt der BraunkohlefÖrderung und -Verarbeitung wurde aber letztlich der Regierungsbezirk Merseburg. Einen traditionellen Wirtschaftszweig des Untersuchungsgebietes stellte die Salzherstellung dar. Salzquellen wurden schon vor 1815 im preußischen Halle, Schönebeck und Staßfurt, im sächsischen Artern, Dürrenberg und Kösen sowie im braunschweigischen Schöningen zur Salzherstellung genutzt. 115 Bis in die vierziger Jahre lieferten die Salinen Salz in die preußischen Ostprovinzen oder exportierten es in andere Staaten des Deutschen Bundes. In den fünfziger Jahren verdrängten Stein- und Kalisalze die traditionellen Salzquellen bei den nunmehr wichtigsten Salzverbrauchern aus der chemischen Industrie (Sodaund Düngemittelproduktion) und der Viehzucht. Die Stein- und vor allem Kalisalzvorkommen bei Staßfurt stimulierten die Gründung chemischer Fabriken in dieser Region, deren wichtigste sich in Buckau und Sudenburg bei Magdeburg befanden. 116

2. Textilgewerbe Wenn man vom Bergbau absieht, kam das Gewerbe zuerst im Textilsektor über die traditionellen Produktionsformen des städtischen Handwerks hinaus. Hier konzentrierten sich bestimmte Produktionszweige in einigen Städten, was vereinzelt zur Herausbildung von Manufakturen und Fabriken führte. In der preußischen Provinz Sachsen bildeten zunächst Wollfabrikation und -Verarbeitung die wichtigsten Zweige des Textilgewerbes, während im Herzogtum Braunschweig Garnspinnerei und Leineweberei überwogen. 117 Städtische Zentren waren in der Provinz Sachsen Magdeburg, Aschersleben, Barby, Burg, Calbe, Halberstadt, Quedlinburg und Salzwedel, Halle, Naumburg und Zeitz sowie Erfurt, Langensalza und Mühlhausen. Die Gewerbestatistik des Jahres 1846 weist für die Kreise Aschersleben, Calbe, Erfurt, Heiligenstadt, Jeri-

115 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 17 f.; G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 33. - Halle und Schönebeck waren neben Lüneburg die wichtigsten Standorte der Salzgewinnung im Reich. 116 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 99. - In Staßfurt wurde 1857 der erste Kalischacht in Deutschland in Betrieb genommen. 1,7 Ebenda, S. 21, 41 f f , 69 ff., 101 ff.; E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 40 ff.

76

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

chow I, Langensalza und Mühlhausen den höchsten Erwerbstätigenanteil der Wollindustrie innerhalb der Provinz aus. 118 Außerdem entwickelte sich in enger Verbindung zur „demographischen Revolution" des 18. Jahrhunderts, vorwiegend in ländlichen Regionen mit hohem Kleinstellenanteil, das Textilgewerbe auf dem platten Land. In den unfruchtbareren Hügel- und Bergländern, so im Eichsfeld, Harzvorland und im braunschweigischen Weserdistrikt, aber auch im Kreis Helmstedt entstanden im 18. Jahrhundert protoindustrielle Produktionsformen. 119 Im Herzogtum Braunschweig entwickelten sich vor allem heimgewerbliche Garnspinnerei und Leineweberei zur „Hauptmanufaktur des platten Landes .... Die erstere ist, über das ganze Land verbreitet, fast der einzige Nahrungszweig des ärmeren Landmannes."120 Im preußischen Eichsfeld hing die Existenz fast jeder Familie von der Spinnerei, Wollbearbeitung oder Leineweberei ab. 121 In den vierziger Jahren verlor das Wollgewerbe in den Regierungsbezirken Magdeburg und Merseburg durch die rheinische und sächsische Konkurrenz und das Aufkommen der Baumwollverarbeitung erheblich an Bedeutung. Nur im Eichsfeld, dessen Wollgewerbe „die Entwicklung über den Verlag und die dezentralisierte Manufaktur hinaus zum maschinellen Großbetrieb nicht mitgemacht hat und in der hausindustriellen Form steckenblieb", wurde die Wollwarenproduktion mangels Alternative noch erhöht, was die sozialen Probleme dieses Gebietes weiter verschärfte. 122

118

F. Zunkel, Gewerbe- und Industrielandschaften von der Frühindustrialisierung bis 1914: Wolle, in: H. Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, Karte. 119 K.H. Kaufhold, Gewerbelandschaften, S. 116 ff., 135 f., 168 ff. - Diese Regionen wurden gerade nicht zu Zentren der Industrialisierung. Zur Diskussion über den „unglücklichen Begriff der Protoindustrialisierung" zusammenfassend: H. Harnisch, Bevölkerung und Wirtschaft (Über die Zusammenhänge zwischen sozialökonomischer und demographischer Entwicklung im Spätfeudalismus), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1975, T. II, S. 57 ff.; G. Hohorst, Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914. Zur Frage demo-ökonomischer Entwicklungszusammenhänge, Münster-Bielefeld 1977, S. 15 ff.; H.Schultz, Protoindustrialisierung und Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1983, H. 12, S. 1079 ff.; F.-W. Henning, Deutsche Wirtschaftsund Sozialgeschichte im Mittelalter, S. 253 ff. 120 C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit, geschichtlich und statistisch dargestellt, 2. Aufl., Helmstedt 1829, S. 33. 121 Vgl. u.a.: H. Demme, Zur Herausbildung des Proletariats auf dem Eichsfeld, in: H. Zwahr (Hrsg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger Jahren bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Berlin 1981, S. 414 ff.; W. Prochaska, Die Entwicklung des Textilgewerbes auf dem Eichsfelde, in: Eichsfelder Heimathefte, 1963, H. 1, S. 54 ff.; K.H. Kabisch, Das Ende des Wollgewerbes und seine sozialen Folgen für die Heimweber im Obereichsfeld (1820-1835), in: Eichsfelder Heimathefte 1964, H. 5, S. 273. 122 Ebenda, H. 6, S. 345; R. Stahr, Revolutionäre Bewegung, S. 20 ff.

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

77

Eine analoge Entwicklung vollzog sich zeitversetzt im Baumwollgewerbe. Im Jahre 1846 war die Baumwollverarbeitung als Heimgewerbe vor allem in den ländlichen Gebieten der Kreise Erfurt, Heiligenstadt, Mühlhausen, Nordhausen und Worbis sowie in der Stadt Magdeburg verbreitet. Die seit den vierziger Jahren im Aufschwung befindlichen Baumwollfabriken in Eilenburg, Erfurt, Magdeburg und Zeitz erholten sich von der durch den nordamerikanischen Sezessionskrieg hervorgerufenen Rohstoffkrise nicht mehr und wurden zum Teil sogar geschlossen. Das eichsfeldische Baumwollgewerbe erhielt seine Konkurrenzfähigkeit nur durch die außerordentlich niedrigen Löhne. 123 Durch die Krise der Woll- und Baumwollverarbeitung erlebte die im Eichsfeld ebenfalls traditionelle Leineweberei in den sechziger Jahren eine letzte Blüte. 124 Insgesamt war jedoch die Industrialisierung in der preußischen Provinz Sachsen wie im Herzogtum Braunschweig mit einer Krise des textilen Heimgewerbes in allen seinen Zweigen verbunden. Eine erfolgreiche Modernisierung des Textilgewerbes gelang nur in einigen Städten, wie in Burg, Eilenburg, Erfürt, Stadtoldendorf, Wolfenbüttel und Zeitz. Neue Standorte wie die erste kontinentaleuropäische Jutefabrik im durch die Eisenbahn begünstigten Vechelde blieben die Ausnahme. So hat die Textilindustrie in den zwanziger und dreißiger Jahren in erster Linie durch die Demonstration der Effekte von Markterweiterung, Mechanisierung und Betriebskonzentration einen wichtigen Beitrag zur Frühindustrialisierung geleistet, gehörte aber schon in den vierziger Jahren nicht mehr zu den Wachstumssektoren und spielte im Rahmen der Industrialisierung insgesamt eine eher zweitrangige Rolle. Ehemalige Textilregionen fielen daher gegenüber neuen Zuckerrübenregionen zurück, was auch in der Nachfrage nach Verkehrsinfrastruktur zum Ausdruck kam und letztlich auch die Investitionen in diesen Bereich beeinflußte.

3. Nahrungs- und Genußmittelindustrie Wichtigster Industriezweig wurde in den vierziger Jahren die Nahrungs- und Genußmittelindustrie und innerhalb dieses Sektors die Zuckerindustrie. Bereits 1846 arbeiteten in den 34 Rübenzuckerfabriken des Magdeburger Regierungsbezirks 4656 Menschen. Einen Konzentrationsgrad von 137 Beschäftigten pro

123 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 72 ff., 103 f.; R. Stahr, Revolutionäre Bewegung, S. 78 ff. 124 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 41, 69 f., 101, 105; G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 40; G. Schildt, Tagelöhner, S. 333.

78

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Betrieb konnte kein anderer Wirtschaftszweig im Untersuchungsgebiet nur annähernd erreichen. 125 In den Bereich der Nahrungs- und Genußmittelindustrie fallen auch die Brauereien, Brennereien, Tabakfabriken, Getreidemühlen, die Zichorienindustrie und in Braunschweig später auch die Konservenindustrie. Alle diese Industrien entwickelten sich unmittelbar aus der Landwirtschaft und siedelten sich größtenteils zunächst auf dem Lande an. In den sechziger Jahren im Zuge von Produktionskonzentration und technischem Fortschritt nahmen diese Zweige mehr städtischen Charakter an. Die Verkehrslage zum Absatzgebiet war nun wichtiger als die Nähe zu den Rohstoffen.

4. Maschinenbau Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie war es auch, die neben der Landwirtschaft und der Eisenbahn als Hauptabnehmer der sich herausbildenden einheimischen Maschinenindustrie fungierte. Der Maschinenbau entwickelte sich folgerichtig aus den Maschinenreparaturwerkstätten in den städtischen Zentren der Zuckerfabrikationsregionen, zumal in der Provinz Sachsen die „Metallverarbeitung in vorindustrieller Zeit keine bemerkenswerte Rolle gespielt hatte ,..". 126 Da also eine Standortpräfiguration durch historische Faktoren fehlte, wirkten die regionale Nachfrage und die Verkehrsbedingungen als primäre Einflußfaktoren und in zweiter Linie die Existenz von Rohstoffen und Arbeitskräften. Die wichtigsten provinzialsächsischen Maschinenfabriken befanden sich erstens in und um Magdeburg, zweitens in Halle und drittens in Aschersleben, Bitterfeld, Eilenburg, Sangerhausen und Zeitz. Seit den sechziger Jahren wuchs die Bedeutung von Halle, weil die dortigen Maschinenbauanstalten direkt vom Bedarf der jetzt industriell betriebenen Braunkohlenforderung und der sich herausbildenden Mineralölindustrie profitierten. Die braunschweigischen Maschinenbauanstalten konzentrierten sich in der Landeshauptstadt und in der unmittelbaren Umgebung der Abnehmer. 127 Die Mehrzahl produzierte für die Bedürfnisse der Eisenbahn und der Zuckerrübenindustrie. 128 125

R. Berthold, Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur im Regierungsbezirk Magdeburg und in den vier Bördekreisen von 1816 bis 1910, in: H.J. Räch / B. Weissei (Hrsg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges, Teil 1, 2. Halbband, Berlin 1979, S. 125. 126 V. Hentschel, Metallverarbeitung und Maschinenbau, in: H. Pohl (Hrsg.), Gewerbe· und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 377 f. 127 A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 109 f.; G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 42; H. Asmus, Politische und agrarisch-industrielle

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

79

5. Handel und Verkehr Der Handel erlangte während der Industrialisierung unter den Bedingungen zunehmender Konzentration und Spezialisierung der Produktion bei gleichzeitiger Markterweiterung eine wachsende Bedeutung im System der Gesamtwirtschaft. Dies gilt besonders für das in der Mitte des Deutschen Bundes gelegene Untersuchungsgebiet, das ein wichtiges Durchgangsfeld für den Ost-West- und auch für den Nord-Süd-Handel darstellte. Von der 1815 erfolgten Einschränkung der territorialen Zersplitterung profitierte allerdings der provinzialsächsische Handel stärker als der braunschweigische. Über den lokalen Handel liegen nach wie vor keine systematischen Untersuchungen vor. Für den Fernhandel bildeten auf dem Gebiet der Provinz Sachsen neben den großen Handelsstraßen, deren Funktion seit den vierziger Jahren mehr und mehr durch die Eisenbahnlinien übernommen wurde, die Schiffahrtswege die entscheidende Transportbasis. Neben der Elbe dienten auch streckenweise Saale und Unstrut als Handelsverkehrsträger. Der bereits 1745 fertiggestellte Plauesche Kanal verband das Magdeburger Gebiet über die Havel direkt mit Berlin und später mit dem preußischen Osten und war beispielsweise für den Export des Salzes aus Schönebeck und Staßfiirt über Stettin von Bedeutung.129 Die Reduzierung der Zollstellen, die Regulierungs- und Ausbauarbeiten sowie der Beginn der Dampfschiffahrt erhöhten bis zum Beginn des Eisenbahnbaus die Attraktivität der Binnenschiffahrtswege. 130 Im Herzogtum Braunschweig der Schiffbarmachung der Oker Leine keine schiffbaren Flüsse schlagsplätze an der Elbe waren

existierten dagegen trotz mehrerer Versuche mit Ausnahme eines kleinen Abschnitts der oder Kanäle. 131 Die wichtigsten Warenumauf preußischem Gebiet Torgau, Wittenberg,

Neu- und Umgestaltung, S. 134 f f ; I. Dalchow, Die Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau. 150 Jahre Kammergeschichte in Mitteldeutschland, Festschrift der IHK Halle-Dessau zum 150jährigen Jubiläum, Halle 1995, S. 98 und 104. 128 Die 1853 in Braunschweig gegründete Maschinen- und Wagenbauanstalt Friedrich Seele & Comp, beispielsweise hatte sich auf die Produktion von Anlagen für die Zuckerindustrie spezialisiert und beschäftigte in den sechziger Jahren bereits bis zu 1500 Arbeiter. Weitere Maschinenbauanstalten fur den Bedarf der Zuckerindustrie entstanden in Helmstedt, Schöningen, Schöppenstedt, Groß Stöckheim und Wolfenbüttel. Vgl. H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 260; G. Biegel, Braunschweigische Industriegeschichte, S. 28 f. 129 F. Voigt, Verkehr, S. 315. 130 R. Dietrich, Eingliederung, S. 290 f.; I. Dalchow, Industrie- und Handelskammer, S. 22 f. 131 Th. Müller, Schiffahrt und Flößerei im Flußgebiet der Oker, Braunschweig 1968, S. 70 ff., 116 ff.; Chr. Römer, Braunschweig, S. 8.

80

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Aken, Barby, Schönebeck, Magdeburg und Tangermünde. 132 Bedeutende Handelsplätze stellten außerdem Halle, Erfurt, Halberstadt, Stendal sowie die ehemaligen Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen dar, letztere vorrangig fur den Getreidehandel. 133 Die Naumburger Messe sank nach dem Zollgesetz von 1818 und der Zollvereinigung Preußens mit dem Königreich Sachsen im Jahre 1834 endgültig zum Jahrmarkt von nur noch lokaler Bedeutung herab. 134 Die im 18. Jahrhundert wiederbelebte Braunschweiger Messe behielt ihre wichtige Rolle fur den braunschweigischen Handel, der fast ausnahmslos über die Landeshauptstadt abgewickelt wurde. 135 Die Stadt Braunschweig verlor jedoch im Zuge der Industrialisierung und wirtschaftlichen Integration Deutschlands ihre Stellung im norddeutschen Handelsverkehr. 136 Dafür war zunächst vor allem die Nichtmitgliedschaft des Herzogtums im Zollverein und später die Umgehung der Stadt durch die für den Fernhandel wichtigsten Eisenbahnlinien verantwortlich. Die Abschaffung der preußischen Binnenzölle im Jahre 1818 forderte den innerpreußischen Handel auf den Landstraßen. Gleichzeitig kam es durch die „Verlegung aller faktischen Zölle an die Grenzen" zu einer Behinderung der Einfuhren nach und Handelstransporte durch Preußen. Im Gegenzug führten viele Länder Sondertarife für preußische Waren ein. 137 Der Handel der kleinen Nachbarstaaten wurde dadurch so stark beeinträchtigt, 138 daß diese letztlich gezwungen waren, dem preußischen Zollgebiet beizutreten oder sich anderen größeren Zollsystemen anzuschließen.139 132 H.J. Rook, Die Entwicklung der Elbschiffahrt zwischen Hamburg und Bad Schandau im 19. Jahrhundert sowie deren Einfluß auf die Standortentwicklung des verarbeitenden Gewerbes längs des Stromes, Diss., Potsdam 1970, S. 15. 133 Berghaus, Statistik des Preussischen Staats, Berlin 1845, S. 436; A. Schellenberg, Die Entwicklung des Landstraßenwesens im Gebiete des jetzigen Regierungsbezirk Merseburg seit dem Spätmittelalter, Halle 1929, S. 14 ff. 134 A.Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 53 f.; H. Patze/ W.Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5.2, Köln-Wien 1982, S. 15 und 29. 135 M.A. Denzel, Die Braunschweiger Messen als regionaler und überregionaler Markt im norddeutschen Raum in der zweiten Hälfte des 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 85. Jg., 1998, H . l , S. 43 ff.; P. Albrecht, Förderung des Landesausbaus, S. 394, 413; R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 21 ff. 136 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 79. 137 H. Kunze, Wegeregal, S. 42; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, S. 22 ff. 138 H. Lindner, Geschichte und Beschreibung des Landes Anhalt, Dessau 1833, S. 93, beschrieb den anhaltinischen Handel als „herabgekommen und unbedeutend, wenn man seine vortreffliche Lage bedenkt". 139 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik in Deutschland zur Zeit der Gründung des Zollvereins 1825-1835, Stuttgart 1931, S. 6 ff.; W. Fietz, Verkehrs- und handelspolitische Probleme am Bundestag in Frankfurt (1816-1847), Diss., Frankfurt a.M. 1954, S. 53 ff. - Das Königreich Sachsen protestierte beispielsweise gegen die Behinde-

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

81

In einem besonderen Dilemma befand sich wegen der geographischen Lage des Landes zwischen zwei „ökonomisch konkurrierenden Großmächten" die braunschweigische Handels- und Zollpolitik. Das Land war zur Bewerkstelligung seines agrarischen und gewerblichen Exportes und zur Erhaltung der Messe in der Landeshauptstadt auf preiswerte Ein- und Durchfuhrchancen durch Preußen und Hannover gleichermaßen angewiesen.140 Die Entscheidung fur ein Zollbündnis mit Hannover am Ende der zwanziger Jahre resultierte aus den längeren gemeinsamen Grenzen, den besseren Möglichkeiten für den Import von Rohstoffen und den Export von Gewerbeerzeugnissen sowie der eher antipreußischen Einstellung der Bevölkerungsmehrheit. Außerdem hoffte Braunschweig, hannoversche Straßenbauten in Nord-Süd-Richtung, die das eigene Territorium umgingen, im Rahmen des Mitteldeutschen Handelsvereins, der der Verbesserung der Straßen im Interesse aller Mitglieder eine besondere Aufmerksamkeit schenken wollte, verhindern zu können. 141 Schließlich legte die hannoversche Regierung gerade eine Straße von Hildesheim nach Schladen an, „die bei Hornburg in das preußische Gebiet mündete und so das Herzogtum Braunschweig umging. Ferner wurde eine zweite Chaussee von Hildesheim über Bockenem und Seesen nach Osterode geplant, die dann am südlichen Abhang des Harzes entlang nach Nordhausen, Sangerhausen und von dort nach Halle und Leipzig führte. Auf der Frankfurter Straße wurden von der hannoverschen Zollverwaltung bei dem Orte Beinum vor Salzgitter die Zollmaßnahmen so rücksichtslos gehandhabt, daß innerhalb zweier Jahre der gesamte Transitverkehr auf der alten Handelsstraße ruhte. Die anliegenden Gastwirte und Gewerbetreibenden baten dringend um einen Anschluß an Hannover, damit ihre Geschäfte nicht vollständig verödeten." 142 Das Herzogtum Braun-

rung des Handels mit der preußischen Provinz Sachsen beim Bundestag. Vgl. dazu L.F. Ilse, Geschichte der deutschen Bundesversammlung, insbesondere ihres Verhaltens zu den deutschen National-Interessen, Bd. 1, Marburg 1861, S. 422. - SchwarzburgSondershausen (Unterherrschaft) und die anhaltinischen Herzogtümer mußten sich nach mehr oder weniger starkem Druck dem preußischen Zollgebiet anschließen. Alle übrigen an die Provinz Sachsen grenzenden Staaten (Hannover, Braunschweig, HessenKassel, Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, SachsenAltenburg, reußische Grafschaften, Oberherrschaft des Fürstentums SchwarzburgSondershausen, Königreich Sachsen) schlossen sich 1828 zum Mitteldeutschen Handelsverein zusammen, der sich aber schon 5 Jahre später wieder auflöste. Vgl. H. Patze / W. Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, S. 17 f f ; H.W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 49 ff. 140 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 92. Hannover hat bereits 1817 die Binnenzölle abgeschafft und im Jahre 1825 die Tarife der Außenzölle erhöht. Vgl. H. Kunze, Wegeregal, S. 175; R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 6 und 9 ff. 141 R. Oberschelp, Politische Geschichte, S. 53. 142 R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 24 f, 37 ff. - Von einem „Verzicht auf territorialstaatlichen Egoismus" kann man, im Gegensatz zu E. Schubert, Niedersachsen, S. 388, im Zusammenhang mit der hannoverschen Straßenbaupolitik sicher nicht sprechen. 6 Uwe Müller

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B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

schweig erreichte jedoch lediglich die Konzentration der Ost-WestVerbindungen in seiner Landeshauptstadt.143 „Der Braunschweiger Handel sowie das Speditions- und Umladegeschäft erfuhren durch den Steuerverein keine spürbare Förderung". 144 Trotz der besseren Exportmöglichkeiten in die agrarisch geprägten Mitgliedsländer des Steuervereins blieb ein gewerblicher oder gar industrieller Aufschwung aus. Daher strebte das Herzogtum Braunschweig seit 1840 in den Zollverein. Ein wichtiger Grund für den Abbruch der Verhandlungen mit Hannover über eine Verlängerung der Steuervereinsverträge im Jahre 1840 bestand darin, daß die hannoversche Straßenbaupolitik braunschweigische Handelsinteressen nicht mehr berücksichtigte. Das Königreich Hannover war nämlich nicht bereit, im Interesse des Herzogtums Braunschweig auf die Chaussierung der Straße von Uelzen nach Salzwedel zu verzichten, da es seinerseits im westfälischen Grenzgebiet auf eine Zusammenarbeit mit Preußen angewiesen war. 145 Trotz des „gleitenden Wechsels" vom Steuer- in den Zollverein behielt das Herzogtum Braunschweig noch bis zum Zollvereinsbeitritt Hannovers am 1. Januar 1854 seine periphere Lage. Dies kann als wichtiger Grund für den im Vergleich zum Regierungsbezirk Magdeburg verzögerten Industrialisierungsbeginn angesehen werden. Obwohl nämlich die braunschweigische Zollpolitik auf merkantilen und agrarischen, jedoch nicht auf industriellen Motiven beruhte, übte sie einen großen Einfluß auf die Industrialisierung, speziell die Entwicklung der Zuckerrüben Verarbeitung, aus. 146 Für die preußischen Grenzgebiete gestalteten sich die Auswirkungen des Zollgesetzes sehr unterschiedlich. So konnte Halle zwischen 1818 und 1834 einen Teil des Leipziger Handelsverkehrs an sich ziehen. Die Stadt profitierte dabei auch von der Schiffbarmachung der oberen Saale und der Unstrut bis 1823 sowie der Verbesserung des Straßennetzes.147 Zum Teil wurden jedoch auch traditionelle Handelsbeziehungen unterbrochen, indem der Handelsverkehr preußisches Territorium umging. So litt die Bedeutung Erfurts als thürin-

143

Vor allem wurde der für Braunschweig gefährliche Ausbau der Schladener Straße verhindert. R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 32 f., 59. 144 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 132. 145 Vgl. R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 69 ff.; U. Baldermann, Die Entwicklung des Straßennetzes in Niedersachen von 1768-1960, Hildesheim 1968, S. 102; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 133 f. 146 Zum allmählichen Übergang der einzelnen braunschweigischen Landesteile: R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 66 ff. Zu den Motiven: H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 136 ff. Zum Zollvereinsbeitritt Hannovers: H.W.Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 144. Vgl. auch Abschnitt B.II. 147 P. Thimme, Straßenbau, S. 8; I. Dalchow, Industrie- und Handelskammer, S. 23; Vgl. auch Abschnitt D.II.l.

IV. Die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige

83

gischer Marktort unter der territorialen Neugliederung. 148 Schwerer wogen allerdings die aus der geographischen Lage und politischen Macht Preußens resultierenden Vorteile, zumal die Wirtschaft aller deutscher Staaten, und nicht nur Preußens, zu diesem Zeitpunkt einen einheitlichen, mit maßvollen Schutzzöllen ausgestatteten Binnenmarkt benötigte. 149 Trotz des Aufschwungs Halles blieb Magdeburg im gesamten Untersuchungszeitraum der wichtigste Handelsplatz der Provinz Sachsen. Während in Halle bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich mit Agrarprodukten bzw. Erzeugnissen der landwirtschaftlichen Nebenindustrien der eigenen Region gehandelt wurde, traf man in Magdeburg neben Waren aus der Umgebung auch Erzeugnisse aus dem preußischen Osten, Sachsen, Böhmen oder auch über Hamburg gelieferte Kolonialwaren an. 150 So wurden in Magdeburg in den vierziger Jahren zehnmal so viel Waren umgeschlagen wie in Halle, dem zweitgrößten Handelsplatz der Provinz. 151 Seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte Magdeburg seine Position gegenüber Braunschweig und Leipzig kontinuierlich verbessert und war zum Zentrum des NordSüd-Handels geworden. 152 „Der ausländische und Transitohandel, der wichtigste Theil des Landesproduktenhandels, so wie fast der ganze Elbhandel ist beinahe allein in den Händen der Magdeburger Kaufmannschaft ,.." 153 Diesen enormen Stellenwert mußte die Stadt allerdings immer wieder aufs neue verteidigen. Gegen den anfänglichen Widerstand der Magdeburger Kaufleute hob die Elbschiffahrtsakte von 1821 Stapel- und Umladerechte, unter anderem auch Magdeburgs, auf, reduzierte die Anzahl der Zollstellen, aber nicht die Binnenzolltarife, so daß einerseits feudalzeitliche Privilegien wegfielen, aber andererseits der Binnenschiffsverkehr, wie auch der Landverkehr durch die Chaussee-

148

So die Einschätzung in: W. Gutsche (Hrsg.), Geschichte der Stadt Erfurt, Weimar 1986, S. 222. Das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe vermeldete hingegen im Jahre 1817 eine positive Entwicklung des Erfurter Handelsgeschäftes seit der Wiedereingliederung ins Königreich. G StA PK Berlin, I. HA, Rep. 120 A, I, 1, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 62. 149 150

Vgl. H. Best, Interessenpolitik, S. 81 ff. F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 1. Abtheilung, S. 704 f.,

756. 151 Berghaus, Statistik des Preussischen Staats, S. 438. Damit war Magdeburg nach Berlin und Köln der drittwichtigste Handelsplatz Preußens. 152 P. Beyer, Leipzig und die Anfange des deutschen Eisenbahnbaus. Die Strecke nach Magdeburg als Zweitälteste deutsche Fernverbindung und das Ringen der Kaufleute um ihr Entstehen 1829-1840, Weimar 1978, (= Abhandlungen zur Handels- und Sozialpolitik, Bd. 17), S. 69 f f ; H. Kretzschmar, Historisch-statistisches Handbuch für den Regierungsbezirk Magdeburg, 1. Teil. Geschichte, Magdeburg 1926, S. 138. 153 J.A.F. Hermes/J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch vom Regierungsbezirk Magdeburg, 1. Teil, Magdeburg 1842, S. 125.

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B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

gelderhebung, weiterhin behindert wurde. Daher versuchte Magdeburg im beginnenden Eisenbahnzeitalter seine Stellung als Handelsmittelpunkt zu behaupten, indem die Stadt beim Eisenbahnbau in ähnlicher Form wie Leipzig eine Vorreiterrolle spielte und überhaupt eine aktivere Landverkehrspolitik betrieb. 154 Mit dem Bedeutungsverlust der Binnenschiffahrt zugunsten der Eisenbahn, der deutschen Zolleinheit und der abnehmenden Rolle des Zwischenhandels auf der Elbe wurde aber auch Magdeburgs Stellung im Handelssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf ein normales Maß reduziert. 155 Für die Intensivierung des Handels während der Industrialisierung stellte die Qualität der Verkehrsinfrastruktur einen erstrangigen Einflußfaktor dar. Der Handel lieferte gewissermaßen das Bindeglied zwischen den Vorleistungen der Infrastruktur und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Umgekehrt beeinflußten die Handelsströme ihre Standortstruktur; das Handelskapital war wichtigster Kapitalträger für Investitionen in diesem Bereich und seine Interessen sowie andere handelspolitische Motive bestimmten Schwerpunktsetzungen der Infrastrukturpolitik entscheidend mit. Die Analyse der regionalen Entwicklung des Straßenbaus wird allerdings zeigen, daß die Standortverteilung und die ökonomische Trendbewegung der Branchen der produzierenden Wirtschaft, wie sie im vorangegangenen Abschnitt grob beschrieben worden sind, größeren Einfluß auf den Entwicklungsstand der Straßenverkehrsinfrastruktur ausübten.

V. Die demographische Entwicklung Schon vor dem Einsetzen der Industrialisierung war das feudale Prinzip der Abhängigkeit der ländlichen Einwohnerzahl von der Menge der bäuerlichen Vollerwerbsstellen in vielen mitteleuropäischen Gebieten nur noch sehr eingeschränkt wirksam. 156 In Regionen mit einer großen Anzahl von Kleinstellen und protoindustrieller Entwicklung existierten daher bereits vor dem Beginn der Agrarreformen strukturelle Übervölkerungen. Untersuchungen über das Herzogtum Braunschweig belegen diese die Entwicklung des Landes wesent-

154

R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 65. Wegen des Fehlens einer leistungsfähigen Wasserstraßen Verbindung und der nachteiligen Auswirkungen des preußischen Zollgesetzes von 1818 gehörten Leipziger Kaufleute zu den ersten Verfechtern des Eisenbahngedankens in Deutschland. So strebten sie bereits 1829 den Bau einer Eisenbahnlinie nach Magdeburg an, um einen besseren Anschluß ihrer Stadt an die Elbe zu erreichen. Vgl. E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 14. 155 P. Beyer, Leipzig, S. 184. 156 H. Harnisch, Bevölkerung und Wirtschaft, S. 61 f.; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 8 ff.

V. Die demographische Entwicklung

85

lieh beeinflussende Erscheinung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. 157 Infolge der Starrheit der bäuerlichen Besitzverhältnisse, der zu Lasten der Dorfarmut wirkenden Gemeinheitsteilungen und des Niedergangs der Protoindustrien, der innerhalb des Untersuchungsgebietes im Eichsfeld sowie im Leineund Weserdistrikt am gravierendsten war, wurde diese Übervölkerung zum wichtigsten sozialen Problem des Vormärz. 158 Da die Städte erst seit den sechziger Jahren in der Lage waren, einen nennenswerten Teil der proletarisierten Landbevölkerung aufzunehmen, kam es sowohl in der preußischen Provinz Sachsen als auch im Herzogtum Braunschweig neben den Emigrationen vor allem innerhalb des ländlichen Bereiches zu Arbeitskräftewanderungen. In der intensivierten Landwirtschaft und der Zuckerrübenwirtschaft reichten die lokal vorhandenen Arbeitskräfte oft nicht aus, um die enormen Produktionssteigerungen zu realisieren. Der Arbeitskräftestrom dokumentierte somit in der Hauptsache die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in den ländlichen Gebieten der verschiedenen Landesteile. Die Urbanisierung stellte auch zeitlich eine Folgeerscheinung der Industrialisierung dar. 159 Erst seit den sechziger Jahren ist ein signifikanter Unterschied zwischen dem Wachstum der städtischen Bevölkerung und dem Anstieg der Gesamteinwohnerzahl zu beobachten.160

157

Vgl. E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 7 ff.; W.Deich, Die braunschweigische Bevölkerungspolitik und die Lage des Landproletariats im Zeichen der Revolution von 1848, in: M. Kossok/ W.Loch, Bauern und bürgerliche Revolution, Berlin 1985, S. 235 ff. - „Die Geschichte des Herzogtums Braunschweig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht zuletzt... die Geschichte der (bewußten und unbewußten) Auseinandersetzung mit dem Problem der überschüssigen Bevölkerung." H. Theissen, Kommentar (zu: J. Brockstedt, Anfange der Industrialisierung in Agrarregionen Norddeutschlands im 19. Jahrhundert) in: H. Kiesewetter / R. Fremdling (Hrsg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985, S. 193. 158 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 547 ff. - Im Herzogtum Braunschweig wuchsen die ländlichen Unterschichten durch Stellenanbaustop und Zuzugsbeschränkungen der Städte zusätzlich. Vgl. W. Deich, Regulierung der Bevölkerung, S. 13 f f ; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 56 ff. - Zum Eichsfeld: W. Prochaska, Entwicklung des Textilgewerbes, S. 54 f f ; K.H. Kabisch, Das Ende des Wollgewerbes, S. 273; W. Geiger, Kurze Darstellung der Bevölkerungsentwicklung in den Grenzen des heutigen Kreises Worbis von 1816 bis 1970, in: Eichsfelder Heimathefte, 1971, H. 4, S. 307 ff.; H. Demme, Zur Herausbildung des Proletariats, S. 414 ff. 159 E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 45 ff. 160 In der Provinz Sachsen wuchs die Einwohnerzahl zwischen 1816 und 1849 jährlich um 1,26%. In 125 provinzialsächsischen Städten stieg die Bevölkerungszahl zwischen 1816 und 1858 im jährlichen Durchschnitt um 1,28%, also nur geringfügig mehr. Zwischen 1849 und 1885 wuchs die Gesamtbevölkerung nur noch um jährlich 0,86%. Die Einwohnerzahl der 125 Städte hingegen stieg zwischen 1858 und 1885 jährlich um I,45% an. Berechnungen erfolgten auf der Grundlage der Daten in Tabelle A 25 und A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 175 ff.

86

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

Auch im Herzogtum Braunschweig stieg der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 1831 bis 1861 lediglich von 29,4% auf 30,7 %. Die Zuwanderungen glichen also nur den im Vergleich zum ländlichen Raum niedrigeren Geburtenüberschuß aus. 161

1,6

18161831

18161837

18311849

18371858

18491867

18581885

18671885

Zeitabschnitt H Provinz Sachsen (insg.) Bprovinzialsächsische Städte

Abbildung 1 : Allgemeines und städtisches Bevölkerungswachstum in der Provinz Sachsen (1816-1885)

Seit 1870 erreichten die Migrationen größere räumliche Dimensionen. Aus den östlich der Oder gelegenen preußischen Provinzen kamen die „Sachsengänger", um auf Gütern und Fabriken des platten Landes der Provinz Sachsen als Saisonkräfte zu arbeiten. Auch in Braunschweig glichen Einwanderer aus dem Osten die Städtewanderung der einheimischen ländlichen Bevölkerung teilweise wieder aus. 162

161

Vgl. Tabelle 5; G. Schildt, Tagelöhner, S. 30 und 277 ff. K. Bielefeldt, Eindringen des Kapitalismus, S. 58 ff.; Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 113. 162

V. Die demographische Entwicklung

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Die Industrialisierung in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig war somit nicht nur mit gravierenden Veränderungen in der sozialen Schichtstruktur, sondern auch mit neuen regionalen Bevölkerungsverteilungen verbunden. Aus diesem Grund lassen sich durch einen Vergleich von Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdichte der einzelnen Kreise Rückschlüsse auf die ökonomischen Strukturen vor, während und nach der Industrialisierung ziehen. Gleichzeitig sollen diese demographischen Kreisdaten Vergleichswerte fur eine Analyse der Netzdichten der Verkehrsinfrastruktur liefern. 163 Die Anlagen 24-27 liefern die Datengrundlage für eine Analyse der Bevölkerungsbewegung in den provinzialsächsischen Kreisen im Zeitraum von 1816 bis 1885. Die Bevölkerungsdichten der Landkreise im Jahre 1816 dokumentieren eine relativ starke regionale Differenzierung innerhalb der neuen preußischen Provinz. Während im altmärkischen Kreis Gardelegen nur 21 Einwohner pro km lebten, waren es in den hier aus technischen Gründen 164 zusammengefaßten Kreisen Naumburg und Weißenfels 101 Einwohner. Deutlich über dem Provinzdurchschnitt von 45 Ew/km 1 6 5 lapen die fruchtbaren Gebiete im Harzvorland (Kreise Aschersleben 79 Ew/km , Halberstadt 77 Ew/km ) und in der Leipziger Tieflandsbucht (Kreise Naumburg / Weißenfels 101 Ew/km , Zeitz 87 Ew/km ) sowie die Gebiete mit entwickeltem ländlichen Textilgewerbe (Kreise Nordhausen 76 Ew/km , Mühlhausen 70 Ew/km, Heiligenstadt 69 Ew/km , Worbis 62 Ew/km ). In den unfruchtbareren Gebieten mit stärkeren gutswirtschaftlichen Elementen, wie in den Kreisen der Altmark (Gardelegen 21 Ew/km , Salzwedel 23 Ew/km , Osterburg 25 Ew/km ^ Stendal 31 Ew/km ) und in den ostelbischen Kreisen (Jerichow II 23 Ew/km , Schweinitz 23 Ew/km , Jerichow I 26 Ew/km , Liebenwerda 32 Ew/km ) lag die Bevölkerungsdichte dagegen weit unter dem Provinzdurchschnitt. Um den Einfluß der städtischen Bevölkerung einerseits sowie andererseits der Agrarverhältnisse und der Entwicklung des ländlichen Textilgewerbes auf die Bevölkerungsdichte zu verdeutlichen, wurden in der Tabelle A 27 für das Jahr 1831 die ländlichen Bevölkerungsdichten ermittelt. Die Kategorie der ländlichen Einwohner beinhaltet im Gegensatz zur zeitgenössischen Statistik auch die Bevölkerung der Städte unter 2000 Einwohner, da die ökonomische und soziale Struktur dieser Orte in der Regel dörflichen Verhältnissen ähnlicher war als städtischen. In den Kreisen Erfurt, Halberstadt und Aschersleben verursachten die jeweils großen Anteile städtischer Bevölkerung (57,7 %, 54,8 %

163

Vgl. Abschnitt I. Im Jahre 1818 wurde der Kreis Naumburg auf Kosten des Kreises Weißenfels vom Stadt- zum Landkreis. Diese Kreise mußten daher wegen der Vergleichbarkeit mit den Daten von 1816 als ein statistisches Element betrachtet werden. 165 Die Abweichung gegenüber den Angaben in Anlage 26 resultiert aus der Berücksichtigung der beiden Stadtkreise. 164

88

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

und 53,3 %) eine hohe allgemeine Bevölkerungsdichte. Für die Provinz insgesamt wurde die Bevölkerungsentwicklung im Jahre 1831 jedoch noch durch den ländlichen Raum bestimmt, in dem etwa drei Viertel der Menschen lebten, so daß die für 1816 bereits festgestellten regionalen Differenzierungen auch durch die unterschiedlichen ländlichen Bevölkerungsdichten im Jahre 1831 mit den Extrema de^Kreise Naumburg und Weißenfels mit zusammen 86 Landbewohnern pro km und des Kreises Jerichow II mit 22 Landbewohnern pro km dokumentiert werden. Vor allem aber verdeutlichen die Werte der Tabelle A 27 das Ausmaß der durch Protoindustrialisierung und Realteilungspraxis im Eichsfeld hervorgerufenen ungewöhnlich hohen Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum. Während die regionalen Unterschiede der Bevölkerungsdichte in den Jahren 1816 und auch noch 1831 im wesentlichen auf den verschiedenen Agrar- bzw. ländlichen Gewerbestrukturen beruhten, spiegelt die Intensität des Bevölkerungswachstums ab 1849 vorrangig Industrialisierungsprozesse wider. In der Tabelle A 25 wird das Bevölkerungswachstum der einzelnen Kreise in Bezug auf den vorindustriellen Ausgangspunkt (1816) und auch innerhalb von 4 Zeitabschnitten zwischen 1816, 1831, 1849, 1867 und 1885 dargestellt. Die fruchtbaren Gebiete mit intensiver Landwirtschaft, die sich zu Schwerpunkten der Zuckerrübenwirtschaft entwickelten und in denen sich schließlich auch die verschiedenen Folgeindustrien ansiedelten, sowie die Bergbauregion im Mansfeldischen verbuchten durchgängig ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum. Dies betraf sowohl Kreise, die bereits 1816 ein hohes Ausgangsniveau der Bevölkerungsdichte hatten, als auch Gebiete, die sich erst durch die Industrialisierung zu demographischen Dichtezonen entwickelten. Während die Einwohnerzahl aller 39 provinzialsächsischen Landkreise von 1816 bis 1885 jährlich um 0,97 % stieg, betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate im gleichen Zeitraum in den Kreisen Naumburg und Weißenfels gemeinsam 1,33 %, Zeitz 1,08 % und Aschersleben 1,05 %. Neue Bevölkerungskonzentrationen entstanden in den Bördekreisen Calbe (von 1816 bis 1885 jährlich um 1,46%) und Wanzleben (1,27%), im Halle umgebenden Saalkreis (1,45 %) sowie im Mansfelder Seekreis (1,5 %), Mansfelder Gebirgskreis (1,12 %) und im Kreis Sangerhausen (1,09 %). Wie eng die Bevölkerungsentwicklung mit dem Verlauf der Industrialisierung korrespondierte, kann auch anhand regionaler Vergleiche innerhalb kleinerer Wirtschaftsregionen nachvollzogen werden. So wuchs innerhalb der vier Bördekreise in den Kreisen Calbe und Wanzleben, die wirtschaftlich weiter entwickelt waren, eine höhere Kapitalkonzentration und daher eine stärkere soziale Polarisierung aufwiesen, die Bevölkerung schneller als in den Kreisen Wolmirstedt und Neuhaidensieben, in denen die agrarischen Betriebsgrößenstrukturen aus der vorindustriellen Zeit im wesentlichen erhalten blieben. 166 Auch die wirtschaftlichen Konzentrationstendenzen im Mansfelder Bergbaure-

V. Die demographische Entwicklung

89

vier verlangsamten das Bevölkerungswachstum im Kreis Sangerhausen zugunsten des Mansfelder See- und ab etwa 1870 auch des Mansfelder Gebirgskreises. Im Eichsfeld dagegen wurde die strukturelle Übervölkerung durch eine in den vierziger Jahren einsetzende Emigration abgebaut. Die Auswanderung überstieg in vielen Orten und über einen vergleichsweise langen Zeitraum hinweg das natürliche Bevölkerungswachstum, so daß die Gesamteinwohnerzahlen in den Kreisen Heiligenstadt und Worbis von 1849 bis 1867 und noch einmal von 1867 bis 1885 absolut zurückging. Außer dem Kreis Stendal (von 1816 bis 1885 jährlich um 1 %) erreichten auch alle bereits 1816 relativ dünn besiedelten Gebiete im Norden und Osten nicht die durchschnittliche Wachstumsrate der Provinz von 0,97 %. Gegenüber den Zentren der Industrialisierung fielen aber hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung auch weitere abseits der Fernhandelswege gelegene Gebiete wie die Kreise des Thüringer Beckens (Langensalza 0,57 %, Weissensee 0,55 %) und der Kreis Eckartsberga (0,57 %) zurück. Insgesamt verstärkte sich die regionale Polarisierung, vor allem durch Ein-, Binnen- und Auswanderungen im 19. Jahrhundert noch. Die Spannbreite der Bevölkerungsdichten der einzelnen Kreise mit den Extrema der Kreise Naumburg und Weißenfels mit insgesamt 252 Ew/km sowie des Kreises Gardelegen mit 37 Ew/km war weiter angewachsen. Die jeweiligen Variationskoeffizienten stiegen von 0,39 im Jahre 1816 über 0,4 (1831), 0,42 (1849) und 0,45 (1867) auf 0,53 (1885), was für eine sich beschleunigende regionale Polarisierungstendenz spricht. 167 Konzentrationstendenzen lassen sich auch bei der Analyse der Urbanisierungsprozesse beobachten. Die im Jahre 1816 größten Städte der Provinz, Magdeburg und Halle, weisen beim Vergleich der Bevölkerungswachstumsraten von 125 Städten außerordentlich hohe Werte auf. 168 Für das Herzogtum Braunschweig liefern die auf der Kreisebene erhobenen Daten keine ausreichende Basis für analoge Interpretationen. Die 6 Kreise bilden eine zu geringe Grundgesamtheit und repräsentieren teilweise auch in sich

166

R. Berthold, Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur, S. 193 ff. Zum Variationskoeffizient als für vergleichende Fragestellungen geeignetes Streuungsmaß: J. Sensch, Statistische Modelle in der Historischen Sozialforschung I: Allgemeine Grundlagen - Deskriptivstatistik - Auswahlbibliographie, Köln 1995, S. 142 f. 168 Die Einwohnerzahlen von Magdeburg und Halle stiegen zwischen 1816 und 1885 im jährlichen Durchschnitt um 2,08 bzw. 2,07%. Diese Wachstumsraten übertrafen nur 4 der übrigen 141 provinzialsächsischen Städte. Berechnet nach: A. Zander, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 175 ff. 167

90

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

sehr unterschiedliche ökonomische Voraussetzungen. So weisen die Bevölkerungsdichten innerhalb der Kreise Braunschweig und Helmstedt analog der Grenze zwischen Heide- und Lößgebieten relativ große Differenzen

auf. 1 6 9

A u c h lebten bereits 1831 über 5 5 % der Bevölkerung des Kreises Braunschweig in der Landeshauptstadt. Aus diesem Grunde wurden Daten auf der Basis der braunschweigischen Amtsgerichtsbezirke herangezogen. 1 7 0 E i n Vergleich der Bevölkerungsdichten der 23 Amtsgerichtsbezirke des Herzogtums i m Jahre 1831 weist ähnlich wie bei den provinzialsächsischen Kreisen auf die überdurchschnittlich fruchtbaren Gebiete m i t intensiver Landwirtschaft, w i e die Ämter Salder (71 E w / k m ) und Vechelde (62 E w / k m ) sowie auf Zentren der Protoindustrie, beispielsweise im A m t Ottenstein (68 E w / k m 2 ) h i n . 1 7 1 Die regionalen Unterschiede i m Bevölkerungswachstum zwischen 1793 und 1890 dokumentieren vorrangig den Niedergang der Hausindustrie wie auch die in den ländlichen Gebieten des nördlichen Hauptteils ihren Ausgang nehmende Industrialisierung. Das durch die Statistik vorgegebene Jahr 1849 symbolisiert eine grundlegende Trendwende in der regionalen Struktur des Bevölkerungswachstums. Während in den ländlichen Gebieten der Kreise Gandersheim und Holzminden die Wachstumsrate etwa auf den N u l l p u n k t fiel, stieg sie in den

169

Diese unterschiedlichen natürlichen Vorbedingungen für die landwirtschaftlichen Produktion wirkten sich schon in der Agrargesellschaft aus. „Die Lößgrenze war ursprünglich Scheidelinie zwischen den großen, dicht geschlossenen, schon zu Beginn der Neuzeit volkreichen Haufendörfern im Süden mit dem für Getreidebau günstigen mitteldeutschen Gehöft und den kleineren lockeren Sackgassen- und Zeilendörfern im Norden mit ihrem viehzuchtbetonten Niedersachsenhaus." Der Kreis Braunschweig hatte „schon Anfang des 18. Jahrhunderts ... für ländliche Räume eine sehr zahlreiche Bevölkerung, deren Dichteverteilung deutlich von der Bodengüte und damit der landwirtschaftlichen Nutzungsmöglichkeit abhängig war." Der Landkreis Braun-schweig, S. 387 f. - Ein ähnliches Süd-Nord-Gefälle existierte auch im Kreis Helmstedt. Vgl. H. Pohlendt, Der Landkreis Helmstedt, S. 73 ff. 170 Vgl. Anlage 41. Die 6 Kreise des Herzogtums gliederten sich in 13 Städte und 23 Ämter auf. Von den 13 Städten hatten 1831 vier, 1849 drei und 1867 noch eine weniger als 2000 Einwohner, so daß sich auch in diesem Falle eine Differenz zwischen dem Anteil nichtstädtischer und ländlicher Bevölkerung ergibt. - Theissens Daten aus den Seelenlisten weichen z.T. von den Angaben der veröffentlichten Statistik ab, wofür keine Erklärung vorliegt. Vgl. H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 281, Anm. 297. 171 Die Bodenfruchtbarkeit ist ein in der vorindustriellen Zeit die Bevölkerungsdichte langfristig beeinflussender Faktor, der jedoch im 19. Jahrhunderts nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum korrelierte. Vgl. F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums, S. 13 ff. und eine andere Interpretation bei G. Schildt, Tagelöhner, S. 29. - Vergleichsdaten zur Bodenfruchtbarkeit, ausgewiesen vor allem durch die Grundsteuerkapitalwerte, liefert: R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 44. - Bei der Bewertung der hohen Bevölkerungsdichte im Amt Thedinghausen ist dessen Exklavencharakter zu berücksichtigen.

V. Die demographische Entwicklung

91

Kreisen Wolfenbüttel und Helmstedt gegenüber dem vorherigen Zeitraum. 172 Wiesen in den dreißiger und vierziger Jahren die in den süd- bzw. südöstlichen Kreisen gelegenen Ämter Hasselfelde, Greene, Blankenburg und Gandersheim die höchsten Wachstumsraten auf, waren es in den fünfziger und sechziger Jahren die durch Entwicklung der Zuckerrübenwirtschaft und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur gleichermaßen begünstigten Ämter Schöningen, Harzburg und Wolfenbüttel. Generell wurde das Maß des Bevölkerungswachstums bis etwa 1840 vorrangig durch die unterschiedlichen Geburtenraten, danach jedoch durch Migrationen bestimmt. 173 Die Gründung von Zuckerfabriken bewirkte in verschiedenen Orten kurzfristig ein rasantes Bevölkerungswachstum. 174 Mit Ausnahme des Kreises Braunschweig wurde die Bevölkerungsbewegung zumindest bis in die sechziger Jahre durch die Entwicklung des ländlichen Raumes bestimmt. In den anderen 5 Kreisen lebten noch 1867 jeweils zwischen 72 und 87 % der Bevölkerung in Ortschaften mit weniger als 2000 Einwohnern. (Vgl. Tabelle 4 auf S. 92) Allerdings wuchs die städtische Bevölkerung insgesamt seit 1849 deutlich stärker als die ländliche. 175 Die Städte mit den höchsten Wachstumsraten, wie Schöningen und Holzminden, profitierten vor allem von der Zolleinigung und dem Eisenbahnbau, während sich die ökonomische Entwicklung der ländlichen Umgebungen erst langfristig auf das städtische Bevölkerungswachstum auswirkten. Der Vergleich der braunschweigischen Daten mit den provinzialsächsischen, der allerdings schon durch die unterschiedliche Größe der Territorien nur mit großer Vorsicht anzustellen ist, zeigt, daß die Dichte der gesamten wie auch der ländlichen Bevölkerung in Braunschweig im Jahre 1831, also vor der Industrialisierung, mit 64,6 Ew/km bzw. 47,7 Ew/km höher war als in der Provinz Sachsen mit 54,7 Ew/km bzw. 38,9 Ew/km . 1 7 6 Dünn besiedelte Gebiete wie

172

Vgl. Anlage 42. Näheres dazu bei: H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 283 ff. 174 Eine Analyse der Entwicklung der entsprechenden Einwohnerzahlen vor und nach der Gründung der Zuckerfabriken zeigt die starke Bevölkerungszunahme. So stagnierte die Einwohnerzahl von Uefingen im Amt Salder in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie betrug im Jahre 1812 283, 1824 294 und 1849 nur 279. Nachdem in diesem Jahr die erste braunschweigische Zuckerfabrik in Uefingen gegründet wurde, stieg die Bevölkerungszahl über 363 im Jahre 1858 und 497 im Jahre 1864 auf 594 im Jahre 1871, hat sich also innerhalb von 2 Jahrzehnten verdoppelt. Zu den Einwohnerzahlen Ebenda, S. 401 ff. Eine Liste der gegründeten Rohzuckerfabriken bei: R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 384. 173

175

Vgl. Tabellen A 40 und A 42. Die Angabe über die Bevölkerungsdichte der Provinz Sachsen weicht von der in der Anlage 26 enthaltenen ab, da hier die Bevölkerung der beiden Stadtkreise Magdeburg und Halle in die Berechnung einzubeziehen war. 176

92

B. Agrarkapitalismus und beginnende Industrialisierung

die Altmark und die ostelbischen Territorien der Provinz Sachsen nahmen im Herzogtum Braunschweig einen wesentlich geringeren Teil ein. Die Bevölkerungsdichte in den ländlichen Gebieten der Kreise des Weserdistrikts, Gandersheim und Holzminden, lag etwa im Bereich des Wertes des Kreises Mühlhausen. Die Daten von Braunschweig und Wolfenbüttel waren mit denen des Kreises Erfurt und des Saalkreises vergleichbar. Im Jahre 1867 hatten sich die Bevölkerungsdichten beider Untersuchungsgebiete mit 79,6 Ew/km im Herzogtum Braunschweig und 79,2 Ew/km in der preußischen Provinz Sachsen beinahe angeglichen.

Tabelle 4 Anteil der Einwohner der Amtsgerichtsbezirke an der Gesamtbevölkerung der braunschweigischen Kreise 1831-1867

Kreis

prozentualer Anteil im Jahre 1831

1849

1867

Braunschweig

44,24

43,56

39,20

Wolfenbüttel

78,74

78,57

78,01

Helmstedt

72,66

72,57

72,14

Gandersheim

87,46

87,25

86,84

Holzminden

82,23

81,47

79,33

Blankenburg

74,53

74,44

72,74

Hztm.Braunschweig insg.

70,54

70,10

67,43

Berechnet nach Angaben in: Beiträge zur Statistik des Herzogtums Braunschweig, Heft 2, Braunschweig 1875, S. 52 f.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß sich die erhobenen demographischen Daten durchaus zur quantitativen Beschreibung ökonomischer und sozialer Prozesse eignen, zumal Wirtschaftsstatistiken für eine Querschnitts- oder gar Zeitreihenanalyse auf der Aggregationsebene „Kreis" bzw. „Amtsgerichtsbezirk" nicht vorliegen. 177

177

Vgl. Abschnitt J.

C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815 In der Diskussion über die Wechselbeziehungen zwischen „Verkehrsrevolution" und Industrialisierung spielt der Entwicklungsstand des Verkehrswesens in vorindustrieller Zeit eine wichtige Rolle. Rainer Gömmel ist der Ansicht, daß der schlechte Zustand zumindest des Landverkehrs in der frühen Neuzeit ein größeres Wirtschaftswachstum verhindert hat.1 Schließlich waren drei Faktoren „bei jedem Warentransport, bei jeder Nachrichtenübermittlung und bei jeder Reise einzukalkulieren: Unzuverlässigkeit, Unregelmäßigkeit und Langsamkeit."2 Auch Hans-Ulrich Wehler meint, daß sich im 18. Jahrhundert die Rückständigkeit der Verkehrsverhältnisse ganz besonders hemmend auf den „Ausbau einer leistungsfähigen Marktwirtschaft, die nicht zufällig auch Verkehrswirtschaft genannt wird", ausgewirkt habe.3 Wolfram Fischer hingegen betont die positiven Vorleistungen, die der Staat durch die Fortentwicklung des Verkehrswesens bereits im 18. Jahrhundert für den Beginn der Industrialisierung erbracht hat.4 Natürlich ergeben verschiedene Problemstellungen mit entprechend unterschiedlicher Blickrichtung immer voneinander abweichende Einschätzungen. Ein wesentliches Defizit der historischen Forschung in dieser Frage liegt allerdings auch darin, daß „bisher noch nicht annähernd quantifiziert worden (ist U.M.)..., welchen Einfluß der Ausbau des Straßen- und Kanalsystems auf den Einsatz der Industrialisierung hatte."5 Eine derartige Quantifizierung würde 1

R. Gömmel, Technischer Fortschritt im Verkehrswesen während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: U. Bestmann (Hrsg.), Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, Bd. 3, Trier 1987, S. 1039. 2 I. Mieck, Wirtschaft und Gesellschaft Europas von 1650 bis 1850, in: Ders. (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, S. 101. 3 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 120. 4 W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 68. 5 Ebenda. - Diese Einschätzung Fischers gilt im wesentlichen heute noch, obgleich die Ergebnisse des DFG-Projekts zur historischen Statistik, Teilprojekt Verkehrsstatistik, helfen dürften, dieses Defizit für die Wasserstraßen und Eisenbahnen im 19. Jahrhundert abzubauen. - Zur Konzipierung des Projekts: W. Fischer, Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland. Ein Forschungsschwerpunkt der DFG, in: Jahrbuch der historischen Forschung, München 1986, S. 47 ff.; W. Fischer / A. Kunz, Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von

94

C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

natürlich zunächst die Messung der Verkehrsinfrastrukturqualität erfordern, die in unserem Falle in erster Linie durch die Chausseenetzdichte widergespiegelt wird. Im 18. Jahrhundert, also vor der Institutionalisierung von Landesstatistiken, sind jedoch entsprechende Daten nicht systematisch erhoben worden. Noch im 19. Jahrhundert sind derartige Angaben, speziell für Nichtstaatsstraßen, rar und oft unzuverlässig. 6 Die verhältnismäßig genauesten Daten über den Stand des Landstraßenwesens lassen sich aus den an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in größerer Zahl hergestellten Entfernungstableaus gewinnen.7 Diese Tableaus wurden zur Kalkulation der Reisezeiten benutzt und enthielten daher in einigen Fällen nicht nur Längenangaben, sondern auch Informationen über den Straßenzustand. So ist aus dem Jahre 1814 eine Aufstellung der verschiedenen Streckenvarianten für eine Reise zwischen Hamburg und Leipzig überliefert. 8 Jede der sechs aufgeführten Straßen dürfte in Abhängigkeit vom Ladungsgewicht seine Nutzer gefunden haben, denn mit der Streckenlänge wuchs auch der Anteil der chaussierten Abschnitte. So war zwar die Route von Hamburg über Hannover, Göttingen, Kassel, Eisenach und Erfurt nach Leipzig mit 64 Meilen der längste, aber gleichzeitig mit einem Anteil von 50 Meilen chaussierter Strecke auch der qualitativ beste Weg. Die direkte Verbindung von Hamburg über Lüneburg, Braunschweig, Halberstadt und Halle nach Leipzig enthielt hingegen bei einer Gesamtlänge von 42,75 Meilen nur 15,5 Meilen chaussierte Landstraße.9

Deutschland. Ein Forschungsschwerpunkt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Dies. (Hrsg.), Grundlagen der historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele, Opladen 1991, S. 32 ff. - Als Datenband liegt mittlerweile vor: R. Fremdling / R. Federspiel / A. Kunz (Hrsg.), Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835-1989, St. Katharinen 1995. - Zu den Wasserstraßen: Andreas Kunz, The economic performance of inland navigation in Germany, 1835-1935: A reassessment of traffic flows, in: ders. / John Armstrong (Hrsg.), Inland navigation and economic development in nineteenth-century Europe, Mainz 1995, S. 47 ff. 6 Für den Bereich des Landstraßenwesens liegen die Quellen generell wesentlich verstreuter als für die anderen Verkehrsinfrastrukturbereiche. Im o.g. DFG-Projekt wurden auch aus diesem Grunde die Landstraßen nicht bearbeitet. A. Kunz, Zum Einsatz von Datenbankprogrammen in der Wirtschaftsgeschichte: BINWA - eine Datenbank zur Entwicklung des Β innenwasserstraßennetzes in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: K.H. Kaufhold / J. Schneider (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und elektronische Datenverarbeitung, Wiesbaden 1988, S. 284 f. 7 Die braunschweigische Wegebesserungskommission legte in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts für jedes Amt „Situationstabellen" an, in denen die in Stunden gemessenen Entfernungen zu den nächsten Dörfern, Städten, Forsten, Steinbrüchen, Sandgruben, Kalk- und Ziegelbrennereien ebenso enthalten waren wie die durch das jeweilige Amt gehenden Landstraßen. Nds STA Wolfenbüttel, 57 Alt 1, Bl. 41 ff. 8 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 151 III, Nr. 8149.

I. Veränderungen der Landstraßenfunktion im 18. Jahrhundert

95

Im größeren Teil des hier zu untersuchenden Gebietes, also auf dem Territorium der preußischen Provinz Sachsen, existierten zur Jahrhundertwende nur wenige einzelne Chausseelinien, so daß man nicht einmal ansatzweise von einem Netz sprechen kann. Ein Netzdichtenvergleich der verschiedenen Teilregionen des Untersuchungsgebietes ist also für die Zeit vor 1815 weder realisierbar noch sinnvoll. Die im Abschnitt D vorgestellten Daten für 1816 werden allerdings bereits erhebliche Differenzen zwischen den braunschweigischen und ehemals kursächsischen Gebieten einerseits und den altpreußischen Gebieten andererseits aufzeigen. 10 Auch bei den verschiedenen Routen von Hamburg nach Leipzig fällt auf, daß der Anteil der chaussierten Abschnitte von West nach Ost kontinuierlich abnahm. Diese Unterschiede sind offensichtlich auf bereits in ihren Anfängen unterschiedliche Chausseebaupolitiken zurückzuführen.

I. Veränderungen der Landstraßenfunktion im 18. Jahrhundert Um die Straßenbaupolitik dieser Zeit zu verstehen, ist zunächst die Frage nach der Rolle der Landverkehrsinfrastruktur in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zu erörtern. Während in Mitteleuropa bis zum 17. Jahrhundert Art und Weise der Herstellung und Erhaltung dieses Strukturelementes durch seit dem Hochmittelalter kaum veränderte Rechtsnormen und Techniken bestimmt wurden, vollzog sich nach dem Dreißigjährigen Krieg die „Wende zur Neuzeit im Straßenbau".11 Die Ursachen dafür lagen in dem Wandel und der Vervielfältigung der Funktionen, die das Straßenwesen zu erfüllen hatte. Wie schon durch die Verwendung des Begriffs der „Heerstraße" deutlich wird, hatten die mittelalterlichen Straßen für den Adel vor allem militärische Bedeutung. Mit dem sich im 16. Jahrhundert in einigen Teilen des Reichs, innerhalb Mitteldeutschlands vor allem in Kursachsen, vollziehenden Ausbau der Territorialstaaten und dem Aufkommen stehender Heere, die schnell an die Landesgrenzen zu gelangen hatten, stieg die militärische Relevanz des Land-

9 Der Zustand der Leipziger Straße im Braunschweigischen und der MagdeburgLeipziger Straße muß demnach zumindest teilweise so schlecht gewesen sein, daß man diese Straßen nicht mehr als Chausseen angesehen hat. 10 Vgl. Abschnitte D.II.l. und D.III. 1. 11

J. Salzwedel, Wege, Straßen, Wasserwege, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 200.

C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

96

straßenwesens. Gleichzeitig erlangte der Landstraßenverkehr eine völlig neue politische Bedeutung. Viele Landesherren hatten den Nutzen der Straßen bei den Auseinandersetzungen mit den freien Städten und mit dem lokalen Adel erkannt. Auch beim Aufbau und für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit von zentralisierteren Verwaltungen erwies sich die Verbesserung der „Communication" als unabdingbar. 12 Insgesamt kann man das Streben des „Merkantilismus zur einheitlichen Staatsraumbildung" als das allgemeine, nicht unmittelbar mit wirtschaftspolitischen Intentionen verbundene Motiv für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur bezeichnen.13 Seit dem 16. Jahrhundert nutzten die Postanstalten die Landstraßen zur Nachrichten- und seit 1650 auch zur Personenbeförderung. Die Anzahl der regelmäßig befahrenen Postrouten und ihre Frequentierung nahmen ständig zu. Im Herzogtum Braunschweig waren um 1750 die meisten Ämter und alle Städte und Flecken an das Postnetz angeschlossen.14 Eine Reise mit dem Postwagen stellte allerdings einen nur wenigen Personen zugänglichen Luxus dar. 15 Mit dem Aufbau von Landesposten als Konkurrenz zur Thum und Taxisschen Reichspost hofften viele Landesherren im 17. Jahrhundert, eine neue Einnahmequelle zu erschließen. In Braunschweig lagen die Einnahmen aus dem Postbetrieb bis zu 50% über den Ausgaben.16 Die Posten gehörten damit zu den wichtigsten Staatsgewerbeanstalten und erbrachten bis zu 10% der gesamten Staatseinnahmen.17 Daher war jeder Staat bemüht, die Postkurse möglichst lange auf eigenem Gebiet zu halten, um sich einen größtmöglichen Portoanteil zu sichern. Aus diesem Grunde wurden auch in unserem Untersuchungsgebiet Poststraßen be-

12

W. Lötz, Verkehrsentwicklung in Deutschland seit 1800, 4. Aufl., Leipzig-Berlin 1920, S. 9; F.Voigt, Verkehr, S. 415; M. Jehle, Eiserne Kunststraßen, S. 72 f.; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 111 ff. 13 W. Zorn, Verdichtung und Beschleunigung des Verkehrs als Beitrag zur Entwicklung der „modernen Welt", in: R. Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 123. 14 P. Albrecht, Förderung des Landesausbaues, S. 67. 15 F. Voigt, Verkehr, S. 422; K. Herrmann, Die Personenbeförderung bei Post und Eisenbahn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Scripta Mercaturae, 1977, H. 2, S. 11. 16 P. Albrecht, Förderung des Landesausbaues, S. 70. 17 G. Schmoller, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. 159 ff.; K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 22 ff. - Die mitunter anzutreffende Auffassung, die Post hätte 50% der Staatseinnahmen des friderizianischen Preußens erbracht, ist allerdings falsch. Vgl. F. Voigt, Verkehr, S. 848; K. Beyrer, Das Reisesystem der Postkutsche. Verkehr im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 46.

I. Veränderungen der Landstraßenfunktion im 18. Jahrhundert

97

stimmt, auf denen regelmäßige Fahrten stattfinden sollten.18 Um die Einhaltung der Fahrpläne zu gewährleisten, mußte aber der Staat seine „Aufmerksamkeit ... mehr als bisher auf den Zustand der Straßen, auf ihren Bau und ihre Unterhaltung lenken." 19 Daher lohnte schon aus fiskalischen Interessen die Herstellung bzw. Erhaltung der als Postrouten dienenden Fernstraßen. Selbstverständlich waren die Straßen auch schon im Mittelalter ein wichtiger Träger des Handelsverkehrs. Der Fernhandelsverkehr benutzte dafür wenige spezielle Fernhandelsrouten. Die Erhaltung dieser Straßen lag aber unter wirtschaftlichen Aspekten beinahe im alleinigen Interesse der Städte, insbesondere des Handelsbürgertums, das nur geringe Einflußmöglichkeiten auf den Straßenzustand hatte.20 Da generell die Transportkosten im Verhältnis zum Wert der beförderten Waren sehr hoch waren, konzentrierte sich der Fernhandelsverkehr auf den Straßen bis in das 19. Jahrhundert hinein auf den Transport von wertintensiven Gütern, beispielsweise Genußmitteln, sowie von „nur örtlich gewinnbaren Gütern notwendigen Bedarfs", wie Salz und Metalle. 21 Der Handel mit den quantitativ gewichtigsten, agrarischen Produkten besaß meist nur lokale Bedeutung oder erfolgte über Wasserwege. Dementsprechend spielte die Qualität der Landstraßen im Leben der Landbewohner eine wesentlich geringere Rolle als für die Stadtbewohner, die ihre Erzeugnisse teilweise auf weit entfernten Märkten absetzen mußten und in zunehmendem Maße auf Lebensmittel· und Rohstofflieferungen, die nicht nur aus der direkten Umgebung stammten, angewiesen waren. 22 Massengüter konnten bei entsprechender Wasserwegqualität auf den Flüssen und Kanälen transportiert werden. Überhaupt waren die Wasserwege bis zum Beginn des Eisenbahnbaues den Landverkehrswegen fast in allen Aspekten der Verkehrswertigkeit überlegen. 23 Die Binnenschiffahrt erwies sich als sicherer, 18 A. Schellenberg, Die Entwicklung des Landstraßenwesens im Gebiete des jetzigen Regierungsbezirk Merseburg seit dem Spätmittelalter, Halle 1929, S. 24 ff. 19 Ebenda, S. 27. Vgl. auch E. Sax, Die Verkehrsmittel in Volks- und Staatswirtschaft, Bd. 2. Land- und Wasserstraßen, Post, Telegraph, Telephon, 2. Aufl., Berlin 1920, S. 5. 20 M. Jehle, Eiserne Kunststraßen, S. 71 f. 21 E. Sax, Verkehrsmittel, S. 1 f f ; H. Ritsehl, Die Deckung der Straßenkosten und der Wettbewerb der Verkehrsmittel, Köln 1956, S. 7; H. Pohl, Die Entwicklung des Verkehrswesens in den vergangenen 100 Jahren, in: Ders. (Hrsg.), Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986, Stuttgart 1988 (= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beih. 52), S. 4; F.-W. Henning, Deutsche Wirtschaftsund Sozialgeschichte im Mittelalter, S. 880 f. 22 U. Baldermann, Die Entwicklung des Straßennetzes in Niedersachen von 17681960, Hildesheim 1968, (= Veröffentlichungen des niedersächsischen Instituts für Landeskunde und Landesentwicklung an der Universität Göttingen, Bd. 87), S. 2. 23 Schnelligkeit, Massenleistungsfähigkeit, Netzbildungsfähigkeit, Berechenbarkeit, Häufigkeit, Sicherheit und Bequemlichkeit werden im Verkehrswertigkeitskonzept als

7 Uwe Müller

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

schneller, bequemer und vor allem massenleistungsfähiger als der Frachtwagenverkehr auf den schlecht unterhaltenen Landstraßen. 24 Allerdings mußte in Bezug auf die Netzbildungsfähigkeit der Wasserstraßenverkehr dem Landverkehr unterlegen bleiben. Insgesamt standen beide Verkehrssysteme daher mehr in einem Komplementär- als in einem Konkurrenzverhältnis. 25 In der immerhin von Elbe, Saale und Unstrut durchflossenen preußischen Provinz Sachsen befanden sich 1862 in 20 der 41 Kreise schiffbare Wasserstraßen mit einer Gesamtlänge von 94,7 Meilen. 26 Wenn man berücksichtigt, daß die wesentlichen Regulierungsarbeiten an Elbe, Saale und Unstrut erst im 19. Jahrhundert stattfanden, ist es offensichtlich, daß sich eine raumerschließende Politik im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vor allem den Landstraßen zuzuwenden hatte. Dies ergab sich auch aus der wachsenden Bedeutung des Ost-West-Handels, der nicht allein über die entstehenden künstlichen Wasserstraßen abgewickelt werden konnte. 27 Mit der allgemeinen Ausweitung des Handelsverkehrs, der Entwicklung des Manufakturwesens sowie der Herausbildung protoindustrieller Regionen im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wuchs das Verkehrsaufkommen auf den vorhandenen Straßen. Darüber hinaus entstand beispielsweise bei den Verlegern das Bedürfnis nach einer intensiveren Vernetzung zur Erschließung der ländlichen Gewerbezentren und nach schnelleren Transportmöglichkeiten zur Gewinnung neuer bzw. Bewahrung alter Märkte. Für den Transport der Rohstoffe und Fertigprodukte mußten immer größere Entfernungen zurückgelegt werden. Die aus wirtschaftspolitischen Überlegungen resultierenden Anreize für die absolutistischen Staaten, den Straßenzustand zu verbessern, beschränkten sich jedoch nicht auf die Förderung des Fertigwarenexports. Die Notwendigkeit besserer und zum Teil auch neuer Straßen ergab sich auch aus dem der „Peudie die Qualität eines Verkehrsträgers widerspiegelnden Indikatoren definiert. Der Stellenwert dieser Merkmale ist bei den einzelnen Nachfragern nach Verkehrsdienstleistungen unterschiedlich ausgepägt. Aus diesem Grunde besitzen beispielsweise bestimmte Güter „Affinitäten" zu bestimmten Verkehrsträgern. Vgl. G. Voppel, Verkehrsgeographie, Darmstadt 1980, (= Erträge der Forschung, Bd. 135) S. 31 f. - Ähnlich bereits: E. Sax, Verkehrsmittel, S. 7 ff. 24 F.Voigt, Verkehr, S. 240; R. Gömmel, Technischer Fortschritt, S. 1039 ff.; F.W. Henning, Standorte und Spezialisierung des Handels und des Transportwesens in der Mark Brandenburg um 1800, in: F.-W. Henning, Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Dortmund 1985, S. 174 ff. 25 H. Pohl, Entwicklung des Verkehrswesens, S. 3. 26 von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen des preußischen Staates im Jahre 1862, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, 3. Jg., Berlin 1863, S. 210 f. 27 E. Rehbein, Transport- und Nachrichtenwesen, in: Handbuch. Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1981, S. 599. Die Mehrzahl der Kanäle wurde natürlich in OstWest-Richtung, also quer zur Laufrichtung der meisten Flüsse, gebaut.

I. Veränderungen der Landstraßenfunktion im 18. Jahrhundert

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plierung" dienenden Landesausbau und der Ausweitung der Bautätigkeit in den Residenzstädten.28 Die Durchfuhrung der Holz- und Steintransporte aus dem Harz in die jeweiligen Kerngebiete hatten sowohl im Herzogtum Braunschweig als auch in den anhaltinischen Herzogtümer einen hohen Stellenwert, da bei diesen Materialien die örtlichen Ressourcen vielfach erschöpft waren. 29 Die Senkung der Transportkosten galt aber auch als Mittel zur Wahrung der Preisstabilität, insbesondere bei Lebensmitteln, und zur Verbesserung der Absatzbedingungen für die einheimische Wirtschaft. 30 Die Förderung des Handels war an der Wende zum 19. Jahrhundert zum wichtigsten Motiv sowohl für den praktischen Chausseebau als auch für die theoretischen Konzeptionen einer gesamtdeutsch orientierten Verkehrspolitik geworden. 31 Sowohl in römischer Zeit als auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hatten dagegen wirtschaftliche Motive noch hinter militärischen und verwaltungstechnischen Erwägungen rangiert. 32 Neben der Aufwertung der Wirtschaftspolitik in den deutschen Territorialstaaten erhöhte auch die schon traditionelle Betrachtung der Verkehrswege als Einnahmequellen des Staates den Stellenwert der Verkehrspolitik. Dabei ging es nicht nur um die Posteinnahmen. Schließlich erwuchs aus dem Straßenregal in der Form von Zöllen und weiteren Abgaben eine beachtliche finanzielle Einnahmequelle für den Landesherren und Teile des Adels. 33 „Deshalb sollten gute, jederzeit befahrbare Straßen den geldbringenden Frachtverkehr und den ebenfalls einträglichen Postverkehr (einschließlich Post-Reisenden) in das Land ziehen."34

28

H. Liman, Preußischer Chausseebau. Meilensteine in Berlin, Berlin 1993, S. 8. P. Albrecht, Förderung des Landesausbaues, S. 55; H. Wäschke, Abriß der anhaltischen Geschichte, Dessau 1895, S. 78. 30 "Denn je schlechter und ungemächlicher die Weege sind, desto mehr Fuhrlohn, Zehrungen und Nebenunkosten müssen auf die Waaren und alle Verrichtungen geschlagen werden." Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff aller bey dem Straßenbau vorkommenden Fällen, samt einer vorausgesetzten Weeg-Geschichte und einem Verzeichnis der unentbehrlichen Weeg-Gesetze, Frankfurt a.M. 1779, S. 45. Vgl. auch Ebenda, S. 39, 158 ff., 173. 29

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Ebenda, S. 471; J. Salzwedel, Wege, S. 209. M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 72 und 83. 33 In Bayern betrugen in den 1770er Jahren die Einnahmen aus Maut- und Acciseeinkünften 400.000 fl., was 13 % der gesamten Staatseinnahmen ausmachte. Berechnet nach: E. Schremmer, Die Finanzwirtschaft des absoluten Staates: Bayern im 18. Jahrhundert, in: E. Hinrichs, Absolutismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 204 ff. - Zur Struktur der preußischen Staatseinnahmen um 1800: K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 17 ff.; G. Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921, S. 133 ff. Der exakte Anteil der Chausseegeldeinnahmen läßt sich hier erstmals für den Haushalt des Jahres 1821 ermitteln. Vgl. Abschnitt I.IV. 34 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 6. 32

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Wirtschafts- und finanzpolitische Ziele erreichten also während des 18. Jahrhunderts, insbesondere in dessen Friedensperioden, im Bereich der Straßenbaupolitik gegenüber militärischen Motiven das Übergewicht. Die „Beförderung der Kommerzien" stand beim Erlaß der Wegeordnungen und beim Aufbau der Verwaltungen im Mittelpunkt. 35 Außerdem spielten bei der Anlegung der ersten Chausseen auch Repräsentationsbedürfnisse der absolutistischen Höfe eine Rolle. Dies gilt sowohl für den Bau der „Lustchausseen" um Dessau als auch für die ersten kurmärkischen Chausseen zwischen Berlin, Charlottenburg und Potsdam.36 Schließlich wurden seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts öffentlich finanzierte Straßenbauarbeiten auch zunehmend als Mittel der Sozialpolitik genutzt. Im Herzogtum Braunschweig galt seit dieser Zeit ihre beschäftigungsfördernde Wirkung als „erwünschter Nebeneffekt". 37 Im Jahre 1807 setzte man im sächsischen Erzgebirge erstmals Erwerbslose im Rahmen eines staatlichen Programms zum Straßenbau ein. 38 Christian Friedrich von Lüder, Direktor des Straßenwesens im Herzogtum Zweibrücken und einer der besten Kenner des zeitgenössischen Straßenwesen, faßte den Nutzen guter Chausseen folgendermaßen zusammen: „Sie befördern den Umlauf aller Gewerbe, führen dem Staat Nahrungssäfte zu, verkürzen die Reisen, erleichtern das geschwinde Fortkommen aller Handthierungs-Leute, vermehren die Zahl der Wanderer und sättigen das allgemeine Verlangen in aller Zeit und Witterung, bey Tag und Nacht, mit oder ohne Ladungen forteilen zu können." 39

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Das Zitat stammt aus der braunschweigischen Wegeordnung von 1704. Vgl. A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen des Kunststraßenbaus im zentralen Niedersachsen im 18. Jahrhundert, in: C.H. Hauptmeyer (Hrsg.), Verkehr und regionale Entwicklung im Raum Hannover vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, Ronnenberg 1991, S. 56 ff, insbes. S. 61. 36 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten zwischen 1763 und 1806, in: Die Straße, 27. Jg., 1987, S. 217. 37 Im braunschweigischen Straßenbau wurden ständig etwa 100 Menschen beschäftigt. „Außerdem erhielten noch viele Personen durch den erforderlichen Transport der Baumaterialien Arbeit." P. Albrecht, Förderung des Landesausbaues, S. 42. 38 A. Pätzold, Die Entwicklung des sächsischen Straßennetzes von 1763 bis 1831, Halle 1916, S. 37 f. - Bereits Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 476, sieht in der Beschäftigung von „Müßiggängern, Bettlern und Herumläufern" ein Argument für die „Abstellung der Weeg-Frohnen". 39 Ebenda, S. 163.

II. Die Entwicklung der Chausseebautechnik und ihre ersten Anwendungen

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II. Die Entwicklung der Chausseebautechnik und ihre ersten Anwendungen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Obwohl die Verbesserung der Verkehrsbedingungen ein wichtiges Ziel merkantilistischer Wirtschaftspolitik darstellte, haben die meisten deutschen Staaten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur geringe Verbesserungen in ihrer Landverkehrsinfrastruktur erreicht. 40 Die Qualität der unbefestigten Landstraßen überschritt noch zur Jahrhundertwende nicht das Niveau der Straßen im Römischen Reich der Antike. 41 Die Straßen waren in der Regel „unbefestigte Pisten, die sich während der Schneeschmelze oder nach starken Regenfallen in grundlosen Morast verwandelten. Die oft tief eingeschnittenen Fahrspuren trugen ebenfalls dazu bei, die Unsicherheiten im Landverkehr zu erhöhen - ganz zu schweigen von den häufigen Überfällen, mit denen Reisende und Kaufleute immer wieder zu rechnen hatten." 42 So führten die Zeitgenossen Schwankungen in der Besucherzahl der Braunschweiger Messe in erster Linie auf die von der Witterung abhängigen Straßenverhältnisse zurück. 43 Aufgrund des schlechten Straßenzustandes hatten sich auch die Reisegeschwindigkeiten seit dem Mittelalter nicht wesentlich erhöht. Auf unbefestigten Straßen nahm eine Reise zwischen den beiden wichtigsten deutschen Messestädten, Leipzig und Frankfurt a.M., im Durchschnitt sechs Tage in Anspruch. Bei schlechtem Wetter benötigte ein normaler Reisewagen für die Fahrt von Weimar nach Erfurt „oft fünf Stunden, während ein rüstiger Fußwanderer dieselbe Strecke in vier Stunden zurücklegen kann." 44 Das benachbarte Frankreich war hingegen spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts das „klassische Land des Straßenbaus".45 Die seit dieser Zeit vor 40

F. Blaich, Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: O. Issing, Geschichte der Nationalökonomie, 2. Aufl., München 1988, S. 36 f.; F.-W. Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter, S. 879; U.P. Ritter, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1961, S. 144. Vgl. H.-J. Teuteberg, Entwicklung, S. 184, Anm. 22. 41 W. Lötz, Verkehrsentwicklung, S. 9; A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie. Weg und Bedeutung des Straßengüterverkehrs in der Geschichte, Bonn-Bad Godesberg 1978, S. 46; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 72. 42 I. Mieck, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 102. Vgl. auch E. Sax, Verkehrsmittel , S. 5 ff. 43 M.A. Denzel, Braunschweiger Messen, S. 76. 44 R. Hennig, Verkehrsgeschwindigkeiten in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1936, S. 73. 45 R. Gömmel, Technischer Fortschritt, S. 1051. Vgl. F. Voigt, Verkehr, S. 416 ff.; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 93. Die Anlage befestigter Straßen besaß hier eine Tradition, die schon auf die Zeit König Henri IV. (1589-1610) zurückging. Die Wiederentdeckung der Reste römischer Straßen bei Reims im 17. Jahrhundert hat dann den Vorsprung der französischen Straßenbautechnik ausgebaut.

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allem in Frankreich entwickelten Straßenbautechniken knüpften an römische Vorbilder an. Die von Jean Baptiste Colbert initiierte Zentralisierung der Straßenverwaltung und technischen Ausbildung von Straßenbauingenieuren sowie die Ausweitung der corvée auf alle grand chemins erwies sich im Anfangsstadium des Chausseebaus als vorteilhaft. Die Umwandlung der Wegefronen in finanzielle Leistungen 1787 und deren völlige Abschaffung durch die Revolutionsverfassung von 1791 erzwangen auch eine Effektivierung der Straßenbauarbeiten auf Lohnarbeitsbasis. 46 In England begann in den fünfziger Jahren, also unmittelbar vor Beginn der industriellen Revolution und auch vor dem Kanalbaufieber, die Verbesserung des Landverkehrsnetzes durch den von Privatunternehmern getragenen Aufbau des Systems der „turnpike roads". 47 Werner Sombart sah daher in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Beginn der „klassischen Epoche der Landstraßen." 48 Der wichtigste Effekt der Innovation „Chaussee" für den Personenverkehr lag in der Erhöhung der Reisegeschwindigkeit. Die Angaben über die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Postkutschen erreichten Geschwindigkeiten schwanken zwischen 37 km pro Tag und 7 km pro Stunde.49 Auf einer der ersten britischen Steinstraßen, die von Manchester nach London führte, bewältigte die Schnellpost im Jahre 1754 eine 350 km lange Strecke in viereinhalb Tagen und gehörte damit zu den schnellsten Landverkehrsmitteln Europas. 46 W. Markov / A. Soboul, 1789. Die Große Revolution der Franzosen, Berlin 1973, S. 51; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 121; A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen des 18. Jahrhunderts am Beispiel des Landverkehrswesens: Großbritannien, Frankreich, Habsburgermonarchie, in: U. Müller (Hrsg.), Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung zwischen Liberalismus, Regulierung und staatlicher Eigentätigkeit, Leipzig 1996, S. 22 ff. - 1776 hatte Anne Robert Jacques Turgot die Abschaffung der Wegefronen auf den Staatsstraßen noch nicht durchsetzen können. Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 99, meinte trotz des Scheitern Turgots, daß es „nicht lange mehr werden dürfte, daß man in Frankreich aufhören wird, ... alles durch Frohnhände bewerkstelligen zu lassen." 47 E. Pawson, Transport and Economy. The Turnpike Roads of Eighteenth Century Britain, London-New York-San Francisco 1977, S. 13 ff.; P.S. Bagwell, The transport revolution 1770-1985, 2. Aufl., London 1988, S. 36 ff.; W. Albert, The Turnpike trusts, in: D.H. Aldcroft / M.J. Freeman (Hrsg.), Transport in the Industrial Revolution, Manchester 1983, S. 34 ff.; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 125 ff.; U. Müller, Die Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik während der Industrialisierung. Ein deutsch-britischer Vergleich, in: Ders. (Hrsg.), Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung zwischen Liberalismus, Regulierung und staatlicher Eigentätigkeit, Leipzig 1996, S. 52 ff. 48

Er hat daraufhingewiesen, daß seit etwa 1650 Bestrebungen zur Verbesserung der Hauptstraßen existierten, die „klassische Ausbauphase" aber erst 100 Jahre später begann. Dies geschah allerdings nicht, wie Sombart meinte und auch andere Autoren übernommen haben, in den größeren Territorial Staaten. W. Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 2, 6. Aufl., München 1924, S. 245. 49 F.Voigt, Verkehr, S. 428; W.Zorn, Verdichtung und Beschleunigung, S. 121; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 143.

II. Die Entwicklung der Chausseebautechnik und ihre ersten Anwendungen

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In England erhöhte sich mit dem Ausbau des Chausseenetzes die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der Postkutschen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf 15 km pro Stunde oder 120 km pro Tag und bis 1830 auf 20 km pro Stunde.50 Für den Güterverkehr auf den englischen Straßen haben sich zwischen 1750 und 1800 die Transportzeiten ebenfalls halbiert. 51 Noch wichtiger als die Steigerung der Geschwindigkeit waren allerdings die mit der Chaussierung verbundene höhere Transportsicherheit und die Möglichkeit der Kapazitätserweiterung bei den Frachtwagen. A u f den befestigten Straßen konnten größere Wagen, die von weniger Pferden gezogen wurden, höhere Geschwindigkeiten erreichen, und auch die Inanspruchnahme von Vorspannleistungen ging auf den Chausseen zurück. 52 Systematische Untersuchungen über England und einzelne Beispiele aus Mitteleuropa zeigen, daß um 1750 auf unbefestigten Landstraßen die Kapazität eines Frachtwagens im Durchschnitt 1,5 und maximal 3,5 Tonnen betrug. Auf den Chausseen des beginnenden 19. Jahrhunderts erhöhten sich diese Werte auf 4 bzw. 6 Tonnen.53 Durch die Erweiterung der Bespannung über die übliche Zahl von 4 bis 6 Pferden hinaus konnte zwar eine zusätzliche, jedoch nicht proportionale Steigerung der Frachtwagenkapazität erreicht werden. Bei einer Masse von 6 Tonnen pro Wagen bzw. 1,5 Tonnen pro Rad stieß man allerdings aufgrund der Wagenkonstruktion an eine technische Belastbarkeitsgrenze, die erst durch die Einführung der Luftreifen zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchbrochen wurde. 54 Demzufolge beruhten die Steigerungen der Verkehrswertigkeit im Landstraßentransport vorrangig auf dem Aufbau eines flächendeckenden, gut unterhaltenen und daher tragfähigen Chausseenetzes. Am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Pierre-Marie Jérôme Trésaguet, der seit 1775 Generalingenieur fur Brücken, Straßen und städtische Arbeiten in Frankreich war und als erster „den Straßenbau auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte", eine neue Straßenbauweise, die in verschiedenen Aspekten 50 Ebenda, S. 143 f.; H. Bösenberg, John Loudon Mac Adam und seine Bedeutung fur den Straßenbau, in: Technikgeschichte, Bd. 23, Berlin 1934, S. 26; A. Paulinyi, Die Umwälzung der Technik in der Industriellen Revolution zwischen 1750 und 1840, in: Ders. / U. Troitzsch, Mechanisierung und Maschinisierung. 1600 bis 1840, Berlin 1997, S. 433 f. 51 E. Pawson, Transport and Economy, S. 287 ff. 52 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 3. 53 E. Sax, Verkehrsmittel , S. 6; F. Voigt, Verkehr, S. 424; W. Zorn, Verdichtung und Beschleunigung, S. 120; A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, S. 20; R. Gömmel, Technischer Fortschritt, S. 1040; T.C. Barker, Transport: the Survival of the Old beside the New, in: P. Mathias / J.A. Davis (Hrsg.), The first industrial revolutions, Oxford 1989, S. 94; A. Paulinyi, Umwälzung der Technik, S. 430. 54 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 57.

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den bisherigen Rezeptionen der römischen Technik überlegen war. 55 „Die Konstruktion bestand aus einer Packlage pyramidenförmig zugehauener Steine als Grundbefestigung, deren Zwischenräume mit kleineren Steinen aufgeschüttet und auf die dann Kies- und Schotterschichten aufgebracht wurden." 56 Neu waren vor allem die Vorkehrungen zur Trockenhaltung des Untergrundes, dessen Stützfunktion erstmals bewußt für den Straßenbau genutzt wurde. „Trésaguet brachte sozusagen ein neues Paradigma in den Straßenbau ein ...: die Erkenntnis, daß eine Fahrbahn sich nicht selbst tragen muß. Seine Methode lief darauf hinaus, dem natürlichen Untergrund diese Stützfunktion zu geben. Der Belag hatte dagegen die Funktion, den Untergrund trocken -und damit fest- zu halten und ihn vor zu großen Belastungen zu schützen."57 Statt großer zufällig angeordneter Steine verwandte Trésaguet kleinere geschlossen verteilte Steine für den Untergrund, die für eine gleichmäßigere Beanspruchung der Straße sorgten. Diese Technik setzte sich nach und nach auch in den deutschen Ländern durch und wurde hier als „französische Bauweise" oder Packlagenbauweise bezeichnet. Sie bildete die Grundlage für die seit der Jahrhundertwende in unserem Untersuchungsgebiet stattfindenden Chausseebauten und wurde zum größten Teil auch nach Bekanntwerden der Methode John Loudon McAdams in den zwanziger Jahren beibehalten.58 Im Vergleich zu Frankreich und England kam der deutsche Chausseebau nur langsam voran. Dabei gab es ein Entwicklungsgefälle zwischen dem Südwesten und dem Nordosten des Reiches.59 Dessen Ursache wird in der Regel mit der geographischen Entfernung zum französischen Vorbild erklärt. 60 Allerdings waren Kenntnisse über die französischen Straßenbautechniken im gesamten Reich vorhanden. Auch Reisende aus Preußen und Sachsen berichteten in der Heimat über die Vorteile der französischen „Chausseestraßen". Die französische Straßenbauliteratur war in deutschen Landen durchaus bekannt.61 Christian von Lüder entwickelte 1779 als ersten Höhepunkt des deutschen Schrifttums zu diesem Thema den Entwurf eines gesamtdeutschen Netzes von 10 Überlandstraßen und bewies in seiner Abhandlung eine genaue Kenntnis der 55

Ebenda, S. 95. J. Salzwedel, Wege, S. 224; Vgl. auch A. Paulinyi, Umwälzung der Technik, S. 431. 57 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 96. 58 Vgl. Abschnitt G.VI. 59 F. Voigt, Verkehr, S. 430 f.; Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 105 ff. - Nach K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 42, existierte auch in der Fahrzeugqualität ein Süd-Nord-Gefälle. 60 Zum Verhältnis zwischen äußeren Vorbildern und endogenen Antrieben beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur im 18. Jahrhundert: A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 42 ff. 56

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M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 93.

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Verhältnisse in Frankreich und allen wichtigen Teilen des Reiches.62 In der zu Preußen gehörenden Grafschaft Mark förderte der Freiherr vom Stein den Kunststraßenbau. Der universell interessierte Goethe leitete in Weimar von 1779 bis 1786 die Wegebaudirektion. In Sachsen entwickelten im Zuge des Rétablissements ernannte Straßenbaukommissare wie Klumpp und Günther eigene Straßenbaumethoden.63 Die Entwicklung der „Communicationsmittel" stellte also einen Diskussionsgegenstand innerhalb der gebildeten Schichten dar und gehörte auch zu den wichtigen Bestandteilen der kameralistischen Staatswirtschaftslehre. 64 Die Gründe für den Rückstand der deutschen Länder lagen also weder in der Unkenntnis der Straßenbautechnik noch im Desinteresse der geistigen Elite. Gleichwohl erscheint der Hinweis auf die „prägnanten regionalen Unterschiede" 65 beim Ausbauzustand der Straßen innerhalb des Reichs bei der Suche nach den Ursachen für den generellen Rückstand des deutschen Straßenwesens hilfreich. Daher soll zunächst ermittelt werden, wo die ersten Chausseen gebaut wurden, um eventuell über die Ermittlung fördernder Einflüsse auch hemmende Faktoren bestimmen zu können. Die ersten Steinstraßen errichteten Baden, Württemberg sowie die süddeutschen Städte und Kleinstaaten.66 Allerdings widersprechen sich die Angaben 62

Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 463 ff. Zum Rétablissement zusammenfassend: K. Czok (Hrsg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 287 ff. - Zum sächsischen Chausseebau im 18. Jahrhundert: A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 19 f f ; H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 218 f. - Vgl. auch: F. Voigt, Verkehr, S. 430; F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung des Chaussee- und Wegebaus in der Provinz Westfalen unter ihrem ersten Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn von Vincke, 1815-1844, Marburg 1917, S. 5 ff. 64 Vgl. u.a. J.H.G. von Justi, Staatswirthschaft oder systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden, 1. T., Leipzig 1758 (Reprint Aalen 1963), S. 225 ff., mit einem Abschnitt „von den Hülfsmitteln der Commerden". Zur kameralistischen Wohlfahrtslehre im Überblick: H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 233 ff. - Vgl. auch H.J. Teuteberg, Entwicklung, S. 176. 65 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 353. Allerdings bestanden diese Unterschiede gerade nicht in der hier angedeuteten Weise, daß vor allem kleinere Staaten ihre Straßen vernachlässigten. 66 A. Birk, Die Straße. Ihre Verkehrs- und bautechnische Entwicklung im Rahmen der Menschheitsgeschichte, Karlsbad 1934, S. 297 f.; L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung des Straßennetzes in Baden-Württemberg, Bonn-Bad Godesberg 1970, S. 50; B. Wunder, Der Chausseebau in Württemberg während des 18. Jahrhunderts. Infrastrukturpolitik zwischen Regierung, Landschaft und Schwäbischem Reichskreis, in: W. Schmierer u.a. (Hrsg.), Aus südwestdeutscher Geschichte. Festschrift für HansMartin Maurer, dem Archivar und Historiker zum 65. Geburtstag, Stuttgart-Berlin-Köln 1994. - Das Herzogtum verfugte 1790 über mehr als 300 km Kunststraßen; auch Baden besaß ein relativ dichtes Chausseenetz. 63

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über die konkreten Linien. Die 1753 erbaute Chaussee von der freien Reichsstadt Nördlingen in die Hauptstadt der Grafschaft Öttingen wird oft als erste Chaussee in Deutschland bezeichnet.67 Ein „chausseeähnlicher Ausbau" verschiedener Einzelstrecken soll allerdings bereits in den dreißiger Jahren stattgefunden haben.68 Als erste Steinstraße Norddeutschlands wird die 1768 fertiggestellte Verbindung von Hannover nach Göttingen angesehen, deren braunschweigischer Abschnitt als Ammenser Straße bezeichnet wurde. 69 Bereits 1700 soll jedoch ein Teil der Leipziger Heerstraße vor den Toren der Stadt Braunschweig mit einer gewölbten Steinbahn versehen worden sein.70 In einer braunschweigischen Denkschrift von 1736 ist von den „neuen Steinstraßen" die Rede.71 Die Herzogliche Verordnung zur Einführung der Chausseegelderhebung von 1796 wird dagegen mit dem Verweis auf den „bereits im Jahre 1751 angefangenen Chausseebau" eingeleitet.72 Im Jahre 1789 verwies jedoch die braunschweigische Wegebesserungskommission darauf, daß erst die Arbeiten ab 1771 dauerhaft befahrbare, befestigte Straßen hervorbrachten. 73 Gottfried Philipp von Bülow wiederum schrieb im Jahre 1839: „Erst in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand der neue Weg zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel im chaussirten Zustande, und diese kurze Wegstrecke blieb geraume Zeit hindurch die einzige Chaussee des Landes." 74 Das braunschweigische Beispiel zeigt, daß die Unsicherheit in der Datierung des Chausseebaubeginns vor allem aus den in der Anfangszeit häufigen Über67 Dies geht wahrscheinlich zurück auf: A. Meitzen, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preussischen Staates, Bd. 3, Berlin 1868, S. 219. 68 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 6. - L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik des deutschen Straßen- und Wegerechts, Bielefeld 1957, S. 13, meint, daß der hessische Landgraf schon ab etwa 1720 mit dem Chausseebau begonnen hat. B. Wunder, Chausseebau, S. 530, weist auf den 1729 begonnenen Bau der rechtsrheinischen Chaussee von Basel nach Frankfurt hin. 69 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 8; E. Tacke, Landkreis Holzminden, S. 195. - S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance zum Landesamt für Straßenbau (1764-1989), in: Es begann mit 12000 Talern. Geschichte des Straßenbaus in Niedersachsen, hrsg.v. der Vereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure in Niedersachsen, Hildesheim 1989, S. 12; A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 58 und H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 9, fuhren hingegen die 1764 als „Steinschlagstraße nach altfranzösischem Vorbild" ausgebaute Straße von Hannover nach Hameln an. 70

Brinckmann, Die Landstraßen im Herzogthume Braunschweig, in: Zeitschrift des Architekten- und Ingenieurvereins zu Hannover, N.F., Bd. 29, Hannover 1883, S. 319. 71 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 38. 72 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 60. 73 Ebenda, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 16. 74 G. Ph. von Bülow, Mittheilungen zur Erläuterung der Braunschweigischen Geschichte und Gesetzgebung, Braunschweig 1839, S. 99.

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gangsformen zwischen einer herkömmlichen Landstraße, den Kies- oder Sandchausseen, den mit Steinen ausgebesserten Landstraßen und den tatsächlichen Stein-Chausseen, die im 19. Jahrhundert „Kunststraßen" genannt wurden, resultierten. 75 Diese Unterschiede in der Konstruktion wurden von den Zeitgenossen häufig und mitunter auch bewußt vernachlässigt, verschwiegen oder verfälscht. Während Herzog Karl Wilhelm Ferdinand anläßlich der Einführung des Chausseegeldes im Jahre 1796 die lange währende Periode landesherrlicher Investitionen in den Straßenbau betonen wollte, war die Wegebesserungskommission im Jahre 1789 an einer negativen Darstellung der bis 1771 erfolgten Arbeiten interessiert, um die Finanzausstattung der Behörde zu erhöhen und die eigene Leistung seit 1771, dem Jahr der personellen Neubesetzung in der Kommission, positiv hervorheben zu können. Tatsächlich dürften die ersten mit dem französischen Vorbild vergleichbaren braunschweigischen Chausseen seit 1770 gebaut worden sein.76 Aber viele dieser Chausseen verfielen durch die mangelhafte Herstellungstechnik und das Fehlen systematischer Unterhaltungsarbeiten innerhalb weniger Jahre, und die Straßen nahmen wieder ihren ursprünglichen Zustand an. 77 So wurden im Braunschweigischen die als Frankfurter, Magdeburger, Leipziger und Hamburger Straßen bezeichneten Wege von der Landeshauptstadt nach Northeim, Helmstedt, Halberstadt und Lüneburg ab 1770 nach dem Vorbild der „Chausses im Württembergischen und Calenbergischen" mit Steinen befestigt. Von 1770 bis 1784 wurden insgesamt 16245 Ruthen ausgebaut.78 Ihr Zustand verschlechterte sich jedoch in den Folgejahren so stark, daß sie nach 1785 noch einmal „durch Chaussees und Kieserlingspflastern in tüchtigen Stand" gesetzt werden mußten.79 Auch wenn anzunehmen ist, daß die braunschweigischen Straßen der achtziger Jahre noch mit der Bauweise Gautiers errichtet wurden, kann man davon ausgehen, daß in dieser Zeit erstmals tatsächliche Steinstraßen hergestellt wurden, die bei entsprechender Unterhaltung dauerhaft auch den Verkehr von schweren Frachtfuhrwerken trugen. Diese neue Technik wies allerdings noch einige Unzulänglichkeiten auf und war vor allem am Anfang sehr teuer. 80 Die geographische Ausbreitung erhielt durch die regionale Konkurrenz zwischen benachbarten Klein- und Mittelstaaten die entscheidenden Impulse. Im 75

L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 13. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 29. 77 Einige Autoren verlegen daher den Beginn des Chausseebaus in das 19. Jahrhundert. Vgl. u.a. R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 105. 78 Das entspricht etwa 73 km. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 29 f.; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 7. 79 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 12. 80 Vgl. Abschnitt C.VII. 76

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

norddeutschen Raum wurden die ersten Chausseen im südlichen Hannover und in Braunschweig gebaut. In den siebziger Jahren bestand ein deutlicher Qualitätsunterschied zwischen den guten braunschweigischen Chausseen einerseits und den Straßen im Thüringischen, Magdeburgischen und Halberstädtischen andererseits. 81 In den west- und süddeutschen Besitzungen Preußens, also im Herzogtum Kleve, Fürstentum Ansbach sowie in der Grafschaft Mark, entstanden dagegen wie auch in den Herzogtümern Berg und Jülich bereits im 18. Jahrhundert kleinräumige Chausseenetze.82 In den mittleren und östlichen Provinzen Preußens existierten im Jahre 1786 keine Straßen von vergleichbarer Qualität, wenn man von den als Bergwerkschausseen fungierenden und als „Kohlenstraßen" bezeichneten Chausseen in der Grafschaft Mansfeld und in Schlesien absieht.83 Der preußische Straßenbau wird in zeitgenössischen Reisebeschreibungen als „über alle Beschreibung schlecht" dargestellt, „oder vielmehr, es zeigen sich nirgendwo auch nur Spuren, daß derselbe statt fände." 84 Um 1800 besichtigten daher brandenburg-preußische Beamte die hochwertigeren Straßen in Sachsen^nd Anhalt, um Erkenntnisse für eigene Projekte zu gewinnen.85 Im 938 km großen Anhalt-Dessau hatte die aktive Infrastrukturpolitik von Fürst Leopold Friedrich Franz im Innern des Landes durchaus gute Landstraßen entstehen lassen.86 Trotzdem hatten die Dessauer Mühe, den Fernhandelsverkehr auf ihr Territorium zu ziehen, wie noch zu zeigen sein wird. Der Chausseebau wurde also im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im 18. Jahrhundert vor allem von den aufgeklärt-absolutistischen Landesherrn und Verwaltungen kleinerer Staaten und dem dort und in reichsfreien Städten ansässigen Handelsbürgertum in Gang gesetzt. Es folgten von den grö81 Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 150 f., berichtet, daß es in Braunschweig „an Weegliebhabern und Kennern gar nicht fehlet. Denn man erblickt viele hoch aufgedämmte Chaussees, welche mit hinreichenden Abzugsgräben, Brücken, Abweisstöcken und Alleen versehen sind, ... die erforderliche runde Gestalt und abhängende Banquets haben." Im Thüringischen, Magdeburgischen und Halberstädtischen mußten die Straßen hingegen „wegen des allzufetten Erdbodens die größte Zeit vom Jahr mit Lebensgefahr Tag und Nacht befahren werden, weil an vielen Orten nicht einmal Brücken aufgestellt sind, wo kleine Bäche zwerch über den Weeg laufen und dieser davon grundlos wird." Vgl. auch Ebenda, S. 190 f. 82

K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 260 f. W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 203. 84 Anonyme Reisebeschreibung aus dem Jahre 1784, zitiert in: K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 44. 85 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 216. 86 H. Wäschke, Abriß der anhaltischen Geschichte, S. 78; K. Müller, Die Entwicklung des anhaltischen Wirtschaftslebens vom Dreißigjährigen Kriege bis zur Reichsgründung, in: R. Holtzmann / W. Möllenberg (Hrsg.), Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission fur die Provinz Sachsen und für Anhalt, Bd. 2, Magdeburg 1926, S. 20 ff. 83

II. Die Entwicklung der Chausseebautechnik und ihre ersten Anwendungen

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ßeren Staaten zunächst Österreich und Bayern, später Hannover und Sachsen. In den mittleren und östlichen Provinzen Preußens begann ein Chaussebau mit nennenswertem Ausmaß erst im 19. Jahrhundert. 87 Das Gefälle zwischen Südwesten und Nordosten war also weniger auf die Entfernung zu Frankreich als vielmehr auf unterschiedliche Staatsstrukturen, in einigen Fällen auf die Unterstützung durch den Kaiser oder Beschlüsse des jeweiligen Reichskreises und wohl auch auf allgemeine Produktivitäts- und Wohlstandsdifferenzen zurückzufuhren. 88 Hinzu kam, daß im norddeutschen Flachland mehr Wasserwege zur Verfügung standen. Außerdem boten sandige Landstraßen bei trockener Witterung oder Frost auch in unbefestigtem Zustand eine gute Passage.89 In der Literatur wird die Rückständigkeit des preußischen Straßenwesens häufig auch mit der auf militärstrategischen Überlegungen beruhenden Ablehnung des Straßenbaus durch König Friedrich II. begründet. Dieser soll der Ansicht gewesen sein, daß im Kriegsfalle gute Chausseen eher dem Angreifer dienten als der verteidigenden Armee. 90 Andere Autoren fuhren das Zurückbleiben des preußischen Chausseebaus auf den Finanzmangel zurück. Tatsächlich sind infolge der Thesaurierungspolitik Friedrich II. seit 1763 die öffentlichen Infrastrukturinvestitionen zurückgegangen. 91 Aufschlußreicher als diese Kontroverse ist m.E. die zeitgenössische Auffassung, nach der das Fehlen von Chausseen in Brandenburg-Preußen auf den Steinmangel, die Existenz von Ka87

A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 29 ff.; E. Schremmer, Die Wirtschaft Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. Bergbau-Gewerbe-Handel, München 1970, S. 573 f f ; W. Treue, Niedersachsens Wirtschaft seit 1760. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Hannover 1964, S. 27; A. Birk, Die Straße, S. 301 ff.; R. Gador, Die Entwicklung des Straßenbaues in Preußen 1815-1875 unter besonderer Berücksichtigung des Aktienstraßenbaues, Diss., Berlin 1966, S. 13 ff. 88 B. Wunder, Chausseebau, S. 530 ff.; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 232. 89 B. Piepers / H. Steinborn, Das Straßenwesen im Gebiet des ehemaligen Fürstentums Hildesheim zwischen 1750 und 1850, in: C.H. Hauptmeyer (Hrsg.), Verkehr und regionale Entwicklung im Raum Hannover vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, Ronnenberg 1991, S. I l l ; A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 38. 90 Vgl. z.B. E. Pätzel, Die räumliche Entwicklung des Straßennetzes in Brandenburg seit dem Beginn des Chausseebaues. Eine historisch-geographische Betrachtung, Diss., Potsdam 1972, S. 13; R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 353. B. Schulze, Die Anfänge des norddeutschen Kunststraßenbaues, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 84. Jg., 1938, S. 221, hält die angebliche Abneigung Friedrich II. gegenüber dem Straßenbau für eine Legende der liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. 91 F.-W. Henning, Die preußische Thesaurierungspolitik im 18. Jahrhundert, in: Ders., Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Dortmund 1985, S. 130 ff.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

nälen und das Fehlen von „Wegefrohndienstverpflichtungen der adelichen Dorfschaften" zurückgeführt wird. 92 Der letztgenannte Aspekt liefert einen Hinweis auf die Ursachen für den allgemeinen Rückstand des deutschen Straßenwesens im Vergleich zu Frankreich und England, aber auch für die Defizite Preußens im innerdeutschen Vergleich. Straßenbauarbeiten wurden nach wie vor im Fronsystem durchgeführt. Privatinitiative wie in England oder eine wirkungsvolle zentrale Verwaltung wie in Frankreich gab es hier nicht oder nur in Ansätzen. Während Turgot 1787 im zweiten Versuch wenigstens einen Teil der Wegefronen in Geldleistungen umwandeln konnte, gelang dies in den deutschen Staaten nur in Ausnahmefällen. 93 Die Unterhaltung der Landstraßen und Wege basierte somit weiterhin auf der traditionellen Wegebaupflicht der Gemeinden. In den kleineren Staaten war die Inanspruchnahme darüber hinausgehender Straßenbauleistungen durch den in der Regel größeren Anteil von direkt den Landesherren dienstpflichtigen Bauern eher möglich. Grundlegende Reformen des im Prinzip immer noch mittelalterlichen Wegerechts blieben aus. Sowohl die darin enthaltenen feudalen Privilegien als auch die in der Form von Frondiensten erfolgenden Bau- und Unterhaltungsarbeiten behinderten den Chausseebau.94 Wenn aber durch die Aufhebung der Frondienste eine der „Hauptschwierigkeiten im neu entwickelten Straßenbau" 95 beseitigt wurde, verstärkte sich zwangsläufig das zweite wichtige Problem, die Finanzierung. 96 Schon aus technischen Gründen erwiesen sich nämlich Chaussierungsarbeiten als wesentlich kostenintensiver als herkömmliche Unterhaltungsarbeiten. Daher erlangte mit dem Beginn des Chausseebaus die Frage, in welchem Umfang finanzielle Mittel für den Wegebau bereitgestellt werden konnten, einen viel höheren Stellenwert als zuvor. Schließlich mußte der absolutistische Staat noch vor dem Beginn der Chaussierungen, ähnlich wie in anderen Bereichen der Administration, eine leistungsfähige Wegeverwaltung aufbauen. Dies erfolgte zunächst vorrangig durch Spezialisierung und Zentralisierung. 97 Eine Vorbedingung für derartige Reformen und finanzielle Mehraufwendungen bestand jedoch im Erkennen der gemeinwirtschaftlichen Funktion der Straßen und in der daraus resultierenden Festlegung einer über die Aufsicht hinausgehenden Fürsorgepflicht des Staates. Dieser mußte sich vom Schutzherren zum Bauherren der Straßen wandeln. 98 Ein solcher Schritt hätte die theore92 93 94 95 96 97 98

Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 155. Vgl. für Württemberg: B. Wunder, Chausseebau, S. 530 ff. Vgl. Abschnitt C.IV. J. Salzwedel, Wege, S. 204. Vgl. Abschnitt C.VII. Vgl. Abschnitt C.V. L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 64.

III. Territoriale Zersplitterung und beginnender Chausseebau

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tische Orientierung des Kameralismus auf das Allgemeinwohl in die Praxis absolutistischer Verkehrsinfrastrukturpolitik umgesetzt." Die Charakteristik der Straßen als Gemeineigentum und die Verpflichtung zur Beförderung des Gemeinwohls, wie sie beispielsweise im Preußischen Allgemeinen Landrecht erfolgten, hätten dann nicht nur als Legitimation für den Gemeingebrauch, sondern auch als Begründung für eine durch den Staat wahrgenommene allgemeine Verantwortung dienen müssen.100 Das Straßenwesen wäre dann auch nicht mehr unter vorwiegend etatistischem Blickwinkel, sondern als Mittel regionaler Wirtschaftspolitik gesehen worden. Ein derartiger Paradigmenwechsel in der Landverkehrspolitik war jedoch ohne die Zustimmung von Adel und Bauernschaft nur schwer zu vollziehen. 101

I I I . Die Wirkung der territorialen Zersplitterung auf den beginnenden Chausseebau Selbst bei Lösung aller dieser Probleme wäre jedoch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation kein nationales Chausseenetz entstanden, wie es etwa in Frankreich existierte. Der Vergleich mit dem Entwicklungsstand des Straßenbaues im französischen Nationalstaat, der im Jahre 1789 bereits über 20.000 km gepflasterte Straßen verfügte 102 , lenkt die Aufmerksamkeit auf die deutsche Kleinstaaterei. Schon die bereits festgestellte Tatsache, daß gerade die kleinen Staaten in Deutschland als Pioniere des Chausseebaus fungierten, zeigt jedoch, daß die Wirkung der territorialen Zersplitterung auf die Infrastruktur- und auch speziell Chausseebauentwicklung für das 18. und vor allem 19. Jahrhundert einer differenzierten Betrachtung unterliegen sollte. 103 99 K. Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1992, S. 184 ff. 100 H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 1 f.; R. Koselleck, Preußen, S. 31. 101 Vgl. Kapitel C.VI. 102 M.G.Lay, Geschichte der Straße, S. 114; A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 26 f. 103 Das Fehlen eines deutschen Nationalstaates bis 1871 galt sowohl in der nationalkonservativen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die auch in dieser Hinsicht weit in die Bundesrepublik hineinwirkte, als auch in der DDRGeschichtswissenschaft als (bei letzterer neben der feudalen Wirtschaftsverfassung) stärkster Bremsfaktor für die Entfaltung des Kapitalismus in Deutschland. Vgl. z.B. K. Obermann, Deutschland von 1815 bis 1849. Von der Gründung des Deutschen Bundes bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution, 5. Aufl., Berlin 1983, S. 11; H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 2. Von der Zeit der Französischen Revolution bis zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung, 3. Aufl., Berlin 1987, S. 1. - H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 50 f., betont hin-

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

I m 18. Jahrhundert dominierte i m Bereich der Verkehrsinfrastruktur sicherlich die negative Wirkung. Schließlich behinderten die zahlreichen Landesgrenzen m i t ihren Zollstellen vor allem den Fernhandel und damit auch die Infrastrukturentwicklung. 1 0 4 A n eine V e r w i r k l i c h u n g des Lüderschen Verkehrswegeplans, der die multizentrale und damit i m Vergleich zu Frankreich potentiell günstigere Raumstruktur 1 0 5 in Deutschland gestärkt hätte, war im Reich nicht zu denken. Z u viele Interessenkonflikte zwischen den Staaten verhinderten die Verwirklichung von Projekten m i t überregionaler Bedeutung. 1 0 6 Das betraf aber Kanalbau, Flußregulierung oder Melioration in grenznahen Räumen in noch stärkerem Maße als den Chausseebau. 107 Beispielsweise lag es nicht nur an den günstigeren natürlichen Voraussetzungen, daß die größten deutschen Kanalbauten des 17. und 18. Jahrhunderts alle im relativ großen Preußen erfolgten. Aber auch der grenzüberschreitende Chausseeverkehr wurde durch die Kleinstaaterei beeinflußt. Die kurzen durch kleinere Staaten hergestellten Chausseen fanden in der Regel im Nachbarland keine Fortsetzung. 1 0 8 Die Existenz von Grenz- und Binnenzöllen sowie deren gegen die „stimulierenden Auswirkungen dieser Vielfalt". Die Wirtschaftsgeschichte hat insbesondere seit den achtziger Jahren durch die zunehmende Verbreitung regionaler Ansätze auf die wirtschaftlichen und kulturellen Vorzüge der multizentralen Struktur Deutschlands hingewiesen. Vgl. z.B. E. Schremmer, Föderativer Staatsverband, öffentliche Finanzen und Industrialisierung in Deutschland, in: H. Kiesewetter / R. Fremdling (Hrsg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985, S. 25 f f ; H. Kiesewetter, Regionale Industrialisierung, S. 42 f.; F.-W. Henning, Die wirtschaftliche Integration Deutschlands im 19. Jahrhundert. Die Bedeutung Preußens für die Entstehung der deutschen Volkswirtschaft, in: O. Hauser (Hrsg.), Preußen, Europa und das Reich, KölnWien 1987, S. 311. 104

L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 54. Frankreich richtete sein Chausseenetz wie später auch sein Eisenbahnnetz zu stark auf Paris aus und vernachlässigte die Querverbindungen. Vgl. F. Voigt, Verkehr, S. 553 f.; B. Lepetit, Frankreich 1750-1850, in: I. Mieck (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, S. 513 f f ; P. Léon, Die Eroberung des nationalen Raumes, in: F. Braudel / E. Labrousse (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung 1789-1880, Frankfurt a.M. 1986, S. 184 ff. 106 Nach Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 53, liegt die „erste Ursache" für die Existenz „so vieler schlechter Weege in Deutschland ... in dem von den mehresten Ständen angenommenen Begriff, daß keiner die Nachbarn anwachsen und bey denselben eine Nahrungs-Strasse aufkommen, noch weniger aber deren Aufnahme befördern helfen will." 105

107 O. Most, Binnenschiffahrt und Kanalbau im 19. Jahrhundert, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, 2. Teil, Hannover 1967, S. 41; W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 143 f.; H.-J. Teuteberg, Kanalwesen, S. 9 ff. - Zu den Problemen zwischen Preußen und Braunschweig wegen der Drömlingmelioration: Th. Müller, Ostfölische Landeskunde, S. 197. 108 H. Hummel, Preußischer Chausseebau - 200 Jahre Chaussee Magdeburg-HalleLeipzig, in: Die Straße, 26. Jg., 1986, S. 345

III. Territoriale Zersplitterung und beginnender Chausseebau

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ständige Veränderungen ließen immer wieder die Interessen des Fiskus bzw. des wegegeldeinnehmenden Adels und der auf Transportkostenminimierung bedachten Kaufleute kollidieren. Jeder Staat wollte zur Einnahmenverbesserung den Verkehr auf sein Territorium ziehen, das gewonnene Geld aber nur selten in eine Qualitätsverbesserung der eigenen Verkehrswege investieren. Handelsauseinandersetzungen wurden meist mit zollpolitischen Mitteln geführt. 109 Die destruktive Wirkung solcher Wettbewerbe unter den Kleinstaaten wird am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen dem Kurfürstentum Hannover und dem Herzogtum Braunschweig um die postalische und kommerzielle Nord-Süd-Verbindung von Hamburg und Bremen nach Frankfurt a.M., Nürnberg und Leipzig deutlich. Das aufstrebende Hannover versuchte seit den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts, den Verkehr über die eigene Residenz, Einbeck und Northeim bzw. Osterode zu leiten und so den traditionellen Verkehrsknotenpunkt Braunschweig zu umgehen.110 Allerdings durchschnitt diese Straße zwischen Alfeld und Einbeck braunschweigisches Territorium. Das Herzogtum ließ den in seinem Gebiet verlaufenden Abschnitt bewußt verfallen, um den Verkehr auf der neuen Verbindung zu erschweren. Daraufhin stellte Hannover seinerseits die Unterhaltung der auf seinem Territorium gelegenen Abschnitte der Straßen von Gandersheim sowie von Braunschweig und Seesen nach Northeim ein. Erst im Jahre 1768 begann der Wettbewerb zwischen den beiden Staaten konstruktivere Formen anzunehmen. Braunschweig erklärte sich bereit, nach der Chaussierung der Straße von Hannover über Alfeld und Northeim nach Göttingen auch den eigenen Abschnitt, der als Ammenser Straße bezeichnet wurde, in „chausseemäßigem Zustande" zu erhalten. 111 Allerdings beklagte die hannoversche Verwaltung auch später, daß die Ammenser Straße immer „impassabler" würde, so daß die Frachtfuhrwerke auch den hannoverschen Teil der Straße meiden würden. 112 Die braunschweigische Seite stellte im Gegensatz dazu in den siebziger Jahren fest, daß „durch die neu angelegte Straße von Hannover über Einbeck nach Northeim schon fast alles Fuhrwerk nach Hamburg abgezogen" wurde, also die eigene Landeshauptstadt umging. 113 Daraufhin ließ die braunschweigische Wegebaukommission ab 1785 als erste längere Strecke im Herzogtum die Straße von Braunschweig nach Seesen chaussieren. Die Verlagerung großer Teile des Nord-Süd-Verkehrs von Braunschweig auf die durch das Leinetal führende Straße konnte jedoch auch da109 Zu den sächsich-preußischen Handelsauseinandersetzungen in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts: K. Czok (Hrsg.), Geschichte Sachsens, S. 280 ff. 110 Vgl. Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 226 f. 1,1 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 66. 112 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 33. 113 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 40.

8 Uwe Müller

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

durch nicht verhindert werden. 114 Die hannoverschen Aktivitäten hatten aber immerhin zur Intensivierung der braunschweigischen Straßenbautätigkeit beigetragen. Der Streit zwischen Braunschweig und Hannover über die Instandhaltung der Ammenser Straße wurde erst 1838 beigelegt, als per Staatsvertrag das Königreich Hannover die Verwaltung der Straße auch auf braunschweigischem Gebiet übernahm. 115 Im Gegenzug verwaltete Braunschweig ein hannoversches Territorium durchschneidendes Teilstück auf der Seesener Straße. Die Konkurrenz zwischen den weifischen Staaten um den Nord-SüdTransitverkehr hielt im übrigen an und verschärfte sich im Eisenbahnzeitalter erneut. Hannover nutzte im Jahre 1854 die geographische Gunst des Leinetals für einen Bahnbau, der der Stellung Braunschweigs im Nord-Süd-Verkehr schweren Schaden zugefügt hat. 116 Auch die merkantilistische Doktrin von der schädlichen Wirkung der Rohstoffausfuhr schränkte im 18. Jahrhundert oftmals traditionelle Handelsverbindungen ein, wodurch immer auch die Stellung örtlicher Verkehrswege litt. Dem Magdeburger Handel wurde beispielsweise durch das von König Friedrich Wilhelm I. erlassene Wollausfuhrverbot nach Sachsen erheblicher Schaden zugefügt. Der beinahe permanente preußisch-sächsische Wirtschaftskrieg beeinflußte zudem die Linienführung des grenzüberschreitenden Verkehrs. 117 So wurden viele sächsische Erzeugnisse nach einer 1755 durch Preußen vorgenommenen Transitzollerhöhung nicht mehr auf der Elbe, sondern auf der Straße über Mühlhausen, Braunschweig, und Lüneburg nach Hamburg transportiert. 118 Eine solche Sperrung natürlicher Verkehrsverbindungen durch politische Maßnahmen schwächte den Handel und dadurch auch das Gewerbe als Ganzes. Für den Straßenzustand im Harz wirkte sich diese Verkehrsumleitung allerdings positiv aus. Der Braunschweiger Herzog Karl I. ließ nämlich mit der Unterstützung „interessierter Kaufleute" von 1755 bis 1758 die Straße von Harzburg bis Braunlage sowie die Anschlußstrecken nach Tanne (Richtung Stolberg, Sachsen) und Hohegeiß (Richtung Nordhausen) ausbauen, um den 114 K.G. Kuchenbecker, Die geschichtliche Entwicklung der Fernwege im südöstlichen Niedersachsen unter Berücksichtigung ingenieurmäßiger Gesichtspunkte, Diss., Braunschweig 1969, S. 92 f. 1,5 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 33. 116 B. Stubenvoll, Das Raumordnungsgeschehen im Großraum Braunschweig zwischen 1933 und 1945. Braunschweigs Raumordnungsziele in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden nationalsozialistischen Machteliten, Braunschweig 1987, S. 39 ff. 117 W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 55, 75 f., 148 ff. 1,8 H.J. Rook, Entwicklung der Elbschiffahrt, S. 49. - G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung der Fürstenthümer Wolfenbüttel und Blankenburg, Bd. 1, Braunschweig 1802, S. 221, berichten, daß der preußische Zolltarif von zwei Reichstalern je Zentner den Fuhrmann Seidensticker aus Nordhausen bereits im Jahre 1748 veranlaßt hat, sich einen Weg über den Harz zu bahnen, „wodurch der Berliner Hof bewogen wurde, das Transito bis auf acht Gütergroschen herunterzusetzen."

III. Territoriale Zersplitterung und beginnender Chausseebau

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preußischen Zoll zu umgehen. 119 Die Gebirgsstraße wurde hauptsächlich im Sommer zum Transport von Waren benutzt, „deren Durchgang durch das Preußische verboten ist, z.B. sächsisches Porzellan und seidene Strümpfe." 120 Ähnlich wie ein Jahrhundert später beim Eisenbahnbau förderte die Konkurrenz zwischen den Staaten die Verbesserung der Straßen auf eigenem Territorium. Zunächst war das mit finanziellen Lasten für Bau und Unterhaltung der Straßen und mit erhöhten Transportkosten durch zum Teil erhebliche Umwege verbunden. Für eine spätere Vereinigung des Wirtschaftsgebietes wurden jedoch so die Grundlagen für eine rasche Vernetzung der Verkehrswege geschaffen, wobei allerdings viele ursprünglich zur Umgehung von Zollgrenzen ausgebaute Verkehrswege nur noch lokale Bedeutung hatten. Als am Ende des 18. Jahrhunderts im mitteldeutschen Raum die ersten Straßen chaussiert werden sollten, spielten bei der Wahl der Linienführung außenpolitische bzw. außenwirtschaftliche Erwägungen erneut eine wichtige Rolle, zumal das Gebiet der späteren Provinz Sachsen eine relativ hohe territoriale Zersplitterung aufwies. 121 Neben den schon erwähnten Bergwerksstraßen und den vorrangig Repräsentationszwecken dienenden Chausseen von Berlin und Potsdam wurden die ersten Chausseen der mittleren und östlichen Provinzen Preußens im Magdeburger und Halberstädter Departement gebaut. Alexander Friedrich Graf von der Schulenburg 122 und Friedrich Anton von Heynitz 123 gelten als Initiatoren dieser ersten Chausseebauten.124 Seit 1788 wurden Teilabschnitte der Straße von Magdeburg über Egeln und Halberstadt bis zur braunschweigischen Gren-

119 H. Klages, Entwicklung der Kulturlandschaft, S. 62 f. - Die Linienführung entspricht etwa dem Verlauf der heutigen Bundesstraßen Nr. 4 und 242 (B 4, Β 242). Nach A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 21, führte die Harzstraße von Leipzig über Merseburg, Querfurt, Allstedt, Wallhausen, Roßla, Stolberg, Günthersberge, Hasselfelde, Trautenstein, Tanne, Braunlage, Harzburg, Wolfenbüttel und Braunschweig nach Hamburg. - Th. Müller, Schiffahrt und Flößerei, S. 114, berichtet nur über den Plan Karl I. 120 G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 221. 121 Vgl. Abschnitt B.I. 122 Schulenburg war seit 1786 Finanzminister und Magdeburger Kammerpräsident, später Generalkontrolleur der Finanzen (seit 1798), Chef der Oberrechenkammer und Etatsminister im Generaldirektorium. Er wurde 1806 durch den Freiherrn vom und zum Stein abgelöst. Vgl. W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 159, 163, 186. 123 Heynitz war seit 1777 Minister, Vizepräsident und Oberberghauptmann beim Bergwerks- und Hüttendepartement und wurde in der Zeit vor den Reformen zum wohl wichtigsten Förderer von Bergbau, Hüttenwesen und Bauwesen in Preußen. Vgl. Ebenda, S. 124, 136 ff., 200 f. 124 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 9 f. - Die Angabe bei W. Zorn, Verdichtung und Beschleunigung, S. 120, die ersten preußischen Chausseen seien 1737 im Magdeburgischen entstanden, basiert wohl auf einem Druckfehler.

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ze bei Roklum chaussiert. 125 Neben ihrer militärischen Bedeutung sollte sie nach dem Willen des Magdeburger Kammerpräsidenten von der SchulenburgBlumberg den Grundstock fur eine Verbindung zu den westfälischen Besitzungen bilden. Vor allem aber erkannten Schulenburg und Heynitz, daß in dieser durch die traditionellen Handelswege von Leipzig nach Hamburg bzw. Braunschweig und Bremen durchzogenen Region mit einer relativ hohen Verkehrsdichte der Anfang für ein Chausseenetz der mittleren Provinzen Preußens liegen konnte. Dazu gehörte neben der erwähnten Ost-West-Verbindung auch eine Straße von Magdeburg durch die Altmark in Richtung auf Hamburg und von Halberstadt bzw. Magdeburg über das preußische Halle nach Leipzig. 126 Während die Chaussee durch die Altmark erst 50 Jahre später gebaut wurde, stellte der Ausbau der Straße zwischen Magdeburg und Leipzig gemeinsam mit dem Abzweig über Halberstadt zur braunschweigischen Grenze das erste bedeutende Chausseebauprojekt in Preußen dar. Da man hier jedoch über keinerlei Erfahrungen in diesem Bereich verfugte, wurde zunächst der Magdeburgische Baudirektor Mathias Stegemann beauftragt, auf einer Rundreise durch Süd- und Westdeutschland die dortigen Chausseebauten zu studieren. 127 Außerdem schrieb die Akademie der Wissenschaften auf Geheiß des Königs Friedrich Wilhelm II. bzw. des Ministers Johann Christoph von Wöllner einen Wettbewerb um die „beste Abhandlung über die Anlegung zweier Heerstraßen durch das Magdeburgische und Halberstädtische" aus. 128 Die Teilnehmer sollten sich zur Linienführung, zur Finanzierung von Bau und Unterhaltung und zur Lösung technischer Probleme, speziell der Auswahl und der Herkunft der 125 E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 45. Die Linienführung entspricht der heutigen Β 81 bzw. der preußischen Staatschaussee (pCh) Nr. 84. Von Anfang an war eine Verlängerung der Straße in die Richtung auf Hildesheim geplant. Das letzte Teilstück zwischen Ottersleben und Egeln wurde erst 1827 chaussiert, so daß von einer Fertigstellung im Jahre 1789 wie bei B. Schulze, Das preußische General-ChausseebauDepartement, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 47. Bd., Berlin 1935, S. 156, nicht die Rede sein kann. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 11 ff., ignoriert diesen Chausseebau ebenso wie bereits L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 14. Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 150, berichtet allerdings bereits im Jahre 1779 von einer Chaussee, „welche schon lange in dem Amt Hessen zwischen Wolfenbüttel und Halberstadt zwey Stundt lang Preußischund Braunschweigischer Seits angeleget worden ist, und worauf an jede dieser beyden Herrschaften ein Weeggeld besonders entrichtet werden muß." 126

Im Jahre 1768 hatte Friedrich II. den Vorschlag der Accise-Direktion, mit dem Bau einer Chaussee von Magdeburg nach Leipzig zu beginnen, um die Staatseinnahmen zu erhöhen und zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, abgelehnt. Vgl. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 9. - Dementsprechend beschrieb ein Reisender im Jahre 1784 den Weg von Halle nach Leipzig als „unbeschreiblich schlecht", so daß ihm die Fahrt „schier Angstschweiß ausgepreßt" habe. Zitiert in: K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 44. 127 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 9. 128 Ebenda, S. 10. Vgl. auch W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 158.

III. Territoriale Zersplitterung und beginnender Chausseebau

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Materialien, äußern. 129 Für die Linienführung existierten, im Gegensatz zu den anderen Punkten, bereits konkrete Vorgaben. Danach sollte der kürzeste Weg genommen, keine große oder Handelsstadt unberührt gelassen, so nahe als möglich bei schiffbaren Strömen geblieben und so wenig als möglich fremde Länder durchkreuzt werden. Der Wandel in der Landverkehrspolitik Preußens nach dem Tode Friedrich II. wird auch dadurch deutlich, daß von der Schulenburg in seiner Eigenschaft als Finanzminister im April 1787 das Herzogtum Magdeburg und den Saalkreis bereiste, um die Vermessungsarbeiten zu inspizieren und dem König die endgültige Linienführung der Chaussee vorschlagen zu können. Es galt nämlich, innerhalb der verschiedenen Straßenverbindungen zwischen Magdeburg und Halle die für Preußen günstigste für die Chaussierung auszuwählen, da eine Chaussee den Verkehr der unbefestigten Wege an sich ziehen würde. Die alte Handelsstraße von Magdeburg nach Halle führte über Calbe, Bernburg, Baalberge, Gröbzig und Löbejün nach Halle. 130 Der Handelsweg nach Leipzig entfernte sich ab Löbejün von dieser Strecke und führte über Landsberg in die Messestadt. Die Poststraße nach Leipzig verlief hingegen über Calbe, Kothen und Landsberg. Mehrere „Edelleute und Gastwirthe" hatten beim König darum gebeten, die Chaussee über ihr Land bzw. an ihrem Haus entlang zu bauen. 131 Vor allem aber wollten die Fürsten von Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen die Chaussee über ihr Gebiet verlaufen sehen. 132 Die Chaussierung der Poststraße von Calbe nach Kothen kam allerdings für Preußen nicht in Frage, da die Weiterführung einer solchen Straße auf sächsischem Territorium den Verkehr von Halle abgelenkt hätte. 133 Die Chaussee wurde schließlich über Bernburg geführt und überquerte hier auch die Saale. Südlich von Bernburg umging sie zum Leidwesen des Dessauer Fürsten dessen

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Die am 27.1.1787 in Magdeburg veröffentlichten Preisfragen hießen im einzelnen: „Wie diese beiden großen Heerstraßen, die eine von Hamburg aus dem Lüneburgischen durch Leipzig, die andere von Braunschweig über Halberstadt nach Leipzig am besten angelegt werden können? Welches die Mittel sind, die man zur dauerhaften Anlage und Unterhaltung dieser gebahnten Heerstraßen aufbringen müsse? Welche Materialien hierzu am besten zu gebrauchen sind? Woher sie am vorteilhaftesten genommen und wie sie am besten zum Ort ihrer Bestimmung transportiert werden können?" Vgl. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 10. 130 LHA SA ASt. Oranienbaum, Abteilung Dessau, C 9 k III, Nr. 6, Bl. 33, 75. 131 Ebenda, Bl. 34. 132 Ebenda, Bl. 39 ff. 133 Bis heute existiert eine Chausseeverbindung von Calbe nach Kothen nur mit dem Umweg über die Saalebrücke bei Nienburg. Die Chaussierung der alten Poststraße von Kothen über Zörbig und Landsberg auf Leipzig erfolgte erst nach 1815. Diese Straße entpricht z.T. der heutigen Β 183 und wurde im preußischen Staatschausseeverzeichnis unter Nr. 63b geführt.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Herrschaft Gröbzig und verlief über Belitz und Trebitz nach Könnern und schließlich nach Halle. 134 Auch die zeitgleich mit der Chaussee von Magdeburg nach Halle projektierte Steinstraße von Halle nach Halberstadt sollte nicht exakt auf der Linie der alten Handelsstraße verlaufen. Deren Linie hatte in Könnern die MagdeburgHallenser Straße verlassen und über Alsleben, Schackstedt, Schackenthal, Aschersleben und Ditfurt nach Halberstadt geführt. 135 Besonders der Saaleübergang bei Alsleben stellte eine wichtige Einnahmequelle für Anhalt-Dessau dar. Dort verfolgte man daher das Projekt mit besorgtem Interesse. 136 Die Proteste des Dessauer Fürsten fruchteten trotz des Verweises auf die nachteiligen Folgen der Straßenverlegung auch für die preußischen Gemeinden um Aschersleben nicht. 137 Preußen entschied sich schließlich dafür, die Chaussee von Magdeburg auf Bernburg nicht über Schönebeck und Calbe, sondern westlich davon über Welsleben, Atzendorf und Neugattersleben zu legen und ab Atzendorf eine Verbindungschaussee zur Magdeburg-Halberstädter-Chaussee über Wolmirsleben und Egeln herzustellen. 138 Letztere sollte über Halberstadt hinaus in die Richtung auf Braunschweig verlängert werden. 139 Durch diese Streckenführung wollte Preußen erreichen, daß die Straße in höchstmöglichem Maße „in den preußischen Landen gehet, und dadurch den Einwohnern ihr Gewerbe und Verkehr ausgeholfen werden soll." 140 Außerdem versprachen die kürzere Distanz und das einfachere Terrain eine Kostenersparnis gegenüber ei134 Ebenda, Bl. 33. - Die Chaussierung war 1802 abgeschlossen. Vgl. H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 344. 135 LHA SA ASt. Oranienbaum, Abteilung Dessau, C 9 k III, Nr. 6, Bl. 75; Vgl. K. Kahse, Untersuchungen über die Führung der Verkehrswege im östlichen und nordöstlichen Harzvorland, Halle 1936, S. 31. 136 Der anhaltinische Gesandte in Berlin von Puttkammer hatte im Juni 1787 über die preußischen Pläne informiert und schrieb am 18.11.1787 dem Fürsten Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau: „Euer Wolgeboren werden ohne meine Ausfuhrungen ermessen, welcher große Schade den Fähren und Zoll bei Alsleben, auch den Zoll- und Gasthäusern in Schackenthal und Schackstedt erwachsen würde, wenn die Halberstädtsche Straße von ihrem bisherigen Gang sollte abgezogen werden und ich zweifele deshalb keineswegs, daß Euer Wolgeboren dererseits nicht alle Mittel aufwenden werden, um dieses so nachtheilige Projekt wo möglich zu hintertreiben." LHA SA ASt. Oranienbaum, Abteilung Dessau, C 9 k III, Nr. 6, Bl. 48, 66. 137

Ebenda, Bl. 72. Entspricht der Β 71 bzw. pCh Nr. 65 und der pCh Nr. 91. 139 Entspricht der Β 81 bzw. pCh Nr. 84. 140 Ebenda, Bl. 33. Die alte Handelsstraße von Halberstadt über Ditfurt nach Aschersleben verlor in der Folgezeit völlig an Bedeutung. Chaussiert wurden die jeweiligen Straßen nach Egeln (B 81 = pCh Nr. 84 und Β 180 = pCh Nr. 90) und Quedlinburg (B 79 = Aktienchaussee seit 1843 und Β 6 = von den Städten Aschersleben und Quedlinburg von 1856 bis 1858 jeweils bis Hoym gebaute Gemeindechausseen). Vgl. P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 75; Statistische Darstellung des Kreises Aschersleben von den Jahren 1859 bis 1861, Quedlinburg (1862), S. 64 ff. 138

III. Territoriale Zersplitterung und beginnender Chausseebau

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ner über Aschersleben zu bauenden Chaussee. Die Chaussierung der Straßen von Halle nach Magdeburg bzw. Halberstadt wurde bis spätestens 1805 abgeschlossen.141 Die relativ schnelle Herstellung der Chausseeverbindung zwischen Leipzig und Magdeburg sollte den Saalkreis mit dem preußischen Hauptland verbinden und den Warenverkehr zwischen Sachsen und den nordwestdeutschen Häfen auf preußisches Territorium ziehen. So stärkte sie auch die Position Magdeburgs gegenüber Braunschweig. Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau konnte den preußischen Minister von der Schulenburg nur noch darum bitten, Anhalt-Bernburg zu bewegen, seine Verbindungsstraßen ins Dessauische so zu verbessern, daß auch Anhalt-Dessau bequemen Anschluß an die wichtige Handelsstraße gewann. 142 Anhalt-Bernburg mußte dann tatsächlich durch die preußische Regierung gedrängt werden, den Fernhandelsverkehr durch eine Chaussierung des in seinem Gebiet liegenden Abschnitts der Magdeburg-Hallenser Chaussee zu befördern. 143 Der Vorteil des Saaleübergangs in der Landeshauptstadt nahm den Bernburgern jede Furcht vor einer Verkehrsumgehung des eigenen Territoriums, wodurch Bernburg sich nicht veranlaßt sah, selbst größere Anstrengungen im Straßenbau zu unternehmen. Noch 1833 hatte Bernburg „vor den beiden andern Herzogtümern den Vorzug der großen Landstraßen, welche die Stadt Bernburg und das Oberherzogtum durchschneiden." 144 Der in den 1820er Jahren eskalierende Zollkonflikt zwischen Anhalt und Preußen hatte also einen verkehrspolitischen Prolog, bei dem es nicht nur um die Modalitäten des Elbverkehrs ging. Auch die im Vergleich zu Anhalt-Köthen und Anhalt-Dessau propreußische Haltung Anhalt-Bernburgs lag nicht zuletzt in dessen günstigerer Landverkehrslage begründet. 145 Der Zustand der inneren Straßennetze war al141 Nach J.A.F. Hermes / J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch, 1 .Teil, S. 127, wurden die Arbeiten auf dem Gebiete des Saalkreises zwischen 1795 und 1799 und im Magdeburgischen 1804 und 1805 durchgeführt. So auch bei: M. Dunger, Das ehemalige Königsviertel - die erste planmäßige Stadterweiterung Halles im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift. Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. 37, 1988, H. 4, S. 124. Nach H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 346, war die Straße von Magdeburg nach Leipzig schon ab 1802 „durchgehend befahrbar". 142 LHA SA ASt. Oranienbaum, Abteilung Dessau, C 9 k III, Nr. 6, Bl. 84. 143 H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 346. 144 H. Lindner, Geschichte und Beschreibung, S. 383. Durch das Oberherzogtum, vor allem über Güntersberge, Harzgerode und Ballenstedt lief der größte Teil des Verkehrs vom Harz ins östliche Vorland, zum Beispiel zu den Saalehäfen Bernburg und Alsleben, auf den heutigen Β 185 bzw. pCh Nr. 90a und Β 242 bzw. pCh Nr. 90b („Klausstraße" nach Mansfeld). 145 Vgl. Ebenda, S. 93 f.; M. Dreßler, Der Kampf Anhalt-Cöthens gegen die preußische Handelspolitik in den Jahren 1819-1828, Magdeburg 1908; W. Fietz, Verkehrsund handelspolitische Probleme, S. 53 ff.; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, S. 26 f.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

lerdings in den drei anhaltinischen Herzogtümern, ähnlich wie im Herzogtum Braunschweig, besser als in Preußen. 146 Während also für den Fernhandel die Kleinstaaterei im Reich einen wesentlichen Störfaktor darstellte, vor allem durch die Zollgrenzen die Waren verteuerte und Ausbau und Verbesserung der Binnenschiffahrtswege generell behinderte, waren die Wirkungen auf den Chausseebau regional unterschiedlich und langfristig gesehen nicht eindeutig negativ. Die politische Zersplitterung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verhinderte eine merkantilistische Infrastrukturpolitik großen Stils, wie sie in Frankreich erfolgte, ermöglichte aber den Aufbau vieler kleinerer Systeme, die sich später unter anderen politischen Bedingungen als relativ leicht vernetzbare Subsysteme erwiesen. Chausseenetze entwickelten sich in den besser überschaubaren und regierbaren Kleinstaaten rascher als in den größeren deutschen Territorialstaaten und in den süd- und westdeutschen Zwergstaaten. Diese in geringer räumlicher Dimension und meist voneinander isoliert entstandenen Chausseenetze konnten Jahrzehnte später als Grundlage für eine rasche Entwicklung von komplementären Verkehrsverbindungen zur Eisenbahn dienen, denn durch den Übergang des Fernverkehrs auf die Eisenbahn stieg die Bedeutung der flächenerschließenden Funktion der Chausseen.147 In diesem Sinne hat auch der Chausseebau des 18. Jahrhunderts für die spätere Industrialisierung vorgebaut. 148 Kurz- oder mittelfristig gingen aber von diesen Chausseen noch keine Impulse für ein größeres Wirtschaftswachstum aus. Die Verbesserung der Landstraßenqualität durch die Chaussierung war nicht groß genug, um die Leistungsfähigkeit des Verkehrswesens in einem Maße zu steigern, das auch eine neue Qualität der Marktbeziehungen bewirkt hätte. Zudem dienten als Verkehrsmittel auch weiterhin zwar jetzt belastbarere, aber nach wie vor von Pferden „angetriebene" Fuhrwerke. Im übrigen fehlte es in Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an vielen weiteren Voraussetzungen für den Beginn einer der englischen Entwicklung vergleichbaren industriellen Revolution. Von den immensen, aus der territorialen Zersplitterung erwachsenden Handelshemmnissen auf eine generelle Beeinträchtigung der Verkehrsinfrastrukturentwicklung zu schließen, wäre trotzdem falsch. Gerade raumstrukturelle Betrachtungen zeigen, daß die Benachteiligung einer Region mit der Förderung einer anderen einhergehen konnte.

146 147 I4K

H. Lindner, Geschichte und Beschreibung, S. 183, 383, 528. Vgl. Abschnitt D.II.2. und D.III.3. W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 68.

IV. Die Regelung der Straßenbau- und -unterhaltungspflicht

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IV. Die Regelung der Straßenbau- und -unterhaltungspflicht als Hauptbestandteil des Wegerechts Ein rascheres Fortschreiten des Chausseebaues wurde durch verschiedene, aus dem Mittelalter fortbestehende Elemente des Wegerechts beeinträchtigt. Das betraf zum einen die zahlreichen der Gemeinwirtschaftlichkeit von Infrastruktureinrichtungen entgegenstehenden Privilegien und zum anderen die geringe Effektivität der in der Form von bäuerlichen Frondiensten zu leistenden Bau- und Unterhaltungsarbeiten. Feudale Privilegien verschiedener Art hemmten den Handel und dadurch mittelbar auch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur. Neben den Grenzund teilweise sogar Binnenzöllen behinderten vor allem der Straßenzwang sowie die Stapel- und Umladerechte den Handelsverkehr. Der Straßenzwang beinhaltete für Handelstransporte die Vorschrift, bestimmte Straßen zu benutzen. Er sicherte den fürstlichen Kassen die Wegegeldeinnahmen, behinderte jedoch den Ausbau des Straßennetzes. Die Stapelrechte bildeten neben den Zöllen und dem schlechten Verkehrswegezustand die größten Handelshemmnisse im 18. Jahrhundert. Sie verpflichteten die reisenden Kaufleute, bestimmte Waren in Städten, die das Stapelrecht verliehen bekommen hatten, umzuladen, wodurch zahlreiche Transporte zusätzliche Kosten und Umwege auf sich nehmen mußten. Die mittelalterlichen Stapelrechte sollten ursprünglich die Versorgung der städtischen Bevölkerung sicherstellen. Im Zusammenspiel mit den anderen Behinderungen des allgemeinen und speziell des Handelsverkehrs limitierten sie jedoch ihrerseits das Städte Wachstum.149 Bis zum 18. Jahrhundert waren die Stapelrechte vielfach in Geldleistungen umgewandelt worden, auf die die Städte nicht verzichten wollten. 1 5 0 Daher ergänzten sich oftmals landesherrliche und städtische Interessen an der Beibehaltung dieser Rechte. 151 Während beispielsweise Hamburg aufgrund seiner Verkehrslage bereits 1727 in der Lage war, auf sein Stapelrecht zu verzichten, verlor Leipzig dieses Privileg erst infolge des Siebenjährigen Krieges. Dieser Verlust veranlaßte die Stadt zu einer Aktivierung ihrer Handels- und Verkehrspolitik. 152 Magdeburg, Erfurt und Naumburg wurden die Stapel- und Umladerechte erst nach dem Wiener Kongreß aberkannt, wodurch ihre Stellung im Handel, wenn auch in unterschiedlichem Maße, anfangs sehr litt. Einen direkten Einfluß auf die Qualität der Landverkehrsinfrastruktur hatte die Regelung der Straßenunterhaltungspflichten. Das Beispiel der ersten 149

M. Jehle, Eiserne Kunststraßen, S. 73 f. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 14; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 6. 151 K.H. Kaufhold, Deutschland 1650-1850, S. 583. 152 P. Beyer, Leipzig, S. 55. 150

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Chausseebauten im Herzogtum Braunschweig macht deutlich, daß die regelmäßige Unterhaltung die wichtigste Voraussetzung für den Übergang vom traditionellen Landstraßen- zum modernen Chausseenetz gewesen ist. Die „Communicationswege" wurden von den Gemeindemitgliedern in der Regel gemeinsam unterhalten und galten im Altsiedelgebiet auch als Gemeindeeigentum.153 Die Verbesserung des Zustandes dieser Kommunikationswege bildete das Anliegen verschiedener landesherrlicher Verordnungen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 154 Das Hauptaugenmerk merkantilistischer Landverkehrspolitik war allerdings auf die Verbesserung der Handels- und Poststraßen gerichtet. Diese waren bereits im frühen Mittelalter aus der Allmende als „Wegeregal" in königliches Eigentum übergegangen. Erhalten blieb jedoch auf diesen zum Teil als Königsstraßen bezeichneten Wegen das allgemeine Nutzungsrecht. Durch das Lehnswesen und die wachsende Unabhängigkeit der Territorialherren übernahmen diese das Regal, ohne daß sich an der Unterhaltungspflicht der Anlieger etwas änderte. „Die Anlieger waren regelmäßig Grundherren, die ihre abhängigen Bauern im Frondienste zur Erfüllung ihrer Unterhaltungspflicht einsetzten. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß die Bauern, die selbst die Straßen kaum nutzten ... und die in technischer Hinsicht im Straßenbau über keinerlei Kenntnisse verfügten, kaum das Nötigste für deren Befahrbarkeit tun wollten und konnten." 155 Daher bestanden auch Hauptstraßen häufig nur aus unbestellten Ackerstreifen. Die Straßengräben dienten zunächst der Verhinderung des Befahrens von Ackerflächen. Erst bei den späteren Chausseen sorgten die Gräben im Zusammenhang mit der Wölbung des Planums für eine Entwässerung. Die unbefestigten Straßen waren bei feuchtem Wetter meist unpassierbar. Um dem zu entgehen, wurden die Straßen oft auf den Höhen angelegt.156 Die Probleme bei der Überwindung der sich daraus ergebenden stärkeren Steigungen durch die Pferdefuhrwerke riefen wiederum eine Nichtauslastung der Ladekapazität oder aber die Notwendigkeit, Vorspanndienste in Anspruch zu nehmen, hervor. Die daraus resultierende Unzuverlässigkeit des Straßenverkehrs behinderte jede Form regelmäßiger Transporttätigkeit, denn „auch die bedeutendsten Wege jener 153

H. Harnisch, Gemeindeeigentum und Gemeindefinanzen im Spätfeudalismus, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Bd. 8, Weimar 1981, S. 166. - Die Grenze zwischen dem Altsiedelgebiet und dem im Hochmittelalter durch deutsche Bauern kolonialisierten Land verläuft quer durch das Untersuchungsgebiet. 154 Allgemein dazu: L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S 10 f. - Für das Gebiet der späteren preußischen Provinz Sachsen: A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 32 ff. 155 J. Salzwedel, Wege, S. 200 f. - Vgl. auch M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 85. 156 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 27 f.; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 13.

IV. Die Regelung der Straßenbau- und -unterhaltungspflicht

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Zeit, die sogenannten Hohen Heer- und Landstraßen waren schlecht befestigte Erdstraßen, auf denen die Fuhrwerke oft zerbrachen, umschlugen oder im Schlamm stecken blieben." 157 Ihr Straßenregal nutzten die Landesherren, um Geleitgelder erheben zu können. Diese Geleitgelder bzw. Wegezölle wurden als „eine Abgabe für die Erlaubnis, auf einem Wege Waaren fortschaffen zu dürfen, und zugleich wohl ein Entgeld ... für die Benutzung der zur Bequemlichkeit des Transports auf diesen Wegen getroffenen Vorkehrungen" verstanden. Außerdem „erhielt der Zoll auch die Bedeutung eines Schutzgeldes für Sicherung gegen räuberische Anfälle (Geleitzoll)" 158 , wobei man seit dem 17. Jahrhundert „sicheres Fortkommen" zunehmend „im Sinne gut ausgebauter Straßen interpretierte". 159 Allerdings bestand keinerlei Bindung zwischen der Höhe der Wegegelder und den tatsächlich aufgewandten Straßenkosten. 160 Im 18. Jahrhundert hatte sich das „Geleit" somit bereits weitestgehend zum Zwangsgeld ohne Gegenleistung gewandelt. Aus der Verbindung des Wegeregals mit der ursprünglich den Anliegern obliegenden Unterhaltungspflicht erwuchsen die Straßenbaufrondienste, die sich allmählich in Reallasten für einen über den Kreis der unmittelbaren Anlieger hinausgehenden Teil der Bauernschaft wandelten. So wurde auch in einer braunschweigischen Denkschrift aus dem Jahre 1736, die sich mit einer der häufig vorkommenden Auseinandersetzungen über die Wegebesserungspflicht, in diesem Fall auf der Poststraße von Halberstadt nach Hildesheim, befaßte, der zeitgenössische Rechtsstandpunkt bestätigt, daß die Erhebung von Straßenzöllen durch die Herzogliche Kammer die Wegebesserungspflicht der Anwohner nicht berühre. 161 Die Bauern mußten also sowohl als Anlieger der Kommuni157 H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 344. - Auch Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 46 f., beklagte, daß die Wege „die größte Zeit vom Jahr fast ganz unbrauchbar" seien und schlußfolgerte: „Jedermann leidet dabey, weil die Waaren öfters gar zu lange in den Vorrathshäusern liegenbleiben müssen, oder unterwegs ganz zu Grund gerichtet und durch den schweren Fuhrlohn, Zehrungskosten und Wartgeldern vertheuert werden, auch die Reisende gar zu oft der Gefahr längst nicht verwahrten Anhöhen und Abgründen in die Tiefe geworfen zu werden sich ausgesetzet sehen oder auf den Erddämmen und in grundlosen Weegen liegen bleiben und wenigsten viel Vieh anspannen lassen müssen, wenn sie nicht Zeit haben, den Frost und Sonnenschein, durch den die Weege wieder hart werden, abzuwarten." 158 J.A.F. Hermes / J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch, 1. Teil, S. 235 f. 159 B. Wunder, Chausseebau, S. 527. - Vgl. auch Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, Berlin 1853, S. 127; A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, S. 28; H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 344. 160 H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 7. 161 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 38.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

kationswege als auch als Anlieger der Landstraße bzw. in Form von Frondiensten für einen adligen Anlieger Straßenbau- und -Unterhaltung fast ausschließlich allein bewältigen. Eine Vergütung der Straßenbaufuhren oder die Rücksichtnahme auf Saat- oder Erntezeiten, wie sie in Anhalt-Dessau unter Fürst Leopold Friedrich Franz üblich waren, konnten oder wollten andere Fürsten und Landadlige nicht oder nur in sehr geringem Maße vornehmen. 162 Schließlich beeinträchtigte eine solche Rücksichtnahme auch die Flexibilität der Straßenbau und -unterhaltungsarbeiten. Der Widerwillen der Bauern gegen diese Dienstverrichtung war dementsprechend groß und deren Kontrolle so aufwendig, daß der Landesherr sein Straßenregal oftmals an einen örtlichen Vasallen übertrug. Die Qualität der ausgeführten Arbeiten litt generell unter dem Fronzwang, „weil alle Arbeit, welche aus Zwang und mit Unwillen gethan wird, sehr selten wohl geräth." 163 Ein Ausweg aus dieser Misere bestand im Einsatz von Lohnarbeitern. Nachdem die extensive Ausweitung der Straßenbaudienste zur Beseitigung der Kriegsschäden nach 1763 in Sachsen nicht die gewünschten Resultate erzielt hatte, konnten Frondienste in die Zahlung von sogenannten „Straßenbausurrogatgeldern" umgewandelt werden. 164 Mit diesem Geld wollte der sächsische Staat die Löhne der Straßenbauarbeiter bezahlen. Ein genereller Übergang zum Straßenbau durch Lohnarbeit fand aber erst statt, nachdem im Zuge der kapitalistischen Agrarreformen die privatrechtlichen Dienstverpflichtungen beseitigt wurden.

V. Der Aufbau von Wegeverwaltungen und die Entwicklung der Wegegesetzgebung in Kursachsen, Braunschweig und Preußen Größere Wirksamkeit erreichte die kameralistische Wirtschaftspolitik bei der Installierung von Wege Verwaltungen. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts versuchten verschiedene Staaten, leistungsfähige Wegeverwaltungen zu schaffen, die sich allerdings entsprechend dem Rechtsverständnis zunächst nicht als Planungs- oder Koordinierungsbehörden, sondern lediglich als Aufsichtsstellen verstanden. 162

H. Hummel, Anhaltinische,

kursächsische

und preußische

Chausseebauten,

S. 217. 163 Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 463. Vgl. auch U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 15; G. Otruba, Zur Geschichte des neuzeitlichen Verkehrswesens in Österreich vor den Eisenbahnen, Linz 1988, S. 112 f f ; B. Wunder, Chausseebau, S. 529. 164 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 37 f.

V. Aufbau von Wegeverwaltungen und Entwicklung der Wegegesetzgebung

125

Nach einem Reichstagsbeschluß von 1670 hatten die Landesregierungen die Oberaufsicht über das gesamte Straßennetz wahrzunehmen. Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen bestimmte bereits im Jahre 1661 aus seiner Beamtenschaft Geleitsinspektoren, die den Straßenzustand und die Erledigung der Unterhaltungspflichten überprüfen sollten. 165 Zuvor hatte der sächsische Handelsstand auf dem Landtag die vorrangige Reparatur der für den Leipziger Messeverkehr wichtigen Straßen und Brücken, die durch den Dreißigjährigen Krieg zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren, gefordert. Den sächsischen Kurfürsten ging es jedoch in erster Linie um ihre Wegezolleinnahmen, denn viele Fuhrleute benutzten statt der fiskalischen Straßen Nebenwege, da deren Zustand auch nicht schlechter war als der der holprigen Landstraßen. So verfügte Kurfürst Friedrich August I. in einem Mandat von 1706 eine Verbreiterung der Straßen, die Anlegung von Abzugsgräben und die Einsetzung von Kommissarien zur Oberaufsicht über das Straßenwesen. Die praktische Umsetzung dieser wie auch anderer Verordnungen scheiterte allerdings weitestgehend, so daß immer wieder neue kurfürstliche Erlasse in dieser Frage nötig wurden. Insbesondere nach den Kriegen gegen Schweden und Preußen mußte man den schlechten Zustand der eigenen Landstraßen konstatieren. 166 Dieser hatte während des Krieges Truppenbewegungen erschwert, die ihrerseits die Straßen zusätzlich beschädigten. Darum wurden 1766 zur Beseitigung der Kriegsfolgen die schon erwähnten extraordinairen Straßenbaudienste angeordnet. Trotzdem hatte der Rat von Leipzig im Jahre 1782 zu beklagen, daß Messegüter aus Hamburg, aber auch aus relativ nahen Städten wie Mühlhausen nur mit größter Mühe angekommen seien. Das sächsische Finanzkollegium trat daraufhin für eine bevorzugte Verbesserung der nach Leipzig führenden Straßen ein. Einen weiteren Schwerpunkt sollten die Straßen in Grenznähe bilden, um den Transport fremder Waren auf sächsisches Territorium zu ziehen. Außerdem wurden die Aufsichtsbehörden stärker dezentralisiert. Nachdem ab 1723 Straßenbaukommissionen für die Kreise entstanden waren, verlangte das Straßenbaumandat von 1781, daß die Ortschaften Straßenaufseher zu stellen hatten. Das Straßenbaumandat drohte im Falle von Verletzungen der Erhaltungspflicht harte Strafen an. So konnten ihrer Unterhaltungspflicht nicht nachkommende Anlieger dazu verpflichtet werden, den Lohn für die an diesen Straßen eingesetzten Arbeiter zu zahlen. Neben der Regelung der wegepolizeilichen Angelegenheiten bestand die Bedeutung des Straßenbaumandats von 1781 in der Fixierung der Verteilung 165

Vgl. für das Folgende: A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 13 ff.; J. Salzwedel, Wege, S. 207, 211, 215. 166 Vgl. für das Folgende: A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 32 ff.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

von Straßenunterhaltungspflichten sowie der staatlichen Straßenbauverpflichtung. Die sächsischen Straßen wurden dafür nach der Bedeutung des jeweils aufzunehmenden Verkehrs klassifiziert. „Hohe Heer-, Stapel- und Landstraßen" sowie „Commerzialstraßen" waren mit Ausnahme der innerhalb der Gemeinden gelegenen Abschnitte und von Straßen mit privater Wegegeldberechtigung durch die fürstliche Rentkammer zu unterhalten. Die Kommunikationswege mußten nicht mehr von den einzelnen Adjazenten, sondern von den Kommunen erhalten werden. „Für alle im Ortsgebiet gelegenen Straßen und die Kommunikations- und Nachbarwege waren ... die Städte bzw. Gemeinden unterhaltungspflichtig." 167 Das Straßenbaumandat, „für die damalige Zeit das modernste territoriale Wegerecht in Deutschland", 168 blieb nicht nur im Königreich Sachsen bis 1870 gültig, sondern wurde auch nach 1815 in den ehemals kursächsischen Gebieten der preußischen Provinz Sachsen angewandt. Die juristische Fixierung der staatlichen bzw. kommunalen Verantwortlichkeit für die Unterhaltung der Landstraßen änderte aber nichts an der Tatsache, daß die Arbeiten in Form von Naturalleistungen oder Surrogatgeldern fast ausschließlich auf Kosten der bäuerlichen Bevölkerung erfolgten. Die den Dienstpflichtigen in der Regel eingeräumte Geleitsfreiheit und die mitunter gewährten Geld- oder Naturalvergütungen kompensierten die Belastungen, vor allem der Amtsuntertanen, nicht. Durch die mit dem Chausseebau verbundene Steigerung der technischen Anforderungen kam es aber schon vor den Agrarreformen teilweise zu eines Abkehr von der feudalen Arbeitsverfassung. Die Anlage guter Steinstraßen erforderte ein gewisses Maß an technischen Kenntnissen und eine einheitliche, straffe Bauleitung. Auch aus politischen Gründen konnten insbesondere nach 1789 die höheren Aufwendungen für die Herstellung befestigter Straßen nicht allein durch die Ausweitung der ungeliebten Wegefronen realisiert werden, weil dann die „Landwirthe die ganze Last allein auf dem Hals behalten" und „die, welche die beste Nahrung von den Chaussees ziehen, nicht das geringste dazu beytragen" würden. 169 „In den letzten Jahren der sächsischen Verwaltung entband der Staat bei kunstmäßigem Ausbau der Straßen ... die Anlieger von der Pflicht der Grabenanlage und die Untertanen häufig auch von den Hand- und Spanndiensten und führte solche Chausseebauten allein durch." 170 Daher enthielt das Gesetz von 1781 neben den Bestimmungen zu Unterhaltungspflicht und Wegepolizei auch ausführliche technische Vorschriften zum Straßenbau.

167

J. Salzwedel, Wege, S. 215. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 12. 169 Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 216 und 219. 170 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 35. Gemeint ist die Zeit unmittelbar vor 1815. 168

V. Aufbau von Wegeverwaltungen und Entwicklung der Wegegesetzgebung

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Im Herzogtum Braunschweig verlangte eine Verordnung aus dem Jahre 1617 eine „Besserung der Wege, damit die Passanten nicht Beiwege fahren und dadurch Zoll defraudiren und Saaten vernichten." 171 Eine Verordnung von 1645 besagte, „dass die Landstraßen, Wege und Stege durch die jedes Orts Eingesessenen, freie und unfreie Leute,... reparirt, gebessert und im guten Stand erhalten werden sollten." Die anliegenden Bauern sollten durch die Erlaubnis für Fuhrwerke, bei unpassierbaren Wegen über die benachbarten Felder zu fahren, zur Straßenunterhaltung veranlaßt werden. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts blieb es allerdings bei den landesherrlichen Mahnungen, ohne daß sich der Straßenzustand wesentlich verbessert hätte. 172 Immerhin enthielt bereits die Wegeordnung von 1704 detaillierte technische Anweisungen für den Straßenbau, zu deren Überwachung die Generalwegebesserungskommission gegründet wurde. 173 Die bereits erwähnte braunschweigische Denkschrift aus dem Jahre 1736 wies daraufhin, daß die wesentlich teurere Anlegung und Unterhaltung von Steinstraßen entgegen dem hergebrachten Recht nicht mehr von den Anliegern zu leisten sein werde. 174 Insgesamt haben die braunschweigischer Bauund Unterhaltungsvorschriften im 18. Jahrhundert einen beachtlichen Stand erreicht und wurden beispielsweise in Preußen durch Fachleute zur Übernahme empfohlen. 175 Der Straßenzustand verbesserte sich trotzdem vor 1750 schon deshalb nicht, weil die Bauermeister bzw. Schulzen in den Gemeinden mit der technischen Leitung der Wegebauten überfordert waren. 176 Der planmäßige, wenn auch noch nicht dauerhafte, Ausbau der Landstraßen durch den Staat und der Aufbau einer zentralen Wegebauverwaltung, die nicht mehr nur den Zustand kontrollierte, sondern Bau und Unterhaltung direkt vorantrieb, begann unter der Regentschaft Herzog Karl I. 1 7 7 Durch die 1752 gegründete Wegebesserungskommission sollte „... eine Straße nach der andern vorgenommen, und nach gewissen vorgeschriebenen und festgesetzten Grundsätzen förmlich gemacht und in dauerhaften Stand gesetzet werden ... ," 1 7 8 Für 171 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung der den einzelnen Kreiscommunalverbänden des Herzogthums Braunschweig gesetzlich überwiesenen Erträgnisse und Einnahmen nebst einer einleitenden Darstellung der derzeitigen Organisation der Braunschweigischen Verwaltung und der geschichtlichen Entwicklung derselben, Braunschweig 1889, S. 5. 172 Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 230 f. 173 Nach P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 21, erfolgte die Gründung einer ersten Wegebesserungskommission im Jahre 1705. Tatsächliche Wirksamkeit entfaltete jedoch erst die 1752 installierte General-Wegebesserungskommission. Vgl. Ebenda, S. 35 ff.; S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 27 f. 174 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 38. 175 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S . U . 176 W. Strauß, Gemeindeverwaltung, S. 5. 177 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 28. 178 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10611, Bl. 6.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

den Ausbau wurden jährlich 12.000 Taler aus der Landeskasse bereitgestellt, die Stände sollten 4.000 Taler zuschießen.179 Aber bereits im Siebenjährigen Krieg wurde die Tätigkeit der Wegebesserungskommission faktisch eingestellt. 180 Nach dem Krieg wurde nach einem entsprechenden Vorschlag der Landschaft die Wegebesserungskommission von einem nur unregelmäßig zusammenkommenden Gremium von Vertretern verschiedener Behörden in eine eigenständige Zentralverwaltung umgewandelt, die größere Bauten an den Heerstraßen selbst organisieren sollte und die Unterhaltung der Kommunikationswege zu beaufsichtigen hatte. 181 Ebenfalls auf Vorschlag der Stände konnte die Kommission ab 1771 durch die Einrichtung einer Wegeunterhaltungskasse über eine kalkulierbare finanzielle Grundlage, 15.000 Taler im Jahr, verfugen. 182 Die Arbeit der Kommission führte aber auch dazu, daß die Gemeinden noch weniger als zuvor für die Straßenunterhaltung taten. 183 Spürbare Verbesserungen im braunschweigischen Straßenwesen waren daher erst unter der Regierung Herzog Karl Wilhelm Ferdinands zu verzeichnen. Über eine einheitliche Regelung des Wegewesens, wie sie sowohl in Sachsen als auch in Braunschweig bestand, wurde in Preußen noch während des gesamten 19. Jahrhunderts gestritten, da die verschiedenen provinziellen Interessen nicht in Einklang zu bringen waren. Das Allgemeine Landrepht vom 5. Februar 1794 enthielt zwar wie das sächsische Straßenbaumandat von 1781 eine staatliche Verpflichtung, „für die Unterhaltung der Sicherheit und Bequemlichkeit" der Landstraßen zu sorgen. 184 Es bestätigte aber auch das Recht des Staates, zu Bau und Unterhaltung der Straßen Hand- und Spanndienste in Anspruch zu nehmen.185 Seine diesbezüglichen Verordnungen blieben zudem nicht nur ausgesprochen allgemein; sie wurden nur nach dem Subsidiaritätsprinzip angewandt. Paragraph 15 des entsprechenden Abschnitts lautete: „Wo durch Provinzialgesetze oder besondere Wegeordnungen, die Verbindlichkeit zu Unterhaltung der Landstraßen näher oder anders bestimmt ist, hat es dabey, auch in Zukunft, lediglich sein Bewenden." 186

179

A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 58. Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 15. 181 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 19. 182 Ebenda, S. 35; A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 62. - Spezielle Straßenbau- bzw. -unterhaltungskassen wurden in den siebziger Jahren auch in anderen deutschen Staaten eingerichtet. Vgl. für Württemberg: L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 52. 183 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10611, Bl. 10. 184 E. Pappermann (Hrsg.), Preußisches Allgemeines Landrecht, Paderborn 1972, S. 144. Vgl. auch L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 11 f., 41. 185 Vgl. Ebenda, Paragraphen 13 und 16. 186 E. Pappermann (Hrsg.), Preußisches Allgemeines Landrecht, S. 146. 180

V. Aufbau von Wegeverwaltungen und Entwicklung der Wegegesetzgebung

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Das Subsidiaritätsprinzip hätte allerdings einheitliche Vorschriften für die Anlegung der Dammstraßen, wie die Chausseen in Preußen genannt wurden, ermöglicht, weil diese Kategorie in den meisten Provinzialgesetzen noch nicht berücksichtigt worden war. In Bezug auf den Chausseebau wurde jedoch nur eine Eingrenzung der Wegebaupflicht von Anliegern vorgenommen. Die Paragraphen 17 und 24 besagten: „Bei der Anlegung von Chausseen oder Dammstraßen statt ordinairer Landstraßen sind die zur Wegearbeit verpflichteten Einwohner nur nach dem Maße zu helfen schuldig, nach welchem sie bei Anlegung einer gewöhnlichen Landstraße Dienst thun müßten.... Von der gewöhnlichen Unterhaltung solcher Dammstraßen gilt alles, was von der Unterhaltung der Wege verordnet ist. Für die Hauptreparaturen hingegen, die ohne Verschulden der zur Wegearbeit verpflichteten Einwohner entstanden sind, sind dieselben nur in eben dem Maße wie bei der Anlegung zu helfen verbunden." 187 Auch bei den Chausseen wurde also, wie schon bei den Landstraßen, eine staatliche Unterhaltungspflicht nur für Arbeitsbereiche, die über die bestehenden Dienstverpflichtungen hinausgingen, anerkannt. Einheitliche Straßenklassifizierungen, die Umwandlung von Wegefronen in Geldleistungen oder technische Bauvorschriften für die Kunststraßen existierten in Preußen um 1800 noch nicht, was den Rückstand des preußischen Straßenrechts gegenüber den süd- und westdeutschen Kleinstaaten, aber auch gegenüber den sächsischen und braunschweigischen Nachbarn verdeutlichte. 188 Das Allgemeine Landrecht hat das preußische Wegerecht nicht vereinheitlicht. Auch die königlichen Patente vom 24. März 1803 und vom 9. September 1814 schrieben für alle die Fälle, „in denen das A.L.R. über den Gegenstand derselben keine Bestimmungen enthält", vor, daß „die wohlhergebrachten Gewohnheiten noch ihre gesetzliche Kraft und Gültigkeit behalten". 189 Daher existierten gerade innerhalb einer so heterogen zusammengesetzten Provinz wie Sachsen nach 1815 viele verschiedene, zum großen Teil veraltete Wegeordnungen. Für das Herzogtum Magdeburg und die Grafschaft Mansfeld altpreußischen Teils sowie das Fürstentum Halberstadt nebst der Herrschaft Derenburg und den Grafschaften Hohen- und Regenstein regelten inhaltlich ähnliche Edikte aus den Jahren 1742 und 1743 die Verteilung der Wegebaulasten.190 Neben dem Streben nach einer allgemeinen Verbesserung des Straßenzustandes hatten 187

A. Germershausen, Das Wegerecht und die Wegeverwaltung in Preußen nebst Entwurf einer Wegeordnung, Bd. 1, Berlin 1890, S. 348. 188 J. Salzwedel, Wege, S. 207; B. Wunder, Chausseebau, S. 531 und 535. 189 L. von Rönne, Die Wegepolizei und das Wegerecht des preußischen Staates, Breslau 1852, S. 389 f. 190 Vgl. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 42 f f ; A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 2, S. 125 f.

9 Uwe Müller

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Auseinandersetzungen zwischen den Landesherrn und den Ständen zum Erlaß derartiger Regelungen gefuhrt. Die Stände waren in Magdeburg und Halberstadt, ähnlich wie in der Kurmark und in Braunschweig, der Auffassung, daß das landesherrliche Zoll- und Geleitsrecht mit der Pflicht zur Sicherung der Reise und zur Reparatur der Straßen zu verbinden sei. 191 Durch die Wegeordnungen wurden jedoch die anliegenden Grundherren „nach Verhältnis des Umfanges ihres Grundbesitzes" oder die Geleitgeldempfänger zur Straßenunterhaltung verpflichtet. 192 Eine staatliche Straßenbaupflicht bestand darüber hinaus nicht. Die Straßenbaupflichtigen durften „Bauern, Kossäthen und Einlieger" für Fuhren und Handdienste heranziehen. Die Höhe der dafür zu gewährenden Entschädigung von 12 ggr. pro Pferd und 3 ggr. pro Arbeiter wurde trotz sinkendem Geldwert nach 1742 bzw. 1743 nicht mehr verändert. Außerdem mußten im Fürstentum Halberstadt Fuhrleistungen bis zu einer Meile und im Herzogtum Magdeburg sogar bis zu 1,5 Meilen unentgeltlich geleistet werden. 193 Dementsprechend resultierte die Unbeliebtheit der Wegebaudienste auch aus dem langen Weg, den viele Landbewohner vor und nach der Arbeit zurücklegen mußten, sowie aus den hohen physischen Belastungen, denen die Bauern und die Zugtiere unterlagen. 194 Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Bauern während der Straßenbauarbeiten die eigenen Höfe vernachlässigen mußten, so daß es viele Pflichtige am Ende des 18. Jahrhunderts vorzogen, „statt der Leistung das Duplum als Strafe zu zahlen". 195 Aber auch nach dem Erlaß der Wegeordnungen existierte noch keine vollständige Rechtssicherheit. So blieb die Höhe der Verpflichtungen von Rittergütern, Domänen und Klöstern umstritten. Die technische Ausführung war ebenso unzulänglich geregelt wie die staatliche Aufsicht über die Arbeiten. Ähnliche Verordnungen zur Straßenunterhaltung galten in den kurmainzischen Fürstentümern Erfurt und Eichsfeld. Die Dorfbewohner hatten hier eben-

191

Ebenda, Bd. 1, S. 146 ff.; Zu Braunschweig: P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 38. 192 A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 146. 193 H. Kunze, Wegeregal, S. 33. 194 In Österreich befaßten sich die ärgsten Klagen über die Straßenunterhaltungsarbeiten „mit den Zugtieren, insbesondere der ärmeren Waldbauern, die meist nur ein Paar Ochsen als ihr Eigen besaßen. 'Diese würden durch acht Tage in den Steinbruchgräben und auf den scharf geschotterten Straßen so hergenommen, daß sie diese nur mit Mühe und Not krumm und an den Füßen blutend wieder heim in den Stall brächten. Viele Untertanen hatten von ihrer Wohnung bis zum Arbeitsplatz einen Weg von drei bis fünf Stunden. Derlei ausgeschundenes und durch diese Robot zugrunde gerichtetes Zugvieh mußten sie dann daheim oft mehrere Wochen im Stall liegen lassen, bis es wieder zur landwirtschaftlichen Arbeit fähig wurde." Bericht aus dem Jahre 1753 zitiert in: G. Otruba, Zur Geschichte des neuzeitlichen Verkehrswesens, S. 113 f. 195

A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 148.

V. Aufbau von Wegeverwaltungen und Entwicklung der Wegegesetzgebung

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falls Hand- und Spanndienste zu leisten und wurden, wenigstens zum Teil, auch darüber hinaus zu Straßenbauarbeiten gegen Entgeld herangezogen. 196 Da in Magdeburg und Halberstadt innerhalb des mittleren und östlichen Preußens die ersten Chausseen gebaut wurden, regelte ein spezielles Publikandum aus dem Jahre 1787 den Umfang der von den Untertanen für den Chausseebau zu leistenden Dienste sowie die Höhe der dafür zu gewährenden Entschädigungen. Durch diese Verordnung wurden die Verpflichtungen zu Grandund Steinfuhren aus den Wegeordnungen auch auf den Chausseebau übertragen. Die Bezahlung der Fuhren wurde jedoch bedeutend erhöht. 197 Im Allgemeinen Landrecht von 1794 wurden die Erfahrungen aus den ersten preußischen Chausseebauprojekten zwischen Magdeburg und Halberstadt, von Halberstadt und Magdeburg nach Halle sowie zwischen Berlin und Potsdam nur in geringem Maße berücksichtigt. 198 Sie bewirkten jedoch die Entstehung einer zentralen Verwaltung für die neue Wegeart. So wurde nur 5 Jahre nach dem Tode Friedrich II. die General-Chausseebau-Intendantur, auch GeneralChausseebau-Departement genannt, gegründet. 199 Deren erster Leiter Hans Moritz Graf von Brühl war mit dem Recht des Immediatvortrages bei Friedrich Wilhelm II. ausgestattet.200 Die Behörde sollte vor allem die laufenden Bauten leiten, neue Chausseen planen und Chausseeaufseher (Offizianten) anstellen. Sie bestand aber noch im Jahre 1800 aus lediglich 7 Beamten, hatte keinen festen Etat, wurde von den provinziellen Behörden abgelehnt und war in ihrer Wirkung auf Brandenburg und Pommern beschränkt. Die Chausseeoffizianten kamen zudem oftmals ihren Pflichten nicht nach, worunter die Qualität der Steinstraßen litt. Weil die 1798 unter Brühls Leitung gebaute Chaussee zwischen Berlin und Charlottenburg bereits ein Jahr später in schlechtem Zustand war, übertrug König Friedrich Wilhelm III. die Planung und Durchführung des chausseemäßigen Ausbaus der Straße von Berlin nach Frankfurt/Oder dem Oberhofbauamt. Eine Verbesserung der Wegeverwaltung durch Zentralisierung und des Wegerechts durch Vereinheitlichung, wie sie im Zuge absolutistischer Politik in einigen deutschen Staaten erreicht wurde, blieb also in Preußen in den Ansätzen stecken. 196

Ebenda, S. 148 ff. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 218. 198 Neben dem im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt gültigen Publikandum von 1787 war 1792 für die Kurmark ein „Edict über die Verbindlichkeiten der Unterthanen ... in Ansehung des Chausseebaues, wie sie deshalb zu entschädigen sind und sonst dabey beachtet werden soll", erlassen worden. Vgl. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 46. 199 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 14; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 23 ff.; B. Schulze, Das preußische General-Chausseebau-Departement, S. 156 ff.; Ders., Anfänge des norddeutschen Kunststraßenbaues, S. 222 f. 200 Moritz von Brühl war der jüngste Sohn des Reichsgrafen Heinrich von Brühl, sächsischer Premierminister von 1746 bis 1763. 197

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

So kamen bis zum Debakel von 1806 die ohnehin sehr spät begonnenen preußischen Chausseebauprojekte nur sehr langsam voran. Das betraf in unserem Untersuchungsgebiet vor allem die Weiterführung der MagdeburgHalberstädter Chaussee in Richtung Hildesheim. Für eine Steinstraße von Magdeburg durch die Altmark in Richtung Hamburg, wie sie Schulenburg bereits 1788 geplant hatte, existierten noch keinerlei Vorarbeiten. 201 Im später preußischen Teil Sachsens, besonders im Gebiet um Merseburg, wurden hingegen seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts verstärkt Chausseen gebaut. Mit der Chaussierung der Straße von Gotha über Erfurt nach Weimar, die ein Teilstück der vielbefahrenen Handelsstraße von Frankfurt a.M. nach Leipzig war und auch als Königs- oder Hohe Landstraße bezeichnet wurde, begann man bereits 1750. Aufgrund von Unstimmigkeiten zwischen Sachsen-Weimar und Sachsen-Gotha wurde jedoch der letzte Abschnitt zwischen Gotha und Gamstedt erst 1799 vollendet. 202 Da auch im Herzogtum Braunschweig bis 1815 die wichtigsten, in die Landeshauptstadt führenden Straßenzüge chaussiert wurden, entstand im Bereich der Straßenverkehrsinfrastruktur ein Entwicklungsrückstand der mittleren Provinzen Preußens gegenüber ihren westlichen und südlichen Nachbarn. 203 Dieser Kontrast ist letztlich auf eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der spätabsolutistischen Verkehrsinfrastrukturpolitik der jeweiligen Staaten zurückzuführen. Während die geographischen Voraussetzungen vor allem im brandenburgischen Preußen dazu führten, daß die Verkehrsprobleme der Region durch den Bau von Kanälen gelöst werden sollten, konzentrierte man sich in Braunschweig nach mehreren gescheiterten Versuchen zur Verbesserung der Wasserwege auf die Landverkehrsinfrastruktur. 204 Im westlichen Sachsen und in Braunschweig wurde der Straßenbau seit den fünfziger Jahren, nur unterbrochen durch den Siebenjährigen Krieg, zu einem wesentlichen Bestandteil der Wirtschaftsförderung. Da die Verbesserung des Straßenwesens in Preußen zumindest bis 1786 kein zentrales Anliegen des Staates darstellte, kam die hier ohnehin kompliziertere Vereinheitlichung des Wegerechts ebensowenig voran wie der Aufbau effektiver Verwaltungen für Landstraßen und Wege.

201 Die Chaussee wurde erst in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gebaut. 202 H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 345; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 7. - Das Erfurter Gebiet war bis zum Reichsdeputationshauptschluß kurmainzisch. 203 Zum Ausmaß dieses Entwicklungsunterschiedes Abschnitte D.II. 1. und D.III. 1. 204 Zu den braunschweigischen Versuchen, zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert den Nutzen der Oker sowie einiger ihrer Nebenflüsse für den Verkehr zu erhöhen: Th. Müller, Schiffahrt und Flößerei, S. 51 ff., 116 ff.

VI. Die Gemeinwirtschaftlichkeit der Chausseen aus der Sicht der Gemeinen

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VI. Die Gemeinwirtschaftlichkeit der Chausseen aus der Sicht der Gemeinen Das Fortbestehen wesentlicher Elemente des feudalen Wegerechts behinderte in allen Staaten sowohl die Umsetzung der Bestimmungen der neuen Wegeordnungen als auch eine effektivere Arbeit der Wege Verwaltungen. Einen wichtigen Bestandteil dieses retardierenen Einflusses bildete die Haltung von Adel und Bauernschaft zum Straßenbau. Da nämlich Straßenbau und Straßenunterhaltung hauptsächlich durch Frondienste realisiert wurden, bestimmte auch der für den „gemeinen Mann" spürbare Nutzen einer besseren Straße deren Qualität. Eine nachhaltige Verbesserung der Infrastruktur hing daher nicht nur von der Erkenntnis ihrer Gemeinnützigkeit bei Herrschenden und Verwaltung, sondern auch bei der ländlichen Bevölkerung ab. Im Jahre 1830 stellte der Verein zur Beförderung des Gewerbsfleißes in Preußen einen Meinungswandel in dieser Beziehung fest: „Die alte Maxime, daß unfahrbare Straßen eine Wohltat seien, nützlich für die Landesverteidigung, und, weil sie den Verkehr im Lande aufhielten, Stellmacher und Gastwirthe bereicherten, hatte beßrer Einsicht weichen müssen."205 Für das 18. Jahrhundert kann jedoch die positive Haltung der ländlichen Bevölkerung gegenüber Plänen, eine Chaussee über ihr Gebiet zu führen, wie sie bei der Planung der Straße von Magdeburg nach Halle zum Ausdruck kam, nicht als typisch angesehen werden. Der Adel fürchtete um seinen Anteil an Geleitrechten und Zolleinkünften, wenn die Zentrale unter eigener Regie Landstraßen chaussierte. Gleichzeitig hatte er kein Interesse daran, daß „seine" Bauern ihre Frondienste zur Verbesserung öffentlicher Wege verwandten. 206 Auch „die Gemeinden ..., durch deren Gebiet eine Landstraße führte, waren vielfach geradezu an der Erhaltung der schlechten Wegeverhältnisse interessiert, da sie durch den Zwangsaufenthalt der Reisenden, durch Reparaturen, Vorspanndienste oder andere Hilfeleistungen profitierten." 207 Speziell Sattler und Schmiede, aber auch Bierbrauer sowie

21)5 C.F.W. Beuth, Vorrede zu Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues im preußischen Staat während der Jahre 1816 bis 1829 einschließlich, in: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen, 9. Jg., Berlin 1830, S. 242. 205

U.P. Ritter, Rolle des Staates, S. 145. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 14. - Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 172, stellte die Argumentation der „Chausseefeinde" folgendermaßen dar: „Je schlechter die Weege sind, desto länger müssen die Fuhren im Land sich aufhalten, desto mehr Fuhrlohn zahlen und desto stärker zehren. Es kann viel mehr Vieh ernähret, Heu, Stroh und Hafer theurer angebracht, die Lebensmittel höher versilbert, und den Wanderern gegen Zahlung fortgeholfen werden. Die Wirthe, Fuhrleute, Handwerker, Kaufleute, Bothengänger und alle übrige Handthierungs-Leute behalten durch länger im 207

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Besitzer von Gaststätten und Weinschänken hatten kein Interesse an einer Erhöhung der Reisegeschwindigkeit. Lokaler Kleinhandel, Fuhr- und Beherbungsgewerbe waren in der Regel aus Konkurrenzfurcht gegen eine Qualitätsveränderung einzelner Straßenzüge. 208 Im Herzogtum Braunschweig verdankten viele Landhandwerker ihre vom Geheimen Rat zu erteilende Konzession dem Umstand, daß für die Versorgung durch das städtische Handwerk oft die „Wege zu lang" waren. 209 Da die meisten Bauern nicht für einen entfernteren Markt produzierten, sahen sie in einer guten Landstraße keinerlei persönlichen Nutzen. Auch mit einer Verbesserung der Verkehrsverhältnisse zu erwartende Preissenkungen bildeten in weitgehend subsistenzwirtschaftlichen Systemen keinen Stimulus zur Straßenbesserung. Im Falle der Unpassierbarkeit der Straßen wichen jedoch viele Reisende auf die benachbarten Grundstücke aus. Hierin lag mitunter ein mittelbarer Anreiz für die Anlieger, ihre Unterhaltungsarbeiten auszuweiten.210 Umgekehrt orientierten sich die Chausseen fast ausnahmslos an den alten Landstraßen und nahmen in ihrer Linienführung keine Rücksichten auf eventuell vorhandene Bedürfnisse bäuerlicher Marktproduzenten. Auch die zeitgenössische Straßenbauliteratur forderte, bei der Wahl der Linienführung neben der Berücksichtigung von geographischen Bedingungen stets die kürzeste Verbindung zwischen den Städten anzustreben. So hieß es beispielsweise in einem 1807 erschienenen Buch dazu: „Straßenzüge müssen nicht Märkten, Dörfern und Wirtshäusern, sondern diese müssen den Straßenzügen nachgehen. Wenn ohne einen wesentlichen Nachteil der Passage, ohne Verlängerung des Weges oder sonstige Anstände ein Ort berührt werden kann, so kann dies allerdings geschehen; allein man kann nicht fordern, daß neue Straßenzüge sich mit der Nachsetzung ihrer wesentlichsten Bestimmung nach einem Markt oder Dorfe richten sollen. Diese werden sich von selbst an den Straßenzügen ansetzen."211 Land bleibende Reisende eine gute Losung, und dadurch bekommt die herrschaftliche Einnahme einen neuen Zuwachs." 208 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 85; B. Schulze, Geschichtliches über das norddeutsche Straßenwesen, in: Technikgeschichte, Bd. 23, Berlin 1934, S. 34; A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, S. 24; W. Asmus, Probleme der Verkehrsstruktur und Verkehrsentwicklung in Schleswig-Holstein und ihr Einfluß auf die gewerbliche Entwicklung 1800-1867, in: J. Brockstedt, Gewerbliche Entwicklung in Schleswig-Holstein, anderen norddeutschen Ländern und Dänemark von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Übergang ins Kaiserreich, Neumünster 1989, S. 187. - Später behinderte der Widerstand um ihre Arbeitsplätze bangender Transportarbeiter auch die Verwirklichung von Eisenbahnprojekten. Vgl. G. Fischer, Wirtschaftliche Strukturen am Vorabend der Industrialisierung des Regierungsbezirks Trier 1820-1850, Köln-Wien 1990, S. 68. 209

P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 562 f. M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 88; J. Salzwedel, Wege, S. 206. 211 J. Schemerl, Ausführliche Anweisung zur Entwerfung und Erhaltung dauerhafter und bequemer Straßen, Bd. 1, Wien 1807, S. 224. 210

VI. Die Gemeinwirtschaftlichkeit der Chausseen aus der Sicht der Gemeinen

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Die Landbevölkerung hatte zudem in der Vergangenheit mehrmals erleben müssen, daß die in mühevoller Fronarbeit unterhaltenen Landstraßen im Krieg den Truppentransporten dienten. Diese schlechten Erfahrungen mit Einquartierungen und Requirierungen hatten zur Folge, daß die Dorfbewohner die Lage von Haus und Dorf an einer Landstraße oft als nachteilig empfanden. 212 Auch die Gastwirte hatten ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Chausseebau. Sie begrüßten ihn, wenn er den Verkehr auf „ihre" Straße zog und lehnten ihn ab, wenn er die Reisegeschwindigkeit so stark erhöhte, daß weniger Gäste in ihrem Haus verweilen mußten. So wandte sich auch der Gastwirt und Amtmann Anton Gabriel Christian Cleve aus dem braunschweigischen Hahausen am 1. November 1783 an Herzog Karl Wilhelm Ferdinand, da er in der Verlegung der Frankfurter Heerstraße eine Verletzung seiner Kruggerecht4gkeit sah.213 Die in diesen Jahren geplante Chaussierung der wichtigsten Straßenverbindung von der Stadt Braunschweig zum südlichen Teil des Herzogtums sowie darüber hinaus nach Göttingen und Kassel sollte nämlich im Abschnitt zwischen Lutter und Seesen nicht auf der Linie der alten Frankfurter Heerstraße erfolgen. Die Planungen der GeneralWegebesserungs-Kommission sahen vor, die Straße in einer Entfernung von einem Kilometer an Hahausen östlich vorbeizuführen. Von einer solchen Begradigung der Linie erhoffte man sich eine Verringerung der Baukosten. In seiner Argumentation gegen die Verlegung führte der Gastwirt an, daß die neue Chaussee über für das Dorf wichtiges Wiesenland sowie durch landesherrliche Forsten geführt werden würde. Außerdem beklagte er die zu erwartende Vermehrung der Straßenbaudienste, da parallel zum Fernverkehr auf der neuen Chaussee der lokale Verkehr weiterhin die alte Heerstraße nutzen würde. Schließlich meinte der Wirt, daß die Reisen durch Hahausen den Einwohnern „Nahrung auf mancherlei Art" und den Reisenden mehr „Bequemlichkeit" gebracht hätten. Nur drei Wochen später erklärten auch die Bauern Jakob Ahrens, Tobias Kelp, Hans Heinrich Kassebaum und Christian Hoffmeister, daß ihnen durch den Bau der Chaussee über ihre Wiesen „unerträglicher Schaden" entstünde.214 Zum einen befürchteten sie, daß die direkt an der Straße gelegenen Teile ihres Landes „beständigem Abhuten unterworfen seyn" würden. Zum anderen seien die als Entschädigung gewährten Grundstücke zu unfruchtbar und müßten noch auf eigene Kosten urbar gemacht werden. Beide Petitionen nutzten jedoch nichts. Eine herzogliche Resolution vom 22. Juni 1784 stellte fest, „daß der utilitas publica die Verlegung obgedachter Heerstraße erfordert, und das Recht zur Verlegung der Heerstraßen einem Landesherrn in solchem Falle

212

L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 58; W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, S. 57. 213 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10652, Bl. 15 ff. 214 Ebenda, Bl. 2 f.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

allemal zusteht, auch weder in dem vom Supplicenten angeführten Privilegio de 1675, noch in dem Vergleich de 1747 versprochen ist, daß die durch Hahausen gehende Heerstraße nicht verlegt werden solle ...". 2I5 Dieses Beispiel veranschaulicht nicht nur Interessenkollisionen, wie sie bei Verkehrsbauten immer wieder vorkommen können. Es zeigt auch, daß für den überwiegenden Teil der Landbevölkerung, wie den hier genannten Wiesenbauern, eine verbesserte Verkehrsverbindung noch keine positive Bedeutung hatte. Die Gemeinnützigkeit der Straßen entwickelte sich also erst mit der Teilnahme der „Allgemeinheit" an der Marktproduktion. Darüberhinaus bedeutete Gemeinnützigkeit nicht, daß die durch die Verbesserung der Kommunikation hervorgerufene Ausweitung des Binnenhandels und die damit verbundenen generellen Veränderungen der Marktstrukturen zu einem sozial und regional ausgewogenen Wohlstandszuwachs führten. Ein weiteres Problem bestand in der häufig feststellbaren Unzufriedenheit der Bauern mit den Regelungen über die Enteignung der zum Chausseebau benötigten Grundstücke. Auch die Hahausener Bauern waren mit den Entschädigungszahlungen für den von ihnen abgetretenen Boden nicht zufrieden. 216 Sie waren allerdings in Braunschweig schon seit der Wegeordnung von 1704 zur Abtretung von Grund und Boden für Straßenbauzwecke verpflichtet. 217 Die Entschädigung stellte in der Regel kein vollwertiges Äquivalent für den verlorenen Boden dar, denn sie bestand in der Anfangszeit des Chausseebaus meistens aus nicht mehr benötigten Teilen der ehemaligen Landstraßen. 218

V I I . Technische und finanzielle Probleme des beginnenden Chausseebaus Die ersten Chaussierungen wurden natürlich auch von zahlreichen technischen Problemen begleitet. Die Erd- und Pflanzarbeiten bei der Herstellung von Gräben, Wällen und Nutzbaumpflanzungen, die vor allem als Straßenbegrenzung angelegt wurden, um das zuvor nicht unübliche Befahren der anliegenden Grundstücke zu vermeiden, litten unter der Unlust der Frondienste lei-

215 Ebenda, Bl. 54. Die Chaussee wurde tatsächlich an Hahausen vorbei gebaut und führt heute als Bundesstraße 248 durch Neuekrug, nicht aber durch Hahausen. Vgl. Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 232. 216 2,7 218

Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10652, Bl. 78. J. Salzwedel, Wege, S. 219. Vgl. auch Abschnitt G.V.

VII. Technische und finanzielle Probleme des beginnenden Chausseebaus

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Stenden Bauern. 219 Die Qualität des Baukörpers wurde zusätzlich durch deren technische Unkenntnis beeinträchtigt, da die von Trésaguet entwickelte Bauweise eine spezielle Anordnung der Steine und des Schotters erforderte. So schätzte die braunschweigische Wegebesserungskommission im Jahre 1789 selbst ein, daß die bis 1771 auf der Magdeburger Straße im Abschnitt von Braunschweig bis Sunstedt durchgeführten Arbeiten nur aus „lauter Flickwerk" bestanden und man hier noch einmal von vorne beginnen müßte. 220 Ein noch größeres Problem stellte jedoch in weiten Teilen des Untersuchungsgebietes die Beschaffung des Straßenbaumaterials dar. Im nördlichen Teil des Herzogtums Braunschweig, wie auch in der Altmark sprach man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach von „Sandchausseen", die eher herkömmlichen Landstraßen als eigentlichen Steinchausseen geähnelt haben dürften. 221 In analoger Weise wurden Teile der Magdeburg-Leipziger Chaussee wie andere vor 1807 in Preußen hergestellte Straßen als „Kieschausseen" bezeichnet. 222 Der Materialmangel in vielen Gegenden führte dazu, daß die Steine oft über weite Strecken transportiert werden mußten. Da sich dieser Transport nicht über unentgeltliche Spanndienste abwickeln ließ, stellte er einen wesentlichen Kostenfaktor dar. 223 Eine Landesbeschreibung vom Regierungsbezirk Magdeburg aus dem Jahre 1820 berichtet! „Bei Plötzky im ersten Jerichowschen Kreise, in der Nähe der Stadt Gommern wird theils in dem Königlichen Forstgrund, theils in den Äckern der Einwohner in sogenannten Nestern (kleinen Steinbrüchen) Bruchstein gefunden, der wegen seiner vorzüglichen Brauchbarkeit zu Mauerarbeiten und zu Straßenpflasterungen nach nahen und entfernten Gegenden in großer Menge versendet wird. Gegenwärtig werden ... behauene Plötzky er Steine zur Umpflasterung des Breiten Weges in Magdeburg verwendet." 224 Die Straßenbaumaterialien hatten als knappe Güter einen solchen Wert, daß im Jahre 1797 in Braunschweig eine herzogliche Verordnung das Entwenden der Steine von den neuen Chausseen verbieten mußte. 225 Auch die erste deutsche Staatseisenbahn von Braunschweig nach Bad

219

B. Schulze, Geschichtliches über das norddeutsche Straßenwesen, S. 32. Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 12. 221 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 12. Wenn P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 553, einschätzt, daß am Ende des 18. Jahrhunderts „alle anstehenden technischen Probleme" des Wegebaus im Herzogtum Braunschweig gelöst waren, trifft das allenfalls auf die Theorie des Straßenbaus zu. 222 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 218 f.; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 25. 223 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 60. 224 C. von Seydlitz, Der Regierungs-Bezirk Magdeburg, S. 29. 225 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10611, Bl. 60. 220

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Harzburg sollte unter anderem Materialien für den Straßenbau aus dem Harz in den nördlichen Teil des Herzogtums transportieren. 226 Der Chausseebau mit seinen höheren Aufwendungen für Materialtransport und andere Straßenbauarbeiten war nur zum geringeren Teil über unentgeltliche Leistungen zu bewerkstelligen. Neben den allgemeinen gesellschaftspolitischen Motiven resultierte die Beibehaltung der Wegefronen somit auch aus fiskalischen Überlegungen. Vielfach wurde die Ausführung von Chauseebauprojekten unterbrochen, nachdem das Ausmaß der Kosten überschaubar geworden war. Sowohl in Sachsen als auch in Braunschweig zeichnete sich seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die tatsächliche Höhe der Chausseebaukosten ab. In Sachsen sanken die Chausseebauetats seit 1785 kontinuierlich. 227 Das führte dazu, daß in den später an Preußen abgetretenen Gebieten zwischen 1794 und 1806 keine neue Chaussee fertiggestellt wurde. 228 Der sächsische Kurfürst Friedrich August III. vertrat nämlich noch im Jahre 1800 die Auffassung, daß wegen der Erhebung von Chausseegeldern staatliche Zuschüsse für den Straßenbau nicht nötig wären. Erst ab 1802 konnte sich das Finanzkollegium mit seiner Forderung nach höheren Straßenbauausgaben durchsetzen. Um die Effektivität dieses finanziellen Einsatzes zu erhöhen, wurden ab 1811 Kreiskassen gegründet. Diese sollten die bis dahin in den Ämtern verbliebenen Straßenbausurrogatgelder innerhalb der Kreise konzentrieren und so deren Umverteilung von vielen einfachen Unterhaltungsarbeiten zu wenigen Chausseebauprojekten ermöglichen. Die Gemeinden erhielten ab 1806 für Straßenbauzwecke zinslose Kredite vom Staat.229 Der Straßenbau in Sachsen galt daher im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur als Instrument zur Erhöhung der öffentlichen Einnahmen. Er wurde auch schon als Mittel regionaler Wirtschaftspolitik betrachtet und eingesetzt. Die vermehrten Arbeiten und die Wiederherstellung der durch den Krieg zerstörten Wege hatten allerdings ab 1807 eine erneute Erhöhung der Wegegeldsätze zur Folge. 230 Die jährlichen Einnahmen der braunschweigischen Wegebesserungs-Casse beliefen sich um 1780 auf etwa 15.000 Taler. Sie setzten sich aus den Beiträgen der Kammer-Casse (3000 Taler), der Landrentrei-Cassen (6000 Taler) sowie Anteilen aus der Biersteuer (4000 Taler) und Branntweinaccise (2000 Taler) zusammen.231 Ein Mitglied der braunschweigischen Wegebesserungskommission legte 1789 in einem ausführlichen Bericht dar, daß die Mittel dieser Kasse 226

H.I. Helmke, Verkehr im Raum zwischen Weser und Elbe, S. 52. A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 24 ff. 228 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 42. 229 Ebenda, S. 38; A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 35. 230 Ebenda, S. 40 ff. 231 G. Ph. von Bülow, Zur Erläuterung der Landschaftsordnung des Herzogthums Braunschweig von 1820, Braunschweig 1831, S. 44 f. 227

VII. Technische und finanzielle Probleme des beginnenden Chausseebaus

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und die Einnahmen aus den Wegegeldern nicht für die Chaussierung der wichtigsten Fernhandelsstraßen und schon gar nicht für die Verwirklichung weiterer Chaussierungsprojekte ausreichten. 232 Auch die Unterhaltung der einmal chaussierten Straßen wurde durch das wachsende Verkehrsaufkommen mit zunehmend schwereren Fuhrwerken immer teurer. Nachdem 1790 das Finanzkollegium für einen Zeitraum von fünf Jahren 125.000 Reichstaler für den Straßenbau bereitgestellt hatte, suchte man 1795 auch in Braunschweig den Ausweg aus der Finanzknappheit in der Erhebung von Wegebenutzungsgebühren für befestigte Straßen, sogenannten Chausseegeldern. 233 Diese sollten das Defizit der Wegebesserungs- und Unterhaltungskasse ausgleichen, das nach Angaben der Wegebesserungskommission im Jahre 1794 5.367 Taler betrug. 234 Die Einführung des Chausseegeldes wurde durch die Kommission mit dem Grundsatz, daß die Kosten durch den „Theil des Publicums ..., welcher den Vorteil guter Wege unmittelbar genießet", aufzubringen sei, wobei „kein Stand, keine Corporation und keine Person, außer den Feldmarkinteressenten eines Orts ... von Entrichtung desselben frey sey", begründet. 235 Gegen eine alleinige Finanzierung aus den allgemeinen Steuern sprach auch, daß man die ausländischen Nutzer an den Kosten beteiligen wollte, zumal in den Nachbarländern analoge Abgaben erhoben würden. 236 Am 26. Juli 1796 erließ Herzog Karl Wilhelm Ferdinand eine entsprechende Verordnung. 237 Die Zwangsfuhren und Handdienste leistenden „Landsmänner" wurden von der Gebühr ebenso befreit wie Ortseinwohner auf dem Wege zu ihren Ländereien, die Post, das Militär sowie Feuerlöschungsfuhren. Darüber hinaus sollten die Wegegeldeinnahmen genutzt werden, um alle Dienste und Fuhren für den Chausseebau zu vergüten. Die Wegebaukommission hoffte, daß durch die Chausseegelderhebung das entstandene Defizit auszugleichen und die zukünftige Unterhaltung zu finanzieren sei. 238 Dies erwies sich jedoch als Irrtum, so daß bereits im Jahre 1802 die Chausseegeldbefreiung für Herrendienste leistende Bauern wieder abgeschafft wurde. 239

232

Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658. P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 39 ff. 234 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10659. 235 Ebenda, Bl. 5 f. 236 Im Kurfürstentum Hannover war die Wegegelderhebung zur Finanzierung des Kunstsstraßenbaus bereits 1768 eingeführt worden. A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 59. 233

237 238 239

Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 60 ff. Ebenda, Bl. 8. P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 41.

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C. Die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur bis 1815

Die Krise der Staatsfinanzen ließ auch den preußischen Chausseebau stagnieren, bevor er so richtig angefangen hatte. 240 Ein fester Haushaltstitel für Chausseebauten bestand im 18. Jahrhundert noch nicht. Der von Schulenburg und Heynitz vorgetragene Plan eines Chausseenetzes für die mittleren und östlichen Provinzen Preußens wurde 1788 vom Kabinett, vor allem auf Betreiben Wöllners, wegen der schlechten Finanzlage abgelehnt.241 Als 1793 die Chaussee von Berlin nach Potsdam fertig war, erkannte man, daß die Chausseegelder die Bau- und Unterhaltungskosten kurzfristig nicht aufwiegen würden. Während für die Charlottenburger Chaussee noch 30.000 Thaler bewilligt wurden, mußten seit der Jahrhundertwende Neubauten aus den durch die Unterhaltungsaufwendungen verminderten Chausseegeldeinnahmen finanziert werden. 242 Dadurch kam der Chausseebau beinahe zum Erliegen. Die das Gebiet der späteren Provinz Sachsen durchziehende, ursprünglich als zentrale OstWest-Verbindung von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung konzipierte Chaussee Berlin-Magdeburg wurde nur noch bis Brandenburg fertiggestellt und auch der Abschnitt zwischen Magdeburg und Groningen blieb vorerst unvollendet.243 Ein Vorschlag des Ministers des Accise-, Zoll-, Kommerzial- und Fabrikwesens, Karl Gustav Struensees, den Straßenbau über die Ausgabe von Aktien zu finanzieren, wurde abgelehnt.244 Die Zeit der napoleonischen Kriege war mit einem Aufschwung des Straßenbaus verbunden, wofür militärstrategische Überlegungen entscheidend waren. Sowohl im Königreich Westfalen als auch auf dem Gebiet seines sächsischen Verbündeten setzte Kaiser Napoleon die Verbesserung derjenigen Straßen durch, die für die Beweglichkeit seiner Truppen von Bedeutung waren. 245 Dabei ging es vor allem um die Verbindungen von Braunschweig und Magdeburg, sowie Kassel und Halle und um eine Chaussee von Weißenfels über

240 Im Jahre 1786 hinterließ König Friedrich II. seinem Neffen einen Staatsschatz von mehr als 50 Millionen Talern. Elf Jahre später dagegen fand Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) bei seiner Thronbesteigung über 30 Millionen Taler Staatsschulden vor. Vgl. E. Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500-1870), Wiesbaden 1974, S. 60 ff.; W.Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 159 ff.; F.W. Henning, Preußische Thesaurierungspolitik, S. 124. 241 B. Schulze, Das preußische General-Chausseebau-Departement, S. 156 ff. 242 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 25 f. 243 J.A.F. Hermes / J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch, 1 .Teil, S. 127. - H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 25, gesteht den Planern der Straße ohne nähere Begründung nur militärische Motive zu. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 44 und 49 f., betont hingegen zu Recht, daß in erster Linie die Herstellung von Verbindungen zwischen den Residenzen bezweckt war. Auch wirtschaftliche Gesichtspunkte wogen noch schwerer als der rein militärische Aspekt. 244 B. Schulze, Das preußische General-Chausseebau-Departement, S. 159. 245 A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 48; A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 49.

VII. Technische und finanzielle Probleme des beginnenden Chausseebaus

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Leipzig und Torgau auf die Oder zu. Außerdem wurden im Königreich Westfalen Projekte entwickelt, die bei ihrer Verwirklichung die Raumstruktur des Untersuchungsgebiets stark verändert hätten. So plante man in der zuständigen westfälischen Generaladministration der Brücken, Chausseen und öffentlichen Gebäude eine Direktverbindung von der westfälischen Hauptstadt Kassel über den Harz nach Magdeburg. 246 Die Franzosen griffen auch die Idee eines RheinWeser-Elbe-Kanals wieder auf. 247 Letztlich verhinderte die kurze Lebensdauer des Königreichs Westfalen und die Konzentration auf die militärischen Zwekken dienenden Verkehrsbauten einen bedeutenderen Fortschritt im Chausseebau. Die finanziellen Lasten der napoleonischen Kriege, die generelle Vernachlässigung ziviler Angelegenheiten sowie die außergewöhnliche Beanspruchung der Straßen durch Truppentransporte und Kriegshandlungen führten vielfach zu einer Verschlechterung der Straßenqualität. Dem stand allerdings gegenüber, daß die deutschen Verwaltungen infolge der französischen Besatzung einem guten Straßennetz sowie speziell einer zentralisierten Straßenadministration eine wesentlich wichtigere Rolle als zuvor beimaßen. Außerdem genügten auch wenige Straßenbauprojekte, um die Kenntnisse über die nach wie vor fortschrittlichere französische Straßenbautechnik unter den deutschen Straßenkonstrukteuren zu verbreiten. 248 Es bleibt also festzuhalten, daß der Chausseebau auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen mehr unter etatistischem Blickwinkel als unter wirtschafts- und regionalpolitischen Aspekten betrachtet wurde. Es läßt sich über die preußische Perspektive hinaus feststellen, daß eine Steigerung der Infrastrukturinvestitionen nur über eine prinzipielle Änderung der Finanzverfassung im Rahmen einer umfassenden Gesellschaftsreform möglich war. Finanzierung und Frondienst stellten sich als die auch untereinander verflochtenen Hauptprobleme für den neu entwickelten Straßenbau heraus. 249 Schließlich sind auch die Rechtszersplitterung und die „unentwirrbaren Systeme von Wegegeldern, Mauten, Verkehrsabgaben und Brückengeldern" 250 als Vorbelastung im Modernisierungsprozeß des Straßen- und Wegewesens anzusehen.

246 W. Kohl, Die Verwaltung der östlichen Departements des Königreichs Westfalen 1807-1814, Berlin 1937, S. 177 f. 247 O. Most, Binnenschiffahrt, S. 44. 248 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 353 f.; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 115; A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 49. 249 J. Salzwedel, Wege, S. 204. 250 H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 8.

D. Die Entwicklung des provinzialsächsischen und des braunschweigischen Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts In diesem Abschnitt wird die jeweilige Entwicklung der Chausseenetze in der Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig chronologisch dargestellt. Dabei läßt sich die Darstellung von Grundzügen der Straßenbaupolitik nicht ausklammern. Die Ziele und Instrumente der Strukturpolitik sind allerdings Gegenstand einer systematischen Betrachtung in den Abschnitten Ε bis I. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht hingegen die Messung der Straßenverkehrsinfrastrukturqualität in zeitlicher und regionaler Dimension. Aus diesem Grunde wird dem Kapitel eine Erörterung der Messungsmethoden vorausgeschickt. In welchem Maße diese Methoden in der historischen Forschung anwendbar sind, hängt natürlich von der Qualität des vorgefundenen Datenmaterials ab.

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation Bei der Suche nach geeigneten Indikatoren, die die Qualität der Straßenverkehrsinfrastruktur und im hier untersuchten Zeitraum damit den Entwicklungsstand des gesamten Straßenverkehrswesens widerspiegeln, 1 kann und soll sich die verkehrshistorische Forschung auf die Erfahrungen der systematischen Nachbarwissenschaften, beispielsweise der Verkehrsgeographie, stützen. Diese bietet sehr unterschiedliche Ausgangspunkte und Methoden für die Analyse von Verkehrswegestrukturen an. Das Spektrum reicht von der verbalen Beschreibung des Verkehrsnetzes bis zur Modellbildung mit Hilfe statistischer und anderer mathematischer Methoden, wobei für Verkehrswegestrukturanalysen vor allem graphentheoretische Ansätze und Gravitationsmodelle verwendet werden. 2 Nachdem die Wirtschaftsgeschichte wie die Geographie ihre „quanti-

1

Vgl.AbschnittC.il. Vgl. u.a. J. Nipper / U. Streit, Modellkonzepte zur Analyse, Simulation und Prognose raum-zeit-varianter stochastischer Prozesse, in: G. Bahrenberg / W. Taubmann (Hrsg.), Quantitative Modelle in der Geographie und Raumplanung, Bremen 1978; J. Leykauf / D. Scholz, Quantitative Methoden der Strukturforschung in ihrer Anwen2

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

143

tative Revolution" erlebt haben, sollte auch die historische Infrastrukturforschung nach der Entwicklung analoger Modelle aus ihrem Bereich streben, um auf diesem Wege Theorien unterschiedlicher Reichweite erarbeiten zu können.3 Der Forschungsstand verlangt allerdings, in der vorliegenden Studie das Schwergewicht auf die Datensammlung und -systematisierung zu legen.4 Schon aus diesem Grunde mußte auf eine Darstellung der räumlichen Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in der Form von mathematischen Modellen verzichtet werden. Eine graphentheoretische Analyse des Chausseenetzes der preußischen Provinz Sachsen und des Herzogtums Braunschweig hätte überdies auch anderer Betrachtungsebenen bedurft. Das Untersuchungsgebiet kann nicht als „Region", auch nicht als „Verkehrsregion" bezeichnet werden. 5 Die preußische Provinz Sachsen war ein aus den bereits genannten politischen Gründen entstandenes administratives Gebilde.6 Innerhalb der Provinz festzulegende „Verkehrsräume", die sich als Graphen sinnvoll betrachten ließen, reichten oft über die Grenzen hinaus, wie die Gebiete um Halle-Leipzig oder Gotha-Erfurt-Weimar. Untersuchungen des Verkehrsnetzes kleinerer Teilgebiete, wie sie beispielsweise für den Drömling erfolgten, 7 lagen nicht in der Intention der Arbeit. Sie sind außerdem in Bezug auf Chaussee- wie auch Eisenbahnnetz erst ab einem Grad der Netzverdichtung von Interesse, wie er nicht vor dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erreicht wurde. Das Herzogtum Braunschweig bestand seinerseits neben den sehr kleinen Exklaven aus drei Teilgebieten, die von ihrer Verkehrswegestruktur her nicht isoliert betrachtet werden können. Die Entwicklung verkehrsgeographisch orientierter Modelle für das Untersuchungsgebiet im 19. Jahrhundert muß also weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. Ohnehin ist die Konfrontation raumtheoretischer Modelle mit konkret historisch entstandenen Raumfaktoren ein noch weitgehend ungelöstes Problem, „denn die reale Erschließung des Raumes ist von einer Reihe von Faktoren abhängig, die in der Abstraktion der Netztheorie nicht erfaßbar sind."8 Die-

dung in der Geographie und Territorialplanung, in: Strukturen und Prozesse in der Geographie. Beiträge zur quantitativ arbeitenden Geographie, Gotha 1987. 3 Vgl. u.a. K.H. Jarausch / G. Arminger / M. Thaller, Quantitative Methoden in der Geschichtswissenschaft. Eine Einführung in die Forschung, Datenverarbeitung und Statistik, Darmstadt 1985; D. Ruloff, Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft, S. 7 f., 260 ff., 447 ff. 4 W.H.Schröder, Historische Sozialforschung, S. 15. Eine ähnliche Herangehensweise erfolgte beim DFG-Projekt zur historischen Statistik Deutschlands. Vgl. W. Fischer / A. Kunz, Quellen und Forschungen. 5 Vgl. G. Voppel, Verkehrsgeographie, S. 137 ff. 6 Vgl. Abschnitt C.I. 7 B. Tauché, Bevölkerungsentwicklung der Drömlingsgemeinden, S. 179 ff. 8 G. Voppel, Verkehrsgeographie, S. 38.

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

se Faktoren liegen zum größten Teil in strukturpolitischen Entscheidungen oder historisch-geographischen Sachzwängen begründet und bilden eben das Arbeitsfeld des Historikers. 9 Allein aus der Netztheorie lassen sich beispielsweise Wirkungen ehemaliger administrativer Grenzen oder militärstrategischer Überlegungen nicht erklären. Die Beschäftigung mit den verschiedenen verkehrsgeographischen Ansätzen erleichterte jedoch die Suche nach geeigneten Indikatoren für die quantitative Beschreibung der jeweils erreichten Verkehrsinfrastrukturqualität. Der „traditionellen" Geographie dienen vor allem die Netzdichte (Trasse / Fläche) und die Anzahl der Verkehrswege, die zu einem Ort führen, als Indikatoren für den Entwicklungsstand eines regionalen Verkehrsnetzes. Sein ökonomischer Nutzen wird an Kapazität und Trassenbelastung, seine Qualität durch eine Zeitaufwandanalyse gemessen. Ergänzt werden diese Analysen durch qualitative Aussagen über die Beeinflussung des Straßennetzes durch seine historische Entwicklung sowie natürliche und wirtschaftliche Faktoren. 10 Netzdichte, Kapazität der Verkehrswege und Geschwindigkeit der Verkehrsmittel werden an anderer Stelle als Indikatoren für die Raumerschließungspotentiale der Verkehrswege und -mittel benannt, die die spezifische Leistungsfähigkeit von Verkehrssystemen widerspiegeln. 11 Kapazität im Sinne von Nutzungspotential stellte für den Straßenverkehr des 19. Jahrhunderts bei den Verkehrsmitteln, jedoch nicht bei den Verkehrswegen einen Engpaßfaktor dar. Wichtig ist hingegen die Unterscheidung zwischen unbefestigten Landstraßen und Chausseen, da letztere für den kontinuierlichen Verkehr mit schwereren Fahrzeugen wesentlich geeigneter waren. Der eigentliche Engpaß lag also nicht in der begrenzten Aufnahmefähigkeit, sondern in der geringen Belastbarkeit der Landstraßen. Die Bestimmung der Kapazität von einzelnen Straßen oder Straßenverkehrssystemen einer bestimmten Region erfolgt also durch die implizite Auswahl der Chausseen aus der Menge der Landverkehrswege. Darüberhinausgehende direkte Kapazitätsmessungen sind im vorliegenden Fall nicht möglich. Mit gewissen Einschränkungen wird jedoch die Kapazität eines Verkehrsweges auch durch seine Nutzung widergespiegelt. 12 Die realisierte Nutzung des

9

Der Historiker muß für die Erstellung der Modelle ohnehin die Daten liefern. H. Barsch / G. Kind / D. Scholz / E. Scholz, Geographische Arbeitsmethoden, 2. Aufl., Gotha-Leipzig 1979, S. 183 ff. 11 G. Voppel, Verkehrsgeographie, S. 68. 12 Vgl. dazu U. Müller, Die Verkehrsintensität auf den preußischen Staatschausseen unter dem Einfluß von Eisenbahn und Industrialisierung, in: W. Fischer / U. Müller / F. Zschaler, Wirtschaft im Umbruch. Strukturveränderungen und Wirtschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Lothar Baar zum 65. Geburtstag, St. Katharinen 1997, S. 26 ff. 10

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

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Straßennetzes hängt allerdings nicht in erster Linie vom Maß ihrer Nutzbarkeit ab. Sie wird in viel stärkerem Umfang durch den Entwicklungsstand der Verkehrsmittel und die regionalen Handelsströme bestimmt. Immerhin stieg jedoch aufgrund der Verbesserungen in der Chaussierungstechnik das maximale Ladungsgewicht pro Pferd von 10-16 Zentner im Jahre 1820 auf 28-32 Zentner im Jahre 1850 und erreichte damit die fur England bereits für den Anfang des Jahrhunderts angegebenen Werte. 13 Auch die Verringerung der Reisezeiten war auf die Verbesserung von Infrastruktur und Verkehrsmitteln zurückzuführen. Konkrete Angaben über Reisegeschwindigkeiten finden sich vor allem in postgeschichtlichen Studien. Ein Vergleich der ordinairen Post im Jahre 1802 und der Schnellpost im Jahre 1841 auf verschiedenen preußischen Routen zeigt erhebliche Verkürzungen der Reisezeiten auf. Diese lagen 1841 zwischen 58 und 76 % unter den Werten von 1802. Zwischen den beiden wichtigsten Städten der Provinz Sachsen, Magdeburg und Halle, reduzierte sich die Reisedauer von 25 auf 6 Stunden.14 Vor allem nach der Einführung der preußischen Schnellposten in den zwanziger Jahren beschleunigte sich der Verkehr um bis zu 40 %. Dieses Ergebnis resultierte aber nicht allein aus der Konstruktion der „leichten" Wagen und betriebsorganisatorischen Verbesserungen. Unabdingbare Voraussetzung für die Geschwindigkeitssteigerung war die Existenz einer Chaussee.15 Allein durch Chaussierung reduzierten sich Fahrzeiten der Extra- und Schnellposten um 25 %. 1 6 Wenn Preußen 1837 über ein „regional gleichmäßiges Schnellpostnetz" verfügte, so war das nur möglich durch die Chaussierung aller wichtigen Poststraßen. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit des Personenverkehrs betrug in den dreißiger Jahren 13-18 km/h. 17 Eine grundlegende Erhöhung der Reisegeschwindigkeit erfolgte aber erst durch den Eisenbahnverkehr. Der Reisende

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W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1909, S. 274. Vgl. Abschnitt C.II. 14 K. Herrmann, Personenbeförderung, S. 6. 15 K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 53 ff. - Schnellposten waren Postwagen mit 4, 6, 9, 10 oder 16 Sitzen, die allein dem Personentransport dienten. Vgl. auch K. Schwarz, Die Entwicklung der deutschen Post, Berlin 1931, S. 113 f. 16 K. Herrmann, Personenbeförderung, S. 7; A. Zatsch, Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Automobilzeitalters, Konstanz 1993, S. 379. 17 Berechnet nach: C. Neutsch, Der Beitrag der Post zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration in Deutschland während der Zeit des Deutschen Bundes, in: E. Schremmer (Hrsg.), Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht, Stuttgart 1996, S. 129. Vgl. auch H. Witte, Lebensadern der Wirtschaft. Die ökonomischen Auswirkungen des Eisenbahnbaus, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 170, sowie die Angaben über England und das 18. Jahrhundert in Abschnitt C.II. 10 Uwe Müller

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

konnte nun beispielsweise in 2,5 Stunden von Halle nach Magdeburg fahren. 18 Während im Jahre 1857 mit der Eisenbahn Berlin von Braunschweig aus in 4 3 / 4 Stunden erreichbar war, benötigte der Landbewohner des Amtes Vorsfelde fiinf Stunden, um mit der Postkutsche in die Landeshauptstadt zu gelangen. 19 Die Netzdichte widerspiegelt unmittelbar die Ausstattung einer Region mit Verkehrsinfrastruktur. Der Wert ihrer Bestimmung steigt noch, wenn es wie im vorliegenden Fall möglich ist, mit der Chausseenetzdichte eine Größe zu ermitteln, die das qualitative Niveau der Verkehrswege berücksichtigt. Die Messung der Netzdichten mit dem Ziel, einen Vergleich zwischen den Staaten des Deutschen Bundes anzustellen, wird allerdings durch die unterschiedlichen Erfassungskriterien in den Ländern erheblich erschwert. „So erschienen einerseits nur chaussierte Straßen in der Statistik, andererseits fanden alle Staatsstraßen unabhängig von ihrem Ausbauzustand bei den Längenangaben Berücksichtigung." 20 Aus diesem Grunde ist entsprechenden Angaben in der Literatur, die einen exakt quantifizierbaren Netzdichtenvergleich zwischen verschiedenen Staaten suggerieren, mit großer Skepsis zu begegnen. Schon ein Vergleich zwischen der preußischen Provinz Sachsen und dem benachbarten Herzogtum Braunschweig ist problematisch. Die nachfolgenden Ausfuhrungen werden allerdings zeigen, daß das Herzogtum Braunschweig über das dichtere Chausseenetz verfügte und damit auch innerhalb des Deutschen Bundes eine Spitzenposition einnahm.21 Nach einheitlichen Kriterien erhobene Daten über preußische Provinzen und Regierungsbezirke liegen hingegen aus verschiedenen Quellen vor und weisen untereinander nur kleinere Unstimmigkeiten auf. 22 Sie werden vor allem für die Darstellung des auch hier feststellbaren West-Ost-Gefälles herangezogen.23 Ein regionaler Vergleich innerhalb des Untersuchungsgebietes war jedoch nur möglich, wenn eine ausreichend große Zahl von Netzdichtenangaben der Teilräume existierte. Daher mußten für die preußische Provinz Sachsen Daten 18

K. Herrmann, Personenbeförderung, S. 10. E.W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung, S. 66 f., Anm. 4. 20 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 356. 21 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 274, Tabelle 31 gibt für 20 deutsche Staaten im Jahre 1852 Länge und Netzdichte der „chausseemäßig gebauten Straßen" an, ohne die Unterschiede in den Erfassungsmethoden seiner Quellen zu berücksichtigen. In seiner Statistik liegt das Herzogtum Braunschweig mit 477 k m / 1000 km 2 vor SachsenMeiningen mit 244 km / 1000 km 2 , also mit weitem Vorsprung, an der Spitze, was offensichtlich an der im Vergleich zu anderen Staaten exakteren Erfassung der Braunschweigischen Baudirektion gelegen hat. Gleichwohl war das braunschweigische Chausseenetz eines der dichtesten im Deutschen Bund. 22 Vgl. A 1 und A 3 . 23 Vgl. Abschnitt D.II.2. 19

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

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auf Kreisebene erhoben werden. Die Auswertung der Angaben für immerhin 41 Kreise ließ die Möglichkeit der Darstellung regionaler Differenzen erwarten. Dabei erwies sich nicht die Ermittlung der Fläche und der Einwohnerzahlen, sondern der Straßenlängen, die dazu jeweils ins Verhältnis zu setzen waren, auf Kreisebene als problematisch. Die Daten konnten nur aus zeitgenössischen statistischen Erhebungen entnommen werden, da eine nachträgliche Berechnung aus historischen Karten oder aufgrund von Chausseelisten zu große Ungenauigkeiten aufwiese. Die Analyse der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erarbeiteten Kreisbeschreibungen ergab, daß diese erstens nicht flächendeckend vorhanden sind, zweitens große Unterschiede in der Ausführlichkeit der quantifizierenden Darstellung und Auswahl der statistischen Größen aufweisen und drittens innerhalb eines zu großen Zeitabschnittes erarbeitet wurden, so daß ein Vergleich zwischen den Kreisen auf der Grundlage dieses Materials nicht möglich ist. 24 Einige Kreisbeschreibungen enthalten immerhin ausführliche Informationen über Kreis- und Gemeindechausseen, insbesondere über die Finanzierung von Bau und Unterhaltung dieser Straßen im Rahmen der Kreis- und Gemeindehaushalte.25 Ein Vergleich der Chausseenetzdichten aller Kreise bei gleichzeitiger Einbeziehung von Eisenbahnlinien und Wasserstraßen wird durch eine für das Jahr 1862 erfolgte Erhebung des Preußischen Statistischen Büros ermöglicht. Das Büro nutzte für diese Erhebung Karten, von den Bezirksregierungen eingesandte Grundrisse neuer Anlagen sowie Publikationen der Eisenbahngesellschaften und die Mitteilungen des preußischen Handelsarchivs. 26 Die Ergebnisse für alle preußischen Kreise wurden 1863 veröffentlicht. 27 Dabei unterteilte man die Chausseen in Staatsstraßen, Bezirks- und Kreisstraßen, Gemeindestraßen sowie Aktien-, Bergwerks- und Privatstraßen. 28 Ein Vergleich mit insgesamt 39 analogen Angaben aus 17 verschiedenen Kreisbeschreibungen der Jahre 1858 bis 1864 bestätigte die Zuverlässigkeit der Daten, die in der Anlage 20 wiedergegeben werden. 29

24 Zur Erstellung der Kreisbeschreibungen: R. Boeckh, Die Bearbeitung von Kreisstatistiken durch die königlichen Landräthe in Folge des Ministerialrescripts vom 11. April 1859, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, 1. Jg., Berlin 1861, S. 307 ff. 25 Vgl. Abschnitt I. 26 Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 1. Jg., Berlin 1863, S. 500. 27 von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 206 ff. 28 In der Provinz Sachsen existierten zu dieser Zeit keine Bezirksstraßen. 29 In 32 von 39 Fällen stimmen die Angaben aus der jeweiligen Kreisbeschreibung und der Tabelle des Statistischen Büros überein. Diese 32 Fälle beinhalten Daten über die Kreise Bitterfeld, Gardelegen, Halberstadt, Heiligenstadt, Magdeburg, Mansfelder Gebirgskreis, Mühlhausen, Stendal, Weissensee, Wittenberg, Worbis und Ziegenrück. Von den sieben Fällen, bei denen Abweichungen auftraten, resultiert das in zwei Fällen,

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Die Analyse des Entwicklungsstandes des provinzialsächsischen Chausseebaues im Jahre 1862 reflektiert die Resultate eines im späten 18. Jahrhundert einsetzenden Prozesses. Selbstverständlich versucht also der Historiker, den horizontalen Vergleich durch vertikale Komparationen zu ergänzen. Für die Zeit vor 1862 sind jedoch entsprechende Daten auf Kreisebene und für das gesamte Untersuchungsgebiet nicht überliefert und wohl auch nicht erhoben worden. Es existieren zwar verschiedene einzelne Informationen, die für eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Chausseebaues in der preußischen Provinz Sachsen heranzuziehen waren. Die Systematisierung dieser Informationen konnte allerdings nicht auf der Grundlage der Kreise, sondern mußte auf der Basis der einzelnen Chausseelinien erfolgen. So wird in Tabelle A 28 für alle im Jahre 1870 in der preußischen Provinz Sachsen vorhandenen 65 Staatschausseen der Zeitraum ihrer Chaussierung und ihre Länge aufgeführt. Im gleichen Jahr existierten in der Provinz Sachsen mindestens 134 der in den Quellen häufig als „Nichtstaatschausseen" bezeichneten Straßen. Darunter verstand man sowohl durch Gebietskörperschaften, wie Kreise und Gemeinden, als auch die durch private Träger unterhaltene Landverkehrswege, die Chausseequalität aufwiesen. Ihre Längen sind im Detail schwer ermittelbar, da gerade bei ihnen zahlreiche Wechsel von nicht befestigten Abschnitten und chaussierten Strecken unterschiedlicher Qualität vorkamen. Immerhin umfaßt die Anlage 30 eine Liste der 50 im Jahre 1855 vorhandenen Kreis-, Gemeinde-, Bergwerks·, Aktien- und Privatchausseen auf. Mit diesem Material läßt sich nachvollziehen, in welchen Regionen der Verdichtungsprozeß des Chausseenetzes zur Förderung des lokalen und regionalen Verkehrs seinen Anfang nahm. Den sprunghaften Anstieg vor allem des Kreischausseebaues verdeutlicht die in der Anlage 31 wiedergegebene Liste der 30 im Jahre 1864 im Regierungsbezirk Merseburg vorhandenen Nichtstaatsstraßen. Im Abschnitt D.II, wird die Entwicklung des Chausseebaues in der preußischen Provinz Sachsen von den Anfängen bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach dem chronologischen Prinzip dargestellt werden. Durch diese Vorgehensweise soll ermöglicht werden, in den folgenden Kapiteln Aussagen über Zusammenhänge zwischen der Chausseebauentwicklung und ihrem jeweiligen politischen und ökonomischen Umfeld zu treffen. Gleichzeitig soll das Entwicklungsniveau in der Provinz Sachsen vor dem Hintergrund der genämlich bei den Kreisen Erfurt und Langensalza, aus der unterschiedlichen Klassifizierung von Straßen als Staatsstraßen, fiskalische Straßen und Kreisstraßen. Vergleiche mit einer im Landeshauptarchiv Magdeburg gefundenen Liste über die im Jahre 1865 vorhandenen ausgebauten Straßen der Kreise im Regierungsbezirk Magdeburg bestätigten auch für die Kreise Aschersleben und Salzwedel die Angaben aus der Tabelle des statistischen Büros. Vgl. LHA SA Magdeburg, Rep. C 28, Ia, Nr. 169, Bd. I, Bl. 65. Eine beträchtliche Differenz für den Kreis Schweinitz ergibt sich daraus, daß die LeipzigFrankfurter Aktienstraße erst ab 1863 chaussiert worden ist. Vgl. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 179.

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

149

samtpreußischen Daten bewertet werden. Dabei bilden die für 1816 und seit 1824 für jedes Jahr vorhandenen Angaben über die Länge der Staatschausseen in den einzelnen Regierungsbezirken eine wichtige Grundlage. 3 0 Diese beruhen auf einer erstmals 1829 erfolgten Vermessung der Staatschausseen und den jährlichen Berichten über die erfolgten Chaussierungsarbeiten. 31 Die Resultate der Vermessung von 1829 wurden ebenso in den „Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen" publiziert wie eine zweite Bilanz über den Chausseebau in der Periode von 1830 bis 1845. 3 2 Die Tabelle aus dem Jahre 1846 diente nicht nur als Quelle für alle Angaben zu diesem Thema in den statistischen Handbüchern der späten vierziger, fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. A u c h in den historischen Untersuchungen aus unserem Jahrhundert wurde auf diese Zahlen zurückgegriffen. 3 3 Für die folgende chronologische Darstellung der Chausseebauentwicklung in der preußischen Provinz Sachsen wurden jedoch zusätzlich statistisch-topographische Handbücher 3 4 , lokalhistorische Forschungsergebnisse 35 , A k t e n aus dem Lan-

30

Vgl. Anlage 3. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 52. Eine Vermessung der Poststraßen soll bereits 1806 bzw. 1815 stattgefunden haben. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 42. 32 Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues im preußischen Staat während der Jahre 1816 bis 1829 einschließlich, in: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen, 9. Jg., Berlin 1830; Maresch, Über den Zuwachs an Staatschausseen in den 15 Jahren von Anfang 1830 bis dahin 1845, so wie über die sonstigen Chausseen des preußischen Staats, welche mit Wegegeld belegt sind, in: Ebenda, 25. Jg., Berlin 1846. 33 Vgl. z.B.: Über den Chausseebau in Preußen, in: Handelsarchiv, 1847, 1. Hälfte, S. 96 f.; F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abth., Darmstadt 1854, S. 2200 ff.; C.F.W. Dieterici, Handbuch der Statistik des preußischen Staats, Berlin 1861, S. 596 f.; sowie K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 263; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 62 f. 34 G. Hassel, Das Königreich Westphalen vor seiner Organisazion, Braunschweig 1807, S. 19; Verzeichnis der Ortschaften im Bezirk der Regierung zu Merseburg, Merseburg 1819; Scharfe, Der Regierungsbezirk Merseburg. Ein Beitrag zur Vaterlandskunde mit eingestreuten geschichtlichen, besonders biographischen Nachrichten, Sangerhausen 1841, S. 4 f.; C.A. Noback, Ausfuhrliche geographisch-statistisch-topographische Beschreibung des Regierungsbezirks Erfurt, Erfurt 1841, S. 143 ff.; Handbuch der Provinz Sachsen, Magdeburg-Salzwedel 1843, S. 79 ff., 176 ff., 261 ff.; J.A.F. Hermes / J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch vom Regierungsbezirk Magdeburg, 2. Teil, Magdeburg 1843, S. 126 ff.; Topographisch-statistische Übersicht des Erfurter Regierungsbezirks, Erfurt 1848, S. X; J. Schadeberg, Skizzen über den Kulturzustand des Regierungsbezirks Merseburg, Halle 1852, S. 6. 35 E. Jacobs, Geschichte der in der preußischen Provinz Sachsen vereinigten Gebiete, Gotha 1883, S. 489; H. Zauft, Wirtschaftsgeographie des östlichen Harzvorlandes, Halle 1932, S. 17; K. Kahse, Untersuchungen über die Führung der Verkehrswege, S. 31 ff.; W. Kohl, Verwaltung der östlichen Departements, S. 177; D. Scholz, Industrielle Agglomeration, S. 102; M. Dunger, Das ehemalige Königsviertel, S. 124. 31

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

deshauptarchiv Magdeburg 36 und dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv Berlin-Dahlem sowie die bereits erwähnten Kreisbeschreibungen verwandt. Obwohl aus Zeitgründen nicht alle Landratsakten und lokalgeschichtlichen Aufsätze berücksichtigt werden konnten, stellen die in den Anlagen 28, 30 und 31 enthaltenen Chausseelisten mit den Angaben über Streckenlänge und Chaussierungszeit den ersten Versuch dar, eine systematisierte Materialgrundlage für die Rekonstruktion der provinzialsächsischen Chausseebauentwicklung in ihrer konkreten regionalen und zeitlichen Ausprägung zu liefern. Eine wirklich vollständige Übersicht aller chaussierten Straßenabschnitte dürfte aber nicht herstellbar sein, da es „in der Nähe der grösseren Städte und in allen wohlhabenden und volkreichen Gegenden zum Nutzen des örtlichen Verkehrs ... befestigte Straßen (gab - U.M.), auf denen kein Chausseegeld erhoben wird", die in keiner Statistik erfaßt wurden. 37 Im Vergleich dazu erwies sich die Quellenlage im überschaubareren Herzogtum Braunschweig als wesentlich günstiger. Die zentrale Verwaltung dieses nach 1815 in alter territorialer Gestalt wiederhergestellten Kleinstaates maß aus noch zu erörternden Gründen dem Chausseebau vor allem vor, aber auch noch nach dem Beginn des Eisenbahnbaues große Bedeutung zu. Die Herzogliche Kammer bzw. das Herzogliche Staatsministerium informierten sich daher vor grundlegenden Entscheidungen zu Fragen der Auswahl zu chaussierender Linien, der Chausseebaufinanzierung und Verwaltung der Straßenunterhaltung über Umfang, Qualität und gegebenenfalls das Einnahmen-Ausgaben-Verhältnis der staatlichen Straßen. Daher findet man in den Akten vor der Einführung eines Chausseegeldes, vor Überprüfungen des Chausseebauetats im Rahmen des Staatshaushaltes, vor einem Wechsel der Zuständigkeiten für das Chausseewesen zwischen den Landesbehörden, vor Diskussionen über Änderungen des Chausseegeldtarifs oder auch vor der Klassifizierung einzelner Straßen als Heer-, Land- oder Kommunalstraßen entsprechende Erhebungen. 38 Im Jahre 1837 verfaßte der preußische Bauinspektor Boese aus Arnsberg im Auftrage der braunschweigischen Regierung ein detailliertes Gutachten über den Zustand der braunschweigischen Straßen. 39 Die aus diesen Listen gewonnenen Informationen wurden analog der Vorgehensweise für die preußische Provinz Sachsen auf der Basis der 1863 vorhandenen 50 staatlichen Chausseen systematisiert und in der Anlage 43 wiedergegeben. Eine Analyse auf der Grundlage kleinerer Verwaltungseinheiten, wie sie

36 Es handelte sich vorrangig um Akten der Präsidialabteilungen der Regierungsbezirke (Rep. C 28 und C 48) sowie der Provinzialsteuerdirektion (Rep. C 75). 37 Über den Chausseebau, 1847, S. 95. 38 Nds STA Wolfenbüttel 2 Alt, Nr. 10658; 12 A Neu, Fb. 2, X, Nr. 24; 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460, 3467, 3476, 3477. 39 Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467.

I. Methodische Grundlagen und Quellensituation

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die Angaben für die preußischen Kreise des Jahres 1862 erlauben, konnte auch für die 6 braunschweigischen Kreise vorgenommen werden. Während jedoch für die Provinz Sachsen nur eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1862 möglich war, erlauben die in den Anlagen 32, 34 und 36 enthaltenen braunschweigischen Daten zeitliche Vergleiche innerhalb der Periode von 1850 bis 1871 und auch Aussagen über die Dichte und bauliche Qualität des kommunalen Wegenetzes in den 6 Kreisen bzw. 23 Amtsbezirken des Herzogtums. Grundlage dafür bilden die seit 1852 in regelmäßigen Abständen erschienenen statistischen Mitteilungen der Herzoglichen Baudirektion. 40 Neben dieser günstigeren Quellenlage existiert für das Herzogtum Braunschweig auch ein Vorsprung gegenüber der Provinz Sachsen hinsichtlich des verkehrshistorischen Forschungsstandes. So erstellte Baldermann aus der vergleichenden Analyse historischer Karten mehrere neue kartographische Querschnitte, wodurch seine Arbeit eine wesentlich höhere quantitative Aussagekraft besitzt als die 40 Jahre ältere Darstellung Schellenbergs über den Straßenbau im Regierungsbezirk Merseburg, die kein Zahlenmaterial für komparative Ansätze bietet. 41 Die Erarbeitung einer detaillierten und auf einem ausführlicheren Aktenstudium beruhenden Aufstellung der braunschweigischen Chausseen mit der Angabe ihrer Länge und Entstehungszeit blieb jedoch der vorliegenden Untersuchung vorbehalten. Letztlich ist also festzustellen, daß die Auswahl der Indikatoren in einer historischen Untersuchung nicht nur durch theoretische Vorüberlegungen, sondern vor allem durch die den Umfang und die Qualität der Datenbasis bestimmende Quellenlage determiniert wird. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts liegen in der Regel weder Zeitreihen vor, noch lassen sie sich rekonstruieren. Absolute Größen besitzen häufig nur eingeschränkten Aussagewert. Schon aus diesem Grunde werden oft regionale Vergleiche angestellt, um zumindest Relationen deutlich zu machen. Da Infrastrukturen in hohem Maße durch ihre räumlichen Ausprägungen wirken, bietet sich ohnehin die Anwendung regionalkomparativer Methoden an. Regionale Vergleiche, wie sie bei der Analyse politischer und ökonomischer Transformationsprozesse durch die historische Forschung in zunehmendem Maße angestellt werden, 42 können zur Kennzeichnung

40 Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche der Herzoglichen Bau-Direction zu Braunschweig, 7 Bde., Braunschweig 1852-74. 41 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes; A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens. 42 Vgl. u.a. S. Pollard (Hrsg.), Region und Industrialisierung; H. Kiesewetter / R. Fremdling (Hrsg.), Staat, Region. - Die regionalkomparative Methode erwächst aber auch aus der Rezeption der empirischen Sozialwissenschaft. Vgl. P. Steinbach, Territorial· oder Regionalgeschichte. Wege der modernen Landesgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 11. Jg., 1985, H. 4, S. 534 f.

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

des Entwicklungsstandes von Infrastruktur und daher auch des Erfolges bzw. Mißerfolges von Infrastrukturpolitik dienen.

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen von ihrer Gründung bis zur Überführung der Staatschausseen in die provinzielle Selbstverwaltung (1815-1876) 1. Die Chausseen als Fernhandelsträger und Mittel der preußischen Zollpolitik Bei der formalen Gründung der Provinz Sachsen im Jahre 1816 „übernahm" das Königreich Preußen mit dem neuen Territorium unter anderem auch chausseemäßig ausgebaute Landstraßen mit einer Gesamtlänge von 466 km. 43 Diese für preußische Verhältnisse große, im Rahmen des Deutschen Bundes jedoch geringe Zahl repräsentierte keinesfalls die Dichte eines Chausstenetzes, da allein die vier wichtigsten Fernhandelsstraßen etwa 385 km einnahmen. Es handelte sich dabei um die Strecken von Magdeburg nach Leipzig in Sachsen, von Magdeburg über Halberstadt nach Wolfenbüttel im Herzogtum Braunschweig, von Naumburg über Weißenfels nach Leipzig sowie den größten Teil der Straße von Halle über Sangerhausen und Heiligenstadt nach Kassel in Kurhessen (pCh Nr. 65, 84, 60 und 66/69). 44 Die Chaussierung gerade dieser Straßen entsprach den Haupthandelsströmen jener Zeit mit den Zentren Leipzig und Magdeburg. Besonders für den Leipziger Handel nach Nordwesten, Westen und Südwesten waren die Strecken wichtig. Für die genaue Festlegung der zu chaussierenden Trasse hatten jedoch auch politische Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt, wie am Beispiel der Magdeburg-Leipziger Chaussee bereits dargelegt wurde. 45 Auch in der Folgezeit „lag der Schwerpunkt der Chaussierung im intensiven Ausbau, das heißt der qualitativen Verbesserung vorhandener Verkehrswege; der extensive Ausbau in Form der Anlage neuer Straßenverbindungen stand demgegenüber deutlich im Hintergrund." 46 Die restlichen rund 80 km chaussierte Straßen waren auf dem bis 1815 zu Kursachsen gehörenden Territorium entstanden und konzentrierten sich auf das Gebiet um Merseburg. Es handelte sich im einzelnen um die Verbindung von 43

Vgl. Anlage 14. Über den Chausseebau, 1847, S. 98; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 54. - Der Abschnitt zwischen Naumburg und Weißenfels wurde seit 1799 chaussiert. H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 218. 45 Vgl. Abschnitt C.III. 46 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 356. 44

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

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Merseburg nach Lauchstädt, die „Salzstraße" von Dürrenberg nach Leipzig sowie die Straßen von Halle nach Lauchstädt, Eisleben nach Querfurt, Schafstädt nach Merseburg und Wallendorf nach Burgliebenau, die in dieser Reihenfolge zwischen 1786 und 1812 chaussiert worden waren, sowie um Teilabschnitte der Straße von Leipzig nach Merseburg (pCh Nr. 68, 69, 70, 67, 90, 204). 47 Im Merseburger Gebiet existierten also die ersten Tendenzen eines auch lokalen Interessen verpflichteten Chausseebaues, der im Gegensatz zu einigen befestigten Straßen der Mansfelder Bergwerksgewerkschaften unter staatlicher Verantwortung vor sich gegangen war. Die 1816 vorgefundene Chausseenetzstruktur der neuen preußischen Provinz Sachsen basierte auf einem nicht an preußischen Interessen orientierten Straßennetz. In der Provinz Sachsen wuchs in den ersten 15 Jahren ihrer Existenz, von 1816 bis 1831, die Gesamtlänge der Staatschausseen von 466 auf 1057 km, also um 127 %. Damit lag die Provinz leicht über dem preußischen Durchschnitt. 48 Die Chausseebaukonjunktur und die Integration der Provinz in das Königreich verliefen somit zeitlich parallel. 49 Tatsächlich beeinflußten die Bemühungen, die Strukturen der neu gewonnenen Gebiete den preußischen Interessen anzupassen, auch den Chausseebau. Für den preußischen Staat kam es nach der Beseitigung der Kriegsschäden vor allem darauf an, „die entferntesten Punkte der Monarchie in verschiedenen Richtungen mit einander zu verbinden, so die Übelstände einer lang ausgedehnten, zerrißnen geographischen Lage zu vermindern und uns den Durchgangshandel zu sichern." 50 In der Provinz Sachsen sollten vorrangig die vom Königreich Sachsen abgetrennten Gebiete an das preußische Kerngebiet, also vor allem an Berlin, angebunden werden. Auch den Verbindungen in vorwiegend vom Ausland umschlossene Gebiete oder Exklaven wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Regierungsbezirk Erfurt wuchs so das Chausseenetz von 1816 bis 1831 fast auf das 47

A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 42. - Zwischen Sangerhausen, Eisleben, Merseburg und Leipzig soll bereits Ende der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts durch Kursachsen eine Chaussee gebaut worden sein. Vgl. H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 345. - Der auf der Straße von Dürrenberg nach Leipzig vorhandene Verkehr (u.a. Salztransporte) erreichte in den zwanziger Jahren einen so großen Umfang, daß zu diesem frühen Zeitpunkt ein Plan fur eine Kleinbahnverbindung zwischen den beiden Städten entstand. Vgl. E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 14. 48 Vgl. Anlage 14. Die Länge der preußischen Staatschausseen insgesamt wuchs im gleichen Zeitraum von 3162 km auf 6794 km, also um 115%. 49 Nach W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 284 entstanden „bei der wirtschaftlichen Eingliederung der sächsischen Gebiete" in das preußische Wirtschaftsgebiet „keine Schwierigkeiten". Die Neustrukturierung der Verkehrsströme stellte hingegen ein Integrationsproblem dar. - Auch in der Rheinprovinz dienten die ersten nach 1815 gebauten Chausseen dazu, „die preußische Herrschaft in den neu erworbenen Provinzen zu sichern." Vgl. H. Kunze, Wegeregal, S. 41. 50 C.F.W. Beuth, Vorrede, S. 242.

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Zweieinhalbfache. 51 Dabei ging es einerseits aus politischen Gründen um die Verbesserung der Kommunikation zwischen den zum Teil neuen Verwaltungszentren und der nördlich oder östlich gelegenen Landeshauptstadt, wodurch ältere Verbindungen zu den thüringischen Staaten oder nach Sachsen in den Hintergrund traten. Andererseits bildete gerade eine hohe Verkehrsinfirastrukturqualität in den Grenzgebieten die Voraussetzung für das erstrebte Anziehen des Durchgangsverkehrs, denn „der die Provinz durchziehende Handelsverkehr bewegte sich als ausgesprochener Transitverkehr". 52 Das aufzubauende Chausseenetz hatte also nicht nur die innere Kommunikation zu verbessern, sondern sollte durch Anschlüsse an ausländische Verkehrslinien an den richtigen Stellen über die Durchgangszölle die Staatseinnahmen erhöhen. Der äußere Einfluß wirkte wesentlich stärker als bei in ihrer territorialen Gestalt abgerundeten, alten Provinzen. 53 Auch die aus politischen, ökonomischen und militärischen Gründen notwendige Herstellung von Verbindungen zwischen dem preußischen Kernland und den beiden Westprovinzen stellte einen äußeren Einflußfaktor für die Verkehrsnetzstruktur der Provinz Sachsen dar. 54 Hans von Bülow, nach seiner Ablösung als preußischer Finanzminister im Jahre 1817 „nur" noch Minister für Handel und Gewerbe, bezeichnete das Fehlen „einer Haupt-, Commerzial- und Militair-Straße zwischen den Elb- und Rheinprovinzen" als größten Mangel des preußischen Staatschausseenetzes.55 Dagegen stärkte das preußische Zollgesetz von 1818 zunächst den Binnenhandel gegenüber dem Außenhandel und beeinflußte dementsprechend auch die Chausseebaupolitik.56 So offenbarte der Fall der Binnenzölle die Notwendigkeit, die Verkehrsinfrastruktur grundlegend zu verbessern, um eine Markterweiterung zu erreichen. Der preußische Straßenbau wurde seitdem im „wesentlichen im Hinblick auf ein geschlossenes inneres Verkehrsnetz weiter-

51

Vgl. Anlage 14 und Tabelle 5 auf S. 166. E. Neuss, Sachsen und Anhalt. Zur wirtschaftlichen Einheit des mitteldeutschen Raumes, in: W. Möllenberg (Hrsg.), Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, Bd. 9, Magdeburg 1933, S. 11. 53 Vgl. z.B. das Chausseenetz in der Provinz Brandenburg bei E. Pätzel, Räumliche Entwicklung. 54 Zum preußischen Militärstraßensystem nach 1815: W.F. Becker, Die preußischen Militärstraßen im Deutschen Bund (1815-1866), vornehmlich in Hessen. Ein Beitrag zu den Hegemoniebestrebungen Preußens im nördlichen Deutschland, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 8, Marburg 1958, S. 171 ff. 55 GStA PK Berlin, I. HA., Rep. 74, Κ X V I 1, Bl. 108. - Vgl. auch W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815-1825, Stuttgart-Berlin 1937, S. 124 f. 56 Grundsätzlich zum Zollgesetz von 1818: W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 285 f f ; H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, S. 39 ff. - Zu den Bestimmungen im einzelnen: R. Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, Berlin 1932, S. 439 ff. 52

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

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gefuhrt". 57 Wichtigste Ausnahmen stellten die Straßenverbindungen zwischen den mittleren und westlichen Provinzen, also letztlich zwischen den Provinzen Sachsen und Westfalen dar, die notwendigerweise ausländische Territorien berühren mußten. So lassen sich die Chausseebauten des Zeitraumes zwischen 1816 und 1831 zum großen Teil aus allgemeinpolitischen und fiskalischen Motiven erklären. Sie sollten der Integration der Provinz Sachsen und der beiden Westprovinzen in den preußischen Staatsverband dienen, die Handelsströme zum Nutzen des Fiskus auf preußisches Territorium umlenken sowie, seit dem Ende der zwanziger Jahre, die Schaffung eines preußisch dominierten Zollverbandes unterstützen. Die wichtigsten in dieser Zeit chaussierten Strecken sind also zunächst die jeweiligen Verbindungsstraßen der beiden bedeutendsten Städte der Provinz, Magdeburg und Halle, mit Berlin. Bis 1821 wurde die 1806 infolge des Krieges unterbrochene Chaussierung der Straße von Magdeburg in Richtung Brandenburg auf dem provinzialsächsischen Territorium vollendet (pCh Nr. 84). 58 1824 war der Ausbau der Straße von Halle nach Berlin abgeschlossen (pCh Nr. 60). 59 Schließlich wurde auch der östliche Teil der Provinz durch die Chaussee von Elsterwerda nach dem auf der Halle-Berliner Chaussee gelegenen Treuenbrietzen mit der für dieses Gebiet neuen Landeshauptstadt verbunden (pCh Nr. 62). Neben dem Bau dieser in Richtung Berlin führenden Chausseen stand in den ersten Jahren nach 1815 eindeutig die Förderung des inneren Verkehrs im Vordergrund. Dabei sollte vor allem das altpreußische Halle aus dem schon Jahrhunderte bestehenden Schatten Leipzigs heraustreten. 60 Ein Ortsverzeichnis des Merseburger Regierungsbezirks aus dem Jahre 1819 resümierte die „seit dem Eintritte der Preußischen Regierung" erfolgten Chaussierungsarbeiten. 61 Von den insgesamt 60,5 km chaussierten Landstraßen ent-

57

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 35. J.A.F. Hermes / J.M. Weigelt, Historisch-geographisch-statistisch-topographisches Handbuch, 1. Teil, S. 127. - Zwischen der Provinzgrenze und der Stadt Brandenburg war die Straße im Jahre 1821 noch unchausiert, so daß 3,25 Meilen an einer durchgehenden Verbindung zwischen Magdeburg und Berlin fehlten. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120, A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bl. 100. 58

59

E. Obst, Beschreibung und Geschichte des Kreises Bitterfeld, Bitterfeld 1887/88, S. 115. 60 GStA PK Berlin, Rep. 120, A, Abth. I, Fach 1., Nr. 2, Bl. 61. Vgl. auch W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik, S. 33. - Die Rivalität des preußischen Halle und des sächsischen Leipzig wirkte sich einige Jahrzehnte später auch auf den Eisenbahnbau aus. So wurde Halle schneller an Berlin und Thüringen angeschlossen als Leipzig. Vgl. H.F. Gisevius, Zur Vorgeschichte des Preußisch-Sächsischen Eisenbahnkrieges, S. 174 ff. 61 Verzeichnis der Ortschaften im Bezirk, 1819.

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

fielen 31,2 km (51,6 %) auf die Straße von Halle über Merseburg nach Weißenfels (pCh Nr. 66) und 20,8 km (34,4 %) auf das Teilstück zwischen Wittenberg und Marzahna auf der Halle-Berliner Chaussee (pCh Nr. 60). Die restlichen 8,5 km verteilten sich auf kleinere Abschnitte zwischen Schkeuditz und Modelwitz (pCh Nr. 65), Riestedt und Sangerhausen (pCh Nr. 60), Schafstädt und Querfurt (pCh Nr. 68), Zeitz und Gleina (pCh Nr.73), Freyburg und Querfurt (pCh Nr.90) sowie Artern und Frankenhausen im Schwarzburgischen (pCh Nr.68). Es wurde also mit der Chaussierung der Strecken begonnen, die den Fernverkehr auf preußisches Territorium ziehen konnten und so auch die Verbindungen zwischen alten und neuen Gebieten stärkten. In der Nord-Süd-Richtung besaßen die Befestigungen der Straßen von Egeln über Aschersleben und Eisleben nach Naumburg sowie von Halle über Weißenfels nach Zeitz Priorität. Die Route über Aschersleben, die noch 20 Jahre zuvor verworfen worden war, 62 erlaubte infolge der territorialen Veränderungen von 1815 die vollständige Umgehung anhaltinischen Gebietes.63 Folgerichtig schloß sich AnhaltBernburg 1826 dem preußischen Zollgebiet an. 64 Außerdem sollte durch die Straßenführung Halle neben seiner Bedeutung im West-Ost-Verkehr nun auch in der Nord-Süd-Richtung ein wichtiger Umschlagsplatz werden, wodurch Leipzigs Interessen gefährdet wurden. 65 „Gegenwehr war bei der Lage der Stadt hoffnungslos, und die Leipziger Kaufleute erkannten schon 1819, daß nur ein Zusammenschluß mit Preußen ... Rettung bringen konnte." 66 In Ost-West-Richtung wurde der Ausbau der Straße von Merseburg über Querfurt nach Artern durchgeführt, obwohl nur wenige Kilometer nördlich davon die Halle-Kasseler Chaussee verlief. Der südwestliche Teil des Regierungsbezirks Merseburg und perspektivisch auch die südlichen Kreise des Erfurter Bezirks sollten so besser mit Merseburg und Halle verbunden werden. Gleichzeitig entzog diese neue Chaussee der vielleicht wichtigsten Straße des innerdeutschen Handels, der Trasse von Frankfurt a.M. nach Leipzig, mindestens ab Erfurt, einen Teil ihres Handelsverkehrs. 67 Schließlich wurden auf dieser Straße auch zahlreiche Truppentransporte von und nach Erfurt durchgeführt, da die militärische Nutzung der über Weimar führenden Straße zwar

62

Vgl. Abschnitt C.III. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3507. 64 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 13, 37 f. 65 P. Beyer, Leipzig, S. 81. 66 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 8. - Es ist daher nicht plausibel, warum die Leipziger Großhändler einer Zollverereinigung mit Preußen ablehnend gegenübergestanden haben sollen. So bei: H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 75. 67 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 7. 63

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

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vertraglich garantiert war, jedoch die Beziehungen zwischen Preußen und dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach belasteten.68 Der Ausbau der Straße von Sangerhausen nach Erfurt (pCh Nr. 75) ab Ende der zwanziger Jahre erfolgte hauptsächlich aus ähnlichen Überlegungen heraus. Mit dem Bau dieser Straßen kündigte sich eine wesentliche Akzentverschiebung, jedoch keine grundlegende Wende, in der preußischen Chausseebaupolitik an. Der Chausseebau wurde ab Mitte der zwanziger Jahre im Rahmen der preußischen Handels- und Zollpolitik nicht mehr vorrangig als Mittel zur „Hebung der inneren Communication" angesehen, sondern im Zusammenspiel mit der Veränderung von Tarifen an einzelnen Zollstellen als Druckmittel gegenüber kleineren Staaten gebraucht, um diese zum Anschluß an einen preußisch dominierten Zollverband zu zwingen. 69 Die damit verbundene Aufwertung des Chausseebaues innerhalb der allgemeinen Wirtschaftspolitik war vor allem mit der Ernennung von Friedrich Christian Adolf von Motz zum preußischen Finanzminister im Jahre 1825 verbunden. Motz, der ab 1817 Regierungspräsident in Erfurt und ab 1821 provinzialsächsischer Oberpräsident war, wurde als Finanzminister einer „der aktivsten preußischen Protagonisten der Zollunionspolitik". 70 Die Einbindung in diese Politik stellte für den Chausseebau in den Regierungsbezirken Merseburg und Erfurt keine prinzipielle Neuorientierung dar, weil auch schon vor 1825/28 infolge der geographischen Lage jeder Straßenbau in diesem Gebiet Auswirkungen auf einige der zahlreichen Nachbarstaaten hatte. Zweifellos wurden aber in Abhängigkeit von der zollpolitischen Situation in sehr kurzer Zeit neue regionale Prioritäten gesetzt. Unmittelbar nach 1818 stand die Umgehung von Enklaven wie den bereits unter dem Zollgesetz leidenden anhaltinischen Herzogtümern und den schwarzburgischen Unterherrschaften durch Chausseeneubauten im Vordergrund. 71 Ab 1825 wurde die Chaussierung von parallel zu Zollgrenzen verlaufenden Land-

68 W.F. Becker, Die preußischen Militärstraßen, S. 194, 211, 215. - Eine durch verschiedene thüringische Staaten geplante und gegen Preußen gerichtete südliche Umgehung Erfurts scheiterte 1829 an Differenzen innerhalb des Mitteldeutschen Handelsvereins. P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 57 ff. 69 H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 55 ff. - Friedrich List sprach in diesem Zusammenhang vom Chausseebau als Teil des „Industriekrieges im Innern von Deutschland". E. v. Beckerath / O. Stühler (Hrsg.), Friedrich List. Schriften zum Verkehrswesen, Berlin 1929, S. 318. 70 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 129. - Friedrich von Motz war auch der erste preußische Minister, der für den Eisenbahnbau eintrat. So sollte durch eine Eisenbahn von Lippstadt nach Minden der holländische Rheinzoll umgangen werden. Von Motz gilt mitunter auch als Begründer der preußischen Hegemonialpolitik, die in der Reichseinigung vollendet wurde. Vgl. W.O. Henderson, The State, S. 76 f f ; H.St. Seidenfus, Eisenbahnwesen, S. 235; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 191. 71

H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, S. 39 ff.

158

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Straßen forciert. So waren die Chausseebauprojekte von Göttingen über Heiligenstadt, Mühlhausen und Langensalza nach Gotha (pCh Nr. 81) gegen den kurhessischen Nord-Süd-Verkehr, die Verbindung von Erfurt über Heldrungen nach Merseburg (pCh Nr. 75 und 68), unter ausdrücklicher Umgehung der Enklave Allstedt, gegen Sachsen-Weimar, die Chaussee von Zeitz nach Weißenfels (pCh Nr. 71) gegen den Verkehr zwischen Leipzig und Altenburg gerichtet. 72 Seit 1828 wurde der Chausseebau als unmittelbares Instrument im Kampf gegen den Mitteldeutschen Handelsverein und für die Herstellung einer preußisch dominierten Zollunion verwendet. Dabei konnte Preußen immer wieder die Widersprüche zwischen den Nachbarstaaten ausnutzen.73 Das Streben nach zollgünstigen Straßenverbindungen zum süddeutschen Zollverein war im Juli 1829 mit dem Abschluß eines entsprechenden Vertrages mit Sachsen-CoburgGotha und Sachsen-Meiningen erfolgreich. Die beiden ernestinischen Herzogtümer vereinbarten mit Preußen die bis Ende 1830 abzuschließende Chaussierung der Straße von Langensalza über Gotha, Schleusingen, Hildburghausen und Coburg nach Bayern, auf der keine Durchgangsabgaben erhoben werden durften (pCh Nr. 76). Außerdem nutzten die preußischen und bayrischen Landesposten die neue Verbindung, um einen großen Teil des Postverkehrs zwischen Nord- und Südeuropa direkt aneinander weiterzugeben. Die ehemalige Reichspost von Thum und Taxis, die in den thüringischen Staaten das Postregal innehatte, verlor diese wichtige Einnahmequelle.74 Bei der Gründung des Mitteldeutschen Handelsvereins hatten die Staaten eine Verstärkung des Straßenbaus von der Nordsee zu Rhein, Main und Elbe vereinbart. Der zu Lasten von Kurhessen und Sachsen-Weimar-Eisenach geschlossene Straßenvertrag ließ jedoch den Mitteldeutschen Handelsverein schon ein Jahr nach dessen Gründung im Jahre 1828, also lange vor dem Austritt Kurhessens, faktisch zusammenbrechen. 75 Der preußische Staat finanzierte auch seinen Interessen dienende Chaussierungsarbeiten auf nichtpreußischem Gebiet.76 Dies betraf die Straßen von Erfurt

72

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 62. - Die Straße zwischen Göttingen und Mühlhausen wird auf einer Karte über das kurhessische Straßennetz um 1815 bereits als Chaussee bezeichnet. Ihr Zustand war aber am Ende der zwanziger Jahre so schlecht, daß man 1829 einen Chausseebau von Heiligenstadt nach Göttingen plante. Vgl. S. Wollheim, Staatsstraßen und Verkehrspolitik in Kurhessen von 1815 bis 1840, Marburg 1931, S. 3 und Karte 1; P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 40. 73

Ausführlich dazu: Ebenda, S. 16 ff. H. Kunze, Wegeregal, S. 42. 75 R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 29; P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 81; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 53. 76 Vgl. H. Patze / W. Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5.2., S. 17 ff. 74

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

159

über Arnstadt nach Schleusingen (pCh Nr. 75), von Saalfeld nach Pößneck (pCh Nr. 77a) und von Zella über Meiningen in Richtung Schweinfurt (pCh Nr. 77). Weitere Abkommen über gemeinschaftliche Straßenbauten mit Kurhessen, Sachsen-Altenburg, den reußischen Fürstentümern und schließlich auch dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach bildeten bereits das Vorspiel zur Teilnahme dieser Staaten an der Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1833. Bei den thüringischen Kleinstaaten stellte die Freiheit des Straßenverkehrs, vor allem für den eigenen Export, neben der Aussicht auf die Verbesserung der Staatsfinanzen einen wesentlichen Grund für diesen Schritt dar. 77 Nach 1830 wurden so noch Straßen von Zeitz nach Gera (pCh Nr. 71) und Altenburg (pCh Nr. 73) sowie von Meineweh nach Eisenberg (pCh Nr. 74) chaussiert. Aufgrund einer Vereinbarung mit Kurhessen baute man Chausseen von Mühlhausen nach Eschwege (pCh Nr. 82) und von Creuzburg nach Wanfried (pCh Nr. 83). 78 Preußen gelang es, in diesen Verträgen auch die Verkehrsinteressen seiner Exklaven um Schleusingen und Ziegenrück zu berücksichtigen, da es aufgrund seiner ökonomischen und finanziell besseren Position, seinem Bündnis mit Bayern und seiner flexibleren verkehrsgeographischen Ausgangslage immer der überlegene Vertragspartner war. 79 Auf preußischem Territorium gelegene Verbindungsstraßen zwischen den anhaltinischen Kernländern und Harzbesitzungen wurden hingegen nicht verbessert, weil sie nicht im preußischen Interesse lagen.80 Für das Königreich Sachsen besaß der Straßenbau in der Zollvereinsfrage keinen so großen Stellenwert. Die seit 1815 eher passive sächsische Wirtschaftspolitik und die preußischen Bestrebungen, die ehemals sächsischen Gebieten so vollständig wie möglich zu integrieren, bewirkten, daß im Jahre 1825 die Straße von Weißenfels nach Leipzig die einzige gut ausgebaute Chausseeverbindung zwischen dem Königreich und der Provinz Sachsen war. 81 Dies ist 77 Die Auswirkungen von Im- und Exporterleichterungen im Austausch mit dem großen Preußen auf die einheimischen Gewerbe waren zunächst schwer absehbar und branchenmäßig wie regional verschieden. Allerdings versprachen sich die thüringischen Kleinstaaten von ihren Beitritten zum Zollverein zu Recht einen allgemein wachsenden Verkehr, der ebenso wie die Effektivierung der Zollverwaltung dem jeweiligen Fiskus zugute kam. Vgl. H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 127. 78 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 65. 79 Ebenda, S. 41 ff. - Gerade das Beispiel des Kreises Schleusingen zeigt jedoch, daß die Erweiterung von Verdienstmöglichkeiten für die „armen Unterthanen" auch am Ende der zwanziger Jahre ein mindestens gleichrangiges Motiv für Chausseebauten darstellte. Vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120 C, VII, 3, Nr. 8. Ausführlicher dazu Abschnitt E. 80 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 75. 81 Ebenda, S. 71. - Die Straße von Leipzig nach Großkugel war zu diesem Zeitpunkt in einem so schlechten Zustand, daß sie nicht als Chaussee angesehen werden konnte. Vgl. A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 51 f. - Zur sächsischen Wirtschaftspolitik: H. Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft, S. 50 ff.

160

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

nur ein Indiz dafür, daß die territorialen Veränderungen von 1815 sowohl eine Integration der Provinz Sachsen in die preußische „Volkswirtschaft" als auch eine Spaltung eines bereits integrierten älteren Wirtschaftsraumes bewirkten. 82 Da jedoch die Förderung von Halle die Bedeutung des Handelsplatzes Leipzig nur in geringem Maße schmälern konnte, versuchte Preußen, vom Leipziger Handel zu profitieren. Dieses Ziel erforderte eine Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen dem preußischen Staatsgebiet und der sächsischen Messestadt. Zu einem Zeitpunkt, als Sachsen in der Oberschönaer Punktation und als Mitglied des Mitteldeutschen Handelsvereins erklärtermaßen einen Zollkrieg gegen Preußen führte, wurde an den Chausseen von Bitterfeld nach Leipzig (pCh Nr. 64), von Zeitz nach Leipzig (pCh Nr. 72) und von Elsterwerda nach Großenhain (pCh Nr. 62) eifrig gebaut. Die Straßenbaupolitik gegenüber dem Königreich Sachsen unterschied sich also am Ende der zwanziger Jahre grundlegend von der Handlungsweise, mit der Preußen gegen Anhalt und die thüringischen Kleinstaaten vorging. 83 Gerade die Verbesserung der Verkehrswege offenbarte dem Leipziger Handelsbürgertum die starke Belastung durch die von Preußen und Sachsen hoch gehaltenen Grenzzölle. Schon 1819 hatten die seit dem Wiener Kongreß in politisch-geographischer Randlage befindlichen Leipziger Kaufleute die Aufhebung dieser Zölle gefordert. 84 Erst nach der Revolution von 1830 verschob sich das Kräfteverhältnis in der sächsischen Regierung so stark, daß dieses Ziel durch den Beitritt zum Zollverein erreicht werden konnte. Mit dem Tode von Motz im Jahre 1830 und der sich abzeichnenden Zolleinigung wurde das Tempo des preußischen Chausseebaues angesichts der prekären Finanzsituation erheblich gedrosselt. 85 Man stoppte sogar die Verwirklichung einiger Projekte, zumal sich der Fernhandelsverkehr ab 1834 innerhalb des Zollvereins seiner „natürlichen" Wege bedienen konnte, so daß einige als Mittel der zollpolitischen Auseinandersetzungen entstandene Chausseen ins Abseits gerieten. Der Ausbau der Weimar nördlich umgehenden Straße von Merseburg nach Querfurt wurde ebenso unterbrochen wie die Befestigung der Straße von Weißenfels nach Zeitz. Die Chaussierung der Straße von Magdeburg nach Helmstedt ging über das vor den Toren der Provinzhauptstadt gele-

82

H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 13. Allerdings veranlaßten die Erfahrungen mit der zuvor gegen Leipzig gerichteten preußischen Grenzzoll- und Straßenbaupolitik „den sächsischen Landtag ... im Jahre 1840, das Prinzip, selber eher zu bauen als die Nachbarn, um eine Umgehung des Landes zu verhindern, ausdrücklich zur Leitlinie seiner Eisenbahnpolitik zu erklären." D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 31. 84 P. Beyer, Leipzig, S. 83. 85 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 61. 83

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

161

gene Olvenstedt nicht hinaus.86 Auch die Realisierung des schon aus der Zeit der Jahrhundertwende stammenden Plans einer Chaussee von Magdeburg nach Hamburg wurde erneut verschoben. 87 Zahlreiche dieser Projekte wurden dann seit Ende der dreißiger Jahre wiederaufgenommen. Die Verwaltung sah zwar durchaus, daß die Vollendung einiger in den Jahren der Zollauseinandersetzung begonnener Arbeiten für die Verkehrsnetzentwicklung in der Gesamtregion in vielen Fällen keine optimalen Lösung darstellte. Sie begriff aber auch, daß der Wert einer unvollendeten Chaussee kaum über dem einer gewöhnlichen Landstraße lag. In einem Gutachten zur ständischen Petition, „die Anlegung neuer und Vollendung bereits begonnener Chausseen betreffend" vom 17. Mai 1837 befürwortete der Oberpräsident Wilhelm Anton von Klewitz an erster Stelle die Vollendung der Straße von Nordhausen nach Weimar, „weil dieselbe, abgesehen von der kommerziellen Wichtigkeit der Straße, auf Staatsverträgen mit den Weimarschen und Rudolstädtschen Gouvernements beruht, und weil bis zur Vollendung des chausseemäßigen Baues dieser Straße die bedeutenden Summen, die dieselbe bis jetzt gekostet hat, so gut als vergebens aufgewandt sind, da die Benutzung kurzer, wenn auch noch so gut unterhaltener Chausseestrecken, für den Reisenden wie für den Frachtfuhrmann allen Reiz verliert, solange dieselben von unwegsamen Strecken unterbrochen werden, auf welchen wenigstens der Letztere, mit chausseemäßiger Ladung, liegen zu bleiben, Gefahr läuft." 88 Die Unteilbarkeit von Infrastrukturinvestitionen gebot also, begonnene Projekte auch dann fertigzustellen, wenn sich die politischen Rahmenbedingungen zwischenzeitlich verändert hatten. Die Prägung des Straßennetzes durch die Zollvereinigungspolitik in Mitteldeutschland wird auch durch die Tatsache verdeutlicht, daß der Regierungsbezirk Magdeburg zwischen 1826 und 1831 nur 24 km neue Chausseestrecken erhielt. 89 Im gleichen Zeitraum wurden im Erfurter Bezirk 75 km und im Re86

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 67 und 79; GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 25. 87 Nachdem die Planungen zum Bau einer Straße von Magdeburg nach Hamburg bereits zur Jahrhundertwende abgebrochen worden waren, setzten sie vor 1830 wieder ein. Zunächst wurde die zwischen 1839 und 1845 chaussierte Verbindungsstraße zwischen der Berlin-Magdeburger Straße von Genthin über Fischbeck und Havelberg nach Kletzke (pCh Nr. 85) auf der Berlin-Hamburger Straße als Straße von Magdeburg auf Hamburg bezeichnet, obwohl diese östlich der Elbe verlief und für den Verkehr zwischen diesen beiden Städten einen beträchtlichen Umweg darstellte. Vgl. Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, S. 249. - Erst nach der Fertigstellung der Chaussee von Magdeburg über Salzwedel nach Lüneburg (pCh Nr. 86) im Jahre 1845 konnte der Frachtfuhrverkehr zwischen Hamburg und Magdeburg eine direkte Chausseeverbindung nutzen. 88 89

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 80r. Vgl. Anlage 14.

11 Uwe Müller

162

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

gierungsbezirk Merseburg sogar 208 km Landstraße chaussiert. Im Jahre 1831 existierte innerhalb Preußens, bezogen auf die Bevölkerung, nur im westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg ein dichteres Chausseenetz als im Merseburger Bezirk. 90 Von einer im Vergleich zu Sachsen und Thüringen geringeren Verkehrserschließung der Provinz kann daher nicht ausgegangen werden. 91 Wegen der an den Zollgrenzen von vor 1834 orientierten Linienführung entsprach dieses Chausseenetz zwar nicht in jedem Fall den Bedürfnissen des Fernhandels, wies aber vor allem im Dreieck zwischen Halle, Naumburg und Zeitz eine beachtliche Dichte auf. Die unterschiedliche Ausgangslage der drei Regierungsbezirke wird auch durch die Chausseebaukonzeptionen der Magdeburger, Merseburger und Erfurter Regierungen verdeutlicht, die der sächsische Oberpräsident von Klewitz im März 1835 an den in dieser Zeit für das Chausseewesen zuständigen Seehandlungspräsidenten Rother schickte.92 Die Magdeburger Regierung bat um die Chaussierung von insgesamt fünf Linien, die grundlegende Verbindungen zu den Nachbarstaaten oder auch innerhalb des Bezirks verbessern sollten.93 Die Erfurter Regierung nannte 15 wünschenswerte Hauptstraßen sowie 8 Linien, „deren Bau der Sorge der Kreise, Kommunen oder auch etwaigen ActienGesellschaften zu überlassen sein möchte." 94 Die 15 Straßen sollten in der Regel der Herstellung eines Netzes innerhalb der preußischen Kreisstädte sowie der Verbindung zwischen diesen und den Hauptorten im benachbarten Ausland dienen. Ein gesamtstaatliches Interesse am Bau dieser Straßen wurde daher nur in wenigen Fällen anerkannt. 95 Die Chausseebaukonzeption des Regierungsbe90

Im Regierungsbezirk Arnsberg existierten im Jahre 1831 1,75 km Staatschausseen pro 1000 Einwohner. Im Regierungsbezirk Merseburg waren es 0,99 km pro 1000 Einwohner, im preußischen Durchschnitt 0,53 km pro 1000 Einwohner. Berechnet nach A 3 und A 11. 91 Diese falsche Auffassung äußert: R. Dietrich, Eingliederung, S. 290. 92 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 24 ff. 93 Es handelte sich um die Linien Genthin-Havelberg (später pCh Nr. 85) mit einem Abzweig von Fischbeck nach Tangermünde zur Verbindung von Alt- und Kurmark, Halberstadt-Zilly-Schladen (später pCh Nr 84a) als Post- und Militärstraße in die Westprovinzen, Egeln-Quedlinburg zum Anschluß des wirtschaftlich potenten östlichen Harzvorlandes an die Bezirkshauptstadt, Magdeburg-Helmstedt (später pCh Nr. 87) als direkte Verbindung zwischen Magdeburg und Braunschweig, die sich in einem äußerst schlechten Zustand befand und Magdeburg-Salzwedel-Hannoversche Grenze (später pCh Nr. 86a) zur Verbesserung der „Communication des isolirt gelegenen Landesteils", der Altmark, wobei die Linienführung noch nicht feststand. Ebenda, Bl. 25r. 94

Ebenda, Bl. 36. Von den 15 vorgeschlagenen Linien sind nur 4 als Staatschausseen gebaut worden: Erfurt-Arnstadt (pCh Nr. 75), Schilfa-Greussen (pCh Nr. 79a), WeissenseeLangensalza (pCh Nr. 206) und Schleusingen-Ilmenau (pCh Nr. 75). Die anderen 11 Linien waren: Erfurt-Tiefthal-Witterda-Gräfentonna-Langensalza, Nordhausen-Mühlhausen-Eisenach, Langensalza-Kirchheilingen-Sondershausen, Nordhausen-Mackenrode-Nixey (Kgr. Hannover), Nordhausen-Ellrich, Mühlhausen-Schlotheim-Sonders95

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

163

zirks Merseburg vom 9. Dezember 1834 enthielt 17 wünschenswerte Linien. Im Gegensatz zur Lage in den beiden anderen Bezirken befanden sich davon schon neun Straßen im Bau und waren fünf weitere Projekte bereits genehmigt. 96 Von den übrigen drei beantragten Chausseen wurden mit der Verbindung zwischen Aschersleben und dem anhaltinischen Ballenstedt über Ermsleben (pCh Nr. 90a) und der sogenannten Klausstraße zwischen Hettstedt und Harzgerode zwei vom Staat ausgebaut. Dem also bereits gut ausgestatteten Regierungsbezirk wurde lediglich die Chaussierung der Straße zwischen Bitterfeld und Wolfen verwehrt, die allerdings für das Herzogtum Anhalt-Dessau und das Königreich Sachsen, die die Anschlußstücke nach Dessau bzw. Leipzig bereits hergestellt hatten, nicht jedoch für Preußen, von großer Bedeutung gewesen wäre. 97 Eine 1846 publizierte Aufstellung der in der Zeit zwischen 1830 und 1845 realisierten Chausseebauprojekte, deren Vollständigkeit durch den Vergleich mit aus archivalischen Quellen gewonnenen Einzelinformationen überprüft wurde, enthält sowohl Straßen, deren Chaussierung im Verlauf der Zollauseinandersetzungen geplant bzw. begonnen wurde, als auch Chausseen, die entsprechend der 1834 erarbeiteten Konzeptionen gebaut wurden. 98 Auffallend ist dabei der hohe Anteil der im vorhergehenden Zeitraum meist bewußt vernachlässigten Verbindungen zu den Nachbarstaaten. Von den dreißig zwischen 1830 und 1845 in der Provinz chaussierten Strecken führten allein neunzehn in benachbarte Zollvereinsstaaten und fünf ins Königreich Hannover oder Herzogtum Braunschweig. Bei diesen Projekten handelte es sich entweder um im Eigeninteresse liegende Linien oder um die Erfüllung von in den Zollanschlußverträgen festgelegten Verpflichtungen. 99 Alle darüber hinausgehenden Anträge der Nachbarstaaten, dort bereits bestehende Chausseen auf preußischem Gebiet fortzusetzen, wurden hingegen abgelehnt.100 Da die preußische Zollvereinigungspolitik in Mitteldeutschland ihr Ziel erreicht hatte und sich, ebenfalls ab 1834, der Staatschausseebau auf Linien von gesamtstaatlicher Bedeutung

hausen, Duderstadt-Teistungen-Heiligenstadt, Breitenworbis-Bischofferode-Osterode (Kgr. Hannover), Schleiz-Bahren-Goßwitz-Saalfeld, Schleiz-Ziegenrück-Pößneck und Bahren-Paska-Altenbeuthen-Lobenstein. Ebenda, Bl. 27 ff. 96 Ebenda, Bl. 39 ff. 97 Zum Bau einer Kieschaussee von Dessau nach Leipzig am Ende des 18. Jahrhunderts: H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 217. 98 Vgl. Maresch, Über den Zuwachs an Staatschausseen, S. 194. Die Liste wird in Anlage 29 wiedergegeben. 99 H. Kunze, Wegeregal, S. 43. 100 Im Jahre 1834 wurde ein Antrag Sachsen-Altenburgs, die Straße zwischen Ronneburg und Zeitz zu chaussieren, mit der Begründung abgelehnt, man habe erst 1829/30 die Chaussee Weißenfels-Zeitz auf Wunsch „der benachbarten Regierungen" mit großem Kostenaufwand hergestellt. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 68.

164

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

konzentrieren sollte, weigerte sich die Administration, aus Staatsmitteln Straßen zu bauen, die überwiegend im Interesse ausländischer Wirtschaften lagen. Ein Vergleich mit dem Tempo des Chausseebaues in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zeigt, daß mit dem Erreichen der Zollvereinigung dessen Stellenwert abnahm.

Tabelle 5 Duchschnittliches jährliches Wachstum des Staatschausseebestandes in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1875 Regierungsbezirk

Periode Magdeburg

Merseburg

Provinz Erfurt

(km/Jahr)

Sachsen (km/Jahr)

1816-1826

9,6

13,0

5,8

28,4

1826-1831

4,8

41,6

15,0

61,4

1831-1836

3,0

10,4

17,6

31,0

1836-1841

3,2

6,8

7,6

17,6

1841-1846

55,8

10,4

3,4

69,6

1846-1848

24,5

11,0

3,0

38,5

1848-1852

3,8

6,8

1,3

11,8

1852-1859

7,4

-1,4

6,0

11,9

1859-1862

-9,2

11,0

5,0

6,8

1862-1870

4,6

3,1

4,4

12,1

1870-1875

0,2

0,8

3,0

4,0

Quelle: Anhang, Tabelle A 14.

Wurden also zwischen 1826 und 1831 in der Provinz Sachsen jährlich 61,4 km Straßen chaussiert, waren es zwischen 1831 und 1836 noch 31 km und zwischen 1836 und 1841 nur 17,6 km. Diese Zahlen widerspiegeln aber nicht nur das Ende des Chausseebaues als Hilfsmittel zur Herstellung des Zollvereins, die allgemeinen finanziellen Probleme des Staates und den höheren Aufwand für die Chausseeunterhaltung sowie die Schwierigkeiten in der Organisation der Chausseebauverwaltung. 101 Berücksichtigt man die in der Tabelle 6 101

Vgl. Abschnitte Ε bis I.

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

165

dargestellte unterschiedliche Entwicklung in den drei Regierungsbezirken der Provinz, so wird deutlich, daß der quantitative Rückgang des Staatschausseebaues auch der Tatsache geschuldet war, daß in den Regierungsbezirken Merseburg und Erfurt am Anfang der dreißiger Jahre der Ausbau der für den Fernhandel wichtigsten Straßen weitgehend abgeschlossen werden konnte. Die Chaussierung kürzerer Verbindungsstrecken innerhalb des Territoriums und über die Grenzen, beispielsweise zur Verbindung ehemaliger Konkurrenzstraßen, schlug in einer Gesamtlängen berücksichtigenden Statistik natürlich geringer zu Buche als der Fernstraßenausbau. Daher bewirkte der Übergang vom Straßenbau für den Fernhandel zur Herstellung eines Chausseenetzes durch die Anlegung zahlreicher kürzerer Verbindungsstraßen auch eine Verlangsamung im Wachstum der Gesamtstreckenlänge, also des Chausseebautempos, wie auch das braunschweigische Beispiel zeigen wird.

Tabelle 6 Dichte des Staatschausseenetzes in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1875 Jahr

Regierungsbezirk Magdeburg

Merseburg

Provinz Erfurt

(km/1000 km 2)

Sachsen (km/1000 km 2)

1816

9,67

24,72

24,37

17,82

1826

17,70

36,98

40,25

28,66

1831

19,72

56,60

60,79

40,39

1836

20,97

61,51

84,88

46,31

1841

22,32

64,72

95,29

49,67

1846

45,73

69,62

99,95

62,97

1848

49,84

71,70

101,59

65,91

1852

51,09

74,25

102,96

67,71

1859

55,42

73,30

114,46

70,90

1862

53,11

76,42

118,57

71,68

1870

56,21

78,77

128,15

75,39

1875

56,30

79,15

132,26

76,15

Quelle: Anhang, Tabelle A 14.

166

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Im nördlich der Linie Helmstedt-Magdeburg-Potsdam gelegenen Teil des Regierungsbezirks Magdeburg begann der Fernstraßenbau in nennenswertem Umfang erst ab 1840. 102 Mit dem nach jahrzehntelanger Verzögerung 1834 begonnenen Ausbau der Straße von Magdeburg nach Salzwedel (pCh Nr. 86) kam man in den dreißiger Jahren nur langsam voran. 103 Die Umsetzung der Baukonzeption von 1834 erfolgte in der Hauptsache erst in den vierziger Jahren. Von 1841 bis 1846 verdoppelte sich das Staatschausseenetz des Magdeburger Bezirks. In dieser Zeit wurden pro Jahr 55,8 km Landstraßen chaussiert. Davon entfielen allein auf die Verbindungen von Magdeburg mit Helmstedt (pCh Nr. 87), Salzwedel (pCh Nr. 86) und Wittenberge (pCh Nr. 86a) sowie die Chaussee von Genthin nach Havelberg (pCh Nr. 85) etwa 235 km neue Chausseen. Dieser zweite Chaussierungsschub in der Provinz Sachsen verminderte die regionalen Differenzen der Chausseenetzdichte innerhalb der Provinz. Neben der Absatzförderung für die regionale Wirtschaft, die in der Altmark und in den ostelbischen Kreisen fast vollständig durch agrarische Produktion geprägt wurde, lagen dem Chausseebau erneut auch handelspolitische Motive zu Grunde. Die drei Nord-Süd-Verbindungen sollten den Verkehr zwischen Hamburg und Mittel- bzw. Süddeutschland, soweit er nicht die Elbe benutzte, zu Lasten des Königreichs Hannover auf preußisches Territorium ziehen. In den vierziger Jahren beeinflußte also das Verhältnis zwischen Zoll- und Steuerverein die Auswahl der zu chaussierenden Strecken erheblich. Auch die Straßen von Halberstadt nach Blankenburg (pCh Nr. 84e) und Magdeburg nach Helmstedt (pCh Nr. 87) wurden unmittelbar nach dem jeweiligen Beitritt der braunschweigischen Gebiete zum Zollverein chaussiert bzw. vollendet. 104

2. Die Chausseenetzentwicklung unter dem Einfluß von Eisenbahnbau und beginnender Industrialisierung Noch vor der endgültigen Fertigstellung der als Fernhandelsträger konzipierten Chausseen entwickelte sich mit der Eisenbahn ein wesentlich leistungsfähigerer Landverkehrsträger, der die Funktion der Chausseen innerhalb weniger Jahre grundlegend ändern sollte. In der Provinz Sachsen wurden in einer ersten Eisenbahnbauphase zwischen 1838 und 1849 immerhin sieben Eisenbahnstrecken durch private Eisenbahngesellschaften gebaut. In den Jahren 102 Dieser Rückstand der Straßenverkehrsinfrastruktur in der Altmark ist auch insofern bemerkenswert, weil um 1800 innerhalb der Mark Brandenburg die Altmark besonders reich an Fuhrleuten war. Vgl. F.-W. Henning, Standorte und Spezialisierung, S. 176 f. 103 104

LHA SA Magdeburg, Rep. C 28 I a, Nr. 149. R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 66 ff.

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

167

1857 bis 1859 kamen dann vier weitere, alle den Regierungsbezirk Merseburg durchziehende Strecken hinzu.

Tabelle 7 Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der preußischen Provinz Sachsen bis 1862 über

eröffnet

Magdeburg-(Leipzig)

Schönebeck, (Kothen), Halle

1839/1840

Berlin-Kothen

Wittenberg, (Dessau) Oschersleben

1840/1841

Eisenbahn

Magdeburg-(Jerxheim)

Oschersleben-Halberstadt Magdeburg-(Berlin)

1843 Genthin,Burg

Halle-Eisenach

Weißenfels, Erfurt

Jüterbog-Riesa

Herzberg, Falkenberg Wolmirstedt, Stendal, Osterburg

Magdeburg(Wittenberge)

1843

1846 1846/1847

1848 1849

Bitterfeld-(Dessau) Halle-Wittenberg

Bitterfeld

1857 1859

Bitterfeld-Leipzig Weißenfels-Gera Halberstadt-Thale

Delitzsch Zeitz Quedlinburg

1859 1859 1862

Kreise Magdeburg, Wanzleben, Calbe, Bitterfeld, Saalkreis, Halle, Merseburg Wittenberg Magdeburg, Wanzleben, Oschersleben, Neuhaldensleben Oschersleben, Halberstadt Magdeburg, Jerichow I, Jerichow II Halle, Saalkreis, Merseburg, Weißenfels. Naumburg, Erfurt Schweinitz, Torgau, Liebenwerda Magdeburg, Wolmirstedt, Stendal, Osterburg Bitterfeld Halle, Saalkreis, Delitzsch, Bitterfeld, Wittenberg Bitterfeld, Delitzsch Weißenfels, Zeitz Halberstadt, Aschersleben

Quelle: eigene Zusammenstellung

V o n der Zusammensetzung der transportierten Waren her trat die Eisenbahn vorrangig als Konkurrent der Binnenschiffahrt auf. 1 0 5 I m allgemeinen übertrafen schon in den vierziger Jahren parallel verlaufende Eisenbahnen die Transportleistung der Binnenschiffe. Der Elb- und Saaleschiffahrt „verblieben haupt-

105 Vgl. F.Voigt, Verkehr, S. 247, 251, 317 ff.; O.Most, Binnenschiffahrt, S. 43; A. Kunz / R. Federspiel, Verkehrsentwicklung Oberschlesiens, S. 243 ff.

168

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

sächlich die zu den unteren Zollklassen zählenden Massengüter." 106 Da allerdings aufgrund der Industrialisierung Bedarf und Absatz dieser Massengüter ebenfalls stiegen, kam es zu keinem absoluten Rückgang der Schiffstransporte. Ab 1870 gewann die Binnenschiffahrt sogar Transportanteile zurück. 107 Dies war vor allem auf die Kapazitätserhöhung der Dampfschiffe, die Aufhebung der letzten Zölle sowie eine Verbesserung der Wasserwege durch den Staat zurückzuführen. Der Eisenbahnbau wirkte aber auch in vielfältiger Weise auf das Straßenwesen. Er rief einen Funktionswandel der Landstraßen vom Fern- zum Lokalverkehrsträger hervor. Dieser Prozeß beeinflußte zunächst die Entwicklung der Verkehrsströme sowie die Struktur und den Umfang der transportierten Waren. 108 Derartige Veränderungen wirkten sich aber auch auf den Stellenwert bereits vorhandener Chausseen und die im folgenden zu betrachtende Weiterentwicklung des Straßennetzes aus. Wegen der weitgehenden Übernahme des auf Landwege angewiesenen Fernhandelsverkehrs durch die Eisenbahn entfiel das wichtigste Motiv für den Staatschausseebau. Dementsprechend sank der Umfang des preußischen Staatschausseebaus seit Mitte der vierziger Jahre. 109 Das Engagement des Zentralstaates wäre jedoch ohne Eisenbahnbau ebenfalls zurückgegangen, wenn auch in geringerem Maße. Im Regierungsbezirk Merseburg hatte bekanntlich das Chausseebautempo bereits am Ende der zwanziger Jahre seinen Höhepunkt erreicht. In den Regierungsbezirken Düsseldorf, Köln, Minden, Frankfurt und Breslau ließ das staatliche Engagement in den dreißiger Jahren nach. In den übrigen Bezirken der westlichen und mittleren Provinzen Preußens wäre ein solcher Rückgang mit dem vollendeten Ausbau der wichtigsten Fernhandelsstraßen seit den vierziger Jahren ohnehin zu erwarten gewesen. 110 Bereits die Instruktion vom 8. November 1834 hatte die Wende zu einer zurückhaltenderen und sparsameren Straßenbaupolitik in Preußen eingeleitet. Zu diesem Zeitpunkt existierte in Deutschland noch keine Eisenbahn. Die Veränderung der Straßenbaupolitik ist daher auf den erfolgreichen Abschluß der preußischen Zollpolitik und die zeitgleiche Übernahme der verkehrspolitischen Verantwortung durch den Seehandlungspräsidenten Christian von Rother zurückzuführen. 111

106 H.J. Rook, Entwicklung der Elbschiffahrt, S. 65 f. Vgl. auch R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 61 ff.; P. Beyer, Leipzig, S. 183. 107 Vgl. H.J. Rook, Entwicklung der Elbschiffahrt, S. 98 ff.; H.-J. Teuteberg, Kanalwesen, S. 23 f. 108 Zur Entwicklung der Straßenverkehrsströme und der Straßenverkehrsintensität: U. Müller, Verkehrsintensität, S. 26 ff. 109 Vgl. Tabelle A 4. 110 Vgl. Tabelle A 5. 111 Ausfuhrlich dazu Abschnitt F.

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

169

Die östlichen Provinzen Preußens erhielten bis in die vierziger Jahre verhältnismäßig weniger Chausseen als das übrige Staatsgebiet. Da hier auch relativ wenige Eisenbahnen gebaut wurden, nahm der Staatschausseebau noch in den fünfziger Jahren zu. Ein Vergleich des Wachstums der Staatschausseenetze in den einzelnen preußischen Regierungsbezirken zwischen 1846 und 1862 mit der Dichte des gesamten Verkehrsnetzes im Jahre 1862 zeigt eine umgekehrte Proportionalität dieser Faktoren auf. Es ergibt sich ein Pearsonscher Korrelationskoeffizient von r = -0,37. 112 Der staatliche Chausseebau sollte also der regionalen Konvergenz innerhalb Preußens dienen. In ähnlicher Form konzentrierten sich auch innerhalb der preußischen Provinz Sachsen die wenigen zwischen 1845 und 1862 durchgeführten Staatschausseebauten auf die noch eisenbahnlosen Gebiete. Beinahe der gesamte Erfurter Regierungsbezirk, der Harz, das südöstliche Harzvorland und die westliche Altmark waren noch zu Beginn der sechziger Jahre ohne Eisenbahnanschluß.113 In diesen Regionen wurden nach 1845 mit der Chaussierung der Abschnitte zwischen Querfurt und Freyburg (pCh Nr. 90), Seehausen und Wittenberge (pCh Nr. 86a), Stendal und Fischbeck (pCh Nr. 84b), Sandau und Havelberg (pCh Nr. 85) mehrere Fernstraßen vollendet. Die Herstellung der 41 km langen Chaussee von Salzwedel nach Seehausen (pCh Nr. 86b) stellte nach 1845 das größte neue staatliche Chausseebauprojekt dar. In den anderen Landesteilen wurden keine neuen Chausseen für den Fernverkehr mehr gebaut, sondern lediglich ältere Projekte vollendet. Der Staatschausseebau konzentrierte sich also seit dem Beginn des Eisenbahnbaues hauptsächlich auf Regionen, deren Erschließung fur die überwiegend privatwirtschaftlich betriebenen Eisenbahnen mit ihrem höheren Bedarf an Grundlageninvestitionen noch nicht profitabel war oder erschien. Es wäre allerdings nicht richtig, die Bedeutung der Chausseen nach dem Beginn des Eisenbahnzeitalters vorrangig als vorübergehende Ersatzfunktion für noch nicht gebaute Eisenbahnlinien zu charakterisieren. Eine solche These würde nämlich implizieren, daß der Straßenverkehr durch den fortdauernden Ausbau des Eisenbahnnetzes letztlich völlig bedeutungslos geworden wäre. 114 Eine derartig vollständige Substitution wäre unter verkehrsökonomischen Aspekten „untypisch". 115 Entscheidend für die Wahl eines Verkehrsmittels sind schließlich nicht technologische Perspektiven, sondern ökonomische Erwägun-

112

Berechnet aus Tabellen A 5 und A 10. Vgl. Tabelle 6. 114 Eine solche Implikation erfolgt u.a. bei: E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner/ H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 34 f. 115 R. Willeke, Motorisierung und Volkswirtschaft, in: H. Pohl (Hrsg.), Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986, Stuttgart 1988 (= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beih. 52), S. 18. 1,3

170

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

gen unter Berücksichtigung der geographischen Verhältnisse. 116 Die wesentlich höhere technische Qualität der von der Eisenbahn erbrachten Verkehrsleistung, die sich in einer Überlegenheit bei fast allen Kriterien der Verkehrswertigkeit, nämlich in Bezug auf Schnelligkeit, Massenleistungsfähigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit, Bequemlichkeit und Häufigkeit niederschlug, versetzte die Eisenbahn weder kurz- noch mittelfristig in die Lage, den gesamten Landverkehr zu übernehmen. 117 Ungeachtet des sich beim Vergleich zwischen Eisenbahn und Straßenfahrzeug ergebenden immensen Gefälles im technologischen Entwicklungsstand benutzte der Handelsverkehr weiterhin die Straße, wenn die Summe der Kosten fur den Eisenbahntransport, das Umladen der Güter auf den Bahnhöfen und den Straßentransport größer war als die Forderungen der Fuhrunternehmer für den direkten Transport. Neben dem Preis bestimmten aber auch die Transportgeschwindigkeit und die Art der Güter die Wahl des Verkehrsmittels. Aus diesem Grund wurden die Chausseen und Landstraßen weiterhin für Nahtransporte mit landwirtschaftlichen Gütern benutzt. 118 Die Rentabilität der Eisenbahn hing also von der Existenz eines komplementären, zum Haus-Haus-Verkehr fähigen Verkehrsmittels ab. 119 Der in Bezug auf die Massenleistungsfähigkeit der Strecken, die Sicherheit, Schnelligkeit und Bequemlichkeit zweifelsfrei höheren Verkehrswertigkeit der Eisenbahn im Vergleich zum Fuhrwerk stand trotz der rasanten Entwicklung des Eisenbahnbaus im Deutschen Bund noch lange Zeit eine mangelnde Netzbildungsfähigkeit des neuen Verkehrsträgers gegenüber. 120 Der Straßenverkehr übernahm daher in weiten Teilen die Vermittlung zu den Eisenbahnstationen. Damit partizipierte er natürlich an der durch die Innovation Eisenbahn hervorgerufenen vermehrten Nachfrage nach Transportdienstleistungen.

116

R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 92. Einen Vergleich der Verkehrswertigkeiten der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorhandenen Verkehrsträger versucht: H. Witte, Lebensadern der Wirtschaft, S. 170. 118 Ähnliches wurde auch für das Großherzogtum Baden festgestellt. Vgl. A. Schneider, Eisenbahn und Landwirtschaft im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1908, S. 93 f. 119 W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa, S. 160 f. W. Zorn, Verdichtung und Beschleunigung, S. 123. 120 Die Herausbildung eines große Flächen erschließenden Eisenbahnnetzes, vor allem durch den Bau von Kleinbahnen, war erst um die Jahrhundertwende abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt existierten in Preußen neben den 29.463 km Eisenbahnlinien auch 96.510 km Chausseen. Vgl. E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 55 ff.; E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 115. 117

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

171

Nachdem die Landstraßen für den Fernhandelsverkehr nicht mehr gebraucht wurden, dienten sie hauptsächlich zur Erschließung von Flächen.121 Dieser Funktionswandel rief grundlegende Veränderungen der Verkehrsströme hervor. 122 Aber auch die Linienführung neuer Chausseen richtete sich nicht mehr hauptsächlich nach Fernhandelsströmen oder Zollgrenzen. Schwerpunkt der Chausseebautätigkeit wurde jetzt die Herstellung eines Chausseenetzes. In diesem Netzbildungsprozeß stellten die Eisenbahnstrecken und ihre Bahnhöfe, in einigen Gebieten auch Wasserstraßen und ihre Häfen, Orientierungslinien bzw. -punkte dar. Deren geographische Lage schuf neue oder bestätigte alte zentrale Orte auch im Chausseenetz.123 Die Zeitgenossen stellten etwas erstaunt fest: „Selbst die fortschreitenden Eisenbahnbauten haben in den letzten zehn Jahren das Bedürfnis ... nach kunstmäßig gebauten Straßen ... nur vermehren können, da die Schienenwege an den Chausseen eine nothwendige Ergänzung haben, durch welche sie auch den Verkehr der nicht unmittelbar anliegenden Orte und Landschaften an sich ziehen." 124 In jedem Kreis und in vielen größeren Orten waren Landräte und Bürgermeister bestrebt, einen direkten Eisenbahnanschluß zu erhalten. Wenn dieses Ziel nicht erreichbar war, so sollte man zumindest über Chausseen und in möglichst direkter Linie zum nächsten Bahnhof oder Hafen gelangen können. 125 Diese gesteigerte Aktivität resultierte nicht zuletzt aus der Befürchtung, bei der Neustrukturierung des Verkehrsnetzes in schlechtere Positionen zu gelangen. So begründete der Landrat des Kreises Salzwedel von der Schulenburg sein plötzlich enorm gewachsenes Engagement für den Straßenbau in seinem Kreis: „Wer diesen Zeitpunkt nicht benutzt, auf immer von den Vortheilen ausgeschlossen werden muß, der größere Handel nimmt sonst andere Wege und ist vielleicht nie mehr zu gewinnen, der dadurch bedingte Zwischenverkehr sinkt mit, wenn ersterer sich fortzieht, und wo reges kräftiges Leben sein könnte, wird man ein träges Hinhalten gesunkenen Wohlstandes bald erblicken." 126 Ähnlich wie bei der zwischenstaatlichen Konkurrenz im Eisenbahnbau dieser Zeit dachte von der Schulenburg „in den Kategorien des Nullsummenspiels und erwartete kein gesteigertes Verkehrsvolumen, sondern nur eine Umver-

121

E. Rehbein, Die Verkehrsrevolution als integrierender Bestandteil der industriellen Revolution, in: Umwälzung der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1989, S. 206. 122 Vgl. U. Müller, Verkehrsintensität, S. 35 ff. 123 Zum Konzept der zentralen Orte: W. Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland, Jena 1933. 124 Über den Chausseebau, 1847, S. 102. Vgl. auch W. Lötz, Verkehrsentwicklung, S. 127. 125 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 356. 126 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 147r.

172

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

teilung." 127 Aus dieser an einer stationären Wirtschaft orientierten, urmerkantilistischen128 Denkweise resultierte in diesem Fall ein wichtiger Wachstumsimpuls für das Verkehrswesen. Eines der zahlreichen Beispiele für einen vom Eisenbahnbau ausgehenden Anreiz zum Chausseebau stellte der Bau der Straße Chaussee von Querfurt nach Eisleben dar. Dieser war schon seit Beginn der fünfziger Jahre gefordert worden, wurde aber erst durch den 1865 bis 1867 erfolgenden den Bau der Eisenbahnlinie Halle-Eisleben-Kassel realisiert. 129 Für die Mehrheit der Orte ermöglichte erst der Bau solcher Anschlußstraßen die Teilnahme an den sich durch die Industrialisierung und die Kapitalisierung der Landwirtschaft ständig ausweitenden Marktbeziehungen. Andererseits bildete die Senkung der Transportkosten eine wesentliche Voraussetzung für die Expansion der Marktwirtschaft, indem sie eine echte Konkurrenz um die niedrigsten Produktionskosten ermöglichte. 130 Auch wenn diese Transportkostensenkung entscheidend durch Eisenbahnbau und Dampfschiffahrt bewirkt wurde, da diese neben der Verbesserung der Transportwege auch effektivere Verkehrsmittel bereitstellten, erleichterte doch die Straßenzustandsverbesserung in Form der Chaussierung für die Mehrzahl der Orte den Anschluß an die neuen Verkehrsträger wesentlich. Gerade in der preußischen Provinz Sachsen, in der die Industrialisierung durch die dezentral gelegene landwirtschaftliche Nebenindustrie vorangetrieben wurde, blieb der Straßenverkehr sowohl fur deren Belieferung mit Roh- und Brennstoffen als auch für den Absatz der Produkte wichtig. Die Qualität der Verkehrsinfrastruktur wurde daher vor allem durch das optimale Zusammenwirken der einzelnen Verkehrsträger bestimmt. Die im Regierungsbezirk Magdeburg nun einsetzende Netzverdichtung bzw. deren Weiterführung in den Regierungsbezirken Erfurt und Merseburg entwikkelte sich mangels übergeordneter staatlicher Interessen und finanzieller Mittel zur Aufgabe von Kreisen, Gemeinden, Aktiengesellschaften und Privatpersonen. Bezieht man den Bau dieser Nichtstaatsstraßen in einen zeitlichen Vergleich ein, so wird deutlich, daß trotz der fast vollständigen Einstellung des Fernstraßenbaues infolge der teilweise erreichten Sättigung und der Konkur-

127 R. Fremdling / R. Federspiel / A. Kunz (Hrsg.), Statistik der Eisenbahnen, S. 3. Vgl. auch R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 109. 128 Bereits der Begründer des englischen Merkantilismus Thomas Mun (1571-1641) gründete seine Theorie auf der Vorstellung von einem relativ unveränderbaren Handelsvolumen und folgerte daraus: „One man's loss is another man's gain." Vgl. R.H. Tilly (Hrsg.), Geschichte der Wirtschaftspolitik. Vom Merkantilismus zur Sozialen Marktwirtschaft, München-Wien 1993, S. 9. 129 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 71. 130 F. Voigt, Verkehr, S. 1119.

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

173

renz der wesentlich leistungsfähigeren Eisenbahn das Tempo des Chausseebaues insgesamt nach 1846 noch einmal forciert wurde. 131 Während sich die Darstellung der Chausseenetzentwicklung bis 1845 auf die Beschreibung des Staatschausseebaus konzentrieren konnte, weist die Statistik für 1862 einen bereits beträchtlichen Anteil von „Nichtstaatschausseen" aus. 1846 existierten in der gesamten Provinz Sachsen außer den 1648 km Staatsstraßen etwa 133 km nicht vom Staat zu unterhaltende Chausseen.132 Dabei handelte es sich neben der Bergwerkschaussee von Helbra nach Leimbach ausschließlich um privat bzw. durch Aktiengesellschaften finanzierte Steinstraßen.133 Von diesen lagen allein 56 km „in den Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Wernigerode, welche von den dortigen Standesherren erbaut worden sind." 134 Im Jahre 1862 war die Gesamtlänge der Staatsstraßen der Provinz auf 1876 km, also um 11,3%, gestiegen, während es im gleichen Jahr bereits 1502 km nichtstaatliche Chausseen gab, also mehr als das Elffache der im Jahre 1846 vorhandenen Kreis-, Gemeinde-, Bergwerks-, Aktien- und Privatchausseen.135 Zwischen 1846 und 1862 nahm die Länge der Staatschausseen in der Provinz Sachsen im Durchschnitt jährlich um nur 14,2 km zu. Gleichzeitig wuchs der Bestand der nichtstaatlichen Chausseen jedes Jahr um 85,6 km, also etwa sechsmal schneller. 136 (Vgl. Tabelle 8 auf S. 174) Im Rahmen des gesamten Königreichs Preußen kamen zwischen 1846 und 1862 auf 1 km gebaute Staatschaussee 3,6 km gebaute Nichtstaatschausseen.137 Dieser abrupte Wechsel der Hauptträgerschaft für den Bau neuer Straßen stellte die Reaktion der preußischen Straßenbaupolitik auf den Funktionswechsel der Chausseen dar. 138

131

Schon W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft, S. 270, hat darauf hingewiesen, daß die Periode regen Chausseebaus in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, also gleichzeitig mit dem Eisenbahnbau beginnt. - Auch in Württemberg hatte der Eisenbahnbau „auf den Umfang des Straßennetzes eher eine expansive Wirkung." L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 62. - In Österreich konnte „nicht von einer Verminderung der Bedeutung, sondern wohl nur von einer Verschiebung in der Rangordnung der Straßen im Hinblicke auf ihre Verkehrsbedeutung die Rede sein." A. Birk, Die Straße, S. 786. 132

Vgl. Tabellen A 14, A 15 und A 30. Auch die in der Tabelle A 30 als Gemeindechaussee ausgewiesene Straße von Tangermünde nach Bolsdorf wurde zunächst als Privatchaussee gebaut. 134 Über den Chausseebau, 1847, S. 108 f. 135 Vgl. Tabelle A 15. 136 Berechnet auf Grundlage der Daten in Tabelle A 1. 137 Es wurden im Durchschnitt jährlich 204 km Staatschausseen gebaut. Der Bestand an Nichtstaatschausseen wuchs im gleichen Zeitraum von 2363 km auf 13971 km, also um 726 km jährlich. Vgl. Über den Chausseebau, 1847, S. 109 sowie Tabelle A 1. 138 Analoge Prozesse sind aus Österreich und Württemberg bekannt. Vgl. J. Wysocki, Infrastruktur, S. 21; W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, S. 59 f. 133

174

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre Tabelle 8 Anteil der Nichtstaatschausseen am gesamten Chausseenetz in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1816-1874

Jahr

Provinz

Regierungsbezirk Magdeburg

Merseburg

Erfurt

Sachsen

(%)

(%)

1816

2,10

1831

1,49

1846

IM

1848

9,59

7,43

8,62

8,44

1859

47,93

20,47

47,62

39,03

1862

58,23

22,21

47,34

44,47

1870

63,25

32,17

47,36

49,96

1874

52,76

Berechnet nach: Tabellen A 14 und A 15.

Während sich die Staatschausseebauten stärker auf Gebiete konzentrierten, die über ein relativ dünnes Verkehrsnetz verfugten, wurden die Nichtstaatschausseen als ausgesprochene Komplementärbauten hergestellt. Da dieser Nichtstaatschausseebau den Staatschausseebau an Umfang übertraf, verschärften sich im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre die regionalen Disparitäten. Vorausgegangene staatliche Grundlageninvestitionen in Straßen-, Eisenbahnoder Kanalbau, private Eisenbahnbauten oder die Lage an einem natürlichen Wasserweg beförderten also die Investitionsbereitschaft von Gebietskörperschaften und privaten Unternehmern. Der Begriff der nichtstaatlichen Chausseen bedeutet allerdings lediglich, daß diese Chausseen nicht vom Staat zentral finanziert und unterhalten wurden. Im Gegensatz zum preußischen Eisenbahnbau jener Zeit floß relativ wenig privates Kapital in den Straßenbau. Aktien- und Privatchausseen machten im Jahre 1862 nur 5,2 % des provinzialsächsischen Chausseenetzes aus, wobei in dieser Zahl sogar schon die Chausseen der Stoiberger Grafen als Privatchausseen enthalten sind, die im Kreis Wernigerode wegen dessen Sonderstatus und zum Teil auch im Kreis Sangerhausen faktisch Staats- oder Kreischausseen dar-

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

175

stellten. 139 Die meisten seit Beginn der fünfziger Jahre gebauten Chausseen wurden also mit öffentlichen Mitteln hergestellt und unterhalten, allerdings nicht auf zentralstaatlicher Ebene, sondern durch Kreise und Gemeinden. Der Straßenbau bildete so eines der ersten BeWährungsfelder für die moderne Selbstverwaltung der preußischen Kreise und Gemeinden.140 Die Entwicklung des Chausseenetzes reflektierte daher nicht allein den objektiven Funktionswandel der Landstraßen vom Fernhandels- zum Lokalverkehrsträger infolge des Eisenbahnbaus. Sie wurde gleichzeitig zum Indikator für lokale Verkehrsbedürfnisse und Wirtschaftskräfte sowie deren Umsetzung durch die Kreis- und Gemeindeverwaltungen sowie private Unternehmer. 141

3. Der Entwicklungsstand der Verkehrsinfrastruktur der preußischen Provinz Sachsen im Jahre 1862 Für die quantitative Analyse des Entwicklungsstandes der Straßenverkehrsinfrastruktur ergeben sich aus dem Bau der zahlreichen Nichtstaatschausseen mehrere Konsequenzen. Zum einen wird eine Messung der Straßenverkehrsintensität erschwert, da deren einzige Grundlage, die Chausseegeldeinnahmen der Staatschausseen, an Quellenwert verliert. 142 Zum anderen gewinnt jedoch durch die bloße Tatsache der Netzverdichtung der Indikator Netzdichte an Bedeutung, da er jetzt tatsächlich die Qualität eines Systems und nicht nur die durch überregionale Faktoren verursachte Lage einer oder weniger Straßenzüge in einer Region beschreibt. Außerdem stellten die Nichtstaatschausseen diejenige Kategorie von Verkehrswegen dar, deren Errichtung sich am stärksten auf die intellektuellen und finanziellen Ressourcen der entsprechenden Region gründeten. Erst der Netzverdichtungsprozeß macht daher Vergleiche auf der Basis kleinerer territorialer Einheiten sinnvoll. Die preußische Statistik weist erstmals für das Jahr 1862 auf Kreisebene aggregierte Daten über die Länge der Eisenbahnlinien, Wasserstraßen und Staatschausseen, aber auch Kreis-, Gemeinde-, Privat- und Aktienchausseen aus.143 Zur Darstellung günstiger bzw. ungünstiger Verkehrslagen verschiedener Regionen wäre natürlich die Existenz einer früheren Erhebung wünschens139 Die Grafen von Stolberg-Wernigerode übten im Kreis Wernigerode Herrschaftsrechte aus, die über die Befugnisse eines Landrates weit hinausgingen. Vgl. W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 13. Vgl. auch Abschnitt F.II. 140 Vgl. Abschnitte F und H sowie zu einzelnen Kreischausseebauprojekten Kapitel I.III. 141 Vgl. Abschnitt J. 142 Vgl. U. Müller, Verkehrsintensität, S. 31. 143 von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 206 ff.

176

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

wert. Selbst wenn jedoch ältere Daten vorlägen, ermöglichten sie nicht die Verwendung des Indikators Verkehrsnetzdichte zur Widerspiegelung regionaler Unterschiede der Wirtschafts- und Finanzkraft, des Interesses an Marktpartizipation und des verkehrspolitischen Engagements einzelner Kreistage oder Gemeinden. Während nämlich die Staatschausseebauten Ergebnis zentralstaatlicher Planungen waren, wurden Nichtstaatschausseen von regionalen Körperschaften und Unternehmen finanziert und entsprangen daher in erster Linie regionalen Interessen und regionaler Finanzkraft. Zwar bezeichneten die Zeitgenossen diese Nichtstaatschausseen häufig auch als „Prämienchausseen", weil ihnen auf Antrag staatliche Subventionen gewährt wurden. Tatsächlich scheiterten auch etliche Projekte an der Verweigerung der Prämienzahlung durch den Staat.144 Festzuhalten ist aber zunächst, daß die regionalen Körperschaften und ortsansässigen Privatpersonen in jedem Fall die entsprechenden Projekte initiiertem und den Bau auch größtenteils aus eigenen Mitteln finanzierten. 145 Dabei ist die Unterscheidung zwischen den Kreis-, Gemeinde-, Aktien- und Privatchausseen relativ unerheblich, denn in vielen Fällen schlossen sich verschiedene Gemeinden zu Chausseebau-Aktiengesellschaften zusammen, während andererseits Ritterguts- und Fabrikbesitzer sowie Eisenbahngesellschaften Zuschüsse für Kreis- und Gemeindechauseebauten leisteten.146 Eine Analyse des Entwicklungsstandes der Verkehrsinfrastruktur im Jahre 1862 muß von der Eisenbahn ausgehen. Schließlich stellte sie innerhalb des Verkehrswesens und wahrscheinlich auch im Bereich der gesamten Infrastruktur das wichtigste Subsystem dar, obwohl sie noch nicht alle Landesteile erreicht hatte, somit auch quantitativ in der Struktur nicht dominierte und in hohem Maße dem Durchgangsverkehr diente. Betrachtet man die im Jahre 1862 vorhandenen Eisenbahnlinien, so erkennt man in den Verbindungen von Magdeburg und Halle untereinander sowie mit Leipzig, Berlin, Braunschweig, Frankfurt a.M. und Hamburg die wichtigsten Fernhandelströme. 147 Dazu kamen ein Abschnitt der Berlin-Dresdner Eisenbahn sowie Anschluß- bzw. Querverbindungen von Halberstadt nach Oschersleben und Thale, von Bitterfeld nach Dessau und Leipzig sowie von Weißenfels nach Gera. Die Orientierung an den Fernhandelswegen wird auch dadurch deutlich, daß die Eisenbahnnetzdichte mit der Staatschausseenetzdichte positiv korrelierte (r = 0,26), da ja zuvor auch die Linienführung der Staatschausseen unter ähnlichen Präferenzen festgelegt worden war.

144

Vgl. Abschnitt F. Sowohl die Eigentümer als auch die Aktionäre der Chausseebaugesellschaften waren in allen mir bekannten Fällen mit der jeweiligen Region verbunden. 146 Vgl. Abschnitt F. 147 Vgl. Tabelle 6 auf S. 167. 145

II. Die Entwicklung des Chausseenetzes in der preußischen Provinz Sachsen

177

Neben den Eisenbahnen wurden in der Erhebung aus dem Jahre 1862 auch die in den einzelnen Kreisen vorhandenen schiffbaren Wasserstraßen erfaßt. 148 Bezeichnet man Eisenbahnen, schiffbare Wasserstraßen und Chausseen als modernes Verkehrswegenetz, so nahmen im Jahre 1862 die 713 km Eisenbahnlinie und die schiffbaren Wasserstraßen gleicher Länge jeweils 14,8 % dieses Netzes ein. Als Wasserstraßen dienten die Elbe, die Saale, der Unterlauf der Unstrut sowie der Plauesche Kanal. Da letzterer bereits 1742 gebaut wurde und Flußregulierungsarbeiten größeren Ausmaßes erst in den sechziger Jahren begannen, veränderten sich die von den Wasserstraßen ausgehenden Effekte im Untersuchungszeitraum nicht maßgeblich. Die Modernisierung des Binnenschiffahrtsverkehrs durch Einführung der Dampfschiffahrt war also nicht verbunden mit einer neuen Struktur im Wasserverkehrswegesystem. Daher veränderte sie, im Gegensatz zur Eisenbahn, die Stellung einzelner Linien innerhalb des Straßennetzes nicht. Anziehende Wirkungen auf den Straßenverkehr übten hingegen Hafen- und Brückenbauten aus. In Abhängigkeit von der Existenz von Brücken behinderten breite Flüsse wie die Elbe aber auch die Kommunikation zu Lande und wirkten in ähnlicher Weise wie Gebirge als natürliche Verkehrshindernisse. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß Brückenbauten extrem teuer waren. 149 Im Jahre 1862 berührte die Eisenbahn nach der Fertigstellung der oben erwähnten 11 Eisenbahnlinien 26 der 41 Kreise der Provinz. 150 14 dieser 26 Kreise und 4 der 15 eisenbahnlosen Kreise verfügten über schiffbare Wasserstraßen. Daher waren in 11 Kreisen die Chausseen auch noch im Jahre 1862 die einzigen Fernverkehrswege. 151 Tatsächlich lag die Chausseenetzdichte in 9 dieser in besonders hohem Maße auf den Straßenverkehr angewiesenen Kreise zum Teil beträchtlich über dem Provinzdurchschnitt von 129 km / 1000 km . 1 5 2 In diesen Kreisen hatte man sich also bemüht, den fehlenden Anschluß an Eisenbahn· und Wasserstraßennetz wenigstens teilweise durch ein relativ dichtes Chausseenetz zu kompensieren. Die erste Ausnahme bildet mit dem Kreis Gardelegen ein wirtschaftlich rückständiges Gebiet, das im übrigen auch die geringste Bevölkerungsdichte der gesamten Provinz aufwies. Bevor jedoch auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Chausseenetzdichte eingegangen wird, 1 5 3 soll auf der Grundlage der für das 148

Vgl. Tabellen A 20 und A 21. Vgl. dazu im einzelnen Kapitel I.I. 150 Vgl. Tabelle A 21. 151 Es handelte sich dabei um die Kreise Gardelegen und Wernigerode im Magdeburger Regierungsbezirk, Mansfelder Gebirgs- und Mansfelder Seekreis im Regierungsbezirk Merseburg sowie die Kreise Langensalza, Mühlhausen, Nordhausen, Schleusingen, Weissensee, Worbis und Ziegenrück im Regierungsbezirk Erfurt. 152 Vgl. Tabelle A 22. 153 Vgl. Abschnitt J. 149

12 Uwe Müller

178

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Jahr 1862 ausgewiesenen Netzdichten die Bedeutung der einzelnen Verkehrsträger in den Kreisen erläutert werden. Dabei interessierten vor allem die fern vom Provinzdurchschnitt liegenden Werte. Außerhalb des Bereiches „normaler" Verkehrsinfrastrukturausstattung zeigten sich verschiedene Varianten. Es existierten erstens Kreise mit guter Anbindung an den Fernverkehr über Eisenbahnen bzw. Wasserstraßen, die aus eigener Kraft Chausseen gebaut haben, um auch den Komplementaritätsverkehr zu gewährleisten. Derartige synergetische Effekte waren im nördlichen und östlichen Harzvorland und bei der Herausbildung des Stendaler Gebietes zum wirtschaftlichen und Verkehrszentrum der Altmark zu beobachten.154 Eine zweite Gruppe von Kreisen war so gut mit Eisenbahnen, Wasserstraßen und Staatschausseen ausgestattet, daß das Interesse am Nichtstaatschausseebau gering war. Es handelte sich dabei um die direkt an der Elbe gelegenen Gebiete 155 und den südöstlichen Teil der Provinz, der ebenfalls zu den Wachstumsregionen gehörte. 156 Der Nichtstaatschausseebau ist allerdings in den ehemals kursächsischen Gebieten durch langwierige juristische Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit für sogenannte fiskalische Straßen stark behindert worden. 157 Eine dritte Gruppe bildeten die Kreise, die keinen Anschluß an die Eisenbahn erhalten hatten, keinen unmittelbaren Zugang zu Wasserstraßen besaßen und daher versuchten, diesen Nachteil durch eine Intensivierung des Chausseebaus zu kompensieren. Diese Kompensation erfolgte in der Regel durch staatliche und Kreis- bzw. kommunale Chausseebauten. Die staatlichen Investitionen kamen seit den fünfziger Jahren vor allem dem Regierungsbezirk Erfurt zugute. 158 Der Bau von Straßen, die nicht von überregionalem Interesse waren, widersprach zwar den Rotherschen Grundsätzen aus dem Jahre 1834. Aus regional· und sozialpolitischen Erwägungen wurde jedoch in einigen Einzelfällen 154 Vgl. die Angaben für die Kreise Aschersleben, Halberstadt, Oschersleben und Wolmirstedt sowie Stendal. 155 Vgl. die Angaben für die Kreise Calbe, Schweinitz, Torgau und Wittenberg. 156 Vgl. die Angaben für die Kreise Merseburg, Naumburg, Saalkreis, Weißenfels und Zeitz. 157 Vgl. Kapitel G.I. 158 Vgl. Tabelle A 1 4 . Schon Anfang der fünfziger Jahre stellte F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 1. Abth., S. 796, fest, daß der Regierungsbezirk Erfurt „hinsichtlich der Verkehrsmittel... bedeutend im Nachtheil" sei, weil er nur über 1 Meile Eisenbahnlinie und 2,1 Meilen schiffbare Wasserstraßen verfugte. Diese Situation wäre nicht eingetreten, wenn beim Bau der südlichen Eisenbahnverbindung zwischen dem preußischen Kerngebiet und den Westprovinzen von Halle nach Kassel die direkte Route gewählt worden wäre. Die Thüringische Eisenbahngesellschaft favorisierte jedoch den Umweg über Erfurt und Eisenach und war wohl auch mehr an einer Verbindung Mitteldeutschlands mit Frankfurt a.M. interessiert. Vgl. W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 58.

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

179

von diesem Prinzip abgewichen. 159 In den Kreisen Neuhaidensieben und Wernigerode sowie im Mansfelder Seekreis mußten die regionalen und kommunalen Körperschaften das Fehlen eines Eisenbahnanschlusses aus eigener Kraft ausgleichen. Neben den Regionen mit durchschnittlicher Infrastrukturausstattung existierten viertens Kreise mit einem unterentwickelten Verkehrsnetz. So hatte der Bau von durch die Kreise Delitzsch und Liebenwerda führenden Eisenbahnlinien noch keinen Chausseebau stimulieren können. 160 Im Kreis Gardelegen schließlich waren alle Bereiche der Verkehrsinfrastruktur unterentwickelt, obwohl man sich hier schon sehr frühzeitig, jedoch vergeblich um den Aufbau eines Kreischausseenetzes bemüht hat. 161

I I I . Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig von 1815 bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts 1. Das im Jahre 1815 vorhandene Chausseenetz und sein Ausbau bis in die dreißiger Jahre Aufgrund der bereits erwähnten Anfangsschwierigkeiten ist davon auszugehen, daß erst beim planmäßigen Ausbau der wichtigsten Landstraßen durch die General-Wegebesserungskommission, also erst seit den achtziger Jahren, Chausseen entstanden.162 Daher wird nach Baldermann, für den der niedersächsische Chausseebau im Jahre 1768 begann, das Herzogtum Braunschweig im Jahre 1786 nur durch eine Chaussee, nämlich die Straße von Hannover nach Göttingen, berührt. 163 Der etwa 9 Kilometer lange, auf eigenem Territorium verlaufende Abschnitt dieser Chaussee wurde in Braunschweig als Ammenser Straße bezeichnet. In den folgenden drei Jahrzehnten wurden allerdings zahl-

159

Vgl. Abschnitt E. Auch hier handelte es sich jedoch um ehemals kursächsische Territorien. 161 Vgl. zu den Kreischausseebauplänen, insbesondere den entsprechenden Finanzierungskonzeptionen Kapitel I.III. 162 So auch: H.J. Querfurth, Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte, S. 202; S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 28. - Vgl. Abschnitt C zum Beginn des Chausseebaus im Herzogtum Braunschweig. 163 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 8, 91. Die nach G. Ph. von Bülow, Mittheilungen zur Erläuterung, S. 99, erste befestigte Straße des Herzogtums von Braunschweig nach Wolfenbüttel wird, wahrscheinlich wegen ihrer Kürze und ihrer geringen Bedeutung fur den Fernhandel, in anderen Quellen und Untersuchungen nicht erwähnt. 160

180

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

reiche Straßen chaussiert, so daß 1815 ein i m Vergleich zum Gebiet der preußischen Provinz Sachsen wesentlich dichteres Chausseenetz existierte. Die ersten Straßen orientierten sich in ihrer Linienführung größtenteils an den vorhandenen großen Routen des Fernverkehrs und berührten daher fast alle die Landeshauptstadt. 164

Schon die zeitgenössischen Bezeichnungen dieser

Straßen weisen darauf hin, daß sie die Stadt Braunschweig m i t den wichtigsten Handelszentren der Nachbarländer verbinden sollten. So führten nach einer Landesbeschreibung aus dem Jahre 1802 Dammstraßen von Braunschweig aus als Magdeburger, Leipziger, Seesener bzw. Frankfurter sowie Hannoversche Straße an die Grenzen des Landes im Osten, Südosten, Süden und Westen. 1 6 5 Außerdem existierte 1802 die in Seesen von der Frankfurter Straße abzweigende Osteroder Straße, die Braunschweig an das südliche Harzvorland, Erfurt usw. anschließen sollte und deshalb in der Mehrzahl der Quellen Thüringer Straße genannt w u r d e . 1 6 6 Bis 1804 kam durch die Straße in Richtung Lüneburg, 164 K.H. Kaufhold, Hauptrichtungen und wichtige Wege des binnenländischen Fernverkehrs in Niedersachsen in der frühen Neuzeit, in: U. Bestmann (Hrsg.), Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, Bd. 2, Trier 1987, S. 723 ff.; U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 92 f. - Vgl. zu den einzelnen Straßenzügen auch Anlage 43. 165 G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220. - Die Magdeburger Straße wurde im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts chaussiert. Vgl. Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 12 und 18. - Die Fertigstellung der Leipziger Straße wurde 1789 für das Jahr 1794 geplant. Vgl. Ebenda, Bl. 19. - Die hier als Frankfurter Straße bezeichnete Strecke bildete die Verlängerung der Seesener Straße in Richtung Northeim. In der Anlage 43 werden beide Abschnitte unter dem Namen „Frankfurter Straße" zusammengefaßt. Die Straße wurde seit Anfang der achtziger Jahre chaussiert und war 1789 zwischen Braunschweig und dem Neuen Kruge bei Hahausen und 1795 mindestens bis Seesen vollständig ausgebaut. Vgl. Ebenda, Bl. 17; Ebenda, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 9. - Die hier als Hannoversche Straße bezeichnete Chaussee von Braunschweig über Vechelde nach Bettmar wurde in allen späteren Straßenverzeichnissen Hildesheimer Straße genannt, was ihre Zielrichtung auch besser widerspiegelt. Die Chaussierung dieser Straße wurde kurz vor 1789 begonnen und etwa 1793 abgeschlossen. Ebenda, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 17; Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3437 b. Als „Hannoversche Straße" wurde im 19. Jahrhundert dagegen die alte Heerstraße von Braunschweig über Vechelde und Sierße in Richtung Peine und Hannover bezeichnet. Diese kürzeste Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten Braunschweig und Hannover war aber noch 1863 lediglich eine „Grandchaussee" und nicht erst seit dem Eisenbahnbau so unbedeutend, daß Baurat Voigt 1840 vorschlug, die Heerstraße nur noch als „Communicationsweg" einzustufen. Vgl. Ebenda, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 17; Ebenda, 12 A Neu Fb. 2, X, Nr. 24, Bl. 41; Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477; U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 103. 166

Die Thüringer Straße wurde nach Ebenda, S. 94, erst zwischen 1812 und 1821 angelegt. Sie wird aber bereits bei G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220, als Dammstraße bezeichnet. Ein Bericht der GeneralWegebesserungskommission aus dem Jahre 1789 in Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 18, bemerkt zur Thüringer Straße: „Diese ist von der Hannoverschen Grenze an über Gittelde, Stauffenburg, Münchehof und Herrhausen bis an den Kirchstrauch als Chaussee vorgerichtet... ."

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

181

meist als Hamburger Straße bezeichnet, noch eine Nordverbindung h i n z u . 1 6 7 Die Herstellung einer Chaussee zum zweiten wichtigen Nordseehafen Bremen scheiterte am Widerstand Hannovers. 1 6 8 Diesen hauptsächlich durch die Fernhandelsinteressen der Stadt Braunschweig bestimmten Straßenbauten standen vergleichsweise wenige Routen gegenüber, die vorrangig der Hebung der „inneren Communication" dienten, sei es zu politischen oder auch ökonomischen Zwecken. Dazu gehörte die Schöninger Straße, die bereits 1789 bis Evessen fertig war und auf der unter anderem H o l z aus dem E l m sowie Getreide aus dem fruchtbaren Südteil des braunschweigischen Kerngebietes in die Landeshauptstadt transportiert wurden. 1 6 9 Außerdem soll i m Jahre 1802 eine Verbindung von Eschershausen zur Ammenser Straße bei Delligsen zwei Meilen lang chaussiert gewesen sein. 1 7 0 Diese Straße verband den westlichsten Teil des Herzogtums, besonders die herzogliche Karlshütte in Delligsen, m i t der wichtigsten Nord-Süd-Landverbindung. Zwischen 1804 und 1815, nicht unterbrochen durch die westfälische Herrschaft, wurden die Berliner Straße chaussiert sowie die Arbeiten an der Schöninger Straße und an der Celler Straße fortgesetzt. 171 Der Ausbau dieser Straßen 167 Die Hamburger Straße wurde ab 1793 chaussiert, wies aber wegen der nördlich von Braunschweig bestehenden Materialknappheit zahlreiche Sandabschnitte auf. Während G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220, die Straße als teilweisen „Sanddamm" bezeichnen, gilt sie bei U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 92, im Jahre 1804 als „ausgebaut". Als vollständiger Stein-damm wurde sie jedoch erst in den zwanziger Jahren fertiggestellt. Vgl. G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen des Cammerpräsidenten von Bülow über die von dem vormaligen Landes-Steuer-Collegio in den Jahren 1822-1831 ausgeführten ChausseeBauten, Braunschweig 1837, S. 9. - Auch ihre Fortsetzung auf dem Gebiet des Königreichs Hannover wurde erst nach 1817 chaussiert. Vgl. S. Hindelang / P. Wal-ther, Von der Wegbauintendance, S. 15. 168 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 28. Hier ergibt sich eine Parallele zur späteren Eisenbahnentwicklung. 169 Nds STA Wolfenbüttel, 2 Alt, Nr. 10658, Bl. 18; Ebenda, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 9. 170 Diese von G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220, „Holzmindener Straße" genannte Chaussee wurde später gewöhnlich als „Hilsstraße" bezeichnet. Hassel und Bege geben die Länge dieser Dammstraße mit 2 Meilen an, was bedeuten würde, daß die gesamte Strecke zwischen Eschershausen und der Ammenser Straße bei Delligsen (etwa 15 km) befestigt war. Offensichtlich war der Ausbau der Hilsstraße von schlechter Qualität, so daß die Straße in den dreißiger und vierziger Jahren nicht nur instandgesetzt, sondern zum Teil völlig neu chaussiert werden mußte. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3452 und 3467. - Die „Holzmindener Straße" war dann die Chaussee von Seesen über Gandersheim, Greene und Eschershausen nach Holzminden. 171 Die Berliner wie die Celler Straße erscheinen weder bei G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220, noch bei U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 92 f., für 1804 und 1812. Sie werden aber im Chausseebauetat für das Jahr 1816 als zu unterhaltende Chausseen angeführt. Nds STA Wolfen-

182

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

entsprach den Interessen der Stadt Braunschweig an einer Komplettierung ihrer Fernhandelsverbindungen und an der Sicherstellung ihrer Versorgung mit agrarischen Produkten aus dem südöstlich gelegenen Umland. Die Berliner Straße folgte keiner traditionellen Handelsroute und wurde auch im 19. Jahrhundert kein Träger wichtiger Fernhandelstransporte. Sie diente vor allem der Anbindung des relativ abseits gelegenen Amtes Vorsfelde an die Landes-hauptstadt. Um den östlichsten Teil des braunschweigischen Kerngebietes in möglichst kurzer Zeit zu erreichen, wurde die kürzeste Verbindungstraße ausgebaut, obwohl man dabei auch hannoversches Territorium einbeziehen mußte. Da die Stadt Braunschweig auch innerhalb des Königreichs Westfalen einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte war und die Verbesserung aller drei Straßen im politischen und militärstrategischen Interesse der Franzosen gelegen haben dürfte, wurden die Arbeiten nach 1807 fortgeführt. 172 Im Jahre 1815 existierten im Herzogtum Braunschweig demnach elf Dammstraßen mit einer Gesamtlänge von etwa 250 km. 1 7 3 Von diesen elf Chausseen gingen allein acht sternförmig von Braunschweig aus, und mit der Thüringer Straße war eine neunte ebenfalls auf die Landeshauptstadt gerichtet. 174 Diese war nicht nur das politische Zentrum, sondern diente auch, mit Ausnahme der direkt an der Weser gelegenen Gebiete, als Umschlagplatz für den kompletten Außenhandelsverkehr und einen großen Teil des Binnenverkehrs. 175

büttel, 12 A Neu Fb. 2, X, Nr. 24, Bl. 39. - Zwischen 1802 und 1814 wurde auf der Schöninger Straße der Abschnitt zwischen Evessen und Schöppenstedt chaussiert. Vgl. G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 15. 172 Drei der vier wichtigsten Landstraßen des Königreichs Westfalen verliefen durch Braunschweig. Vgl. G. Hassel, Das Königreich Westphalen, S. 18 f. 173 Eine Diskussion über die Anzahl der Chausseen wäre sicher müßig, da dies eine reine Definitionsfrage ist. Ich habe mich, wie schon bei der Provinz Sachsen, an die zeitgenössischen Straßenlisten gehalten. Seesener und Frankfurter Straße, die gemeinsam einen Straßenzug (Braunschweig-Göttingen) bildeten, wurden also zusammengefaßt. - Die 250 km errechnen sich aus den Längen von neun komplett chaussierten Straßen sowie Teilen der Schöninger (23 km) und der Hilsstraße (15 km). Als Quelle diente wegen seiner einzigartigen Vollständigkeit das Längenverzeichnis für das Jahr 1863 in Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 9, Nr. 3477. Im Vergleich dazu sind die aus den Karten entnehmbaren Längenangaben sowie die Ausführungen bei G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220, unpräzise. 174 Zur Bedeutung Braunschweigs als zentraler Ort Ostfalens: Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 268 ff. - Auch die Zeitgenossen erkannten die Bedeutung Braunschweigs als norddeutschen Knotenpunkt des Handelsverkehrs. Nach C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollverbande, 2. Fortsetzung für den Zeitraum von 1840 bis 1842, Berlin 1844, S. 15, kreuzten sich in Braunschweig „Hauptlandstraßen von und nach den wichtigsten Handelspunkten Deutschlands: Hamburg, Bremen, Cöln und Düsseldorf, von Frankfurt a.M. und Magdeburg." 175 G. Hassel / Κ Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 210; C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig, 1829, S. 38.

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

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Im Herzogtum kamen somit im Jahre 1815 etwa 68 km chaussierter Landstraße auf 1000 km Staatsfläche. Ein dichteres Chausseenetz besaßen von den 25 preußischen Regierungsbezirken zu dieser Zeit nur Düsseldorf und Arnsberg mit 80 bzw. 72 km/1000 km , 1 7 6 Im Vergleich dazu betrug die Chausseenetzdichte in der preußischen Provinz Sachsen lediglich 18 km/1000 km , also nur etwas mehr als ein Viertel der braunschweigischen. 177 Diese Differenz verdeutlicht das hohe Tempo in der Anfangsphase des braunschweigischen Chausseebaus. Mit Ausnahme der kurzen Ammenser Straße hatte er ja, wie auch der Chausseebau in Kursachsen, im Herzogtum Magdeburg und Fürstentum Halberstadt, erst in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts begonnen.178 Bei der Bewertung dieses Entwicklungsunterschiedes ist aber auch zu berücksichtigen, daß die preußische Provinz Sachsen etwa siebenmal so groß wie das Herzogtum Braunschweig war. Außerdem ist die Provinz Sachsen im Jahre 1815 aus vielen kleineren Territorien zusammengesetzt worden, von denen keines eine Residenz vom Stellenwert der alten Handels- und Messestadt Braunschweig besessen hatte. Schließlich verfugte die preußische Seite mit Elbe und Saale über wichtige Wasserwege, während der braunschweigische Verkehr fast ausnahmslos auf den Landweg angewiesen war. 179 Vergleicht man die Entwicklung des Straßenbaus in der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig in den beiden Jahrzehnten nach 1815, so läßt sich eine Angleichung im Tempo des Chausseebaus feststellen. Die Chausseenetzdichte in der preußischen Provinz Sachsen stieg bis 1831 auf 40 km/1000 km , während sie im Herzogtum Braunschweig im Jahre 1833 etwa 96 km/1000 km betrug. 180 Es kamen also in beiden Gebieten jährlich pro 1000 km Fläche etwa 1,5 km Chausseen hinzu. Dies bedeutete für die preußische Provinz Sachsen eine Beschleunigung, für das Herzogtum Braunschweig jedoch eine Verlangsamung des Chausseebautempos.

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Vgl. Tabelle A 5. Vgl. Kapitel D.II.l. sowie Tabelle A 16. 178 Vgl. Abschnitt C. 179 Zu den vergeblichen Versuchen Braunschweigs, den Fernhandel über vorhandene oder zu bauende Wasserstraßen abzuwickeln: Th. Müller, Schiffahrt und Flößerei, S. 116 ff. 180 Zur Chausseenetzdichte in der preußischen Provinz Sachsen vgl. Tabelle A 16. Die Gesamtlänge der zwischen 1815 und 1833 im Herzogtum Braunschweig chaussierten Abschnitte wurde durch einen Vergleich der für das Jahr 1815 berechneten Länge und einer Liste für das Jahr 1833 ermittelt und kann daher mit etwa 105 km angegeben werden. Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 9, Nr. 3460, Bl. 64. Nach meinen Berechnungen existierten also im Jahre 1833 im Herzogtum Braunschweig rund 355 km Staatschausseen. - F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik. Vergleichende Darstellung des Haushalts, Abgabenwesens und der Schulden Deutschlands und des übrigen Europa, Bd. 1, Darmstadt 1851, S. 973, gibt die Länge der chaussierten Staatsstraßen für das gleiche Jahr mit 331 km an. 177

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Dabei ist zu beachten, daß in der preußischen Provinz Sachsen in diesen Jahren Chaussierungsarbeiten noch größtenteils auf Fernhandelsstraßen erfolgten. Dagegen begann man in Braunschweig allmählich mit dem Aufbau eines Chaussee^e/zes, also mit der Chaussierung kürzerer Strecken. Dies konnte wegen der geographischen Lage häufig nur durch den Anschluß an ausländische, meist hannoversche Chausseen erfolgen. Im Vordergrund stand außerdem nach 1815 zunächst die Instandsetzung des bereits vorhandenen Straßennetzes.181 Insofern ist es eher erstaunlich, daß das Bautempo in Braunschweig das provinzialsächsische Niveau überhaupt erreichte. Von den zwischen 1815 und 1833 hergestellten 105 km Chausseelinie entfielen allein 58 km auf die Holzmindener Straße, die als letzte große Transitverbindung durch das Herzogtum konzipiert worden war. 182 Sie führte von Seesen über Gandersheim nach Holzminden. Die Linienführung der Chaussee war so gewählt worden, daß sie in höchstmöglichem Maße über einheimisches Territorium verlief, wodurch sie nach ihrer Fertigstellung mit 70 km die längste braunschweigische Straße war. Die Landschaftsausschüsse hatten bereits 1795 die Chaussierung dieser Strecke befürwortet. Sie wollten dadurch den Fernhandelsverkehr Braunschweigs in südwestlicher Richtung, der zu etwa zwei Dritteln über Hildesheim verlief, auf eigenes Territorium lenken. Von der Chaussierung der Holzmindener Straße versprachen sie sich außerdem eine Erhöhung der Weserzolleinnahmen und, daß „die Stadt Holzminden, ohne alle weitere Hülfe derjenige Handelsort wirklich werden könnte, den man vor etlichen 20 Jahren durch andere Mittel daraus schaffen zu können glaubte, daß den so sehr gefallenen Städten Stadtoldendorf, Eschershausen und Gandersheim dadurch sehr geholfen und dem ganzen Weserdistrict durch Handel und Wandel dasjenige Leben gegeben werden könnte, welches diesem von der Natur in mancher Rücksicht nicht sehr begünstigten Theile der Braunschweigischen Lande bisher zu seinem Emporkommen noch gefehlet hat." 183 Der hohe Anteil der Holzmindener Straße am Gesamtchausseebau dieses Zeitraums führte dazu, daß sich die Fertigstellung der wichtigsten Fernhandelsstraßen nicht in einem so starken Absinken der Baugeschwindigkeit niederschlägt, wie es für die Regierungsbezirke Merseburg und Erfurt nach 1835 und den Magdeburger Bezirk nach 1850 zu beobachten war. 184 Das, abgesehen von der Holzmindener Straße, im Verhältnis zu den preußischen Nachbarn nur geringe Wachstum des braunschweigischen Chausseebestandes nach 1815 hatte seine Ursache aber auch in dem Umstand, daß der 181

S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 32. Die Länge des chaussierten Teils der Holzmindener Straße wurde 1833 mit 15478 1/2 Ruthen angegeben. Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 9, Nr. 3460, Bl. 64. 183 Ebenda, 2 Alt, Nr. 10659, Bl. 10. 184 Vgl. Tabelle 5 auf S. 166. 182

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

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Unterhaltungsaufwand bei den neuen preußischen Chausseen geringer war als bei den noch im 18. Jahrhundert hergestellten braunschweigischen Chausseen. Hier konnten „beim Schlüsse der Regierung Carl Wilhelm Ferdinands nur die Heerstraßen von der Hauptstadt aus nach Helmstedt, nach Hessen185 und nach Seesen, und noch dazu nur unvollständig, nämlich stellenweise unterbrochen und überhaupt schlecht, als Chausseen gelten." 186 Deshalb stand das LandesSteuer-Collegium bei jeder jährlich festzulegenden Aufteilung des Chausseebauetats vor der Frage, wieviel Geld für den Neubau einerseits und die Unterhaltung des vorhandenen Netzes andererseits ausgegeben werden sollten. 187 Da die Straßen durch die Kriegsereignisse stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, konzentrierte man die Mittel in den ersten Jahren nach 1815 auf die Wiederherstellung des chausseemäßigen Zustandes der wichtigsten Handelsund Poststraßen. 188 Erneut dienten die Straßenbauarbeiten auch dazu, „vielen Landeseinwohnern Gelegenheit zum Erwerb" zu geben, „der ihnen sonst gefehlt haben würde." 189 Dabei wurden die höchsten Beträge für die Instandsetzung der Frankfurter und Leipziger Straße verwandt. 190 Diese „viel befahrenen und der Natur der Sache nach in schlechterem Zustande befindlichen Straßen" wurden „gründlichst" instandgesetzt, während man „die anderen weniger frequentierten durch Nachbesserungsarbeiten erhalten" wollte. 191 Seit 1822 stieg der Anteil der für Neubauten ausgegebenen Mittel. Obwohl der Zustand speziell der Leipziger Straße noch nicht zufriedenstellend war, wurden die Chaussierung der Schöninger, Hamburger und Celler Straße vollendet.192 Insgesamt erreichte der Chausseebau aber nicht den hohen allgemeinpolitischen Stellenwert, den er in der Provinz Sachsen im Zuge der preußischen Bemühungen um die Herstellung eines Zollvereins unter eigener Führung seit Mitte der zwanziger Jahren erlangt hat. Die Zollauseinandersetzungen dieser Zeit, von denen Braunschweig bis zu seinem vollständigen Beitritt zum Zollverein im Jahre 1844 betroffen war, beeinflußten zwar auch den Straßenbau

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Hessen war der auf der Leipziger Straße gelegene Ort an der Grenze zu Preußen. G. Ph. von Bülow, Mittheilungen zur Erläuterung, S. 99 f. 187 Vgl. Abschnitt I. 188 Ähnliche Prioritäten dürften auch in anderen deutschen Staaten mit bereits relativ dichten Chausseenetzen gesetzt worden sein. Für Württemberg: W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, S. 52. 189 F.K. von Strombeck, Staatswissenschaftliche Mittheilungen, vorzüglich in Beziehung auf das Herzogthum Braunschweig, 1. Heft, Braunschweig 1831, S. 54. 190 Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 2, X, Nr. 24. 191 Bericht der Fürstlichen Kammer vom 22. März 1819, zitiert in: U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 18. 192 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 9. 186

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

des Herzogtums. 193 Braunschweig war aber aufgrund seiner geographischen Situation, der eigenen Zersplitterung in drei Teilgebiete und sechs weitere Exklaven, zwischen denen Territorien der Königreiche Hannover und Preußen lagen, immer gezwungen, seine Landverkehrspolitik an den Projekten der beiden großen Nachbarn zu orientieren. Das Herzogtum war nie in der Lage, seinerseits durch Chausseebauten Druck auszuüben, da sowohl Preußen als auch Hannover immer eine Möglichkeit finden konnten, braunschweigisches Gebiet zu umgehen. Daher mußte Braunschweig versuchen, mittels günstiger und preiswerter Transitverbindungen den Handelsverkehr auf sein Territorium zu ziehen. Oft blieben diese Bemühungen erfolglos. So konnten die durch Braunschweig frühzeitig chaussierten Magdeburger und Schöninger Straßen bis Ende der vierziger Jahre keine Bedeutung für den Fernhandel erlangen, da die jeweiligen Anschlußstrecken auf preußischem Gebiet bis zu diesem Zeitpunkt unbefestigt blieben. Auch die Hamburger Straße fand auf hannoverschem Gebiet lange keine befestigte Fortsetzung. 194 Der vormals bedeutende Transitverkehr auf der auch auf preußischer Seite chaussierten Straße von Braunschweig über Halberstadt nach Leipzig wurde zudem durch die Erhöhung der preußischen Durchfuhrabgaben im Jahre 1818 bis zum Eintritt Braunschweigs in den Zollverein behindert. Der damalige Referent des Accise- und Landstraßenwesens, August Philipp Christian Theodor von Arnsberg, empfahl im Jahre 1824, den aufgrund der seit 1817 bzw. 1818 in Hannover und Preußen erhöhten Eingangszölle entstandenen zusätzlichen Belastungen durch eine Verbesserung der Straßen entgegenzuwirken. 195 Auch als die braunschweigische Regierung nach 1815 die ständische Anregung zur Chaussierung der Holzmindener Straße aufgriff, versuchte sie damit, den Ost-West-Verkehr über das eigene Territorium zu lenken. Gottfried Philipp von Bülow, der in den zwanziger Jahren im herzoglichen Kammerkollegium und in der Landschaft sehr einflußreich war und auch für den Chausseebau verantwortlich zeichnete, „legte ... in merkantilistischer Hinsicht viel Werth darauf, weil dadurch eine zusammenhängende Chaussee-Linie über Holzminden, Brakel, Driburg, Paderborn nach Elberfeld gebildet wurde." 196 Die Chaus193

Ab 1.1. 1844 gehörten mit dem Harz- und dem Weserdistrikt alle wichtigen Teile des Herzogtums Braunschweig zum Deutschen Zollverein. Kleinere Exklaven, wie das Amt Thedinghausen, konnten erst mit dem Beitritt Hannovers zum 1.1. 1854 folgen. Vgl. R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 76 ff., 90 ff. Vgl. auch Kapitel B.IV.6. 194 J. Jansen, Entwicklung des öffentlichen Verkehrsnetzes, S. 6 f. 195 W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 8; H.I. Helmke, Verkehr im Raum zwischen Weser und Elbe, S. 27; H. Kunze, Wegeregal, S. 42. 196 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S . U . Von Bülow (1770-1850) hatte seit 1819 mehrere wichtige Funktionen innerhalb der Kammer und der Landschaft inne und war seit dem Austritt des Geheimrats Wilhelm Justus Eberhard von SchmidtPhiseldeck (1763-1851) aus der braunschweigischen Regierung im Jahre 1826 leitender

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

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sierung der Holzmindener Straße sowie der damit im Zusammenhang stehende Bau einer Weserbrücke zwischen Holzminden und Höxter sollten den Verkehr zwischen den mittleren und westlichen Provinzen Preußens auf braunschweigisches Territorium ziehen. Spätestens seit dem Übertritt Kurhessens vom Mitteldeutschen Handelsvereins zur Zollunion mit Preußen im Jahre 1831 verlief jedoch der größte Teil des preußischen Ost-West-Verkehrs südlich dieser Route. Braunschweig hatte nicht die Möglichkeit, diesem Umstand durch verkehrspolitische Maßnahmen entgegenzuwirken. 197 Aus der Sicht der dreißiger Jahre kritisierten die selbstbewußter gewordenen Stände den hohen Stellenwert, den die Holzmindener Straße in der Landverkehrspolitik der Regierung einnahm, und verlangten, den Neubau von Chausseen zugunsten der Verbesserung der vorhandenen Steinstraßen, vor allem der Leipziger, zurückzustellen. 198 Diese Forderung dokumentiert nicht nur die Bemühungen des Landtags, seinem mit der Verfassung von 1832 wesentlich erweiterten Einfluß auf die Budgetstruktur Geltung zu verschaffen. 199 Wie bei der Diskussion um die Außenhandelspolitik, in der die Stände für eine Anlehnung an Preußen plädiert hatten, zeigte sich auch in der Frage der Straßenbaupolitik die Dominanz der Vertreter von Landwirtschaft und Handel des braunschweigischen Kerngebietes innerhalb der Landschaft. 200 Es ist aber zumindest für die Zeit vor 1832 unwahrscheinlich, daß die wiederholten Forderungen der Stände nach Vorrang der Straßenunterhaltung gegenüber dem Chausseeneubau den außer der Holzmindener Straße geringen Umfang von Neubauten zwischen 1815 und 1833 beeinflußt haben. Das Landes-Steuer-Kollegium selbst hat nach Genehmigung des Staatsministeriums das Verhältnis zwischen Neubau- und Unterhaltungsausgaben bestimmt. Die Auswahl der zu chaussierenden Straßen aus der großen Zahl unbefestigter Landstraßen trug ebenfalls deutlich die Handschrift der Regierung. Der Vergleich einer Chausseeliste von 1833 mit dem Bestand des Jahres 1815 ergibt, daß außer der Chaussierung der Holzmindener Straße die Goslar-

Minister unter Herzog Karl II. Seine politische Karriere endete durch die braunschweigische Revolution des Jahres 1830. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3, Leipzig 1876, S. 527 f.; Chr. Römer, Braunschweig, S. 42. 197 R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 26 ff. - G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 11, meinte dazu rückschauend, daß es „dem Landes-SteuerCollegio nicht beigemessen werden (kann - U.M.), wenn durch später geänderte Handelsverhältnisse, welche im Voraus unmöglich berechnet werden konnten, die Wichtigkeit der Holzmindener Straße in dieser Hinsicht jetzt bedeutend verloren hat". 198 Ebenda, S. 3 f. 199 Zum in der braunschweigischen Verfassung von 1832 vorgesehenen Budgetrecht des Landtags: K.E. Pollmann, Braunschweigische Verfassung, S. 26 ff. 200 Zur zollpolitischen Haltung des braunschweigischen Landtags: R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 14 ff., 41, 50 f., 69, 87.

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D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

sehe, Hamelnsche, Pyrmonter und die Harzstraße neu ausgebaut, die Chaussierung der Schöninger Straße beendet und der Nordhäuser Straße begonnen wurden. 201 Außer der Nordhäuser Straße verbanden alle neuen Projekte dieser Zeit braunschweigisches und hannoversches Gebiet und entsprachen daher den außenwirtschaftlichen Prioritäten der herzoglichen Regierung. Auf der Harzstraße konnten Produkte des Kreises Blankenburg, vor allem Eisenwaren, über das hannoversche Elbingerode nach Braunschweig transportiert werden, ohne preußisches Territorium zu berühren. 202 So beeinflußte die Erhöhung der Transitzölle durch die preußische Zollgesetzgebung von 1818, wie schon nach 1755, den Straßenbau im Harz, indem die Linie von Harzburg nach Braunlage an Bedeutung gewann. Die Straße wurde neu vermessen und befestigt und diente so dem „großen Frachtverkehr zwischen Niedersachsen und Thüringen." 203 Nach der Aufhebung der Zollschranken und dem Beginn des Eisenbahnbaus verlor sie jedoch ihre überregionale Bedeutung. Eine ähnliche Entwicklung war bei der Nordhäuser Straße zu beobachten. Noch in den zwanziger Jahren galt die Straße als wichtigste Nord-SüdVerbindung über den Harz. 204 Seit den vierziger Jahren diente sie nur noch dem Binnenverkehr mit Holz. 205 Dieser Bedeutungsverlust war neben den komplizierten geographischen Verhältnissen fur das geringe Chaussierungstempo verantwortlich. Durch den Straßenbau sollten aber auch entlegene Landesteile besser erschlossen werden. Daher wurden Chausseen im äußersten Westen des Weserdistrikts und zur Verbindung der beiden Städte des Blankenburger Kreises gebaut. Die Schöninger, die Goslarsche und die Harzstraße dienten der Versorgung der Landeshauptstadt. Von Bülow begründete die Chaussierung der Harzstraße zwischen Harzburg und Braunlage mit der Verbesserung der Holzversorgung Braunschweigs und der Kommunion-Oker-Hütten aus den Braunlager Forsten sowie der damit verbundenen Vermehrung der Fuhrarbeiten für die Einheimischen.206

201

Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 2, X, Nr. 24, Bl. 37 ff.; Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3448 und 3460. Vgl. Anlage 43. 202 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 19. 203 H. Klages, Entwicklung der Kulturlandschaft, S. 64. Vgl. zur Harzstraße im 18. Jahrhundert Kapitel C.III. 204 J. Jansen, Entwicklung des öffentlichen Verkehrsnetzes, S. 4. 205 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3448, 3467 und 3490. 206 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 17 ff.

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

189

2. Die Verdichtung des Staatschausseenetzes in den dreißiger und vierziger Jahren Die dreißiger und vierziger Jahre wurden zum Höhepunkt des staatlichen Chausseebaus im Herzogtum Braunschweig. Im Jahre 1846 kamen nach Angaben des Baurates Karl Ludwig Voigt 1,17 Meilen Staatsstraßen auf eine Quadratmeile Landesareal, was einer Gesamtlänge von 610 km entsprach, und dies war „vielleicht das größte Verhältnis in ganz Deutschland." 207 Nach der ersten von der Herzoglichen Baudirektion im Jahre 1852 veröffentlichten Straßenund Wegestatistik verfügte Braunschweig im Jahre 1850 über 639 km Staatsstraßen. 208 Demnach waren in den 17 Jahren zwischen 1833 und 1850 insgesamt 284 km, also pro 1000 km jährlich 4,4 km, hinzugekommen. Dabei handelte es sich meistens um lokal, höchstens regional bedeutsame Komplementärbauten zu den vorhandenen Fernhandelsstraßen oder zu den neuen Eisenbahnlinien. Zwischen 1833 und 1849 wurden Chaussierungsarbeiten auf mindestens 25 Strecken begonnen, die zum Teil bis in die fünfziger Jahre andauerten. 209 Die längste dieser neuen Chausseen war die insgesamt 31 km lange Landstraße von Helmstedt nach Vorsfelde, von der im Jahre 1849 25 km ausgebaut waren. Nach der Befestigung der wichtigsten Fernhandelsstraßen vor 1815, der Chaussierung der Holzmindener Straße und der Verlangsamung des sonstigen Chausseebaus zwischen 1815 und 1833, setzte nun also ein dynamischer Vernetzungsprozeß ein. Dieser begann im Herzogtum Braunschweig etwa 20 Jahre früher als in der preußischen Provinz Sachsen, verlief daher nicht nach, sondern parallel zu den ersten Eisenbahnbauten und wurde unter zentralstaatlicher Leitung vollzogen.

207 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477. Die gleiche Zahl findet sich bei: F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973. - Für die Zeit um 1852 hat K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 274, Tabelle 31, Vergleichsdaten verschiedener deutscher Bundesstaaten veröffentlicht. Danach hatte Braunschweig tatsächlich das mit Abstand dichteste Chausseenetz. Im Gegensatz zu den in der Tabelle ebenfalls enthaltenen Angaben über die Eisenbahnnetzdichten sind aber die Zahlen über die jeweiligen Straßennetzdichten nicht absolut vergleichbar. Es bestanden nämlich zwischen den deutschen Bundessaaten Unterschiede in der Chausseedefinition und im Anteil des staatlichen am gesamten Chausseebau. Borchard hat nur den zentralstaatlichen Chausseebau berücksichtigt. Die vergleichsweise sehr hohe Chausseenetzdichte des Herzogtums Braunschweigs resultiert also auch aus dem großen Anteil des staatlichen Chausseebaus. Eine exakte vergleichende Analyse der Chausseenetzdichten der hier angeführten 19 Bundessaaten ist nicht möglich. 208

Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852. Vgl. Tabelle A 32. Anhand der Längenangaben in den von der Baudirektion für die Jahre 1833, 1837, 1841 und 1849 aufgestellten Chausseelisten läßt sich für viele Chausseen der Fortgang der Chaussierungsarbeiten rekonstruieren. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460, 3467 und 3477. Zu den Straßen im einzelnen Anlage 43. 209

190

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Die Beschleunigung des Chausseebaus fiel in eine Periode der außenhandelspolitischen Neuorientierung des Herzogtums Braunschweig. Obwohl die Abkehr vom Steuerverein und die Hinwendung zum Deutschen Zollverein einen völligen Umschwung in der Handelsstruktur bewirkt haben sollen, 210 lassen sich Auswirkungen der neuen Zollunion auf die Straßenbaupolitik anhand der Auswahl der zu chaussierenden Strecken durch die Regierung nicht belegen. Eher das Gegenteil war der Fall. Während sich die Chaussierung der Fernstraßen bis 1815 auf die Landeshauptstadt und damit auf das braunschweigische Kerngebiet konzentriert hatte, gab es im Jahre 1850 in den Kreisen Wolfenbüttel und Helmstedt, die für den Handel mit Preußen die wichtigsten Durchgangsgebiete darstellten, die relativ wenigsten Staatschausseen.211 Das dichteste Staatsstraßennetz wiesen die Kreise Holzminden und Blankenburg auf. Sogar der Kreis Braunschweig, durch den alle in die Landeshauptstadt führenden Straßen gehen mußten, hatte in Relation zu seiner Fläche weniger Staatschausseen als diese Kreise. Die Lage des Kreises Holzminden als langgestreckter, schmaler Keil zwischen den beiden hannoverschen Hauptteilen hatte ihm zu mehreren von Nord nach Süd verlaufenden Durchgangsstraßen verholfen. Auch die bereits mehrfach festgestellte Funktion der Straßenbauten, ärmeren Bevölkerungsschichten Verdienstmöglichkeiten zu bieten, hatte dazu geführt, daß gerade in den Kreisen des Weserdistrikts mehr staatliche Straßenbauten entstanden. Schließlich baute der braunschweigische Staat Chausseen, die direkt der Rohstoffzufuhr bzw. Absatzförderung eigener Unternehmen dienten. So wurden auf der Elbingeröder Straße Holz, Kohle und Eisen für die bzw. von der Rothehütte transportiert. Die sogenannte Harzrandstraße zwischen Harzburg, Oker und Goslar schloß das Kupfer- und Schwefelwerk Okerhütte an die Eisenbahn an. 212 Staatsunternehmen spielten in der braunschweigischen Wirtschaft eine größere Rolle als im in dieser Hinsicht liberaleren Preußen. Der größte Teil dieser Betriebe befand sich in den Kreisen Blankenburg, Gandersheim und Holzminden, da die merkantilistische Gewerbepolitik Karls I. auf die Förderung des Weserdistrikts gezielt hatte. 213

210 211

H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 132 ff.

Vgl. Tabelle A 32. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 213 H. Theissen, Entwicklung des Gewerbes, S. 346. - Zu den Gründungen des 18. Jahrhunderts: P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 500 ff. - Zu den staatlichen Eisenhütten im 19. Jahrhundert: H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 157 ff. und 270 ff. - Zu den braunschweigischen Staatsbergwerken: K.Brüning, Bergbau im Harze, S. 122 ff. 212

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

191

3. Der braunschweigische Staatschausseebau unter dem Einfluß des Eisenbahnbaus Das Herzogtum Braunschweig ist in die deutsche Eisenbahngeschichte eingegangen, weil hier von der Landeshauptstadt nach Harzburg die erste deutsche Staatsbahn gebaut wurde. Die Harzburger Linie war zwar nur ein Ersatzprojekt, weil die ursprünglichen Eisenbahnpläne Philipp August von Arnsbergs, eine Eisenbahn von Braunschweig über Celle oder wenigstens über Lehrte nach Hamburg zu bauen, am Widerstand Hannovers oder am Zögern der braunschweigischen Stände gescheitert waren. 214 Immerhin aber hatte sich der braunschweigische Staat daraufhin entschlossen, mit der Harzburger Bahn ein Projekt in Angriff zu nehmen, das für den Fernhandel kaum bedeutungsvoll werden konnte, dafür aber der Förderung der einheimischen Wirtschaft dienen sollte. 215 Insofern kann man den Bau als Fortsetzung der „energischen Verkehrspolitik" des braunschweigischen Staates bezeichnen.216 Für die Initiatoren war am Ende der dreißiger Jahre noch nicht erkennbar, daß das neue Verkehrsmittel innerhalb nur weniger Jahre fast den gesamten Fernverkehr der Straßen aufnehmen und die Gesamtkapazität des Landverkehrs vervielfachen würde. So bildete der Transport von geeignetem Straßenbaumaterial aus dem Harz in die Landeshauptstadt ein wesentliches Motiv für den Bau der Harzburger Bahn. Hier beförderte das traditionell starke verkehrspolitische Engagement eines Kleinstaates, der berechtigt um seine Stellung im Transitverkehr fürchtete, in dem aber privatwirtschaftliche Initiativen zum Eisenbahnbau fehlten und vor der Industrialisierung auch wegen mangelnder finanzieller Grundlagen ausbleiben mußten, dessen Pionierrolle beim Eisenbahnbau. In Preußen dagegen wäre eine solche Linie zu diesem Zeitpunkt und wahrscheinlich auch noch ein Jahrzehnt später weder durch eine private Gesellschaft noch durch den Staat angelegt worden. Langfristig erlangte die Harzbahn jedoch nur für den Fremdenverkehr nennenswerte Bedeutung. 217

2,4 Diese Problematik ist mehrfach ausführlich behandelt worden. Vgl. u.a. W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 8 f f ; Th. Müller, Ostfalische Landeskunde, S. 227 f.; H.I. Helmke, Verkehr im Raum zwischen Weser und Elbe, S. 42 ff.; W.M. Wunderlich, Die erste deutsche Staatseisenbahn BraunschweigWolfenbüttel, Cremlingen 1987, S. 19 ff.; G. Biegel (Hrsg.), 150 Jahre, S. 7 und 10 ff. D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 30, unterstellt also zu Unrecht, daß der Bau der Harzburger Bahn dafür spricht, daß man die positiven Effekte eines Eisenbahnbaus für Handel und Verkehr in Braunschweig noch nicht erkannt hatte. - Die von Arnsberg geplanten Eisenbahnen richteten sich übrigens in ihrer Linienführung nach den bereits vorhandenen Fernstraßen. 215

Vgl. W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 86. G. Schildt, Tagelöhner, S. 321. 2,7 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467; G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 27. 216

192

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Die Auseinandersetzung u m die Stellung Braunschweigs i m Fernhandel wurde in den vierziger Jahren bereits auf dem Felde der Eisenbahnpolitik ausgetragen. 2 1 8 Erneut versuchte man durch verschiedene Bauten den Transitverkehr auf eigenes Territorium zu ziehen und besaß daher, bezogen auf die Fläche, wesentlich mehr Eisenbahnlinien als Preußen und Hannover. 2 1 9

Tabelle 9 Im Jahre 1862 im Herzogtum Braunschweig vorhandene Eisenbahnlinien über

eröffnet

BraunschweigHarzburg Wolfenbüttel(Oschersleben) Braunschweig(Hannover) Börßum-Kreiensen

Wolfenbüttel, Börßum, (Vienenburg) Schöppenstedt, Jerxheim Vechelde, (Peine)

1838-1843

Seesen, Gandersheim

1856

Jerxheim-Helmstedt

Schöningen

1858

Eisenbahn

1843 1844

Kreise Braunschweig, Wolfenbüttel Wolfenbüttel, Helmstedt Braunschweig Wolfenbüttel, Gandersheim Helmstedt

Quelle: eigene Zusammenstellung

Das kleine Herzogtum konnte aber von diesen Eisenbahnlinien nur profitieren, wenn Anschlüsse an den Grenzen existierten, und war daher noch in viel größerem Maße als zuvor beim Fernstraßenbau auf das Entgegenkommen der Nachbarn angewiesen. Dabei wurde erneut deutlich, „daß sich der Staat Braunschweig wegen seiner geringen territorialen Ausdehnung und seinem ungünsti-

218 Zur Bedeutung der Eisenbahnfrage beim Übertritt des Herzogtums Braunschweig vom Steuer- zum Zollverein äußerte C.F.W. Dieterici, Statistische Ubersicht, 3. Fortsetzung für 1843 bis 1845, 1848, S. 78: „Vorzüglich wichtig, und eine Lebensfrage für den Verkehr der Stadt Braunschweig selbst, war für diesen Staat, daß feste Bedingungen mit Hannover über Anlegung einer Eisenbahn von Braunschweig nach Hannover bis Minden stipuliert wurden, da sonst zu besorgen war, daß bei den schon vollendeten Eisenbahnen von Berlin nach Magdeburg, Leipzig und der beabsichtigten Bahn von Leipzig und Halle nach Cassel, der Handel Braunschweigs sehr leiden könnte." 219 Im Jahre 1852 verfügte nur das Königreich Sachsen mit 34 km / 1000 km 2 und das Herzogtum Sachsen-Altenburg mit 25 km / 1000 km 2 über ein dichteres Eisenbahnnetz als das Herzogtum Braunschweig, das 23 km / 1000 km 2 aufwies. Die Königreiche Preußen und Hannover lagen bei 11 bzw. 9 km / 1000 km 2 . Berechnet nach: E. Kühn, Die preußischen Eisenbahnen in den Jahren 1883, 1884 und 1885 nebst Hinweisen auf die gleichen Verhältnisse in den übrigen deutschen Staaten sowie in Deutsch-Österreich, Berlin 1887 (= Zeitschrift des Königlich-Preussischen Statistischen Bureaus, Ergänzungsheft XII, Fortsetzung), S. 171 f.

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

193

gen Gebietszuschnitt gegenüber den verkehrspolitischen Interessen der angrenzenden Nachbarstaaten" nicht mehr behaupten konnte. 2 2 0 Wie in der Provinz Sachsen spielte im Herzogtum Braunschweig das Chausseewesen als M i t t e l staatlicher Außenhandelspolitik nach dem Beginn des Eisenbahnbaus keine Rolle mehr. Aus diesem Grunde beschränkte sich der Staat ab etwa 1850 weitgehend darauf, die zuvor begonnenen Chausseebauprojekte zu Ende zu fuhren. Seit der Jahrhundertmitte stieg der Bestand der Staatsstraßen nur noch unbedeutend an. Ihre Gesamtlänge wuchs von 639 k m i m Jahre 1850 auf 751 k m i m Jahre 1880. 2 2 1 Wenn die Länge der Staatsstraßen für 1891 wieder m i t 730 k m angegeben wurde, so lag das an der Übertragung einzelner Straßen von der Trägerschaft des Staates an Kreise oder K o m m u n e n . 2 2 2 Das geringe Wachstum des Staatsstraßennetzes nach 1850 bewirkte auch, daß sich die regionale Verteilung der Staatsstraßen seit der Jahrhundertmitte nur unwesentlich veränderte. 223 220 B. Stubenvoll, Raumordnungsgeschehen, S. 39. - Das war nicht nur auf den Einsatz der Nachbarstaaten fur ihre Handelszentren Magdeburg und Hannover zurückzufuhren, sondern lag auch daran, daß die Braunschweiger durch eigene Eisenbahnbauten den Verkehr von ihrer Hauptstadt ablenkten. Braunschweig wurde zwar in die erste große deutsche Ost-West-Verbindung, die 1849 fertiggestellte Linie von Berlin nach Köln einbezogen. Das Teilstück zwischen Magdeburg und Braunschweig verlief aber nicht auf direktem Weg über Helmstedt, sondern über Oschersleben und Wolfenbüttel, weil die preußischen Behörden auf eine Berücksichtigung der Handelsinteressen Haiberstadts gedrängt hatten. Wegen dieses Umweges wählte ein Teil des Verkehrs eine südliche Umgehung über Oschersleben, Wolfenbüttel oder Börßum, Seesen, Kreiensen und Holzminden. Die 1856 fertiggestellte braunschweigische Südbahn, ebenfalls vom Staat gebaut, leitete also auf Kosten der Landeshauptstadt Transitverkehr auf braunschweigisches Territorium. Wegen der ungünstigen Streckenführung wurde diese Linie nach der Reichseinigung kaum noch benutzt. Seit 1871 existierte mit der Eisenbahn von Berlin über Stendal nach Lehrte auch eine Bahn, die Braunschweig nördlich umging. Im Nord-Süd-Verkehr verschaffte sich das Königreich Hannover mit dem Bau der Eisenbahn zwischen der eigenen Landeshauptstadt durch das Leinetal nach Göttingen und Kassel am Anfang der fünfziger Jahre einen irreversiblen Vorteil. Insofern war „das Herzogtum Braunschweig, das mit seiner Eisenbahnpolitik in Norddeutschland eine Vorreiterrolle gespielt hatte, ... bezüglich der Gestaltung des Liniennetzes ein Opfer der beiden großen Nachbarstaaten geworden." H. Theissen, Industrielle Revôlution, S. 127. - Vgl. auch K. Brüning, Niedersachsen im Rahmen der Neugliederung des Reiches, Bd. 2, Hannover 1931, S. 275; F. Voigt, Verkehr, S. 515 und 517; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 57. 221 Die Länge der braunschweigischen Staatschausseen betrug im Jahre 1857 648 km, im Jahre 1862 662 km und 1871 725 km. Vgl. Anlagen 32, 34 und 36. - Für 1857 berechnet nach: A. Lambrecht, Das Herzogthum Braunschweig. Geographisch, geschichtlich und statistisch dargestellt zum Gebrauch für Haus und Schule, Wolfenbüttel 1863, S. 96; für 1880 nach: Brinckmann, Landstraßen, S. 324. - Der Bau der Hauptstraßen ist daher deutlich vor 1863, nämlich in den vierziger Jahren abgeschlossen gewesen. Vgl. U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 105. 222 F. Knoll / K. Bode, Das Herzogtum Braunschweig. Ein Handbuch der gesamten Landeskunde, 2. Aufl., Braunschweig 1891, S. 141. 223 Vgl. Tabellen A 32, A 34 und A 36. 13 Uwe Müller

194

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

Neben dem Funktionswandel der Chausseen vom Fernhandelsträger zum Verkehrsweg von nur noch regionaler Bedeutung stellte das starke Engagement des braunschweigischen Staates im Eisenbahnbau, das mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden war, ein fiskalpolitisches Motiv für die Übertragung der hauptsächlichen Verantwortung für den Straßenbau vom Zentralstaat auf regionale Körperschaften dar. Die gesetzliche Grundlage dafür war durch die braunschweigische Wegeordnung von 1840, also unmittelbar nach Beginn des Eisenbahnbaus, gelegt worden. 224 Bis zu diesem Zeitpunkt war aber der Aufbau eines Chausseenetzes als zentralstaatliche Aufgabe betrieben worden und viele Arbeiten in vollem Gange. Es gelang der Herzoglichen Baudirektion im Jahre 1840 nicht und auch in den folgenden Jahren nur in geringem Umfang, diese laufenden Projekte und auch den Teil der Landstraßen, der nicht oder nicht mehr von überregionaler Bedeutung war, an Kreise oder Kommunen abzugeben.225 Die Unterscheidung von Staats- und Kommunikationswegen in der braunschweigischen Statistik war also nur bedingt eine funktionale, sondern hing eher davon ab, wann die Chaussierung der jeweiligen Straßen begonnen hatte. Diese braunschweigische Besonderheit ist bei Vergleichen mit den Staatsstraßensystemen anderer Territorien unbedingt zu berücksichtigen. 226

4. Die Chaussierung der Kommunikationswege im Herzogtum Braunschweig Während der Staatschausseebau stagnierte, verlief die Chaussierung oder zumindest Befestigung der Kommunikationswege mit hohem Tempo. Die Gesamtlänge der „gründlich in Stand gesetzten", also chaussierten oder regulierten Kommunikationswege wurde im Jahre 1850 mit 1111 km, 1857 mit 2101 km, 1862 mit 2736 km und 1871 mit 3373 km angegeben.227 Der Begriff der Kommunikationswege umfaßte allerdings in der Statistik der Herzoglichen Baudirektion sowohl die Gemeindewege, in- und außerhalb der Dörfer, als auch die von der Herzoglichen Kammer zu unterhaltenden Wege der Domänen, Forsten und Bergwerke. Außerdem war nur ein Teil der Kommunikationswege als Chaussee, also als „Steinbahn" ausgebaut. Die Statistiken der Herzoglichen Baudirektion für die Jahre 1850, 1862 und 1871 enthalten jedoch auch Angaben über den technischen Zustand der Straßen, so daß für Braunschweig quantitative Aussagen zur Qualität der Landverkehrsinfrastruktur über den Rahmen 224

Vgl. Abschnitt G. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477. 226 Vgl. K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 274. 227 Vgl. Tabellen A 32, A 34 und A 36. Für 1857 berechnet nach: A. Lambrecht, Das Herzogthum Braunschweig, S. 96. 225

195

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

der Staatschausseen hinaus möglich sind. Regionale Qualitätsunterschiede können für diese Jahre auf der Ebene von sechs Kreisen untersucht werden. 228 In der Erhebung für das Jahr 1871 erfaßte die Baudirektion darüberhinaus auch den Anteil der eigentlichen Kommunalwege an den Kommunikationswegen und wies die Ergebnisse auf der Basis der Ämter aus. 229 Tabelle 10 Länge, Dichte und Qualität des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes der beiden Hauptteile des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1850

Länge der

Fläche

Netzdichte der

Staatsstraßen Kommunika-

Staatsstraßen Kommunika-

tionswege

tionswege

(km 2)

(km/1000

(km)

km 2)

Nördlicher Teil

2157,56

307,81

768,01

143

356

Südlicher Teil

1644,60

331,63

342,83

202

208

Länge der chaussierten Staatsstraßen Kommunika-

Netzdichte der chaussierten Staatsstraßen Kommunika-

tionswege

tionswege (km/1000 km 2)

(km) Nördlicher Teil

264,47

391,55

123

181

Südlicher Teil

298,47

287,20

181

175

Berechnet nach Tabellen A 32 und A 33.

Vergleicht man zunächst die Daten auf der Ebene der beiden sich im Verlaufe der Industrialisierung unterschiedlich entwickelnden Hauptregionen, so verfügten im Jahre 1850 die Kreise Braunschweig, Wolfenbüttel und Helmstedt über ein wesentlich dichteres Kommunikationswegenetz als die Kreise Gandersheim, Holzminden und Blankenburg. Berücksichtigt man jedoch den Straßenzustand und bezieht nur die als „Steinbahnen" bezeichneten Wege in die Berechnung ein, so ergeben sich nahezu identische Kommunikationschausseenetzdichten.

228 229

Vgl. Tabellen A 33, A 35 und A 37. Vgl. Tabelle A 41.

196

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

In den folgenden zwei Jahrzehnten verdreifachte sich die Gesamtlänge der Kommunikationswege, so daß bis 1871 deren Netzdichte im braunschweigischen Kerngebiet auf 912 km / 1000 km und im braunschweigischen Teil des Weserberglandes und des Harzes auf 854 km / 1000 km anstieg.230 Jeweils knapp die Hälfte der Kommunikationswege waren chaussiert, so daß sich auch bei der Kommunikationschausseenetzdichte lediglich ein Vorsprung von 454 zu 424 km / 1000 km zugunsten der nördlichen Kreise ergab. Da jedoch die südlichen Kreise pro 1000 km 74 km mehr Staatsstraßen als das Kerngebiet besaßen, verfügten sie insgesamt über das etwas dichtere Straßen- und Wegenetz. Zusammenhänge zwischen ökonomischer Entwicklung sowie der Qualität der Straßenverkehrsinfrastruktur lassen sich aus der Betrachtung dieser Ebene nicht erkennen. Es ist jedoch anzunehmen, daß der Niedergang der Protoindustrien in der einen Region und die aus der landwirtschaftlichen Nebenindustrie erwachsende Industrialisierung in der anderen die Entwicklung der Straßennetzdichte beeinflußt haben. Man könnte daher vermuten, daß der Staat den unterschiedlichen Auswirkungen der gegenläufigen wirtschaftlichen Trends durch regulierende Maßnahmen entgegenwirken wollte, denn in den fünfziger und sechziger Jahren glichen die südlichen Teile des Herzogtums ihren Rückstand in der Dichte des Kommunikationswegenetzes weitgehend aus. 231 Fest steht hingegen, daß die deutlichen Differenzen beim technischen Zustand der Kommunikationswege im Jahre 1850 wesentlich darauf zurückzuführen waren, daß vor allem im Weserbergland geeigneteres Befestigungsmaterial vorhanden war als in den Löß- und Heidegebieten des Nordteils. 232 Das Tempo des Wegeausbaus war nach 1850 allerdings so groß, daß der Anteil der Chausseen innerhalb der Kommunikationswege abnahm. Schließlich ist zu beachten, daß die „Kommunikationswege" der braunschweigischen Statistik nicht den Nichtstaatsstraßen der preußischen Statistik entsprachen. Die braunschweigische Statistik subsumiert unter dem Begriff der Kommunikationswege auch Domänen-, Forst- und Bergwerkswege. 233 Dabei

230

Berechnet nach Tabellen A 36 und A 37. Diese Tatsache übersieht U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 104. 232 Im Bericht des Kreisbaumeisters Märtens „über seine Beobachtungen bei den von ihm auf seiner Reise gesehenen Chausseen in England, Frankreich, Belgien und Deutschland" aus dem Jahre 1836 stellt dieser die Probleme des Vorhandenseins bzw. des Transports geeigneter Steine für den Chausseebau als das entscheidende Kriterium fur die Qualität der Landstraßen in den jeweiligen Ländern dar. Vgl. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. - Holzminden besaß im Jahre 1882 nach E. Tacke, Landkreis Holzminden, S. 119, den höchsten Beschäftigtenanteil des Gewerbebereiches Steine/Erden aller niedersächsischen Kreise. 231

233 Diese Wege tauchten in der Statistik des preußischen Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten nicht auf, da sie nicht von ihm verwaltet wurden.

197

III. Der Chausseebau im Herzogtum Braunschweig

handelte es sich also neben den Staatsstraßen um eine weitere Wegeklasse, die von zentralstaatlichen Stellen gebaut und unterhalten wurde. 234 Eine Analyse der kommunalen Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik muß jedoch von den tatsächlich unter kommunaler Verantwortung stehenden Straßen ausgehen. Von den 1871 vorhandenen 3373 km Kommunikationswegen waren etwa zwei Drittel, genau 2208 km, als „Communalwege", also Kreisstraßen und Wege innerhalb der Dörfer, nicht der Städte, ausgewiesen. Zwischen den Kreisen bestanden allerdings hinsichtlich des Anteils dieser Kommunalwege an der Gesamtheit der Kommunikationswege erhebliche Unterschiede. 235 So nahmen die von der Herzoglichen Kammer zu unterhaltenden Forstwege im Kreis Blankenburg beinahe 70 % des Kommunikationswegenetzes ein. Vergleicht man nun die Dichte der Kommunalwegenetze der einzelnen Kreise, so erkennt man eine deutliche Differenz zwischen den Kreisen Braunschweig, Wolfenbüttel und Helmstedt auf der einen sowie Gandersheim, Holzminden und Blankenburg auf der anderen Seite. Tabelle 11 Länge, Dichte und Qualität des Gemeindewegenetzes der beiden Hauptteile des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1871

Länge der

Netzdichte der

Gemeinde- Gemeinde- Gemeindewege

chausseen

wege

Anteil der

Gemeinde-

Gemeindechaus-

chausseen

seen am Gemeindewegenetz

(km/1000 km 2)

(km)

(%)

nördlicher Teil

1667,71

910,21

772,96

421,87

54,58

südlicher Teil

540,03

493,04

328,37

299,79

91,30

Berechnet nach: Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche der Herzoglichen Bau-Direction zu Braunschweig, Teil 7, Braunschweig 1874.

Der hohe Anteil der Forstwege an den Kommunikationswegen in den drei Gebirgskreisen erklärt auch die Tatsache, daß im Jahre 1871 der Chausseeanteil in beiden Gebieten nahezu gleich war. 236 Diese Identität war nicht darauf zurückzufuhren, daß der Standort vorteil der mit Straßenbaumaterialien reichlich

234

Die Domänen-, Forst- und Bergwerkschausseen wurden von der Herzoglichen Kammer verwaltet. Vgl. J. König, Landesgeschichte, S. 93. 235 Vgl. die Werte in den Tabellen A 36 und A 41. 236 Er lag jeweils bei knapp unter 50 %. Berechnet nach Ebenda.

198

D. Die Entwicklung des Chausseenetzes von 1815 bis in die siebziger Jahre

ausgestatteten Gebirgsgegenden nicht mehr gewirkt hätte. Hier waren immerhin 91 % der Gemeindewege chaussiert. Bei den Forstwegen hielt man dagegen eine Chaussierung nur selten für notwendig. Im Jahre 1880 waren nur 18 % der Forstwege durch „Steinschlagbahnen" befestigt. 237 Der starke Rückgang des Anteils der chaussierten Strecken am Kommunikationswegenetz im südlichen Teil des Herzogtums von 83,8% im Jahre 1850 auf 49,6 % im Jahre 1871 läßt daher darauf schließen, daß unter den in diesen beiden Jahrzehnten neu entstandenen Wegen überdurchschnittlich viele Forstwege waren. 238 Trotzdem wurden zwischen 1850 und 1871 Kommunikationswege mit einer Gesamtlänge von etwa 1000 km chaussiert. 239 Im Jahre 1871 existierten daher 725 km Staatsstraßen, von denen 693 km Steinbahnen mit oder ohne Sommerweg waren, 24 km aus Steinpflaster bestanden, 6 km als Kieschaussee und 2 km als „Planum" bezeichnet wurden. Daneben gab es aber auch 1677 km chaussierte und 1696 km weitere „gründlich in Stand gesetzte" Kommunikationswege.240 Insgesamt bleibt festzustellen, daß trotz faktischer Einstellung des Staatsstraßenbaus nach 1850 der Chausseebau noch einmal forciert wurde, da das im Jahre 1871 aus 2208 km Kommunalwegen, 1080 km Forstwegen sowie 85 km Domänen- und Bergwerksstraßen bestehende braunschweigische Kommunikationswegenetz nahezu ausschließlich nach dem Inkrafttreten der Wegeordnung im Jahre 1841 hergestellt wurde.

237

Brinckmann, Landstraßen, S. 324. Die Statistiken fur die Jahre vor 1871 weisen leider keine innerhalb der Kommunikationswege differenzierenden Kategorien aus. 239 Die Gesamtlänge der chaussierten Kommunikationswege wuchs von 679 km im Jahre 1850 auf 1677 km im Jahre 1871. Vgl. Tabellen A 33 und A 37. 240 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136, übertreibt, wenn er meint, daß die Kommunikationswege „fast sämtlich chaussiert" gewesen seien. 238

Ε . Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

I. Das Verhältnis von allgemeiner Wirtschaftspolitik, Infrastrukturpolitik und Straßenbaupolitik Innerhalb der deutschen Staaten ist die Wirtschaftspolitik Preußens entsprechend ihrer größeren Wirkungsmöglichkeiten am intensivsten untersucht worden. Gerade weil Preußen der deutsche Bundesstaat war, „in dem die Bildung einer vom Staat unabhängigen Wirtschaftsgesellschaft am weitesten gediehen war," reflektiert die Wirtschaftspolitik hier stärker als in den kleinen und mittleren Staaten die Widersprüchlichkeit von liberalen Reformen und merkantilistischen Traditionen, also die Gleichzeitigkeit von liberaler Handelspolitik und unterentwickeltem Bürgertum in den zwanziger Jahren sowie ein Vierteljahrhundert später von wachsendem Beamtenkonservatismus und dem ersten Industrialisierungsboom. 1 Im Zuge der seit 1807/15 zunehmend am ökonomischen Liberalismus orientierten Wirtschaftspolitik in Preußen kam es zu einer Gewichtsverschiebung zwischen ihren Bestandteilen.2 Während direkte Interventionen des Staates an Bedeutung verloren, riefen die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturveränderungen neue Regulierungsbedürfhisse hervor. Grundsätzlich konzentrierte der Staat seine Aktivitäten auf die technische Erziehung, das Berg- und Hüttenwesen sowie den Verkehr und überließ die anderen Bereiche dem freien Wettbewerb. 3 Trotzdem muß im Vergleich zu Großbritannien der 1

R. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848, in: W. Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im Vormärz 1815-1848, Stuttgart 1962, S. 94. 2 G.Fischer, Wirtschaftliche Strukturen, S. 31, bezeichnet die preußische Wirtschaftspolitik der Jahre 1815 bis 1850 in den Bereichen Zoll, Handel und Staatsunternehmen als eher liberal und in den Bereichen der Finanz- und Steuerpolitik als eher konservativ. 3 R. Koselleck, Preußen, S. 609 ff.; H. Harnisch, Wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidungen, S. 168. - C.W. Ferber, Neue Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und commerciellen Zustandes der Preußischen Monarchie, Berlin 1832, S. 164 f., sah das Grundprinzip preußischer Handels- und Gewerbepolitik darin, daß man „... sorgfaltig vermeidet, Kapitalien auf irgend einen Zweig der Industrie oder des Handels künstlich hinzuwenden, sondern sich vielmehr damit begnügt, durch möglichste Hinwegräumung der Hindernisse, welche sich entgegenstellen könnten, und durch die ausgezeichnetesten Anstalten zur Belehrung und Bildung der Gewerbetreibenden, den Gewerbfleiß und den Handel des Landes in natürlicher Entwicklung zur größtmöglichen

200

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

deutsche Liberalismus sowohl der Beamten als auch der Industriellen als „ i n terventionistisch modifiziert" bezeichnet werden. 4 Die preußischen Beamten der Reformära u m Stein und Hardenberg sahen „ungeachtet aller Bekenntnisse zu den Lehren von A d a m Smith als Nachfahren der deutschen Spätaufklärung die Aufgabe des Staates und seiner berufensten Diener in der aktiven W i r k samkeit für die E n t w i c k l u n g der Gesellschaft und das W o h l der Einwohner." 5 Zwar übte der Staat seit der Gewerbefreiheit nur noch zum Zwecke der technischen Kontrolle und in aus politischen Gründen „sicherheitsempfindlichen" Berufen direkte Aufsichtsfunktionen aus. Gerade die mittlere und untere Beamtenschaft in den Regierungsbezirken und Kreisen war jedoch „ v o n einem latenten oder offenen Etatismus, der in der Staatsverwaltung den Koordinator der konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen sah", geprägt. 6 Seit den zwanziger Jahren dominierten fiskalistische Überlegungen gegenüber liberalen Reformen. In den dreißiger Jahren erlangten spätmerkantilistisch orientierte Beamte, wie der Seehandlungspräsident Christian von Rother, größeren Einfluß. 7 Der Anspruch, eine aktive, von sozialpolitischen M o t i v e n determinierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, gehörte also in allen deutschen Ländern zum Selbstverständnis des Staates. 8 Die Grundrichtungen dieser Wirt-

Ausbildung zu bringen." Der Geheime Oberfinanzrat betonte aber auch, daß Preußen diese Gewerbefreiheit und das liberale Handelssystem allein dem König und dem Staat verdanke. Vgl. auch Kapitel A.II. 4 H. Best, Interessenpolitik, S. 23 ff. 5 H. Harnisch, Wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidungen, S. 167. - Freiherr vom Stein strebte beispielsweise nach, W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 33, eine „Anleitung zu planvollem wirtschaftlichen Handeln" an. - Die innere Widersprüchlichkeit der wirtschaftspolitischen Konzeptionen der Reformzeit kommt auch in der Geschäftsinstruktion für die Regierungen vom 26.12.1808 zum Ausdruck. Danach sollte die Gewerbepolizei sowohl die Wohlfahrt befördern als auch Schranken fur die freie Entwicklung des Einzelnen beseitigen. Vgl. W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 476. Zu den wichtigsten preußischen Wirtschaftspolitikern der Zeit nach 1815: W.Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 288 ff. - A u f die staatspolitischen Motive der Entscheidung für Smith, die eben in der konkret historischen Situation auch eine Entscheidung gegen Napoleon gewesen ist, hat hingewiesen: R. Koselleck, Preußen, S. 14. 6

H. Best, Interessenpolitik, S. 39. W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 2, 27 und 37. Vgl. auch Ders., Armut in Berlin. Die sozialpolitischen Ansätze Christian von Rothers und der Königlichen Seehandlung im vormärzlichen Preußen, Berlin 1993, S. 96 ff.; R. Koselleck, Preußen, S. 612 f. - Die Seehandlung agierte unter Rothers Leitung weniger unter finanzpolitischen, sondern unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten und erweiterte ihre industriellen Pionierinvestitionen in einem Maße, das sie zum größten gewerblichen Unternehmen Preußens machte. 8 W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 65, stellte fest, daß in den deutschen Ländern „der Staat... die ordnungssetzende Macht geblieben war, die um des Allgemeinwohls und auch der Staatsräson willen sich nie so weit von der Wirtschaft entfernt hatte, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, im 7

I. Verhältnis von Wirtschafts-, Infrastruktur- und Straßenbaupolitik

201

schaftspolitik wurden von der Bürokratie bestimmt.9 Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch „administrative Experimente" bei der Ausgestaltung der die preußische Wirtschaftspolitik bestimmenden Institutionen geprägt. 10 Dem Prozeß der Verwaltungsmodernisierung gebührt aus diesem Grunde im Rahmen der Reformen ebenso eine hohe Aufmerksamkeit wie der „reformbereiten Beamtenschaft als einer sozialen Gruppe und Institution mit starkem Eigengewicht und Initiativfunktion". 11 Auch die überwiegende Mehrheit des deutschen Bürgertums leitete anfangs aus der relativen wirtschaftlichen Rückständigkeit Deutschlands die Forderung nach einem stärkeren staatlichen Interventionismus, insbesondere nach Schutzzöllen ab. 12 Sie profitierte in den zwanziger und dreißiger Jahren von staatlichen Pionierinvestitionen, Subventionen, Maschinenschenkungen und Ausstellungen, klagte jedoch gleichzeitig über die liberale Grundhaltung der Bürokratie, die sie der „tödlichen Konkurrenz aussetzte".13 Da die anderen sozialen Schichten einer liberalen Wirtschaftspolitik mindestens ebenso skeptisch gegenüberstanden, wurde der Verzicht auf politische Liberalisierung zur Voraussetzung für die Wirtschaftsliberalisierung. 14 Dieser Zustand veränderte sich in den vierziger Jahren. Das Bürgertum steigerte mit seiner wirtschaftlichen Bedeutung auch sein politisches Selbstbewußtsein.15 Die neuen industriellen Unternehmer wandten sich gegen Wettbe-

Ernstfall ihre Weichen zu stellen." - Ähnlich auch: W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 31,373. 9 H. Harnisch, Wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidungen, S. 184 f. 10 W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 183. 11 L. Baar, Die preußischen Gewerbereformen aus der Sicht der bisherigen ostdeutschen Historiographie, in: B. Sösemann (Hrsg.), Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993, S. 164. - Zur Verwaltungsreform im Überblick: G.Chr. von Unruh, Die Veränderung der preußischen Staatsverfassung durch Sozialund Verwaltungsreformen, in: K.G.A. Jeserich / H. Pohl / G.Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2. Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 407. 12 R. Koselleck, Preußen, S. 291; H. Best, Interessenpolitik, S. 102; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 63. 13 W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 73. Fischer weist allerdings auch darauf hin, daß man auf die subjektiven Klagen beider Richtungen nicht allzuviel geben darf. - Zur Gewerbeförderung allgemein: U.P. Ritter, Die Rolle des Staates. - Speziell zum Verein zur Beförderung des Gewerbfleißes: C. Matschoss, Preußens Gewerbeförderung, S. 33 ff. 14 R. Koselleck, Preußen, S. 163, 318 f. - Für die Zeit nach 1815 konstatierte schon W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik, S. 5: „Neben der reaktionären Staatspolitik bei weithin liberaler Bevölkerung läuft eine liberale Wirtschaftspolitik des Staates bei wirtschaftlich reaktionärer Einstellung des davon betroffenen Bevölkerungsteils." 15 R. Koselleck, Preußen, S. 330; W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 40.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

werbsverzerrungen durch Staatsunternehmen und staatliche Beteiligungen an gewerblichen Unternehmen. Die liberalen Kritiker der Regierung erwarteten jedoch auch gerade im Laufe der vierziger Jahre eine aktive staatliche Zoll-, Sozial- und eben auch Infrastrukturpolitik, wobei sie mit einigen Konservativen übereinstimmten. 16 Verschiedene Motivationsschwerpunkte, also die Förderung wirtschaftlichen, vor allem industriellen, Wachstums auf der einen Seite und die Vermeidung sozialer Spannungen auf der anderen Seite, führten in diesem Falle nicht zu unterschiedlichen politischen Schlußfolgerungen. 17 Wichtigste infrastrukturpolitische Forderungen waren die Gewährung staatlicher Eisenbahnbauhilfen sowie die Gründung eines vom Finanzministerium unabhängigen Handelsministeriums, das unter bürgerlichem Einfluß die Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmen sollte. Davon versprach man sich eine Abkehr von der fiskalisch bestimmten Wirtschaftspolitik und verlangte „finanzielle Opfer, die sich erst in der Zukunft bezahlt machten".18 Der Konflikt mit der Regierung bestand also nicht nur in der Verbindung von Staatsschuldenverordnung, Eisenbahnkrediten und Verfassungsfrage. 19 Das liberale Bürgertum war auch nicht nur mit einigen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen unzufrieden. Es kritisierte die Beamtenschaft, die nicht mehr als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft, sondern des Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft wirkte. Meinungsunterschiede innerhalb der Beamtenschaft gaben ihr jetzt keine „quasiparlamentarische Funktion" mehr, sondern führten zur Handlungsunfähigkeit des Staates. Letztendlich konnte die Revolution von 1848 auch deshalb nicht verhindert werden, weil Preußen auf politischem Gebiet zu wenig, auf wirtschaftlichem Gebiet zu viel liberal sowie insgesamt zu unsozial war. 20 Erst nach den vormärzlichen Konflikten und der Revolution entwickelte sich ein „neuer Konsens" über die Staatsausgabenpolitik zwischen der preußischen Regierung und dem Landtag.21

16 R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 33 f f ; H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 113 ff.; R. Koselleck, Preußen, S. 620 ff.; H. Beck, The Origins, S. 33 ff. 17 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 288 ff. - Dies wurde besonders durch die starken Übereinstimmungen zwischen der liberalen und der konservativen Kritik an der staatlichen Sozialpolitik im Zuge der Pauperismusdiskussion deutlich. Vgl. C. Jantke / D. Hilger (Hrsg.), Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg-München 1965, S. 22 f. 18

R. Koselleck, Preußen, S. 355. Vgl. W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 97 ff. 20 R. Koselleck, Preußen, S. 554. Vgl. auch Ebenda, S. 329 ff., 389 f., 401, 413 f., 586; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 110 ff. 21 Die auf der budgetpolitischen Annäherung von Adel, Bürokratie und industriellem Bürgertum basierende Ausdehnung der Staatsverschuldung kam vor allem dem Staatseisenbahnbau zugute. Vgl. R.H. Tilly, Die politische Ökonomie der Finanzpolitik und die 19

I. Verhältnis von Wirtschafts-, Infrastruktur- und Straßenbaupolitik

203

Bis zur Jahrhundertmitte spielte sich Infrastrukturpolitik meist im zoll- und handels- oder sozialpolitischem Kontext ab. Dies galt sowohl für die machtpolitische Komponente der Zollpolitik, wie am Beispiel der Verbindung von preußischer Zollvereins- und Straßenbaupolitik vor 1834 bereits gezeigt wurde, als auch für die handelsfördernde Rolle des Verkehrsinfrastrukturausbaus. 22 Die direkte Sozialpolitik überließen die deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu kameralistischen und philanthropischen Ansätzen des 18. Jahrhunderts weitgehend den Gemeinden, Kirchen, Ständen und karitativen Vereinen. 23 Die sozialpolitische Leitidee des 18. Jahrhunderts, also Nahrungssicherung für die Bevölkerung, sei es als unmittelbare Lebensmittelversorgung oder als Erhaltung der Erwerbsmöglichkeiten, spielte jedoch innerhalb der Beamtenschaft immer noch eine wichtige Rolle. Das verdeutlichen die der Arbeitsbeschaffung dienenden öffentlichen Baumaßnahmen, wobei die Errichtung und Erhaltung von Infrastrukturen, nicht zuletzt des Straßennetzes, eine zentrale Bedeutung besaß.24 Seit den vierziger Jahren trat neben diese schon traditionelle Arbeitsbeschaffungspolitik ein neues gesellschaftspolitisches Argument für die Intensivierung der Infrastrukturpolitik. Vorausschauende Liberale forderten, daß der Staat die räumliche Dezentralisierung der im Entstehen begriffenenen Industrie fördern sollte. Man versprach sich davon den Abbau sozialer Konfliktpotentiale. 25 Der staatliche Beitrag zur Dezentralisierung sollte vor allem im Ausbau der Ver-

Industrialisierung Preußens, 1815-1866, in: Ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1980, S. 57 ff. 22 Vgl. Kapitel D.II. 1. 23 Der Rückzug des Staates aus der Wohlfahrtspflege schlug sich bereits im Allgemeinen Landrecht von 1794 nieder, setzte also vor der Reformzeit ein. Vgl. W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 470 ff.; R. Koselleck, Preußen, S. 129 ff., 622. 24 G.A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl., München 1991, S. 48, spricht von „vereinzelten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Notstandsgebieten". W. Radtke, Armut in Berlin, S. 99, bezeichnet hingegen die Straßenbauprojekte der Preußischen Seehandlung, bei denen in den zwanziger Jahren bis zu 15.000 Menschen beschäftigt waren, zutreffend als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen größten Stils". 25

Gustav Mevissen, führender Vertreter des rheinischen Liberalismus, sah zu Beginn der vierziger Jahre folgende wichtige Staatsaufgaben: „Freie Volksbildung auf Staatskosten, Minimallöhne, staatliche Arbeitsbeschaffung, Maximalarbeitszeit und vor allem systematische Dezentralisation der Industrie." Zitiert in: H. Best, Interessenpolitik, S. 35. - Im volkswirtschaftlichen Ausschuß der Frankfurter Nationalversammlung war man bereits mehrheitlich der Auffassung, daß die Industrie um so mehr dem Allgemeinen nützen würde, „...je mehr sie sich aus den großen Städten wegzieht und zerstreut ... ." P. Albrecht, Die volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen, S. 23 f. - Ähnliche Forderungen finden sich bei dem liberalen Staatsrechtler Robert Mohl. Vgl. Th. Hollenbach, Lob und Kritik der industriellen Revolution in England und Deutschland 1800-1848, Frankfurt a.M. 1990, S. 16.

204

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

kehrsinfrastruktur, speziell von Eisen- und Pferdebahnen liegen, wobei vorhandene Chausseen als günstige Voraussetzung galten. 2 6 Ob die Wirtschaftspolitik generell auf eine Förderung der Industrialisierung zielte oder auch nur in dieser Richtung wirkte, ist ein innerhalb der Industrialisierungsgeschichtsforschung kontrovers diskutiertes Problem. 2 7 Neben der Bestimmung von Wirkungsrichtung und Ausmaß staatlicher Tätigkeit sollte auch nach der Motivstruktur gefragt werden, da diese für die Beurteilung der M o dernität der Politik von Bedeutung ist. 2 8 Daher w i r d im folgenden der Frage nachzugehen sein, ob die Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik durch industrialisierungsfördernde Intentionen beeinflußt wurde. Es kann dabei zunächst davon ausgegangen werden, daß die Bedeutung der Infrastrukturpolitik innerhalb der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Laufe der Industrialisierung zunahm. 2 9 Die vermehrte Tätigkeit des Staates im Bereich der Infrastruktur

wider-

sprach auch liberalen Auffassungen zur Wirtschaftspolitik nicht. Gerade die Zurückhaltung bei staatlichen Subventionen oder Kreditvergaben für die ge-

26

Friedrich Harkort, rheinischer Industrieller und Verfasser mehrerer Schriften zur „sozialen Frage", schlug im Jahre 1844 vor, für die Arbeiter zur Verbesserung ihrer sozialen Lage „gesunde Wohnungen" zu bauen. Diese sollten außerhalb der Industriestädte liegen. Die Industriearbeiter könnten dann täglich mit vom Staat zu bauenden Eisen- oder Pferdebahnen und zu niedrigen Preisen aus den Vorstädten zu ihren Arbeitsstätten und zurück gelangen können. Er schrieb in seinen in Elberfeld erschienenen „Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen": „Als praktisch möchte es sich herausstellen, wenn man Arbeiterkolonien durch eigene Pferdebahnen mit den Hauptstädten verbände, die außer dem Personenverkehr zum Transport von Baumaterial und Produkten dienten. Die Meile ist für 30.000 Taler zu bauen und bei Benutzung der Chausseen noch ungleich billiger zu legen. Solche Vorstädte brächten der Hauptstadt keine Gefahr, die Leute wären gesund an Leib und Seele im Gegensatz der unbeschäftigten, darbenden Hefe des Volkes in den großen Städten." Zitiert in: J. Kuczynski, Bürgerliche und halbfeudale Literatur aus den Jahren 1840 bis 1847 zur Lage der Arbeiter. Eine Chrestomatie, Berlin 1960, S. 130. Ähnliche Gedanken findet man auch in: D. Hansemann, Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, hrsg.v. J. Hansen, Bd. 1, Essen 1919, S. 221 f. 27 W. Conze, Sozialer und wirtschaftlicher Wandel, S. 35. - Oftmals wird lediglich festgestellt, daß „auch ein Staat, der auf unmittelbare Industrieförderung weitgehend verzichtete, dem Industrialisierungsprozeß gegenüber nicht unbeteiligt blieb." J. Wysocki, Infrastruktur, S. 212 f. - Äls primär industrialisierungshemmender Faktor wird der preußische Staat bei, R.H. Tilly, Finanzielle Aspekte, S. 477 ff., dargestellt. Die seit den siebziger Jahren dominierenden positiven Bewertungen beruhen im wesentlichen auf: W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, S. 60 ff. Vgl. z.B.: H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, S. 96 f. 28 Vgl. J. Kocka, Preußischer Staat und Modernisierung im Vormärz: Marxistischleninistische Interpretationen und ihre Probleme, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 213 ff., insbesondere S. 215 f. und Anm. 22. 29 Vgl. auch Kapitel A.II.

I. Verhältnis von Wirtschafts-, Infrastruktur- und Straßenbaupolitik

205

werbliche Wirtschaft lenkte die Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Infrastruktur. 30 Die Frage nach dem quantitativen Ausmaß staatlicher Tätigkeit stand auch nicht im Mittelpunkt der infrastrukturpolitischen Debatte. Eine liberale Hauptforderung war die Übertragung der administrativen Zuständigkeiten vom Zentralstaat auf regionale oder kommunale Körperschaften, was den Auffassungen über die bürgerliche Selbstverwaltung entsprach. Hier traf man sich übrigens mit antizentralistischen Vorstellungen altständischer Konservativer. 31 In den vierziger Jahren forderte die liberale Opposition in zunehmendem Maße, der Staat solle seine gewinnbringenden Unternehmen privatisieren und sich auf gemeinnützige Tätigkeiten konzentrieren. Die in den dreißiger und vierziger Jahren mehr oder weniger konsequent verfolgten und auch nur teilweise erfolgreichen Versuche des preußischen und braunschweigischen Staates, sich aus dem Straßenbau zurückzuziehen, sollten auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden, entsprangen also nicht allein fiskalischen Motiven. Preußens Wirtschaftspolitik war aus den verschiedensten Gründen heraus liberaler als die der Klein- und Mittelstaaten.32 Dies galt auch für das Herzogtum Braunschweig, wo sich der Wirtschaftsliberalismus später und schwächer ausbreitete als in Preußen.33 Seit den dreißiger Jahren führten jedoch auch hier die im Vergleich zu Preußen schlechteren Voraussetzungen für die Konzentration privaten Kapitals nicht mehr zu einer Substitution durch Staatsunternehmen im gewerblichen Bereich. Das Herzogliche Staatsministerium mußte sich auf die Krisenbewältigung in den vorhandenen Staatsunternehmen konzentrieren. 34 Darüber hinausgehende gewerbepolitische Aktivitäten gingen allenfalls von den Kreisdirektionen aus. Die Verkehrsinfrastrukturpolitik bildete daher auch hier neben der Zoll- und Handelspolitik den Hauptbestandteil der Wirtschaftspolitik. Im Gegensatz zu Preußen forderte hier der Landtag in der Revolution von 1848 eine stärkere Förderung von Handel und Gewerbe durch den Staat.35 Dieser konzentrierte sich jedoch auch weiterhin auf den Auf- und Ausbau der Infrastruktur, wobei die sozialen Bestandteile, wie Bildungs- und Gesundheitswesen, eine größere Rolle als zuvor einnahmen. Privatisierung der staatlichen 30 Der preußische Seehandlungspräsident Rother entschloß sich beispielsweise im Jahre 1824 die Gewinne aus der preußisch-englischen Anleihe nicht als Kredite an die Privatwirtschaft zu vergeben, sondern zum Bau von Staatsstraßen zu verwenden und handelte in diesem Falle im Sinne einer liberalen Wirtschaftspolitik. Vgl. W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 115. 31

H. Beck, The Origins, S. 42 ff. und 149 ff. H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 192. 33 J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung, S. 181. 34 Zum staatlichen Anteil im braunschweigischen Gewerbe Kapitel D.III.2. - Die gewerbepolitische Inaktivität der braunschweigischen Regierung sollte jedoch nicht als Politik der Industrialisierungsverhinderung interpretiert werden. Vgl. H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 139 ff. und 330. 35 Ebenda, S. 198. 32

206

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

Eisenhütten in den fünfziger und Einführung der Gewerbefreiheit in den sechziger Jahren kennzeichneten dann den Höhepunkt des Wirtschaftsliberalismus im Herzogtum Braunschweig. 36 Der „gewisse Abstand" 37 bei der Liberalisierung der Wirtschaftspolitik in Preußen einerseits und im Kleinstaat Braunschweig andererseits äußerte sich trotz der späteren Einführung der Gewerbefreiheit nicht vorrangig im Grad des Staatsinterventionismus bei der Gewerbepolitik. Die Substitution von Vorbedingungen für die Industrialisierung 38 erfolgte im Falle des Herzogtums Braunschweig in erster Linie auf infrastrukturpolitischem Gebiet. In diesem Bereich wurden völlig andere Grundsatzentscheidungen getroffen als in Preußen, was in der unterschiedlichen Haltung zur Staatsbahnfrage besonders deutlich zum Ausdruck kam. 39 Diese noch an merkantilistischen Ideen orientierte Infrastrukturpolitik entsprach wahrscheinlich den braunschweigischen Verhältnissen am besten und stellte letztlich auch für die braunschweigische Industrieentwicklung die optimale Variante dar. 40 Das Gewicht der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik im Rahmen der Infrastrukturpolitik ist hingegen entsprechend der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Straßen innerhalb des Verkehrsnetzes gesunken. Zu untersuchen bleibt jedoch, welche Rolle der Straßenbau im Rahmen der Beschäftigungs- und Regionalpolitik innehatte und inwieweit sich die Straßenbaupolitik auch unter wachstumspolitischen Erwägungen neben dem Eisenbahnbau behaupten konnte. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich für die Untersuchung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik folgende Vorgehensweise. 41 Zunächst werden die die Straßenbaupolitik bestimmenden Motive bzw. Zielvorstellungen einer systematischen Betrachtung unterzogen. 42 Dabei sind verschiedene Untersuchungsebenen zu berücksichtigen. Die Verkehrsinfrastrukturpolitik wurde zwar in ihren Grundzügen auf der zentralen Regierungsebene bestimmt, aber gerade im Straßenbereich durch Provinzial, Bezirks- und Kreisbehörden im Detail beeinflußt und beinahe vollständig umgesetzt.

36

Chr. Römer, Regierung und Volk, S . U . W. Zorn, Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und öffentliche Finanzen 18001970, in: H. Aubin / W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2. Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 152. 38 Vgl. Kapitel A.II. 39 Zur Eisenbahnpolitik in Braunschweig vgl. Kapitel D.III.3. sowie die dort angeführten Literaturhinweise. 40 J. Brockstedt, Anfänge der Industrialisierung, S. 180 ff. 41 Vgl. auch Kapitel A.V. 42 Vgl. Kapitel E.II, bis E.IX. 37

II. Die Modernisierung infrastrukturpolitischer Ziele

207

Bei der Analyse der praktischen Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik geht es entsprechend der Infrastrukturtheorie vor allem um die folgenden Aspekte. Die Trägerfrage, also die Alternative zwischen staatlichen oder privaten Infrastrukturinvestitionen und -leistungen, sollte als Grundsatzentscheidung am Beginn jeder Betrachtung von Infrastrukturpolitik stehen.43 In beiden Fällen muß mit Hilfe der Gesetzgebung staatliche Tätigkeit geregelt bzw. private Tätigkeit beaufsichtigt werden. 44 Um die Durchsetzung dieser gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten, muß auch die Wegeverwaltung einen Professionalisierungsprozeß durchlaufen. 45 Die Finanzierung der Infrastruktur stellte schließlich das vielleicht wichtigste Verbindungsglied zur allgemeinen Wirtschaftspolitik dar. 46

II. Die Modernisierung infrastrukturpolitischer Ziele In der Gegenwart wird an Infrastrukturpolitik der Anspruch gestellt, daß diese „nicht aus Bedürfnissen erwachsen, sondern privatwirtschaftliche Entscheidungen vorbereiten und beeinflussen" soll. 47 Dementsprechend sollte auch die Straßenbaupolitik unter volks- und betriebswirtschaftlichen, bau- und verkehrstechnischen Gesichtspunkten mehr gestalten als anpassen.48 Die Infrastrukturtheorie nennt in diesem Zusammenhang drei wesentliche Ziele moderner Infrastrukturpolitik. Sie sollte Bestandteil der regionalen Wachstumsförderung und einer antizyklischen Konjunkturpolitik sein sowie zur Verbesserung der Einkommensverteilung beitragen. 49 In bezug auf die antizyklische Wirkung von Infrastrukturmaßnahmen herrscht jedoch aus heutiger Sicht eher Skepsis vor. Infrastrukturinvestitionen dürfen schließlich auch in Aufschwungsphasen nicht vernachlässigt werden. Vor allem aber sind Planung und Wirkung von Infrastrukturmaßnahmen in der Regel nicht kurzfristiger Natur, so daß Vorbereitungs- und Entscheidungslags

43

Vgl. Abschnitt F. Vgl. Abschnitt G. 45 Vgl. Abschnitt H. 46 Vgl. Abschnitt I. 47 R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, S. 49. 48 H. Kunze, Wegeregal, S. 39. 49 R.L. Frey, Infrastruktur, S. 211; S. Katterle, Infrastrukturpolitik und Wirtschaftsordnung, S. 293. 44

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

auftreten. 50 Beschäftigungseffekte durch kurzfristige öffentliche Aufträge sind aber trotz dieser Einwände als wichtige Bestandteile einer antizyklisch orientierten oder zumindest wirkenden Infrastrukturpolitik anzusehen.51 Das älteste, in der wirtschaftshistorischen Literatur breiter diskutierte Beispiel für eine deutlich konjunkturpolitische Argumentation in einer infrastrukturpolitischen Frage ist die Auseinandersetzung über die Eisenbahnverstaatlichung seit Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. 52 Allerdings zielte auch schon das Staatsbahnprogramm des „Ministeriums der Tat" unter Finanzminister Hansemann während der Revolution von 1848 auf antizyklische Arbeitsbeschaffungspolitik. 53 Auch im Königreich Württemberg läßt sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar keine bewußte antizyklische Zielsetzung, aber immerhin eine antizyklisch wirkende Beschäftigungspolitik beobachten. Der Straßenbau war dabei die einzige Infrastrukturmaßnahme, die immer in Zeiten gesamtwirtschaftlicher Beschäftigungsabnahme stattfand. 54 Dies überrascht insofern nicht, da die Ausreifungszeiten von Straßenbauinvestitionen im Untersuchungszeitraum sowohl im Vergleich zu heute als auch in Relation zu anderen zeitgenössischen Infrastrukturmaßnahmen kurz waren. Eine Berücksichtigung des regionalen und sozialstrukturellen Einkommensgefälles läßt sich in Ansätzen bereits in der Infrastrukturpolitik des 18. Jahrhunderts erkennen. Infrastrukturmaßnahmen sollten wirtschaftliches Wachstum in bestimmten Regionen fördern, wurden in Krisenzeiten intensiviert und dienten zur Einkommensverbesserung der ärmeren Volksschichten. Dominierend waren jedoch andere Motive. Die merkantilistische bzw. kameralistische Wirtschaftspolitik sah nämlich viele Bereiche, die heute als Erzeuger von Infrastrukturleistungen betrachtet würden, vorrangig als Mittel zur Erhöhung der Staatseinnahmen an. Dies galt beispielsweise für die Post. Neben dieses fiskalische Motiv trat die Förderung des Handels, der in der merkantilistischen Theorie eine zentrale Stellung einnahm. Gerade im Zusammenhang mit

50 R.L. Frey, Infrastruktur, S. 214. - Für den Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert: R. Spree, Wachstumszyklen, S. 295 ff. 51 R. Willeke, Motorisierung und Volkswirtschaft, S. 26. - Gerade der Straßenbau wurde in der Geschichte der Bundesrepublik mehrfach als Instrument einer antizyklischen Konjunkturpolitik eingesetzt. 52 J. Wysocki, Infrastruktur, S. 209; B.M. Baumunk, A u f dem Weg zur Staatsbahn, in: J. Boberg / T. Fichter / E. Gillen (Hrsg.), Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, München 1984, S. 127; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 145 f., 156. - Vgl. dazu auch: K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 28. 53

W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 114 ff. W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, S. 358, sieht darin „Ansätze zu einer modernen antizyklischen Konjunkturpolitik". Vgl. auch Ebenda, S. 66 f. und 128. 54

II. Die Modernisierung infrastrukturpolitischer Ziele

209

der Außenhandelspolitik wurde die Verkehrsinfrastrukturpolitik auch häufig durch machtpolitische Intentionen geprägt. 55 Modernisierende Transformation der Infrastrukturpolitik im 19. Jahrhundert, speziell auf dem Verkehrssektor, kommt demnach erstens in der Verdrängung von fiskalischen durch gemeinnützige Anliegen zum Ausdruck. Eine gemeinnützige Infrastrukturpolitik gewinnt wiederum an Modernität, wenn ihr strukturpolitische Gestaltungsansprüche innewohnen, denn unabhängig von der grundsätzlichen Bewertung staatlicher Interventionen ist die Nutzung der Straßenbaupolitik fur allgemeine wirtschafts- und sozialpolitische Ziele als Erweiterung des entsprechenden Instrumentariums und daher als modernisierend anzusehen.56 Die Modernisierung der Infrastrukturpolitik wird zweitens durch den Wandel von einer eher passiven Orientierung am Versorgungsziel zu einer aktiven Förderung von Wirtschaftswachstum widergespiegelt. In diesem Kontext sollte sich auch der Übergang von einer der allgemeinen Handelsbelebung dienenden Politik zur direkten Unterstützung von Wachstumsbranchen bzw. industriellen Führungssektoren vollziehen. Im Interesse einer im ökonomischen Sinne effektiven Infrastrukturpolitik ist drittens die Zurückdrängung ihrer sich oft kontraproduktiv auswirkenden Instrumentalisierung durch Machtpolitik. Das wichtigste Indiz dafür ist in unserem Zusammenhang eine Schwerpunktverlagerung von einer an Zollgrenzen orientierten Politik zur Beachtung regionaler Wirtschaftsstrukturen, indem beispielsweise grenznahe und andere periphere Regionen gefordert werden. Bei der Untersuchung der Motivstruktur stößt man viertens auf Beweggründe, deren Entwicklung nur schwer in das Modernisierungsmodell integriert werden kann. Dabei handelt es sich insbesondere um den Einfluß militärischer Faktoren auf die Verkehrsinfrastrukturpolitik. Schließlich ist ein nicht unbedeutender Teil der Straßenbaupolitik vorrangig als Reaktion auf die Systemtransformation anderer gesellschaftlicher Bereiche anzusehen. So entstand beispielsweise durch die im Zuge der Agrarreformen entstandene Möglichkeit der „Regulierung feudaler Dienste" auch ein Regulierungsbedarf im Bereich des Wegerechts, da die Straßenbau- und -unterhaltungsarbeiten zum überwiegenden Teil durch ähnliche Dienste realisiert wurden. Außerdem führte der mit der wirtschaftlichen Entwicklung anwachsende Verkehr zu einem mit herkömmlichen Ressourcen und Methoden nicht mehr kompensierbaren Verschleißniveau der Verkehrsanlagen.

55 56

Vgl. Abschnitt C. U. Müller, Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, S. 62 ff.

14 Uwe Müller

210

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

I I I . Das Verhältnis zwischen fiskalischen und gemeinnützigen Motiven Infrastrukturpolitik wird in der Realität immer sowohl von fiskalischen als auch gemeinnützigen Intentionen bestimmt. Der Übergang von der merkantilistischen zur liberalen Wirtschaftspolitik war tendenziell mit dem Rückzug des Staates aus seiner unternehmerischen Tätigkeit sowie seiner Hinwendung zu gemeinnütziger Aktivität verbunden. 57 Dementsprechend wechselte auch der Schwerpunkt der Finanzpolitik „von den Steuererhebungstechniken und Handelserleichterungen auf die Wirtschaftsförderung und öffentliches Bauwesen," wie für das Herzogtum Braunschweig seit den fünfziger Jahren festgestellt wurde. 58 Dieser Prozeß kann in den einzelnen Infrastrukturbereichen sowie in den wichtigsten Bestandteilen der Infrastrukturpolitik unterschiedlich verlaufen. So bildeten Grundgedanken der erst später systematisch erarbeiteten Theorie von der Gemeinwirtschaftlichkeit 59 von Verkehrsunternehmen bereits die Grundlage für die Regelungen von Tarifrecht und Beförderungspflicht im preußischen Eisenbahngesetz von 1838.60 Die weitere Entwicklung der Staatseisenbahnsysteme in Preußen und in anderen Staaten verdeutlicht hingegen sowohl die stärkere Berücksichtigung gemeinnütziger Zielstellungen seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts als auch den Fortbestand fiskalischer Motive bei den Verstaatlichungen der achtziger Jahre. 61 Anders als die Einrichtungen des Eisenbahn- und Postverkehrs unterlag das öffentliche Straßennetz schon in der vorindustriellen Gesellschaft dem „Gemeingebrauch". 62 Das bedeutete, daß eine allgemein übliche Straßennutzung der Allgemeinheit gestattet war. Darunter verstand man den Gebrauch der Straße durch den Personenreiseverkehr und den Transport von Handelsgütern. 63 Für die Sicherheit der Nutzer sorgte der Staat in der Form der Wegepolizeige-

57

E. Sax, Verkehrsmittel, S. 60 ff.; J. Wysocki, Infrastruktur, S. 16, spricht von der den Liberalismus kennzeichnenden „Abstinenz des Staates gegenüber gewinnbringenden Tätigkeiten". 58 Chr. Römer, Regierung und Volk, S. 11. 59 Die Begriffe „gemeinwirtschaftlich" und „gemeinnützig" werden hier, wie schon in Kapitel A.I. erwähnt, entsprechend der Vorgehensweise in der Mehrzahl der volkswirtschaftlichen Literatur synonym verwendet. Dazu und über die maßgeblich durch die deutsche liberale Klassik entwickelte Theorie der Gemeinwirtschaft: Th. Thiemeyer, Gemeinwirtschaft, S. 525 ff. 60

H. Kunze, Wegeregal, S. 31 f. Vgl. K.E. Born, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71-1914), Stuttgart 1985, S. 61 ff.; D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 177 ff. 62 Vgl. Kapitel C.IV. 63 H. Kunze, Wegeregal, S. 34. 61

III. Das Verhältnis zwischen fiskalischen und gemeinnützigen Motiven

211

setzgebung und der Wegeaufsicht im Rahmen seiner Administration. 64 Damit war bereits eine Vorentscheidung für die Behandlung der Straßen als gemeinnützige Einrichtungen auch im 19. Jahrhundert gegeben. Im Jahre 1809, also in der preußischen Reformzeit, definierte eine KO die Straßen als „gemeinnützige Anlagen zum öffentlichen Gebrauch". 65 Diese Betrachtungsweise und der Mangel an einzelwirtschaftlicher Rentabilität führten zu der Einsicht, daß „das Wegegeld nichts weiter als eine Beihülfe zu den Unterhaltungs- und Verwaltungskosten gewähren soll." 66 Das gemeinnützige Motiv spielte somit im gesamten Untersuchungszeitraum für die Entwicklung des Straßenwesens eine wichtigere Rolle als bei der Post oder der Eisenbahn. Trotzdem gab es auch immer wieder Straßenbauprojekte, deren Initiierung und konkrete Linienführung von der zu erwartenden Höhe der Chausseegeldeinnahmen und Transitzölle bestimmt wurden. 67 So diente die von Hettstedt nach Harzgerode führende Klausstraße (pCh Nr. 90b) in wirtschaftlicher Hinsicht fast ausschließlich der Verbindung zwischen dem Anhalt-Bernburgischen Hauptland und dem Oberherzogtum. Preußen chaussierte den auf seinem Territorium gelegenen Abschnitt relativ spät und allein wegen des zu erwartenden Chausseegeldes.68 Insgesamt spielten jedoch bei der Auswahl von zu chaussierenden Straßen die zu erwartenden Chausseegeldeinnahmen eine immer geringere Rolle. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil oft die unrentabelsten Verkehrslinien die höchsten regionalwirtschaftlichen Effekte erbringen. 69 Aus diesem Grunde verdeutlicht die sinkende Rolle der Chausseegeldeinnahmen bei der Konzipierung der Straßenbaupolitik, die letztlich in der Abschaffung der Chausseegelderhebung gipfelte, auch den Übergang zu gemeinnützig orientierter Straßenverkehrspolitik. 70 Ein typisches Beispiel für die Trennung des Staates von Erwerbstätigkeit zugunsten der Konzentration auf gemeinnütziges Wirken war die braunschweigische Eisenbahnprivatisierung von 1870. Diese wird von der Forschung in der Regel als Verzicht der braunschweigischen Regierung auf eine strukturgestal-

64

J. Salzwedel, Wege, S. 216 f. H. Kunze, Wegeregal, S. 247. 66 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde von Europa, 2. Abth. Deutsche Staaten, 2. Theil. Der Preussische Staat, Königsberg 1846, S. 318. - Vgl. auch Kapitel I.IV.l. 67 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 7. 68 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 42; H. Lindner, Geschichte und Beschreibung, S. 383. 69 F. Voigt, Verkehr, S. 524. 70 Die Einstellung der Chausseegelderhebung sollte allerdings nicht nur in diesem Kontext gesehen werden. Vgl. Kapitel I.IV.4. 65

212

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

tende Verkehrspolitik kritisiert. 71 Dabei wurde übersehen, daß das Kaufangebot im Aufschwungjahr 1869 äußerst günstig war. Außerdem hätte auch die Beibehaltung des Staatsbahnsystems die Chancen Braunschweigs im Konkurrenzkampf mit Hannover und Magdeburg um den Transitverkehr nicht verbessert. Vor allem jedoch floß ein großer Teil der Privatisierungserlöse in die Wegebaukassen der Kreise und ermöglichte dadurch die Erhaltung und den Ausbau einer tatsächlich defizitären Infrastruktur. 72

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik Die Nutzung von Infrastrukturinvestitionen zur Regulierung des Arbeitsmarktes kann ein Instrument einer antizyklischen, auf regionalwirtschaftliche und Einkommenseffekte gerichteten Wirtschafts- und Sozialpolitik darstellen. Die Infrastrukturtheorie sieht jedenfalls eine hohe Beschäftigungslosigkeit als die Infrastrukturentwicklung fordernden Faktor an.73 Es gilt aber auch der Umkehrschluß, also die Erschwerung der politischen Durchsetzbarkeit von Infrastrukturprojekten unter der Bedingung von Arbeitskräftemangel. 74 Für beide Zusammenhänge lassen sich in der Geschichte des Straßenbaus Indizien finden.75 Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei meist der Einsatz von Straßenbauten als Mittel einer Arbeitsbeschaffungspolitik. In der vorindustriellen Gesellschaft hielten die Staaten diese entweder nicht für notwendig, oder ihre Bedeutung blieb schon wegen des eng begrenzten Arbeitsmarktes gering. 76 Erst 71 Vgl. u.a. B. Pollmann, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 99; G. Biegel, Braunschweigische Industriegeschichte, S. 21. 72 Zur Privatisierung der braunschweigischen Staatsbahnen und zu den Konkurrenzbedingungen in den siebziger Jahren: J.M. Kleeberg, The privatisation, S. 12 f f ; Vgl. auch D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 115 ff. - Der Hinweis auf die Dotation der Kreisfonds aus den Einnahmen des Staatseisenbahnverkaufs findet sich bereits bei: R. Buerstenbinder, Die Landwirtschaft, S. 136 f. - Vgl. auch Kapitel I.III.2. 73 "In den meisten ... Staaten hat die Infrastruktur von der Beschäftigungslosigkeit sehr viel Nutzen gehabt, indem man zu irgendeinem Zeitpunkt die Beschäftigungslosen für Arbeiten zur Verbesserung der Infrastruktur eingesetzt hat." K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 31 (Diskussionsbeitrag von Gadolin). 74 Dementsprechend wäre eine Unterentwicklung der Infrastruktur weniger auf ein „Versagen der öffentlichen Hand", sondern auf eine „Überexpansion der privaten Wirtschaft" zurückzufuhren. Ebenda, S. 32 (Diskussionsbeitrag von Rüstow). 75 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 9, hat diesen Aspekt der Straßenbaupolitik vernachlässigt. 76 Allgemein zur Herausbildung des Arbeitsmarktes: T. Pierenkemper, Beschäftigung und Arbeitsmarkt, in: G. Ambrosius / D. Petzina / W. Plumpe (Hrsg.), Moderne

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik

213

durch die Auswirkungen der demographischen Revolution entwickelte sich die Arbeitsbeschaffung zu einem „gewünschten Nebeneffekt" staatlicher Straßenbaupolitik. 77 Im Rahmen vieler Städte und wohl auch einiger Landgemeinden besaß die sozialpolitische Dimension von Straßen- und Wegebauten hingegen eine längere Tradition und ein größeres Gewicht, denn schon seit dem Spätmittelalter wurden in den Städten Teile der besitzlosen Unterschichten zu kommunalen Pflasterarbeiten herangezogen. 78 Die Möglichkeit, mit Hilfe des Straßenbaus staatliche Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, war an mehrere Voraussetzungen geknüpft. Der Straßenbau mußte natürlich durch Lohnarbeit, also nicht durch Leistung von Frondiensten, ausgeführt werden. Die Agrarreformen mußten so weit vorangeschritten sein, daß genügend freie Arbeitskräfte existieren. Der Chausseebau mußte einen gewissen Umfang erreichen, um überhaupt eine nennenswerte Zahl von Arbeitern beschäftigen zu können. Schließlich war Arbeitsbeschaffung selbstverständlich nur sinnvoll, wenn genügend Arbeitssuchende existieren. Aus diesen Gründen gab es in unserem Untersuchungsgebiet im 18. Jahrhundert keine wichtigen beschäftigungspolitisch motivierten Chausseebauten. Zwar wurde bereits in einer der Antworten auf die Preisfrage über den Bau der Magdeburg-Leipziger Chaussee im Jahre 1787 auf die beschäftigungsfördernde Wirkung des Chausseebaus hingewiesen.79 Die Praxis sah dann jedoch anders aus. Der Bau dieser ersten Fernstraße auf dem Gebiet der späteren Provinz Sachsen zog sich nicht zuletzt aufgrund des Mangels an Arbeitskräften über insgesamt 14 Jahre hin. 80 Dieser Arbeitskräftemangel war nicht etwa das Resultat einer prosperierenden Wirtschaft. Er wurde vielmehr durch die geringe Entlohnung für die zweifelsfrei harte Straßenbauarbeit 81 und die zwar unterschiedlich ausgeprägte, aber bis zu den Agrarreformen die ländliche Gesellschaft dominierende Unfreiheit der Arbeitskräfte verursacht. Die Höhe der im Straßenbau gezahlten Löhne stellte bis etwa 1830 und dann wieder nach der Revolution von 1848 einen Streitpunkt zwischen den zuständigen Verwaltungen einerseits und den landwirtschaftlichen Arbeitgebern andererseits dar. In den zwanziger Jahren verhinderten im Königreich Sachsen die „basisnäheren" Kreishauptleute Versuche ihrer Regierung, durch Lohnsenkun-

Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung fur Historiker und Ökonomen, München 1996, S. 247 f. 77 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 116. Vgl. Kapitel C.I. 78 Über das Ausmaß von Lohnarbeit auf dem Lande im Bereich des Straßen- bzw. Wegebaus existieren für die frühe Neuzeit m.W. keine systematischen Forschungen. Vgl. H. Harnisch, Gemeindeeigentum und Gemeindefinanzen, S. 166 f. 79 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 10. Vgl. Kapitel C.III. 80 Er dauerte von 1788 bis 1802. Vgl. H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 347. 81 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 12.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

gen für Straßenbauarbeiten die Staatsausgaben zu senken. Sie befürchteten, daß zu niedrige Löhne einen Arbeitskräftemangel bewirken würden. 82 In den fünfziger Jahren gab es in der braunschweigischen Verwaltung eher Befürchtungen, die Löhne seien im Zuge der revolutionären Ereignisse zu stark angestiegen. In diesem Zusammenhang offenbarte das Herzogliche Staatsministerium in einem Schreiben an die Herzogliche Baudirektion durchaus liberale Ansichten. Es forderte, die Löhne bei öffentlichen Baumaßnahmen grundsätzlich unter dem Niveau im privaten Bereich zu halten.83 In den dreißiger und vierziger Jahren hingegen gab es für die Gutsbesitzer keinen Anlaß, gegen zu hohe Löhne bei öffentlichen Baumaßnahmen zu protestieren, wofür letztlich das Überangebot an Arbeitskräften verantwortlich war. In diese Zeit fiel auch der Höhepunkt des Einsatzes von Straßenbauten innerhalb der staatlichen Arbeitsmarktpolitik. Die Hungersnot von 1816/17 und die landwirtschaftliche Überproduktionskrise haben in den frühen zwanziger Jahren den Arbeitsbeschaffungseffekt als Motivation staatlicher Straßenbaupolitik gefördert. Im Herzogtum Braunschweig kamen die strukturellen Übervölkerungserscheinungen durch den Stellenanbaustop seit 1805 und der Niedergang der Protoindustrie seit 1815 hinzu. 84 Graf Münster, Bevollmächtigter des englischen Prinz-Regenten für die Vormundschaft über den damals minderjährigen Herzog Karl II., würdigte auf dem Landtag von 1819 die „großartigen Leistungen bei Instandsetzung der Chausseen seit 1813" und betonte, daß durch die Straßenbauarbeiten „in den verflossenen Jahren der Theuerung vielen Landeseinwohnern Gelegenheit zum Erwerb gegeben (wurde-U.M.), der ihnen sonst gefehlt haben würde." 85 Auch das preußische Straßenbauprogramm der 1820er Jahre diente unter anderem dazu, „während der für den Landmann bedrängten und für die Handelskonjunkturen nicht günstigen Zeit der ärmeren Volksklasse durch den Chausseebau Gelegenheit zum Verdienst zu geben, Leben und Thätigkeit überall zu verbreiten, und augenblicklicher Noth abzuhelfen." 86 Ferdinand von Motz, Oberpräsident der Provinz Sachsen, hoffte im Jahre 1824 durch Straßenneubau der notleidenden Bevölkerung im Eichsfeld helfen zu können.87 Allein zwischen 1824 und 1827 wurden im von der Seehandlung finanzierten Straßenbauprogramm 15.000 Arbeiter beschäftigt. 88 Typisch für die Begründung von Straßenbauten in den strukturschwachen Regionen der Provinz Sachsen war in den dreißiger Jahren der Antrag des im 82 83 84 85 86 87 88

A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 64. Nds STA Wolfenbüttel, 76 Neu Fb. 2, Nr. 742. Vgl. Kapitel B.V. F.K. von Strombeck, Staatswissenschaftliche Mittheilungen, 1. Heft, S. 54. Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, S. 244. W.O. Henderson, The State and the Industrial revolution, S. 85 f. W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 112.

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik

215

ersten Jerichower Kreise gelegenen Loburg, eine Straße von Genthin nach Zerbst zu fuhren. Der Magistrat sah die Benachteiligung gegenüber der fruchtbareren, direkt an der Elbe gelegenen Magdeburger Gegend und bezeichnete den Straßenbau als „einziges Mittel ..., wodurch der zerrüttete Wohlstand gehoben, der Armuth ein ehrlicher Broterwerb gereicht und dem Gutsbesitzer, Bürger und Bauer die Möglichkeit gewährt werden kann, seine Produkte nach anderen Orten zu schaffen und dort preiswürdig verkaufen zu können." 89 Der Arbeitsbeschaffungseffekt galt hier also als einer von mehreren wichtigen Gründen für den Straßenbau. Das größte Straßenneubauprojekt der zwanziger und dreißiger Jahre im Herzogtum Braunschweig, der Bau der Holzmindener Straße, wurde ebenfalls mit der Notwendigkeit begründet, in einer strukturschwachen Region Arbeitsplätze zu schaffen. Die Stände kritisierten den Bau, weil er letztlich die Umgehung braunschweigischen Territoriums durch den Ost-West-Verkehr nicht verhindern konnte. 90 Sie meinten, daß „die zur Disposition gestellten so bedeutenden Fonds zum großen Theile in entfernten Landesgegenden auf für den Verkehr und den eigentlichen Handel verhältnismäßig unerhebliche Straßen verwendet" würden. 91 Georg Philipp von Bülow, von 1826 bis 1830 leitender Minister des Herzogtums, betonte daraufhin die positive innenpolitische Wirkung der Chaussee. Schließlich hätte die Beschäftigung bei den Straßenbauarbeiten gerade im Weserdistrikt „in jener Zeit gesteigerter Nahrungslosigkeit" die Unterstützungskassen entlastet.92 Außerdem würde ,jede umsichtige Staatsverwaltung ... die ihr für das Innere zu Gebote stehenden Summen nicht (nur/U.M.) auf eine Gegend verwenden, um auf dieser gute Wege zu erzielen, sondern es ist ihre Pflicht, auf den Nahrungsstand der Einwohner, und auf solche Gegenden, wo durch Verdienst ihm aufzuhelfen, und so am zweckmäßigsten die etatsmäßigen Baugelder zu verwenden, vorzügliche Rücksicht zu nehmen."93 Schließlich wurde durch die enorme Verbesserung des Straßenzustandes die Reisezeit der Extraposten von Braunschweig nach Holzminden von zwei vollen Tagen auf 12 bis 14 Stunden verkürzt. 94 Diese Argumentation von Bülows zeugt von den Bemühungen der braunschweigischen Regierung, den Straßenbau nicht nur als Mittel der Handelsförderung zu betreiben, sondern auch in eine Art regionaler Strukturpolitik einzubeziehen. Dabei ging es vorrangig um die als „Nahrungssicherung" bezeichnete Arbeitsbeschaffung, also direkte sozialpolitische Effekte, und weniger um lang89 90 91 92 93 94

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 2r. Vgl. Kapitel D.III. 1. G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 3. Ebenda, S. 7 f. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 14.

216

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

fristigere Bemühungen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die produzierende Wirtschaft. Infrastrukturpolitische Mittel hätten ohnehin zur Bekämpfung der Krise im protoindustriellen Textilgewerbe der Kreise Gandersheim und Holzminden nicht ausgereicht. Die Hebung der Beschäftigung in der strukturschwachen Region, notfalls auch durch Staatsaufträge, war der Regierung aber immerhin so wichtig, daß sie die Instandhaltung der wichtigen Fernhandelsstraßen vernachlässigte. In den vierziger Jahren wurden Straßenbaumaßnahmen in den Verwaltungen zum Teil als beschäftigungspolitisches Allheilmittel angesehen. Diese Jahre waren bekanntlich nicht nur von einer politischen, sondern auch durch eine Gesellschaftskrise geprägt. 95 Es bildete sich der industrielle Konjunkturzyklus heraus. Bis 1847 traten aber auch noch „Wechsellagen alten Typs", also mitunter dicht aufeinanderfolgend agrarische Teuerungs- und Überproduktionskrisen, auf. Gleichzeitig erlebte Deutschland gravierende regional- und branchenstrukturelle Veränderungen. 96 Die soziale Konsequenz dieser gesellschaftlichen Eruption war der vor allem durch eine große Zahl von Erwerbslosen gekennzeichnete Pauperismus. 97 Die Ansichten über Ursachen und Lösungen dieses Problems divergierten beträchtlich. Staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stellten jedoch im unmittelbaren Vormärz ein allseits anerkanntes Mittel zur mindestens kurzfristigen Beruhigung der unzufriedenen Armen dar. 98 Dies galt auch für die ansonsten antiinterventionistischen Liberalen, da auch sie die Sprengkraft der „sozialen Frage" fürchteten. Aufgrund der Verbindung von Beschäftigungslosigkeit und politischer Krise wurde die Infrastrukturpolitik zunehmend in den Dienst der Arbeitsmarktpolitik gestellt. Es ist allerdings schwer, zwischen direkt stabilitätspolitisch motivierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie sie in der Revolutionszeit vorkamen, Projekten zur Überbrückung von auf Mißernten beruhenden, saisonalen Preissteigerungen sowie langfristiger angelegten Programmen zur Förderung strukturschwacher Regionen zu unterscheiden. Als im Jahre 1842 eine Mißernte die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb, drohten in der Altmark die ländlichen Unterschichten in Not zu geraten, da insbesondere im Winter die Beschäftigungsmöglichkeiten abnahmen. Während

95

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 660 ff. K. Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen 1800-1914, in: W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2. Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 230 ff. und 256 ff.; R. Spree, Wachstumszyklen, S. 320 ff. 97 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 281 ff. 98 Vgl. die zeitgenössischen Schriften in: C. Jantke / D. Hilger (Hrsg.), Die Eigentumslosen. - Die Diskussion der Historiker zuletzt zusammenfassend: H. Beck, The Origins, S. 4 ff. Vgl. auch Ebenda, S. 215 ff. 96

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik

217

der preußische Finanzminister Ernst Albert Karl von Bodelschwingh noch Anfang November die bereits geplanten Chausseebauten sowie Strom- und Uferarbeiten an der Elbe für ausreichende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hielt, wies er am 23. Dezember speziell für den Regierungsbezirk Magdeburg 46.000 Thaler als außerordentlichen Zuschuß für die Arbeit an 3 Chausseebauprojekten an, um dem Notstand in der Altmark im kommenden Winter entgegenzuwirken." Kurzfristige Mittelzuweisungen für Straßenbauten seitens des Finanzministeriums als Reaktion auf Berichte des Oberpräsidenten oder der Regierungen über die notleidende Unterschicht beeinflußten seit dieser Zeit die Straßenbaupolitik immer wieder. So standen auch nach der Mißernte von 1846, die seit dem Winter 1847 zu einer „fortdauernden Theuerung der Lebensbedürfnisse" führte, Straßenbauten in erster Linie unter dem Motiv der „notwendigen Vermehrung der Gelegenheit zum Arbeitsverdienst". 100 Der provinzialsächsische Oberpräsident Wilhelm Friedrich von Bonin forderte in diesem Zusammenhang im Mai 1847 eine Umverteilung der Mittel mit Rücksicht auf die in den einzelnen Regionen der Provinz unterschiedlich starke Arbeitslosigkeit. Speziell für den rechtselbischen Teil der Provinz sollten 10.000 Thaler bereitgestellt werden, um arbeitslose Handarbeiter unverzüglich bis Erntebeginn beschäftigen zu können. Dabei ging es vor allem um den Bau einer Straße von Torgau nach Herzberg, deren Bedeutung für die beiden Städte in der gleichzeitigen Herstellung eines Anschlusses an die zukünftige Eisenbahn Jüterbog-Riesa zu sehen sei. Als nur wenige Wochen später der Eisenbahnbau begonnen hatte, zog von Bonin jedoch seinen Antrag an das Finanzministerium zurück. 101 Es ging also weniger um den zukünftigen Eisenbahnanschluß als vielmehr um die gegenwärtige Beschäftigung von Handarbeitern, die nun durch den Eisenbahnbau gesichert war. Der Oberpräsident beantragte außerdem einen Zuschuß von 5000 Thalern für den Merseburger Bezirkswegebaufonds, um Erdarbeiten auf der auf sächsischer Seite bereits chaussierten Straße von Eilenburg nach Würzen sowie auf mehreren fiskalischen Straßen des Mansfelder Gebietes zu finanzieren. Das Finanzministerium gewährte diesen Zuschuß mit der Auflage, ihn nur für öffentliche Arbeiten bei „Nothstand der arbeitenden Klasse" 102 zu verwenden. Um zu vermeiden, daß „größere Massen von Arbeitern auf einzelne Stellen zusam-

99

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 119r, 124. - Noch im gleichen Jahr hatte von Bodelschwingh staatliche Hilfen fur 755 arbeitslos gewordene Berliner Kattundrucker mit der Begründung abgelehnt, man könne schließlich nicht die Gesetze von „Nachfrage und Absatz" durchbrechen. R. Koselleck, Preußen, S. 629. 100 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 39 ff. 101 Ebenda, Bl. 47. 102 Ebenda, Bl. 49.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

mengezogen werden, weil sie dann in zu kurzer Zeit wieder entlassen werden müssen, was sehr bedenkliche Folgen haben könnte," wurden die Mittel des so erhöhten Wegebaufonds „an möglichst verschiedenen Stellen zur Verwendung" gebracht. 103 Durch diese Zersplitterung war jedoch der Effekt der ohnehin geringen Ausgabe außerordentlich dürftig. Neben den Wegebaufonds der Bezirke wurde aber seit 1847 auch der zentrale Chausseebaufonds zur Arbeitsbeschaffung eingesetzt. Dabei spielten in der preußischen Provinz Sachsen, anders als im Herzogtum Braunschweig, Staatschausseebauten eine zweitrangige Rolle. Die allgemeine straßenbaupolitische Konzeption bestand in der Förderung des nichtstaatlichen Chausseebaus.104 Die Höhe der staatlichen Zuschüsse für diese Nichtstaatschausseen wurde 1847 und 1848 in erster Linie vom Arbeitsbeschaffungseffekt abhängig gemacht. Chausseebauten durch Private und Gemeinden, die dem allgemeinen Verkehr dienten und der arbeitenden Klasse Erwerb verschafften, erhielten nach einer Ministerialverordnung vom 10. Oktober 1848 pro Meile zwischen 6000 und 10.000 Thalern Staatsprämie, was im Vergleich zu den üblichen Subventionen mindestens einer Verdopplung entsprach. 105 Unmittelbar vor der Revolution wurde also der Straßenbau neben den Arbeitshäusern zum wichtigsten Teil der Arbeitsbeschaffungspolitik und damit Instrument der Sozialpolitik. 106 Anders als die ausschließlich privat getragenen Eisenbahngesellschaften wirkten die Straßenbauinvestitionen in der Provinz Sachsen antizyklisch. 107 Umgekehrt wurde der konkrete Ausbau der Straßenverkehrsinfrastruktur 1847 und 1848 in Abhängigkeit von seinen arbeitsmarktpolitischen Wirkungen vorangetrieben. In notleidenden Regionen, wie dem Eichsfeld, hat man die „Notwendigkeit, dem Kreise außer den bestehenden Staatsstraßen noch weitere Chausseen zu verschaffen ... erst in den vierziger Jahren erkannt, ... wobei gleichzeitig auch das Motiv mit leitend war, der ärmeren Klasse Arbeit und Unterhalt zu verschaffen". 108 Nennenswerte Beschäftigungseffekte wurden jedoch wegen der geringen absoluten Höhe der Straßenbauinvestitionen nicht erreicht. 109 Der preußische

103

Ebenda, Bl. 79r. Vgl. Abschnitt F. 105 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 80r und 89. Vgl. Abschnitt I. 106 Zu den Arbeitshäusern als Mittel der Armenpolitik: W. Fischer, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage" in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982, S. 46 ff. Vgl. auch W. Radtke, Armut in Berlin, S. 35 ff. und 96 ff. 107 R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 28. 108 Statistische Darstellung des Kreises Worbis, Worbis 1867, S. 111. 109 Vgl. Abschnitt I. - Die Notstandsarbeiten blieben der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 14. 104

IV. Straßenbaumaßnahmen als Teil staatlicher Arbeitsmarktpolitik

219

Staat ging von seiner seit 1820 praktizierten sparsamen Haushaltspolitik in den vierziger Jahren nicht ab, obwohl sie jetzt „dem Nationalwohlstand gerade entgegengesetzt" war. 110 Erst der politische Druck des Jahres 1848 führte dazu, daß öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen spürbar in Gang kamen und somit zur Entspannung auf dem Arbeitsmarkt beitragen konnten. 111 Die Finanzmittel waren allerdings auch 1848 noch so knapp, daß man sich auf Regionen, die als besonders aufrührerisch galten, beschränkte. Nachdem die revolutionären Aktivitäten auf dem Lande bereits im Frühsommer 1848 abgeflaut waren, konzentrierte sich die Beschäftigungspolitik auf die großen Städte. Im durch die Revolution von 1830 schwerer erschütterten Herzogtum Braunschweig genossen Straßenbauten als Notstandsarbeiten bereits in den dreißiger Jahren einen erstrangigen Stellenwert. 112 Sie konzentrierten sich auf den vom Niedergang des protoindustriellen Textilgewerbes betroffenen Weserdistrikt. 113 Zahlreiche Weber nutzten die Möglichkeit, eine in der Regel besser bezahlte Beschäftigung zu bekommen und beteiligten sich an den Eisenbahnund Wegebauarbeiten. Die Erfahrungen von 1830 trugen auch dazu bei, daß 1848 vor allem in der Residenzstadt Braunschweig und in ihrer näheren Umgebung zahlreiche Maßnahmen zur Beschäftigung brotloser Arbeiter getroffen wurden. Teilweise wurden nach Abschluß der Arbeiten urbar gemachte Parzellen an Häuslinge verpachtet. 114 Stabilitätspolitische Überlegungen dominierten aber auch hier gegenüber langfristigen strukturpolitischen Konzepten. So beschloß der Braunschweiger Oberbürgermeister Caspari noch im Revolutionsjahr und nach Rücksprache mit dem Staatsministerium, Beschäftigungsprogramme ab sofort auf den äußersten Notfall zu begrenzen. Diesen sah man allerdings im Herbst 1848 noch gegeben und plante daher schon Maßnahmen für das Frühjahr 1849. 115 Spätestens 1850 wurden jedoch überall die revolutionsbedingten Beschäftigungsmaßnahmen gestoppt. Die politische Stabilität war wiederhergestellt, die allgemeine Konjunktur bewegte sich in einem langsamen, aber vergleichsweise stetigen Aufschwung. 116 Strukturkrisen einzelner Branchen und Regionen dauerten jedoch an. Daher muß bei der Erklärung von Konzentrationen der Straßenbauinvestitionen, beispielsweise auf die rechtselbischen Gebiete, die nicht

110 1,1 112

R. Koselleck, Preußen, S. 329. R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 29. H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 95; R. Oberschelp, Politische Geschichte,

S. 98. 113

H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 231 ff., 358; Vgl. Kapitel D.III.2. Es handelte sich u.a. um Teich- und Erdarbeiten unweit Riddagshausen (18471850). Vgl. Nds STA Wolfenbüttel, 76 Neu Fb. 2, Nr. 741. 115 Ebenda, Nr. 742. 116 Vgl. R. Spree / J. Bergmann, Die konjunkturelle Entwicklung, S. 292 f. 1,4

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

unerwartete Überschneidung von regionalen Zentren politischer Destabilität und strukturschwachen Gebieten berücksichtigt werden. Die Notstandsarbeiten konnten den Arbeitsmarkt nur vorübergehend entlasten. Die Reintegration der Arbeitskräfte in die Privatwirtschaft erwies sich als sehr schwer, so daß viele dauerhaft von öffentlichen Investitionen abhängig wurden. Noch in den fünfziger Jahren nahm das Herzogtum Braunschweig mit der sogenannten Südbahn von Börßum nach Kreiensen einen Staatseisenbahnbau in Angriff, durch den „für die im Harz- und Weserbezirk von der Krise der Leinenproduktion betroffene Bevölkerung umfassende Arbeitsmöglichkeiten" geschaffen wurden. 117 In Preußen wurden zur „Lösung der Landarbeiterfrage" auch „öffentliche Arbeiten" durchgeführt, wobei es sich vor allem um den Bau von Straßen und Kanälen sowie um Meliorationsprojekte handelte.118 Ausnahmen von der allgemeinen straßenbaupolitischen Konzeption, vom Staat nur noch wichtige Fernverbindungen bauen zu lassen, waren ausschließlich auf den Wunsch zurückzuführen, in einer notleidenden Region Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. So erreichte die Erfurter Regierung im Jahre 1852 die vollständige Übernahme der Kosten für den Bau einer Straße von Ehrenberg nach Zollbrück durch den Staat und zwar je zur Hälfte aus dem Wegebaufonds und dem Forstwegebaufonds. 119 Letzteres weist zwar auf das Interesse des Forstfiskus an der Verbesserung der Absatzwege hin. Ausschlaggebend war jedoch der Hinweis auf die durch die schlechte Ernte von 1851 verursachte große Not und die Notwendigkeit, den Bewohnern „Gelegenheit zum Arbeitsverdienst" zu geben. 120 Schon für 1849 liegen Berichte aus der Stadt Braunschweig vor, daß zahlreiche Arbeiter „bei den vorfallenden Arbeiten an den Okercanälen alt geworden (seien-U.M.), und außerstande, etwas anderes zu betreiben." 121 Fünf Jahre später konstatierte die Herzogliche Polizeidirektion Arbeitsmangel, der „hauptsächlich dadurch veranlaßt worden ist, daß die bedeutendsten Erdarbeiten und groben Handarbeiten auf dem herzoglichen Bahnhofe hierselbst, durch welche bislang eine große Anzahl von Arbeitern beschäftigt wurde, plötzlich aufgehört haben, daß ferner die im Laufe dieses Sommers begonnenen größeren Bauten bis auf die feineren Arbeiten schon vollendet sind und daß endlich verschiedene Arbeiten, als z.B. das Ausbringen des Schlammes aus den Oker-Kanälen, sowie des Treibsandes aus der Oker neben der Pagenhardtschen Insel und größere Straßenpflasterungen, welche früher in jedem Jahr vorgenommen sind, in

117 1,8 119 120 121

H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 128. F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 1. Abth., S. 192. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 238 ff. Ebenda, Bl. 246r. Nds STA Wolfenbüttel, 76 Neu Fb. 2, Nr. 742.

V. Straßenbau als Mittel zur Verbesserung der Bevölkerungsversorgung

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diesem Jahre überall nicht stattgefunden haben." 122 Tatsächlich wuchs die Zahl der ungelernten Handarbeiter in Braunschweig nach der Revolution von 1848 weiter an. Erst ab 1855 konnte ein Teil von ihnen in den nun entstehenden Industrieunternehmen Beschäftigung finden. 123 Bis dahin hatte jedoch bei vielen bereits ein Professionalisierungsprozeß eingesetzt. Insbesondere die Straßenpflasterungen in den Städten wurden seit dieser Zeit von dauerbeschäftigten und sich zunehmend spezialisierenden Handarbeitern geleistet. Unter den Bedingungen einer „Übergangsperiode" 124 kam es also zur quantitativen Ausweitung der traditionellen Mustern folgenden Arbeitsbeschaffungspolitik, deren Resultat auch in einer Verfeinerung der Arbeitsteilung bestand, was wiederum als Indikator für Industrialisierung und Modernisierung anzusehen ist. 125

V. Straßenbau als Mittel zur Verbesserung der Bevölkerungsversorgung Für die ökonomisch motivierte, vorindustrielle Straßenbaupolitik stand die Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung neben der Handelsförderung im Mittelpunkt. Das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungswachstum erhöhte die Bedeutung dieses Faktors zusätzlich. So kam es im Herzogtum Braunschweig zu einem die gesamte Wirtschaftspolitik betreffenden Paradigmenwechsel. „Generell kann man sagen, daß der alte Grundsatz der Nahrung, der vorwiegend aus der Sicht der Produzenten zu interpretieren ist, aufgegeben wurde und an seine Stelle die Sorge um eine möglichst gute 'Versorgung' der gesamten Bevölkerung trat." 126 Das wichtigste Problem bestand dabei in der Gewährleistung der Lebensmitteltransporte. 127 Eine höhere Straßenqualität hätte in vielen Fällen Hungersnöte vermindern oder sogar verhindern können. Innerhalb Preußens litten darunter v.a. die mit einer schlechten Verkehrsinfrastruktur ausgestattetenen Ost-

122

Ebenda. G. Schildt, Tagelöhner, S. 336. 124 Mit diesem Begriff reflektierte Bruno Hildebrand 1848 die im sektoralen Strukturwandel wurzelnden Ursachen des Pauperismusproblems. Vgl. B. Hildebrand, Die weltgeschichtliche Bedeutung der modernen Industrie, in: C. Jantke / D. Hilger (Hrsg.), Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg-München 1965, S. 454. 123

125

J. Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 61 ff. 126 P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 565. 127 H. Kunze, Wegeregal, S. 41.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

provinzen. In der Provinz Preußen erreichten Hilfsgüter nach der Getreidemißernte von 1844 die notleidende Bevölkerung häufig aufgrund der schlechten Straßenqualität zu spät. 128 Der Leiter des Preußischen Statistischen Büros Carl Friedrich Wilhelm Dieterici beklagte noch im Jahre 1851, daß „in dem fruchtbaren Litthauen immer noch aus Mangel an Chausseen, die reichen Erndten wegen der schlechten Wege oft nicht zu Markt kommen können." 129 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden daher zahlreiche Straßen in erster Linie für den Transport von Lebensmitteln gebaut. Dabei ging es entweder um die Versorgung der wachsenden großen Städte oder der ertragsarmen Regionen. So sollte die ab 1815 errichtete Schöninger Straße im Herzogtum Braunschweig die Landeshauptstadt mit Getreide versorgen. 130 Die Stadt selbst war wiederum nur Durchgangsstation für viele aus dem Süden kommende Getreidetransporte, die über die Hamburger Straße in die Lüneburger Heide führten. 131 Insgesamt besaßen Straßen wegen der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkenden Urbanisierungstendenz noch im Eisenbahnzeitalter eine wichtige Funktion für die Lebensmittelversorgung der städtischen Bevölkerung. 132 Im verhältnismäßig unfruchtbaren preußischen Eichsfeld sollte 1834 durch den Bau einer Straße von Breitenworbis über Bischofferode in Richtung des hannoverschen Osterode vor allem der Getreideimport erleichtert werden, wovon man sich eine Verringerung der Brotpreise versprach. 133 Durch die allgemeine Steigerung von Effizienz und Marktorientierung der agrarischen Produktion verband sich das Versorgungsargument der Konsumenten mit dem Verkaufsziel der Produzenten. Ein Beispiel für den Übergang von der Versorgungspriorität zur allgemeinen Handelsförderung stellen die Bemühungen dar, die Straßenverbindungen zwischen der Getreideüberschußregion der Leipziger Tieflandsbucht mit der Steinkohle exportierenden Zwickauer Region und dem Erzgebirge zu verbessern. 134 Die Versorgung mit Brennstoffen, zunächst Holz und in zunehmemdem Maße auch Kohle, konnte ebenfalls eine direkte Motivation zum Straßenbau darstellen. Durch die schlechte Straßenqualität hervorgerufene hohe Transportkosten vervielfachten mitunter die Holzpreise. So diente die Harzstraße in er128

F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 318 f. C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 595 f. 130 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 16. Vgl. auch Kapitel D.III. 1. 131 R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik, S. 9. 132 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 91 ff. Vgl. u.a. für Berlin: F.-W. Henning, Standorte und Spezialisierung, S. 146. 133 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 34 f. 134 Ebenda, Bl. 66. 129

VI. Straßenbau als Mittel der Wirtschaftsförderung

223

ster Linie der Anlieferung von Bau- und Brennholz fur die Residenz Braunschweig. Da der Straßentransport hier nicht ausreichte oder zu teuer war, wurde bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts Harzer Holz auf der Oker nach Braunschweig geflößt. 135 Für die in den dreißiger Jahren erfolgende Inangriffnahme des mehrmals verschobenen Projekts, eine Chaussee von Magdeburg nach Salzwedel zu bauen, war nicht zuletzt die Verbesserung der Holzabfuhr aus den altmärkischen Forsten ausschlaggebend.136 Holzarme Gegenden wie das Thüringer Becken begründeten ihre Anträge auf Gemeindechausseebauten in den sechziger Jahren in erster Linie mit der Notwendigkeit des Holztransportes. 137 Das Streben nach Verdichtung des Chausseenetzes kennzeichnete also nicht nur die Führungsregionen der Industrialisierung. Im Landratsamt des Kreises Worbis hatte man in den sechziger Jahren ein Vernetzungskonzept im Anschluß an vorhandene Staatschausseen und zwei zu erwartende Eisenbahnlinien entwickelt, denn obwohl „der Kreis durch die Eisenbahn fast wenig oder gar keine seiner Produkte auszuführen vermag, so ist doch Gelegenheit geboten billigere Produkte, hauptsächlich Kohlen einzuführen, da die Holzpreise hier fortwährend im Steigen begriffen sind." 138 Der Ausbau der Straßenverkehrsinfrastruktur zur Verbesserung der Marktpartizipation beinhaltete also nicht nur das Bemühen um bessere Absatzchancen der einheimischen Produkte, sondern auch den Versuch, für die ortsansässige Bevölkerung preiswerte Güter, vor allem Brennstoffe und Getreide, bereitstellen zu können. Allerdings scheiterte die Realisierung vieler Chausseebaupläne oft gerade in den strukturschwachen Gebieten an den fehlenden finanziellen Mitteln. Dort beschleunigte zudem der freie Warenverkehr in der Regel den Niedergang der einheimischen Wirtschaft und in einigen Fällen auch notwendige Strukturwandlungsprozesse.

VI. Straßenbau als Mittel der Wirtschaftsforderung Die Förderung der Wirtschaft stellte im Untersuchungsgebiet seit Ende des 18. Jahrhunderts das wichtigste Anliegen der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik dar. 139 Diese Tendenz verstärkte sich im 19. Jahrhundert noch. Das Geheime 135 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 17; Th. Müller, Schiffahrt und Flößerei, S. 171 ff. 136 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 25r. 137 Ebenda, Nr. 3469, Bl. 248. - Hier ging es vor allem um Verbindungen des Kreises Langensalza mit dem Hainich. 138 Statistische Darstellung des Kreises Worbis, S. 117. 139 Vgl. Kapitel C.I.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

Staatsministerium des Herzogtums Braunschweig verfugte im Jahre 1834, daß die Verteilung der zum Chausseebau vorgesehenen Mittel auf die einzelnen Straßen in erster Linie nach „ihrer Wichtigkeit in commerzieller Hinsicht" zu erfolgen hat. 140 Der Bau von Straßen wurde als direktes Mittel zur Markterweiterung angesehen. Die Existenz von Straßen galt außerdem ganz allgemein als Voraussetzung für Zivilisation und wirtschaftlichen Fortschritt, Vernachlässigung des Straßennetzes demnach als Indiz für Unterentwicklung. 141 Eine unmittelbare Verbindung bestand zwischen der Qualität des Straßennetzes und der Entwicklung des Handels. Sowohl merkantilistische Traditionen als auch liberale wirtschaftspolitische Auffassungen beförderten eine aktive Straßenbaupolitik, zumal Preußen ohnehin zwischen 1815 und 1840 „mehr Handels- als Wirtschaftspolitik betrieben hat." 142 In den ersten Konzeptionen zur Errichtung eines staatlichen Chausseenetzes ging man in Braunschweig ebenso wie in Preußen von den Bedürfnissen des Fern- oder Transithandels aus.143 In einer zweiten Phase trat neben die allgemeine Unterstützung des Warenaustausches die Förderung bestimmter Handelsorte und der Intensivierung lokaler Marktbeziehungen. So sollte mit der Schiffbarmachung der Saale und dem Chausseebau nach Erfurt die Stellung Naumburgs als Handels- und Messestadt erhalten werden. 144 Im Rahmen einer Chausseebaukonzeption des Regierungsbezirks Erfurt aus dem Jahre 1834 wurden mit den Linien von Nordhausen über Mühlhausen nach Eisenach, von Schilfa nach Greussen als Teil einer Straße von Nordhausen nach Erfurt sowie von Nordhausen nach Nixey im Kgr. Hannover drei Projekte vorgeschlagen, die in erster Linie Nordhausens Stellung als Getreidemarkt stärken sowie den Absatz des Nordhäuser Branntweins heben sollten. 145 Der Bau einer Chausseeverbindung zwischen Zeitz und Ronneburg im Herzogtum Sachsen-Altenburg in den vierziger Jahren diente sowohl dem preußischen Getreideexport nach Sachsen als auch dem Steinkohlen- und Textilienimport aus dem stärker industrialisierten Königreich. 146 Die Verbesserung der materiellen Grundlagen für den Handel kann als allgemeine Wirtschaftsförderung angesehen werden. Sie stellte daher konzeptionell keine neue Qualität im Vergleich zum merkantilistischen Zeitalter dar, obgleich das Beispiel der Zeitz-Ronneburger Chaussee auf eine Industrialisierungsförderung durch Exporterleichterungen fabrikmäßig erzeugter Güter hinweist. 140

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 3460. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 76. 142 W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik, S. 152. 143 Vgl. Kapitel D.II.l. und D.III. 1. 144 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120 A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 62. - Das Ziel konnte jedoch nicht erreicht werden. Vgl. Kapitel B.IV.6. 145 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 29, 31. 146 Ebenda, Nr. 3468, Bl. 110 ff. 141

VI. Straßenbau als Mittel der Wirtschaftsförderung

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Im Laufe der Früh- und Hochindustrialisierung gewann jedoch auch die direkte Wirkung eines guten Kommunikationssystems auf die produzierende Wirtschaft an Bedeutung. Im Herzogtum Braunschweig des 18. Jahrhunderts waren noch die schlechten Absatzbedingungen für den insgesamt geringen Erfolg der Gewerbepolitik außerhalb der Landeshauptstadt mitverantwortlich gewesen.147 Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts verlagerte die Straßenbaupolitik ihren Schwerpunkt vom Ausbau der Handelsverbindungen von und nach Braunschweig zur Herstellung von Straßen für einzelne Unternehmen oder für Branchen, die gerade in hauptstadtfernen Regionen die Wirtschaftsstruktur bestimmten. Neben der Holzmindener Straße wären hier die Harzstraße sowie die Nordhäuser und die Pyrmonter Straße zu nennen.148 Der Übergang von einer primär an Handelsinteressen orientierten Straßenbaupolitik zur regionalen Wirtschaftsforderung kam schließlich generell durch die Veränderung der Linienführungsprinzipien zum Ausdruck. Man baute seit 1850 nicht mehr gerade Linien zur direkten Verbindung der Endpunkte, sondern führte neue Straßen von Ort zu Ort. 149 Jetzt ging es also unmittelbar um die Erleichterung der Rohstoffzu- und Produktabführ. Der neue, industrielle Bedarf an Ztergiawprodukten machte in einigen Fällen für einen begrenzten Zeitraum auch Straßentransporte mit Massengütern wieder rentabel und daher Straßenbefestigungen zu diesen Zwecken volkswirtschaftlich sinnvoll. So wurden in den vierziger Jahren Harzer Eisenerze aus Eschwege zur Wilhelmshütte bei Seesen und zur Carlshütte bei Delligsen transportiert, denn „die damaligen hohen Eisenpreise konnten den Transport mit Pferdefuhrwerk vom Salzgitterer Höhenzug, zum Harze und zum Wesergebirge vertragen." 150 Die von den Erzlagerstätten oft weit entfernten Standorte der Hütten waren vor allem durch den großen Holzbedarf bestimmt worden, der einen ausreichenden Abstand zwischen den Hütten erforderlich gemacht hatte.151 Der Übergang zur Verarbeitung von Kohle und der Aufbau eines Eisenbahnnetzes verschlechterte dann die Standortbedingungen für erz-, kohleund eisenbahnferne Hüttenstandorte beträchtlich. 152 Anders als im Herzogtum Braunschweig spielten in der preußischen Provinz Sachsen die Bedürfnisse des Bergbaus für die Straßenbaupolitik nur eine zweitrangige Rolle. Die Staatschaussee von Schleiz nach Saalfeld (pCh Nr. 77a) diente vorrangig dem Transport von Eisenerz, blieb jedoch mit dieser Zielstel-

147 148 149 150 151 152

P. Albrecht, Die Förderung des Landesausbaues, S. 500 ff. und 511. Vgl. Kapitel D.III. 1. und A 43. Zur Veränderung der Linienfuhrungsprinzipien: Kapitel I.I. Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 275. Ebenda, S. 295. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 83. Vgl. Kapitel B.IV.l.

15 Uwe Müller

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

lung eine Ausnahme. 153 Typischer war der Werdegang eines vom BauInspektor Horn im Jahre 1834 vorgeschlagenen Projektes. Horn befürwortete den Bau einer Verbindungsstraße von der Zella-Meininger Straße (pCh Nr. 77) nach dem kurhessischen Schmalkalden.154 Durch dieses Projekt sollte der Warenaustausch zwischen Preußen, Sachsen-Coburg-Gotha und Kurhessen erleichtert werden. Während nämlich auf der hessischen Seite die Eisenhütten die Holzvorräte schon bedenklich dezimiert hatten und daher auf Importe aus anderen Regionen des Thüringer Waldes angewiesen waren, benötigten die preußischen Hütten Zuschläge des qualitativ höherwertigeren hessischen Eisensteins. Zwischen Springstillen, Schmalkalden und Wernshausen an der Werra hatte Kurhessen bereits eine Chaussee gebaut. Auf dem Abschnitt zwischen Springstillen und dem preußischen Benshausen existierte aber nur ein steiler, schlechter und ausgefluteter Gebirgsweg. Gemäß den Rotherschen Richtlinien vom 8. November 1834 wurde der Bau einer Staatschaussee im Februar 1835 wegen des mangelnden überörtlichen Interesses abgelehnt.155 Erfolgreicher war hingegen ein gleichgerichteter Antrag der an der preußisch-hessischen Grenze zwischen Benshausen und Springstillen gelegenen Gemeinde Viernau vom Dezember 1835. 156 Die vom Schleusinger Landrat unterstützte Gemeinde stellte nicht die Steigerung des Holzexports und der Eisenproduktion in den Mittelpunkt. Sie verwies vielmehr auf die Möglichkeit, durch den Bau dieser Straße den Fernhandel zwischen Bremen und Nürnberg von Meiningen abzulenken und in den Kreis Schleusingen zu ziehen. Außerdem machte man auf die Tatsache aufmerksam, daß im hessischen Abschnitt der Straße Chauseegelder in der Höhe von 360 Reichstalern pro Jahr eingenommen wurden. Letztlich wurde zwar weder eine Staatschaussee gebaut, noch fanden sich Kreis oder Kommune bereit, ihrerseits eine Straße zu errichten. Immerhin ließ aber die Verwaltung der Domänen und Forsten nach einer entsprechenden Aufforderung des Seehandlungspräsidenten Rother den durch die Königlichen Forsten gehenden Weg gründlich instand setzen. Fiskalische Argumente erzielten also in diesem Fall bei der Verwaltung immer noch eine größere Wirkung als die Aussicht auf bessere Absatzchancen für Gruben, Hütten und Forsten. Mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters stellten Chausseen für den Massengütertransport, beispielsweise von Kohle oder Erz, nur noch komplementäre Verkehrslinien dar, auf die jedoch wegen der mangelnden Netzbildungsfähigkeit der Eisenbahn nicht ganz verzichtet werden konnte. Die preußischen Bergbaubehörden wiesen in den 1850er Jahren mehrfach auf diesen Umstand hin und forderten für die Erzförderung im Mansfelder Land und die sich im Regie-

153 154 155 156

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 35. Ebenda, Bl. 7 ff. Ebenda, Bl. 37 f. Ebenda, Bl. 60 f.

VI. Straßenbau als Mittel der Wirtschaftsförderung

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rungsbezirk Merseburg ausbreitende Braunkohlegewinnung Verbesserungen des Straßennetzes.157 Staatliche Aktivitäten blieben aber auch weiterhin die Ausnahme. Daher beteiligten sich einzelne Unternehmen am Bau von Kreisund Gemeindechausseen.158 Insgesamt muß jedoch festgestellt werden, daß die Transportbedürfnisse des Bergbaus bei dem damaligen Niveau der Straßenund Straßenfahrzeugtechnik nicht befriedigt werden konnten. Industriezweige mit breiter Streuung der Produktionsstandorte, die relativ wertintensive Güter zu transportieren hatten, setzten hingegen weiterhin auf die Kombination von Eisenbahn- und Straßentransport. Ein für den Regierungsbezirk Merseburg wichtiges Beispiel stellte in diesem Zusammenhang die chemische Industrie dar. Zwischen 1855 und 1864 entstanden in der Region um Hohenmölsen neun „große Etablissements" zur Herstellung von Teer, Photogen, Solaröl und Paraffin, „von denen täglich 500 bis 600 Centner Fabrikate und Halbfabrikate nach dem Weißenfelser Bahnhofe gefahren resp. die eintreffenden Chemikalien von dort wieder zurückgebracht wurden." 159 Da in dieser Branche „fast nur auf Lieferung und nur sehr wenig auf Lager fabricirt werden kann", waren die Unternehmen auf einen gleichmäßig guten Zustand der Wege nach Weißenfels, also auf die Herstellung einer Chaussee, angewiesen. Entsprechende Anträge auf den Bau einer Kreischaussee wurden jedoch bis 1864 von der Kreisversammlung immer wieder abgelehnt. Die Unternehmen selbst boten ihrerseits eine „freiwillige Beihilfe" von 12.000 Talern an, was 23 % der veranschlagten Gesamtkosten entsprach. Zum Bau auf eigene Rechnung waren sie aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit. Die angesprochenen Lieferungen auf Bestellung verdeutlichen im übrigen die höheren Anforderungen der neuen Industriezweige an das Kommunikationssystem. Der preußische Statistiker, Friedrich Wilhelm Freiherr von Reden, wies im Jahre 1853 daraufhin, daß von der Beschaffenheit der Landwege , jetzt mehr als jemals die Möglichkeit einer lohnenden Verwerthung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse abhängig ist." 1 6 0 Auch in der Landwirtschaft erhöhte sich nämlich, vor allem durch die Senkung der Transportkosten, die Bedeutung überregionaler Konkurrenz und damit das Interesse an einer Verbesserung der Straßenverkehrsinfrastruktur. Die Mehrzahl der Kreis- und Gemeindechausseebauten sollte in erster Linie den Marktzugang für die örtliche Landwirtschaft sowie ihre unmittelbaren Folgeindustrien verbessern. Dabei ging es nicht nur

157

Ebenda, Nr. 3469, Bl. 91. Vgl. Kapitel F.III, und F.IV. 159 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 229 f. Bei den Unternehmen handelte es sich unter anderem um die Werschen-Weissenfelser Braunkohlenactiengesellschaft, die Sächsisch-Thüringische Actiengesellschaft für Braunkohlenverwerthung sowie Bergwerk und Fabrik von A. Riebeck. 160 F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 1. Abth., S. 197. 158

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

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um die Verbindungen zum nächstgelegenen Bahnhof. Auch in eisenbahnlosen Gegenden wurde durch die Chaussierung der Landstraßen die Reichweite des Absatzes agrarische Güter erhöht. Der Kreis Salzwedel beispielsweise, eine peripher gelegene, fast ausschließlich von der Landwirtschaft geprägte Region, wollte durch seine Kreischausseebauten in erster Linie die Verbindung zum immerhin 50 bis 70 km entfernten Kornmarkt in Celle verbessern. 161 Wegebau im weitesten Sinne spielte auch beim Fortschritt der Landeskultur eine wichtige Rolle. Separation und Gemeinheitsteilung veränderten und verdichteten das Feldwegenetz in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Oftmals nutzte man auch die Separation, um ungünstige Linienführungen zu beseitigen, zumal in dieser Situation die Bereitstellung von Land zum Straßenbau einfacher zu erreichen war. Speziell im Weserbergland boten mit der Separation verbundene Wegebauarbeiten eine willkommene Gelegenheit zur Arbeitsbeschaffung für notleidende Spinner und Weber. 162 In waldreichen Regionen, wie den im Kreis Holzminden gelegenen Solling und Hils, standen zahlreiche Straßenverbesserungen im Zusammenhang mit dem Aufbau der modernen, staatlichen Forstwirtschaft. 163

V I I . Straßenbau als Instrument regionaler Strukturpolitik Es ist bereits festgestellt worden, daß sich der Staatschausseebau sowohl auf gesamtpreußischer Ebene als auch innerhalb der preußischen Provinz Sachsen seit den vierziger Jahren auf Gebiete konzentriert hat, die mit Straßen und Eisenbahnen unterdurchschnittlich versorgt waren. 164 Im Herzogtum Braunschweig wies im Jahre 1850 der südliche Teil ein dichteres Staatschausseenetz auf als der nördliche Teil, obwohl von letzterem die Industrialisierung ausging. 165 Aus der Rezeption dieser Prozesse ergibt sich die Frage, inwieweit regionalpolitische Intentionen bei der Konzipierung der Straßenbaupolitik eine Rolle gespielt haben. Gab es also eine bewußte Entscheidung für den Einsatz des Straßenbaus als Mittel zum regionalen Wohlstandsausgleich?

161

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 149. E. Tacke, Landkreis Holzminden, S. 125; A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 70; H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 234. 163 E. Tacke, Landkreis Holzminden, S. 161. 164 Vgl. Kapitel D.II.2. 165 Vgl. Kapitel D.III. 162

VII. Straßenbau als Instrument regionaler Strukturpolitik

229

Bei den Notstandsarbeiten der dreißiger und vor allem der späten vierziger Jahre, die mit einer Konzentration der Investitionen auf Notstandsgebiete verbunden waren, spielte die Wirkung auf das regionale Einkommensgefälle natürlich eine zentrale Rolle. Allerdings blieben die Effekte gering und in ihrer Wirkung temporär. Der Nichtstaatschausseebau konzentrierte sich zudem auf die wirtschaftlich fortgeschritteneren Regionen, so daß sich das Straßennetz insgesamt immer ungleichmäßiger verteilte. Auch dieser Effekt könnte natürlich intendiert gewesen sein, zumal die Beförderung von Agglomerationsvorteilen aus der Sicht einer volkswirtschaftlich orientierten Regionalpolitik oft bessere Ergebnisse liefert als Bemühungen um den Abbau von Wohlstandsdisparitäten. 166 In diesem Sinne wurde in den vierziger Jahren der seit 1816 noch gewachsene Vorsprung der Westprovinzen häufig als legitim angesehen. Schließlich müsse bei einem Vergleich der Verkehrsnetzdichten „der Flächenraum und die Größe und Dichtigkeit der Bevölkerung in Betracht (kommen-U.M.), in welcher Hinsicht die Provinzen sehr von einander abweichen, und es haben vorzugsweise solche Landestheile einen Anspruch auf Vermehrung der Kunststraßen, welche durch Wohlstand, Lebhaftigkeit des Verkehrs und großartige Entwickelung der Industrie voranstehen." 167 Der preußische Statistiker Dieterici verteidigte 1851 das West-Ost-Gefälle beim Straßenausbau mit dem Hinweis auf die „vortrefflichen Wasserverbindungen" der Ostprovinzen. Außerdem trete in den Westprovinzen „die Fabrikation in viel höherem Grade auf, und der Verkehr und Handel in Fabrikwaaren bedarf Erleichterungen des Transports auf Landwegen. Es ist daher bei der größeren Dichtigkeit der Bevölkerung in den westlichen Provinzen wohl erklärlich und gerechtfertigt, daß verhältnismäßig größere Verwendungen aus Staatsmitteln Behufs Herstellung von Chausseen im Westen stattgefunden haben, und es dürfte die hin und wieder vorgekommene Behauptung, daß die westlichen Provinzen bei Anlegung neuer Kommunikationswege aus Staatsmitteln eine vorzugsweise Berücksichtigung gefunden hätten, wohl insofern nicht gerechtfertigt sein, als die obwaltenden Verhältnisse, gleichsam wie durch Naturnothwendigkeit, in diesen Weg führten." 168 Die hier geübte Polemik weist darauf hin, daß in dieser Frage auch andere Auffassungen existierten. So wurde an anderer Stelle dafür plädiert, daß der Chausseebau in erster Linie „Gegenden zugängig machen sollte, die für den

166

Vgl. H. Jürgensen, Raumwirtschaft. II: Politik, in: W. Albers u.a., Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 6, Stuttgart-New York-Tübingen-GöttingenZürich 1988, S. 429. 167 Über den Chausseebau, 1847, S. 102. 168 C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 595.

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

Verkehr mit den großen Handelsstätten bisher verschlossen waren." 169 Der gleiche Autor sah übrigens den wichtigsten Nachteil der Eisenbahnen darin, „daß sie die Tendenz haben, große Massen der Bevölkerung auf wenige und einzelne Punkte zusammen zu drängen. Die großen Städte an den Endpunkten werden zu Riesen heranwachsen, sie werden sich zu kolossalen Sammel- und Tummelplätzen des Handels und der Gewerbe ausbilden, die aus den an den Bahnlinien belegenen Mittel- und kleinen Städten verschwinden müssen, wo fernerweit keins der kleinen Handelsgewerbe, kaum der schlichte Handwerker mehr bestehen kann, die zeither für Stadt und Land die ergiebige Quelle eines gesicherten Wohlstandes waren. Wo dies nicht der Fall, da werden sie veröden und allmälig ganz verschwinden!" 170 Die Verfechter eines vermehrten Staatschausseebaus in den Ostprovinzen wiesen vor allem daraufhin, „dass in diesen wenig Privat- und ähnliche Chausseen sind, dass eine Wechselwirkung stattfindet, und erst bei dichterer Bevölkerung und lebhafterem Verkehr eine Chaussee sich einigermaassen rentirt." 171 Auch der bereits zitierte, leider namentlich unbekannte Autor eines Artikels im Handelsarchiv sah den straßenbaupolitischen Zielkonflikt: „ A u f der anderen Seite wird die Anlage von Chausseen in besonders bedürftigen Gegenden nothwendig erscheinen, welche, von dem großen Verkehr abgeschnitten, vornehmlich durch Verbesserung der Communicationsmittel vor Verarmung geschützt werden können." 172 Nach 1850 setzte sich diese Linie durch. Der Handelsminister August von der Heydt legte das Schwergewicht der preußischen Straßenbaupolitik auf die Förderung des Kreischausseebaus und die Konzentration des Staates auf vernachlässigte Gebiete. Er äußerte im Jahre 1852: „In den mittleren und westlichen Provinzen des Staates, in welchen schon seit längeren Jahren größere Verwendungen für Chausseebauten statt gefunden haben, ist der Chausseebau so weit vorangeschritten, daß die Haupt-Verkehrsstraßen überall im Wesentlichen ausgebaut sind. Es bedarf daher solcher Bau-Unternehmungen für Rechnung der Staatskasse nur noch in seltenen Fällen, namentlich da, wo es sich um die Ausfüllung einer vorhandenen Lücke in dem bereits ausgebauten Chausseenetze handelt. ... Anders verhält es sich in den östlichen Provinzen, in Posen, in Pommern und vorzugsweise in Preußen, welche Provinzen erst in den letzten Jahrzehnten in den Besitz einer geringen Anzahl von Staatschausseen gelangt sind und in welchem es zur Zeit noch an den Bedingungen fehlt, unter welchen die eigenen Anstrengungen der Eingesessenen sich erfolgreich entwickeln können. ... Da überdies die östlichen, vorzugsweise auf den Ackerbau

169

Berghaus, Statistik des Preussischen Staats, S. 451. Ebenda, S. 451 f. 171 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, Berlin 1853, S. 256. 172 Über den Chausseebau, 1847, S. 103. 170

VII. Straßenbau als Instrument regionaler Strukturpolitik

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angewiesenen Provinzen in der Beförderung des Chausseebaues mit Recht das wesentlichste Mittel erkennen, durch die erleichterte Abfuhr ihrer Produkte ihren Zustand dauernd zu heben, und sie dem Wohlstande der anderen Provinzen allmählich zu nähern, so habe ich die öffentlichen Fonds zum Bau von Staatschausseen hauptsächlich in den östlichen Provinzen verwenden zu müssen geglaubt." 173 In der Folge nahmen die zwischen den preußischen Provinzen bestehenden Unterschiede in der Ausstattung mit Staatschausseen ab. 174 Durch entgegengesetzte Tendenzen im Eisenbahn- und Nichtstaatschausseebau wurde dieser konvergierende Effekt allerdings mehr als kompensiert. Auf der Suche nach Ansätzen einer modernen Regionalpolitik kann man sich jedoch nicht auf die Betrachtung der gesamptreußischen Ebene und des sich dabei ergebenden West-Ost-Gefälles beschränken. Auch im Rahmen der Provinzen und Regierungsbezirke gingen von den Straßenbauten raumwirtschaftliche Effekte aus. Es ist bereits festgestellt worden, daß im zeitlichen Vorfeld der Gründung des Deutschen Zollvereins zoll- und damit verbunden machtpolitische Motive die preußische Straßenbaupolitik in den westlichen Teilen der Monarchie sowie in der Provinz Sachsen bestimmten.175 Auch der schrittweise Beitritt Braunschweigs zum Zollverein wirkte auf die Straßenbaupolitik des Herzogtums, die sich jedoch dabei im Spannungsfeld zwischen preußischen und hannoverschen Interessen befand und daher mehr Reaktion als Aktion hervorbringen konnte. 176 Es wurde auch konstatiert, daß in diesem Zusammenhang zwar zahlreiche neue Chausseen entstanden, deren Linienführung jedoch mit Hinblick auf größere Wirtschaftsräume selten optimal war. Aus diesem Grunde war die Vermeidung dieser „politischen Chausseebauten", zumindest nach Herstellung des zollvereinten Binnenmarktes, im Sinne wirtschaftlicher Effektivität und daher auch Modernität. Bei der Planung neuer Chausseebauten in Grenzregionen sollte es nun nicht mehr vorrangig um die Frage gehen, wie dem ausländischen Verkehr am besten geschadet werden könne. Im Mittelpunkt hatten nun Überlegungen zu stehen, wie die wirtschaftliche Entwicklung in den peripheren Regionen, die unter den „Handelskriegen" des 18. und frühen 19. Jahrhunderts oft stark gelitten hatten, zu fördern war.

173

Zitiert in: R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 75 f. Vgl. Anlage 5. 175 Vgl. Kapitel D.II, und D.III. 1. - Dieser Aspekt der Straßenbaupolitik ist schon seit längerer Zeit untersucht worden. Vgl. v.a. P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, insbes. S. 36. - Nach B. Schulze, Geschichtliches über das norddeutsche Straßenwesen, S. 35, baute Preußen unter Finanzminister von Motz regelrechte „politische Chausseen". E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 66, spricht davon, daß die Chausseen seit 1828 „bewußt in den Dienst der Außenpolitik und der Hegemonieansprüche gestellt" wurden. 176 R. Wittenberg, Braunschweigs Zollpolitik. Vgl. auch Kapitel B.IV.6. und D.III. 174

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Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

Der Landrat des Kreises Gardelegen von Kröcher machte im Jahre 1844 den Finanzminister Flottwell auf dieses Problem aufmerksam. Er reklamierte fiir seinen an der Grenze gelegenen Kreis das dringende Bedürfnis nach besseren Kommunikationsmitteln, denn in dem dünn besiedelten Kreis hatten Grenzorte oft bessere Transportmöglichkeiten ins benachbarte Braunschweig als in die eigene Kreisstadt oder gar nach Magdeburg. Der Landrat sah darin nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern warnte auch vor den politischen Dimensionen einer „Entfremdung vom eigenen Staat". 177 Eine Bestätigung seiner Lagebeschreibung liefern die zahlreichen braunschweigischen Klagen, daß „die in hiesigen Landen mit großen Opfern ausgeführten Wege-Anlagen in den Nachbarstaaten nicht fortgesetzt werden." 178 Preußen hatte zwar in den dreißiger Jahren im Zusammenhang mit der Zollvereinsgründung noch einige grenzüberschreitende Verbindungen hergestellt. 179 Für die Schaffung neuer Verbindungen in das erst später beigetretene Herzogtum Braunschweig zeigte die preußische Regierung jedoch kein Interesse. Preußen hat sich eben 1834 nicht nur vom „politischen Straßenbau" verabschiedet. Gleichzeitig ist die Konzentration des Staates auf gesamtstaatlich wichtige Straßenbauprojekte Grundsatz der Verkehrspolitik geworden. Dabei ging man so weit, auch den grenzüberschreitenden Chausseebau der Kompetenz der Kreise oder Gemeinden zu überlassen. Dadurch verlor jedoch die Zentrale die spezifischen Interessen peripherer Regionen aus dem Blickfeld. Man erkannte trotz mehrfacher Interventionen des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten nicht, daß grenzüberschreitende Straßenverbindungen einer besonderen Förderung durch den Staat bedurft hätten. Das verdeutlicht auch das Scheitern eines Planes von 1842, westlich von Osterwieck einen Chausseeabzweig nach Vienenburg im Königreich Hannover zu bauen. Als die Verhandlungen über einen Zollvereinsbeitritt Hannovers scheiterten, stoppte Preußen das Projekt. Daraufhin schlug der braunschweigische Minister Friedrich Schulz vor, eine nur wenige Kilometer südlich verlaufende Straße von Osterwieck über Abbenrode nach Harzburg zu bauen. Preußen lehnte jedoch eine Finanzierung aus dem zentralen Haushalt wegen des „geringen gesamtstaatlichen Interesses" ab. Die Verhandlungen der Magdeburger Regierung mit dem nur gering engagierten Kreis und den interessierten, aber finanzschwachen preußischen Grenzgemeinden über eventuell zu gewährende Prämien verliefen außerordentlich schleppend und scheiterten schließlich. 180

177 178 179 180

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 158. Ebenda, Bl. 194r. Vgl. Kapitel D.II. 1. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 16 f., 50 ff.

VIII. Die Bedeutung militärischer Motive für die Straßenbaupolitik

233

So kann insgesamt von einer Nutzung des Straßenbaus im Rahmen einer regionalen Strukturpolitik in Preußen nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Streben nach Abbau des West-Ost-Gefälles gesprochen werden. Diese Bemühungen waren letztlich so wenig erfolgreich wie die stabilitätspolitisch begründeten Notstandsarbeiten. Letztere besaßen natürlich auch eine regionale Wirkungsdimension, resultierten aber in erster Linie aus dem Ziel, das soziale Einkommensgefälle abzubauen. Im Herzogtum Braunschweig chaussierte dagegen der Staat seit den dreißiger Jahren vorrangig Straßen von nur lokaler Bedeutung. Er bevorzugte dabei den südlichen Hauptteil. 181 Dies war sicherlich auch auf die geographische Lage der braunschweigischen Staatsunternehmen zurückzuführen. Hinzu kam jedoch der Einsatz des Straßenbaus als Mittel zur Arbeitsbeschaffung, der hier nicht nur früher begann und langfristiger anhielt als in Preußen. Er war auch unmittelbar mit der Wirtschaftsförderung in einer bestimmten Region, dem von der Krise des häuslichen Textilgewerbes betroffenen Weserdisktrikt, verbunden.

V I I I . Die Bedeutung militärischer Motive für die Straßenbaupolitik Über den Einfluß militärischer Motive auf den Straßenbau existieren in der Forschung unterschiedliche Auffassungen. Zweifelsfrei hat in Preußen nach 1815 auch das Kriegsministerium die Chaussierung großer Ost-WestVerbindungen befürwortet, da man sich davon eine Erhöhung der Truppenbeweglichkeit versprach. 182 Es gibt jedoch keine Beweise für die These, der preußische Kunststraßenbau nach 1815 sei vorrangig aus militärischen Erwägungen erfolgt. 183 Militärische Überlegungen haben in der Rheinprovinz sowie in Posen, West- und Ostpreußen die Straßenbaupolitik beeinflußt. In der Nähe der russischen und vor allem französischen Grenze erwuchsen Straßenbauprojekte auch direkt aus militärstrategischen Überlegungen. 184 Im Gegensatz dazu 181

Vgl. Kapitel D.III.4. H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 347. 183 So bei E. Rehbein / J. Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 9; R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 352 ff. - Ähnliche Äußerungen bei G. Fischer, Wirtschaftliche Strukturen, S. 50, resultieren wahrscheinlich aus der spezifischen militärstrategischen Lage des Regierungsbezirks Trier. - A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 60 f., betont dagegen, daß im Königreich Hannover der Einfluß wirtschaftlicher Überlegungen auf die Gestaltung des Chausseenetzes um ein Vielfaches größer war als die Bedeutung militärischer Faktoren. 182

184

S. 41.

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 67 f.; H. Kunze, Wegeregal,

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

234

spielte der Gedanke an eventuelle militärische Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten an den Grenzen zum Kgr. Hannover, Hztm. Braunschweig, dem Kurfsm. Hessen und den Thüringischen Staaten keine Rolle. Seit 1826 mußten zur Genehmigung von Chausseeneubauten zustimmende Erklärungen der entsprechenden Generalkommandos vorliegen. 185 Bei Straßenbauprojekten im Grenzgebiet war die Erlaubnis des Kriegsministerium erforderlich. 186 In den Akten des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten sowie des Finanzministeriums über die vielfach an Gebiete anderer deutscher Bundesstaaten grenzende Provinz Sachsen läßt sich kein einziger Fall finden, in dem das Kriegsministerium entsprechende Projekte blockiert oder auch nur verändert hätte. 187 Hier ging es vielmehr vorrangig um die Gewährleistung eines möglichst schnellen Truppentransportes zwischen den mittleren und westlichen Provinzen. Nachdem sich Hardenberg auf dem Wiener Kongreß vergeblich um eine direkte Landverbindung zum westlichen Teil der Monarchie bemüht hatte, trat Ferdinand von Motz in einer Denkschrift aus dem Jahre 1817 noch einmal für einen Gebietsaustausch mit den Nachbarn ein, um eine geographische Verbindung der Ost- und Westhälfte Preußens herzustellen. 188 Artikel 31 der Wiener Schlußakte hatte zur Lösung des Problems die Festlegung von Militärstraßen vorgesehen, die über das Territorium anderer Bundesstraßen geführt wurden. Im Jahre 1818 schloß Preußen sogenannte Militärstraßenkonventionen mit verschiedenen Nachbarstaaten ab. Als militärisch wichtigste Verbindungen erwiesen sich letztlich die Straßen von Erfurt über Eisenach, Hersfeld und Vacha nach Koblenz (pCh Nr. 78 bzw. 79), von Heiligenstadt über Witzenhausen nach Kassel (pCh Nr. 60) sowie von Halberstadt über Hildesheim nach Köln (pCh Nr. 84). 189 Die Militärstraßenkonventionen regelten das gegenseitige Durchzugsrecht von Truppen auf festgelegten Straßen und lagen daher vorrangig im preußischen Interesse. Die Kleinstaaten gingen vor allem aus Furcht vor einer Belastung der Beziehungen zu Preußen auf diese Abkommen ein. So schlossen am 23. Dezember 1818 das Königreich Preußen und das Herzogtum Braunschweig einen entsprechenden Vertrag ab, in dem die Landeshauptstadt und Wolfenbüttel als Etappenorte festgelegt wurden. 190 Hauptstreitpunkt bei den diesbe185

L. von Rönne, Wegepolizei, S. 284. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 65. 187 Vgl. u.a. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 160 ff. 188 W.F.Becker, Die preußischen Militärstraßen, S. 182 ff.; E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 66. - Der Militärtheoretiker Clausewitz war übrigens gegen die Herstellung eines solchen, nur unter großen Schwierigkeiten zu verteidigenden Korridors. 189 W.F. Becker, Die preußischen Militärstraßen, S. 180 f., 186. 190 Ebenda, S. 194 ff. 186

VIII. Die Bedeutung militärischer Motive für die S t r a ß e n b a u p o l i t i k 2 3 5

züglichen Verhandlungen und den Vertragsverlängerungen war die Höhe der Verpflegungssätze, die Preußen für die Unterhaltung seiner Truppen während der Märsche durch das Ausland zahlen mußte. Das ging sogar soweit, daß Preußen, nachdem die mit Braunschweig bestehende Konvention für den Zeitraum von 1835 bis 1845 verlängert worden war, Hannover konsultierte, um die Militärtransporte zwischen Halberstadt und Hildesheim nicht mehr über das braunschweigische Wolfenbüttel, sondern über das hannoversche Ringelheim zu führen. Alleinige Ursache dafür war die in den Verhandlungen vorgebrachte Forderung Braunschweigs gewesen, die Verpflegungsgelder zu erhöhen. 191 War eine Einigung über diesen Punkt also schon schwer genug, so ist es nicht verwunderlich, daß aus den Militärstraßenkonventionen keinerlei Straßenneubauprojekte erwuchsen. Trotz der zahlreichen Klagen der braunschweigischen und anderer Regierungen über die Belastungen der Truppendurchzüge waren diese auch mit Vorteilen verbunden. Als sich im Jahre 1820 Kurhessen trotz entsprechender preußischer Forderungen weigerte, die Straße zwischen Heiligenstadt und Kassel zu verbessern, und Berlin nach Alternativen suchte, bot Braunschweig von sich aus an, die Truppen fortan durch den eigenen Weserdistrikt nach Höxter zu führen. 192 Ein Jahrzehnt später, als die erwähnten Schwierigkeiten zwischen Preußen und Braunschweig auftraten, zeigte sich wiederum Hannover interessiert, den militärischen Verkehr auf sein Territorium zu ziehen und stellte sogar die Bedingung, daß die Transporte die Landeshauptstadt berühren sollten. 193 Offensichtlich versprach man sich von den durchziehenden Truppen eine Absatzsteigerung für das einheimische Gewerbe, oder die von Preußen gezahlten Verpflegungssätze waren durchaus kostendeckend. Auch im Binnenverkehr spielten Militärtransporte bis in die sechziger Jahre hinein eine wichtige Rolle. Obwohl natürlich in zunehmendem Maße auch die Eisenbahn benutzt wurde, wollte sich die Armee schon aufgrund der Verwundbarkeit der Schienenstränge nicht allein auf einen Verkehrsträger verlassen. 194 Neben den Verbindungen zu den Westprovinzen erlangte nur eine provinzialsächsische Staatsstraße eine externe militärstrategische Bedeutung. Dabei

191

Ebenda, S. 215 f. Ebenda, S. 203 ff. 193 Ebenda, S. 216. 194 G. Goldbeck, Technik als geschichtliche Macht im 19. Jahrhundert, in: W. Treue / K. Mauel (Hrsg.), Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Acht Gespräche der Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Göttingen 1976, S. 212. - Erst in den sechziger Jahren wurde die militärische Relevanz des Eisenbahnbaus in ihrer Gesamtheit erkannt. Vgl. D. Eichholtz, Junker, S. 100 ff.; E. Rehbein / J.Lindow / K. Wegner / H. Wehner, Deutsche Eisenbahnen, S. 29. 192

236

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

handelte es sich um die in den dreißiger Jahren gebaute Chaussee von Magdeburg nach Hamburg, die trotz des damit verbundenen beträchtlichen Umweges das Territorium des unter englischem Einfluß stehenden Königreichs Hannover umging. 195 Ansonsten blieb der Einfluß militärischer Faktoren auf die Inangriffnahme von Straßenbauprojekten oder auch nur deren konkrete Linienführung gering. So begründete die Merseburger Regierung im Jahre 1850 ihre Pläne zur Chaussierung der fiskalischen Straße von Torgau nach Dommitzsch nicht allein mit der notwendigen Verbesserung der Kommunikationsbedingungen für den lokalen Verkehr in der dicht besiedelten Elbniederung. Gleichzeitig sah sie auch die Verbindung zwischen zwei Festungen, die zudem über die Chaussee von Torgau nach Dahlen auch an die Leipzig-Dresdener Eisenbahn angeschlossen werden konnten, als wichtigen Grund für den Chausseebau an. 196 Das Kriegsministerium befürwortete das Projekt, bezeichnete aber gleichzeitig den Bau einer Chaussee von Torgau nach Herzberg als wesentlich dringender, da man einen Eisenbahnanschluß auf preußischem Gebiet bevorzugte. 197 Das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit lehnte jedoch die Chaussierung auf Staatskosten ab, obwohl die veranschlagten Baukosten von 12.468 Rthlr. für 2 Meilen nur knapp über dem üblichem Prämiensatz lagen. Trotz des guten Ausgangszustandes der Straße waren allerdings im Projekt die notwendigen Ausgaben bewußt oder unbewußt unterschätzt worden. Entscheidend für die Ablehnung war jedoch die Scheu des Staates vor den regelmäßigen Unterhaltungsaufwendungen, die mit 1250 Rthlr. pro Jahr beziffert wurden. 198 Insgesamt blieben also im Untersuchungsgebiet militärische Überlegungen als Neubaumotiv immer zweit- oder drittrangig, denn auch die Verbindungsstraßen in die Westprovinzen wären schon allein aus handelspolitischen Motiven chaussiert worden. 199

195

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 53. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 169. 197 Ebenda, Bl. 168. - Das Projekt war bereits im Frühjahr 1847 als Notstandsarbeit geplant gewesen, wurde dann jedoch nicht realisiert. 198 Ebenda, Bl. 171. 199 Im Gegensatz dazu hält M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 111 ff., militärische und staatspolitische Überlegungen für die wichtigsten Motive der Straßenbaupolitik, ohne daß die aufgeführten Beispiele dies belegen können. 196

IX. Grundtendenzen des Motivwandels in der Straßenbaupolitik

237

IX. Grundtendenzen des Motivwandels in der Straßenbaupolitik Die Chaussierung der Straßen bedeutete auch eine Verbesserung der Verkehrswertigkeit des Personenverkehrs, insbesondere hinsichtlich der Geschwindigkeit, Berechenbarkeit und Bequemlichkeit. Vor allem die Post hatte daher ein Interesse an der Verbesserung der Straßen, insbesondere auf den von ihr benutzten Routen. 200 Daraus erwuchsen aber in keinem Fall für den Straßenneubau entscheidende Anlässe, sondern allenfalls einzelne Projekte unterstützende Argumente. 201 Daher stand die Darstellung des Postverkehrs hier nur am Rande. Das ist auch insofern berechtigt, da insbesondere der Höhepunkt des Chausseebaus in den 1850er und 1860er Jahren fast ausschließlich aus den Bedürfnissen des Gütertransports erwachsen ist. 202 Der Personenfern-, aber auch ein Teil des sonstigen Postverkehrs gingen auf die Eisenbahn über. Der Eisenbahnbau bewirkte nämlich, daß sich die Reisezeiten auf den entsprechenden Strecken zwischen 1841 und 1851 noch einmal mehr als halbierten. 203 Schließlich wurden die Straßen auch in zunehmenden Maße von Privatreisenden genutzt. Der Tourismus, etwa in den Harz, war im Untersuchungszeitraum jedoch noch zu unbedeutend, um die Straßenbaupolitik zu beeinflussen. 204 In den vorigen Abschnitten sind die Motive herausgearbeitet worden, die zu bestimmten Zeitpunkten und für konkrete Projekte entscheidend gewesen sind. In der Realität vermischten sich natürlich die verschiedenen Intentionen. Versucht man dennoch den Motivwandel in der Straßenbaupolitik im Untersuchungszeitraum zusammenzufassen, so lassen sich folgende Trends konstatieren: 1. Wirtschaftliche Motive gewannen weiterhin gegenüber politischen Beweggründen an Gewicht. Die Wirtschaftsforderung verlagerte sich von einer reinen Handelsförderung zur Handels- und Gewerbeförderung. Während in Preußen beides allgemein blieb, wurden in Braunschweig Straßenbauprojekte auch zur Unterstützung spezieller Unternehmen bzw. Branchen eingesetzt.

200

K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 53. Vgl. auch Kapitel D.I. Beim Bau der Straße von Halberstadt über Zilly nach Schladen (pCh Nr. 84a) spielte auch deren Bedeutung als Poststraße eine Rolle. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 24r. - Im Hztm. Braunschweig war die Magdeburger Straße, also Braunschweig-Helmstedt, immer die wichtigste Ost-West-Verbindung fur den Postverkehr geblieben, obwohl die Strecke Braunschweig-Wolfenbüttel-HalberstadtMagdeburg, vor allem auf preußischer Seite, lange Zeit in besserem Zustand war. Vgl. G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 16. 201

202 U. Westerdiek, Aufbruch in das Industriezeitalter. Die Eisenbahn im 19. Jahrhundert, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 112. 203 K. Herrmann, Personenbeförderung, S. 10. 204 J. Salzwedel, Wege, S. 209.

238

Ε. Ziele und Motive der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik

2. Fiskalische Motive wurden von gemeinnützigen zurückgedrängt, wobei auch dieser Prozeß bereits im 18. Jahrhundert begann. Um diese Entwicklung genauer beurteilen zu können, werden in den folgenden Abschnitten die Relationen zwischen Straßenbau- und -unterhaltungsausgaben sowie Wegegeldeinnahmen und von Ausgaben des Staates, der Kreise, Kommunen sowie Privatunternehmen für Straßenbauten zu betrachten sein. 205 Insbesondere der Rückzug des preußischen Staates aus dem Straßenbau seit 1834 dürfte auch Ausdruck einer erneut fiskalistisch bestimmten Politik gewesen sein, die allerdings nicht mehr auf Einnahmenerhöhung, sondern auf Ausgabenverminderung ausgerichtet war. 3. Es gibt in der Straßenbaupolitik der vierziger Jahre antizyklische und strukturpolitische Ansätze. Dies überrascht nicht, wenn man die Intensität der öffentlichen Diskussion über soziale Probleme, also die Pauperismusdebatte, betrachtet. 206 Eine Inhaltsanalyse der intellektuellen Debatte zeigt jedoch auch, daß hier die kurzfristige Arbeitsbeschaffung eine geringere Rolle spielte als bei den offensichtlich pragmatischer eingestellten preußischen und braunschweigischen Bürokratien. Andererseits ergibt sich aus den Einzelfallstudien der Eindruck, daß der Umfang der zu Arbeitsbeschaffungszwecken eingesetzten Mittel angesichts der Problemdimension gering war. 207

205 206 207

Vgl. Abschnitt I. C. Jantke / D. Hilger (Hrsg.), Die Eigentumslosen. Eine systematischere Betrachtung dazu erfolgt in Kapitel I.II.

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen: Der Bau von Chausseen durch Gebietskörperschaften und Privatunternehmen Das Ausmaß der staatlichen Eigentätigkeit einerseits oder der privatwirtschaftlichen Erstellung sowie des privatwirtschaftlichen Betriebs im Infrastrukturbereich andererseits wird in der Infrastrukturtheorie als „Trägerfrage" bezeichnet. Bei der Gestaltung dieses Verhältnisses handelt es sich um die ordnungspolitische Grundsatzfrage der Infrastrukturpolitik, deren Beantwortung bisweilen etwas verkürzend auf die Entscheidung zwischen Eigentätigkeit und Subvention fokussiert wird. 1 Das politische Einwirken auf privatwirtschaftliche Infrastrukturträger läßt sich jedoch nicht auf die Subventionsfrage reduzieren. Wenn sich der Staat für privatwirtschaftliche Aktivitäten auf diesem Gebiet entscheidet, oder, was der historischen Realität eher entspricht, mit der Existenz privater Infrastrukturträger konfrontiert wird, so ergibt sich für die Politik nämlich nicht nur die Frage der Subvention, sondern auch die Notwendigkeit der Regulierung, weil von Infrastrukturinvestitionen unabhängig von ihrem Träger immer gesamtwirtschaftliche Effekte ausgehen und sich gerade in diesem Bereich schon früh monopolistische Tendenzen zeigten.2 So differierten die volkswirtschaftlichen Folgen des privaten oder staatlichen Eisenbahnbaus mitunter weniger als die Konsequenzen unterschiedlicher Regulierungspraktiken.3 Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen resultiert oftmals auch aus der technischen Beschaffenheit der Objekte. Bei der Eisenbahn beispielsweise mußten Fahrpläne koordiniert werden; Sicherheitsstandards und andere technische Normen waren festzulegen. 4 Schließlich rief die Kapitalintensität von In1

J. Wysocki, Infrastruktur, S. 209. Vgl. auch Kapitel A.III. Auch in der gegenwärtigen Deregulierungsdebatte vertreten die meisten Verfechter einer privaten Beteiligung an Infrastrukturinvestitionen die Auffassung, daß sich der Staat aus der Finanzierung, nicht jedoch aus der Gesetzgebung, der Planung und der Gestaltung der Wettbewerbsbedingungen zurückziehen sollte. S. Klatt, Die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, 35. Jg., 1990, S. 21, konstatiert, „daß eine rein private Finanzierung den Ausnahmefall darstellen dürfte, insbesondere bei der linienförmigen, netzartigen Verkehrsinfrastruktur." Nach wie vor gelten eben die in Kapitel A.III.2 dargelegten spezifischen Infrastruktureigenschaften. - Vgl. auch U. Scheele, Privatisierung, S. 95 ff. 2

3 4

R. Fremdling / G. Knieps, Competition, S. 132. H.St. Seidenfus, Eisenbahnwesen, S. 230 f.

240

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

frastrukturmaßnahmen in einigen konkreten Fällen die Übernahme staatlicher Beteiligungen oder Gewinngarantien hervor. Das Verhältnis zwischen staatlichen und privaten Infrastrukturträgern wird also nicht allein durch wenige Grundsatzentscheidungen geprägt. Außerdem wird das heute erneut intensiv diskutierte Problem der „volkswirtschaftlich optimalen Kompetenzverteilung" bei der Planung, der Finanzierung und dem Betrieb von Infrastrukturen in der Regel für jeden der drei Bereiche unterschiedlich gelöst.5 In diesem Kapitel wird daher zunächst die grundsätzliche Kompetenzverteilung zwischen Staat, Gebietskörperschaften und privaten Unternehmen sowie die direkte Regulierung dieser Verteilung durch den Staat behandelt. Zu beachten ist dabei die Vielfältigkeit der Funktionen von Kreisen und Gemeinden, die einerseits als Gebietskörperschaften jeweils eigenständige Träger von Infrastrukturen, hier der Nichtstaatschausseen, und andererseits untergeordnete Exekutivorgane im Rahmen der staatlichen Administration waren. 6

I. Die Trägerstruktur beeinflussende Faktoren Beim Chausseebau in den deutschen Bundesstaaten haben private Träger in quantitativer Hinsicht nie eine große Bedeutung erlangt. Im vergleichsweise liberalen Preußen existierten im Jahre 1876 bei einem Chausseenetz von 59.024 km nur 2481 km Aktien- und sonstige Privatchausseen, was einem Anteil von 4,2 % entsprach.7 Innerhalb Preußens wies Schlesien den höchsten Anteil mit 1293 von insgesamt 5579 km (23,2 %) auf. Besonders in den vierziger Jahren bauten hier Besitzer von Steinkohlengruben oder sogenannte Steinkohlenbergbauhilfskassen oder eben Aktiengesellschaften Chausseen, da der Staat ihrer Meinung nach den Straßenbau vernachlässigte.8 Die preußische Provinz Sachsen lag mit 354 Aktien- und sonstigen Privatchausseen von insgesamt 4767 km (7,4 %) ebenfalls noch über dem preußischen Durchschnitt. In den anderen deutschen Bundesstaaten spielten privat getragene Straßen entweder eine zu vernachlässigende oder überhaupt keine Rolle.9 Auch die

5 U. Scheele, Privatisierung, S. 94. - Ausführlicher dazu: W. Hamm, Deregulierung im Verkehr als politische Aufgabe, München 1990. 6 Vgl. dazu Abschnitt H. 7 Die Entwicklung des preußischen Chausseenetzes unter der Selbstverwaltung, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 25. Jg., 1905, S. 361. 8 W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 375. 9 Dies gilt beispielsweise für Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau, Baden und Württemberg.

I. Die Trägerstruktur beeinflussende Faktoren

241

Statistik des Herzogtums Braunschweig weist keinerlei Privatchausseen aus. Dies änderte sich auch nicht durch die positive Einschätzung des Privatsstraßensystems durch den braunschweigischen Kreisbaumeister Märiens. Dieser hatte nach einer Inspektionsreise im Jahre 1837 den Einfluß des englischen Privatstraßensystems auf die Qualität der turnpikes positiv eingeschätzt. Während man im Herzogtum Braunschweig die Straßenausgaben vom Zustand des Staatshaushalts abhängig machte, mußten in England „die Directoren einer Compagnie, welche Chausseen übernommen hat, das nöthige Geld schon aus dem Grunde anweisen, weil sonst ihre Straßen schlecht, und da es immer mehrere Straßen von einem Orte zum anderen giebt, nicht befahren wird, die Compagnie also ihr Capital nicht verzinset bekömmt." 10 Analoge Wirkungsmechanismen stimulierten in den sechziger Jahren den Eisenbahnbau in den deutschen industriellen Führungsregionen. 11 Sie kamen im deutschen Straßenbau jedoch nicht zur Wirkung, weil hier der Betrieb von Straßen nie einzelwirtschaftliche Rentabilität aufwies. 12 Der Unterschied in der Trägerstruktur zwischen Eisenbahn und Straße resultiert aber auch aus den unterschiedlichen historischen Entstehungsbedingungen. Landstraßen galten schon seit dem Mittelalter als landesherrlicher Besitz.13 Aus dieser Tradition heraus und entsprechend der das damalige Verwaltungsrecht beherrschenden „Staatsvertragstheorie" waren nichtstaatlicher Bau bzw. Betrieb öffentlicher Straßen, also auch von Chausseen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts konzessionspflichtig. Der Landesherr durfte also , jede Handlung oder Unterlassung, so weit sie nicht gesetzlich verboten war, durch eine Konzession, die an besondere Bedingungen geknüpft sein konnte, erlauben. Diese Staatserlaubnis war insbesondere dort notwendig, wo die Ausübung eines Gewerbes das Gemeinwohl beeinträchtigen konnte." 14 Diese gegenüber den Eisenbahngesellschaften erst durchzusetzende Pflicht bestand also bei den Chausseen von vornherein. Mit der Erteilung einer Konzession wurden dem Unternehmen sowohl bestimmte staatliche Rechte verliehen als auch spezielle Pflichten auferlegt. Der Staat behielt sich Einflußmöglichkeiten auf die Tarifgestaltung vor und legte den allgemeinen Zugang zu den Infrastruktureinrichtungen fest. 15 So durften beispielsweise die Chausseegeldtarife auf den preußischen Privatstraßen den staatlichen Tarif nicht übersteigen.

10 11 12 13 14 15

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 132 ff. Vgl. Kapitel I.IV. Vgl. Kapitel C.IV. und C.V. H. Kunze, Wegeregal, S. 31. Ebenda, S. 260 f.

16 Uwe Müller

242

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Zu den wichtigsten in der Regel allein staatlicher Macht zustehenden Rechten gehörten die Möglichkeit der Bodenenteignung sowie bestimmte polizeiliche Befugnisse. Oft wurden Steuervergünstigungen und Einschränkung der Konkurrenz durch die Vermeidung von Parallelstrecken im Rahmen der Konzessionserteilung geregelt. Im Falle der Straßen gewährte der preußische Staat auch direkte Subventionen. Diese in der Höhe unterschiedlichen Prämien stellten zusammen mit der Erwartung sinkender Transportkosten, insbesondere im Vergleich zu konkurrierenden Regionen, den entscheidenden Anstoß zum Bau von Privat- bzw. Aktienchausseen dar. Die Trägerstruktur wurde also letztlich von mehreren Faktoren beeinflußt. Zunächst bestimmten die Rentabilitätsaussichten des Projekts und die Kapitalausstattung der Privatpersonen das Ausmaß ihres Engagements. Zweitens beeinflußten aber auch rechtliche Rahmenbedingungen die Attraktivität von privaten Investitionen im Infrastrukturbereich. Es existierten drittens direkte Methoden der Einwirkung auf die Trägerstruktur. Diese werden im Mittelpunkt der Ausfuhrungen dieses Abschnitts stehen, zumal die eigentliche Wegegesetzgebung erst im Abschnitt G behandelt wird. Vorausgehen muß eine an Abschnitt D anschließende Analyse der Entwicklung der Anteile der einzelnen Straßenkategorien. Dabei genügen jedoch eine Betrachtung der Aktien- und Privatchausseen sowie ein Vergleich mit dem bereits beschriebenen Staatschausseebau nicht. Die Mehrzahl der neu gebauten Chausseen waren seit der Jahrhundertmitte weder Staats- noch Privat- oder Aktienstraßen, sondern Kreis- oder Gemeindestraßen. Diese durch regionale oder kommunale Körperschaften getragenen Gesellschaften unterlagen in zahlreichen Fragen den gleichen gesetzlichen Vorschriften wie die Privat- oder Aktienstraßen. Ihr Bau war ebenfalls von der generellen Gewährung und der speziellen Höhe von (zentral)staatlichen Prämien abhängig. Außerdem spielten bei der Finanzierung oftmals außerordentliche Beiträge von Privatpersonen eine wichtige Rolle. Die zeitgenössische Literatur faßt daher Kreis-, Gemeinde-, Privat- und Aktienstraßen oft als Nichtstaats- oder auch Prämienchausseen zusammen. Daneben existierten in einigen Provinzen Provinzial- bzw. Bezirksstraßen sowie spezifischen Verkehrsbedürfnissen dienende Bergwerks- und Forststraßen. 16 Es soll nun dem chronologischen Prinzip folgend zunächst auf die Entwicklung der Aktien- und Privatchausseen, dann der Kreis- und Gemeindechausseen in der Provinz Sachsen eingegangen werden. Abschließend werden die von der preußischen Trägerstruktur abweichenden Verhältnisse im Herzogtum Braunschweig betrachtet.

16

Über Provinzial- bzw. Bezirksstraßen verfügten die Rheinprovinz, Westfalen, Posen, Preußen und Pommern.

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

243

I I . Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Sachsen In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde ein Vorschlag des Chefs der Seehandlung Karl August Struensee, privat finanzierten Straßenbau zuzulassen, abgelehnt.17 Erst der wachsende Einfluß liberaler, am englischen Beispiel orientierter Beamter führte zu einer politischen Neuorientierung in dieser Frage. 18 Nach einer KO vom 21. Juli 1809 konnten „Chausseen, Kanäle, Brükken und andere gemeinnützige Anlagen zum öffentlichen Gebrauche gegen Verleihung angemessener Abgaben durch Privatpersonen bewerkstelliget werden." 19 Die hier noch nicht ausdrücklich vorgesehenen Aktiengesellschaften wurden seit den zwanziger Jahren als gleichberechtigter Träger nichtstaatlicher Chausseebauten angesehen. Die Resonanz auf die Verordnung von 1809 blieb jedoch gering, und so forderte der Minister für Handel und Gewerbe Hans von Bülow in einem Reskript vom 3. Mai 1816 noch einmal zum privaten Chausseebau auf. Auch als im Jahre 1822 erstmals staatliche Chausseebauprämien in Aussicht gestellt wurden, konnte noch kein Aufschwung des Aktienchausseebaus erreicht werden. 20 Im Jahre 1824 scheiterten Verhandlungen zwischen dem Handelsministerium und Privatunternehmern über den Fernstraßenbau von mehreren 100 km Länge, so daß das Projekt letztlich von der Königlich Preußischen Seehandlung finanziert und durchgeführt wurde. 21 Die Behauptung aus dem Jahr 1829, „daß allenthalben auch die Privatindustrie und die einzelnen Bezirke dem Staat beim Chausseebau ihre Hülfe anbieten, weil sie wohl sehen, daß da, wo reger Gewerbfleiß, sich bewegt, Kapitalien nicht lohnender als im Chausseebau angelegt werden können," 22 hält einer Gegenüberstellung mit den statistischen Daten nicht stand. Der Anteil der Nichtstaatschausseen und Departementalstraßen am gesamten Chausseenetz lag um 1830 bei 21 %, und nur 3,4 % der preußischen Chausseen wurden im Jahre 1831 von privaten Aktiengesellschaften getragen. 23 Tatsächlich war also nur

17

B. Schulze, Das preußische General-Chausseebau-Departement, S. 195. - Auch in Kursachsen waren Pläne einer privaten Finanzierung von Chauseebauprojekten im Jahre 1792 verworfen worden. Vgl. A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 44 f. 18 F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 81 f. 19 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 178. 20 Vgl. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 41 f. 21 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 112. 22 C.W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und commerciellen Zustandes der preußischen Monarchie, Berlin 1829, S. 245. 23 Für das Jahr 1828 werden Ebenda, 1062 Meilen Chausseen, davon 840 Meilen Staatschausseen und 222 Meilen „Kreis-, Départemental- und auf Actien gebaute Stra-

244

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

„ein verschwindend geringer Anteil ... von privaten Aktiengesellschaften gebaut" worden. 24 Die Ursachen fur die geringe Resonanz der Regierungsaufrufe zum Aktienchausseebau waren vielfältig und lagen sowohl auf der Seite der Verwaltung als auch bei den potentiellen Investoren. Der auch wegen seines Einsatzes für den Chausseebau zu den wichtigsten Wirtschaftsförderern seiner Zeit zählende westfälische Oberpräsident Freiherr Ludwig von Vincke führte den geringen Nichtstaatschausseebau auf folgende Faktoren zurück. 25 Die Regierungen genehmigten private Projekte nur ungern und gewährten daher nur geringe Chausseegeldtarife oder stritten unnachgiebig über die Linienführung der Straßen. Die Unternehmer ihrerseits verfügten nicht über genügend Kapital und wollten daher oft schon vor der Fertigstellung des Projekts Gebühren erheben. Bei den Gemeinden beobachtete von Vincke Bestrebungen, einen Großteil der Straßen verfallen zu lassen, um auf den wenigen gut erhaltenen Straßen die Einnahmen zu erhöhen. Während letzteres für ein Fortdauern traditioneller Denkweisen der noch nicht marktorientierten Landbevölkerung spricht, lassen sich auch bei der Beamtenschaft Vorbehalte gegen eine von ihr nicht gänzlich kontrollierbare Entwicklung des Straßenverkehrssystems erkennen. So wurde der Plan einer Hamburger Firma, eine Chaussee von Hamburg nach Potsdam zu bauen, im Jahre 1829 von den preußischen Behörden abgelehnt.26 Dabei hätte eine Verwirklichung dieses Projekts im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse BrandenburgPreußens gelegen und außerdem allen mittleren und östlichen Provinzen einen Zugang zur Nordsee unter Umgehung Hannovers eröffnet. Gerade weil Preußen zu dieser Zeit seine Straßenbaupolitik auf die Unterstützung der Zollvereinigungspolitik in Mittel- und Westdeutschland konzentrierte, ist die Ablehnung einer privaten Finanzierung dieser wichtigen Linie unverständlich.

ßen ..." angegeben. - Für 1829 werden von Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, Tabellen, 1148 Meilen Chausseen, davon 849 Meilen Staatschaussen, 151 Meilen Kommunalstraßen, 88 Meilen Departementalstraßen am Rhein, 34 Meilen Aktienchausseen und 26 Meilen Stadt- und Kommunalpflaster auf den Staatsstraßen angegeben. - Für 1831 nennt F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 309, 1281 Meilen Kunststraßen, wovon 1004 Meilen Staatschausseen, 156 Kommunal- und Kreischausseen, 78 Meilen Departementstraßen in der Rheinprovinz und 43 Meilen Aktienchausseen waren. 24

W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 118. - Angesichts dieser Proportionen ist es durchaus irreführend, wenn Ebenda, S. 112, von einem „gemischten System der Bauträger" gesprochen wird. Auch fur eine Erleichterung der Gründung von Aktiengesellschaften ab 1830, wie sie H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 32 ff., feststellt, finden sich keinerlei Belege. 25 26

F. Salter, Entwicklung und Bedeutung, S. 82 ff. und 89. P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 52.

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

245

Das Jahr 1834 stellt für die preußische Straßenbaupolitik eine wichtige Zäsur dar. In diesem Jahr übernahm Christian von Rother die Verantwortung für die Straßenbaupolitik. 27 Im Mittelpunkt seiner Bemühungen stand die Minimierung der staatlichen Chausseebaulasten durch deren Verlagerung auf die Gemeinden und Kreise. Diese Neuorientierung resultierte aus dem erfolgreichen Abschluß der Zollpolitik und der Finanzknappheit. Sie kann also auch als später Versuch, den Staat durch die Freisetzung wirtschaftlicher Initiativen zu entlasten, angesehen werden. 28 Rother wollte nur noch die Fernhandelsstraßen durch den Staat bauen lassen und generell die ortsansässige Bevölkerung stärker an den Lasten beteiligen. Gleichzeitig war der Spätmerkantilist Rother jedoch nicht bereit, den politisch wichtigen Straßenbau der seiner Meinung nach schwachen und unzuverlässigen privaten Bauwirtschaft zu überlassen, da er generell „der Ansicht war, daß allein der Staat in der Lage war, infrastrukturelle Maßnahmen effektiv durchzufuhren". 29 Daher zielte sein Reskript vom 8. November 1834 in erster Linie auf die Erhöhung der Beiträge von Kreisen und Gemeinden zu nach wie vor staatlichen Bauten. Die im Reskript formulierten „allgemeinen Bedingungen für Gemeinden und Grundbesitzer beim Chausseebau" bestimmten die vorzugsweise Berücksichtigung „derjenigen Anträge wegen Anlage einer Chaussee, in denen auf eine Entschädigung für die zum Chausseebau verwendeten oder benutzten Grundstücke und andere Rechte verzichtet wurde". 30 Dieses staatliche Konzept zur Kostensenkung war durchaus erfolgreich. 31 Der Nichtstaatschausseebau, vor allem der private Straßenbau, erfuhr allerdings noch keine zusätzliche Förderung. Dementsprechend konnte beispielsweise die Magdeburger Regierungs-

27 Zu Rothers Biographie: W. Radtke, Die Preußische Seehandlung, Berlin 1987, S. 22 ff. 28 R. Koselleck, Preußen, S. 326. 29 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 300. - Im Jahre 1845 schrieb Rother im Hinblick auf die Straßenbauprojekte der Seehandlung Mitte der zwanziger Jahre und nach 1834: „(Die Seehandlung) sicherte dadurch die solide Ausführung eines durch Erleichterung der Kommunikation dem Lande zum wesentlichen Vortheil gereichenden Unternehmens, welches in den Händen der früheren Theilnehmer, welche, wie es sich später zeigte, kein Mittel zu dergleichen Unternehmungen besaßen, wahrscheinlich mißglückt wäre und gewiß zu den größten Unannehmlichkeiten Veranlassung gegeben hätte." Zitiert in: Ebenda, S. 112 f. - Eine den Rotherschen Vorbehalten gegen den „Speculationsgeist der Privatunternehmungen" ähnliche Auffassung findet sich auch bei F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 305: „... und es bildeten sich seit dieser Zeit häufiger Actien-Vereine, welche Kreis-Chausseen ausführten, oft auf keiner anderen Grundlage, als in der vom Staate verstatteten Erhebung des Wegegeldes eine ausreichende Verzinsung und auch allmählige Tilgung der darauf verwandten Capitalien zu erlangen." - Vgl. auch W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 359. 30 31

Über den Chausseebau, 1847, S. 94. Vgl. Kapitel G.V.

246

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

abtheilung des Innern im Jahre 1834 im gesamten Bezirk kein Interesse am Bau von Kreis-, Gemeinde- oder Aktienchausseen feststellen. 32 Gleichzeitig stiegen zwischen 1834 und 1836 die staatlichen Chausseebauausgaben nochmals an.33 Vor allem aus diesem Grunde ging Rother im Jahre 1836 einen Schritt weiter. 34 Er verordnete, den Staatschausseebau auf das unbedingt Notwendige einzuschränken. Aktiengesellschaften sollten den Großteil der Projekte übernehmen. Dahinter konnten Privatpersonen, aber auch Kreise oder Kommunen stehen. Die Regierung ging davon aus, daß auch hier die Rotherschen Bedingungen zur Anwendung kommen. 35 Anlieger sollten also auf Entschädigungen für zum Straßenbau benötigtes Land verzichten, alle Materialien selbst anfahren und eventuell einen Teil des Planums selbst fertigen. Rother meinte, daß durch die daraus resultierende Kostensenkung, die Bewilligung von Staatsprämien von maximal 3000 Thalern pro Meile und die Verleihung des Chausseegelderhebungsrechtes genügend Anreize für den Nichtstaatschausseebau existierten und deshalb die staatlichen Ausgaben in diesem Bereich bald reduziert werden könnten. Der Rückzug des Staates aus der alleinigen Finanzierung des Chausseebaus begann also schon vor dem Eisenbahnbau, wurde allerdings mit dessen Beginn, vor allem des Staatseisenbahnbaus beschleunigt.36 Die Wirkung war jedoch in den einzelnen Teilen der Monarchie sehr unterschiedlich. Nur im Falle der bereits relativ gut mit Chausseen ausgestatteten Provinz Westfalen kann ein Aufschwung des Nichtstaatschausseebaus direkt mit den Bestimmungen von 1834 und 1836 in Verbindung gebracht werden. 37 Vor 1834 hatten nur in der Rheinprovinz Nichtstaatschausseen von nennens-

32

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 65. Über den Chausseebau, 1848, S. 178. Vgl. auch Kapitel I.II. 34 Vgl. KO vom 17.9. 1836. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 65. 35 "Bei schwierigeren Unternehmungen, die entweder kostspieliger in der Anlage waren, oder eine geringere Einnahme an Wegegeld in Aussicht stellten, traten Beiträge der dabei betheiligten Communen in Geld oder Naturallieferungen und unentgeldliche Dienstleistungen mit Menschen und Gespann hinzu, später auch eine Prämie des Staates, wenn der unternommene Strassenbau nach vorausgegangener Prüfung von Seiten der Staatsbehörden einen wesentlichen Zweck des inneren Verkehrs erfüllte." F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 305. 33

36 Einige Autoren sehen die Dezentralisierung der preußischen Straßenbaupolitik fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau. Vgl. z.B. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 69. Sie wurde jedoch zu einem Zeitpunkt initiiert, als es in den deutschen Bundesstaaten noch gar keine Eisenbahnen gab. - Im übrigen weisen Rothers Bemühungen um Entlastung des zentralen Staatshaushaltes bei gleichzeitiger Gewährleistung staatlicher Kontrolle Parallelen zur späteren Kleinbahngesetzgebung (Bayern 1869, Preußen 1892) auf. Vgl. J. Kandier, Die wirtschaftliche Entwicklung von Verkehrsunternehmen (ab ca. 1850 bis zur Gegenwart), in: H. Pohl (Hrsg.), Kommunale Unternehmen. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1987, S. 156. 37 F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 76 ff.

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

247

wertem Umfang existiert. 38 Erst seit den vierziger Jahren wurden sie auch außerhalb der beiden westlichen Provinzen zu einem wichtigen Bestandteil des Straßennetzes. Die aus dieser Zeit stammenden ersten flächendeckenden statistischen Nachweise über die Länge der preußischen Nichtstaatschausseen auf Provinz- und Regierungsbezirksebene widerspiegeln die Fortexistenz eines West-Ost-Gefälles, das zunächst vorrangig auf den regional unterschiedlichen Beginn des nichtstaatlichen Chausseebaus zurückgeführt werden kann. 39 In Schlesien sowie in den Provinzen Sachsen und Preußen waren gerade die ersten privaten Chausseebauprojekte abgeschlossen worden. In Brandenburg und Posen existierten hingegen noch keine Aktienchausseen; in Pommern gab es noch am Ende der vierziger Jahre keine Nichtstaatschausseen.40

80,00 η 70,00 60,00 o

5 0 0 0

ιη Π

• 1846 • 1852 d l 8 6 2 Abbildung 2: Anteile der Nichtstaatschausseen am jeweiligen gesamten Chausseebestand in acht preußischen Provinzen in den Jahren 1846, 1852 und 1862 Quelle: Tabelle A 1.

38

Η. Kunze, Wegeregal, S. 84 f. A u f Provinzebene liegen die ersten Daten für 1845, auf Regierungsbezirksebene für 1848 vor. Vgl. Anlagen A 1 und A 6. - Die Angaben weichen leicht von den bei R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 91, vorzufindenden Zahlen ab. 40 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 311. - Zu den einzelnen Chausseebaugesellschaften: R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 168 ff. 39

248

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Da in den östlichen Provinzen die Fernverbindungen noch nicht chaussiert waren, konnte hier auch die staatliche Bautätigkeit noch nicht nachlassen. So wich König Friedrich Wilhelm IV. 1841 im Abschied des 7. preußischen Provinziallandtages von der allgemeinen straßenbaupolitischen Linie ab und versprach: „Sollten sich dergleichen Vereine für Straßen, deren Chaussierung im allgemeinen Interesse nöthig erachtet werden sollte, nicht bilden, so werden wir, ... wenn die betheiligten Grundbesitzer und Gemeinden die zur Anwendung kommenden allgemeinen Bedingungen wegen der von ihnen zur Beförderung des Chausseebaus zu übernehmenden Leistungen zu erfüllen bereit sind, dergleichen Bauten auf Kosten des Staats ausführen lassen."41 Dieser Bescheid war natürlich nicht geeignet, das Engagement der Kreise, Gemeinden und Unternehmer zu erhöhen. Die Periode zwischen 1831 und 1846 weist dementsprechend auf gesamtpreußischer Ebene die absolut größte staatliche Chausseebautätigkeit der preußischen Geschichte aus.42 Dabei ist natürlich auch zu berücksichtigen, daß nach 1834/36 noch zahlreiche vor diesem Zeitpunkt geplante bzw. begonnene Projekte fertiggestellt wurden. 43 Außerdem ging am Ende der dreißiger Jahre der nichtstaatliche Chausseebau zwischenzeitlich zurück, da sich potentielle Investoren eher an der Gründung von Eisenbahnaktiengesellschaften beteiligten. 44 (Vgl. Abbildung 3 auf S. 249) So wie die Unterschiede zwischen den Chausseenetzdichten der provinzialsächsischen Kreise seit den vierziger Jahren durch die Entwicklung der Nichtstaatschausseen hervorgerufen wurden, 45 verdichtete sich auch in den westlichen Provinzen Preußens das Straßennetz, weil „die Einwohner selbst, namentlich in der Rheinprovinz, aus eigenen Mitteln sehr viel aufgewandt haben, das Netz der Chausseen zu erweitern, zu vervollständigen." In den östlichen Provinzen geschah dies „nur in viel geringerem Maße". 46 Deshalb lag das Tempo des Nichtstaatschausseebaus auf gesamtpreußischer Ebene in den dreißiger und vierziger Jahre nicht über dem allerdings hohen Niveau des Staatschausseebaus. Im Jahre 1848 betrug der Anteil der Nichtstaatschausseen am gesamten Chausseenetz wie schon um 1830 21 %. 4 7 Innerhalb der Nichtstaatschausseen war aber die Bedeutung der Aktien- und Privatstraßen gestiegen. Ihr Anteil am gesamten Chausseenetz stieg von 3,4 % um

41

Zitiert in: L. von Rönne, Wegepolizei, S. 181. Vgl. Tabelle A 4. 43 Vgl. Kapitel D.II. 1. 44 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 312. 45 Vgl. Kapitel D.II.3. 46 C.F.W. Dieterici, Statistische Obersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 595. 47 Berechnet nach Tabelle A 6. 42

249

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen 1830 auf 7 , 8 % i m Jahre

1852. 4 8 In diesem Jahr existierten

143 Nicht-

staatschausseen m i t Chausseegelderhebungsrecht. Davon waren 44 i m Besitz von Aktiengesellschaften. 4 9

2,50 -

2,00-

1,50-

1,00 0,50

0,00 1816-1831

1831-1846

1846-1862

Zeitabschnitt •

Rheinprovinz

M

Westfalen

A

Sachsen

X

Brandenburg

X

Schlesien

Φ

Pommern

—Η—Posen

—Preußen

Abbildung 3: Durchschnittliches jährliches Wachstum der Staatschausseenetzdichte in den preußischen Provinzen 1816-1862 Berechnet nach Tabellen A 2 und A3

Die preußische Provinz Sachsen lag allerdings deutlich unter diesen Durchschnittswerten. 50 In erster L i n i e verhinderte ein regionalspezifisches Problem,

48 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 253. 49 W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 480, Anm. 280. 50 Der Anteil der Nichtstaatschausseen betrug hier 1848 8,5 %. Der Anteil der Aktien- und Privatchausseen 1852 betrüge nach Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 253, 0,9 %. Allein der Regierungs-

250

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

die Existenz relativ vieler fiskalischer Straßen, einen stärkeren Aufschwung des nichtstaatlichen Chausseebaus.51 Aber auch unabhängig davon fehlte es hier, wie auch in anderen Provinzen, noch an staatlicher Unterstützung, sowohl in der Form von Subventionen als auch durch die Festlegung entsprechender Rechtsrahmen. Eine der rasch gewährten materiellen Hilfen bestand darin, daß in der Regel die Regierungsbehörden auch für nichtstaatliche Chausseebauten die technischen Vorarbeiten organisierten und finanzierten. 52 Den entscheidenden materiellen Anreiz stellte jedoch die Höhe der staatlichen Chausseebauprämien dar. Im Jahre 1841 wiederholte Finanzminister Albrecht Graf von Alvensleben die Absicht des Staates, Chausseen nur noch „bei allgemeinem fiskalischem Interesse" zu chaussieren, eröffnete aber gleichzeitig die Möglichkeit, andere Projekte mit bis zu 10.000 Thalern pro Meile aus der Staatskasse zu unterstützen. 53 Eine Analyse der im Untersuchungsgebiet tatsächlich gezahlten Prämien zeigt, daß nur in Ausnahmefällen Subventionen in dieser Höhe gewährt wurden. 54 In der ersten Hälfte der vierziger Jahre betrugen die Prämien in der Regel 3000 Thaler pro Meile. 55 Während jedoch diese Summe vor 1841 eine Höchstgrenze darstellte, bewilligte man seit dieser Zeit immer wieder auch höhere Prämien. 56 1847 wurden in der Provinz Sachsen durchschnittlich 6000 Thaler Prämien pro Meile gewährt, was immerhin ein Viertel der Baukosten deckte.57 Allerdings wirkte sich hier bereits der Einsatz der Prämien als Mittel zur Beschäftigungsförderung aus, der in den Jahren 1847 bis 1849 dazu führte, daß die Zuweisungen in Einzelfällen tatsächlich die von Alvensleben gesetzte Höchstmarke erreichten. 58 Nach der Revolution pegelte sich der Förderungssatz auf 5000 bis bezirk Merseburg verfugte jedoch im Jahre 1849 über 49 km Privatchausseen, was einem Anteil von 3,3 % am gesamten Straßennetz entsprach. Vgl. Anlage 31. Der Wert fur die gesamte Provinz hat aber sicher nicht über dem preußischen Durchschnitt gelegen. 51 Zum Problem der fiskalischen Straßen Abschnitt G. 52 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 187; Ebenda, Nr. 3468, Bl. 177. 53 E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 101. 54 F.W.Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 317, spricht davon, daß in der Regel 10.000 Thaler pro Meile gewährt wurden, was allenfalls für die den Königsberger Schubert zweifellos besonders naheliegenden Ostprovinzen zutreffen mag. 55 Vgl. u.a. Über den Chausseebau, 1847, S. 94; Über den Chausseebau, 1848, S. 180; GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 139; Ebenda, Nr. 3468, Bl. 38. 56 Für den Bau einer durch die Stadt Halberstadt, den Forstfiskus und das Rittergut Röderhof gemeinsam getragenen Chaussee von Halberstadt über den Huy nach Röderhof wurden 6000 Thaler pro Meile Prämie bewilligt. Ebenda, Bl. 32. 57 Ebenda, Bl. 21. Beipielsweise wurde der Bau einer Kreischaussee von Zörbig nach Stumsdorf im Kreis Bitterfeld mit 6000 Thaler pro Meile unterstützt. Ebenda, Bl. 44. 58 Vgl. Kapitel E.IV.

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

251

6000 Reichsthaler pro Meile ein. 59 Die Subventionen lagen damit absolut und auch relativ über den vor 1841 gezahlten Prämien, denn gleichzeitig sanken die Baukosten kontinuierlich. 60 Im Jahre 1853 wurde der Prämienspielraum noch einmal auf 3000 bis 10.000 Thalern pro Meile fixiert. Gleichzeitig nannte das Ministerium erstmals Kriterien zur Festlegung der Prämienhöhe. Diese sollte nach der Wichtigkeit der Projekte für den Verkehr, dem Kostenbedarf, der Leistungsfähigkeit der beteiligten Gegenden sowie einer eventuellen Entlastung des Staatshaushaltes durch die Chaussierung einer fiskalischen Straße bestimmt werden. 61 Die letztgenannte Bestimmung stellte nach jahrelangen Auseinandersetzungen ein Einlenken der Berliner Zentrale gegenüber den Forderungen der örtlichen Behörden dar und war für den Anstieg des Nichtstaatschausseebaus nach 1853, der jetzt fast ausschließlich von Kreisen und Kommunen und nicht mehr durch von Privatpersonen gegründete Aktiengesellschaften getragen wurde, mitverantwortlich. 62 Allerdings war das Ministerium nicht bereit, auf der Grundlage dieser Kriterien konkrete Förderungssätze zu nennen.63 Die Prämien vergäbe sollte eben auf der Ebene der nicht angreifbaren Einzelfallentscheidung verbleiben. Interessant ist auch ein Vergleich mit der Berliner Umgebung, in der 1850 in der Regel nur 1000 Thaler Prämie pro Meile gezahlt wurden. 64 Offensichtlich genügten in den marktnahen Gemeinden des Berliner Umlandes geringere Subventionen zur Freisetzung örtlicher Eigeninitiativen als in der Provinz Sachsen. In Brandenburg sollen ab 1854 aufgrund der guten Konjunkturlage die Staatsprämien sogar fast ganz abgeschafft worden sein.65 Die Entwicklung der Prämien begünstigte also in den vierziger Jahren den Nichtstaatschausseebau. Außerdem wirkte die Politik durch die Weiterentwicklung des Rechtsrahmens. Für den eigentlichen Privat- und Aktienstraßenbau ging es hier vor allem um die Gestaltung des Aktienrechts. Für den Nichtstaatschausseebau insgesamt erwies sich die Entwicklung der Selbstverwaltung der Kreise und Kommunen als langfristig wichtiger. 59

Vgl. zum Beispiel das Angebot für einen Prämienchausseebau von Erfurt über Egstedt und Stadtilm nach Rudolstadt in einem Schreiben an die Königliche Regierung zu Erfurt vom 30.11. 1852. - 1854 wurden 6000 Thaler pro Meile für den Bau einer Gemeindechaussee von Weissensee zur Schilfaer Höhe gewährt. - Der Kreischausseebau von Trotha über Plötz und Löbejün zur Chaussee Nr. 65 im Saalkreis Anfang der sechziger Jahre wurde mit 6000 Thalern pro Meile vom Staat unterstützt. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 121; Ebenda, Nr. 3469, Bl. 81 und 232. 60 Vgl. Kapitel LI. 61 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 57. 62 Vgl. Kapitel F.III, und Abschnitt G. 63 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 57. 64 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 34. 65 E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 112.

252

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Im Rheinland stellte die Gültigkeit des Code de commerce für die Gründung von Aktiengesellschaften insgesamt eine günstige Voraussetzung dar und dürfte auch den nichtstaatlichen Straßenbau gefördert haben.66 In den anderen Landesteilen, in denen die Bestimmungen über „vermögensrechtliche Gesellschaften" des Allgemeinen Landrechts gültig waren, herrschte hingegen eine „höchst unerfreuliche, wirre und widerspruchsvolle Rechtslage."67 Die daraus für die Gründung industrieller Aktiengesellschaften resultierenden praktischen Probleme spielten jedoch bei den Chausseebaugesellschaften nur eine geringe Rolle. Sie konnten in der Regel problemlos ihre Gemeinnützigkeit nachweisen, bedrohten bestehende Gewerbe nicht und bargen in den Augen der Zeitgenossen keine monopolistischen Gefahren. 68 Den für die Rechtssicherheit der Straßenbaugesellschaften wichtigen Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Rechtes kann hier nicht in allen Einzelheiten nachgegangen werden. Die am Beginn des privaten Chausseebaus stehende KO von 1809 enthielt nur die allgemeinen Bestimmungen, daß die „Privatpersonen" den Regierungen einen Plan vorzulegen haben, nach dem diese über „Gemeinnützigkeit und Ausführbarkeit der Anlage" entscheiden. Danach waren „alle Berechtigungen und Verpflichtungen des Unternehmers in einer umfassenden Urkunde" zusammenzufassen und dem Ministerium zur Genehmigung vorzulegen. 69 In den Landtagsabschieden von 1827 und 1838 sowie einer Bekanntmachung des Oberpräsidenten der Provinz Preußen vom 11. Mai 1842 befanden sich schon konkretere Bestimmungen über den Inhalt der Verleihungsurkunden sowie der Gesellschaftsverträge der Bauträger. 70 Die rechtliche Grundlage des Aktienchausseebaus bestand also schon vor 1843 nicht nur aus einzelnen Privilegien, sondern wies bereits einen gewissen Systematisierungsgrad auf 7 1 Aus diesem Grunde stellte auch der Erlaß des ersten preußischen Aktiengesetzes im Jahre 1843 für den Aktienchausseebau keinen wesentlichen Einschnitt dar und war auch nicht für den Aufschwung des Aktienstraßenbaus in den vierziger Jahren verantwortlich. 72 Das Aktiengesetz von 1843 erhöhte die

66 P.C. Martin, Die Entstehung des preußischen Aktiengesetzes von 1843, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 56. Jg., 1969, S. 499 ff. 67 K. Rauch, Die Aktienvereine in der geschichtlichen Entwicklung des Aktienrechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abtheilung, 69. Jg., 1952, S. 271. 68

P.C. Martin, Entstehung des preußischen Aktiengesetzes, S. 514 ff. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 178. 70 Ebenda, S. 181; H. Kunze, Wegeregal, S. 35. 71 W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 479. 72 Die Auswirkung des Aktienrechtes und speziell des Aktiengesetzes von 1843 auf die Entwicklung des Aktienchausseebaus wurde von der Forschung mitunter über69

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

253

Rechtssicherheit für Aktiengesellschaften generell, also auch für die Chausseebaugesellschaften. Das Aktiengesetz veränderte jedoch die juristischen Rahmenbedingungen für den Nichtstaatschausseebau nicht so entscheidend, um eine Gründungswelle hervorrufen zu können. Umgekehrt haben die vorhandenen Erfahrungen mit den Chausseebaugesellschaften sowohl das preußische Eisenbahngesetz von 1838 als auch das Aktiengesetz von 1843 beeinflußt. 73 Die Zeitgenossen begründeten den Fortschritt des Aktienchausseebaus zu Beginn der vierziger Jahre mit der Bewilligung von höheren Prämien und der zunehmenden Verleihung von Chausseegelderhebungsrechten. 74 Die Blüte des Aktienchausseebaus war jedoch in erster Linie struktur- und konjunkturbedingt. Das heißt, sie war Ausdruck einer gesteigerten Nachfrage nach Verkehrsdienstleistungen und kann als einer der Vorboten des ersten industriellen Aufschwungs bezeichnet werden. 75 Zweifellos wäre der Aufschwung noch wesentlich stärker gewesen, wenn nicht der Eisenbahnbau einen beträchtlichen Teil des investitionsbereiten Kapitals gebunden hätte.76 Die Erhöhung der Prämien hat diesen Boom zusätzlich gefördert. Die Konzession ähnelte noch in vielerlei Hinsicht einem Privileg. Die Gesellschaften erhielten im wesentlichen zwei Rechte, die sonst nur dem Staat zukamen und daher als „fiskalische Vorrechte" bezeichnet wurden. 77 Dabei handelte es sich zunächst um das Recht auf Chausseegelderhebung, wobei die Tarifstruktur vom Staat zu genehmigen war und in der Regel den an staatlichen Mautstellen erhobenen Sätzen entsprach. Praktische Auseinandersetzungen gab es dabei oft um den Zeitpunkt der Chausseegeldeinführung, da die Gesellschaften so früh wie möglich Gebühren einnehmen wollten, während die Verwaltungen auf die vorherige Fertigstellung und einen guten technischen Zustand als Voraussetzung für Chausseegelderhebung bestanden. Generell wurden vor der Verleihung des Chausseegeldheberechts der technische Standard und der Zustand einer Straße geprüft. 78 Die Einführung des Chausseegeldheberechts auf nichtstaatlichen Chausseen diente in erster Linie als Anreiz für private Investoren. Der Staat bestand aber auch auf der Erhebung der Nutzungs-

schätzt. Vgl. v.a. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 95 ff.; H. Kunze, Wegeregal, S. 40. 73 Ebenda, S. 35 ff. und 54. 74 Maresch, Über den Zuwachs an Staatschausseen, S. 197. 75 R. Spree, Wachstumszyklen, insbes. S. 322 f. 76 "Die Investitionen, die seit Ende der 1830er Jahre im Eisenbahnbau getätigt wurden, lösten daher vielfach nur die Investitionen in den Straßenbau ab, wenn auch auf qualitativ höherem Niveau." P.C. Martin, Entstehung des preußischen Aktiengesetzes, S. 506, Anm. 23. 77 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 44; E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 103; L. von Rönne, Wegepolizei, S. 198. 78 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 242 ff.

254

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

gebühren, um die Einnahmen auf parallel verlaufenden Staatschausseen nicht zu gefährden. 79 Gleichzeitig wurden außerhalb der Chausseen erhobene Kommunikationsabgaben, wie Wege-, Pflaster-, Brücken- und Fährgelder, gegebenenfalls auf das Niveau der Unterhaltungs- und Wiederherstellungskosten gesenkt. Auf den chausseegeldpflichtigen Straßen schaffte man alle anderen Abgaben gegen Entschädigung ab. 80 Zweitens wurden den Gesellschaften „unter Vorbehalt der Genehmigung in jedem einzelnen Falle" Rechte zur Expropriation der zum Bau erforderlichen Grundstücke sowie zur Entnahme von Chausseebau- und -unterhaltungsmaterialien im gleichen Maße eingeräumt, wie sie der Staat besaß.81 Allerdings gab es namentlich in der Provinz Sachsen große Vorbehalte gegen die Möglichkeit für Gemeinden oder sogar Privatpersonen, Ansprüche auf fremdes Privateigentum erheben zu können. 82 Im Gegenzug schuf sich der Staat neben der Festsetzung der Tarife weitere Regulierungs- und Kontrollmechanismen. Voraussetzung für die Konzessionserteilung war die Vorlage der Statuten. Die Konzessionen wurden nur für 30 Jahre erteilt. Der Staat besaß nach Ablauf dieser Frist ein Vorkaufsrecht. Unabhängig davon stand es dem Staat frei, Jederzeit, sobald er es seinem Interesse angemessen findet, die Chaussee gegen die auf deren Bau erweislich verwendeten Kosten oder nach einer sonstigen Vereinbarung eigenthümlich zu übernehmen." 83 Pläne einer genaueren Fixierung dieser vom Staat an die Eigentümer zu zahlenden Entschädigung sahen zunächst vor, daß der Staat das Anlagekapital unter Berücksichtigung der „landesüblichen Zinsen" sowie einen Zuschlag von drei Prozent zu zahlen hatte.84 Sie scheiterten jedoch, da sie in die ergebnislos verlaufende Diskussion über eine allgemeine Wegeordnung eingebettet waren. 85 Die Berechtigung dieser staatlichen Option stand zwar innerhalb der Beamtenschaft nie zur Debatte. Es gibt aber keinerlei Indizien dafür, daß der Aktienchausseebau eine „von vornherein kaum auf Dauer berechnete Randerscheinung" war. 86

79

Ebenda, Bl. 246; Ebenda, Nr. 3470, Bl. 16. Verordnung vom 16. Juni 1838, die Kommunikationsabgaben betreffend in: Gesetz-Sammlung, 1867, S. 245. Vgl. auch Kapitel I.IV.l. 81 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 139r. - Zur Enteignungsgesetzgebung Kapitel G.V. 82 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil IV, Bl. 53 f. 83 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 180. 84 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil Ia, Bl. 20. - Die gleiche Formulierung findet sich bereits in dem Entwurf von 1836. Ebenda, Teil II, Bl. 8. 85 Vgl. dazu Kapitel G.II. 86 W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 480, Anm. 280. 80

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

255

Ähnlichkeiten zur Eisenbahngesetzgebung weisen auch die Bestimmungen über die Begrenzung der Gewinne auf. 87 In einem Entwurf für eine Wegeordnung von 1841 hieß es sogar, daß „sobald die Kosten des Baues nebst landesüblichen Zinsen und einem Gewinn von Drei Prozent des Anlage-Kapitals durch den Reinertrag der Einnahme gedeckt ist", die Chausseegeldhebeberechtigung erlischt, wenn die Konzession ohne Festlegung einer bestimmten Dauer gewährt wurde. Die Ministerialbürokratie stand generell der Errichtung von Straßen durch Privatpersonen wesentlich skeptischer gegenüber als dem Aktienstraßenbau. Man wollte vor allem eine zu starke Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen von Einzelpersonen verhindern. Dadurch entstand zum Teil ein antiliberaler Koalitionszwang. Gleichzeitig ging es allerdings auch darum, die Linienführung den Interessen einer größeren Gruppe von Nutzern anzupassen und den Gesellschaften eine ausreichende finanzielle Sicherheit zu garantieren. 88 Viele der Einflußmöglichkeiten wurden jedoch in der Realität gar nicht wirksam. Schließlich konnte nur eine kleine Minderheit der Gesellschaften ihre Unterhaltungskosten durch Chausseegeldeinnahmen decken. Verzinsung und Abschreibung des Baukapitals wurden nur von einigen wenigen rheinländischen Unternehmen erwirtschaftet. In der Provinz Sachsen hat es keinerlei Fälle einer Gewinnbegrenzung gegeben. Auch eine generelle Differenzierung der Haltung zu Aktiengesellschaften einerseits und Privatunternehmen andererseits läßt sich hier nicht beobachten. In einigen Fällen kam allerdings die generelle Orientierung gegen Chausseebauten durch einzelne Personen dem allgemeinen Mißtrauen der Beamtenschaft gegenüber privaten Straßenbauprojekten entgegen. Anfang 1849 planten vier Torfgräbenbesitzer einen Chausseebau von Gladau zur Berlin-Magdeburger Straße (pCh Nr. 84) bei Genthin. 89 Sie beantragten die durch die Verordnung vom 10. Oktober 184890 in Aussicht gestellte Prämie von 6000 Thlr. pro Meile mit der Begründung, daß in der Region zahlreiche Ziegeleiarbeiter, Schiffer und Torfgräber arbeitslos seien und daß die Herstellung einer Straßenverbindung zwischen der Stadt Zerbst und dem Genthiner Bahnhof ein Anliegen des allgemeinen Verkehrs darstelle. Ihr eigenes Interesse lag wohl vor allem in dem verbesserten Transport des Torfs als Brennmaterial für die Fabriken in Burg, einem wichtigen Zentrum der Textilindustrie. Der Antrag wurde mit der formal juristisch korrekten Begründung, die Betreiber müßten zunächst eine juristische Person bilden, einen Kostenanschlag sowie ein Unterhaltungskonzept vorlegen,

87 88 89 90

R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 42. H. Kunze, Wegeregal, S. 40. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 89 ff. Vgl. Kapitel E.IV.

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F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

abgelehnt.91 In erster Linie bezweifelte man jedoch die Liquidität der Unternehmer und sah daher keine Garantie ftir eine kontinuierliche Unterhaltung gegeben. Seit Anfang der fünfziger Jahre bevorzugte das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten den Kreis- und Gemeindechausseebau gegenüber dem Privat- und Aktienstraßenbau. Die allgemeine Gewichtsverschiebung innerhalb des Nichtstaatschausseebaus zugunsten der Kreis- und Gemeindechausseen resultierte allerdings nicht allein aus dieser politischen Veränderung. Ihre Dominanz in den Kreistagen ermöglichte schließlich den Rittergutsbesitzern, Projekte durchzusetzen, von denen sie persönlich profitierten, wobei ein Teil der Lasten und mögliche Verluste durch alle Kreiseinwohner zu tragen waren. 92 Es gab zwar auch weiterhin Bestrebungen einzelner Gutsbesitzer, Privatchausseen bei Verleihung der fiskalischen Vorrechte zu bauen. Aber die Regierung lehnte in vielen Fällen die staatliche Förderung und Privilegierung ab, wodurch die Projekte in der Regel unrealisierbar wurden. Häufigster Ablehnungsgrund war die Nichteinhaltung der technischen Standards. Mitunter war man aber auch mit der geplanten Linienführung unzufrieden. So plante im Jahre 1862 der Guts- und Fabrikbesitzer Johann Gottfried Boitze93 aus Salzmünde im Mansfelder Seekreis, auf eigene Kosten eine Chaussee von Nietleben nach Polleben zu bauen.94 Boitze hatte bereits zuvor die 6 km lange Straße von Salzmünde über Köllme nach Bennstedt ausgebaut und dadurch einen wichtigen Teil seiner Besitzungen an die Saale bzw. die HalleKasseler Staatschaussee (pCh Nr. 60) angeschlossen.95 Die Merseburger Regierung befürwortete den Bau, weil die Gemeinden wegen der hohen Verkehrsfrequenz der Kartoffel- und Zuckerrübenfuhren zwischen den Gütern und Fabriken Boitzes die Unterhaltung ihrer Kommunikationswege kaum noch bewerkstelligen konnten. Das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten bemängelte hingegen die Nichteinhaltung der technischen Standards für Chausseen hinsichtlich der geplanten Straßenbreite und der Steigungsverhält-

91

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 91. Hier existieren Analogien zur Entwicklung der Kreisbahnen am Ende des 19. Jahrhunderts. Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 527. 93 Boitze ist in die provinzialsächsische Wirtschaftsgeschichte als Pionier der Industrialisierung eingegangen. Er begann als kleiner Gastwirt und besaß letztlich umfangreichen Boden- und Viehbesitz, mehrere Mühlen, eine Ziegelei, eine Zuckerfabrik und in Bennstedt eine eigene Braunkohlengrube. Vgl. P. Holdefleiß, Johann Gottfried Boitze, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 1, Magdeburg 1926, S. 174 ff. 94 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 208 ff. 95 Vgl. Anlage 31. Möglicherweise spielten auch die Planungen für die Eisenbahn von Halle nach Kassel eine Rolle. 92

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

257

nisse.96 Vor allem kritisierte man die „unnöthigen Umwege" bei der geplanten Linienführung und forderte, daß „solche Richtungslinien gewählt werden, welche auch auf die Dauer für zweckmäßig erachtet werden können." 97 Offensichtlich existierten auch große Vorbehalte gegen den Bau einer 22 km langen Chaussee durch eine Privatperson. 98 Dieser Fall weist auf einen für die Skepsis der Verwaltung gegenüber privat betriebenen Straßen entscheidenden Widerspruch hin. Für die Unternehmer bildete die Beseitigung der unmittelbar aus den insuffizienten Transportverhältnissen resultierenden Zulieferungs- oder Absatzprobleme den entscheidenden Beweggrund. Die Dimension dieser Probleme bestimmte auch das Ausmaß ihres Engagements. Wenn nun ein Unternehmer bereit war, nicht nur Zuschüsse zu zahlen, sondern selbst den Bau einer Straße zu übernehmen, so sprach das eigentlich für die Langfristigkeit seiner Strategie. Aber die zeitliche Dimension der bürokratischen Vorstellungen über den Aufbau eines Chausseenetzes ging noch weit darüber hinaus. Die Beamten waren sich des strukturgestaltenden Moments in ihrer Tätigkeit nicht nur bewußt, sie überschätzten es bisweilen. Daher resultierte ihr prinzipieller Widerstand gegen privat getragene Infrastrukturen auch aus der Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung dieser Projekte. Dies äußerte sich vor allem in der Frage der dauernden Gewährleistung der Unterhaltung. Nach dem Bau einer Privatchaussee von Wollersleben über Schate und Groß-Werther zum etwa vier km westlich von Nordhausen auf der Berlin-Kasseler Chaussee (pCh Nr. 60) gelegenen Klein-Werther durch die Besitzer der Rittergüter Groß Werther und Schate hatte die Regierung Erfurt schlechte Erfahrungen machen müssen.99 Schon bei der Abnahme der Straße „war die Decklage in Folge des Befahrens der Straße fast gar nicht mehr vorhanden." 100 Man verweigerte den Besitzern daraufhin die Zahlung der noch ausstehenden Staatsprämie sowie das Chausseegelderhebungsrecht. Diese wiederum sahen sich außerstande, ohne diese Gelder die Straße zu unterhalten. Die Straße verfiel daraufhin, womit letztlich weder Staat noch Unternehmer zufrieden sein konnten. Konsequenz war die noch größere Zurückhaltung der Erfurter Regierung gegenüber privaten Chausseebauten. Insgesamt war die nicht

96

Vgl. Kapitel G.VI. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 213r. 98 Umgekehrt spricht das Vorhaben für das beachtliche Investitionsvermögen Boitzes. Die betreffende Straße wurde übrigens noch in den sechziger Jahren als Kreischaussee gebaut. 99 Ebenda, Bl. 216 ff., 233 und 240. 100 Ebenda, Bl. 219r 97

17 Uwe Müller

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F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

vorhandene Gewähr einer regelmäßigen Unterhaltung der wirkungsvollste Einwand der Bürokratie gegen private Chausseebauprojekte. 101 Den entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Aktienchausseewesens übte die Verwaltung über die Gewährung der Prämie aus. Dabei ging es nicht nur, wie schon dargestellt wurde, um die Bevorzugung bestimmter Projekte durch eine Differenzierung der Prämienhöhe. Die Inangriffnahme der meisten Projekte hing bereits davon ab, ob der Staat überhaupt eine Prämie gewährte. Außerdem erwies sich der administrative Vorgang der Prämiengewährung für Aktienchausseebauten in vielen Fällen als außerordentlich langwierig und stand damit im Widerspruch zum eigentlich mit der Subventionierung verbundenen Förderungsziel. Das Grundproblem bestand darin, daß die potentiellen Investoren bereits am Beginn der Vorbereitung vom Ministerium ein möglichst konkretes Prämienversprechen erwarteten. Die Bürokratie forderte jedoch von den Interessenten zunächst die Vorlage eines konkreten Projektes mit möglichst exakten technischen Daten und Kostenvoranschlägen. Außerdem wollte man sich über eine eventuelle Prämiengewährung erst äußern, nachdem eine entsprechende Aktiengesellschaft gegründet war bzw. nachdem Kreis- oder Gemeindetage entsprechende Beschlüsse gefaßt hatten. Durch diese Konstellation wurden Entscheidungsfindungen oftmals über mehrere Jahre verzögert. Als im Jahre 1849 der provinzialsächsische Oberpräsident von Bonin diese Blockade aufheben wollte, indem er vorschlug, über die Prämienvergabe bis zu 6000 Thalern selbst entscheiden zu können, lehnte das Ministerium ab. 102 Die Bewertungen über das Tempo des Nichtstaatschausseebaus in den vierziger Jahren fielen überwiegend kritisch aus. Lette, Beamter in der Abtheilung des Innern im Staatsministerium, beklagte im Jahre 1846, „daß in den verflossenen 30 Friedensjahren für den hochwichtigen Gegenstand der Wegebesserung durch die Mitwirkung der Kräfte des Landes und der Provinzen im großen Ganzen nur Ungenügendes geleistet" wurde und führte diesen Mangel darauf zurück, daß „viele dem Grundbesitz zugewendete Kapitalien auf die für die Landesverbesserung unfruchtbaren Güterspekulationen verwendet wurden." 103 Grundbesitzer wollten oft nur dann den Bau einer Straße unterstützen, wenn die eigene Scholle direkt berührt wurde. Außerdem zeigte jahrzehntelange Erfahrung, daß Straßenbauunternehmungen in der Regel unrentabel waren. „Da eine Chaussee keine gewinnbringende Anlage ist, so ist es selbstverständlich, daß sich ein Privatunternehmer zum Straßenbau lediglich entschließt, um seiner eigenen wirtschaftlichen Lage aufzuhelfen, d.h. wenn sein rein privatwirtschaftliches, persönliches Verkehrsbedürfnis den Bau einer solchen Straße fordert." 104 101 102 103 104

J. Salzwedel, Wege, S. 216. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 120r. Ebenda, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil XV, Bl. 1. E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 128.

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

259

Dem standen jedoch auch einige Vorteile gegenüber, die in den vierziger Jahren offensichtlich schwerer ins Gewicht fielen als zuvor und letztlich für den gewachsenen Anteil der Aktien- und Privatchausseen am gesamten Chausseenetz, speziell in der Rheinprovinz, in Westfalen, Brandenburg und Schlesien, verantwortlich waren. Der Straßenanschluß verbesserte den Marktzugang, verringerte die Transportkosten und erhöhte den Bodenwert. 105 Auch die neu entstehenden Eisenbahn-Aktiengesellschaften bauten Straßen, um die Zufahrtsbedingungen ihrer Bahnhöfe zu verbessern. 106 Schließlich wurde der Straßenbau zu dieser Zeit als zivilisationsfördernde Leistung anerkannt. Friedrich Wilhelm Schubert, Statistiker und Historiker aus Königsberg formulierte eine in „gebildeten Kreisen" weit verbreitete Auffassung: „Es liegt daher in dem gemeinschaftlichen Vortheil der von grossen Verkehrsstraßen entfernter liegenden Städte und Grundbesitzer, sich durch eigene Anstrengung einmündende Verbindungsstraßen in jene Hauptwege des inneren Verkehrs zu erwerben. Denn die darauf verwandten Geldausgaben werden nicht durch das Wegegeld, sondern reichlich durch die gewonnenen Vortheile in dem höheren Werthe der Grundbesitzungen, Producte, Fabrikate usw. ersetzt. Es bezeugt also eine höhere Entwickelungsstufe der intellectuellen, wie der physischen und technischen Cultur, wenn durch die gemeinschaftlichen Anstrengungen der Staatsangehörigen in allen Provinzen soviel als möglich Verbindungsstraßen mit den Hauptstrassen des Staates erbaut werden." 107 In den fünfziger Jahren übertraf das Tempo des preußischen und auch speziell des provinzialsächsischen Nichtstaatschausseebaus den Zuwachs im Staatschausseenetz um ein Mehrfaches. 108 Der Anteil der Nichtstaatschausseen an den jeweiligen Chausseenetzen war im Jahre 1859 auf 47,9 % in Preußen und 39,1 % in der Provinz Sachsen gestiegen. Er betrug 1862 49,2 % in Preußen und 45,4% in der Provinz Sachsen sowie 1870 59% bzw. 50 %. 1 0 9 Der entscheidende Wandel im Verhältnis zwischen Staats- und Nichtstaatschausseebau fand also in den fünfziger Jahren statt. Dabei stagnierte jedoch der Anteil der Aktien- und Privatchausseen auf preußischer Ebene, während er in der Provinz Sachsen anstieg, aber immer noch unter dem preußischen Durchschnitt lag. 110

105

H. Kunze, Wegeregal, S. 40. E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 106. 107 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 318. 108 Vgl. Kapitel D.II.2. 109 Berechnet nach: von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214 und Tabelle A 6. 110 Er betrug 1862 innerhalb der gesamten Monarchie 7,4 % und auf provinzialsächsischer Ebene 5,2 %. Berechnet nach: von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214. 106

260

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Von den im Jahre 1862 für die Provinz Sachsen ausgewiesenen 176,2 km Aktien- und Privatchausseen gehörten zudem über die Hälfte den Grafen von Stolberg-Wernigerode bzw. Stolberg-Stolberg. Diese waren ebenso wie der Graf von Stolberg-Roßla auf Grund des Artikels 23 der Wiener Kongreßakte als Mediatisierte anerkannt worden. 111 Das Gebiet des Grafen von StolbergWernigerode wurde durch einen Rezeß vom 17. September 1822 ab 1824 aus dem Kreis Osterwieck ausgegliedert und als Kreis Wernigerode mit weitgehenden Selbstverwaltungsrechten deklariert. Zu diesen Kompetenzen gehörte auch der Chausseebau, so daß alle im Kreis bestehenden Chausseen in der Statistik als Privatstraßen geführt werden, von ihrer Funktion her jedoch eher Staatsoder Kreischausseen entsprachen. Der Einfluß des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten auf die Gestaltung des Straßennetzes im Kreis Wernigerode war geringer als bei normalen Privat- oder Aktienchausseen. Mit den Grafen verhandelte man zwar gelegentlich über eventuelle Staatsprämien oder Modalitäten der Chausseegelderhebung, jedoch nie über die Linienführung von Neubauten oder gar Fragen der finanziellen Liquidität. Die Gesamtlänge dieser Chausseen betrug im Jahre 1862 69,3 km. 1 1 2 Im Rezeß von 1822 wurde auch die Zugehörigkeit der Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla zum Kreis Sangerhausen bestimmt. Die laut Statistik in diesem Kreis vorhandenen Privatstraßen mit einer Gesamtlänge von 37,7 km waren zum überwiegenden Teil gräfliche Chausseen.113 Nach der Statistik von 1862 existierten neben den Stolbergischen Chausseen 69,2 km Aktien- und Privatchausseen, die sich auf 6 Kreise verteilten. Im Mansfelder Gebirgskreis befanden sich die sogenannten Gräflich von der Asseburgschen Chausseen, die seit 1856 Meisdorf mit Harzgerode, Ermsleben und Ballenstedt verbanden. 114 Während die Gesamtlänge dieser Straßen nicht ganz die in der Statistik angegebene Länge von 28,6 km erreichte, besaß der Kreis Aschersleben mehr als die dort ausgewiesenen 6 km Aktien- und Privatchaus-

111 Zur Stellung der mediatisierten Fürsten auf dem Gebiet der preußischen Provinz Sachsen: R. Dietrich, Eingliederung, S. 284 f. 112 von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 210. Vgl. Anlagen 20 und 30. 113 Genauere Angaben konnte der Verfasser einer zeitgenössischen Kreisbeschreibung nicht machen, denn „über die Kosten der Unterhaltung, Erträge der Chausseegelderhebung, Zuschüsse des Staats bei der Erbauung etc. verweigert die Gräflich Stolbergische Rentkammer für die Gräflich Stolbergschen Chausseen die Auskunft." Vgl. Statistische Darstellung der Grafschaft Stolberg-Stolberg, o.O. o.J., handschriftlich. - Im Jahre 1849 existierten nachweislich im Kreis Sangerhausen zwei Privatchausseen des Grafen zu Stolberg-Roßla mit einer Gesamtlänge von 12,2 km sowie eine Privatchaussee des Grafen von Stolberg-Stolberg mit einer Länge von 20 km. Vgl. Anlage 31. 114 Ihre Gesamtlänge wird mit 4120 Ruthen angegeben, was 15,6 km entspricht. Vgl. Statistische Beschreibung des Mansfelder Gebirgskreises pro 1864, o.O. o.J. (handschriftlich).

II. Die Entwicklung des Aktienchausseewesens in Preußen

261

seen. Um 1861 existierten innerhalb des Kreises drei Aktienchausseen mit einer Gesamtlänge von 6,7 km. 1 1 5 Hinzuzurechnen wäre noch der im Kreis Aschersleben gelegene Anteil der insgesamt 13,5 km langen Aktienchaussee von Quedlinburg nach Halberstadt. 116 Der größere Teil dieser Straße schlägt jedoch beim Kreis Halberstadt zu Buche. Leider lassen weder die Kreisbeschreibungen noch die in den Akten 1 1 7 enthaltenen Listen der 1855 bzw. 1864 vorhandenen Nichtstaatschausseen Rückschlüsse auf die sich hinter den Angaben für die Kreise Gardelegen, Mansfelder Seekreis und Zeitz verbergenden Straßen zu. Die Abweichungen zwischen den Angaben in der offiziellen Statistik von 1862 und den einzelnen Kreisbeschreibungen sind nicht so gravierend, daß sie das Gesamtbild über den Privat- und Aktienchausseebau in der Provinz Sachsen verfälschen würden. Es ist allerdings zu beachten, daß die Statistik nur eine Momentaufnahme für 1862 darstellt. Es sind in der Tat vor 1862 mehr als nur 176 km Privat- und Aktienchausseen gebaut worden. So enthält eine nach Gesetzen, Verordnungen, zeitgenössischer Literatur sowie den Amtsblättern vorgenommene Aufstellung der Chausseebau-Aktiengesellschaften 118 vier in der Zeit vor 1862 in der Provinz Sachsen gebaute Aktienstraßen, von denen jedoch drei in diesem Jahr nicht mehr von den Gesellschaften betrieben wurden. Dabei handelte es sich um die 1841/42 gebaute Straße von Gernrode über Quedlinburg, Wedderstedt und Hedersleben nach Kroppenstädt auf der MagdeburgHalberstädter Straße (pCh Nr. 84) 119 , die 1850 bis 1853 gebaute Straße von Oschersleben über Hornhausen nach Ottleben 120 und die gleichzeitig entstandene Straße vom Rittergut Neindorf über Groß Oschersleben bis zur Grenze nach Anhalt-Dessau und von Groß Alsleben zur Magdeburg-Halberstädter Straße

115

Es handelte sich um die Gatersleben-Quedlinburger Chaussee, „die von dem Amtsrath und Rittergutsbesitzer Eggeling vertragsmäßig ... erbauet" wurde, mit einer Gesamtlänge von 870 Ruthen, um eine Chaussee „von der Landesgrenze gegen AnhaltBernburg bei Hoym bis zur Braunkohlengrube 'Concordia' bei Nachterstedt, 390 Ruthen lang," und eine von einem Grubenbesitzer erbaute Chaussee von Aschersleben nach Wilsleben mit einer Länge von 500 Ruthen. Vgl. Statistische Darstellung des Kreises Aschersleben. 116 Ebenda. - Diese Straße führte über Harsleben und wurde 1843 von der Halberstädter-Quedlinburger Chaussee-Actiengesellschaft gebaut. Entsprechende Planungen bestanden bereits 1837. 1842 wurden die staatlichen Zuschüsse genehmigt. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 81r und 118r. - Auch R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 179, gibt die Straßenlänge mit etwa 13,5 km an. 1,7 Anlagen 30 und 31. 118 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 10 f. und 179. 119 Der provinzialsächsiche Oberpräsident berichtete bereits 1837 über die Pläne, eine Aktienchaussee von Quedlinburg nach Egeln zu bauen. Bauträger der etwa 28 km langen Straße war die Quedlinburger Chausseebau-Gesellschaft. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 81r. 120 Träger der 8 km langen Straße war die Oschersleben-Hornhäuser ChausseebauGesellschaft.

262

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

(pCh Nr. 84) bei Groningen. 121 Während die Quedlinburger ChausseebauGesellschaft bereits 1847 aufgelöst wurde, wurden die anderen beiden Straßen im Jahre 1858 von Kreisen bzw. Kommunen übernommen. Eine solche Übernahme stellte in den fünfziger Jahren keinen Einzelfall dar. Der Kreis Oschersleben beispielsweise plante zur Gewährleistung einer regelmäßigen Straßenunterhaltung und zur Erhöhung seines allgemeinen verkehrspolitischen Einflusses schon 1853 die Übernahme der Aktien- und vieler Gemeindechausseen.122 Tatsächlich übernahm er zwischen 1855 und 1862 neben der Straße von der Kreisstadt nach Hötensleben auch einen Teil der ursprünglich als Aktienchaussee gebauten Straße von Halberstadt nach Schwanebeck.123 Allein die bereits erwähnte Straße von Halberstadt nach Quedlinburg wurde noch 1862 von der Halberstädter-Quedlinburger Chaussee-Actiengesellschaft unterhalten. In diesem Jahre existierten aber eben neben den von Gador berücksichtigten Aktienchausseen die bereits erwähnten Privat- und Bergwerkschausseen in den Kreisen Mansfelder Gebirgskreis, Aschersleben und Halberstadt sowie weitere Privatchausseen in den Kreisen Gardelegen, Mansfelder Seekreis und Zeitz. Die Merseburger Regierung meldete 1845, daß nun auch in ihrem Bezirk die Rotherschen Bedingungen vom 8. November 1834 die „bisher ganz zurückgetretene Neigung zur Anlage von Privat- und Actienchausseen erweckt" haben. 124 Die einzige Aktienstraße im Merseburger Bezirk wurde jedoch die erst 1863 von der Frankfurt a.d.O.-Leipziger Chaussee-Baugesellschaft gebaute Straße von Eilenburg über Torgau, Herzberg, Schlieben und Luckau nach Frankfurt (Oder). 125 Diese Straße war allerdings durch ihre Linienführung und die große Länge eine der wichtigsten Aktienchausseen in Preußen. Daneben existierten jedoch sowohl 1849 als auch 1855 und 1862 verschiedene Privatchausseen, die zum Teil auch als Bergwerkschausseen bezeichnet wurden. 126 Einem ausgedehnteren Nichtstaatschausseebau im Regierungsbezirk Merseburg stand lange Zeit vor allem das Problem der fiskalischen Straßen entgegen. 127 Seit Mitte der fünfziger Jahre spielte es durch die bereits erwähnte Begünstigung der Chaussierung dieser Straßen bei der Prämien vergäbe eine geringere Rolle. Vorrangig aus diesem Grunde entstanden in der Provinz Sachsen noch in den sechziger Jahren relativ viele Privat- und Aktienchausseen, so daß

121 Die Straße war 11 km lang und wurde von der Gröningen-OscherslebenNeindorfer Chausseebaugesellschaft gebaut. 122 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 69. 123 Vgl. Anlage 30. 124 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 186r. 125 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 179. 126 Vgl. Anlagen 20, 30 und 31. 127 Vgl. Kapitel G.I.

I . Der

eichausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

263

deren Anteil 1876 sogar deutlich über dem preußischen Durchschnitt lag. 128 Diese Tatsache überrascht angesichts der stark von der Landwirtschaft geprägten provinzialsächsischen Industrialisierung nicht. Allerdings spielte bei den verkehrspolitischen Aktivitäten der Großgrund-, Zuckerfabrik- und Brennereibesitzer die Unterstützung des Kreis- und Gemeindechausseebaus eine größere Rolle als die Beteiligung an Chausseebauaktiengesellschaften oder die Errichtung von Privatchausseen.

I I I . Der Kreischausseebau in der preußischen Provinz Sachsen Aus der Perspektive der Verkehrswissenschaft erscheint der Übergang vom Staats- zum Kreis- und Gemeindechausseebau nur folgerichtig. Schließlich handelte es sich dabei vorrangig um Straßen zweiter Ordnung, die nur für lokale Verkehrsströme von Bedeutung waren. Außerdem übernahm die Eisenbahn seit den vierziger Jahren ohnehin beinahe den kompletten Landfernverkehr. 129 Eine verwaltungs- und finanzhistorisch bestimmte Sicht offenbart jedoch die großen Probleme, die die ersten Jahre des preußischen Kreischausseebaus prägten. In der Hochzeit der preußischen Reformen wurde am 13. Oktober 1808 durch von Schroetter auch der Entwurf einer Kreisordnung vorgelegt. 130 Dieser sah für das Armen-, Schul- und Wegewesen eine umfassende Mitwirkung der Kreisdeputierten vor. Die Kreisordnung wurde jedoch, vor allem aufgrund adligen Widerstands, nicht in Kraft gesetzt. Mit der Ablehnung des von einer Staatsratskommission erarbeiteten Kreisordnungsentwurfs im Jahre 1820 endeten die Reformbemühungen auf diesem Gebiet mit einer vollständigen Niederlage. Eine Wirksamkeit erlangende gesamtpreußische Kreisordnung sollte erst über 50 Jahre später Zustandekommen.131

128

Gleichzeitig dominierte in anderen Teilen Preußens bereits der Trend, Aktienchausseen durch die Kreise zu übernehmen. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 50. - Die letzten Aktienchausseen wurden allerdings erst in der Zeit der Weimarer Republik an Gebietskörperschaften übergeben. W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 480, Anm. 280. 129 Vgl. Kapitel D.II.2. 130 G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 419 ff. Die Initiative ging damals vom Freiherrn vom Stein aus. Wesentliche Teile des Entwurfs hatte ein ehemaliger Magdeburger Beamter, Geheimrat Heinrich Albert Wilckens, der 1792 bis 1802 als Referendar in der Magdeburgischen Kriegs- und Domänenkammer tätig war, ausgearbeitet bzw. redigiert.

264

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Das Gesetz über die Anordnung der Provinzialstände von 1823 ermöglichte jedoch den Provinzen auch die eigene Beschlußfassung über ihre Kommunalangelegenheiten.132 Daraufhin erließ die preußische Provinz Sachsen am 17. Mai 1827 eine Kreisordnung. 133 Diese sah lediglich vor, daß die Kreisversammlungen Gutachten zu bestimmten Vorhaben abgeben durften. Vorschriften zum Wege- oder Chausseebau enthielt sie nicht. Die provinzialsächsische Kreisordnung stellte also keinen wesentlichen Fortschritt dar, denn schon eine KO von 1816 hatte den im altpreußischen Gebiet teilweise existierenden Kreisständen in Straßenbaufragen ein Vorschlagsrecht zugebilligt. 134 Die Kreistage waren also ursprünglich nicht als Regionalparlamente konzipiert, sondern sollten lediglich die Arbeit der Landräte unterstützen. 135 Sie repräsentierten im übrigen die Kreisbewohner in noch geringerem Maße als die Provinzialstände. In den Kreisversammlungen waren neben den gewählten Vertretern der Städte und Gemeinden alle Rittergutsbesitzer vertreten, so daß vor allem in gutsherrschaftlich geprägten Gebieten der ländliche Großgrundbesitz dominierte. 136 Mit dem Regulativ vom 20. Juni 1838 erging die Bestimmung, daß die Kreise jährliche Etats aufzustellen hatten, die von den Regierungen zu genehmigen waren. 137 Die wichtigste juristische Voraussetzung für den Kreischausseebau stellte in der Provinz Sachsen jedoch erst die Verordnung wegen der Befugnis der Kreisstände vom 23. März 1841 dar. 138 Sie verwies auf die Möglichkeit des Kreischausseebaus und legte gleichzeitig die Befugnis zur Besteuerung der Kreiseingesessenen fest. 139 Die Kreise

131

G.Chr. von Unruh, Der Kreis im 19. Jahrhundert zwischen Staat und Gesellschaft, in: H. Croon / W. Hofmann / G.Chr. von Unruh, Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1971, S. 97. 132 Ders., Die Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 456. 133 GS, 1827, S. 54. 134 R. Koselleck, Preußen, S. 454. 135 K.G.A. Jeserich, Die preußischen Provinzen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform, Berlin 1931, S. 30. 136 Vgl. H. Heffter, Selbstverwaltung, S. 131; R. Koselleck, Preußen, S. 448 und 464. - Allerdings erwiesen sich die Kreisvertretungen langfristig doch als Vorbereitung der Selbstverwaltung. Vgl. G.Chr. von Unruh, Der Kreis. Ursprung und Ordnung einer kommunalen Körperschaft, Köln-Berlin 1964, S. 105 ff., bes. S. 114. 137 Ebenda, S. 107. 138 GS, 1841, S. 60. Ähnlich Gesetze wurden zwischen 1841 und 1845 in allen preußischen Provinzen eingeführt. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 34. 13lJ GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 59; G.Chr. von Unruh, Der Kreis. Ursprung und Ordnung, S. 108.

I . Der

eichausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

265

konnten nun zur Finanzierung gemeinnütziger Einrichtungen und zur Behebung eines Notstandes eigene Steuern erheben und Darlehen aufnehmen, wenn es sich um für den gesamten Kreis relevante Projekte handelte.140 Die Steuererhebung erfolgte durch Zuschläge zu allen oder einzelnen Staatssteuern, wodurch eine gewisse verteilungspolitische Flexibilität gegeben war. 141 Die Kreise nutzten in der Folgezeit das Gesetz zur Durchfuhrung bzw. Unterstützung von Meliorationen, Gemeinheitsteilungen, Wasserbauten sowie zur Landarmenversorgung. Der größte Teil der Mittel wurde allerdings für den Straßenbau verwendet, den man zu den „klassischen Aufgaben eines Kreises rechnete". 142 In den Jahren 1848 und 1849 lähmte nicht nur die allgemeine politische Instabilität, sondern auch die Erwartung einer neuen Kreisordnung den Kreischausseebau.143 Die für ganz Preußen geltende Kreis-, Bezirks- und Provinzialordnung vom 11. März 1850 enthielt jedoch keine wesentlichen Veränderungen für den Kreischausseebau. Ohnehin wurde sie am 24. Mai 1853 außer Kraft gesetzt, so daß die alten provinziellen Kreisordnungen ihre Gültigkeit wiedererlangten.144 Die juristischen Rahmenbedingungen für den Kreis- und Gemeindechausseebau entsprachen weitestgehend den Bestimmungen für den Aktienchausseebau. Die Kreise mußten sich verpflichten, technische Vorschriften einzuhalten und die einmal gebauten Straßen auch zu unterhalten. Sie erhielten das Chausseegelderhebungsrecht nach dem Tarif von 29. Februar 1840 und das Expropriationsrecht. Ähnlich wie bei Aktienchausseen sicherte sich der Staat eine Rückkaufsoption. Nach 50 Jahren stand ihm „die Befugnis zu, diese Chausseen gegen Erstattung der ... Baukosten unter Abrechnung der gezahlten Prämien zur Unterhaltung zu übernehmen, für welchen Fall dann die Chausseegelderhebung durch die Kreisstände aufhört. Dagegen kann der Staat keine Verpflichtung übernehmen, den Kreisständen vor oder nach Ablauf jener Frist die Un-

140 H.-J. Tapolski, Die Entwicklung des Landkreises, in: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft, 2. Jg. 1935, 2. Halbband, S. 66. - In allen Wegeordnungsentwürfen der Folgezeit wurde auf die „für jede Provinz besonders erlassenen Gesetze über die Befugnis der Kreisstände, Ausgaben zu beschließen und die Kreis-Eingesessenen dadurch zu verpflichten," hingewiesen. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil XIII, Bl. 30. 141 G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 466. - In einem Reskript vom 13.6. 1841 wies der Minister des Innern ausdrücklich daraufhin, daß „es weder erforderlich noch zweckmäßig sei", die Kreissteuern „alle ohne Unterschied nach einem und demselben Maßstabe aufzubringen." Zitiert in: Ders., Der Kreis. Ursprung und Ordnung, S. 108. Ausführlicher dazu Kapitel I.III. 142

Ebenda, S. 110 f.; Ders., Der Kreis im 19. Jahrhundert, S. 97. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 184. 144 G.Chr. von Unruh, Der Kreis. Ursprung und Ordnung, S. 119 f.; R. Koselleck, Preußen, S. 485 f. 143

266

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

terhaltung abzunehmen."145 Allerdings achtete der Staat bei den Kreischausseen in stärkerem Maße darauf, daß noch vor Baubeginn die Fortsetzung im Nachbarkreis oder im Ausland gesichert war. Die Oberbau-Deputationen der Regierungsbezirke hatten die Kostenvoranschläge zu genehmigen. Überhaupt nahm die jeweilige Regierung die technische Oberaufsicht über den Bau wahr und führte nach der Fertigstellung auch eine Kostenrevision durch. 146 Im Jahre 1857 wiesen die Haushalte der 329 preußischen Kreise eine Gesamteinnahme von nur 2,5 Mill. Talern auf, obwohl zwischen 1841 und 1846 in allen Provinzen die Möglichkeit der Kreisabgabenerhebung geschaffen worden war. 147 Gegen deren Nutzung existierten offenbar schon innerhalb der Kreistage selbst starke Vorbehalte. Für die ablehnenden Haltungen waren meist weniger Einwände gegen die konkreten Infrastrukturmaßnahmen als vielmehr die Scheu vor einer Steigerung der Abgabenlast, aber auch die prinzipielle Opposition bürgerlicher und bäuerlicher Vertreter gegen das Recht auf Ausgabenbeschließung durch von der Ritterschaft dominierte Institutionen verantwortlich. 148 Da nämlich die Beschlüsse zunächst mit Dreiviertel-, später Zweidrittelmehrheit gefaßt werden mußten, genügten oft wenige Gegenstimmen, um ein Projekt zu Fall zu bringen. 149 Ein weiterer Grund für den geringen Umfang der Kreiseinnahmen lag darin begründet, daß viele Regierungsbeamte das Recht von parlamentsähnlichen Kreisversammlungen, Ausgaben zu beschließen, ablehnten. Schon das Gesetz von 1841 beschränkte die entsprechende Befugnis der Kreisstände auf für den gesamten Kreis gemeinnützige Anlagen und die Beseitigung akuter Notstände. 150 Zusätzlich existierten genaue Regelungen über die Genehmigungspflicht der von den Kreistagen beschlossenen Projekte durch Verwaltungsbehörden. Le145

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 139 f. Ebenda. 147 H.-J. Tapolski, Entwicklung des Landkreises, S. 66. Vgl. auch J. Bolenz, Wachstum, S. 72 ff. 148 R. Koselleck, Preußen, S. 430 und 466. 149 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 158; Ebenda, Nr. 3469, Bl. 230. 150 Es handelt sich hier um einen Gedanken, der bereits in den Entwürfen über eine „landständische Verfassung von Preußen" während der Reformzeit enthalten war. Eine Kommission unter der Leitung von Friese, die weitgehend Hardenbergschen Intentionen folgte, erarbeitete 1820 einen Gesetzentwurf, in dem es unter anderem hieß: „Die Kreisstände dürfen nur über Gegenstände beraten, welche ein gemeinsames Interesse für den ganzen Kreis haben." Zitiert in: G.Chr. von Unruh, Der Kreis. Ursprung und Ordnung, S. 100 f. - Wahrscheinlich spielte hier auch das Mißtrauen der Beamten gegenüber den kreisständischen Vertretern eine Rolle, denen man nicht zutraute, Beschlüsse mit Rücksicht auf das „Allgemeinwohl" zu treffen. R. Koselleck, Preußen, S. 382, hat darauf hingewiesen, daß die Beamtenschaft in den Kreisständen „nicht viel mehr als Organe zur Landratswahl" sah. 146

I . Der

eichausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

267

diglich aus Revenüen des Kreis-Kommunal-Fonds finanzierte Projekte benötigten keine Genehmigung. Die Zustimmung der jeweiligen Regierung war grundsätzlich notwendig, wenn zur Realisierung des Projekts spezielle Leistungen der Kreiseingesessenen, beispielsweise in Form der erwähnten Kreisabgaben, gefordert wurden. Falls nur ein Teil des Kreises, was eigentlich gesetzlich ausgeschlossen war, oder nur ein Stand des Kreises von einem geplanten Projekt profitierte, war sogar die „allerhöchste" Genehmigung einzuholen.151 Im Jahre 1848 bekräftigte das Staatsministerium diese Vorschrift, die es als Schutzmechanismus vor Partikularinteressen verstanden wissen wollte. 152 Eine „allerhöchste" Genehmigung benötigten darüberhinaus Projekte, die mehr als zwei Jahre dauerten. Dieser Umstand führte in der Praxis dazu, daß die Kreise nur über kleinere Projekte beschlossen, was die Kontinuität verschiedener Infrastrukturinvestitionen gefährdete. In diesem Sinne äußerte sich jedenfalls 1848 eine Minderheit im Staatsministerium. 153 Schon 1841 waren innerhalb des Staatsministerium Bedenken gegen die rigide Genehmigungspflicht aufgekommen, da diese den örtlichen „Unternehmungsgeist" bremse. 154 Im Gegensatz dazu zielte ein Wegeordnungsentwurf von 1845 darauf, die eigenmächtige Mittelverwendung von Kreisversammlungen zum Zwecke des Wegebaus völlig abzuschaffen. 155 Wenngleich also einige Landräte und Regierungsbeamte durchaus versuchten, die Kreistage zur Beschlußfassung über Kreischausseebauten zu bewegen, kann in den vierziger Jahren von einer geschlossenen und starken Förderung des Kreischausseebaus durch die Bürokratie nicht gesprochen werden. 156 Für den nur stockenden Beginn des Kreischausseebaus dürfte allerdings die Trägheit der Kreistage selbst ausschlaggebend gewesen sein, denn zur gleichen Zeit erlebte der ebenfalls auf staatliche Konzessionen angewiesene Privat- und Aktienchausseebau seinen Höhepunkt. Die Intensität des Straßenbaus hing letztlich wie die gesamte Wirtschaftspolitik der Kreise weniger von der Kreisverfassung als vielmehr vom Engagement des Landrats im Zusammenwirken mit den Kreisständen ab. 157 Das wichtigste Indiz für die Anfangsprobleme des Kreischausseebaus in der Provinz Sachsen und wahrscheinlich auch darüber hinaus stellen die zahlreichen nicht realisierten Kreischausseebauprojekte dar. Vergleicht man die sich 151 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 80 f.; R. Koselleck, Preußen, S. 469. 152 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 81 f. 153 Vgl. Ebenda. 154 Ebenda, Nr. 393, Teil I, Bl. 11 f. 155 Ebenda, Teil XIII, Bl. 9 und 17. 156 Das korrespondiert mit der zunehmenden Passivität der Beamtenschaft in den vierziger Jahren, die ja gerade im Vormärz in diametralem Gegensatz zum Handlungsbedarf stand. 157 R. Koselleck, Preußen, S. 470.

268

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

in den Akten des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten widerspiegelnden zahlreichen Vorhaben mit der Liste der 1855 vorhandenen Nichtstaatschausseen, so fällt auf, daß ein Großteil der Projekte nicht oder nicht als Kreischaussee realisiert wurde. Im gesamten Regierungsbezirk Magdeburg existierte im November 1853 erst eine Kreischaussee, nämlich QuedlinburgNeinstedt-Thale im Kreis Aschersleben. Erst in diesem Jahr, nahm der Kreischausseebau einen Aufschwung, so daß zwischen 1853 und 1855 immerhin drei weitere Kreischausseen dazu kamen. 158 Eine Betrachtung der Entwicklung in einzelnen Kreisen zeigt, daß neben der passiven, blockierenden oder bevormundenden Haltung einiger Beamter und Kreistagsabgeordneter „gewöhnliche" Anfangsschwierigkeiten entscheidend für die Verzögerung oder Verhinderung von Projekten waren. So wurde oftmals die Auswahl der zu chaussierenden Linien mehrfach geändert. Jeder Kreis bemühte sich auch, die für seine Bedingungen optimale Mischung aus Anleihe-, Steuer- und Gebührenfinanzierung zu finden und gleichzeitig eine maximale Staatsprämie zu erhalten. 159 Der Kreis Halberstadt verfügte bereits über ein gutes Verkehrswegenetzes aus mehreren Staatschausseen, die von Halberstadt aus nach Magdeburg, Blankenburg, Wernigerode, Braunschweig und Hornburg führten, der Aktienchaussee von der Kreisstadt nach Quedlinburg und der Eisenbahnlinie BerlinMagdeburg-Köln und nahm daher eine geradezu zentrale Lage im Verkehrsnetz ein. Während andere Kreise aufgrund ihrer peripheren Lage Chausseebauprojekte in Angriff nahmen, resultierte hier das Bedürfnis nach einer weiteren Netzverdichtung aus dem Überschuß an landwirtschaftlichen Gütern sowie der Durchfuhr von Harzprodukten der Forsten, Berg- und Hüttenwerke. 160 Daher beschloß der Kreistag am 27. März 1847 den Bau eines Kreischausseenetzes von insgesamt 10 Meilen Länge, falls der Staat 5000 Reichstaler Prämie pro Meile zusagen würde. Da jedoch die Prämiengewährung nur für einzelne Linien erfolgte und die Kostenanschläge noch nicht vorlagen oder unzureichend waren, verzögerte sich die Umsetzung des Konzeptes über mehrere Jahre. Es spricht allerdings für die Wirtschaftskraft der Region, daß der größte Teil der ursprünglich als Kreischausseen vorgesehenen Linien daraufhin von den verschiedenen Gemeinden gebaut wurden. 161 Aus diesem Grunde ließ der Kreistag im Jahre 1853 alle Kreischausseebaupläne fallen.

158

Vgl. Anlage 30. Vgl. Kapitel I.III. 160 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 29 ff. 161 Es handelte sich dabei um Osterwieck-Goslar vor 1853, Osterwieck-Stapelburg, Stapelburg-Abberode und Dardesheim-Zilly-Wernigerode um 1853 und Zilly-Derenburg nach 1853. Ebenda, Nr. 3469, Bl. 68. 159

I . Der

eichausseebau in der preußischen Provinz S a c h s e n 2 6 9

Im Gegensatz zur weitgehend passiven Magdeburger Regierung versuchten die Merseburger Beamten in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Landräten, aus ihrer Sicht wichtige Straßen als Kreischausseen bauen zu lassen. Dadurch wurden die Kreise bereits während der Antragstellung, insbesondere bei der Herstellung der Kostenvoranschläge, von Regierungsbeamten unterstützt. Das Finanzministerium reagierte jedenfalls auf die ersten Vorschläge über den Bau von Kreischausseen im Merseburger Bezirk erfreut und genehmigte unmittelbar nach Eingang der Kostenvoranschläge alle Prämien. 162 Die Wandlung zu einer eindeutigen Förderung des Kreischausseebaus seitens der preußischen Bürokratie, die zudem auch praktische Konsequenzen nach sich zog, setzte erst 1853 ein. Nach einem Reskript des Ministers fur Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, August von der Heydt, vom 7. Februar 1853 sollten der provinzialsächsische Oberpräsident, die drei Bezirksregierungen und vor allem die Landräte auf einen vermehrten Kreischausseebau hinwirken. 163 Gleichzeitig gewährte ein vom Ministerium erarbeitetes neues Musterstatut günstigere Bedingungen für den Nichtsstaatschausseebau.164 Bei der Prämienvergabe wurden nun Kreis- und Gemeindechausseen gegenüber Privat- bzw. Aktienstraßenbauten bevorzugt. 165 Letzteres stellte den straßenbaupolitischen Aspekt der antiliberalen Wirtschaftspolitik von der Heydts dar. Während sich die entsprechende Eisenbahnpolitik in der Ausweitung des Staatssektors niederschlug, wurde der Staatsstraßenbau in den mittleren und westlichen Provinzen beinahe gänzlich eingestellt, wobei zwischen beiden Prozessen ein fiskalischer Zusammenhang bestand. Ähnlich wie in den dreißiger Jahren sollte die Entlastung der Staatsfinanzen jedoch keine zu starke Ausweitung des schwer zu kontrollierenden privaten Sektors bewirken. Nachdem die Kreise in den vierziger Jahren erste Erfahrungen im Chausseebau gesammelt hatten, konnten sie jetzt viele der zuvor gescheiterten Projekte aufgreifen und umsetzen.166 Immerhin stieg die Gesamt162 Ebenda, Nr. 3467, Bl. 189. Es handelte sich um die Linien von Zörbig nach Stumsdorf an der Magdeburg-Leipziger Eisenbahn im Bitterfelder Kreis sowie von Wippra nach Sangerhausen, die vom Mansfelder Gebirgskreis und dem Kreis Sangerhausen gemeinsam ausgebaut wurde. Gleichzeitig gewährte man der an der sächsischen Grenze gelegenen Stadt Düben eine Prämie für die Chaussierung des provinzialsächsischen Abschnitts auf der Straße nach Leipzig, wodurch ein traditioneller Handelsweg wiederbelebt werden sollte (heutige Β 2). Vgl. Ebenda, Bl. 186 f. 163 Ebenda, Nr. 3469, Bl. 40 f. 164 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 45. 165 Ebenda, S. 47 ff., 75 f., 84. Einen gleichzeitigen Rückgang des Staatsstraßenbaus und der Konzessionierung von Aktienchausseen seit 1855 hat auch E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 69, für die Provinz Brandenburg festgestellt. 166 Die Kreistagsbeschlüsse erfolgten in Neuhaidensieben am 28.4. 1854 und am 6.11. 1854, im Kreis Halberstadt am 13.10. 1855 und am 16.6. 1856. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 152.

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

270

länge der provinzialsächsischen Kreisstraßen von 125 km im Jahre 1855 auf 820 km im Jahre 1862. 167

IV. Der Gemeindechausseebau in der preußischen Provinz Sachsen Am Beispiel des Kreises Halberstadt wurde bereits deutlich, daß ursprünglich gescheiterte Kreischausseebauprojekte mitunter nur kurze Zeit später durch einzelne oder mehrere Gemeinden realisiert wurden. Seit 1854 bildete der Gemeindechausseebau eine politisch durchaus erwünschte Alternative zum Kreischausseebau. Nach einem Reskript vom 6. November 1854 durften Kreise analog der Verfahrensweise des Staates Prämien für Gemeindechausseebauten gewähren. Daraus resultierte eine weitere Auffächerung der Kostenträgerstruktur. Die Kreisprämien lagen zum Teil noch über den Staatsprämien, so daß die Zuschüsse für einige Gemeinden mehr als 50% der Bausumme ausmachten. 168 Im Kreis Mühlhausen beispielsweise wurden zwischen 1845 und 1864 zur Herstellung von sechs Gemeindechausseen mit einer Gesamtlänge von 8,8 Meilen Prämien von jeweils 8000 Thlr. pro Meile gewährt, womit zwischen 33 und 5 0 % der Baukosten abgedeckt waren. 169 Der Kreis Gardelegen entschloß sich 1855, neben der Durchfuhrung des Kreischausseebaus auch den „Gemeinden und Rittergutsbesitzern, die innerhalb ihrer Feldmarken" Straßen bauen wollten, Zuschüsse von 10.000 Thlr. pro Meile zu bewilligen. 170 Diese Gemeindechausseen wurden außerdem vom Staat mit 6000 Thlr. pro Meile subventioniert, so daß die Prämienzahlungen mindestens die Hälfte des Gesamtkosten abgedeckt haben dürften. 171 Auf ähnliche Weise entstanden im Kreis Neuhaidenleben zwischen 1855 und 1860 11,9 Meilen Gemeindechausseen. Auch hier betrugen die Kreisprämien 10.000 Thlr. pro Meile, während die Staatsprämien zwischen 4000 und 8000 Thlr. pro Meile lagen. 172 Nach der Statistik von 1862 verfügte Neuhaidensieben über das dichteste Gemeinde-

167

Vgl. Tabellen A 20 und A 30. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 166. 169 von Wintzingerode-Knorr, Statistische Übersicht des Kreises Mühlhausen, Mühlhausen 1866, S. 112. 170 Mittheilungen über Verhältnisse des Kreises Gardelegen (handschritflich) o.O., o.J. 171 Zu den Straßenbaukosten Kapitel I.I. 172 Übersicht über die statistischen Verhältnisse des Kreises Neuhaidensieben, zusammengestellt aus der statistischen Tabelle am Schlüsse des Jahres 1858, (handschriftlich) o.O.(1861). 168

IV. Der Gemeindechausseebau in der preußischen Provinz Sachsen

271

chausseenetz aller provinzialsächsischen Kreise. 173 Im Kreis Wolmirstedt erhielten Gemeindechausseebauten Staatsprämien in einer Höhe von 6000 Thlr. pro Meile und Kreisprämien von 4000 Thlr. pro Meile. 174 Die Kreisversammlung von Osterburg stoppte im Jahre 1857 ihre Straßenbauprojekte für die Strecken von Osterburg nach Werben und von Seehausen nach Arneburg, „nachdem die Vorarbeiten bereits in Angriff genommen und namentlich die Absteckung der Linie, sowie Nivellierung des Terrains bereits beendigt war". Statt dessen sollte der Kommunalchausseebau mit einer „Beihülfe bis zur Höhe von 20 Silbergroschen pro Ruthe" gefördert werden. 175 Das entsprach einer Prämie von 1333 Thlr. pro Meile, war also relativ gering. 176 Der Kreis Eckartsberga gewährte seinen Gemeinden immerhin Zuschüsse von 3 Thlr. pro laufender Ruthe, also 6000 Thlr. pro Meile. 177 Im Gegensatz dazu bewilligten andere Kreise, wie etwa der Kreis Weissensee, keinerlei Beihilfen zur Chaussierung von Kommunikationswegen.178 Im Kreis Worbis, der 1862 über ein relativ dichtes Gemeindechausseenetz, jedoch über keine Kreischaussee verfügte, wurden zwischen 1852 und 1864 18.000 Taler an Staatsprämien gewährt. „Gemeinden, Corporationen und Privatpersonen" brachten zu diesem Zweck 56.107 Taler auf, worin der Verfasser der Kreisbeschreibung den Beweis sah, „daß die meistentheils armen Gemeinden dennoch keine Opfer gescheut haben, ihre Wege in ordnungsmäßigen Zustand zu versetzen und darin zu erhalten." 179 Beim durch die Kreise geförderten Gemeindechausseebau minimierte sich gegenüber herkömmlichen Gemeinde- und Kreischausseebauten sowohl der Aufwand der Gemeinden als auch der Kreise. Mit der Schaffung dieser Möglichkeit erfuhr die „Suche nach einer adäquaten Form staatlicher Regulierung" in der Straßenbaupolitik, also die „Experimentierphase" in der Trägerpolitik einen gewissen Abschluß. 180 Diese hatte mit den Rotherschen Bedingungen Mitte

173

Vgl. Tabelle A 22. Statistische Darstellung des Kreises Wolmirstedt pro 1862-1864 (handschriftlich), 0.0.(1865), S. 57. 175 Mittheilungen über Verhältnisse des Kreises Osterburg für die Kreisstände zusammengestellt vom Landrath, (handschriftlich), o.O. o.J. 176 Umrechnung erfolgte nach: B. Sprenger, Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn-MünchenWien-Zürich 1991, S. 160. 177 Statistische Darstellung des Kreises Eckartsberga (handschriftlich), o.O. o.J., O.S. 178 F.B. Frh. von Hagke, Historisch-statistisch-topographische Beschreibung des Weissenseer Kreises, Weissensee 1863, S. 102. 179 Statistische Darstellung des Kreises Worbis, S. 114. 180 D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 543, datiert eine entsprechende „Experimentierphase" in der preußischen Eisenbahnpolitik mit dem Zeitraum von den Vierzigern bis in die siebziger Jahre. 174

272

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

der dreißiger Jahre begonnen und dauerte somit etwa 20 Jahre. Trotzdem waren noch nicht alle Hemmnisse für den Nichtstaatschausseebau beseitigt. Zunächst stieg allein bis 1862 die Länge der provinzialsächsischen Kreischausseen auf 820 km und die der Gemeindechausseen auf 506 km. 1 8 1 Für 12 der 41 Kreise weist die Statistik keine Nichtstaatschausseen aus. Allerdings ist jede Statistik höchstens so gut wie die bei der Datenerfassung zugrunde gelegten Definitionen. Die „Chaussee" stellte in erster Linie eine rechtliche und keine technische Kategorie dar. In einer Beschreibung über den Kreis Merseburg heißt es: „Bezirks-, Kreis-, Gemeinde- und Aktienchausseen haben wir nicht, dagegen sind die Kommunikationswege in allen Theilen des Kreises, einschließlich derjenigen in den Niederungen in einem guten Zustande und fast durchgängig mit Kies oder Steinen befestigt, so daß sie zu jeder Zeit und namentlich auch im Winter und bei Fortgang des Frostes passirt werden können." 182 Bei den 12 Kreisen handelt es sich neben Merseburg um die beiden Stadtkreise Magdeburg und Halle, den Kreis Jerichow II im Magdeburger Bezirk sowie die Kreise Delitzsch, Naumburg, Querfurt, Weißenfels, Torgau, Schweinitz, Liebenwerda und Wittenberg, also beinahe den gesamten Regierunsgbezirk Merseburg. Diese regionale Konzentration in den ehemals kursächsischen Gebieten, deren südlicher Teil zu den wirtschaftlich fortgeschrittenen Teilen der Provinz gehörte, weist auf Besonderheiten des dortigen Wegerechts hin, auf die zu Beginn des Abschnitts G über die Wegegesetzgebung eingegangen wird.

V. Die Stärkung der Selbstverwaltung in den siebziger Jahren und ihre Auswirkungen auf die Trägerschaft im Straßenwesen Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bildeten die entscheidende Zäsur auf dem Weg zur Selbstverwaltung der Städte, Kreise, Gemeinden und Provinzen in Preußen. Erst jetzt wurden auch außerhalb der Städte die wesentlichen Elemente des Steinschen Verwaltungsreformkonzepts umgesetzt.183 Dies brachte am 15. Oktober 1868 Innenminister Graf Fritz zu Eulenburg im preußischen Abgeordnetenhaus zum Ausdruck, indem er das Anliegen der Kreisreform wie folgt beschrieb: „Selbstverwaltung kann nur darin bestehen und in der Art eingeführt werden, daß nach und nach der Staat diejenigen Branchen der

181

Vgl. Tabelle A 20. Statistische Darstellung des Kreises Merseburg, handschriftlich, o.O., o.J. 183 G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 420 und 423; J. Bolenz, Wachstum, S. 40 ff. 182

V. Die Stärkung der Selbstverwaltung in den siebziger Jahren

273

Verwaltung, deren er nicht bedarf, in die Hände kommunaler Verbände legt." 184 Der in der am 13. Dezember 1872 erlassenen Kreisordnung für die Provinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen185 gewährte Grad an Selbstverwaltung bestand beim Straßenbau jedoch schon seit den fünfziger Jahren. Deshalb kann die Kreisordnung von 1872 hier unbeachtet bleiben. Aus der Perspektive der siebziger Jahre erscheinen vielmehr die langwierigen Anlaufprobleme des Kreisstraßenbaus als erste Bewährungsprobe für die Selbstverwaltung der Kreise und somit in einem positiveren Licht. 186 Die Umwandlung der Provinzialverbände in Selbstverwaltungskörperschaften bedeutete hingegen auch für das Straßenwesen einen wesentlichen Einschnitt. 187 Die in diesem Zusammenhang erlassenen Gesetze vom 30. April 1873 und 8. Juli 1875 (Dotationsgesetz) bestimmten u.a., daß die Staatschausseen in die Trägerschaft der Provinzialverbände übergehen sollten. „Zur Bestreitung der Unkosten überwies der Staat eine Jahresrente von 19 Millionen Mark, von der 15 Millionen nach der Länge des Straßennetzes, der Rest von 4 Millionen Mark zur Hälfte nach dem Maßstab des Flächeninhalts, zur anderen Hälfte nach der Größe der Bevölkerung verteilt wurde." 188 Der jährlich an die Provinz Sachsen zu zahlende Betrag wurde zunächst auf 1.549.510 Mark festgelegt und nach der Verordnung vom 12. September 1877 um 312.700 Mark erhöht. 189 Somit war auch hier „das Eigentum an den bereits ausgebauten Staatschausseen nebst allen Nutzungen und Nebenanlagen, die eigentliche Verwaltung (einschließlich der technischen Bauleitung) und Unterhaltung derselben, ferner die gesamte Fürsorge für den Neubau von chaussierten Wegen und die Unterstützung des Gemeindewegebaus, Verpflichtung zur Leitung der Neu- und Unterhaltungsbauten hinsichtlich der chaussierten und unchaussierten Straßen außer den Staatschausseen, sowie alle Rechte und Pflichten gegenüber dem Chausseebeamtenpersonal auf die Provinz übergegangen, die zur Erledigung dieser Aufgaben eine alle drei Regierungsbezirke umfassende Chausseebauverwaltung in Merseburg bildete." 190 Die praktische Einführung der provinziellen Selbstverwaltung erfolgte in Sachsen zum 1. April 1877. Der Staat behielt grundsätzlich nur die Bergwerks- und Forststraßen. Angesichts der überragenden Bedeutung, die die Eisenbahn in den siebziger Jahren erreicht hatte, sah auch die Berliner Regierung keine Notwendigkeit 184

Zitiert in: G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung,

S. 469. 185 186 187 188 189 190

GS, 1872, S. 661. Vgl. H. Heffter, Selbstverwaltung, v.a. S. 497 ff. K.G.A. Jeserich, Die preußischen Provinzen, S. 31. Ebenda, S. 127. H. Giesau, Geschichte des Provinzialverbandes, S. 41. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 73.

18 Uwe Müller

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F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

mehr, die Entwicklung des Straßennetzes als zentralstaatliche Aufgabe fortzufuhren. Dem überregionalen Handelsverkehr stand in Preußen ein Eisenbahnnetz zur Verfügung, das allein zwischen 1870 und 1875 um 5.249 km auf insgesamt 16.168 km gewachsen war. 191 Massengüter konnten außerdem auf die Binnenwasserstraßen ausweichen. Größere Entfernungen überwindende Truppentransporte benutzten letztmalig 1866 während des preußisch-österreichischen Krieges die Straßen und wechselten seitdem auf die Schiene.192 Daher war mit der Entscheidung für eine stärkere provinzielle Selbstverwaltung der Trägerwechsel im Bereich des Straßenwesens außerordentlich naheliegend. 193 Mit einem Abstand von 30 Jahren urteilte Erich Petersilie: „Es liegt eine feine wirtschaftspolitische Logik darin, daß der Staat in dem Augenblicke, wo unser gesamtes Wirtschaftsleben und demgemäß auch das Verkehrsbedürfnis einen gewaltigen Aufschwung nahm, das Chausseenetz, über dessen wachsende Ausdehnung er wirtschaftlich den Überblick verlieren mußte, einem engeren Verbände, den Provinzen, überließ. Nicht minder einsichtig handelten die letzteren, indem sie selbst nur die Verwaltung der ihnen überwiesenen Staatschausseen behielten, im übrigen aber die Fürsorge für den Ausbau der Verkehrsstraßen denjenigen Körperschaften übertrugen, die besser als sie zu beurteilen vermochten, wo und inwieweit das Verkehrsbedürfnis jeweilig Befriedigung erheischte." 194 Der gleiche Autor ging noch weiter und meinte, daß der Kreis die ideale Entscheidungsebene für Chausseebauten sei. 195 Die Dezentralisierung der Trägerstruktur war aber in dieser Hinsicht nicht konsequent, da Kreischausseebauten nach 1877 an Stelle einer staatlichen Konzession eine provinzielle Genehmigung benötigten. Die Provinzen hatten allerdings neben der Verantwortung für die Staatsstraßen auch die Unterstützungspflicht für den Kreis- und Gemeindechausseebau übernommen. 196 Dabei agierten die Provinzen übrigens durchaus unterschiedlich. Während in der preußischen Provinz Sachsen im Jahre 1900 11,5 % aller Provinzialausgaben Unterstützungen für Guts- und Gemeindewegebauten darstellten, lag dieser Anteil im preußischen Durchschnitt bei 7,3 %. 1 9 7 Noch deutlicher fällt der Unterschied beim Anteil der Guts- oder Gemeindechausseen am gesamten Straßennetz aus. Dieser lag zur Jahrhundertwende in der Provinz Sachsen bei 32,6 %, im gesamten Königreich nur bei

191 192 193 194 195 196 197

E. Kühn, Die preußischen Eisenbahnen, S. 171. W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 154. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 16. E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 127. Ebenda. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 16. E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 120 und 123.

VI. Die Übernahme der Kommunikationswege

275

15,8 %. 1 9 8 Es spricht einiges dafür, daß dieser höhere Anteil der Wirtschaftskraft der provinzialsächsischen Güter und Gemeinden im gesamtpreußischen Vergleich entspricht. Dies trifft ebenfalls auf die provinzialsächsischen Kreise zu, denn obwohl die Unterstützung fur den Kreisstraßenbau unter dem preußischen Mittelwert lag, wuchs ihr Anteil am gesamten Chausseenetz von 25,7% im Jahre 1876 auf 41,9% im Jahre 1900, wodurch sich der Rückstand zum preußischen Durchschnitt von 11 auf 6 Prozentpunkte verringert hat. 199 Während also der Umfang des provinzialsächsischen Nichtstaatschausseebaus im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts unter dem preußischen Durchschnitt gelegen hatte, bestimmten zur Jahrhundertwende die Kreis-, Gutsund Gemeindechausseen in einem Maße das Straßennetz, das weit über dem preußischen Mittelwert lag. Angesichts der hier stark von der Landwirtschaft bestimmten und demzufolge räumlich dezentral strukturierten Industrialisierung 200 dürfte Letzteres der „Normalfair gewesen sein. Die tendenzielle Behinderung des Nichtstaatschausseebaus wurde allerdings nicht direkt durch den Wechsel der straßenbaupolitischen Kompetenzen von der Berliner Zentralregierung auf den Provinzialverband beseitigt. Entscheidend war vielmehr, daß im Jahre 1891 mit der provinzialsächsischen Wegeordnung die Frage der „fiskalischen Straßen" endgültig geregelt wurde. Das Problem, ob und in welcher Höhe der Staat die Provinz für die Übernahme dieser Straßen zu entschädigen hatte, war noch im Rahmen der Reform der siebziger Jahre ein wichtiger ungelöster Streitpunkt gewesen.201

VI. Die Übernahme der Kommunikationswege durch die braunschweigischen Kreiskommunalverbände im Jahre 1871 Aktien- und Privatchausseen hat es im Herzogtum Braunschweig wahrscheinlich gar nicht, sicher jedoch nicht in nennenswertem Umfang gegeben.202 Auch eine den preußischen Kreischausseen analoge Trägerschaft existierte im 198

Ebenda, S. 117. Ebenda, S. 116. - Diese Tatsachen widersprechen der von K.G.A. Jeserich, Die preußischen Provinzen, S. 127, geäußerten Auffassung, die Provinz Sachsen habe im Vergleich zu den östlichen Provinzen ihre Straßenbauverwaltung stärker zentralisiert. 200 Vgl. Abschnitt B. 201 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 62. Zum Problem der fiskalischen Straßen vgl. Kapitel G.I. 202 Es gibt weder in den publizierten Statistiken und Landesbeschreibungen noch im hier berücksichtigten Archivmaterial Hinweise auf von Privatpersonen oder Unternehmen errichtete und dem öffentlichen Gebrauch zugängliche Kunststraßen. 199

276

F. Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen

Herzogtum Braunschweig nicht. Zwar wurden durch die Verwaltungsreform von 1832 und die Wegeordnung von 1840 die administrativen Kompetenzen der Kreisverwaltungen gestärkt. 203 Die Kreise verfügten jedoch über keine finanziellen Mittel ftir den eigenständigen Bau und die Unterhaltung von Kreisstraßen. Sie stellten also noch keine Selbstverwaltungsverbände dar und fungierten lediglich als staatliche Verwaltungsbezirke. Den Kreisvertretungen wurde dementsprechend ein Mitsprache-, jedoch kein Entscheidungsrecht über Straßenbauausgaben eingeräumt. Die in der Wegeordnung von 1840 enthaltene Verpflichtung zur „Herstellung chaussierter Verbindungswege" konnte sich somit lediglich an die nach traditionellem Wegerecht Unterhaltungspflichtigen wenden, zumal die Wegeordnung die diesbezüglichen Bestimmungen nicht verändert hatte, sondern nur eine „sach- und zeitgemässe Neuformulierung" geliefert hatte. 204 Aus diesem Grunde ist vor 1870 weder in den zeitgenössischen Akten noch in den publizierten Statistiken von „Kreisstraßen", sondern immer nur von Kommunikations- oder Kommunalwegen die Rede.205 Im Jahre 1871 übernahmen die gerade gegründeten Kreiskommunalverbände die Unterhaltungslast sowie die finanzielle Verantwortung für die Chaussierung der Kommunikationswege, die jetzt zu Kreisstraßen erklärt wurden. 206 Kreisausschüsse und Kreisversammlungen entschieden über den Ausbau der Kreisstraßen und legten entsprechende Etats fest. Die Herzogliche Kreisdirektion beschränkte sich auf ihre technische Aufsichtsfunktion. 207 Daneben existierten weiterhin die von der Baudirektion verwalteten Staatsstraßen sowie die durch die Kommunen zu unterhaltenden Dorfwege. Für Feld-, Wanne- und Fußwege waren Grundbesitzer bzw. Nutznießer verantwortlich. 208 Seit den siebziger Jahren gab es also sowohl im Herzogtum Braunschweig als auch in den preußischen Provinzen auf Kreisebene angesiedelte Selbstverwaltungskörperschaften, die für einen beträchtlichen Teil des Straßennetzes verantwortlich waren. Im Herzogtum Braunschweig handelte es sich dabei wegen der Übernahme der Kommunikationswege vor allem um Straßen von lokaler Bedeutung, während die provinzialsächsischen Kreischausseen in der Regel Relevanz für den gesamten Kreis oder sogar darüber hinaus besaßen. 203

Vgl. Kapitel B.I und H.II.2. F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35. 205 Hinsichtlich der Kreisstraßen hat Brinckmann, Landstraßen, S. 320, offenbar die seit 1871 existierenden Verhältnisse auf die Zeit davor übertragen. Dem ist dann auch U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 82, gefolgt. - Zum Unterschied zwischen Kommunal- und Kommunikationswegen vgl. Kapitel D.III.4. 204

206

H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 142 f.; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 40 ff. 2,17 Vgl. auch Abschnitt H. 208 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136; F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums, S. 34.

VI. Die Übernahme der Kommunikationswege

277

Schließlich unterschieden sich auch die für den Kreisstraßenbau zur Verfügung stehenden Finanzierungsquellen in beiden Ländern. 209

209

Vgl. Kapitel I.III.

G. Der Staat als Gesetzgeber. Die Entwicklung des Wege- und Chausseerechts Der im Abschnitt D konstatierte, positive Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau einer Region und dem Engagement im Bereich des Nichtstaatschausseebaus stellt kein unerwartetes Forschungsergebnis dar. Die in einem Haupt-Verwaltungs-Bericht des für die größten Teile der Provinz Sachsen zuständigen sächsisch-thüringischen Hauptbergdistricts von 1854 getroffene Feststellung, daß die Kommunikationswege „gerade in den wohlhabendsten Gegenden der Provinz einen nicht unbedeutenden Theil des Jahres hindurch unpassierbar sind," überrascht hingegen.1 Als Ursachen für die unterschiedliche Qualität benannte die Bergbauverwaltung die Verschiedenheit der örtlichen Verhältnisse, die ungleiche Verteilung des natürlichen Straßenbaumaterials sowie Differenzen im Engagement der Landräte. Den wichtigsten Grund für die schlechten Straßenzustände sah man jedoch in der „mangelnden Bereitwilligkeit der Kreis-Eingessenen" und die Lösung des Problems in einer „bestimmteren Fassung der jetzt gültigen Wegegesetze, um die Gemeinden zur Wegebesserung zu zwingen." 2 Eine wirkungsvolle Wegebesserung war natürlich nur durch die Chaussierung der Straße zu erreichen. Das Wegerecht übte also einen wichtigen Einfluß auf den Chausseebau aus, obwohl dieser in den meisten Fällen einer speziellen, vom allgemeinen Wegerecht abgekoppelten Gesetzgebung unterlag. Es wird im folgenden auf die aus den gesellschaftlichen Veränderungen erwachsende Notwendigkeit der Wegerechtsreform einzugehen sein, wobei es neben allgemeinen Faktoren auch um eine aus der territorialen Zusammensetzung der Provinz Sachsen resultierende Besonderheit geht.3 Im Herzogtum Braunschweig wurde im Jahre 1840 eine Wegeordnung erlassen, die am Ende des 19. Jahrhunderts als wichtigste Voraussetzung für das dichte Wegenetz angesehen wurde. 4 Im Kontrast dazu stehen die außerordentlich langwierigen und letztlich ergebnislosen Diskussionen um die Vereinheitlichung des Wegerechts in Preußen, also um eine preußische oder auch nur provinzialsächsische Wege-

1 2 1 4

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 77. Ebenda. Vgl. Kapitel G.I. Brinckmann, Landstraßen, S. 320.

I. Zersplitterung der Rechtsordnungen als Modernisierungshemmnis

279

Ordnung.5 Im Anschluß wird die im Wegerecht vorgenommene Klassifizierung der Straßen vorgestellt, aus der die rechtliche Sonderstellung der Chausseen resultierte. 6 Abschließend soll die rechtshistorische Entwicklung in den Bereichen des Wege- bzw. Straßenrechts näher betrachtet werden, die dessen Modernisierung insgesamt prägten. Dabei handelt es sich um die Regelung der Bau- und Unterhaltungspflicht, die Verordnungen über die Grundstücksenteignungen sowie die wichtigsten technischen Vorschriften. 7

I. Die Zersplitterung der Rechtsordnungen als Modernisierungshemmnis. Das Problem der fiskalischen Straßen in der preußischen Provinz Sachsen Die Modernisierung und auch speziell die Industrialisierung waren mit einer Ausweitung des juristischen Regulierungsbedarfs, inklusive der Erschließung neuer Bereiche durch das Wirtschaftsrecht, verbunden. Vielfach drang der Staat in Sphären vor, die in der traditionellen Gesellschaft durch Kirche, Grundherren, Korporationen oder Privatpersonen organisiert worden waren. 8 Die Wegegesetzgebung unterlag einem mehrfachen sowie mit fortschreitender Industrialisierung zunehmenden Modernisierungsdruck. In den vierziger Jahren stellte man im preußischen Staatsministerium fest: „Die Gesetzgebung über das Wegebauwesen ist hinter dem durch die Landeskultur-, die Gewerbeund Zollgesetzgebung so außerordentlich gesteigerten Bedürfniß des Verkehrs weit zurückgeblieben." 9 Konkreter Regelungsbedarf bestand zum einen im Bereich des Straßenneubaus. Dabei ging es zunächst um die Aufteilung der Straßenbaupflichten zwischen Staat und Gemeinden. Der Bau von Chausseen an Stelle der unbefestigten Straßen erforderte auch die Erneuerung und Ausweitung der technischen Vorschriften. Die wachsende technische Komplexität verdeutlichte zudem die Ineffizienz der Straßenherstellung durch frondienstleistende Bauern. Frondienste waren einerseits nicht mehr auf Fuhrleistungen beschränkbar. Beim Chaus5

Vgl. Kapitel G.II. Vgl. Kapitel G.III. 7 Vgl. Kapitel G.IV. bis G.VI. - Verwaltungsänderungen betreffende Vorschriften werden im Abschnitt H, Gesetze über Bau- und Unterhaltungsfinanzierung sowie Wegegelderhebung im Abschnitt I behandelt. Unbeachtet blieben v.a. Vorschriften zum Straßenverkehrsrecht und zur Wegepolizei. 6

8

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 630; J. Wysocki, Infrastruktur, S. 208. 9 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil XV, Bl. 1.

280

G. Der Staat als Gesetzgeber

seebau und in geringerem Maße bei der Chausseeunterhaltung wurden andererseits bereits Lohnarbeiter eingesetzt.10 Da im Zuge der Verwirklichung der Agrarreformen die Zahl der Frondienstpflichtigen ohnehin ständig zurückging, mußten alle Wegebau- und unterhaltungsarbeiten neu organisiert werden. Die Verflochtenheit der Rechte und Dienste innerhalb der Agrarverfassung führte nämlich dazu, daß die Herauslösung nur eines Sektors das Gesamtsystem gefährdete. 11 Die Agrarreformen brachten aber auch eine große Zahl neuer Grundeigentümer hervor. Daraus resultierte eine in der Praxis weitverbreitete Rechtsunsicherheit, obwohl in der Regel bei Eigentumsverleihungen an Bauern auch die Wegebaupflicht mit der Begründung festgeschrieben wurde, Dienste für den Staat, wie Vorspann und Wegebau, müßten auch von den bereits existierenden freien Bauern geleistet werden. 12 Diese Pflicht erhielt jedoch eine völlig neue Relevanz, da der Bauer diese Aufgabe im Gegensatz zum Adligen nicht auf ihm dienstverpflichtete Personen übertragen konnte. Die Fixierung der Aufgaben der Grundeigentümer im Wegerecht beschäftigte die juristische Diskussion im gesamten 19. Jahrhundert. Erich Petersilie, einer der profundesten Kenner des preußischen Straßenwesens, bezeichnete noch im Jahre 1906 das Wegerecht als „eines der verwickeltsten Gebiete unseres gesamten Verwaltungsrechts". 13 Das resultierte allerdings auch aus einer zweiten komplizierten, zu Beginn des Modernisierungsprozesses bestehenden Ausgangssituation. Durch die den Absolutismus überdauernde provinzielle Selbständigkeit in Wegerechtsangelegenheiten und die Absorption zahlreicher Kleinstaaten in das preußische Staatsgebiet seit 1815 existierten zahlreiche verschiedene Rechtspraktiken innerhalb eines Staates. Dies traf in besonderem Maße für die preußische Provinz Sachsen zu. „Für die Provinz Sachsen war eine Neuordnung des Wegerechts um so dringender geboten, als hier der Rechtszustand ganz besonders buntscheckig war; es bestanden nämlich besondere Wegerechte für das Herzogthum Magdeburg nebst der Grafschaft Mansfeld altpreußischen Theils (Magdeburger Hoheit), für das Fürstenthum Halberstadt nebst der Herrschaft Derenburg und den Grafschaften Hohenstein und Regenstein, für die Fürstentümer Erfurt und Eichsfeld, für die Gemarkschaft Treffurt und die Voigtei Dorla, für die vormaligen Reichsstädte Nordhausen und Mühlhausen, für die vormals sächsischen und die vormals Schwarzburg-Sondershausenschen und die SchwarzburgRudolstädtischen Landesteile."14

10 11 12 13 14

E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 47. R. Koselleck, Preußen, S. 139. Ebenda, S. 142; J. Salzwedel, Wege, S. 209. E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 106. Ebenda.

I. Zersplitterung der Rechtsordnungen als Modernisierungshemmnis

281

Bevor auf die langwierige Rechtsangleichung eingegangen wird, soll an einem Beispiel die praktische Relevanz des Nebeneinanders von verschiedenen Rechtsvorschriften verdeutlicht werden. In den ehemals kursächsischen Gebieten, also nach neuer administrativer Gliederung vor allem im Regierungsbezirk Merseburg, existierten entsprechend dem sächsischen Straßenbaumandat von 1781 „fiskalische Straßen". Da das Gesetz von 1781 zumindest in der Verwaltungspraxis der ehemals kursächsischen Gebiete nach 1815 seine Gültigkeit behielt, mußte der preußische Staat nicht nur die übernommenen Staatschausseen unterhalten, sondern auch diese fiskalischen Straßen. Zwar gab es beispielsweise im ehemaligen Herzogtum Magdeburg ebenfalls fiskalische Straßen. Die Pflichten der Adjazenten, also der Anlieger, zur gewöhnlichen Unterhaltung dieser Straßen waren jedoch nach dem weiterhin gültigen Edikt von 1742 wesentlich größer als in den vormals kursächsischen Gebieten.15 Es existierte kein schriftlich fixiertes Verzeichnis der fiskalischen Straßen, wodurch jahrelange juristische Auseinandersetzungen hervorgerufen wurden. 16 Zweifellos war jedoch deren Anteil am gesamten Straßennetz im Regierungsbezirk Merseburg wesentlich größer als in den anderen Teilen der Provinz. Die Gesamtlänge aller provinzialsächsischen fiskalischen Straßen wurde im Jahre 1849 mit 254,5 Meilen angegeben, wobei sich allein im Merseburger Bezirk 185 Meilen befanden. 17 Die Unterhaltung dieser Straßen, die meist nur für den regionalen Verkehr von Bedeutung waren, stellte zunächst kein gravierendes Problem dar, da der finanzielle Aufwand relativ gering war. 18 Allerdings verursachte die stärkere Inanspruchnahme der Straßen seit den dreißiger Jahren vielfach einen akuten Instandsetzungsbedarf. Das Problem wurde besonders deutlich, als in den vierziger Jahren die Chaussierung der wichtigsten Landstraßen abgeschlossen war und im Zuge des Aufbaus eines Chausseenetzes die Befestigung vieler fiskalischer Straßen notwendig wurde. Zur gleichen Zeit versuchte Preußen, seine Chausseebautätigkeit auf den Ausbau der Fernhandelsverbindungen in den Ostprovinzen zu beschränken. Man war nicht bereit, dieses Prinzip wegen einer von Preußen nie ausdrücklich anerkannten Besonderheit des sächsischen Wegerechts zu verletzen, indem man dem Regierungsbezirk weit überdurchschnittliche Mittel zuwies. Dementspechend schlecht war der Zustand der fiskalischen Straßen. 19

15

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 25. A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 85 f. 17 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 126r. Für den Regierungsbezirk Magdeburg wurden 58,5 Meilen und für Erfurt 11 Meilen angegeben. 18 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 52. 19 Über die 12 fiskalischen Straßen des Kreises Bitterfeld, die immerhin eine Gesamtlänge von 12,38 Meilen hatten, äußerte der Landrat in einer um 1860 erstellten 16

282

G. Der Staat als Gesetzgeber

Allerdings wollten auch die Kreise und Gemeinden diese nach ihrer Auffassung dem Fiskus obliegende Pflicht nicht übernehmen. Solange der Staat die fiskalischen Straßen nicht chaussierte, weigerten sie sich außerdem, Linien in eigener Verantwortung auszubauen, deren Stellenwert im Verkehrsnetz geringer war als der von fiskalischen Straßen. 20 In diesem Sinne erwiderte Oberpräsident von Bonin auf die vom zuständigen Ministerium in den vierziger Jahren mehrfach geübte Kritik an der geringen Eigeninitiative der provinzialsächsischen Kreise, Gemeinden und Privatunternehmen: „Bevor nicht der Fiskus rücksichtlich der fiskalischen Straßen mit gutem Beispiel vorgeht, ist nicht daran zu denken, von den andern Wegebaupflichtigen vermehrte Leistungen in einem solchen Umfange zu verlangen, wie sie unerläßlich sind, soll der bisherige, wirklich zum Teil unerhört schlechte Zustand der Wege den jetzigen Verkehrsverhältnissen entsprechend besser werden." 21 Ergebnis war das bereits in den Kapiteln D.II.3. und F.II, konstatierte verhältnismäßig geringe Niveau des Merseburger Nichtstaatschausseebaus im Vergleich der preußischen Regierungsbezirke. 22 Im Jahre 1862 betrug die Netzdichte der Nichtstaatschausseen im Regierungsbezirk Merseburg 21,7 km pro 1000 km . Im Bezirk Magdeburg waren es 73,7 und im Erfurter Bezirk sogar 106,6 km pro 1000 km . 2 3 Das Problem der fiskalischen Straßen spielte auch bei den Auseinandersetzungen über die Aufteilung der Bau- und Unterhaltungspflichten eine wichtige Rolle, worauf noch einzugehen sein wird. 24 Es dürfte jedoch schon an dieser Stelle deutlich geworden sein, daß Erfolg bzw. Mißerfolg bei den Bestrebungen um eine Wegerechtsreform unmittelbar auf die Entwicklung des Chausseenetzes wirkten.

I I . Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen 1. Die Diskussion um eine gesamtpreußische Wegeordnung Das Allgemeine Landrecht von 1794 enthielt zwar Bestimmungen über Land- und Heerstraßen sowie einige Regelungen zu den öffentlichen GemeinKreisbeschreibung: Sie „befinden sich aber leider nur zum geringeren Theile in einem solchen Zustande, wie man ihn bei den heutigen Anforderungen von öffentlichen Hauptverkehrsstraßen verlangen muß." Statistik des Bitterfelder Kreises, o.O. und o.J. 20 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 19. 21 Ebenda, Bl. 73. Außerdem Ebenda, Bl. 118r. 22 Vgl. Tabelle A 10. 23 Vgl. Tabelle A 17. 24 Vgl. Kapitel G.IV.

II. Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen

283

dewegen, jedoch nichts zu Wegen innerhalb der städtischen Feldmarken sowie der Rittergüter. 25 Aus seinem subsidiarischen Charakter ergab sich zudem die weitere Gültigkeit zahlreicher provinzieller Sonderbestimmungen, so daß in den ehemals sächsischen Gebieten weiter auf das Mandat von 1781 zurückgegriffen wurde. 26 Die Regierungsverordnung vom 11. November 1832 bekräftigte, daß die Bestimmungen des Mandats in den Fällen gelten, wo sie gegenüber dem Allgemeinen Landrecht eine „speziellere Regelung" darstellten. 27 Dadurch wurde die schon durch unpräzise Formulierungen im sächsischen Straßenbaumandat bestehende Rechtsunklarheit weiter verstärkt, was sich in einer wachsenden Zahl von juristischen Auseinandersetzungen äußerte.28 Die Existenz einer Vielzahl von nur regional relevanten Verordnungen, die zudem oft nur Einzelfragen des Wegerechts regelten, führte in der gesamten Monarchie zu der Forderung nach einer allgemeinen Wegeordnung. Spätestens im Jahre 1820 wurde eine Kommission zur Erarbeitung einer allgemeinen Wegeordnung einberufen. 29 Der 1830 fertiggestellte Entwurf geriet jedoch nie in den Geschäftsgang der allgemeinen Gesetzesrevision. Im darauffolgenden Jahr wurde eine Spezial-Kommission aus Beamten der Ministerien des Innern, der Justiz und der Finanzen gegründet, die 1833 einen Entwurf einer gesamtpreußischen Wegeordnung vorlegte. 30 Obwohl die Kommission von vornherein die Möglichkeit einräumte, daß das allgemeine Gesetz in einzelnen Fragen durch provinzielle Verordnungen ergänzt werden könne, erhoben verschiedene Provinzialstände Einwände. Die sächsischen Provinzialstände waren nicht darunter, weil ihr vierter Landtag bereits beendet war. Es wurde allerdings eine ständische Kommission eingerichtet, die auf einer Sitzung im April 1836 in Magdeburg den Entwurf beriet und ein Gutachten erstellte. Der fünfte Landtag befaßte sich dann im Jahre 1837 auf der Grundlage dieses Gutachtens mit dem in der Zwischenzeit erneut redigierten Entwurf der Ministerialbürokratie. 31 Die zahlreichen Ände-

25 L.Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 11 f.; J. Salzwedel, Wege, S. 208; L. von Rönne, Wegepolizei, S. 409. 26 Ebenda, S. 389 f. - Vgl. auch Kapitel B.I. 27 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 50 f. 28 A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 86. Allgemein dazu: R. Koselleck, Preußen, S. 47 f. 29 Vgl. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 392 ff.; J. Salzwedel, Wege, S. 212. - In den Akten des Ministeriums für Handel und Gewerbe befindet sich jedoch, im Gegensatz zu den Darstellungen in der Literatur, ein Hinweis auf Diskussionen über ein WegeReglement, die bereits vor 1820 stattgefunden haben. So befand sich ein entsprechender Entwurf im September 1819 zur Begutachtung beim Kriegsminister. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120 A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bl. 121 ff. 30 31

Ebenda, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 45 ff.; Ebenda, Nr. 393, Teil I, Bl. 4 f. Der Entwurf von 1836 liegt vor in: Ebenda, Teil II, Bl. 1 ff.

284

G. Der Staat als Gesetzgeber

rungswünsche der Ständeversammlung kamen einer grundsätzlichen Ablehnung des Wegeordnungsentwurfs gleich. 32 Die prinzipiellen Einwände betrafen drei Punkte des Entwurfs. Zum einen wandte sich die vom Großgrundbesitz dominierte Versammlung gegen eine zu starke Belastung der außerhalb der Gemeindeverbände stehenden Grundbesitzer. Zum zweiten gab es Vorbehalte gegen die Gewährung von Enteignungsrechten, die bislang nur dem Staat zukamen, an alle Wegebaupflichtigen. Schließlich wurde an mehreren Stellen die Klassifizierung der Straßen kritisiert. Der Entwurf begrenzte die staatlichen Unterhaltungspflichten durch eine Unterscheidung von Landstraßen und gemeinen Wegen sowie chaussierten und unchaussierten Landstraßen. Die Stände befürchteten, daß durch diese Regelung die Unterhaltung der fiskalischen Straßen an die Gemeinden übertragen werden sollte, und forderten, daß der Staat auch weiterhin für alle „innern Kommerzialstraßen" verantwortlich sei.33 Die provinzialsächsischen Stände verteidigten verständlicherweise die in bezug auf die Verteilung der Unterhaltungslasten für sie relativ günstige Gesetzgebung des sächsischen Straßenbaumandats von 1781. Das Verhandlungsprotokoll bringt die Gründe für ihre Unzufriedenheit mit der im Entwurf vorgesehenen Aufteilung der Straßenbau lasten zwischen dem Staat einerseits sowie den Gemeinden und außerhalb der Gemeindeverbände stehenden Grundbesitzern andererseits klar zum Ausdruck und widerspiegelt die soziale Zusammensetzung der Versammlung. So wandten sich die Abgeordneten gegen die Übernahme der Unterhaltung aller unchaussierten Landstraßen durch Gemeinden bzw. Grundbesitzer, weil dadurch „der Provinz eine neue, ihr bisher gänzlich unbekannte und höchst drückende Last aufgebürdet, und daß dadurch der beabsichtigte Zweck, diese Verpflichtung gleichmäßig auf alle Unterthanen zu vertheilen, keineswegs erreicht werden, dieselbe vielmehr künftig nur die Grundbesitzer ausschließlich, und auch diese in überaus verschiedenen Maaße treffen würde. In Betracht, daß die Landstraßen, als öffentliche Staats-Institute, für alle Unterthanen, weß Standes sie auch sein mögen, mindestens von gleichem Nutzen sind; daß, wolle man die Interessen der einzelnen Stände gegeneinander abwägen, der größere Vortheil auf Seiten der gewerbetreibenden Klasse ausfallen würde; und daß die einzige hierunter mögliche Ausgleichung nur im Wege allgemeiner, jedes Individuum nach seinen Verhältnissen treffenden Abgaben, erreichbar sei; glaubten die Stände ihre allerunterthänigste Bitte: daß der Staat den Bau und die Unterhaltung aller Landstraßen, ohne Unter-

32 Landtags-Abschied für die Sächsischen Provinzial-Stände. Berlin, den 31. Dezember 1838. Nebst Übersicht der Verhandlungen auf dem fünften Provinzial-Landtage der sächsischen Provinzial-Stände zu Merseburg 1837, Magdeburg 1839, S. 14 ff. - Vgl. auch A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 57 ff. 33 Landtags-Abschied, 1839, S. 15.

II. Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen

285

schied, ob chaussirt oder unchaussirt, allein und ohne directe Beihülfe der Unterthanen übernehmen möge; hinreichend gerechtfertigt zu sehen."34 Im Gegensatz zu den Ständen befürwortete ein Teil der Bürokratie in den provinzialsächsischen Regierungen den Erlaß eines allgemeinen Wegebaugesetzes.35 Im Jahre 1841 lag erneut ein überarbeiteter Entwurf vor. 36 Er enthielt erstmals auch detailliertere Bestimmungen über die Kunststraßen und bekräftigte ausdrücklich die Möglichkeit des Kreis- und Gemeindechausseebaus auf der Grundlage eines für alle Kreiseingesessenen bzw. Gemeindemitglieder verbindlichen Beschlusses der Kreis- bzw. Gemeindeversammlungen. 37 Gleichzeitig konstatierte das Staatsministerium seine weitgehende Unkenntnis der bestehenden Provinzialrechte und setzte eine Kommission zu deren Erfassung ein. 38 Parallel dazu hielt jedoch die Diskussion über die allgemeine Wegeordnung an. Neben der Provinz Sachsen beharrte auch Brandenburg auf die Beibehaltung der provinziellen Sonderrechte. 39 Im Jahre 1843 schließlich einigten sich Staats- und Finanzministerium darauf, diese beiden Provinzen nicht in den Geltungsbereich der zukünftigen allgemeinen Wegeordnung einzubeziehen. Die Provinz Sachsen sollte sich eine auf den Bestimmungen des sächsischen Straßenbaumandats von 1781 beruhende Provinzialwegeordnung geben.40 Ein im Jahre 1845 vorgelegter neuer Entwurf einer allgemeinen Wegeordnung klammerte daraufhin die Provinzen Brandenburg und Sachsen aus.41 Es ist an dieser Stelle nicht möglich und wohl auch nicht notwendig, alle bis dahin und auch noch nach 1845 erarbeiteten Entwürfe vorzustellen oder sogar detailliert zu analysieren. 42 Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß die Justizabtheilung des Staatsministeriums im Jahre 1847 hinsichtlich der Lastenverteilung zwischen Staat und Gemeinden eine ähnliche Auffassung wie die provinzialsächsischen Stände vertrat. Landstraßen sollten nach ihrer Auffassung prinzipiell durch den Staat unterhalten werden, wobei diese Verpflichtung al-

34

Ebenda, S. 16. Entsprechende Forderungen kamen zum Beispiel im Jahre 1841 vom Erfurter Regierungspräsidenten von Flemming. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 107. 36 Ebenda, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil Ia, Bl. 14 ff. 37 Er entsprach somit den zur gleichen Zeit beschlossenen Erweiterungen der Befugnisse der Kreisstände. Vgl. Kapitel F.III. 38 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil I, Bl. 6. 39 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 393; GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 49. 40 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 395. 41 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil XIII, Bl. 3; Ebenda, Teil XVI, Bl. 1. 35

42 In Ebenda, Nr. 393 und Nr. 395, befinden sich zahlreiche Gutachten, Denkschriften und Stellungnahmen.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

lenfalls an Provinzen und Regierungsbezirke, jedoch nicht an die Adjazenten übertragen werden durfte. 43 Die jahrzehntelange Dauer sowie die Erfolglosigkeit der Diskussion über eine gesamtpreußisch wirkende Wegerechtsreform darf nicht als Hinweis darauf mißverstanden werden, daß dieser Bereich von der Ministerialbürokratie als zweitrangig angesehen worden wäre. Der Koreferent der Abtheilung des Innern im Preußischen Staatsministerium, Lette meinte im Jahre 1846 sogar: „Nächst den zur Hebung des Landeskultur in den Jahren 1807, 1811 und 1821 erlassenen Gesetzen ist flir die fortschreitende Entwicklung des Landbaues und des Nationalwohlstandes überhaupt kaum irgend eine Aufgabe der Legislation dringender und wichtiger, als eine praktisch wirksame Wegeordnung." 44 Auch Ludwig von Rönne beklagte, daß nach 32 Jahren Diskussion über eine gesamtpreußische Wegeordnung noch kein Ergebnis vorlag, und kritisierte in diesem Zusammenhang die „kleinlichen Sonderinteressen der Provinzen". 45 Speziell der provinzialsächsische Großgrundbesitz hatte jedoch ein plausibles Interesse an der Beibehaltung der Rechtslage, und er wurde darin von Teilen der Bürokratie in den Provinzial- und Bezirksverwaltungen unterstützt. Auf preußischer Ebene kam auch in den folgenden Jahrzehnten keine allgemeine Wegeordnung mehr zustande. In den fünfziger Jahren kümmerte man sich mehr um die praktische Unterstützung des Nichtstaatschausseebaus. Ein im Jahre 1862 vorgelegter Gesetzentwurf wurde vom Herrenhaus abgelehnt. Der nächsten Fassung von 1865 verweigerte das Abgeordnetenhaus seine Zustimmung. In den siebziger Jahren beendete die Übertragung der Verantwortung für das Chausseewesen vom Zentralstaat an die Provinzen auch die Diskussion über eine gesamtpreußische Wegeordnung. In der Einleitung des letzten Entwurfes für eine preußische Wegeordnung räumte die Kommission ein, „daß sich der aktuelle Rechtszustand in Beziehung auf das Wegewesen der alten Provinzen der Monarchie nicht zur vollständigen untrüglichen Anschauung bringen läßt." Weiterhin heißt es: „Mit der Vielspältigkeit der Gesetze hängt es zusammen, daß der bestehende Rechtszustand in einer Weise ein unsicherer geworden ist, wie es ohne Analogie in den preußischen Rechtsverhältnissen ist. Es liegt zutage eine Lückenhaftigkeit selbst der subsidiären Gesetze im Allgemeinen Landrecht; Unklarheit und Mangelhaftigkeit der provinziellen Gesetze, welche beispielsweise meistenteils nur die Unterhaltung bestehender, nicht auch die Anlage neuer Wege im Auge haben, schwankende Ausführung der Gesetze seitens der Verwaltungsbehörden, abweichende Rechtssprüche zum Teil auf der Entscheidung der Frage beruhend, ob ein bestimmtes Gesetz für

43 44 45

Ebenda, Nr. 393, Teil XVI, Bl. 9 f. Ebenda, Teil XV, Bl. 1. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 396.

II. Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen

287

publiziert oder fur aufgehoben zu erachten sei, endlich Ungewißheit über den Wert und die Geltung behaupteter Observanzen." 46

2. Die Diskussion um eine Wegeordnung für die Provinz Sachsen Nach der Ablehnung des Entwurfs einer allgemeinen preußischen Wegeordnung im Jahre 1837 erarbeitete die sächsische Bürokratie einen Entwurf für eine provinzielle Wegeordnung. Nach dessen Vorstellung auf dem siebenten Provinziallandtag im Jahre 1843 erhoben die Stände die gleichen Einwände, die sie schon sechs Jahre zuvor gegen die allgemeine Ordnung vorgebracht hatten.47 Dabei ging es erneut in erster Linie um die Unterhaltungspflicht der inneren Kommerzialstraßen. Auf dem neunten Provinziallandtag im Jahre 1851 forderten die Stände erneut den Erlaß einer Provinzialwegeordnung. Dabei gingen sie so weit, daß sie für den Fall weiterer Verzögerungen bzw. unüberwindbarer Meinungsunterschiede zumindest für das Herzogtum Magdeburg, das Fürstentum Halberstadt sowie die Grafschaft Mansfeld, in denen besonders schlechte und veraltete Wegeordnungen galten, für die kurzfristige Übernahme der braunschweigischen Wegeordnung vom 14. Mai 1840 plädierten. 48 Alternativ schlugen sie den Erlaß eines speziellen Chausseebaugesetzes vor, dessen Gültigkeit auf die sieben betreffenden Kreise zu beschränken war. Dieses sollte auch direkte Staatsinvestitionen vorsehen. König Friedrich Wilhelm IV. lehnte jedoch ab, da „in jenen Gegenden, wo die Hauptverkehrsstraßen bereits auf Kosten des Staats ausgebaut sind nur auf dem bisher verfolgten Wege durch die eigene Thätigkeit der Provinzen, Kreise und Gemeinden oder Vereine unter angemessener Unterstützung aus der Staatskasse zu erreichen, nicht aber durch Verwandlung jeder fiscalischen Verpflichtung zum gewöhnlichen Wegebau in eine Chausseebaupflicht zu bewirken sei." 49 Die Berliner Zentrale war also nicht bereit, wegen der fiskalischen Straßen in der Provinz Sachsen von ihrem seit 1834 vertretenen Grundsatz, Staatschausseen nur noch auf wichtigen Handelsverbindungen und fast ausschließlich in den Ostprovinzen zu bauen, abzurücken.

46

Zitiert in: E. Sax, Verkehrsmittel, S. 54, Anm. 2. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 58 f. 48 Ebenda, S. 61. 49 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 5. - Vgl. auch Verhandlungen des im Jahre 1852 versammelt gewesenen Provinzial landtags der Provinz Sachsen, Nebst dem Allerhöchsten Landtagsabschiede, d.d. Sanssouci, den 20. September 1854, Magdeburg 1854. Protocolle über die gehaltenen 14 Plenarsitzungen, S. 16. 47

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G. Der Staat als Gesetzgeber

In den fünfziger und sechziger Jahren waren verschiedene Wegeordnungsentwürfe Gegenstand von Landtagsverhandlungen, ohne daß diese Bemühungen zu einem Ergebnis geführt hätten.50 Mit der Übernahme der Staatschausseen in die provinzielle Zuständigkeit verstärkte sich die Notwendigkeit, provinzielle Vorschriften zum Chausseewesen zu erlassen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Arbeit an einer provinzialsächsischen Wegeordnung intensiviert, die dann im Jahre 1891 tatsächlich zustande kam und am 1. April 1892 in Kraft trat. 51

3. Die Wegegesetzgebung im Herzogtum Braunschweig Im Herzogtum Braunschweig galt um 1815 ein veraltetes, aber immerhin einheitliches Wegerecht. So ersetzte die allgemeine Wegeordnung vom 11. Mai 1840 eine Vorschrift aus dem Jahre 1704.52 Die neue Wegeordnung war in den dreißiger Jahren vom für Wegebausachen zuständigen Baurat Voigt sowie dem Landesdirektor Karl Friedrich Ferdinand Pini erarbeitet worden. 53 Sie gilt in der Literatur als die juristische Voraussetzung für den Aufbau eines äußerst dichten Kommunikationswegenetzes durch die Kommunen in den fünfziger und sechziger Jahren. 54 Die Wegeordnung beschäftigte sich ausdrücklich nicht mit den bereits chaussierten Staatsstraßen, sondern nur mit den Landstraßen und Kommunikationswegen. Zu deren Bau und Unterhaltung waren grundsätzlich die Anlieger verpflichtet. Der Staat leistete technische Hilfe. 55 Im Jahre 1849 wurde ein Gesetz über Abänderungen und Ergänzungen verschiedener Bestimmungen der Wegeordnung vom 11. Mai 1840 verabschie-

50 Vgl. u.a. Verhandlungen des im Jahre 1858 versammelt gewesenen Provinziallandtags der Provinz Sachsen, Nebst dem Allerhöchsten Landtagsabschiede, d.d. Berlin, den 19. October 1860, Merseburg 1860. Landtagsabschied vom 19.10.1860, S. 56. 51 GS 1891, S. 316. - Ähnliche Probleme mit dem uneinheitlichen Wegerecht bestanden auch in der preußischen Provinz Westfalen. Dort forderte man seit 1817 eine Provinzialwegeordnung, die aber letztendlich erst im Jahre 1905 erlassen wurde. Vgl. F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 97 ff.; C. Wienecke, Entwicklungskritische Betrachtung des deutschen Straßenwesens in den Jahren 1871-1945, Bielefeld 1955, S. 10. 52

F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973. Brinckmann, Landstraßen, S. 319. - Karl Friedrich Ferdinand Pini war von 1833 bis 1850 Kreisdirektor von Braunschweig. 54 Ebenda, S. 320. Vgl. auch Kapitel D.III.4. 55 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 36. - Im einzelnen dazu Abschnitt H. 53

II. Die Bemühungen um einheitliche Wegeordnungen

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det. 56 Hier ging es um die Anpassung der Wegegesetzgebung an die Stärkung der Gemeindeselbstverwaltung im Zuge der neuen Landgemeindeordnung. Das Änderungsgesetz ist übrigens auch deshalb als Revolutionsfolge zu betrachten, weil es auf Initiative der Ständeversammlung zustandekam, wobei deren Aktivität durch einen Antrag „mehrerer Gemeinden der Ämter Schöppenstedt und Schöningen" hervorgerufen worden war. 57 Im Jahre 1871 trat gleichzeitig mit der erneuten Änderung der Kreis- und Gemeindeordnung eine neue Wegeordnung in Kraft. 58 Dies war schon deshalb notwendig, weil die Kreise zwar in Selbstverwaltungskörperschaften umgewandelt wurden, die Kreisordnung jedoch keine Bestimmungen über die Aufbringung der Wegebaukosten enthielt und in diesem Punkt lediglich auf die Wegeordnung verwies. 59 Die neue Wegeordnung berücksichtigte nun auch die Chausseen und erfuhr erst 1899 einige Änderungen. 60

4. Die Bedeutung der Wegegesetzgebung für den Chausseebau Sowohl im Königreich Preußen als auch im Herzogtum Braunschweig waren die Vorschriften über den Chausseebau von der Wegegesetzgebung abgekoppelt. Dies läßt sich zum einen durch die fortdauernde Gültigkeit verschiedener Wegeordnungen aus dem 18. Jahrhundert erklären, die noch gar keine Vorschriften über Chausseen enthalten konnten. In Preußen schrieb das Allgemeine Landrecht von 1794 dieses Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich fest, das für die Wegegesetzgebung trotz aller anderen nachfolgenden Gesellschaftsreformen nicht mehr verändert wurde. Umgekehrt war es auch diesem Prinzip geschuldet, daß Verordnungen über den Chausseebau in separater Form und ohne Bezug auf die regional unterschiedlichen Wegegesetze erlassen wurden. Die einheitliche Regelung der Anlegung und Unterhaltung von Kunststraßen vom 6. April 1834 konnte also nur gesamtpreußische Gültigkeit erhalten, weil sie unabhängig von der Wegegesetzgebung entstand.61 Trotzdem übte die Existenz bzw. Nichtexistenz von Wegeordnungen Einfluß auf den Chausseebau aus. So förderte die braunschweigische Wegeordnung von 1840 die Chaussierung der Kommunikationswege.62 In der Provinz Sach56 57 58 59 60 61 62

Nds STA Wolfenbüttel, 125 Neu, Nr. 268. Ebenda. W. Diederichs, 125 Jahre, S. 40. F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 29. H. von Frankenberg, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 120 ff. Über den Chausseebau, 1848, S. 176. F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35 f.

19 Uwe Müller

290

G. Der Staat als Gesetzgeber

sen, speziell im Regierungsbezirk Merseburg, verringerte hingegen das Ausbleiben einer allgemeinen Regelung zu den fiskalischen Straßen das örtliche Engagement für Nichtstaatschausseebauten. Insgesamt dürfte sich angesichts des im preußischen Verwaltungsrecht des Wegewesen herrschenden „Chaos" 63 die Trennung von Wege- und Chausseegesetzgebung auf die Entwicklung des Chausseenetzes positiv ausgewirkt haben.

I I I . Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen Die Klassifizierung der Straßen bildet „die Grundlage für die Feststellung von Bau- und Unterhaltungspflichten, Gebrauchsrechten, für die Regelung der Zuständigkeit der Verwaltung und der Finanzierungsmodalitäten im Straßenwesen."64 Es besteht daher ein direkter Zusammenhang zwischen der Klassifizierung der Wege und Straßen, der vertikalen Verteilung von Verwaltungskompetenzen sowie der Instandsetzungs- und Unterhaltungspflicht. 65 Aus diesem Grunde bildeten Unklarheiten über die Klassifizierung sowie Bestrebungen, diese zu ändern, den wichtigsten Streitpunkt über das Straßen- bzw. Wegerecht, wobei die Auseinandersetzungen in der Regel zwischen der (zentral-) staatlichen Verwaltung und den Gebietskörperschaften, also Kreisen und Gemeinden, ausgetragen wurden. 66 Ein typisches Problem stellte die Kontroverse um die Umwandlung der fiskalischen Straßen in Kreischausseen dar. Mit der Straßenklassifizierung wird anders als bei der nach modernen Kriterien vorgenommenen Unterscheidung der verschiedenen Infrastrukturträger eine zeitgenössische Systematik reflektiert. Sie kann daher der Trägerstruktur entsprechen, reflektiert aber mitunter auch nur unterschiedliche Verwaltungskompetenzen, die keine eigenständige Trägerschaft bedeuteten. Eine Betrachtung der historisch entstandenen und in den einzelnen Gesetzeswerken festgehaltenen Straßenklasssifizierungen offenbart außerdem, daß sich diese nicht

63

E. Sax, Verkehrsmittel, S. 54. J. Salzwedel, Wege, S. 213. 65 Ebenda, S. 210; R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 353. 66 B. Piepers / H. Steinborn, Straßenwesen, S. 104 f. - Der politische Stellenwert dieser Frage wird unter anderem durch eine Auseinandersetzung zwischen dem provinzialsächsischen Landtag und der preußischen Regierung im Jahre 1836 deutlich. Dabei ging es sowohl um konkrete Klassifizierungsänderungen als auch um die Frage, ob für diese prinzipiell die ständische Zustimmung oder zumindest ein ständisches Gutachten notwendig sei. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil III, Bl. 3 f. und Teil IV, Bl. 5. 64

III. Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen

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nur an Eigentum, Bau- und Unterhaltungspflicht oder administrativen Zuständigkeiten orientierten. Die Stellung im Verkehrsnetz, der technische Zustand sowie der Gebrauch konnten ebenfalls Klassifizierungskriterien darstellen. In der Straßenbauliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts sind Klassifizierungen nach der „Gestalt", also dem technischen Ausbauzustand, der „Absicht", also der Funktion als Dorfweg bzw. überregionale Straße, dem inneren Bau, dem Eigentümer sowie dem Gebrauch, beispielsweise als Spazier-, Jagd- oder Festungswege, vorgenommen worden. 67 Im 19. Jahrhundert sind zwei Trends zu beobachten, die wichtige Teilprozesse der Straßenrechtsmodernisierung darstellten. Erstens wurde die Klassifizierung allein auf die verschiedenen Verwaltungsebenen bzw. Bau- und Unterhaltungsträger ausgerichtet, wobei deren vertikale Struktur mit der jeweiligen Funktion der Straßen im Verkehrsnetz übereinstimmen sollte. 68 In diesem Zusammenhang kam es zweitens zu einer Vermehrung der Zuständigkeitsebenen. Bei der Anzahl der Verwaltungsstufen unterschieden sich natürlich die größeren und mittleren von den Kleinstaaten. Am Ende des 18. Jahrhunderts herrschten noch relativ grobe Klassifizierungen vor. Das preußische Landrecht von 1794 unterschied lediglich zwischen Land- und Heerstraßen, die durch den Staat zu unterhalten waren, und Dorfwegen, die durch die Gemeindemitglieder unterhalten wurden. 69 Parallel dazu gab es eine Klassifizierung nach Eigentümern, die auch Privatwege kannte. Allerdings entstand daraus in der Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts keine Beschränkung des allgemeinen Nutzungsrechts. Problematischer war hingegen das Fehlen einer Mittelstufe zwischen Landstraße und Dorfweg. 70 Das für die preußische Provinz Sachsen wichtigere sächsische Straßenbaumandat von 1781 weist eine deutlichere Kopplung zwischen Unterhaltungspflicht und Stellung im Verkehrsnetz auf. Man bestimmte zum einen „hohe Heer-, Stapel- und Landstraßen" sowie „innere Commercialstraßen", die dem Handels-, Post- und Fernverkehr dienten und vom Staat zu unterhalten waren. Hinzu kamen „Communications- und Nachbarwege" für den Zubringer- und Nahverkehr. 71 Wesentlich unpräziser war die Klassifizierung in der braunschweigischen Wegeordnung von 1704, die nur eine nicht näher begründete Unterscheidung

67

Chr. F. von Lüder, Vollständiger Inbegriff, S. 9 f. Diesen Trend konstatierte bereits: E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 135. In der neueren Literatur explizit nur noch: U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 74 ff. 69 J. Salzwedel, Wege, S. 210. Vgl. auch Kapitel C.V. 70 J. Salzwedel, Wege, S. 217 f. 71 Ebenda, S. 211 und 215. 68

292

G. Der Staat als Gesetzgeber

zwischen Heerstraßen und Wegen enthielt. 72 Das „Edikt vom 14. Juli 1742, wie es künftig wegen der Verrichtung der Fuhren und Handdienste bei Reparirung der Wege im Herzogthum Magdeburg zu halten", und das Wegebesserungsedikt fiir das Fürstentum Halberstadt von 1743 handelten von „Land-, Heer- und Poststraßen" und subsumierten diese und andere als „Wege". 73 Die für das Fürstentum Halberstadt 1769 erlassene „Landstraßen- und Wegeordnung" kam dann der sächsischen Klassifizierung von 1781 sehr nahe. 74 In allen Gebieten wurden die Chausseen neben die verschiedenen Wegeklassen gestellt. Im Allgemeinen Landrecht bezeichnete man sie als Dammstraßen und unterschied sie somit aufgrund ihrer technischen Beschaffenheit. Nach einer sächsischen Definition aus dem Jahre 1807 war eine Chaussee „ein erhoben angelegter, mit Seitengräben, Wölbung und Böschung versehener und in der vorgeschriebenen Breite für das Fuhrwerk hergestellter Damm, er möge übrigens von Steinen, Sand oder Kies gebaut sein." 75 In dem preußischen Wegeordnungsentwurf von 1865 wird die Chaussee als Dammstraße mit Packlage, Baumbepflanzung und Heberecht bezeichnet. Hier gibt es eine Vermischung zwischen technischen und rechtlichen Bestimmungsmerkmalen. Letztlich war die Chaussee in erster Linie eine rechtliche Kategorie. In Preußen wurde in einer Anlage zum Gesetz den Verkehr auf den Kunststraßen betreffend vom 17. März 1839 eine Liste von Straßen zusammengestellt, „auf denen der Gebrauch von Radfelgen unter 4 Zoll Breite für alles gewerbsmäßig betriebene Frachtfuhrwerk verboten ist." 76 Am 26. November 1840 genehmigte der preußische König eine Liste von 190 Straßen, auf die die Verordnung vom 16. Juni 1838 über die Erhebung von Kommunikationsabgaben anzuwenden war. 77 Damit bestanden zwei weitgehend identische Übersichten über die „Staatschausseen", auf die alle speziellen Chausseegesetze angewendet wurden und die daher nicht den provinziellen Wegeordnungen unterlagen. Über die Erweiterung dieses Chausseeverzeichnisses entschied das Finanzministerium bzw. ab 1876 das jeweilige Oberpräsidium. 78 Neben den Staatschausseen waren im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weitere Kunststraßen entstanden, die vor allem hinsichtlich ihrer technischen Be-

72

S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 27. A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 2, S. 125 f. 74 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 47. 75 A. Pätzold, Entwicklung des sächsischen Straßennetzes, S. 79 f. 76 Vgl. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 332 ff. - Zu den technischen Bestimmungen für die Chausseen: Kapitel G.VI. 77 Vgl. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 492 ff. - Zu den Gesetzen über die Chausseegelderhebung: Kapitel I.IV. 78 E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 106 f. 73

III. Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen

293

schaffenheit gesamtpreußischen Gesetzen unterlagen. Die Einteilung in Provinzial· und Bezirksstraßen, Kreischausseen, Gemeindechausseen, Aktienchausseen, Bergwerkschausseen und Privatchausseen richtete sich nach der Unterhaltungspflicht. 79 So heißt es in einem Artikel aus dem Jahre 1847: „Zu den Staatsstraßen werden alle diejenigen Chausseen gerechnet, deren Unterhaltung dem Chaussee-Unterhaltungsfonds der Abtheilung des Kgl. Finanzministeriums fur die Handels-, Gewerbe- und Bauverwaltung obliegt. Eine zweite Klasse bilden die Chausseen, welche unter Mitwirkung der Provinzialstände aus Provinzial-Fonds unterhalten werden, und zur dritten Klasse gehören alle übrigen Chausseen, auf welchen mit der Verpflichtung der kunstmäßigen Unterhaltung von den Eigentümern ein Chausseegeld erhoben wird." 8 0 In dieser Definition taucht also neben der Unterhaltungspflicht die Chausseegelderhebung als Unterscheidungskriterium auf. Gleichzeitig spielte auch die Funktion im Verkehrsnetz eine wichtige Rolle, denn im Staatseigentum befindliche Forstoder Domänenstraßen wurden innerhalb der dritten Klasse und nicht etwa als Staatsstraßen geführt. 81 Im Gegensatz zu den Chausseen änderten sich die Wegeklassifizierungen in den preußischen Provinzen wegen der gescheiterten Versuche, eine allgemeine Wegeordnung herzustellen, nicht. Dadurch unterblieb sowohl eine Neuordnung der Unterhaltungspflichten als auch eine stärker funktionsorienterte Wegeklassifizierung. 82 Gerade die sächsischen Stände und Teile der dortigen Beamtenschaft blockierten eine neue Klassifizierung, da sie befürchteten, unchaussierte fiskalische Landstraßen würden dabei in Kreisstraßen umgewandelt.83 In dieser Situation erwies es sich geradezu als Glücksfall, daß die Chausseen nicht vom traditionellen Wegerecht erfaßt wurden. Daher konnten in Preußen mit der Installierung der Kreischausseen seit den 1840er Jahren, quasi zusätzlich zum bestehenden Wegerecht, eine dritte Straßenklasse eingeführt werden. 84 Kreischausseen waren Straßen, die nicht von gesamtstaatlichem Interesse waren, deren Ausbau und Unterhaltung aber auch nicht einzelnen Gemeinden zugemutet werden konnte. Dadurch gelang es auch, das immer wieder Auseinandersetzungen hervorrufende Prinzip der Nachbarschaftshilfe, das in den Wegeordnungen meist nur vage kodifiziert worden war, zurückzudrängen. Beides

79 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 31; J. Salzwedel, Wege, S. 212 f. Bezirksstraßenfonds wurden in den Territorien gebildet, in denen schon vor 1815 Wegebaufonds existierten. Vgl. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 14. Vgl. auch Abschnitt F. 80 Über den Chausseebau, 1847, S. 95. 81 Ebenda, S. 107. 82 Vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep.80, Drucksachen, Nr. 395, Bl. 55 ff. 83 Vgl. Ebenda, Nr. 393, Teil III, Bl. 18. 84 Vgl. Kapitel F.III.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

entsprach den in mehreren Referentenentwürfen für ein allgemeines Wegesetz geäußerten Intentionen.85 Allerdings hatte das traditionelle Nachbarschaftsprinzip der Tatsache Rechnung getragen, daß Bau und Unterhaltung verschiedener Straßen eben nicht nur im Interesse einer Gemeinde lagen. Der Kreis als übergeordnete Verwaltungseinheit mußte in solchen Fällen jedoch oft inaktiv bleiben, denn die Verordnung wegen der Befugnis der Kreisstände von 1841 enthielt ja die Bestimmung, daß diese nur für den gesamten Kreis relevante Projekte beschließen durften. 86 In der Praxis entwickelten sich seit den fünfziger Jahren Formen, die vom Bau einer Kreischaussee besonders begünstigten Gemeinden, aber auch bestimmte Unternehmer, stärker an der Baufinanzierung zu beteiligen.87 Eine entsprechende Erweiterung der Chausseeklassen durch die Einführung der „Interessentenchausseen" erfolgte aber erst durch die Kreisordnung von 1872. Im Paragraph 13 der Kreisordnung hieß es dazu: „Sofern es sich um Kreiseinrichtungen handelt, welche in besonders hervorragendem oder in besonders geringem Maße einzelnen Kreisteilen zugute kommen, kann der Kreistag beschließen, für die Kreisangehörigen dieser Kreisteile eine nach Quoten der Kreisabgaben zu bemessende Mehr- oder Minderbelastung eintreten zu lassen."88 Schon in den vierziger Jahren war die Notwendigkeit einer solchen Regelung erkannt worden. Beispielsweise führte der provinzialsächsische Oberpräsident von Bonin das Scheitern eines Chausseebauprojektes von Magdeburg nach Zerbst im Jahre 1846 vor allem darauf zurück, daß sich kein geeigneter Träger finden würde. Der Kreis Jerichow I war so groß, daß das Projekt nicht im Interesse aller Eingesessenen liegen konnte. Die betreffende Gegend war wiederum so arm, daß ein Aktienchausseebau nicht zustande kam. 89 Dieses Beispiel war schon zu dieser Zeit kein Einzelfall. Im benachbarten Königreich Hannover wurden wegen ähnlicher Probleme im Jahre 1849 Wegeverbände gegründet, denn es erschien „unbedingt geboten, Verbände ins Leben zu rufen, welche kräftig genug waren, die Neubau- und Unterhaltungslast derjenigen Straßen zu tragen, die in der Mitte zwischen den Chausseen und Gemeindewegen standen."90 Diese Aufgabe konnte eben von relativ großflächigen Kreisen in Preußen nicht optimal wahrgenommen werden, worauf man erst 1872 rea-

85

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil XVI, Bl. 3 ff. und 9. Vgl. Kapitel F.III. 87 Vgl. Kapitel I.III. 88 A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 333. - Zu den später entstandenen nicht unmittelbar gewinnorientierten „Interessentenbahnen 44: D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 25. 89 GStA PK Berlin, I. HA, Rep.93 B, Nr. 3467, Bl. 207r. 90 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 77. 86

III. Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen

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gierte und in der neuen Kreisordnung eine Flexibilisierung der Lastenverteilung ermöglichte. Gleichwohl zeigt die Diskussion, daß auch den Zeitgenossen bewußt war, daß der Kollektivgutcharakter der Infrastruktur nur bedeutet, daß niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann, sie jedoch nicht jedem in gleichem Maße nutzt. Die Interessentenchaussee stellte somit einen wichtigen Schritt zur Behandlung bestimmter Straßen als ein öffentliches Gut dar, das nicht nur einem bestimmten Nutzerkreis überdurchschnittlichen Nutzen bringt, sondern auch von diesem als organisierter Interessenverband bereitgestellt wird. 91 Im Herzogtum Braunschweig entwickelte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge des Chausseebaus und gewissermaßen auf dem Verwaltungswege eine vergleichsweise einfache, zweistufige Straßenklassifizierung. Diese erfuhr erst durch die Weg^ordnung von 1840 eine juristische Kodifizierung. Hier wurde zwischen Heer- und Landstraßen sowie Kommunikationswegen unterschieden. Das Kriterium war die Unterhaltungspflicht. Diese lag bei den bis dahin errichteten Chausseen, die ja alle Heer- und den größten Teil der Landstraßen ausmachten, beim Staat. Als Heerstraßen wurden „schlechthin solche aufgenommen, welche principaliter von Seiten des Staats unterhalten werden sollen; auf die merkantilistische Geltung derselben ist nicht besonders reflectiert." 92 In der Wegeordnung wurden also lediglich die existierenden Verhältnisse festgeschrieben. Aus diesem Grunde enthielt das in der Wegeordnung aufgestellte Verzeichnis von 51 Heer- und Landstraßen einige Straßenzüge, die von ihrer Bedeutung her Kommunikationswegen entsprachen.93 Der braunschweigische Staat hatte eben bis dahin einen relativ umfangreichen Chausseebau betrieben und nicht nur überregional wichtige Straßen ausgebaut.94 Der Eisenbahnbau bewirkte seit den vierziger Jahren eine Funktionsveränderung zahlreicher Straßen. 95 Im Jahre 1849 wies die Baudirektion daraufhin, „daß die im Jahre 1840 vorgenommene Classificirung der Straßen den gegenwärtigen Verhältnissen kaum noch entsprechen möchte. ... Es sind im hiesigen Lande seitdem Chausseeanlagen nothwendig geworden, wo früher keine bestanden; die alten Heerstraßen haben dagegen fast alle Bedeutung für den großen Handel verloren und dienen hauptsächlich nur noch dem inländischen Verkehre." 96 Der für das Chausseewesen zuständige Baurat Voigt schlug daher vor, im Rahmen einer Neuklassifizierung die Zahl der Heerstraßen zu reduzieren, 91 Die Infrastrukturtheorie genschaften". Vgl. U. Scheele, 92 Nds STA Wolfenbüttel, 93 Vgl. Anlage 43. 94 Vgl. Kapitel D.III. 95 Vgl. Kapitel D.III.3. 96 Nds STA Wolfenbüttel,

spricht in diesem Zusammenhang von „KlubkollektiveiPrivatisierung, S. 96. 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477.

12 Neu Fb. 9, Nr. 3477.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

also einige auf die Gemeinden zu übertragen. Als Gegenleistung sollten die restlichen 18 Heerstraßen, die „nach der alten Bedeutung des Ausdrucks ... die Verbindungslinien zwischen Haupthandelspuncten oder zwischen HauptKnotenpuncten der großen Handelsstraßen" darstellten, allein vom Staat, also ohne Inanspruchnahme von Hand- und Spanndiensten unterhalten werden. 97 Die Bestrebungen der Herzoglichen Baudirektion, die Klassifizierung nach funktionalen Gesichtspunkten umzugestalten, blieben jedoch erfolglos. Amtsräte und Gemeindeorgane, die seit 1849 Mitbestimmungsrechte bei Veränderungen von Straßenklassifizierungen erreicht hatten, wehrten sich gegen die Übernahme von Heer- oder Landstraßen, um ihre eigenen Wegebaulasten nicht zu vergrößern. 98 Daher gehörten noch im Jahre 1863 zahlreiche Straßen von nur lokaler Bedeutung zur Kategorie „Heerstraßen und sonstige auf Kosten des Staates zu unterhaltende Wege." 99 Während nämlich bei der Chaussierung der Kommunikationswege und Dorfstraßen das landesherrliche Baupersonal lediglich die bauvorbereitenden Maßnahmen sowie die technische Leitung kostenlos übernahm, trug der Staat bei der Befestigung der Landstraßen auch den größten Teil der Arbeitskosten. Im Jahre 1867 beantragte die Landes Versammlung sogar, Kommunikationswege, die zu Eisenbahnen führten, zur Entlastung der Gemeinden in Landstraßen umzuwandeln. 100 Diesem Ansinnen wurde jedoch nicht gefolgt, da mit der Wegeordnung von 1871 ohnehin eine Neuordnung der Trägerschaft und damit auch der Straßenklassifizierung vorzunehmen war. 101 Ein Vergleich der Straßenklassifizierungen im Herzogtum Braunschweig und in der preußischen Provinz Sachsen zeigt zunächst eine Gemeinsamkeit. In beiden Staaten wurden bis in die siebziger Jahre bzw. sogar bis in die neunziger Jahre unbefestigte Wege und Kunststraßen unabhängig von eventuellen Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Verkehrsbedeutung getrennt und unterlagen daher unterschiedlichen Gesetzen. Dies hat sich für den Chausseebau aufgrund der in den traditionellen Wegerechten enthaltenen starken Beharrungskräfte positiv ausgewirkt. Die Provinz Sachsen ging als größeres Territorium sowohl bei den Wegen als auch bei den Chausseen früher zu einer mehrstufigen Klassifizierung über, wodurch auch die Konvergenz zwischen der Zuordnung einer Straße innerhalb der vertikalen Verwaltungsstruktur und ihrer Bedeutung im Verkehrsnetz ge-

97

Ebenda. Vgl. auch Kapitel G.IV. Nds STA Wolfenbüttel, 125 Neu, Nr. 268. 99 Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477. 100 Ebenda. 101 Vgl. Kapitel F.VI. 98

III. Die Klassifizierung der unbefestigten Straßen und der Chausseen

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fördert wurde. 102 Im Bereich des Straßenwesens war also die Dezentralisierung der Verwaltung, aber auch das Maß der finanziellen Eigenständigkeit im großen Preußen weiter vorangeschritten als im kleinen Braunschweig. 103 Generell spielte der Kreis im preußischen Straßenwesen eine größere Rolle, was dem allgemein feststellbaren Ost-West-Gefälle in der Bedeutung dieser Verwaltungseinheit entspricht. 104 Im konkreten Fall haben allerdings die braunschweigischen Gemeinden diesen Mangel an dezentraler Gestaltungskraft mehr als wettgemacht. Da der braunschweigische Staat mit dem Chausseebau früher als der preußische begonnen hatte und erst in den vierziger Jahren, also etwas später als Preußen, anfing, seine Eigentätigkeit zu begrenzen, entstand auch eine andere Verteilung zwischen Staatsstraßen einerseits sowie Kreisstraßen und chaussierten Kommunikationswegen andererseits. Daraus erwuchsen praktische Probleme für die grenzüberschreitende Ausgestaltung des Straßennetzes, da braunschweigische Staatsstraßen im „Ausland" oft nur als Kreisstraßen fortgesetzt wurden. Dabei handelte es sich allerdings um ein zwischen den deutschen Bundesstaaten häufig auftretendes Problem. Generell neigten bei der verwaltungsmäßigen Gliederung des Landstraßennetzes die kleineren Länder stärker als die größeren Staaten dazu, Chausseen als Staatstraßen zu bauen und zu unterhalten, die nach ihrer Verkehrsaufgabe eher der Kategorie der Kreisstraßen zuzurechnen wären. Da auch die Wegeordnungen von 1871 und 1899 keine Übertragung von braunschweigischen Staatstraßen mit nur noch sekundärer Bedeutung zur Folge hatten, wirkten diese Klassifizierungsunterschiede bis in unser Jahrhundert hinein. 105

102 In ähnlicher Weise unterschieden sich die Straßenklassifizierungen zwischen den beiden Mittelstaaten Baden und Württemberg. Als das kleinere Baden im Jahre 1864 mit der Einfuhrung von Kreisstraßen zu einem dreistufigen System überging, existierten in dem größeren Württemberg schon längere Zeit neben Staats- und Gemeindestraßen auch von den Amtskörperschaften gebaute Chausseen. Vgl. L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 66 ff. 103 Vgl. auch Kapitel B.I. 104 G.Chr. von Unruh, Der Kreis im 19. Jahrhundert, S. 96. 105 Beispiele fur die Wirkung bis in die zwanziger Jahre hinein liefert: K. Brüning, Niedersachsen, Bd. 2, S. 142.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

IV. Die Bau- und Unterhaltungspflichten der Adjazenten 1. Die Unterhaltung der Gemeindewege und die Lastenverteilung innerhalb der Gemeinden Die Regelung der Bau- und Unterhaltungspflicht stellt den zentralen Punkt jeder Wegesetzgebung dar. Gleichwohl war nichts so umstritten und gleichzeitig regional unterschiedlich geregelt wie diese Lastenverteilung. Eine wichtige Rolle spielte generell das im traditionellen Wegerecht verankerte „Anliegerprinzip", nach dem die Bau- und Unterhaltungspflicht der angrenzenden Wege eine auf dem Grundstück liegende Reallast darstellte. 106 Die entsprechenden Regelungen in den Edikten von 1742 bzw. 1743 galten in den altpreußischen Gebieten auch nach 1815 fort. Der oft als Adjazent bezeichnete Anlieger konnte sowohl ein Individuum, also Gemeindebauer, oder eine Gemeinde sein. Für das altpreußische Gebiet ist wohl die aus dem Kreis Salzwedel überlieferte Praxis als typisch anzusehen. Hier mußte , jede Gemeinde und jedes Rittergut oder Dominium oder Forst auf seiner Feldmark die Wege und Brücken" unterhalten. Ein Bericht aus dem Jahre 1846 sagt aber auch aus, „daß in jeder Gemeinde sehr verschiedene Gebräuche herrschen, daß aber als Regel fast angenommen werden kann, daß die Wege selbst mit Ausnahme der Brücken von den Adjazenten erhalten werden." 107 Im ehemals kursächsischen Gebiet hatte das Straßenbaumandat von 1781 ausdrücklich die Kommunen und nicht die einzelnen Anlieger verpflichtet. 108 Die Unterschiede zwischen in juristischem Sinne individueller und gemeindlicher Pflicht verringerten sich in der Praxis dadurch, daß die meisten Wegebauarbeiten schon aus arbeitsorganisatorischen Gründen, aber auch wegen der gerechten Lastenverteilung von den Gemeinden durchgeführt wurden. 109 Die Gemeinden nahmen wiederum zur Realisierung dieser Verpflichtung in der Regel Dienste der Gemeindemitglieder in Anspruch. Die Erhebung von Gemeindesteuern zu diesem Zweck blieb während des Untersuchungszeitraums in der preußischen Provinz Sachsen die Ausnahme. Dementsprechend wurden die Gemeindewege im Kreis Stendal in den sechziger Jahren von den Gemeinden selbst unterhalten und nur ganz selten „in Entreprise gegeben".110 Zur gleichen Zeit führten im Kreis Worbis „vorzugsweise ... Frauen und Kinder

106

J. Salzwedel, Wege, S. 214 ff. Vgl. auch Kapitel C.IV. LHA SA Magdeburg, Rep. C 28 I d, Nr. 85, Bl. 5. 108 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 51 ff. 109 Beim Übergang vom Wegebau als Anrainerpflicht zur Gemeindepflicht handelte es sich im übrigen um eine gesamteuropäische Tendenz, die daher nicht als Spezifikum des deutschen Wegerechts anzusehen ist. M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 122 f. 1,0 LHA SA Magdeburg, Rep. C 30 Stendal, Tit. XL, Nr. 5, Bl. 59. 107

IV. Die Bau- und Unterhaltungspflichten der Adjazenten

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in durchaus ungenügender Weise" die Unterhaltungsarbeiten an den Gemeindewegen aus. 111 Mit der Modernisierung des Steuersystems, insbesondere der Einführung der Grundsteuer, ergab sich die Möglichkeit, die Beiträge zum Landstraßenbau und zu Kommunalwegebauten innerhalb der Gemeinde gerechter zu verteilen. Ein Gesetzentwurf des Landwirtschaftlichen Vereins Halberstadt aus dem Jahre 1852, nach dem generell die Wegebaulasten zwischen den Gemeinden und auch innerhalb der Gemeinden nach dem Verhältnis der zu entrichtenden Staatssteuern verteilt werden sollte, wurde noch abgelehnt.112 Im braunschweigischen Amt Thedinghausen orientierten sich hingegen die Beiträge bereits 1858 am Grundsteueraufkommen. 113 Die braunschweigische Wegeordnung von 1871 legte dann fest, daß zur Herstellung und Unterhaltung der Dorfwege „sämmtliche Einwohner und Feldmarksinteressenten nach Maßgabe des von allen Steuergegenständen innerhalb des Gemeindebezirks zu berechnenden Grundsteuercapitals" beizutragen hatten. 114 Das gleiche Gesetz sah auch die Heranziehung von Mietern zu den Wegebaukosten vor und berücksichtigte so die veränderten ländlichen Wohnstrukturen. 115 Im Zusammenhang mit dem Chausseebau ist allerdings weniger die Lastenverteilung innerhalb der Gemeinden als vielmehr das jeweils unterschiedliche Ausmaß der Adjazentenpflichten bei Kommunikationswegen, Landstraßen und schließlich bei Chausseen von Bedeutung.

2. Die Beiträge der Anlieger zur Unterhaltung der fiskalischen Landstraßen sowie zum Bau und zur Unterhaltung der Staatschausseen in der preußischen Provinz Sachsen Die im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt zur Unterhaltung der Land- bzw. fiskalischen Straßen aufzubringenden ordinairen Dienste waren nach einem Patent von 1816 entsprechend der Edikte von 1742 und 1743 weiterhin zu leisten. Der Hauptunterschied zu den Diensten auf den Gemeindewegen lag in der Vergütung der Leistungen, wobei auch deren Sätze von Zeit zu Zeit erhöht wurden. In der „Magdeburger Gegend" bestand beispielsweise im Jahre 1846 eine Straßenbaupflicht aller Bauern, deren Hof nicht

111 1,2 113 114 115

Statistische Darstellung des Kreises Worbis, S. 111. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 15. Nds STA Wolfenbüttel, 76 Neu Fb. 2, Nr. 3999. R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136. W. Strauß, Gemeindeverwaltung, Anhang, S. 5.

300

G. Der Staat als Gesetzgeber

weiter als 1,5 Meilen von der Straße entfernt lag. 116 Sie wurden für die Dienstleistung mit einer Zahlung von 15 Silbergroschen pro Tag für Spanndienste mit 4 Pferden bzw. von 3 Silbergroschen und 9 Pfennigen für einen Handdiensttag entschädigt. Die Rittergüter waren von der Wegebaupflicht befreit. Im Regierungsbezirk Merseburg waren die entsprechend dem Straßenbaumandat von 1781 zu leistenden Dienste insgesamt wesentlich geringer. Allerdings existierten schon von Amt zu Amt beträchtliche Unterschiede. Die Spannweite reichte von der völligen Dienstfreiheit über die Zahlung von Äquivalentgeldern bis zur Leistung von Diensten ohne Möglichkeit des Geldersatzes.117 Im Zuge der allgemeinen Dienstregulierung kamen natürlich Forderungen auf, auch die meist ungeliebten Straßenbaufronen abzuschaffen. 118 Allerdings betrafen die preußischen Reformen der Jahre nach 1807 zunächst nur privatrechtliche Beziehungen, während die Straßenbaudienste eine Verpflichtung gegenüber dem Staat darstellten. Zwar räumte dieser in Einzelfällen die Möglichkeit zur freiwilligen Ablösung ein. 119 Aber die entsprechenden Prozesse wurden schon dadurch verzögert, daß nur komplette Orte oder sogar Ämter daran teilnehmen konnten. Außerdem wurden viele Dienstpflichtige von der das Zehnfache des Jahresbetrages umfassenden Entschädigungszahlung abgeschreckt. 120 Wenn sie von einer baldigen Chaussierung der Straße ausgingen, zogen sie häufig die dafür zu leistenden Beiträge einer Entschädigungszahlung vor, zumal damit eine deutliche Zustandsverbesserung der Straße einherging und die Unterhaltungspflicht für Chausseen beim Staat lag. 121 Andererseits hatte auch der Staat kein Interesse an der Dienstablösung, da er weder institutionell noch finanziell in der Lage war, den Wegfall des in den genossenschaftlichen Verbänden organisierten Wegebaus zu kompensieren. 122 Aus diesem Grunde waren nicht nur im Kreis Merseburg in den 1860er Jahren auf den fiskalischen Straßen „Straßenfrohnen" zu leisten.123 Noch bis zur Wegeordnung von 1891 war der Staat im Regierungsbezirk Merseburg für den Bau und die Unterhaltung unchaussierter Straßen zweiter Ordnung verantwortlich und nahm dafür ordinaire Dienste bzw. Äquivalentgelder der Anlieger in Anspruch. Diese fiskalischen Straßen wiesen dementsprechend einen äußerst

116 117 1,8 119 120 121 122 m

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 5. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 55 f. Ebenda, S. 54 f. Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 85 f. Ebenda, S. 56. R. Koselleck, Preußen, S. 140. Statistische Darstellung des Kreises Merseburg.

IV. Die Bau- und Unterhaltungspflichten der Adjazenten

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schlechten Zustand auf. Erst 1892 mit ihrer Übertragung an die Provinz bzw. die Kreise erlosch die Dienstpflicht der Anlieger. 124 Eine andere Entwicklung nahmen die extraordinairen Dienste. Diese waren am Ende des 18. Jahrhunderts vielfach in die Zahlung der Surrogatgelder umgewandelt worden. 125 Eine KO vom 2. Dezember 1817 bestätigte auch in diesem Punkt die fortdauernde Gültigkeit der aus dem Straßenbaumandat von 1781 herrührenden Bestimmungen. Mit der Steuerreform der sechziger Jahre wurden die Surrogatgelder aufgehoben und in die Grundsteuererhebung integriert. Damit verblieb die Wegebaulast bei den Adjazenten, während der allgemeine Steuerzahler und der konkrete Straßennutzer nicht herangezogen wurden. Eine Betrachtung der verteilungspolitischen Wirkungen von Bau und Unterhaltung des Straßenwesens darf also nicht nur die Finanzierung aus den Haushalten des Staates und der Gebietskörperschaften sowie die Nutzungsgebühren berücksichtigen. 126 Die Pflichten der Anlieger bei Umwandlung von fiskalischen Straßen in Staatschausseen wurden durch das anläßlich der ersten Chausseebauten erlassene Publikandum vom 13. November 1787 geregelt. Sie durften die gewöhnlichen Straßenbaulasten nicht übersteigen, so daß hier der Staat einen höheren Anteil zu übernehmen hatte. Einer Bitte des fünften Provinziallandtages entsprechend hob die KO vom 22. Juni 1839 zum 1. Januar 1840 die Dienste zur Chausseeunterhaltung auf. 127 Beim Chausseeôaw mußten allerdings noch 1890 Hand- und Spanndienste geleistet werden. 128 Trotzdem war die Chaussierung immer mit einer Verlagerung der Baulasten zuungunsten des Staates verbunden. Diese Rechtslage verminderte das Interesse der Administration an einer Chaussierung. Sie trug auch maßgeblich dazu bei, daß der Staat kein Interesse an einer Chaussierung der fiskalischen Straßen hatte. Schließlich mußte er in diesem Fall nicht nur den größten Teil der Baukosten aufbringen. Er hätte gleichzeitig auf die Unterhaltungsdienste der Anlieger verzichtet. Die Vielschichtigkeit dieses Problems verdeutlicht der Streit um den Bau einer Straße von Magdeburg ins anhaltinische Zerbst. Der sechste Provinziallandtag hatte im Jahre 1841 in einer Petition um die Chaussierung der Straße gebeten, was allerdings im Landtagsabschied vom 30. Dezember 1843 abge-

124

A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 73 und 82 ff. Vgl. Kapitel C.IV. 126 Vgl. auch Abschnitt I. 127 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 259. - Vgl. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 53. 128 A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 47. - Vgl. auch E. Sax, Verkehrsmittel, S. 73. 125

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G. Der Staat als Gesetzgeber

lehnt wurde. 129 In einem Schreiben des Rittergutsbesitzers Sperling aus Hohenziatz an Staatsminister zu Sayn-Wittgenstein vom 11. Mai 1846 wurde dann die Forderung wiederholt. 130 Sperling beklagte darin, daß die 5900 Ruthen 131 lange Landstraße von Magdeburg nach Hohenziatz seit 1820, also seit dem Bau der parallel verlaufenden Chaussee von Magdeburg nach Berlin, „sich selbst überlassen" wurde. Durch den insgesamt zunehmenden Verkehr verschlechterte sich der Straßenzustand in einem solchen Maße, daß nur noch geringe Lasten transportierbar waren, wodurch bei steigenden Erträgen der Absatz der Agrarprodukte nach Magdeburg gefährdet wurde. Die von der Magdeburger Regierung angeordnete polizeimäßige Instandsetzung konnte erfahrungsgemäß nur kurzzeitig Abhilfe verschaffen. Statt der hierfür notwendigen 6800 Reichsthaler sollte die Straße chaussiert werden, wofür lediglich 13.865 Thaler notwendig seien. Sperling erklärte sich mit zwei weiteren Gutsbesitzern zu einer freiwilligen Zahlung von 2772 Thalern bereit. Außerdem hoffte man auf königliche Unterstützung, da die Königlichen Forsten Magdeburgerforth und Schweinitz sowie das Kronfideikommiß Nedlitz ebenfalls von der Zustandsbesserung profitieren würden. Die zur Stellungnahme aufgeforderte Regierung Magdeburg räumte die Bedeutung für den Kreis Jerichow und den schlechten Zustand der Straße ein. 132 Sie verwies jedoch auf die Unterhaltungspflicht der Adjazenten und war allenfalls bereit, die Instandsetzung aus ihrem Wegebaufonds zu unterstützen. Eine Chaussierung lehnte sie ab, da die Straße nur von regionalem Interesse sei. Der provinzialsächsische Oberpräsident von Bonin ging jedoch in seinen Randbemerkungen zum Schreiben der Regierung an den Finanzminister von Duesberg über diese rein fiskalistische, an der Rechtssetzung eines mehr als 100 Jahre alten Edikts orientierte Argumentation hinaus. Er verwies darauf, daß der Kreis Jerichow I mit 4 Meilen Chaussee auf 26 Quadratmeilen Fläche die schlechteste Chausseeversorgung im Regierungsbezirk habe. Für die Transporte nach Magdeburg, den wichtigsten Absatzmarkt mußten hohe Damm- und Brückgelder gezahlt werden, während der Eisenbahnbau der Provinzhauptstadt ermöglichte, Lebensmittel aus entfernteren Gegenden zu beziehen. Im Interesse der Gleichstellung der Kreise sollte der Staat also Chausseen im Kreis Jerichow bauen. Auch der Oberpräsident konstatierte, daß „seitens der Wegebau Verpflichteten ... viel zu wenig zur Herstellung besserer Wege und deren Erhaltung

129 Verhandlungen des siebenten Provinziallandtages der Provinz Sachsen. Nebst dem Allerhöchsten Landtagsabschiede, d.d. Berlin den 30. Dezember 1843, Magdeburg 1844, S. 244. 130 131 132

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 3 ff. 5900 Ruthen entsprechen etwa 22 km. Ebenda, Nr. 3467, Bl. 207 ff.

IV. Die Bau- und Unterhaltungspflichten der Adjazenten

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geschehen und geleistet ist." 133 Dies sei jedoch „dadurch unvermeidlich herbeigeführt, daß die Behörden, welchen die Verwaltung der aus fiskalischen Kassen zu unterhaltenden Straßen obliegt, in den hierzu bestimmten Fonds nicht die erforderlichen Mittel besitzen, um mehr als das bisher durchaus Ungenügende zu leisten und ihnen selbstredend dadurch die Hände gebunden waren von Oberaufsichts wegen von den Privaten mehr zu fordern als sie selbst zu leisten im Stande waren." 134 Daher wandte sich der Oberpräsident gegen die von der Regierung vorgeschlagene Verwendung des Wegebaufonds für die Instandsetzung der Straße. Dies würde nur den Fonds „zersplittern", ohne wesentliche Verbesserungen zu bewirken. Er trat für eine Chaussierung durch den Staat ein, da weder der Kreis noch eine Aktiengesellschaft eine solche bauen könne. Eine Alternative dazu sah er in einem Staatszuschuß von 2000 Rthlr. pro Meile für eine wesentliche Verbesserung der Straße durch die Adjazenten, die über eine polizeimäßige Instandsetzung weit hinaus gehen würde. Dazu wären bei der 13 Meilen langen Strecke 26.000 Thaler erforderlich gewesen. Das Finanzministerium folgte dem Oberpräsidenten jedoch nicht, zumal bis dahin ein Staatszuschuß in einer solchen Höhe nur für Chausseebauten gewährt worden war. 135 Man berief sich auf die erst 1845 durch ein Urteil des geheimen Ober-Tribunals bestätigte Gültigkeit des Edikts vom 17. Juli 1742 und wies die Regierung an, die 6800 Thlr. kostende polizeimäßige Instandsetzung durchzuführen. Dementsprechend beschied König Friedrich Wilhelm IV. den Gutsbesitzer Sperling. 136 Er stellte in diesem Zusammenhang eine staatliche Prämie für einen Kreischausseebau in Aussicht, der jedoch nicht nur bis Hohenziatz, sondern bis zur anhaltinischen Grenze zu führen habe und von dort bis Zerbst fortgesetzt werden müßte. Für den Fideikommiß Nedlitz sollten in beiden Fällen aus dem Domänenfonds 500 Thlr. zugeschossen werden. Ein solcher Kreischausseebau kam nicht zustande und die „polizeimäßige" Instandsetzung der „Lehmchaussee", die eine Pflasterung ausschloß, erwies sich als völlig unzureichend. 137 Die Bauern aus Lübs und den anderen anliegenden Gemeinden führten die Hand- und Spanndienste nur widerwillig aus oder verweigerten sie völlig, wie im Revolutionsjahr 1848. 138 Gleichzeitig stieg jedoch die Verkehrsfrequenz auf der Straße, die 1849 neben landwirtschaftlichen Fuhren, vor allem der Rittergüter Möckern, Riesdorf und Hohenziatz, auch Transporte für eine Zuckerfabrik, zwei Stärkefabriken und drei Brennereien aufzunehmen hatte. Insbesondere deren Absatz nach Magdeburg 133 134 135 136 137 138

Ebenda, Bl. 208r. Ebenda. Ebenda, Bl. 211 ff. Ebenda, Nr. 3468, Bl. 1 f. Ebenda, Bl. 105. Ebenda, Bl. 96 ff.

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wurde durch die vier Monate andauernde, völlige Unpassierbarkeit der Straße im Winter 1848/49 stark behindert. Der generell schlechte Zustand verringerte die Zugfähigkeit der Pferdefuhrwerke und erhöhte daher die Transportkosten. Die Diskussion um den Zustand der Straße von Magdeburg nach Zerbst kann als repräsentatives Beispiel für viele ähnliche Vorgänge dienen. Sie verdeutlicht, daß die Bürokratie der Regierung Magdeburg und auch im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten bzw. deren Vorläuferbehörden vor 1848 an einer Neuregelung der Straßenbau- und -unterhaltungspflichten gar nicht interessiert war. 139 Eine Umwandlung der fiskalischen Straßen in Kreis- oder Gemeindestraßen hätte „endlose und ganz sicher gegen den Fiskus ausfallende Prozesse" zur Folge gehabt. 140 Daher versuchte man, die fiskalischen Straßen aus dem viel zu kleinen Wegebaufonds der jeweiligen Regierung zu unterhalten und vermied die Chaussierung, da dafür der zentrale Fonds des Ministeriums zu verwenden gewesen wäre. 141 Zu Recht kritisierte der Rittergutsbesitzer Sperling diese Ausgaben als Geldverschwendung. 142 Die Verwaltung stand jedoch auf dem nicht unbegründeten Standpunkt, daß die Verursacher der höheren Verkehrsfrequenz, also die Ritterguts-, Brennerei- und sonstigen Fabrikbesitzer für die Chaussierung der Straße aufkommen sollten. Diese sahen sich jedoch erst zur Eigeninitiative veranlaßt, wenn die schlechte Straßenqualität zur Existenzgefährdung wurde. Schließlich hätten sie für eine Kreis- oder gar Aktienchaussee finanzielle Vorleistungen erbringen müssen, ohne eine sichere Rendite erwarten zu können. Nach geltendem Wegerecht hatten jedoch die Gemeinden, also letztlich die Bauern, oder der Staat die Lasten zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bereitschaft der Gutsbesitzer zu sehen, „freiwillige" Beiträge für eine grundlegende Instandsetzung zu leisten. Diese spezielle Interessenkonstellation erklärt, warum eine Wegerechtsreform nicht zustande kam, obwohl die traditionelle Dienstpflicht auf Chausseen beinahe einhellig abgelehnt wurde, weil die Qualität und Produktivität der Arbeitsausführung wegen der mangelhaften Arbeitseinstellung und Ausbildung der Pflichtigen äußerst gering war.

139 Auf die Petition der Gemeinde Lübs vom 30.8.1849, in der die Aufhebung der aus dem Wegebauedikt für das Herzogtum Magdeburg resultierenden Gemeindelasten angetragen wurde, beschied das Ministerium, daß die Regelungen des Edikts über die Verpflichtungen zur gewöhnlichen Wegebesserung nur durch eine Chaussierung der Straße oder den Erlaß einer neuen Wegeordnung außer Kraft gesetzt werden könnten. Ebenda, Bl. 150. 140

Ebenda, Bl. 72r. Nach einem Antrag, die fiskalische Straße von Langensalza nach Sondershausen aus den Mitteln des Erfurter Wegebaufonds zu chaussieren, betonte das Ministerium noch einmal ausdrücklich, daß dieser Fonds nicht für über die Instandsetzung hinausgehende Baumaßnahmen zu verwenden sei. Ebenda, Nr. 3469, Bl. 79 und 144. 142 Ebenda, Nr. 3468, Bl. 102. 141

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Auch nach 1848 wurden Anträge des Provinziallandtages sowie des Landwirtschaftlichen Vereins für das Fürstentum Halberstadt und die Grafschaft Wernigerode, vernünftigerweise die Veränderung der Wegebaupflicht mit der Förderung des Chausseebaus zu verknüpfen, abgelehnt. Offiziell begründete das Ministerium fur Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit die Ablehnungen der entsprechenden Entwürfe mit dem Umstand, daß „in allen anderen Provinzen sich die Selbsttätigkeit regt und zur Herstellung von Chausseen nicht geringe Opfer gebracht werden, gerade aber im Bereich des Regierungsbezirks Magdeburg dergleichen Unternehmungen meistens auf große Schwierigkeiten zu stoßen und an der Abneigung der Bewohner, aus eigenen Mitteln beizusteuern, zu scheitern pflegen." 143 Letztlich ging es jedoch erneut um die nicht vorhandene Bereitschaft, fiskalische Straßen auf Staatskosten zu chaussieren. Gegenüber dem Minister für landwirtschaftliche Angelegenheiten äußerte von der Heydt, daß bei einer Umsetzung der vorgeschlagenen Bestimmungen „der Staatskasse ... außerordentlich große Lasten erwachsen sein würden." 144 Man versuchte weiterhin, sich der Verantwortung für die fiskalischen Straßen durch den Neubau von Nichtstaatschausseen zu entledigen. Entsprechend der generell stärkeren Förderung des Kreischausseebaus145 versprach man jedoch erstmals den Kreisen, die zur Chaussierung fiskalischer Straßen bereit waren, höhere Staatsprämien. 146 Im Jahre 1853 stellte von der Heydt sogar den Erlaß eines speziellen Chausseebaugesetzes für Teile der Provinz Sachsen in Aussicht, wenn es zuvor stärkere Aktivitäten im Bereich des Kreischausseebaus gäbe. 147 Dazu kam es jedoch ebensowenig wie zu einer das Problem der fiskalischen Straßen lösenden Wegerechtsreform. Aus der Verwaltungspraxis ergab sich hingegen seit Ende der fünfziger Jahre stillschweigend doch noch die Möglichkeit, Kreise zur Chaussierung von fiskalischen Straßen zu bewegen. Der Kreis Querfurt erhielt im Jahre 1857 für den Ausbau von fiskalischen Straßen höhere Prämien als bei anderen Strecken. 148 Der Mansfelder Gebirgskreis übernahm im Jahre 1856 die Kosten für die Chaussierung eines Teils der fiskalischen Straße

143

Ebenda, Nr. 3469, Bl. 4 f. Ebenda, Bl. 38. 145 Vgl. Kapitel F.III. 146 In im April 1853 an die provinzialsächsischen Bezirksregierungen versandten Schreiben des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten heißt es: „Trägt nebenher die Ausführung (von Kreischausseen) dazu bei, den Staat von der Last der Unterhaltung fiscalischer Straßen zu befreien, so bleibt auch dieser Umstand bei Bemessung der Prämie nicht ohne geneigteste Erwägung." GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 57. 144

147 148

Ebenda, Bl. 55. Ebenda, Bl. 150 und 172 ff.

20 Uwe Müller

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in der Höhe von 5000 Thalern, ohne jedoch damit eine zukünftige Unterhaltungspflicht anzuerkennen, die somit beim Fiskus verblieb. 149 Eine weitere nach 1848 zu beobachtende Veränderung bestand in dem zunehmenden Eintreten der Beamten in den einzelnen Regierungen für die Chausssierung fiskalischer Straßen auf Staatskosten. Während die Anträge der Gemeinden oder Kreise in den dreißiger und vierziger von den Regierungsbehörden in der Regel kommentarlos an das zuständige Ministerium weitergeben wurden und nur der Oberpräsident von Bonin auf die staatliche Verantwortung für die fiskalischen Straßen hinwies, setzten sich die Beamten der Bezirke in den fünfziger Jahren verstärkt für den Einsatz des Wegebau- oder Chausseebaufonds zur Befestigung von fiskalischen Straßen ein. 150 Insgesamt bleibt also festzuhalten, daß über das spezielle Problem der fiskalischen Straßen hinaus, vor allem „aus finanziellen Rücksichten ... die Dienstpflichten weiterhin bestehen (blieben/U.M.), da die zusätzlichen Ausgaben nur durch eine drastische Erhöhung der Weggelder und weitere Steuerbewilligungen aufzufangen gewesen wären." 151

3. Die Beiträge der Anlieger im Herzogtum Braunschweig Die Klassifizierung in der Wegeordnung von 1840 in Heer- und Landstraßen sowie Kommunikationswege orientierte sich an der Unterhaltungspflicht. Das schloß jedoch ein, daß sich die Kommunen an der Unterhaltung der Land- und Heerstraßen zu beteiligen hatten, aber auch vom Staat bei der Chaussierung der Kommunikationswege unterstützt wurden. Dementsprechend heißt es in der Ordnung: „Zur Herstellung und Unterhaltung der einzelnen Strassen und Wege sind die Interessenten der selbige einschließenden oder berührenden Ortschaften und Feldmarken, sowie die Eigenthümer der nicht zu einer Feldmark gehörenden Holzungen, insbesondere auch die Cammer- und Kloster-, Ritter- und andere Güter verpflichtet; über die Art und Weise der Verpflichtung sind sodann nähere ins Einzelne gehende Grundsätze gegeben, welche sich jedoch wesentlich an den bestehenden Rechtszustand anschliessen; zur Unterstützung der Pflichtigen werden Beihülfen des Staats festgesetzt und zwar bei den Landstrassen weitergehende, bei den Kommunikationswegen und Dorfstrassen be-

149 Statistische Beschreibung des Mansfelder Gebirgskreises pro 1862/64 (handschriftlich). 150 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 64, 78 ff., 140 ff. 151 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 16. Diese für das Königreich Hannover getroffene Feststellung gilt auch für Preußen.

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schränktere." 152 Somit widerspiegelt die Klassifizierung den Anteil der Beteiligung von Staat bzw. Gemeinde, der innerhalb einer Straßenklasse entsprechend älteren Gewohnheitsrechten differierte. An anderer Stelle werden die Heerstraßen als Straßen bezeichnet, deren Ausbau und Unterhaltung durch den Staat bewerkstelligt werden, „sei es unter Mitwirkung einzelner Gemeinden oder ohne solche". Diese Mitwirkung erfolgte entweder durch bezahlte Dienstpflichten oder durch unbezahlte „Fuhren und rohe Handarbeiten". Die „baaren Baukosten" trug hingegen der Staat selbst.153 Beim Ausbau der Kommunikationswege übernahm der Staat in der Regel die Projektierung, die Veranschlagung der Kosten und die Leitung der Bauarbeiten. Damit war eine vergleichsweise klare Aufgabenteilung gegeben. Auseinandersetzungen ergaben sich vor allem aus unterschiedlichen Auffassungen über die Wegebauverantwortung von an Kommunikationswegen angrenzenden landesherrlichen Forsten. 154 Die Senkung der Wegebaubeiträge stellte eine der wichtigsten bäuerlichen Forderungen in der braunschweigischen Revolution von 1848 dar. 155 Sie gipfelten 1849 in dem Antrag, auf den Heerstraßen die Dienste gänzlich abzuschaffen. Die ablehnende Stellungnahme der Herzoglichen Baudirektion beruhte auf dem Argument, daß ohnehin schon zu viele zweitrangige Straßen Heerstraßen seien und der Unterschied zwischen den Pflichten auf Heerstraßen und Kommunikationswegen nicht noch größer werden solle. Vor allem befürchtete man, „daß eine Beseitigung der Dienste lediglich auf den Heerstraßen zu keinem Abschlüsse fuhren, sondern nur weitere Reclamationen hervorrufen dürfte. So beruhet dies auf der Erfahrung, dass bisher eine Befriedigung der Anwohner an den öffentlichen Straßen noch in keinem Falle erreicht worden ist, und äußerst schwer zu erreichen sein wird. Zuvörderst sucht jede Gemeinde nachzuweisen, resp. zu erlangen, dass ihre Dorfstraßen Kommunikationswege seien, und als solche aufgenommen werden, um auch die auswärtigen Feldmarksgenossen zur Mitleidenschaft heranziehen zu können; ist dies erreicht, so wird der Versuch gemacht, die Kommunikationswege als Landstraßen erklärt zu sehen; gelingt es, so nimmt man einige Jahre mit den hieraus folgenden Erleichterungen vorlieb, und beschwert sich dann über das Maaß der behaltenen Verpflichtungen, während die Anwohner der nach der neuen Wegeordnung erklärten Landstraßen sich über die Zumuthung des Steinschlagens beschweren, finden die Baupflichtigen an den (Heerstaßen und nicht erklärten Landstraßen U.M.), welchen diese Verpflichtung nicht obliegt, schon die Fuhren und sonstigen rohen Handarbeiten zu drückend; die Anwohner endlich an solchen Stra152 153 154 155

F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35 f. Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 13. Nds STA Wolfenbüttel, 125 Neu, Nr. 264. G. Schildt, Tagelöhner, S. 116.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

ßen, welche lediglich auf Staatskosten erhalten werden, beschweren sich entweder über die Tarifsätze an sich, oder über die Lage an den Hebestellen und suchen die letztere in ihrem Interesse zu dislociren. Während so auf der einen Seite die Dienstpflichtigen an den Heer- und Landstraßen, neben ihren Abgabenfreiheiten über Härte und Ungerechtigkeit klagen, werden sie von sehr vielen anderen Gemeinden und ganzen Landcomplexen, welche darauf angewiesen sind, sich alle Verbindungen unter dem Titel von 'Communicationswegen' gänzlich auf eigenen Kosten herzustellen, beneidet." 156 Die abgestufte Leistungspflicht führte also dazu, daß die Gemeinden bestrebt waren, naheliegende Straßen in eine möglichst hohe Klasse einzuordnen. Die Pflichten auf den Heerstraßen blieben bestehen. Trotzdem brachte das Jahr 1849 einige wesentliche Veränderungen. Die Kreisbaubeamten mußten bereits im August des Vorjahres einen Maßnahmeplan vorlegen, um Umfang und Zeitpunkt der Dienste für die Pflichtigen berechenbarer zu machen. 157 Die Gemeinden konnten nun auch selbst entscheiden, ob sie die Fuhren und Handarbeiten als Dienst erledigten oder ihrerseits „an den Mindestfordernden verdingten." 158 Das Gesetz über Abänderungen und Ergänzungen verschiedener Bestimmungen der Wegeordnung vom 11. Mai 1840 aus dem Jahre 1849 enthielt erstmals ein Verfahren für von mehreren Gemeinden zu bauende Kommunikationswege.159 Auch in den nächsten Jahre wurde das braunschweigische Wegerecht Schritt für Schritt modernisiert. Ab 1850 durften unentgeltliche Leistungen nur noch „zur Wegschaffung plötzlich eingetretener natürlicher Hindernisse" verlangt werden. 160 Außerdem genossen die Gemeinden „für die unentgeltlich zu leistenden Fuhren und rohen Handarbeiten ... Chaussee- und Wegegeldfreiheiten, welche im Ganzen genommen den Geldwerth von jenen zum größten Theile ausgleichen."161 Mit dieser Begründung wurden 1853 Gemeindeforderungen nach einer Beteiligung an den auf den Landstraßen erzielten Wegegeldeinnahmen abgelehnt.162 Im Jahre 1851 wurde die in der Wegeordnung von 1840 enthaltene Bevorzugung des größeren Grundbesitzes aufgehoben. 163

156 157 158 159 160 161 162 163

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477. Ebenda, 125 Neu, Nr. 268. Ebenda. Ebenda. F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973. Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 18. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3486. Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 13.

V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken

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V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken und die Bereitstellung von Straßenbaumaterial Das Expropriationsrecht beeinflußte die praktische Infrastrukturpolitik in großem Maße. 164 Das kam schon darin zum Ausdruck, daß Enteignungssachen sowohl bei den Eisenbahn- als auch bei den Wegeverwaltungen einen erheblichen Teil der Tätigkeit ausmachten.165 Grundsätzlich ging es zunächst um die Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Staat das Recht zur Enteignung privaten Eigentums einzuräumen ist. Außerdem war zu klären, ob und in welcher Höhe die Enteigneten zu entschädigen seien. Beim nichtstaatlichen Chausseebau ergab sich zusätzlich das Problem, inwieweit auch anderen Bauträgern, also Gemeinden oder Privatpersonen, Anspruchsrechte auf fremdes Privateigentum eingeräumt werden können. In der rechtshistorischen Literatur über das 19. Jahrhundert werden die Anforderungen des Eisenbahnbaus als wichtigstes Motiv für Enteignungen privaten Bodens im öffentlichen Interesse genannt.166 Tatsächlich beinhalteten die ersten Eisenbahngesetze entsprechende Regelungen, nachdem das Fehlen eines Expropriationsgesetzes im Königreich Hannover den Bau der Eisenbahn von Braunschweig nach Harzburg noch verzögert hatte. 167 Auseinandersetzungen um Enteignungen und Entschädigungshöhen spielten in der sachorientierten eisenbahnpolitischen Debatte der vierziger Jahre eine zentrale Rolle. 168 Obwohl die beginnende Industrialisierung und der Eisenbahnbau der Enteigungsgesetzgebung entscheidende Anstöße verliehen, waren ihre Vorbilder und Prinzipien doch vorindustriellen Ursprungs. 169 Während die rechtstheoretischen Prinzipien des iusta causa und der Entschädigungspflicht bis auf Grotius, also in das 17. Jahrhundert, zurückgeführt werden können, bildete erst der Beginn des Chausseebaus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den wichtigen sachlichen Hintergrund für eine mehrere Jahrzehnte andauernde Diskussion über Bodenenteignungen.170 164

Zur Bedeutung gerade des Bodenrechts für die gegenwärtige Infrastrukturpolitik: S. Katterle, Infrastrukturpolitik und Wirtschaftsordnung, S. 294. 165 D. Eichholtz, Junker, S. 161 ff.; J. Salzwedel, Wege, S. 220. - Vgl. z.B. LHA SA ASt. Oranienbaum, Abteilung Dessau, C 9 k III, Nr.9 I. - Für Hannover: A. Lünser, Die wirtschaftlichen und militärischen Ursachen, S. 58 f. 166 D. Grimm, Die Entwicklung des Enteignungsrechts unter dem Einfluß der Industrialisierung, in: H. Coing / W. Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Teil IV. Eigentum und industrielle Entwicklung, Wettbewerbsordnung und Wettbewerbsrecht, Frankfurt a.M. 1979, S. 127 f. 167 W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 23; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 102 f. 168 D. Eichholtz, Junker, S. 44 ff. 169 D. Grimm, Entwicklung des Enteignungsrechts, S. 137. 170 Ebenda, S. 121.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

Der bereits hinsichtlich des Subsidaritätsprinzip festgestellte ambivalente Charakter des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 resultierte vor allem aus dem Versuch, „das Konzept einer freien Bürgergesellschaft mit dem absoluten Staat" zu verbinden. 171 Daher rangierte hier das Gemeinschaftswohl vor den Rechten einzelner, wobei allerdings derjenige, der ein Opfer zugunsten des Gemeinwohls erbrachte, zu entschädigen war. 172 Also waren Grundeigentümer gegebenenfalls verpflichtet, ihren Boden für Chausseebauten zur Verfügung zu stellen, aber auch dafür durch den Staat zu entschädigen.173 Man ging allerdings in den entsprechenden Ausführungsbestimmungen ebenso wie in den frühen Chausseebauverordnungen davon aus, daß diese Entschädigung aus dem für die Chaussee nicht mehr benötigten Land erfolgen konnte. 174 Die Landstraßen waren nämlich wegen ihres schlechten Zustandes im Laufe der Jahrhunderte durch die Nutzer in großer Breite ausgefahren worden. Erst die Befestigung der Straße, also die Chaussierung, ermöglichte den Fahrzeugen, eine engere Linie einzuhalten, so daß an den Rändern Boden frei wurde, der aufgrund des Wegeregals landesherrliches Eigentum war und daher für staatliche Entschädigungsleistungen eingesetzt werden konnte. Im Untersuchungsgebiet galt zum einen die bereits erwähnte braunschweigische Wegeordnung von 1704, die eines der ältesten Bodenenteignungsrechte enthielt. 175 Nach dem sächsischen Straßenbaumandat von 1781 mußten Flächen, die kleiner als 500 Quadratmeter waren, unentgeltlich abgetreten werden. Für größere Grundstücke war eine „billige Entschädigung" zu zahlen. 176 Das erste preußische Chausseegesetz, das Publicandum vom 13. November 1787 betreffend „Obliegenheiten der Untertanen im Magdeburgischen und Halberstädtischen beim Chausseebau", sah ebenfalls Ausnahmen von der Entschädigungspflicht vor. Es hieß dort: „Wenn die anzulegende Chaussée in der alten Straße bleibt, und diese mehrenteils viel breitere Straße an einzelnen Stellen die verhältnismäßige Breite von 4 Rheinländischen Ruthen 177 nicht hätte, die Eigenthümer der daran gränzenden Ländereyen dasjenige, was an 4 Ruthen feh-

171

R. Koselleck, Preußen, S. 29. J. Salzwedel, Wege, S. 220. Vgl. auch R. Koselleck, Preußen, S. 32. 173 A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 471 ff.; H.Kunze, Wegeregal, S. 33; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 23. 174 Zum ALR: E. Pappermann (Hrsg.), Preußisches Allgemeines Landrecht, S. 146; L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 41. - Zum „Edict über die Verbindlichkeiten der Unterthanen in der Kurmark, in Ansehung des Chausseebaues, wie sie deshalb zu entschädigen sind und was sonst dabey beachtet werden soll" von 1792: E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 46. 175 Vgl. Kapitel C.VI.; J. Salzwedel, Wege, S. 219; D. Grimm, Entwicklung des Enteignungsrechts, S. 122, Anm. 5. 176 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 34. 177 Dies entspricht etwa 15 Meter. 172

V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken

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let, weil die Vermuthung, sich dessen als eines Theils der Landstraße, die ein Eigenthum des Publici ist, angemaßt zu haben, ihnen entgegenstehet, in so fern sie das Gegentheil nicht vollständig nachweisen können, ohnentgeltlich abtreten sollen." 178 Also nur wenn die Chaussee mit einer 4 Ruthen übersteigenden Breite oder außerhalb der bisherigen Landstraße gebaut wurde, stand dem Eigentümer eine „billigmäßige Vergütung" zu. Diese Entschädigung erfolgte bei den folgenden Chausseebauten von Magdeburg bzw. Halberstadt nach Leipzig meistens durch umgepflügtes Land ehemaliger Wege. 179 Die Durchfuhrung eines solchen kostensparenden Verfahrens setzte allerdings voraus, daß sich die Linienführung der Chausseen am Verlauf der vorhandenen Landstraßen eng anlehnte, was ja auch tatsächlich geschah. So basiert die regionale Struktur des heutigen Fernstraßennetzes, die ja ihrerseits im wesentlichen auf den im 19. Jahrhundert ausgebauten Chausseen beruht, zum großen Teil auf der Linienführung der Heer- und Landstraßen des 18. Jahrhunderts. Gerade aus rechtshistorischer Sicht befanden sich die Entwicklung des modernen Staates und die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in einem Spannungsverhältnis. Der absolute Staat hatte das Eigentum zwar nur unvollkommen geschützt, aber auch nur wenig Anlaß, Enteignungen vorzunehmen. Für die Entstehung des modernen, souveränen Staates stellte hingegen die Möglichkeit, Eigentumspositionen zu entziehen, eine wesentliche Voraussetzung dar. Andererseits strebte das Bürgertum nach einem Ausbau des Eigentumsschutzes.180 Schon daraus erwuchs die Notwendigkeit, Rechtssicherheit durch allgemeine Kodifizierung herzustellen. Gleichzeitig erhöhte sich mit der Ausweitung des Chausseebaus die Zahl der Enteignungsverfahren, deren rascher Vollzug auch im wirtschaftspolitischen Interesse lag. Die fiskalpolitischen Interessen widersprachen jedoch diesem die Entschädigungsleistungen steigernden Trend in ähnlicher Weise wie in der Frage der Bau- und Unterhaltungspflichten. Lange Auseinandersetzungen um Entschädigungshöhen in konkreten Enteignungsfällen und Versuche des Staates, seine Entschädigungsleistungen durch generelle Regelungen zu minimieren, bestimmten vor allem die dreißiger und vierziger Jahre. 181 Christian Daniel Rother, der seit 1834 die Chausseebaupolitik bestimmte, trat für eine prinzipiell entschädigungslose Enteignung von Land und Materialien ein, konnte sich aber nicht durchsetzen. 182 Allerdings beinhalteten die Ro-

178

L. von Rönne, Wegepolizei, S. 218. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 12. 180 D. Grimm, Entwicklung des Enteignungsrechts, S. 121 ff. 181 Der „Schutz vor willkürlichen Enteignungen" war eben nur in den Verfassungen „selbstverständlicher Bestandteil" (Ebenda, S. 124), jedoch nicht in der gesellschaftlichen Realität. 182 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 24. 179

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G. Der Staat als Gesetzgeber

therschen Bedingungen eine bevorzugte Inangriffnahme von Staatschausseebauprojekten, wenn die Anlieger freiwillig auf Entschädigungsleistungen fur den zur Verfügung gestellten Boden verzichteten. Aufgrund der zahlreichen Anträge von Regierungsbezirken, Kreisen und Gemeinden auf einen Anschluß an das Staatsstraßennetz und dem gleichzeitigen Rückzug des preußischen Staates von der Durchführung eigener Projekte führten diese Bedingungen in der Verwaltungspraxis dazu, daß die Bereitschaft der sogennanten Interessenten, entschädigungslose Boden- und Materialabtretungen, aber auch freiwillige Fuhrdienste zu leisten, letztlich eine Voraussetzung für den Neubau der Netzverdichtung dienender Staatschausseen darstellten. 183 Im Jahre 1847 konnte man rückblickend feststellen, daß „sich in vielen Fällen die nächstbetheiligten Eingesessenen bereit erklärt(en), zu dem Bau der Staatsstraßen Geldbeiträge, Spanndienste und andere Hülfen zu leisten und auf die Entschädigung für den zum Bau erforderlichen Grund und Boden zu verzichten, um dadurch die Verwaltung um so eher in Stand zu setzen, bestimmte Chausseebauten zu unternehmen." 184 Im Zusammenhang mit der Intensivierung der Diskussion um eine Wegeordnung wurde die Enteignungs- und Entschädigungsfrage erneut aufgeworfen. Die Entwürfe von 1836 und 1841 sahen ein grundsätzliches Expropriationsrecht, aber auch eine Entschädigung für alles immobile Eigentum vor. 185 In einer Denkschrift von 1843 wurde hingegen die Meinung vertreten, daß man auf eine Entschädigung für enteigneten Boden verzichten könne, da die Anlieger durch den Chausseebau gewichtige Vorteile, etwa dank einer Steigerung des Grundstückswertes, genießen würden. 186 Diese Auffasung setzte sich jedoch nicht durch. Eine grundsätzliche Rechtssicherheit stellte in dieser Frage die Verfassung vom 31. Januar 1850 her, nach der privates Eigentum nur aus Gründen des öffentlichen Wohls antastbar sei und bei Enteignungen „auf jeden Fall" Entschädigungen zu zahlen waren. 187 Dementsprechend hob das Obertribunal in der Provinz Sachsen im Jahre 1853 die Bestimmungen aus dem kursächsischen Straßenbaumandat auf, daß „das zu den Gräben erforderliche Land unter gewissen Beschränkungen unentgeltlich abzutreten" sei. 188 Ein gesamtpreußisches 183

Dieser Aspekt wird Ebenda, übersehen. Über den Chausseebau, 1847, S. 94. - Eine solche Bereitschaft erklärten beispielsweise im Februar 1835 die Stadt Erfurt und die Gemeinde Waltersleben, um so den Chausseebau von Erfurt nach Arnstadt zu ermöglichen. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 27. 185 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil II, Bl. 12 und Ebenda, Teil Ia, Bl. 23 f. 186 Ebenda, Teil III, Bl. 19. 187 J. Salzwedel, Wege, S. 220. 188 A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1, S. 476. 184

V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken

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Gesetz über die Verfahren wurde jedoch erst im Jahre 1874 erlassen. Die Enteignung wurde darin als Verwaltungsakt angesehen, so daß lediglich über die Entschädigungshöhe vor den Gerichten verhandelt werden konnte. 189 Die Braunschweiger Regierung erließ bereits mit der „Verordnung vom 28. März 1826, die Abtretung der zu den Chausseeanlagen und behuf Gewinnung der zu denselben erforderlichen Materialien benöthigten Grundstücke und die dafür auszumittelnde Entschädigung betreffend", das erste moderne Expropriationsgesetz.190 Es regelte die zwangsweise Abtretung von Grundstücken zu besagten Zwecken und die dafür zu zahlende Entschädigung, welche eventuell auf Grund einer Taxation zu erfolgen hatte. Im Jahre 1828 wurde es auf alle Wegebauten ausgedehnt. In der braunschweigischen Verfassung von 1832 wurden Zwangsenteignungen „für wesentliche Zwecke des Staates oder einer Gemeinde ... gegen vorgängige volle Entschädigung" sanktioniert. 191 Um Anschluß an eine Staatsstraße zu bekommen oder eine Verbesserung der vorhandenen Straße zu erreichen, waren aber auch hier Gemeinden bereit, Flächen unentgeltlich abzutreten. 192 Gesetze vom 17. September 1841 und 20. Juni 1843 paßten das Expropriationsrecht an die Erfordernisse des Eisenbahnbaus an. 193 Der Eisenbahnbau stellte in der Folgezeit neben dem Straßenbau den wichtigsten Grund für Zwangsenteignungen dar. Eine verbindliche Regelung über die Ausmittelung der Entschädigung der Enteigneten erfolgte aber erst im Gesetz zur Expropriation von Privateigentum zu wesentlichen Zwecken des Staates vom 13. September 1867. 194 In der Wegeordnung von 1899 heißt es diesbezüglich: „Jeder Grundeigenthümer hat die Pflicht, die zur Anlegung neuer Wege, zur Erweiterung oder Verlegung vorhandener Wege nötige Grundfläche gegen Entschädigung abzutreten. Die Ermittlung der Entschädigung erfolgt, wenn keine gütliche Verständigung erfolgt, im Zwangsenteignungsverfahren." 195 Wenn man die Entwicklung eines einheitlichen, raschen und rechtsstaatlichen Expropriationsverfahrens als Kriterium der Modernisierung ansieht, so ist hier ein zeitlicher Vorsprung der braunschweigischen Rechtsordnung gegenüber der provinzialsächsischen bzw. preußischen festzustellen. In beiden Gebieten existierte allerdings in der Wachstumsphase des Straßennetzes ein Ent-

189

J. Salzwedel, Wege, S. 220. F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35. 191 K.E. Pollmann, Braunschweigische Verfassung, S. 37; H. von Frankenberg, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 80. 192 W. Strauß, Gemeindeverwaltung, Anhang, S. 7. 193 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 36. 194 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 41; F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 36. 195 H. von Frankenberg, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 123. 190

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G. Der Staat als Gesetzgeber

eignungsrecht des Staates, während die Enteigneten in der Entschädigungsfrage auf Verwaltungsakte angewiesen waren. Die Enteignung von Grund und Boden stellte nur einen, wenngleich sicher den bedeutendsten Fall dar, in dem in der Folge von Wegebauten in Eigentumsrechte eingegriffen wurde. Schon die Wegeordnungen des 18. Jahrhunderts sahen in der Regel vor, daß die zur Unterhaltung der Straßen notwendigen Materialien den anliegenden Grundstücken entnommen werden konnten. Nach dem Magdeburger und Halberstädter Chaussee-Publikandum von 1787 und dem preußischen Allgemeinen Landrecht sollten diese Entnahmen, aber auch die vorübergehende Bereitstellung eines Materiallagerplatzes „nach billigen Grundsätzen vergütet werden." 196 Im Herzogtum Braunschweig ordnete ein landesfürstliches Ausschreiben im Jahre 1764 an, daß Stein-, Sand- und Grandgruben für die Ausbesserung der Wege zur Anzeige zu bringen seien.197 Die Bestimmungen waren jedoch sehr unpräzise. Daher kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen über die Entschädigungshöhe, aber auch über die Frage, bis zu welcher Entfernung Material entnommen werden durfte. 198 Wegen der intensiveren Landnutzung, des bei der Chaussierung höheren Materialbedarfs sowie der zunehmenden Nichtidentität von Anliegern und Straßenbaupflichtigen entstand aber auch hier weiterer Regelungsbedarf. Dies wird besonders durch die Begründung einer KO vom 11. Juni 1825 deutlich. In der Verordnung über die Vergütigung für die von Grundbesitzern aus ihren Feldmarken zum Chausseebau hergegebenen Feldsteine, Sand und Kies heißt es: „Da nach dem Bericht des Staatsministeriums vom 31. v.M. in Preußen von einigen Grundbesitzern für die zum Chausseebau erforderlichen, von ihren Feldmarken zu verabfolgenden Feldsteine, Sand und Kies eine besondere Vergütung verlangt worden, obgleich diese Materialien bis dahin gar nicht verkäuflich gewesen sind, also daselbst keinen Geldpreis gehabt haben; so setze ich, wie solches auch bereits in einigen anderen Provinzen seit geraumer Zeit gesetzlich stattfindet, und in Betracht der bedeutenden Vortheile, welche den Grundbesitzern in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen, durch die Nähe der Chausseeanlagen sonst erwachsen hierdurch fest: daß Feldsteine, Sand und Kies zum Chausseebau, außer dem Ersatz des etwa an dem Lande verursachten Schadens von dem Grundeigenthümer in der Regel unentgeltlich überlassen werden müssen, und ihm nur dann noch eine besondere Vergütung zugestanden werden soll, wenn derselbe glaubhaft nachweisen kann, daß er dergleichen

196 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 218. - Zum Edikt über die Kurmark von 1792: E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 46. - Die Enteignungsgesetze des 18. Jahrhunderts bezogen sich also nicht nur auf Grundstücke, wie D. Grimm, Entwicklung des Enteignungsrechts, S. 123, meint. 197 198

F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 34.

V. Regelungen über die Enteignung von Grundstücken

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Materialien zu eignen Bauten selbst bedarf, oder daß er solche vor dem beabsichtigten Bau der Chaussee während seiner Besitzzeit andernweitig schon an Ort und Stelle verkauft hat, alsdann ihm der nachgewiesene Verkaufspreis ebenfalls zu vergüten ist. Die Verabfolgung der Materialien darf indessen, den Fall des eigenen Bedarfs zum Bau ausgenommen, wegen Führung diese Nachweises niemals verzögert werden." 199 Die Rotherschen Bedingungen von 1834 betrafen neben der unentgeltlichen Abtretung des erforderlichen Geländes sowie der Baumaterialien auch die kostenlose Einräumung von Ablageplätzen fur Materialien, die Verpflichtung zur Herstellung und Unterhaltung von Seitenbrücken und Abfahrten, zum entschädigungslosen Abtrieb von Bäumen und Sträuchern in Wäldern und Forsten, durch welche die Straße geführt wurde, und den Verzicht auf Entschädigung für den Abbruch von Zäunen und anderen Anlagen. 200 Derartige Entschädigungsverzichte wurden in noch größerem Ausmaß als die freiwilligen Abtretungen von Grund und Boden zur Voraussetzung für den Beginn von Staatsstraßenbauten. In den dreißiger Jahren entfachte allerdings das Aufkommen des Nichtstaatschausseebaus eine generelle Diskussion über das Materialentnahmerecht. Teilen des provinzialsächsischen Landtags erschien es „bedenklich ..., daß die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts ... zur Überlassung von Wegebaumaterialien ... auf alle Wegebaupflichtigen ... ausgedehnt werden." Die Abgeordneten wollten nicht Jeder Gemeinde oder jedem Privatmanne ein Anspruchsrecht auf fremdes Eigentum einräumen." 201 Diesen Bedenken stand jedoch das allgemeine Materialentnahmerecht als wichtiges Element der Gleichberechtigung zwischen allen Wegebaupflichtigen gegenüber. Außerdem hatte das preußische Eisenbahngesetz von 1838 gerade Enteignungen zugunsten von privaten Unternehmungen ermöglicht. 202 Letztlich sprach sich daher der Landtag mit 46 zu 24 Stimmen dafür aus, „daß allen Wegebaupflichtigen beim Bau der öffentlichen Wege in Beziehung auf Materiallieferungen dieselben Befugnisse eingeräumt werden." 203 In den vierziger Jahren, als der politische Druck zur Ausgabenbeschränkung besonders hoch war, erließ Finanzminister von Bodelschwingh zahlreiche Verwaltungsvorschriften, nach denen die Enteignung von Grundeigentum 199

Gesetz-Sammlung, 1867, S. 134. Vgl. auch L. von Rönne, Wegepolizei, S. 225. L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 15. 201 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil IV, Bl. 53. 202 D. Grimm, Entwicklung des Enteignungsrechts, S. 132. 203 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 393, Teil IV, Bl. 54. - Die Frage der Enteignungsberechtigung für Privatunternehmen spielte bei der Diskussion über die Eisenbahnträgerfrage eine wichtige Rolle. Vgl. u.a. F. Voigt, Verkehr, S. 520; H. Kunze, Wegeregal, S. 109. 200

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G. Der Staat als Gesetzgeber

möglichst zu vermeiden und vor der Einleitung eines Enteignungsverfahrens eine „gütliche Einigung" anzustreben war. 204 Trotz aller ihrer Einschränkungen hat die Entschädigungspflicht dazu beigetragen, daß Chausseen auch im 19. Jahrhundert in der Regel entlang der vorhandenen Landstraßen gebaut wurden. Anderenfalls mußte man wegen der Verfahren mit erheblichen Verzögerungen rechnen. In analoger Weise bevorteilte ein hoher Anteil landesherrlichen bzw. staatlichen Eigentums den Straßenbau in einer Region. So wird die hohe Straßennetzdichte im Harz und im Solling auch darauf zurückgeführt, daß in diesen Gebieten hannoverscher bzw. braunschweigischer Staatsbesitz gegenüber Privateigentum dominierte, und somit mit den Amtsuntertanen zahlreiche Wegebaupflichtige und gleichzeitig nur wenige Entschädigungsberechtigte existierten. 205

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften für die Entwicklung des Straßennetzes Vorschriften über die Beschaffenheit des Unterbaus beeinflußten direkt die Straßenqualität und stellten daher einen wichtigen Teil der Infrastrukturpolitik dar. Von erheblicher Bedeutung waren aber auch Regelungen über die Konstruktion der Fahrzeuge, bei denen man in erster Linie von den Auswirkungen der Fahrzeugbeschaffenheit auf den Straßenzustand ausging. Damit setzte sich im gesamten Betrachtungszeitraum eine bereits in der frühen Neuzeit vorherrschende Tendenz fort, mit Hilfe der Gesetzgebung die Fahrzeugbeschaffenheit an die Qualität der vorhandenen Straßen anzupassen.206 Dies ist insofern nicht verwunderlich, da der Staat dadurch einen Teil der Kosten, der durch die mangelhafte Qualität der sich meist im Eigentum der öffentlichen Hand befindlichen Verkehrswege entstand, auf die in der Regel privaten Fahrzeugbesitzer abwälzen konnte. Diese Praxis wirkte in doppelter Hinsicht innovationsfeindlich. Durch die Anpassung des Fahrzeugs an die existierende Straße wurde die Dringlichkeit von Straßenverbesserungen minimiert. Gleichzeitig haben in dieser Phase technische Standardisierungsvorschriften Innovationen im Fahrzeugbau eher gehemmt. 207

204 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 224 und 258; A. Germershausen, Wegerecht, Bd. 1,S. 475. 205 U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 103. 21)6 Allgemein dazu: M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 55.

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften

317

Schon in dieser Hinsicht ist die Charakterisierung der Kodifizierung, Vereinheitlichung und Präzisierung von Gesetzen als Bestandteil der Modernisierung durch die allgemeine Rechtsgeschichtsschreibung für unseren Bereich zu relativieren. Weitere Zweifel werden durch den Vergleich zwischen dem Königreich Preußen und dem Herzogtum Braunschweig hervorgerufen. Während nämlich Preußen im Gegensatz zur Regelung der Wegeunterhaltungspflichten relativ früh einheitliche technische Straßenbaustandards entwickelte und auf alle Chausseen anwandte, wurden diese Fragen im Herzogtum Braunschweig über einzelne, auf den speziellen Fall zugeschnittene Verordnungen geregelt. Dementsprechend gab es in der Wegeordnung von 1840 keinerlei allgemeine Vorschriften über die Beschaffenheit der Straßen. Die zuständige Verwaltung war deshalb in der Lage, auf technische Neuerungen rasch zu reagieren. 208 Das Resultat, also die außerordentliche hohe Chausseenetzdichte, spricht für diesen braunschweigischen Weg. Vorbedingung für diesen Erfolg war allerdings die zentrale Aufsicht über die Einhaltung der den individuellen Verhältnissen angepaßten Vorschriften. Diese wurde von der 1832 gegründeten Herzoglichen Baudirektion durchgeführt. Diese technische Baubehörde mußte sich zwar in den dreißiger und vierziger Jahren die entsprechenden Befugnisse gegen den Widerstand der Kreisdirektionen erkämpfen. 209 Der braunschweigische Chausseebau verfugte jedoch in dieser Zeit bereits über eine mehrere Jahrzehnte währende Tradition, wodurch auch die den Kreisdirektionen unterstehenden Wegebaumeister als relativ erfahren gelten konnten. Daher waren auch die Anforderungen an die Gesetzgebung anders als in der Phase des beginnenden Chausseebaus, die im Herzogtum Braunschweig zwischen 1780 und 1815 gelegen hatte und von zentralen technischen Vorgaben bestimmt worden war. 210 In Preußen, wo der Chausseebau in größerem Umfang erst in den Jahren nach 1815 begann, spielten daher die ersten Anweisungen des Finanzministers von Bülow über die Anlegung von Kunststraßen von 1814 und 1816 eine durchaus befördernde Rolle. Bevor nun die wesentlichen Punkte dieser und der folgenden technischen Vorschriften erläutert werden, sind einige Vorbemerkungen zur Entwicklung der Straßenbautechnik vorauszuschicken.

207

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Straßen zunehmend an die von den Fahrzeugen ausgehenden Anforderungen angepaßt. Vgl. H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 44 ff. 208 Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 13. 209 Vgl. Kapitel H.II.2. 21,) Vgl. Kapitel C.V.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

1. Die Entwicklung der Straßenbautechnik In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden im Untersuchungsgebiet Chaussierungen nach der französischen Bauweise vorgenommen. Während die ersten braunschweigischen Chausseen sowie die Straßen im Magdeburgischen und Halberstädtischen noch nach der traditionellen von Gautier entwickelten Bauweise entstanden waren, gelangten im Zuge der napoleonischen Besetzung auch die von Trésaguet entwickelten Verbesserungen ins nördliche Mitteldeutschland. 211 Die französische Packlagenbauweise blieb bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts die dominierende Straßenbautechnik. 212 Daneben existierten die auch als „Grandchausseen" bezeichneten Kieschausseen. Dabei handelte es sich meist um in materialarmen Gebieten gebaute Straßen. 213 Bei entsprechender Bedeutung wurden diese Strecken oft zu einem späteren Zeitpunkt mit Packlagen versehen. In Regionen mit extremem Mangel an zum Straßenbau verwertbaren Materialien wurden aber auch noch im 19. Jahrhundert „Kieschausseen" gebaut. Die Festigkeit der Unterbaue litt natürlich unter dem Steinmangel, so daß sie ähnlich wie die völlig unbefestigten Landstraßen bei nasser Witterung oft unbefahrbar waren. Gerade in den materialarmen Regionen griff man seit Ende der zwanziger Jahre die neue von McAdam entwickelte Straßenbaumethode auf. 214 Danach konnte man ganz oder teilweise auf die Packlage als Unterbau verzichten. Zwischen die Randsteine wurden statt dessen kleingeschlagene Steine geschüttet und festgewalzt. Bei entprechender Verdichtung sollten die so hergestellten Straßen billiger, ebener und sogar tragfähiger sein als die herkömmlichen Chausseen. Diese mehr oder weniger reinen Schotterstraßen hatten sich in Großbritannien relativ rasch durchgesetzt. 215 In Preußen propagierte Christian Wilhelm Beuth persönlich mit einem Bericht in den von ihm herausgegebenen Mitteilungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes im Jahre 1827 die McAdam-Bauweise. 216 In der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig kehrte man jedoch nach entsprechenden Versuchen in den dreißiger Jahren größtenteils zur alten französischen Bauweise zurück. Der Bau von macadamisierten Straßen hatte zwar eine gewisse Kostenersparnis erbracht. Die Chausseen hielten aber dem Verkehr mit den bis zu sechs Tonnen schweren Frachtfuhrwerken nicht

211

Vgl. Kapitel C.VII. Zum Wechsel der Straßenbeläge im letzten Viertel des 19. Jahrhundert, insbesondere der Verwendung von Asphalt: M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 219 ff. 213 Vgl. Kapitel C.VII. 2,4 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 99 f. 215 J. Salzwedel, Wege, S. 224. 216 C. Matschoss, Preußens Gewerbeförderung, S. 64. 212

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften

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stand.217 Obwohl also die meisten Chausseen weiterhin nach der Methode Trésaguets gebaut wurden, bezeichnete man auch diese häufig als „macadamisierte" Kunststraßen. 218 Aus diesem Grunde lassen sich später getroffene Aussagen über die Qualitätssteigerung der Straßen durch Macadamisierungen, wie sie für den Kreis Blankenburg getroffen wurden, nur schwer bewerten. 219 Eine vollends befriedigende Erklärung für den in Mitteleuropa zu verzeichnenden Mißerfolg einer Straßenbauweise, die in Großbritannien weite Verbreitung fand, existiert nicht. Gegen die These, die McAdamsche Bauweise wäre teurer gewesen, sprechen zeitgenössische Aussagen.220 Zum einen hat jedoch die im Durchschnitt geringere Masse der englischen Frachtwagen eine Rolle gespielt.221 Den deutschen, meist bis zu sechs Tonnen schweren Fuhrwerken mit schmalen Felgen konnten Steinpflaster am besten widerstehen. 222 Außerdem gibt es mehrere Hinweise, daß die geringere Widerstandsfähigkeit der mitteleuropäischen Macadam-Chausseen auch durch ihre unsachgemäße Herstellung verursacht wurde. Während nämlich McAdam sich gegen die Verwendung von Walzen zur Verfestigung seiner Straßen aussprach, ging man in den deutschen Ländern gerade in den zwanziger und dreißiger Jahren dazu über, die Straßenbeläge mit Holz-, Stein- und zum Teil auch schon mit gußeisernen Walzen zu verdichten. Dies wirkte sich bei Packlagen im Vergleich zur herkömmlichen Verfestigung durch die Wagen und Pferdehufe der Verkehrsteilnehmer oder mit Handrammen vorteilhaft aus. Schotterstraßen wurden von dem kostenintensiven Walzeneinsatz eher zerstört. 223 Trotz der prinzipiellen Beibehaltung der Straßenbautechnik konnten die Straßenbauarbeiten im Laufe des 19. Jahrhunderts effektiviert werden, ohne die Qualität der Chausseen zu mindern. 224 Wichtiger als die zunehmende Verwendung von Walzen war in diesem Zusammenhang die sorgfältigere Auswahl der

2,7 H. Bösenberg, John Loudon Mac Adam, S. 28; P. Bellin, Von der Pflasterstrecke zum modernen Straßenbelag, in: Es begann mit 12000 Talern. Geschichte des Straßenbaus in Niedersachsen, hrsg.v. der Vereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure in Niedersachsen, Hildesheim 1989, S. 57. - S. Wollheim, Staatsstraßen und Verkehrspolitik, S. 9, berichtet über ähnliche Erfahrungen im Hessischen. 218 R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 355. 219 Der Landkreis Blankenburg, S. 240. 220 Diese These vertritt R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 355, während G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 22, von einer Kostenersparnis spricht. 221 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 222 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 21. 223 Ebenda, S. 23; Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 232; J. Salzwedel, Wege, S. 224; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 32; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 106 f. 224 Zur Entwicklung der Baukosten vgl. Kapitel I.I.

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G. Der Staat als Gesetzgeber

Baustoffe, insbesondere die Verwendung von Hartgestein. 225 Das erforderte zwar mitunter noch längere Transportwege für die Herbeischaffung der Materialien. Gleichzeitig sanken jedoch die absoluten Transportkosten durch den Eisenbahn· und eben Chausseebau. Mit Hilfe der Harzburger Eisenbahn wurden beispielsweise Straßenbaumaterialien in den nördlichen Teil Braunschweigs geschafft. 226 Eine wichtige Rolle dürfte auch die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch den zunehmenden Einsatz gut ausgebildeter Straßenbauingenieure und professioneller Handarbeiter gespielt haben. 227 Schließlich wurde natürlich die französische Packlagenbauweise in verschiedenen Details verbessert. So ging man im Herzogtum Braunschweig um 1820 dazu über, den Steindamm mit Sandschlamm zu überziehen, da auf bloßen Steindämmen, die nicht auf das sorgfältigste unterhalten wurden, „besonders für Reisende im leichten Fuhrwerk ... das Fahren höchst lästig ist." 228

2. Technische Vorschriften über die Herstellung und Unterhaltung der Chausseen Im Jahre 1814 und 1816 wurden die ersten gesamtpreußischen Anweisungen über die Anlegung sowie Unterhaltung und Instandsetzung der Kunststraßen verfügt. 229 Diese wurden 1824 durch Vorschriften über die Dienstführung der Beamten präzisiert. Am 6. April 1834 erließ Innenminister von Schuckmann eine ausführliche Anweisung zum Bau und zur Unterhaltung der Kunststraßen, in der die Erfahrungen aus den ersten beiden Jahrzehnten systematischen Chausseebaus in Preußen verarbeitet wurden. 230 Darin gab es exakte Vorschriften über die Linienführung, Steigungsverhältnisse, die Breite des Planums, die Anfertigung der Steinbahn und die Anlegung der Seitengräben, die Wölbung der Straße und andere Entwässerungsmaßnahmen, den Brückenbau sowie die Bepflanzung der Straßenränder. Außerdem wurden das bei der Kostenkalkulation anzuwendende Verfahren festgelegt und allgemeine Vorschriften über die Ausführung der Bau-, Instandsetzungs- und Unterhaltungsarbeiten

225

R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 356. Zu den im Herzogtum Braunschweig verwendeten Straßenbaumaterialien: R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 137. 226 H.I. Helmke, Verkehr im Raum zwischen Weser und Elbe, S. 52. 227 Vgl. Kapitel E.III. 228 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 21. 229 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 230; E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 54 ff. 230 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 25.

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften

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erlassen. 231 Die Anweisung von 1834 wurde zwar 1836 und 1839 ergänzt, blieb aber im Prinzip bis 1871 in Kraft. 232 Ein Beispiel fur die Suche nach dem optimalen Verhältnis von Straßenqualität und Baukosten waren die Vorschriften über die Straßenbreite. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Chausseen in der Regel aus mehreren Teilen bestand. Militärische Rücksichten hatten zum Beispiel dazu geführt, daß an den Seiten der für die Artillerie gepflasterten Fahrbahn jeweils eine Schotterstraße für die marschierende Truppe und ein Kiesdamm für die Kavallerie angelegt wurden. 233 Aber auch für den zivilen Verkehr legte man neben der Steinbahn in der Regel einen Sommerweg sowie an den Rändern zwei für verschiedene Zwecke geeignete Banquets an. „Die Anlage eines Sommerwegs geschieht aus verschiedenen Gründen, entweder um eine breitere Fahrbahn auf sehr frequenten Straßen mit möglichst geringen Kosten zu beschaffen, oder um die Steinbahn wegen sehr kostspieliger Beschaffung der Steine auf ein Minimum reduzieren zu können, indem der Sommerweg bei trockener Jahreszeit gut zu befahren ist, und ausserdem zum Ausweichen Gelegenheit giebt, oder damit die Landleute mit ihren zum Theil unbeschlagenen Pferden und Wagenrädern die harte Steinbahn vermeiden können." 234 Im 1824 mit der Seehandlung geschlossenen Vertrag über den Bau von Staatschausseen wurde die Breite der Straßen auf 40 Fuß festgelegt. Davon entfielen 16 Fuß auf die Steinbahn, 12 Fuß auf den Sommerweg und der Rest auf 2 Banquets â 6 Fuß. 235 Im Jahre 1829 wurde berichtet, daß die preußischen Straßen 44 Fuß breit seien.236 Die Instruktion vom 6. April 1834 legte für Straßen mit Sommerweg eine Gesamtbreite von 30 bis 40 Fuß fest. Für die Steinbahn waren 14 bis 16 Fuß und für den Sommerweg 10 bis 12 Fuß vorgesehen. 237 Straßen ohne Sommerweg sollten insgesamt zwischen 24 und 36 Fuß breit sein, wobei die eigentliche Steinbahn 16-24 Fuß Breite aufzuweisen hatte. Hinzu kamen jeweils 6-12 Fuß Materialien- und Fußgänger-Banquets. In der Regel schlossen sich seitlich Straßengräben und Baumpflanzungen an. In den dreißiger und vierziger Jahren ging man in Preußen dazu über, die Straßen etwas schmaler zu bauen sowie die Gesamtbreite stärker nach der Bedeutung der Straße im Verkehrsnetz sowie der zu erwartenden Verkehrsintensität zu variieren. Diese Entwicklung wurde durch eine stärkere Berücksichti-

231 232 233 234 235 236 237

L. von Rönne, Wegepolizei, S. 231 ff. A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 68. R. Berthold u.a. (Hrsg.), Geschichte der Produktivkräfte, S. 354. Über den Chausseebau, 1848, S. 182. Ebenda, S. 177. C.W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis, S. 245. Über den Chausseebau, 1848, S. 176 und 181.

21 Uwe Müller

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G. Der Staat als Gesetzgeber

gung der Baukosten sowie durch den vermehrten Bau von Nebenstraßen befördert. 238 Eine analoge Tendenz existierte im Herzogtum Braunschweig bereits ab 1815. 239 Mit dem Argument, daß die Baukosten für die Leipziger Straße wegen der Anlegung einer 24 Fuß breiten Steinbahn wesentlich zu hoch gewesen seien, wurde für zukünftige Projekte eine Verkleinerung der Steinbahn zugunsten des Sommerweges verfügt, deren Ausmaß von der zu erwartenden Frequenz abhängig zu machen sei. Leichte Fahrzeuge sollten bei Trockenheit den Sommerweg benutzen, um die Steinbahn zu schonen. Der Verringerung der Straßenbreite waren natürlich praktische Grenzen gesetzt. So sind in den vierziger Jahren die preußischen Staatsstraßen „nicht unter 24 Fuß in der Breite innerhalb der Gräben gebaut (worden/U.M.), weil sonst zwei vollgeladene Frachtwagen sich nicht ohne das Banquet zu berühren ausweichen könnten." 240 Beim Nichtstaatschausseebau, der prinzipiell den gleichen technischen Vorschriften unterlag wie der Staatschausseebau, gab es allerdings Ende der vierziger Jahre Versuche, die vorgeschriebene Straßenbreite unter die 24-Fuß-Grenze abzusenken. Der provinzialsächsische Oberpräsident von Bonin trat im Juli 1847 für eine Revidierung der entsprechenden Vorschriften ein. 241 Die im Spannungsverhältnis zwischen Kostenmininimierung und Verkehrswertsteigerung stehende Diskussion um die optimale Straßenbreite hielt auch in den fünfziger Jahren an. So sprach sich die Bauabtheilung im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten im Jahre 1853 dafür aus, daß die Breite der Steinbahnen von Kreischausseen, die über einen Sommerweg verfügen, von 16 auf 12 Fuß verringert werden könnte. 242 Dementprechend bauten einige Kreise in den fünfziger Jahren sogenannte Halbchausseen, wodurch sie mitunter auch die Baukosten auf 10.000 Thaler pro Meile halbieren konnten. 243 Damit war natürlich auch eine Verminderung des Verkehrswertes verbunden, die den Straßennutzern besonders deutlich wurde, wenn ein Wagen bei entgegenkommendem Verkehr die Straße verlassen mußte. Das preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten hat den Bau solcher Halbchausseen durch die Kreise nicht verhindert, allerdings für derartige Projekte grundsätzlich keine Staatsprämien gewährt. 244

238 239 240 241 242 243 244

Ebenda, S. 181. U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 19 f. Über den Chausseebau, 1848, S. 181 f. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 81. Ebenda, Nr. 3469, Bl. 58. Ebenda, Bl. 147. Ebenda, Bl. 171r.

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften

323

3. Vorschriften über die Beschaffenheit der Straßenfahrzeuge Die Bestimmungen zur Fahrzeugbeschaffenheit betrafen in erster Linie das Gewicht, das Achsmaß bzw. die Spurweite und die Felgenbreite. 245 Das in dieser Hinsicht für Preußen wichtigste Gesetz war die Verordnung, den Verkehr auf den Kunststraßen betreffend, vom 17. März 1839. 246 Sie enthielt ausschließlich Vorschriften für das Fahrzeug, sagte also nichts über die Beschaffenheit der Straße aus. Neben den Bestimmungen über Gewicht, Felgen- und Ladungsbreite, Radbeschläge und Beschaffenheit der Hufe regelte das Gesetz auch die Organisation seiner Einhaltung und die Höhe eventueller Strafen. Die Hälfte der „wirklich eingezogenen Strafen" erhielten übrigens die „angebenden Beamten ... als Denunzianten-Anteil". 247 Der Einfluß des Fahrzeuggewichts auf die Abnutzung der Straße ist plausibel. Bereits seit dem Mittelalter existierten in Mitteleuropa Bestimmungen über dessen Maximum. Zur Kontrolle wurden seit dem 16. Jahrhundert vereinzelt Waagen eingesetzt. In der Regel beschränkte man jedoch die Anzahl der Pferde oder der Räder, um dadurch das Befahren der unbefestigten Straßen mit zu schweren Fahrzeugen zu verhindern. 248 In der Verordnung von 1839 wurde das zulässige Maximalgewicht der Fahrzeuge abhängig von dessen Radzahl und Felgenbreite sowie von der Jahreszeit geregelt. So schwankte das zulässige Höchstgewicht der Frachtfuhrwerke zwischen 30 Centnern bei zweirädrigem Fuhrwerk mit einer Felgenbreite zwischen 4 und 5 Zoll für die Zeit vom 15. November bis 15. April und 120 Centnern bei vierrädrigem Fuhrwerk mit einer Felgenbreite von mehr als 6 Zoll für die Zeit vom 15. April bis 15. November. Diese Bestimmungen galten jedoch nur für „gewerbsmäßig betriebene Frachtfuhrwerke", also Fahrzeuge von Fuhrleuten und Gewerbetreibenden.249 Diese gestaffelte Festsetzung der Gewichtsgrenzen zeigt, daß dem Gesetzgeber deren volkswirtschaftliche Bedeutung durchaus bewußt war. Jedenfalls bemühte er sich um ein jeweils optimales Verhältnis zwischen den mit dem Ladungsgewicht steigenden Unterhaltungskosten und den von der Größe der Ladungen maßgeblich beeinflußten Transportkosten. Für Massenguttransporte, die mangels Eisenbahn- oder Wasserstraßenanschluß auf die Straße angewiesen

245 Daneben existierten noch Bestimmungen über die Beschaffenheit der Radbeschläge, die Breite der Ladung und die Hufeisenbeschaffenheit. 246 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 257. - Zu älteren preußischen Verordnungen: M. Jehle, Eiserne Kunststraßen, S. 74; H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 32. 247 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 258 (Par. 20). 248 Β. Wunder, Chausseebau, S. 528; M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 57 f.; H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 13 f. 249 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 257 (Paragr. 2).

324

G. Der Staat als Gesetzgeber

waren, stellten die Gewichtsbegrenzungen eine zusätzliche Belastung dar. Um ihre Brennstoffversorgung zu gewährleisten, beantragte daher die Stadt Halle schon im Jahre 1841 eine Ausnahmegenehmigung für die in die Stadt gehenden Braunkohlenfuhren. Sie wurde in diesem Falle jedoch nicht gewährt. 250 In der Folgezeit „tarnten" sich gerade Kohlen- und Zuckerrübenfuhren, die über kurze Strecken gingen, häufig als „gelegentliche Fahrten von Landwirten oder Akkerbürgern", da diese als nicht gewerbsmäßig betriebene Transporte von der Gewichtsbegrenzung befreit waren. 251 Schon im 18. Jahrhundert existierten Bemühungen um einheitliche Spurbreiten. In Preußen erging im Jahre 1807 die erste Verordnung zur Normierung der Achsbreiten. Dadurch sollte das zu diesem Zeitpunkt unvermeidliche Ausfahren von Spurrinnen so gesteuert werden, daß man sich bei den Unterhaltungsarbeiten auf zwei Furchen konzentrieren konnte. Die Umsetzung der Bestimmung scheiterte jedoch an den hohen Kosten für die Umstellung der Militärwagen sowie an den unterschiedlichen Achsmaßen der ausländischen Fuhrwerke. 252 Trotzdem wurde 1827 erneut ein maximaler Abstand zwischen den Felgenmitten festgelegt; er sollte nicht größer sein als 1,36 Meter. 253 An diese für ganz Preußen geltende Bestimmung wurden nach einem entsprechenden Wunsch der sächsischen Provinzialstände allmählich auch die braunschweigischen Vorschriften angepaßt.254 Die Normierung der Spurweiten war nicht nur schwer durchsetzbar; die von ihr begünstigte Spurrinnenbildung wurde auch zunehmend als kontraproduktiv angesehen, da sie den Unterhaltungsaufwand steigerte. In Braunschweig sollten die Wegewärter schon 1772 darauf achten, daß jeder Wagen eine neue Spur benutzt.255 In Preußen untersagte das Gesetz von 1839 in Paragraph 12 „das Spurhalten auf den Kunststraßen." 256 Zur gleichen Zeit leisteten die Bestimmungen zur Vereinheitlichung der Achsbreiten jedoch einen wesentlichen, wenn auch unintendierten Modernisierungsbeitrag, da ihre bloße Existenz die einheitliche Übernahme der Spurweite der englischen Lokomotiven durch die deutschen Eisenbahngesellschaften begünstigte.257 Noch wichtiger als der Abstand zwischen den Felgen war deren Breite, die in Abhängigkeit vom Gewicht des Wagens die Tiefe der Spurrinnen bestimmte. 250

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 97 ff. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 343. 252 A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, S. 22; B. Schulze, Geschichtliches über das norddeutsche Straßenwesen, S. 34 f. 253 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 32. 254 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3463. 255 Th. Müller, Ostfälische Landeskunde, S. 231. 256 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 258 (Par. 12). 257 M. Jehle, Eiserne Kunststraßen, S. 74. 251

VI. Die Bedeutung technischer Vorschriften

325

In England wurde angesichts des hohen Verkehrsaufkommens bereits um 1770 über eine Normierung der Felgenbreite diskutiert. Die Idee, nur noch 16 Zoll breite Felgen zuzulassen, ist jedoch nach massiven Protesten wieder aufgegeben worden, denn ,je stärker man sich den wirtschaftsliberalen Auffassungen zuwandte, um so mehr vertrat man die Überzeugung, daß der Wagenbesitzer selbst das rechte Verhältnis von Felgenbreite und Gewicht finden, d.h. feststellen werde, wann sein Fahrzeug nicht mehr in die Straße einsank, aber auch nicht durch zu breite Felgen übertrieben starke Reibungen zu überwinden habe/' 2 5 8 Diese deregulierende Haltung resultierte aber auch aus der Haltung des einflußreichen Straßenbaumeisters McAdam, der sich gegen Vorschriften über die Felgenbreite aussprach. 259 Mit dem Highway Act von 1835 wurden dann alle derartigen Beschränkungen abgeschafft. Nach den ersten einzelnen Verordnungen im 18. Jahrhundert enthielt das Gesetz von 1839 erstmals für Preußen einheitliche Vorschriften über die Felgenbreite im Zusammenhang mit dem Gewicht der Ladung. 260 Danach sollte die Breite der Radfelgen von Frachtfuhrwerken mindestens 4 Zoll betragen. Diese Bestimmung galt auch für Kohlen- und Getreidefuhren, die nicht zu dem „gewerbsmäßig betriebenen Frachtfuhrwerk gehören", wenn die Ladung schwerer als 25 bei zwei- bzw. 50 Centner bei vierrädrigen Wagen war. 261 Von dieser Bestimmung wurden ausländische landwirtschaftliche Fuhrwerke ausgenommen, wenn sie sich nicht weiter als drei Meilen von der Landesgrenze entfernten und im Herkunftsland keine gleichartigen Vorschriften bestanden. In der Folgezeit gestellte Anträge auf Ausnahmeregelungen für einheimische landwirtschaftliche Fuhrwerk wurden in mehreren Fällen abgelehnt.262 Lediglich für die fast gänzlich von ausländischen Territorien umschlossenen Kreise Erfurt, Schleusingen und Ziegenrück galt das Gesetz von 1839 nicht. 263 Im Herzogtum Braunschweig sah man sich auch in diesem Fall veranlaßt, die eigenen Bestimmungen an die preußischen Vorschriften anzupassen, weil der grenzüberschreitende Verkehr nach dem schrittweisen Beitritt des Herzogtums zum Zollverein offensichtlich nicht nur aus landwirtschaftlichen Nahtransporten bestand. Noch im Jahre 1839, am 25. November, übernahm man

258

W. Treue, Achse, Rad und Wagen. S. 282. Vgl. auch U. Müller, Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, S. 66. 259 H. Bösenberg, John Loudon Mac Adam, S. 26. 260 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 257 f. - Vgl. auch Über den Chausseebau, 1848, S. 184; A. Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, S. 22. 261 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 258, Par. 7. 262 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 40. Die Reglementierung der Radfelgenbreite wurde im Gegenteil durch ein Gesetz von 1877 mit der Festlegung auf 1362 mm fortgesetzt. Vgl. W. Treue, Achse, Rad und Wagen, S. 290. 263 Gesetz-Sammlung, 1867, S. 258.

326

G. Der Staat als Gesetzgeber

die preußischen Vorschriften über die Radfelgenbreite. 264 Die wichtigste Regulierungsmethode war dabei die Staffelung des Chausseegeldtarifs nach der Felgenbreite. 265 Schon seit 1823 galten in Braunschweig für Fuhrwerke mit breiten Felgen ermäßigte Chausseegeldtarife. 266 Unabhängig davon wurde im Zollverein noch in den vierziger Jahren über einheitliche Vorschriften zur Radfelgenbreite verhandelt. 267

264

F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3476. 266 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35. - In Kurhessen mußten schmalfelgige Fuhrwerke schon seit 1819 Chausseegelder in einer Höhe zahlen, die einem Fahrverbot gleichkam. Vgl. S. Wollheim, Staatsstraßen und Verkehrspolitik, S. 18. 267 Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 95. 265

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung Die Umsetzung der modernisierten Wegegesetzgebung erforderte auch eine Reform der entsprechenden Verwaltungsstrukturen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der fur Handels- und Gewerbefragen zuständigen Verwaltung und daher auch im Straßenwesen von der für diese Zeit typischen experimentellen Suche nach den optimalen administrativen Strukturen geprägt.1 Dabei ging es sowohl um die Verteilung der Kompetenzen zwischen den verschiedenen Behörden als auch um die Suche nach der optimalen vertikalen Verwaltungsebene.2 In Preußen mußten die Zuständigkeiten der Staatsregierung, der Oberpräsidenten der Provinzen, der Regierungen der Bezirke, der Landräte mit ihren Kreisverwaltungen und schließlich der kommunalen Körperschaften gegeneinander abgegrenzt werden. Im Herzogtum Braunschweig ging es um die Festlegung der Befugnisse auf Regierungs-, Kreis-, Amts- und Gemeindeebene. Ein Blick auf die konkrete Verwaltungstätigkeit zeigt, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bereits mit dem Beginn des Chausseebaus einsetzende Transformation der zentralen Aufgabenstellung vollzogen wurde. Die Wegebauverwaltung beschränkte sich nicht mehr auf die Aufsicht, sondern mußte selbst Bau und Unterhaltung der Straßen organisieren. 3 In diesem Zusammenhang vollzog sich in der Bürokratie ein Professionalisierungsprozeß. Die Durchführung der ersten Chausseebauten wurde in der Regel von einer auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelten Institution geleitet.4 Mit der massiven Ausweitung des Nichtstaatschausseebaus in Preußen sowie der Chaussierung der braunschweigischen Kommunikationswege wurde jedoch die Stärkung der dezentralen Behörden notwendig. Im Spannungsfeld zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung sowie Konzentration und Dekonzentration konnten Bau- und Unterhaltungsdurchführung, technische Planung und Aufsicht, Verwaltung von Einnahmen und Ausgaben durchaus unterschiedliche Wege gehen.

1

R. Koselleck, Preußen, S. 166; F.L. Knemeyer, Beginn der Reorganisation, S. 147. Zur Begrifflichkeit: A. von Mutius, Öffentliche Verwaltung, in: W. Albers u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 9, Stuttgart-New YorkTübingen-Göttingen-Zürich 1988, S. 825 ff., insbesondere S. 843 f. 3 J. Salzwedel, Wege, S. 201. 4 Vgl. Kapitel C.V. 2

328

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

Es wird daher im folgenden zunächst auf die horizontale Verwaltungsstruktur, also die Zuordnung des Chausseebauwesens im Zentralbehördensystem, einzugehen sein. Anschließend wird die vertikale Verwaltungsstruktur, also die Kompetenzverteilung zwischen zentralen, regionalen und lokalen Behörden, untersucht. Schließlich sollen einige konkrete Verwaltungstätigkeiten betrachtet werden, wobei gleichzeitig der Versuch unternommen wird, die Qualität der Verwaltungsarbeit zu bewerten, was nur auf der Grundlage zeitgenössischer Einschätzungen geschehen konnte. Die Relevanz dieser Prozesse für die Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastruktur zeigt ein Vergleich mit England, das im Jahre 1820 bereits über ein dichtes, fast ausnahmslos privat finanziertes Straßennetz verfügte. 5 John Loudon McAdam, der zu dieser Zeit nicht nur wichtige straßenbautechnische Werke verfaßte, sondern als Surveyor General der vereinigten „Bristol Road Trusts" mit der praktischen Straßenaufsicht befaßt war, sah in der mangelnden Zentralisierung und Professionalisierung der britischen Straßen- und Wegeadministration das gewichtigste Defizit des dortigen Landverkehrswesens. 6

I. Die Entwicklung der horizontalen Verwaltungsstruktur 1. Die Zentralbehörden in Preußen Der Zersplitterung des Wegerechtes entsprechend existierte in Preußen keine Zentralbehörde für das Wegewesen. Für den Chausseebau war seit 1791 die Chausseebauintendantur zuständig.7 Sie mußte die Kostenanschläge für Chausseeneubauten an den König einreichen und war diesem nach der Ausführung unmittelbar berichtspflichtig. Die für den Chausseebau zur Verfügung stehenden Mittel wurden von einer speziellen Chausseekasse verwaltet, die Zuweisungen aus dem Dispositionsfonds erhielt. Die Chausseegelder wurden von der General-Zoll- und Akzise-Administration erhoben und zur laufenden Unterhaltung sowie zur Reparatur verwandt. Versuche des Leiters der Chausseebau-

5 Vgl. A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 16 f f ; U. Müller, Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, S. 52 ff., mit den entsprechenden Hinweisen auf die britische Literatur. 6

H. Bösenberg, John Loudon Mac Adam, S. 25. - Trotzdem war bis zum Beginn des Eisenbahnbaus das britische turnpike-system für die Herstellung einer der Industrialisierung adäquaten Landverkehrsinfrastruktur optimal. A. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, S. 20 f.; U. Müller, Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, S. 60 ff. 7 H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 24; Vgl. auch Kapitel C.V.

I. Die Entwicklung der horizontalen Verwaltungsstruktur

329

Intendantur, Moritz Graf von Brühl, Zugriff auf diese Chausseegeldeinnahmen zu erlangen, scheiterten.8 Der Gestaltungsspielraum seiner Behörde blieb also ebenso gering wie ihre praktische Wirksamkeit. Im Zuge der preußischen Reformen verlor die Intendantur ihre formale Selbständigkeit. Die Trennung von allgemeiner Chausseeadministration und Verwaltung der Chausseegeldeinnahmen blieb allerdings bestehen. Im Rahmen der preußischen Reformen wurden im Jahre 1808 die provinziellen Sonderministerien abgeschafft und durch echte Ressortministerien ersetzt.9 Die Chausseebauintendantur wurde daraufhin in das Ministerium des Innern, Abteilung Handel und Gewerbe eingegliedert. Durch die KO vom 3. Juni 1814 wechselte die Zuständigkeit an das neu gegründete Ministerium der Finanzen und des Handels unter der Leitung von Bülows. Innerhalb des Ministeriums war Gottlieb Johann Kunth seit 1815 Direktor der Generalverwaltungen für Handel und Gewerbe. 10 Nach der Teilung des Ministeriums infolge der KO vom 2. Dezember 1817 blieb die Verwaltung der Chausseen beim Ministerium für Handel und Gewerbe. 11 Allerdings befaßte sich mitunter auch die Staatskanzlei Hardenbergs mit Chausseebausachen, ohne das Ministerium zu konsultieren. 12 In den Jahren 1821 und 1822 kam es im Zusammenhang mit der Krise der Staatsfinanzen zu einem Rückgang des Chausseebaus, so daß seit 1823 die Königlich Preußische Seehandlung den größeren Teil der Straßenbauten finanzierte. 13 Durch die Auflösung des selbständigen Handelsministeriums im Jahre 1825 kehrte die Chausseeverwaltung als Teil der Handels-, Gewerbe- und Bauverwaltung in das Innenministerium unter von Schuckmann zurück. 14 Eine dauerhafte Veränderung bewirkte die KO vom 28. Oktober 1827. Die Verwaltung aller Kommunikationsabgaben, also auch der Chausseegeldeinnahmen, wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1828 den Zoll- und Steuerämtern

8

E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 52 f. F.L. Knemeyer, Beginn der Reorganisation, S. 141; G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 454. - Zum folgenden: L. von Rönne, Wegepolizei, S. 23 ff.; J. Salzwedel, Wege, S. 221 ff. - Die diesbezüglichen Angaben von R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 17 ff., sind nicht vollständig. 9

10 Kunth war zuvor seit 1801 Mitglied des Fabriken- und Kommerzialdepartements im Generaldirektorium unter Struensee bzw. Freiherr vom und zum Stein und seit 1808 Geheimer Staatsrat und Leiter der Sektion Gewerbepolizei. W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 271. 11

Vgl. zur 1817 erfolgten Veränderung des Zuschnitts R. Koselleck, Preußen, S. 226 f. 12 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 26. 13 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 4. 14 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 175.

der

Ministerien:

330

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

unter Leitung des Finanzministeriums übergeben. 15 Dort verblieb sie bis zur Übertragung der Staatschausseen in die provinzielle Zuständigkeit im Jahre 1876. Die zentrale Chausseebauverwaltung wechselte hingegen noch mehrmals ihre institutionelle Anbindung. Sie ging im Jahre 1830 an das wiedergegründete Ministerium des Innern für Handel- und Gewerbeangelegenheiten über, wurde jedoch schon 1834 dem Seehandlungspräsidenten Rother unterstellt. 16 Der König erhoffte sich von dieser Übertragung eine finanzielle Konsolidierung, nachdem die Zollunionspolitik des Finanzministers von Motz zwar erfolgreich, aber auch mit hohen Staatsausgaben, nicht zuletzt für den Straßenbau, verbunden gewesen war. 17 Rother konzipierte mit dem Handelsamt eine besondere Oberbehörde für die Verwaltung des Handels-, Fabrik- und Bauwesens, die auch die Kompetenz für das Chausseebauwesen zu übernehmen hatte. Dort sollten von der Bauvorbereitung bis zur Chausseegelderhebung alle wichtigen Fragen organisiert werden, so daß lediglich grundsätzliche Entscheidungen durch den König, das Kriegs- und das Innenministerium zu fällen waren. 18 Nach Differenzen mit dem Kronprinzen über die Eisenbahnpolitik zog sich Rother jedoch nach kurzer Zeit aus der Handelspolitik zurück. 19 Die KO vom 4. April 1837 verfügte daher den Übergang der gesamten Chausseeverwaltung in das Finanzministerium des Grafen von Alvensleben. 20 Dort blieb sie faktisch auch nach der Gründung des Handelsamtes im Jahre 1844.21 Erst in der Märzrevolution erfolgte die nunmehr dauerhafte Gründung des preußischen Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. In dieses Ministerium wurden durch den Erlaß vom 17. April 1848 sämtliche Geschäfte der Abtheilung für Handel, Gewerbe und Bauwesen des Finanzministeriums überführt. Deren dritter Abteilung oblag die Verwaltung des Land-, Wasser- und Chausseebauwesens.22 Der noch in der Revolutionszeit eingesetzte Handelsminister

15 Über den Chausseebau, 1848, S. 186; A. Frantz, Der preußische Staat. Handbuch der Statistik, Verfassung und Gesetzgebung Preußens, 1. Teil, Quedlinburg-Leipzig 1854, S. 797. 16 Vgl. KO vom 28.4. 1834. 17 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 69. 18 E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 89; W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 183. 19 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 267. 20 Über den Chausseebau, 1848, S. 176. 21 R. Koselleck, Preußen, S. 356; W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 183. - Der Kompetenzstreit zwischen dem schutzzöllnerischen Handelsamt und dem eher freihändlerischen Finanzministerium hatte auf die Straßenbaupolitik keine unmittelbaren Auswirkungen. H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 127. 22 F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abtheilung, S. 2205; L. von Rönne, Wegepolizei, S. 171.

I. Die Entwicklung der horizontalen Verwaltungsstruktur

331

August von der Heydt überstand auch die Restaurationsperiode im Amt und hat in der Verwaltungspraxis vor allem den Kreischausseebau gefördert. 23 Die zahlreichen Wechsel der zentralen preußischen Bauabteilung zwischen den Ministerien, also das Fehlen einer dauerhaften Verwaltungsstruktur in diesem Bereich während der gesamten ersten Jahrhunderthälfte, waren insofern ein Ausdruck von „Hilflosigkeit" 24 , da die Anforderungen an die Straßenbaupolitik mit den wirtschaftspolitischen Trends in anderen Bereichen nur schwer vereinbar waren. Die von der Staatsschuldenverordnung des Jahres 1820 gesetzten engen Grenzen in der Ausgabenpolitik und die große Rolle der zollpolitischen Debatte machten straßenbaupolitische Belange mit Ausnahme der Ära Motz zur von den Spitzen der Ministerialbürokratie eher ungeliebten Nebensache. Trotz weitgehender personeller Kontinuität im unteren und mittleren Bereich dürften die häufigen Veränderungen in der straßenbaupolitischen Kompetenz Auswirkungen auf die Effektivität der Straßenbauverwaltung gehabt haben. Erst in den fünfziger Jahren fand man mit der Förderung des Kreischausseebaus ein straßenbaupolitisches Pendant zur Liberalisierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger Intensivierung der staatlichen Infrastrukturpolitik. Nach 28-jähriger Einbindung der Straßenbauverwaltung in das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten wurden im Jahre 1876 durch die Übertragung der Staatschausseen an die Provinzen sämtliche zentrale Verwaltungen aufgelöst. Angesichts der veränderten Funktionen des Landstraßenverkehrs sollte sich die Kompetenzverlagerung in den Bereich der Provinzialverwaltungen insgesamt bewähren. 25

2. Die Zentralbehörden im Herzogtum Braunschweig Im Herzogtum Braunschweig war die General-Wegebesserungskommission bis zur Einbeziehung des Staates in das Königreich Westfalen für das Chausseewesen zuständig. Analog der preußischen Chausseebauintendantur war die Kommission dem Herzog direkt untergeordnet. 26 Im Königreich Westfalen wurden Straßenbausachen durch die 1807 gegründete Generaladministration

23

Von der Heydt war von 1848 bis 1862 Minister. Im Amt folgten ihm von Holzbrinck (1862) und der wirtschaftsliberale Graf Heinrich von Itzenplitz (1862-1873). 24 J. Salzwedel, Wege, S. 223. 25 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 76 ff.. Vgl. auch Kapitel F.V. 26 G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 219 und 244. Vgl. auch Kapitel C.V.

332

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

der Brücken, Chausseen und öffentlichen Gebäude verwaltet. Im Zuge der Wiedererrichtung des braunschweigischen Staates im Jahre 1814 erweiterte sich der Zuständigkeitsbereich der Fürstlichen Kammer als Verwaltungsbehörde des Staatsministeriums, unter anderem durch die Zuordnung des Chausseewesens.27 August Philipp von Arnsberg, der spätere Initiator des ersten deutschen Staatsbahnbaus, war innerhalb der Kammer von 1816 bis 1818 „Secretär für das Accise- und Chausseewesen".28 Im von Oberbaumeister Peter Joseph Krähe geleiteten Departement des Bauwesens hatte Ignaz Benedict Dufour als Wegbaumeister für einen ordnungsgemäßen Zustand der „Chaussee- und Poststraßen, dazugehörigen Sommerwege, Brücken, Barrieren und Chausseehäuser" zu sorgen. 29 Mit der Erneuerten Landschaftsordnung von 1821 kam es in Braunschweig auch zu einer Änderung der Verwaltungsstruktur. Die Leitung der Chausseebauten sowie die Aufsicht über die bestehenden Chausseen wurde durch die Verordnung vom 29. Oktober 1821 dem Geschäftskreis des Landes-SteuerKollegiums zugeordnet. 30 Leiter des Kollegiums war Georg Philipp von Bülow; für die Chausseebausachen war Geheimrath von Strombeck zuständig.31 Von Bülow hielt das Straßenwesen für so wichtig, daß nach eigener Auskunft „fast alle Vorschläge in Chaussee-Bau-Sachen, auch die Entwerfung der ChausseeBau-Etats" von ihm selbst ausgingen.32 Alle Projekte und Etats mußten vom Geheimratskollegium bzw. Staatsministerium genehmigt werden. Die konkrete Aufsichtstätigkeit über den Straßenzustand wurde weiterhin von einem Wegbaumeister ausgeübt. Nach dem Tode Dufours übernahm Georg August Glahn im Jahre 1823 diese Aufgabe. 33 Nach der Einführung des Staatsgrundgesetzes von 1832 erfolgte eine Verwaltungsreform, deren Ergebnisse auf zentralstaatlicher Ebene relativ langen Bestand hatten. Für die Erhebung der direkten und indirekten Steuern sowie der Chausseegelder war nunmehr die Steuerdirektion zuständig.34 Das gesamte öf-

27 H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 129; F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 23; C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig, 1829, S. 54; Th. Klein, Herzogtum Braunschweig, S. 745. 28 Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 2, X, Nr. 26, Bl. 2. 29 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 31. 30 C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig, 1829, S. 100; F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 23. 31 G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 6. 32 Ebenda, S. 8. 33 G. Biegel (Hrsg.), Braunschweigische Industriegeschichte, S. 19; S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 32. - Glahn war mindestens bis 1831 im Amt. - Vgl. auch U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 23. 34 J. König, Landesgeschichte, S. 93; Th. Klein, Herzogtum Braunschweig, S. 747 f.

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung

333

fentliche Bauwesen wurde von der Herzoglichen Baudirektion geleitet. Dieser Baudirektion stand in den ersten Jahren von Arnsberg vor, der gleichzeitig zum Geheimen Legationsrat und Finanzdirektor aufstieg. 35 In der Baudirektion waren zunächst Landbauinspector Wolf und Kreisbaumeister Blumenstengel für das Straßenwesen zuständig.36 Von 1837/38 bis 1872 bestimmte dann Baurat Voigt als Dezernent für Wege- und Wasserbausachen den Ausbau des Chausseenetzes maßgeblich.37 Die Baudirektion unterstand direkt dem Staatsministerium. Das bedeutete in der Praxis, daß die von der Baudirektion erstellten Listen der neu zu bauenden Straßen vom Staatsministerium zu genehmigen waren. 38 Das Staatsministerium verfügte im Jahre 1834, „daß jedesmal vor der Anordnung des Baues einer Chausseestrecke oder des Umbaues der vorhandenen, die Einreichung des Kostenanschlages nebst den Situationsplänen und den Längen- und Querprofilen der Straßen geschehen solle, selbst in den Fällen, da die Kosten der Bauten bereits vorläufig etatmäßig bewilligt sind." 39 Die Baudirektion war also in erster Linie eine technische Behörde. Diese Aufgabenteilung existierte noch in den sechziger Jahren. Die Baudirektion bestand zu diesem Zeitpunkt aus einem Landesdirektor und drei Bauräten und unterstand direkt dem Staatsministerium. Der Geschäftskreis umfaßte „die technische Leitung des sämmtlichen Bauwesens".40

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung In der gegenwärtigen Infrastrukturtheorie spielt die Frage nach dem optimalen räumlichen Bezugsrahmen der Infrastrukturverwaltung, also der Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eine wichtige Rol-

35 H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 119. - Nach von Arnsberg leiteten im Jahre 1838 von Thielau sowie von 1838 bis 1850 Pini die Herzogliche Baudirektion. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 33. 36 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 37 Brinckmann, Landstraßen, S. 319 und 323. - Voigt war von 1822 bis 1838 in preußischen Diensten gewesen. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 33. 38 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460. 39 Ebenda. 40 A. Lambrecht, Das Herzogthum Braunschweig, S. 233. - Eine analoge Funktionsbeschreibung wurde für die neunziger Jahre gegeben. Vgl. F. Knoll / K. Bode, Das Herzogtum Braunschweig, S. 171.

334

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

le. 41 Die Organisation der Straßenverwaltung, also die Verteilung von Entscheidungsbefugnissen, aber auch die konkrete Arbeitsteilung wurden im 19. Jahrhundert von so vielen Faktoren beeinflußt, daß sich kein einheitlicher Trend herausbilden konnte. Während einerseits die Entwicklung der allgemeinen Verwaltungsstrukturen beim Übergang vom absolutistischen zum modernen Verwaltungsstaat und der zunehmende Bau von Nebenstraßen eher dezentralisierend wirkten, erforderte andererseits die höhere Spezialisierung und Qualifizierung der Beamten und die Nutzung der Straßenbaupolitik für Ziele der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik eine zentralistisch organisierte Straßenverwaltung. Hinzu kam, daß durch die Beibehaltung der traditionellen Inanspruchnahme von Gemeindediensten für durch den modernen Staat zu erbringende Leistungen, ja generell durch das vielfältige System gegenseitiger Unterstützungen eine scharfe Trennung zwischen staatlicher und gemeindlicher Tätigkeit nicht möglich ist. 42 Eine Betrachtung des allgemeinen Trends in der Verwaltungsgeschichte zeigt, daß die territoriale Neugliederung nach 1803 und 1815 in den meisten deutschen Staaten mit einer administrativen Zentralisierung verbunden war. Die preußischen Reformen zielten hingegen eher auf Dezentralisation und Dekonzentration der Geschäftsverteilung. 43 Natürlich spielte dabei auch die Frage der Staatsgröße eine Rolle. In den neuen Landesteilen richtete sich der Behördenaufbau nach der jeweiligen Integrationsstrategie. 44 In der Regel führten aber die unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Provinzen dazu, daß viele wirtschaftliche Angelegenheiten sowie beinahe alle Kultur- und Schulsachen dezentral entschieden wurden. 45 Dabei handelte es sich allerdings um eine inneradministrative Regelung, denn anders als beim Erlaß der Städteordnung von 1808 scheiterten die Versuche der Reformer, eine Kreis- und eine Landgemeindeordnung einzuführen. 46 Der sachliche Hintergrund der Straßenbauverwaltung, also die Anforderungen der Netzentwicklung, unterlagen im Untersuchungszeitraum einem grund-

41

R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, S. 51 f.; K. Stern, Infrastrukturpolitik, S. 233. 42 L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 66. - Mitunter wird dieser Zustand auf die etwas vereinfachende Kurzformel gebracht, im 19. Jahrhundert habe der Staat geherrscht und die Gemeinde gewirtschaftet. K. Stern, Infrastrukturpolitik, S. 235. 43 F.L. Knemeyer, Beginn der Reorganisation, S. 144 f f ; G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 413. Gegenläufigen Tendenzen gab es vor allem in den süddeutschen Staaten. 44 Zur Integration der provinzialsächsischen Gebiete in den preußischen Staat Kapitel B.I. 45 R. Koselleck, Preußen, S. 232 f. 46 F.L. Knemeyer, Beginn der Reorganisation, S. 150. - Zur Fortentwicklung der Kreisverfassungen Kapitel F.III.

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung

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legenden Wandel. Während man in Braunschweig seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts und in Preußen nach 1815 ein an den Verkehrsbedürfnissen der Gesamtstaaten ausgerichtetes Chausseenetz erarbeitete und für deren Herstellung auch eine zentrale Verwaltung benötigte, sank mit der Realisierung dieser Konzepte, der Gründung des Zollvereins und dem Übergang des überregionalen Verkehrs auf die Eisenbahn die Notwendigkeit einer gesamtstaatlich orientierten Straßenbaupolitik. Wenn sich trotzdem zentrale Bürokratien mit der Projektierung und Durchführung von Nebenstraßenbauten beschäftigten, obwohl sie von den örtlichen Gegebenheiten keine oder nur mittelbare Kenntnisse erlangt hatten, so lag das zum Teil an dem sicherlich immer vorhandenen, jedoch in den vierziger Jahren besonders starken Beharrungsvermögen administrativer Strukturen. Das aus absolutistischen Zeiten überkommene und in der Reformzeit trotz des wirtschaftsliberalen Ansatzes mitunter noch verstärkte omnipräsente Selbstverständnis der Bürokratie spielte dabei eine wichtige Rolle. 47 Im Herzogtum Braunschweig glaubte man zudem, von der Zentrale aus die Bedürfnisse aller Landesteile überblicken zu können. Für eine zentralistischere Verwaltungsstruktur sprach, daß die Administration insgesamt nicht sehr groß war, so daß es nur wenige spezialisierte Wegebaubeamte gab.48 Man mußte sich also entscheiden, ob man wenige gut ausgebildete und sich auf den Straßenbau konzentrierende Beamte einsetzte, die ein großes Gebiet zu überblicken hatten. Die Alternative lag im Einsatz relativ vieler nebenberuflicher Wegewärter, die durch ihre guten Ortskenntnisse fachliche Defizite ausgleichen mußten. Der Aufbau der Wegeverwaltung wurde also auch von der Suche nach dem optimalen Personaleinsatz begleitet. Anders als bei der Ausgestaltung des Wegenetzes, also der rein verkehrspolitischen Funktion des Straßenbaus, ließ dessen Nutzung für allgemein wirtschafts· und sozialpolitische Zwecke keinen Abbau der zentralstaatlichen Kompetenzen zu. Die Möglichkeit der Mittelumverteilung durch eine zentrale Entscheidungsebene stellte eben die Voraussetzung für deren Konzentration auf ausgewählte Projekte, beispielsweise zur Arbeitsbeschaffung, dar. Allerdings ist am konkreten Beispiel der Provinz Sachsen in den vierziger Jahren gezeigt worden, daß von der Notwendigkeit einer solchen Umverteilung die Beamten vor Ort überzeugter waren als die Ministerialbürokratie. 49 Die Notwendigkeit, Straßenbauausgaben zu bündeln, resultierte wiederum auch aus der für Infrastrukturinvestitionen typischen Unteilbarkeit. Der Fracht-

47

Vgl. Kapitel E.I. Zur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz enormen Bevölkerungswachstums stagnierenden Zahl der Staatsbeamten: H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 305. 49 Vgl. Kapitel E.IV. 48

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

fuhrwerkverkehr konnte schließlich seine Ladungen erst dann erhöhen, wenn eine Straße komplett befestigt war.

1. Die Kompetenzverteilung in der preußischen Straßenbauverwaltung Die Chausseeverwaltung innerhalb des jeweils zuständigen preußischen Ministeriums „stellte den Straßenbauplan auf, sicherte die Finanzierung, genehmigte die Pläne und erließ darüber hinaus Vorschriften für den Straßenverkehr, für die Straßenfahrzeuge und für den Bau, die Erhaltung und die Verwaltung der Kunststraßen." 50 Die Ministerialbürokratie erarbeitete also Verordnungsentwürfe, die als KO am Staatsrat vorbei oder als Gesetze vom König erlassen wurden. 51 Von entscheidender Bedeutung war sie auch für die Netzentwicklungsplanung. So wurde im Jahre 1817 mit dem „Chausseebauplan" eine gesamtstaatliche Straßenbaukonzeption vorgelegt, die den chausseemäßigen Ausbau der wichtigsten Landverkehrsverbindungen vorsah und bis Mitte der zwanziger Jahre die gesamte Chausseebautätigkeit bestimmte.52 Auch die von der Seehandlung ausgeführten Projekte orientierten sich an diesem Plan. Veränderungen im Zusammenhang mit der Zollunionspolitik, wie sie neben der Provinz Sachsen auch die Westprovinzen betrafen, legte die Spitze des von Motz geleiteten Finanzministeriums fest. Nach 1834 erstellte die Ministerialbürokratie zwar weiterhin jährliche Chausseebaupläne, deren Realisierung im Folgejahr zu überprüfen war. Aufgrund der Bestrebungen, die aus dem Staatschausseebau erwachsenen, finanziellen Belastungen zu senken, verzichtete man jedoch auf die Erarbeitung einer ausgreifenden Netzkonzeption und beschränkte sich auf die Verwirklichung der während der Zollauseinandersetzungen zurückgestellten Projekte. In den vierziger und fünfziger Jahren wurde lediglich darauf verwiesen, den Staatschausseebau in den Ostprovinzen zu konzentrieren, ohne daß im Ministerium ein ähnlich detaillierter Plan wie noch 1817 erarbeitet worden wäre. 53 In dieser Situation erlangten die Oberpräsidenten und Regierungsbezirke einen stärkeren Einfluß auf die Straßenbaupolitik. Die Oberpräsidenten sollten

50

H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 31 f. R. Koselleck, Preußen, S. 264 ff. 52 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 220; F.-W. Henning, Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in Brandenburg / Preußen als Teil der Staatsbaukunst von 1648 bis 1850, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, N.F., Bd. 7, 1997, S. 224. - Über die in diesem Zusammenhang in der preußischen Provinz Sachsen entstandenen Linien Kapitel D.II. 1. 53 Über den Chausseebau, S. 103; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 256. 51

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung

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generell als Vermittler zwischen den Ministerien und den einzelnen Regierungen wirken. Sie übten also keine eigenständige Verwaltungstätigkeit aus, sondern gaben Gutachten ab und kontrollierten die Regierungstätigkeit. 54 Dem Kunststraßenbau galt dabei die besondere Aufmerksamkeit. 55 Aus dieser Stellung ergab sich, daß die Wirkung der Oberpräsidenten in noch stärkerem Maße als bei „normalen" Beamten von der jeweiligen Persönlichkeit abhing. 56 Einige Oberpräsidenten haben sich in erster Linie als „Sachwalter der Provinzinteressen" gegenüber Berlin verstanden und eine Vielzahl von Entwürfen und Forderungen in die preußische Hauptstadt geschickt.57 Sie zeigten sich in den vierziger Jahren über mangelnde Reaktionen seitens der Minister und des Königs enttäuscht und bemühten sich, Planungs- und Entscheidungskompetenzen der Zentrale bzw. der den Minsterien direkt unterstellten Regierungsbehörden zu erlangen. 58 So versuchte der provinzialsächsische Oberpräsident von Bonin im Jahre 1847, einen extraordinairen Zuschuß von 24.000 Thalern zum Wegebaufonds für 1848 zu erhalten, um die Mittel seinerseits für eine regional orientierte Beschäftigungspolitik einsetzen zu können. 59 Das Finanzministerium lehnte eine derartige Kompetenzumverteilung ab, äußerte jedoch seine Überzeugung, daß es von Bonin „leicht gelingen (werde-U.M.), bei gelegentlicher Anwesenheit in den verschiedenen Regierungsbezirken mit den Regierungen über die Verwendung ihrer Wegebaufonds ein Einverständnis herbeizuführen." 60 Die Regierungen stellten die „eigentlichen Träger der exekutiven Verwaltung" dar. 61 In einigen Fällen wurden sie sogar zu „Drehscheiben, auf denen die generellen Gesetze oder Anweisungen den regionalen Bedingungen angepaßt wurden." 62 Sie verfügten über eigene Wegebaufonds, die neben den zentralen Chausseebau- und -unterhaltungsfonds existierten, und beeinflußten in wach54 K.G.A. Jeserich, Die preußischen Provinzen, S. 28. - Diese Abweichung von der strikten hierarchischen Unterordnung lokaler Behörden unter die Ministerien erwies sich als „empirisch zweckmäßige Lösung", um einen Ausgleich zwischen dem Regionalismus und dem „ausgreifenden Staat" herzustellen. Vgl. R. Koselleck, Preußen, S. 219 f. und 236 f. 55

Ebenda, S. 223. - Das bedeutet jedoch nicht, daß „der Bau der Chausseen durch die Provinzialverwaltungen erfolgte", wie H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 31, meint. A u f Provinzebene existierten keine entsprechenden administrativen Strukturen. 56 W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 174 f.; G.Chr. von Unruh, Veränderung der preußischen Staatsverfassung, S. 416, 437 ff., 453. 57 R. Koselleck, Preußen, S. 221. 58 Ebenda, S. 663 ff. 59 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 81 f. 60 Ebenda, Bl. 75r. 61 W. Hubatsch, Aufbau, Gliederung und Tätigkeit, S. 174. - J. Salzwedel, Wege, S. 221 ff., vergißt diese wichtige Ebene der Wegeverwaltung. 62 R. Koselleck, Preußen, S. 253. 22 Uwe Müller

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sendem Maße die Auswahl der Straßenbauprojekte. Insbesondere entschieden sie jedoch über die Anstellung des Baurates sowie der Straßenbaumeister, Aufseher und Wärter. 63 Der Baurat stand im Regierungsbezirk der gesamten Wegebauverwaltung in Bezug auf die obere Leitung und Revision vor und war zugleich Referent im Regierungskollegium. Hier wurden seine Vorschläge beraten und im Grundsatz unter Einbeziehung seiner Stimme beschlossen.64 „Unter demselben, resp. der Regierung fuhren 1 oder 2 Ober- oder Wegebauinspectoren die Controlle über alle Wegebausachen, je nachdem dieselben von geringerer oder größerer Bedeutung in einem Regierungsbezirke sind. Da, wo nur 1 oder 2 Baukreise vorhanden, fehlt der Inspector, und der oder die Wegebaumeister stehen dann direkt unter der Regierung." 65 Die sächsischen Regierungsbezirke verfugten am Anfang der fünfziger Jahre über insgesamt 5 Bauräte, denen 47 Bauinspektoren und -meister unterstanden, von denen 10 ausschließlich und weitere 12 auch für den Wegebau zuständig waren. 66 Die Wegebaumeister waren also jeweils für mehrere Kreise zuständig. Neben der unmittelbaren Anleitung der Bau- und Unterhaltungsarbeiten auf den Staatschausseen sollten sie dort mit der Erstellung von Gutachten und Kostenvoranschlägen für die Kreisversammlungen und der Leitung beschlossener Kreischausseebauprojekte auch den Nichtstaatschausseebau unterstützen. 67 Oft lösten sie sogar durch eigene Projektvorschläge derartige Initiativen aus. So wurde beispielsweise im Jahre 1847 die im Vergleich zu den Nachbargebieten außerordentlich gute Ausstattung des Kreises Halberstadt mit Staats- und Nichtstaatschausseen auch darauf zurückgeführt, daß der für das nördliche Harzvorland zuständige Wegebaumeister Brüsemann in Halberstadt ansässig war. 68

63 F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abtheilung, S. 2205; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 21. 64 Technische Regierungsbeamte waren nur bei Entscheidungen über ihren eigenen Bereich abstimmungsberechtigt. R. Koselleck, Preußen, S. 238 ff. 65 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. Vgl. auch J. Salzwedel, Wege, S. 223. 66 A. Frantz, Der preußische Staat, S. 847 f. - Auschließlich mit Wegebausachen befaßten sich ein Wegebauinspektor in Magdeburg sowie Wegebaumeister in Gardelegen, Genthin, Halberstadt, Magdeburg-Neustadt und Stendal sowie in Artern, Eisleben, Weißenfels und Wittenberg. Die Bauinspektoren in Magdeburg und Oschersleben, Kreisbaubeamte in Delitzsch, Herzberg, Halle und ein Baumeister in Sangerhausen befaßten sich neben anderen Aufgaben auch mit dem Wegebau. Im Regierungsbezirk Erfurt gab es einen Oberwegebauinspektor in Erfurt sowie Wegebaumeister in Erfurt, Mühlhausen, Heiligenstadt, Nordhausen und Ranis, die als Wasser- und Wegebaubeamte bezeichnet wurden. - Zu Fragen der Besoldung der Wegebaubeamten vgl. Ebenda, S. 849 ff. 67 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 2773. 68 Ebenda, Nr. 3468, Bl. 30.

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung

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Die Kreise mußten also bei der Realisierung der Kreischausseebauten die Hilfe der Staatsbeamten in Anspruch nehmen, da sie über keine eigene Verwaltung verfügten. 69 Die Instruktion für Landräte vom 31. Januar 1816 hatte zwar den „Ausbau des Verkehrsnetzes" als eine der zahlreichen landrätlichen Pflichten bestimmt. Die verwaltungspraktische Wirksamkeit blieb jedoch auf die sporadische Wahrnehmung wegepolizeilicher Aufgaben beschränkt. 70 Der Landrat hatte in der Verkehrspolitik weniger eine administrative als vielmehr eine politische Funktion. Zahlreiche Ministeriums- und Regierungsakten zeigen, daß die Erschließung des Kreisgebietes durch Staatschausseen und das Ausmaß des Kreischausseebaus in großem Maße vom persönlichem Engagement des jeweiligen Landrates sowie von seinem Verhältnis zu den Regierungsbeamten einerseits und der Kreisversammlung andererseits abhing. Für die eigentliche Verwaltungstätigkeit erlangte die Kreisebene seit den sechziger Jahren wachsende Bedeutung, da inzwischen die Aufgaben der Straßenverwaltung so weit gewachsen waren, daß es notwendig wurde, pro Kreis einen oder sogar mehrere Baumeister zu beschäftigen. 71 Das Wachstum des Nichtstaatschausseenetzes war also mit einer allmählichen Dezentralisierung der Verwaltung verbunden. In dieser Hinsicht stellten jedoch die siebziger Jahre mit der völligen Abschaffung der zentralen Instanz einen wichtigen Einschnitt dar. Der Staat übertrug nicht nur die Verantwortung für die Staatschausseen an die Provinzialverbände. Diese hatten auch die Oberaufsicht über die Unterhaltung und den Neubau aller befestigten Straßen, also auch von Kreis-, Gemeinde- und Aktienchausseen zu übernehmen. Die Provinzialverbände übernahmen daher zunächst nicht nur die Regierungsbeamten, sondern auch die entsprechenden Organisationsstrukturen. Erst mit dem allmählichen Aufbau von Kreisverwaltungen folgte der administrativen Dezentralisierung auch eine Dekonzentration. Kurz nach der Jahrhundertwende kritisierte Erich Petersilie, daß in der Straßenverwaltung immer noch zu viele bürokratische Verwaltungsmaßregeln übrig geblieben waren. 72 Gleichzeitig forderte er jedoch eine Rezentralisierung der technischen Aufsicht, um den qualitativen Standard der durch die verschiedenen Institutionen beschlossenen Straßenbauarbeiten auf ein gemeinsames Niveau zu heben. In der Regel sollten die Straßen durch die Kreise erstellt und 69

J. Salzwedel, Wege, S. 223. R. Koselleck, Preußen, S. 454. 71 Im Kreis Worbis gab es 1867 bereits mehrere Kreisbaubeamten. Diese übten „die Aufsicht aus sowohl über die Staatsstraßen, als über die Communalchausseen, zu welchen der Staat Prämien bewilligt hat und verbleibt ihnen die Controle über anschlagsmäßige Ausfuhrung und ordnungsmäßige Unterhaltung der letztern; gleichzeitig liegt aber auch die specielle Beaufsichtigung etc. derselben den Communalchausseewärtern ob." Statistische Darstellung des Kreises Worbis, S. 117. 72 E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 111 und 127. 70

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

unterhalten werden, damit auch Regionen mit finanzschwachen Gemeinden berücksichtigt werden konnten.

2. Die vertikale Verwaltungsstruktur im Herzogtum Braunschweig Im Königreich Westfalen war das Oker-Departement in vier Baudistrikte eingeteilt worden, für die jeweils ein Distriktbaumeister verantwortlich war. 73 Nach der Auflösung des Königreichs mußten zunächst die Oberhauptleute der 5 Distrikte bei ihren Inspektionsreisen neben vielen anderen Aufgaben „ihr Augenmerk auf Straßen- und Wasserbau ... richten", so daß von einer intensiven Wegeaufsicht nicht die Rede sein konnte. 74 Daran änderte auch die Tätigkeit des Wegebaumeisters Dufour wenig, da es unmöglich war, „daß die nach allen Richtungen gestreut liegenden an 24 Meilen betragenden Chausseen nebst den übrigen öffentlichen vom Staate zu unterhaltenden Straßen von einem einzigen Chaussee-Baumeister inspicirt werden können." 75 Im Jahre 1830 bestand die für die Instandhaltung und Neubau der Staatstraßen zuständige Wegebauverwaltung aus dem Wegbauinspektor Glahn, dem Wegbaumeister Buhle, den Wegbaukondukteuren Krämer, Hantelmann und Eimbeck, zwei Wegbaueleven, acht Wegbauaufsehern sowie 75 Chausseewärtern. 76 In den Gemeinden übten ab 1814 die Ortsvorsteher wegepolizeiliche Funktionen aus. Deren Tätigkeit sollte seit 1821 durch die Kreisämter kontrolliert werden, wobei es vor allem um die Gewährleistung einer regelmäßigen Unterhaltung ging. 77

73 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 31. Die Hauptorte der Distrikte waren Braunschweig, wo Glahn als Distriktbaumeister wirkte, Helmstedt, Hildesheim und Goslar. 74 H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 124. 75 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 31. 76 Ebenda, S. 32. 77 W. Strauß, Gemeindeverwaltung, S. 15. - Die Anweisung für den Ortsvorsteher von 1821 schrieb in Bezug auf die „polizeiliche Aufsicht auf Wege, Brücken und Gewässer" folgende Tätigkeiten vor: „ I m Frühjahre jeden Jahres hat der Vorsteher die Wege, Brücken und Gewässer seines Gemeinde-Bezirks in Augenschein zu nehmen, die Ausbesserung schadhafter Wegestrecken, beschädigter Brücken und Ufer dergestalt anzuordnen, daß dazu die Zeitpunkte vor und nach der Saatzeit benutzt werden. Verfallene Gräben sind zu öffnen, und da wo ein Weg mit Steinen zu bessern ist, in einer bequemen Zeit hinlängliche Vorräthe von Steinen im Voraus anzufahren. Die Wegweiser sind jährlich zu revidiren und die schadhaft gewordenen wieder herzustellen. Der Vorsteher hat seine Vorschläge, wie schlechte Wege auf die leichteste Weise in Stand zu setzen, an den Flüssen mit Vorteil Durchstich zu machen und Überschwemmungen abzuwenden sind, dem Kreisamte einzureichen und in Rücksicht auf den hier in Rede stehenden policeilichen Gegenstand die Ansicht zu fassen und in seiner Gemeinde zu verbreiten,

II. Die vertikale Gliederung der Straßenbauverwaltung

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Die 1832 gegründete Herzogliche Baudirektion bemühte sich während der Diskussion über die 1840 schließlich erlassene Wegeordnung, neben der Verantwortung fur die Heerstraßen auch die Leitung bei der geplanten Chaussierung der Kommunikationswege zu erhalten. Die Beamten der Baudirektion trafen jedoch, anders als die Wegebaumeister der preußischen Regierungsbezirke, auf eine sich bereits entwickelnde Kreisverwaltung. Im Jahre 1832 war die Gründung von Kreisdirektionen beschlossen worden, die dem Staatsministerium unmittelbar unterstellt waren und wesentliche Bereiche der Innenverwaltung übernahmen. „Die Förderung aller den Handel und Verkehr betreffenden Einrichtungen, namentlich der Messen und Jahrmärkte, der Land- und Wasserstraßen, der Maße und Gewichte und des Maklerwesens" gehörte zu ihren wichtigsten Aufgaben. 78 Außerdem sollten die Kreisdirektoren die dem Staatsministerium untergeordneten Behörden, also auch die Herzogliche Baudirektion, kontrollieren. Da nun der Schwung der Revolution von 1830 ausgereicht hatte, um durchweg aus dem Bürgertum stammende Beamte in die Positionen der Kreisdirektoren zu bringen, waren hier Konflikte vorprogrammiert. 79 Die Wegeordnung von 1840 übertrug die Leitung von Chausseebauten den Staatsbaubeamten der Herzoglichen Baudirektion. 80 Dafür standen dem Herzoglichen Wegebaurat Voigt sieben Kreisbaumeister sowie Aufseher und Wegewärter zur Verfügung. 81 Der normale Geschäftsgang sah folgendermaßen aus: „Sämmtliche Wegebauprojecte, Veranschlagungen und sonstige Ausarbeitungen werden von der Baudirection als der oberen Baubehörde im Staat revidirt, und nachdem deren Anträge auf die betreffende Geldverwilligung Höheren und Höchsten Orts erfolgt, die Ausführungen danach anbefohlen, welche dann von den fünf vorgenannten Kreisbaumeistern bewirkt wird, die endlich die Revisionsprotocolle über die geschehenen Bauausführungen, der Baudirection zur Superrevision vorzulegen haben."82 Die von den Wegebaubeamten geleiteten Arbeiten wurden allerdings auch von den Kreisdirektionen beaufsichtigt.

daß es nicht nur Pflicht der Letztern ist, ihre Wege, Brücken und Uferbefestigungen in gehörigem Stande zu erhalten, sondern daß auch danach von Auswärtigen eine Gemeinde vorzüglich beurtheilt wird, daß wenn jährlich und zu rechter Zeit Verbesserungen vorgenommen werden, der Zweck sicher und ohne allen drückenden Kostenaufwand sich erzielen läßt." Ebenda, Quellenanhang. 78 H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 130 ff. 79 W. Diederichs, 125 Jahre, S. 27. 80 Brinckmann, Landstraßen, S. 319 f.; H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 142 f. 81 Brinckmann, Landstraßen, S. 323. - 1853 wurde die Zahl der Wegebaukreise auf sechs reduziert und dadurch der Kreisstruktur angepaßt. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 33. 82 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460.

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

Die Änderung der Wegeordnung im Jahre 1849 beseitigte diese Kompetenzüberschneidung zum Teil. In Paragraph 14 hieß es: „Die in der Wegeordnung vom 11. Mai 1840 den Herzoglichen Ämtern für die Landgemeinden überwiesenen Functionen gehen auf die Gemeindevorstände über; die übrigen in Wegebausachen vorkommenden, in dem gedachten Gesetze den Herzoglichen Ämtern und Kreisdirectionen übertragenen Geschäfte werden künftig von den jetzigen Landesverwaltungsbehörden besorgt." Daraufhin übernahm die Baudirektion die volle Verantwortung für die Heerstraßen, während die Kommunikationswege unter der Leitung der Gemeinden unterhalten wurden. Hier sollte sich die Landesverwaltung auf eine reine Kontrollfunktion beschränken.83 Bei der Verwaltungsreform von 1850 entstanden zwar als Vorboten kommunaler Selbstverwaltung sogenannte Amtsräte, die als ehrenamtliche Verwalter befugt waren, „gemeinnützige Einrichtungen zu schaffen, die mehrere Gemeinden angehen."84 Diese waren jedoch mit den Erfordernissen des Wegebaus überlastet, so daß die Verwaltung der Straßen in den Händen der Staatsbeamten verblieb. Eine wesentliche Änderung ergab sich durch die Gründung der Kreiskommunalverbände im Jahre 1871. Die Herstellung, Unterhaltung und Beaufsichtigung der Staatsstraßen erfolgte weiterhin unter der Leitung und Kontrolle der Herzoglichen Baudirection durch die Kreisbaubeamten. Diese hatten jedoch auch gleichzeitig und unabhängig von der Baudirektion unter „Mitwirkung" der Herzoglichen Kreisdirektionen und der Kreisorgane für die Kommunalwege zu sorgen. 85 Die von Buerstenbinder untertreibend als „Mitwirkung" beschriebene Tätigkeit umfaßte allerdings die wichtigsten Entscheidungsprozesse, denn die Kreise waren jetzt als Kommunalverbände Träger der Kreisstraßen. 86 Die konkrete Arbeitsteilung sah folgendermaßen aus: „Der Kreisbaubeamte hat im Juli jeden Jahres der Herzoglichen Kreisdirektion ein Verzeichnis der im folgenden Jahre im Kreise nothwendigen Neubauten und Reparaturen mit genereller Angabe der Kosten jeder einzelnen Baulichkeit zu überreichen; nachdem das Verzeichnis durch die Kreisdirektion nach Anhörung des Kreisausschusses vorläufig festgestellt ist, sind von dem Kreisbaubeamten die darnach erforderlichen Kostenanschläge aufzustellen und der Herzoglichen Kieisdirektion zur Prüfung zu übergeben, welche dieselben mit den für nöthig erachteten Erinnerungen und Bemerkungen dem Kreisausschusse zur Aufstellung des von der Kreisversammlung festzustellenden Wegebau-Etats für das folgende Jahr mitzutheilen hat." 87 Da sich der braunschweigische Staat bis zur Jahrhundert83

Ebenda, 125 Neu, Nr. 268. - Dieser Kontrolle sind die ausführlichen Wegestatistiken zu verdanken, die die Baudirektion seit 1852 in ihren Mitteilungen veröffentlicht hat. Vgl. Kapitel D.I. und D.III. 84 H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 136. 85 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136. 86 Vgl. Kapitel F.VI. 87 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 36.

III. Die Tätigkeit der Wegeverwaltungen

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wende im Straßenneubau kaum engagierte, war die wichtigste Ebene der Straßenverwaltung nunmehr der Kreis, so daß letztendlich wie in Preußen eine dezentralisierte, jedoch durchaus konzentrierte Straßenbauverwaltung entstand.88 Die Kreisdirektionen hatten schließlich auch auf die ordnungsgemäße Unterhaltung der unter der Trägerschaft von „Gemeindebehörden, Interessentschaftsund Gemarkungsvertretern" stehenden Wege zu achten.89

I I I . Die Tätigkeit der Wegeverwaltungen Allgemeine Straßenaufsicht, aber auch direkte Anleitung von Bau- und Instandsetzungsarbeiten bildeten in Preußen wie in Braunschweig die Haupttätigkeiten der von Bauräten oder auch Bauinspektoren angeleiteten Wegebaumeister. Im Rahmen der Aufsichtstätigkeit mußte vor allem die regelmäßige Unterhaltung der Straßen sichergestellt werden. Dies war besonders bei nach der Methode McAdams hergestellten Schotterstraßen von Bedeutung, die bei dichtem Verkehr beinahe täglich Wartung benötigten.90 In längeren Zeitabständen waren die Straßengräben zu pflegen, die Sommerwege reinzuhalten etc. Die Aufgaben bei Straßenneubauten waren umfassender und betrafen vor allem die Erarbeitung der Kostenvoranschläge, die Auswahl der zu verwendenden Materialien, die Festlegung der Linienführung unter Berücksichtigung eventuell notwendiger Bodenenteignungen sowie schließlich die unmittelbare Organisation der Arbeitsdurchführung und die Einhaltung der technischen Vorschriften bei der Herstellung und Unterhaltung. Bei der Auswahl der Straßenbaumaterialien konnte man seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf publizierte, wissenschaftliche Untersuchungen über die Eigenschaften der Gesteine zurückgreifen. In der 1799 gegründeten Preußischen Bauakademie wurde seit den dreißiger Jahren ein zweijährige Kurs für Wegebaumeister sowie ein einjähriger Kurs für Bauinspektoren angeboten.91 In der Praxis basierte die von den Wegebaumeistern vorzunehmende Wahl der Straßenbaumaterialien trotzdem fast ausschließlich auf ihren Erfahrungen über die Haltbarkeit der örtlich vorhandenen Materialien. Die Effektivität der Straßenbauarbeiten hing folglich maßgeblich von der Ortskenntnis der Baumeister und von ihrer Fähigkeit ab, das optimale Verhältnis zwischen der Materialqua-

88 89 90 91

F. Knoll / K. Bode, Das Herzogtum Braunschweig, S. 172. R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136. M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 104. J. Salzwedel, Wege, S. 225.

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

lität und dem jeweiligen Transportaufwand zu bestimmen.92 „Der Straßenbau jener Zeit ist ... noch ein Handwerk, dem zwar die wissenschaftlichen Kenntnisse zugute kommen, das aber im wesentlichen von den Erfahrungen der Praktiker bestimmt wird. Gute Straßenbaumeister waren selten und wurden oft von auswärts geholt." 93 In der preußischen Anweisung zum Bau und zur Unterhaltung der Kunststraßen vom 6. April 1834 hieß es über die Festlegung der Linienführung: „Es kommt darauf an, diejenige Linie auszumitteln, in welcher die Kunststraße am leichtesten entwässert und trocken erhalten werden kann, und die Lasten mit dem geringsten Kraft- und Zeitaufwande fortzuschaffen sind. Nächstdem verdient die Linie den Vorzug, welche den besten Materialien der Gegend am meisten sich nähert, die mehrsten und bedeutendsten Örter berührt, mithin große, unwirthbare Wälder und Haiden umgehet, und im Gebirge den Thälern der Ströme, Flüsse und Bäche, zwischen welchen keine zu weit ausgedehnte Wasserscheide liegt, möglichst folge." 94 Die Beamten mußten also darauf achten, daß durch die Anlegung von Gräben und/oder die Aufschüttung eines Unterbaus die Straße höher lag als die Umgebung, weil eine nicht ausreichende Entwässerung der Chaussee zu ihrer Zerstörung geführt hätte. Der Kraft- und damit oft auch der Zeitaufwand der Straßennutzer hing vor allem von der Festigkeit des Straßenbelages und von den Steigungsverhältnissen ab. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß auch die Bodenbesitzverhältnisse die Linienführung der Straßen beeinflußt haben.95 Bodenenteignungen und Entschädigungssachen bildeten einen großen Teil der Verwaltungstätigkeit. Dabei gab es kaum überhöhte Entschädigungsforderungen der Grundeigentümer, wie sie mitunter gegenüber den unter Zeitdruck stehenden Eisenbahngesellschaften erhoben wurden. 96 Der sich mit geringerer Dynamik entwickelnde Straßenbau wurde ja zum größten Teil durch den Staat bzw. Gebietskörperschaften durchgeführt, die Projekte eher verschoben oder veränderten als zu hohe Bodenpreise zu zahlen. Häufig bereitete jedoch schon die Bestimmung der Besitzverhältnisse Probleme, denn in vielen Fällen hatte sich die alte Landstraße zu Lasten der Anlieger ausgedehnt, die wiederum an anderen Stellen ursprünglich landesherrliches Straßenland nutzten, auf dem jetzt ein Sommerweg angelegt oder Bäume gepflanzt werden sollten.97 Einen typischen

92

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 25. 94 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 231. 95 Vgl. Kapitel G.V. 96 T. Liebl, Anstoß zur Modernisierung. Der Eisenbahnbau als Rechts- und Verwaltungsproblem, in: Zug der Zeit - Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 99. 97 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 2, X, Nr. 26, Bl. 3 f. 93

III. Die Tätigkeit der Wegeverwaltungen

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Fall stellte die Auseinandersetzung zwischen dem Brinksitzer Eilers und der Gemeinde Negenborn im braunschweigischen Weserdistrikt dar. 98 Eilers hatte durch den Bau der Holzmindener Straße zwischen Eschershausen und Holzminden Grund und Boden verloren und war vom Staat für den Verlust mit einem Teil der alten Landstraße entschädigt worden. Die Gemeinde behauptete jedoch unter Berufung auf alte Hutungsrechte, daß diese Parzelle gar nicht zur Landstraße, sondern zum Gemeindeanger gehörte. Der Streit zog sich über Jahre hin, was vor allem darauf zurückzuführen war, daß der zuständige Wegeinspektor Glahn nicht in der Lage war, den genauen Verlauf der alten Landstraße darzustellen. Die unmittelbare Ausführung der Bau- und Unterhaltungsarbeiten erfolgte in verschiedenen Formen. Kleinere Unterhaltungsarbeiten wurden von den Wegewärtern bzw. den dienstpflichtigen Bauern direkt ausgeführt und von den Baumeistern nur im Rahmen der allgemeinen Wegeaufsicht kontrolliert. Neubauten und grundlegende Instandsetzungen führten Wegewärter und in zunehmendem Maße Handarbeiter an Stelle der dienstpflichtigen Bauern oft unter direkter Anleitung der Baubeamten durch. Aus dem Übergang zur freien Lohnarbeit resultierten für die Arbeitsorganisation erhebliche Anpassungsprobleme. So mußten in den dreißiger Jahren die braunschweigischen Straßenbauarbeiter mit eigenen Geräten arbeiten, während in Preußen der Staat die Arbeitsmittel stellte.99 Neben dem Einsatz „gewöhnlicher Tagelöhner" wurden auch „Arbeiten im Accord" durchgeführt. 100 Beim Akkordsystem vergab der Baumeister oder Wegewärter bestimmte Straßenabschnitte an den oder die Handarbeiter, wobei sich die Entlohnung nach der Abschnittslänge richtete. Akkordarbeit galt als billiger und sollte im Vergleich zum Tagelohnsystem auch den Leitungsaufwand verringern. Allerdings wurden die Akkordarbeiten häufig nicht sorgfältig ausgeführt. Wenn die Handarbeiter zudem in der Landwirtschaft Beschäftigung fanden, wie das häufig zur Erntezeit im Herbst der Fall war, erledigten sie Straßenbauarbeiten gar nicht oder nur „nebenbei" und daher in schlechter Qualität. 101 Den Tagelöhnern ähnlich erhielten auch die Wegewärter keinen festen Lohn, sondern wurden nach verrichteter Arbeit bezahlt. 102 98

Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3444. Ebenda, Nr. 3467. 100 Ebenda. - Nach der Aufhebung der Dienste wurden auch in Hessen Straßenbauarbeiten „im Akkord" oder durch „gelernte Tagelöhner" ausgeführt. S. Wollheim, Staatsstraßen und Verkehrspolitik, S. 15. 101 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 102 Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 18. - Im Tagelohnsystem erhielten sie maximal 2 ggr. pro Tag. „Neben diesem Verdienste werden den Wegewärtern alljährlich ein Paar Schuhe, jedes dritte Jahr ein Tuchmantel und eine tuchene Mütze auf Staatskosten verabreicht." 99

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

Neben den unter Anleitung der Baubeamten und damit gewissermaßen unter staatlicher Regie durchgeführten Arbeiten wurden einzelne Projekte auch an „Entrepreneure" vergeben. Diese „Entrepreneure" trugen ein im durchaus modernen Sinne unternehmerisches Risiko, denn ihr Gewinn hing letztlich vom Verhältnis zwischen ihrem tatsächlichen Aufwand und der Höhe der durch den jeweiligen Wegebaubeamten zuvor veranschlagten Kosten ab. 103 Zusätzlich zu den Aufgaben im Bereich von Straßenbau- und -Unterhaltung sollten die Wegebaubeamten und Wegewärter auf die Einhaltung der technischen Vorschriften für die Fahrzeuge achten.104 Dies war allerdings in erster Linie die Aufgabe der Chausseegelderheber. Diese unterstanden nicht den Wegebauverwaltungen, sondern in Braunschweig der Herzoglichen Steuerdirektion sowie in Preußen dem Königlichen Finanzministerium bzw. dessen regionalen Gliederungen, also den Provinzialsteuerdirektionen. 105 In Preußen wurden übrigens bereits ab 1817 Hebestellen an Privatpersonen verpachtet, um den Verwaltungsaufwand zu senken.106

IV. Bemühungen um die Senkung des Verwaltungsaufwandes Mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen zur Effektivierung der Wegeverwaltung lassen sich im gesamten Untersuchungszeitraum feststellen. Eine besonders intensive Diskussion fand jedoch in den dreißiger Jahren statt. Die allgemeine Erhöhung der Verkehrsintensität sowie speziell des Handels zwischen den Zollvereinsstaaten, fiskalpolitische Sachzwänge, der Abschluß der großen Straßenbauprojekte von gesamtstaatlicher Bedeutung und eine bürokratiekritischere Haltung in der sich gerade entfaltenden bürgerlichen Öffentlichkeit waren die wichtigsten Ursachen für diese besondere Intensität. Im folgenden wird diese Diskussion reflektiert, um noch einmal die Kernpunkte der Verwaltungstätigkeit herauszustellen. Gleichzeitig ergeben sich Hinweise für einen preußisch-braunschweigischen Vergleich. Die kritische Be-

103 Dem sozialgeschichtlich ausgesprochen interessanten Entstehungsprozeß des (Tief-)Bauunternehmers kann hier leider nicht nachgegangen werden. Die Akten berichten über einen Schmied, einen Kaufmann und einen Gastwirt, die mindestens für mehrere Monate ihre Tätigkeit unterbrachen oder sie sogar aufgaben, um ihren Lebensunterhalt als „Straßenbauentrepreneure" zu verdienen. - Vgl. auch F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 40 f. 104 Verordnung vom 17.3.1839, Par. 14, in: Gesetz-Sammlung, 1867, S. 258. - Vgl. Kapitel G.VI.3. 105 E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, Anlage 9, Tarif vom 29.2. 1840. 106 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 317. - Vgl. Kapitel I.IV.

IV. Bemühungen um die Senkung des Verwaltungsaufwandes

347

trachtung der eigenen Wegeverwaltung wurde nämlich in der Regel durch einen Vergleich mit den Nachbarstaaten ermöglicht. Die dabei entstandenen Reiseberichte stellen heute trotz des hohen Grades an Subjektivität wichtige Quellen dar. In Preußen veränderte sich mit der Übernahme der straßenbaupolitischen Zuständigkeit durch Rother im Jahre 1834 nicht nur die Trägerpolitik. Auch die Effektivierung der Verwaltung sollte zur Entlastung des Staatshaushalts beitragen. In der Instruktion vom 17. Mai 1834 wurden die wichtigsten Maßnahmen aufgeführt. Für alle Neubauten wurde „die möglichste Sparsamkeit empfohlen, welche indeß nicht durch schlechte Arbeit, sondern durch Vermeidung unnötiger Verbreiterung der Straßen, durch sorgfältige Auswahl des Lokals, selbst unter Aufgeben der möglichst geraden Richtung, durch billige Verdingungskontrakte, durch genaue Aufsicht über die strenge Pflichterfüllung der Beamten, durch eine rasche Förderung der einmal in Angriff genommenen Bauten und durch Vermeidung zu hoher Entschädigungssummen für abgetretenen Grund und Boden erzielt werden sollen." 107 Im Herzogtum Braunschweig fertigte die gerade gegründete Baudirektion noch 1833 einen Bericht über den Zustand jeder einzelnen Straße an. 108 Dort hieß es: „Untersuchungstabellen über den Zustand des Steinkörpers aller einzelnen Chausseen beweisen, daß die feste Masse derselben, mit Ausnahme weniger neuer Chausseen in entferntem Gegenden, durch die frühere Verwaltung nicht vermehrt ist, sondern nach und nach dergestalt sich verringert hat, daß selbige dem schweren Fuhrwerke überall keinen gehörigen Widerstand mehr zu leisten vermochte." 109 Dieser Bericht sollte natürlich nach bewährtem Muster 110 den vorgefundenen Zustand möglichst negativ darstellen, um später die eigene Leistung in um so hellerem Licht erscheinen zu lassen. Gleichzeitig nutzte die Baudirektion die schlechte Bewertung des Straßenzustandes, um darauf hinzuweisen, daß angesichts der Notwendigkeit einer gründlichen Instandsetzung der vorgesehene Etat von 70.000 Thalern aufgestockt werden müßte. 111 Im Jahre 1834 wies Wegbauinspektor Glahn den auf Aussagen der „Wegbauofficianten" beruhenden Bericht als unzutreffend zurück und bezichtigte diese seinerseits der „Ignoranz und Arroganz." 112 Auch Gottfried Philipp von Bülow, der in den zwanziger Jahren das Landes-Steuer-Kollegium geleitet 107

L. von Rönne, Wegepolizei, S. 170. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460; G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 4. 109 Ebenda, S. 4 f. 110 Vgl. Kapitel C.II. 1,1 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460. 112 Ebenda. 108

348

H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

hatte, verteidigte sich gegen auf dem Bericht beruhende ständische Kritik mit dem Hinweis, daß die Stände und das „Publicum" noch im Jahre 1831 das positive Wirken der Behörde für die Chausseen anerkannt hatten.113 Das Staatsministerium beendete schließlich diesen typischen Behördenstreit mit dem Hinweis, daß eine gründliche Instandsetzung oder ein Umbau der vorhandenen Chausseen ohnehin nicht zu finanzieren sei. Das erste Ziel der Straßenunterhaltung bestehe schließlich nicht in der Herstellung „fester und glatt abgeflachter Straßenkörper". Im Mittelpunkt stehe, „daß die Passage zu allen Jahreszeiten ungehindert stattfinden kann, denn bei der Mittelmäßigkeit des Materials und bei der Überlastung der Straßen durch schwere Frachten würde ein bedeutend besserer als der gedachte normale Zustand nur mit unerschwinglichen Geldopfern zu erreichen sein." 114 Gleichwohl hielt die Diskussion über eine Verbesserung der Straßenverwaltung im Herzogtum Braunschweig an. Nachdem Herzog Wilhelm auf einer Reise bemerkte, daß die preußischen Straßen im besseren Zustand waren als die braunschweigischen, wurde die Baudirektion beauftragt, über die Gründe zu berichten. Deren Leiter von Arnsberg schickte daraufhin Kreisbaumeister Märiens auf eine ausgedehnte Erkundungsreise. 115 Immerhin berichtete Märtens im August 1836 über Straßenzustände und die Organisation der Straßenverwaltung in England, Frankreich, Belgien, Preußen, Bayern, Sachsen und Hannover. Dabei wies er auf zahlreiche im Detail interessante Unterschiede hin. 116 Sein allgemeines Fazit lautete: „Die Straßen in den übrigen Teilen Deutschlands sind im Durchschnitt besser als die hiesigen. Es ist aber überall ein bedeutend höherer Kostenaufwand nöthig, um sie in diesem Stande zu erhalten, als hier bisher bewilligt ist. Der Verbrauch guter Materialien giebt gute, der von schlechten Steinen schlechte Straßen. Die Administration und die in anderen Ländern Deutschlands angewendeten principa sind nicht besser als die hiesigen, mitunter aber viel schlechter, und wenn man im Auslande mehr Arbeiter an den Chausseen sieht, so hat dieses natürlich seinen Grund darin, daß man dort größere Summen verwendet. Wo dieselbe Arbeit unter den selben Verhältnissen gemacht wird, wird sie bei uns billiger ausgeführt, als in anderen Ländern." 117 Märtens schlug daher vor, daß der braunschweigischen Wegeverwaltung genügend Geld bewilligt wird, um qualitativ hochwertigere Materialien heranschaffen zu können. Dafür sollte die im Jahre 1836 in der Projektierungsphase befindliche Eisenbahnlinie zwischen Braunschweig und Harzburg 113 1,4 115

G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 6 f. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460.

Ebenda, Nr. 3467. Zur Sicht von Märtens auf das prinzipiell anders organisierte englischen Straßenwesen: U. Müller, Modernisierung der Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik, S. 60 ff. 1,7 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. - Zu den Bau- und Unterhaltungsausgaben Abschnitt I. 116

IV. Bemühungen um die Senkung des Verwaltungsaufwandes

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dienen, auf der mit relativ geringem Aufwand hochwertige Harzsteine in den materialarmen Nordteil des Herzogtums geschafft werden könnten. Bereits im Jahre 1837 wurde das nächste umfangreiche Gutachten über Straßenbaufragen erstellt. Diesmal befaßte sich ein ausländischer Beamter mit den braunschweigischen Verhältnissen. Der Königlich Preußische Bau-Inspector Boese aus Arnsberg 118 führte zahlreiche Mängel der braunschweigischen Wegeverwaltung an. 119 Es fehle an einer Dienstanweisung für Beamte. Die Baumeister Wolf und Blumenstengel seien beide für Hoch- und Straßenbauten gleichermaßen verantwortlich und könnten ihre Arbeit nicht konzentrieren. Die Straßen würden höchstens einmal pro Jahr bereist. Die Lokalbeamten seien schlecht ausgebildet, die Kompetenzverteilung zwischen Kreisbaumeistern, Bauconducteuren und Wegewärtern unklar. Zur Erstellung der Kostenanschläge existierten keine einheitlichen Richtlinien. Die Arbeitsanweisungen seien zu unkonkret. 120 Aus heutiger Sicht läßt sich die Berechtigung dieser umfassenden Kritik nur schwer überprüfen. Auf jeden Fall hat aber Boese in seinem Bericht die wichtigsten kritischen Punkte der Verwaltung und damit Möglichkeiten zur Effektivierung aufgezeigt. Interessant ist aber auch, daß Boese der braunschweigischen Praxis die ihm wohlbekannten preußischen Verhältnisse gegenüberstellte. Diese werden folgendermaßen beschrieben: „Alle Verfügungen der Regierung, die das Technische des Straßenbaus betreffen, gehen durch den Wege- oder Oberwegebauinspector an die Baumeister, und ebenso umgekehrt alle Berichte etc. der Letzteren an die Regierung, in beiden Fällen mit den gutachtlichen Bemerkungen des Inspectors begleitet. Die Anschläge oder sonstigen Berechnungen namentlich werden ihm im Concept zu Revision oder Umarbeitung vorgelegt, so daß er nachher die Reinschriften nur noch mit seinem 'Einverstanden' zu unterzeichnen hat. Für zweckmäßige Ausführung neuer, und gute Unterhaltung der schon bestehenden Kunststraßen mit möglichst vortheilhafter Benutzung und Anwendung des besten Materials jeder Gegend ist der Inspector allein verantwortlich. Alle desfalsigen Anlagen und Arbeiten stehen unter seiner Anordnung und Leitung. Zur Abstellung von Mängeln, wenn dadurch der jährlich bewilligte Unterhaltungsfonds nicht überschritten wird, ist er ohne Anzeige befugt. Was zu thun ist, wenn Gefahr auf dem Verzuge haftet, müssen ihm die Umstände an die Hand geben. Dabei ist es ihm aber zur besonderen Pflicht gemacht, dahin zu wirken, daß das Schreibwerk möglichst vereinfacht, und seine eigene, so wie die Thätigkeit der ihm Untergebenen überall auf nützliche Wirksamkeit und namentlich auf fleißige Bereisung der Straßen gerichtet werde. Unter der 118 Der Regierungsbezirk Arnsberg verfügte über ein außergewöhnlich dichtes Chausseenetz. Vgl. Tabelle A 5. 1,9 120

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. Ebenda.

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H. Die Entwicklung der Straßen- und Wegeverwaltung

Leitung des Inspectors sind aber dann die Bezirksbaumeister die unmittelbaren Anordner aller Unterhaltungsarbeiten. Conducteure oder Aufseher werden nur bei Neubauten oder ausnahmsweise bei Instandsetzungen oder Umbauten mit neuen Schüttungen von bedeutender Ausdehnung ihnen zur Aushülfe gegeben. Die gewöhnlichen Unterhaltungsarbeiten dagegen leitet jeder Baumeister in seinem Kreise allein und ohne alle Aushülfe." 121 Die hier geschilderten preußischen Verhältnisse beruhten auf der Anweisung über Dienstführung der Beamten von 1823/24 sowie der Allgemeinen Anweisung zum Bau und Unterhaltung der Kunststraßen von 1834. 122 Verstöße der Beamten wurden hart bestraft, beispielsweise durch Versetzungen in entfernte Provinzen oder die Entlassung aus dem Dienst. „Dabei sind aber die Beamten so gestellt, daß sie sorgenfrei leben, ihren Dienst mit dem nothwendigen regen Eifer, mit Lust und Liebe versehen, und namentlich die Straßenbereisungen so oft als nöthig vornehmen können." 123 Boese schlug daher vor, bei der Baudirektion einen nur für den Wegebau zuständigen Referenten einzustellen, dem die Kreisbaumeister regelmäßige Berichte zu liefern hatten. Die Districts-Baumeister sollten ihre Anweisungen direkt an die Wegewärter richten. Praktische und bürokratische Arbeit waren zu trennen. Die Anschläge sollten detaillierter erarbeitet werden. Für die Arbeitsausfuhrung könne man die preußischen Vorschriften übernehmen. Insgesamt lassen die zeitgenössischen Einschätzungen bei aller angebrachter Vorsicht ein Fazit zu. Der Spezialisierungs- und damit auch Professionalisierungsgrad war in der braunschweigischen Wegebauverwaltung offensichtlich geringer als in Preußen, dessen Größe in diesem Fall Skalenerträge erbracht hat. Dabei ist jedoch zu beachten, daß Braunschweig über ein wesentlich dichteres Staatsstraßennetz verfügte als Preußen und auch als die benachbarte Provinz Sachsen. Preußen konnte sich seine gute Straßenverwaltung nur leisten, weil es den Bau von Straßen niederer Ordnung wesentlich konsequenter Kreisen, Gemeinden und Privaten überließ. Die braunschweigischen Kreise waren zwar keine finanziell eigenständigen Träger von Straßen, nahmen jedoch als Verwaltungsinstanz eine zentrale Rolle innerhalb der braunschweigischen Wegeadministration ein. 124

121 122 123 124

Ebenda (Unterstreichungen im zitierten Dokument). L. von Rönne, Wegepolizei, S. 230. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. W. Diederichs, 125 Jahre, S. 27 ff.; Der Landkreis Braunschweig, S. 10 f.

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung Die Finanzierungsproblematik hat bereits in den vorhergehenden Abschnitten im Rahmen verschiedener Zusammenhänge eine Rolle gespielt. So waren die ersten Chausseebauten von einer fast vollkommenen Unkenntnis über die Höhe der notwendigen finanziellen Aufwendungen gekennzeichnet. In Preußen war die Übertragung der Durchführung von Chausseebauten an die Seehandlung zu Beginn der zwanziger Jahre nicht Verkehrs-, sondern finanzpolitischen Entscheidungen geschuldet. Die Erstellung der „Rotherschen Bedingungen" sowie der Wechsel in der Trägerpolitik seit 1834/36 wurde wesentlich durch die finanziellen Engpässe motiviert. Ähnliches gilt für die am Ende der vierziger Jahre im Herzogtum Braunschweig zu beobachtenden Bestrebungen, Staatsstraßen in Kommunikationswege umzuwandeln. Die Förderung des Kreis-, Gemeinde- und Aktienstraßenbaus in Preußen zielte unter anderem auf eine Entlastung des Staatshaushalts. Gleichwohl blieben diese Projekte von staatlichen Subventionen abhängig und wurden daher von der allgemeinen Finanzpolitik beeinflußt. 1 Im folgenden sollen die finanziellen Aspekte bei Straßenbau und -Unterhaltung sowie die finanz-, genauer haushaltspolitischen, Einflüsse auf die Straßenbaupolitik systematisch betrachtet werden. Grundlage bildet eine Analyse der bei den Projekten entstandenen Kosten. Danach werden die staatlichen Straßenbau und -unterhaltungsausgaben im Rahmen der Staatsausgaben und speziell innerhalb der Infrastrukturausgaben untersucht. Bei der Betrachtung werden auch allgemeine finanzpolitische Faktoren einzubeziehen sein, da in Preußen und Braunschweig völlig unterschiedliche Einnahmestrukturen existierten, wodurch auch die Ausgabenpolitik beeinflußt wurde. Der Vergleich innerhalb des Untersuchungsgebietes wird, zusätzlich zu den ohnehin vorhandenen Quellenproblemen, dadurch erschwert, daß sich der Anteil der in der Provinz Sachsen verwendeten Ausgaben an den preußischen Gesamtausgaben nicht annähernd exakt ermitteln ließ, so daß mehrfach auf die gesamtpreußische Ebene zurückgegriffen werden muß. Die Finanzierung des von Kreisen und Gemeinden getragenen Chausseebaus in Preußen gehört zu den wirtschaftshistorisch interessantesten Aspekten des

1

Vgl. Kapitel C.VII. und Abschnitt F.

352

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Themas. Der Straßenbau bildete gewissermaßen das Experimentierfeld für die wirtschaftliche Eigentätigkeit der Kreise und Landgemeinden in der modernen Gesellschaft. Diese Tatsache wird nicht nur durch die beträchtlichen Anlaufprobleme in den vierziger und fünfziger Jahren,2 sondern auch durch die Vielfältigkeit der Finanzierungsmodelle widergespiegelt. Die Chausseegelder als speziell der Unterhaltung dienende Straßennutzungsgebühren bildeten sowohl für den Staat als auch für die entstehenden Gebietskörperschaften einen wichtigen Bestandteil der Finanzierungskonzepte. Die Chausseegelderhebung stellte aber auch ein zentrales Instrument der Straßenverkehrspolitik dar, so daß ihr ein spezieller Abschnitt gewidmet wird.

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung Durch die Ermittlung der Bau- und Unterhaltungskosten soll zunächst der Finanzierungsbedarf bestimmt werden. Gleichzeitig geht es aber auch um die Kostenstruktur, da nur so die finanzielle Wirksamkeit straßenbaupolitischer Veränderungen bewertet werden kann. Die Baukosten der Staatschausseen lassen sich nicht aus der Höhe der Straßenbauausgaben und dem Chausseenetzwachstum berechnen.3 Zum einen ist schon die Ermittlung der Ausgaben kompliziert, da der Chausseebau nicht allein aus dem ordinären Neubaufonds, sondern häufig auch durch außerordentliche Ausgaben finanziert wurde. 4 Andererseits gingen auch Prämienzahlungen für Nichtstaatschausseen häufig zu Lasten des Neubaufonds. Neben dem Fiskus waren auch Private, Kommunen und Kreise mit Geld- und Dienstleistungen oder durch die unentgeltliche Bereitstellung von Grund und Boden an der Herstellung der Staatschausseen beteiligt, sei es durch aus dem traditionellen Wegerecht erwachsene Verpflichtungen oder auf freiwilliger Basis, um den Staat zur Inangriffnahme von für die Region wichtigen Projekten zu bewegen.5 Das Wachstum des Staatsstraßennetzes beruhte nicht allein auf der Bautätigkeit des Staates, da mitunter auch Straßen von anderen Trägern übernommen wurden. Schließlich ergaben sich auch zwischen den Zeitpunkten der Berücksichtigung im Haushalt und der Fertigstellung von neuen Chausseen Differenzen unterschiedlichen Ausmaßes. 2

Vgl. auch Kapitel F.III. Über den Chausseebau, 1848, S. 180. 4 Vgl. Kapitel I.II. 5 Vgl. Abschnitte F und G. - A u f das Problem der Berücksichtigung von Hand- und Spanndiensten bei der Quantifizierung des kommunalen Aufwandes hat auch J. Bolenz, Wachstum, S. 13, hingewiesen. 3

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

353

Eine zeitgenössische Untersuchung über zeitliche Veränderungen der absoluten Höhe der Kosten oder ihrer inneren Struktur existiert nicht. Die Rekonstruktion der bei Bau und Unterhaltung der Straßen entstandenen Kosten kann sich daher nur auf einzelne Angaben in der Literatur und in den archivalischen Quellen stützen. Diese differieren erheblich, denn die Höhe der Straßenbaukosten war im Einzelfall vor allem von den örtlichen Terrainverhältnissen, aber auch von Materialpreisen und Arbeitslöhnen sowie den gewählten technischen Parametern, wie der Breite des Planums und der Stärke der Befestigung, abhängig.6 Daher schwankten sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen 20.000 und 80.000 Thlr. pro Meile. 7 Angegebene Durchschnittswerte lassen den Schluß zu, daß die Baukosten seit Beginn des Chausseebaus anstiegen, in den zwanziger Jahren ihren Höhepunkt erreichten und seit dieser Zeit kontinuierlich sanken. Die Herstellung einer Steinchaussee kostete am Ende des 18. Jahrhunderts zwischen 20.000 und 45.000 Taler pro Meile. 8 Für die 1787 als Steinchaussee ausgebauten Abschnitte der Magdeburg-Leipziger Chaussee waren pro Meile 40.000 Thlr. aufzubringen. 9 Nach 1815 stiegen die Baukosten aufwerte zwischen 40.000 und 60.000 Thlr. pro Meile. Bei den 96 Meilen preußische Staatschausseen, die „vor 1825 gebaut sind", betrugen die durchschnittlichen Baukosten 58.000 Thlr. pro Meile. 10 Die Seehandlung gab für die seit 1824 in Preußen gebauten Straßen pro Meile 49.661 Thlr. aus.11 Die provinzialsächsischen Werte lagen etwas darunter. Für die zwischen 1817 und 1825 im Regierungsbezirk Merseburg gebauten Staatschausseen waren 45.459 Thlr. pro Meile aufzuwenden. 12 Der Bau der Straße von Michendorf im Regierungsbezirk Potsdam nach Wittenberg kostete insgesamt 331.514 Thlr., was 44.202 Thlr. pro Meile entsprach. 13 Seit Ende der zwanziger Jahre sanken die Baukosten kontinuierlich. 14 Im Jahre 1829 wurden sie mit durchschnittlich 40.000 Thlr. pro Meile angegeben.15 Die in den dreißiger Jahren durch die Seehandlung gebauten Chausseen

6

Über den Chausseebau, 1848, S. 181; E. Sax, Verkehrsmittel, S. 140 ff. F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 303, Anm. 8 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 216. - Schlözer bezifferte im Jahre 1795 die Chausseebaukosten mit 30.000 Thlr. pro Meile. Vgl. K. Beyrer, Reisesystem der Postkutsche, S. 45. 7

9

H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 13. Über den Chausseebau, 1848, S. 180. 11 Ebenda, S. 181. 12 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 310, Anm. 13 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120, A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bl. 100 ff. 14 Über den Chausseebau, 1848, S. 182. 15 C.W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis, S. 246. 10

23 Uwe Müller

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I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

haben durchschnittlich pro Meile 42.000 Thlr. gekostet.16 Mitte der vierziger Jahre betrugen die Baukosten in Preußen noch 36.000 Thlr. pro Meile. 17 Van der Borght gab die durchschnittlichen Anlagekosten fiir die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit 12.000 Mark pro km an, was etwa 30.000 Thlr. pro Meile entsprach. 18 Eine für die Provinz Sachsen im Jahre 1847 angestellte Berechnung ergab den Wert von 24.000 Thlr. pro Meile. 19 Im gleichen Jahr kalkulierte der Kreis Halberstadt in seinem Kreischausseebaukonzept mit nur 16.000 Thlr. pro Meile, wobei man allerdings davon ausging, daß die Grundbesitzer die „allgemeinen Bedingungen" anerkannten, also Boden und Material weitgehend unentgeltlich zur Verfügung stellten.20 In den fünfziger Jahren lagen die Kosten für den Bau einer Chausseemeile in Preußen in der Regel zwischen 20.000 und 30.000 Thlr. 21 In der Provinz Sachsen bewegten sie sich im Jahre 1857 am unteren Ende dieser Spanne, also bei 20.000 Thlr. pro Meile. 22 Bei den Kreischausseen und vor allem bei den Gemeindechausseen ist allerdings zu beachten, daß die ausgewiesenen Kosten noch nicht den realen Aufwand widerspiegeln. Noch um 1870 wurden in vielen Gemeinden „die Hand- und Spanndienste in natura geleistet", wodurch „weniger baare Kosten erwuchsen". 23 Trotzdem kann man insgesamt von einer um 1825 einsetzenden Kostensenkung ausgehen, durch die sich die Aufwendungen im Untersuchungszeitraum halbiert haben. Bei der Suche nach einer Erklärung für diese Kostensenkung kommen die bereits genannten, die Kostenhöhe beeinflussenden Faktoren in das Blickfeld. Die Wirkung dieser Faktoren veränderte sich im Zeitablauf. Sie konnte auch durch die Planung und beim Bau in jeweils unterschiedlichem Maße beeinflußt werden. Großflächige geographische Gegebenheiten waren natürlich nicht zu verändern. Insbesondere die für Flußüberquerungen unvermeidlichen Brückenbauten 16 Über den Chausseebau, 1848, S. 181. - Für die Provinz Westfalen werden im Jahre 1831 durchschnittliche Baukosten von 31.000 Thlr. pro Meile angegeben. F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 37. 17 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 303, Anm. 18 R. van der Borght, Das Verkehrswesen, 2. Aufl., Leipzig 1912, S. 150. 19 Berechnet nach Angaben in: GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 21. 20 Ebenda, Bl. 30. 21 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 165; F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abtheilung, S. 2205. - Nach O. Schwarz / G. Strutz, Der Staatshaushalt und die Finanzen Preussens, Berlin 1900, Bd. 2, S. 1249, wurden 1852 die Baukosten für eine Meile mit 25.000 Thlr. veranschlagt. 22 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 147. - Die Osterburger Kreischaussee von der Kreisstadt nach Bismark kostete 23.142 Rthlr. pro Meile. Vgl. Mittheilungen über Verhältnisse des Kreises Osterburg. 23 Nachtrag zur statistischen Darstellung des Mansfelder Gebirgskreises bezüglich der Jahre 1865, 1866 und 1867, (handschriftlich), o.O. (1868), o.S.

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

355

ließen die Baukosten oft um ein Vielfaches steigen.24 Ein Zwischenbericht über den Bau der Staatschaussee von Magdeburg nach Brandenburg (pCh Nr. 84) aus dem Jahre 1821 gibt an, daß die bisher fertiggestellte 6,75 Meilen lange Strecke 439.102 Thlr. gekostet hat. 25 Das entspricht 65.000 Thlr. pro Meile. Allerdings waren allein für den Bau der Friedrich-Wilhelms-Brücke über die Elbe bei Magdeburg 101.304 Thaler aufzubringen. 26 Bei diesem Projekt, aber auch bei anderen Brückenbauten der zwanziger Jahre, wie z.B. über die Saale bei Merseburg und über die Elster bei Crossen wurden für den entsprechenden Abschnitt Kosten zwischen 120.000 und 200.000 Thlr. pro Meile veranschlagt.27 Die ebenfalls in den zwanziger Jahren erfolgte Herstellung der baufälligen Brücke bei Wittenberg kostete allein 43.264 Thlr. 28 Flußnähe war aber nicht nur wegen der Brückenbauten mit Kostensteigerungen verbunden. In der sumpfigen Umgebung der unregulierten Flüsse mußten für den Chausseebau zunächst Erdwälle aufgeschüttet werden, so bei Ammendorf auf der HalleMerseburger Straße sowie auf der Halle-Eislebener Chaussee in den Saaleniederungen. 29 Gerade in diesen Gebieten war auch das Bedürfnis nach Kunststraßen besonders groß, weil hier unbefestigte Straßen im Frühjahr und im Herbst meist nicht passierbar waren. 30 Durch natürliche Voraussetzungen verursachte Kostensteigerungen ließen sich in der Regel nicht verhindern. Im Detail versuchten die Straßenverwaltungen jedoch, die Linienführung zu optimieren. Die preußische Anweisung zum Bau und zur Unterhaltung der Kunststraßen vom 6. April 1834 bestimmte in diesem Zusammenhang unter anderem, daß die Chaussee, „die mehrsten und bedeutendsten Örter berührt." 31 Das Gesetz verlangte also die Abkehr von der bisher üblichen Praxis, die Chausseen entlang von möglichst geraden Linien zu bauen. Diese Linienführung war auf das französische Vorbild zurückzuführen gewesen und insbesondere bei den Prunkstraßen in der Nähe der Residenzen zu beobachten.32 Trotz des Funktionswandels der Landstraßen wurden diese auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne Rücksicht auf Flurgrenzen

24

F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 303, Anm. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120, A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bl. 100 ff. 26 Über den Chausseebau, 1848, S. 181. - Bei Abzug der Brückenbaukosten ergeben sich „reine" Chausseebaukosten von 50.000 Thaler pro Meile. 27 C.W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis, S. 246; Über den Chausseebau, 1848, S. 181. 28 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 120, A, Abth. I, Fach 1, Nr. 2, Bl. 100 ff. 29 W. Friedensburg, Die Provinz Sachsen, ihre Entstehung und Entwicklung, o.O. 1919, S. 43. 30 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 303, Anm. 31 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 231. 32 J. Salzwedel, Wege, S. 204. - Schon die Römer hatten den Bau von Kurven vermieden, weil ihre Fahrzeuge starre Achsen hatten. M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 76. 25

3 5 6 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

in gerader Richtung gefuhrt, obwohl dieses Vorgehen zunehmend kritisiert wurde. „Man opfert diesem Principe oft große Summen und läßt das Interesse der Bewohner der Örter unberücksichtigt, durch welche die gerade Linie nicht zufällig geht." 33 Der braunschweigische Kreisbaumeister Märtens wies 1836 auf die völlig andere Linienführung in England hin, wo die Straßen Rücksicht auf Grundstücksgrenzen nahmen und nicht auf die Straßenendpunkte ausgerichtet waren, sondern von Ort zu Ort geführt wurden. 34 Erst nach dem weitgehenden Verlust des Fernverkehrs in der zweiten Jahrhunderthälfte bemühte man sich auch in Deutschland, beim Bau neuer Straßen möglichst viele Ortschaften einzubeziehen.35 Dabei ging es jedoch nicht primär um eine absolute Kostensenkung, sondern um die Herstellung eines optimalen Verhältnisses zwischen Straßenbaukosten und regionalwirtschaftlichen Effekten. Das galt in ähnlicher Weise für die Planung von Straßen in gebirgigen Regionen. Auf den die Straßenlänge und damit auch die Kosten erhöhenden Bau von Serpentinen konnte nicht verzichtet werden, da die Frachtfuhrwerke bei zu großen Steigungen nicht in der Lage waren, die Höhenunterschiede zu überwinden. Bereits das erste preußische Chausseegesetz, das Publicandum vom 13. November 1787 betreffend „Obliegenheiten der Untertanen im Magdeburgischen und Halberstädtischen beim Chausseebau" legte mit 6 % einen Maximalwert für Steigungen fest. 36 Die gleiche Begrenzung galt im gebirgigen Kreis Blankenburg des Herzogtums Braunschweig. Dort ging man davon aus, daß leichte Frachtfuhrwerke bei Steigungen von 5 bis 6 % auch ohne Vorspann über den Berg kamen. 37 Die Zunahme der Ladungsgewichte bewirkte seit den dreißiger Jahren, daß bei Straßenneubauten die maximalen Steigungen weiter verringert wurden und schließlich 3 % nicht mehr überschritten. 38 Obwohl die geringe Zahl der erhobenen Daten keine abschließende Bewertung des Zusammenhangs von Relief und Straßenbaukosten zulassen, fällt auf, daß die Straßenbauten am Rande von Gebirgen und in Hügelländern nicht wesentlich teurer waren als im Tiefland. Im Jahre 1835 wurde beispielsweise die 4555 Ruthen lange Chaussee von Mühlhausen nach Wanfried in Hessen-Kassel für 70.113 Thlr. gebaut.39 Der Aufwand von 30.785 Thlr. pro Meile war nicht höher als im Tiefland. Wahrscheinlich konnten die durch die Oberflächengestalt 33 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. - Entsprechende Untersuchungen liegen beispielsweise für die Königreiche Württemberg und Hannover vor. L. Würtz, Die geschichtliche Entwicklung, S. 64; S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 12 und 19. 34 35 36 37 38 39

Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 39. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 12. Der Landkreis Blankenburg, S. 240. U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 38. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 48.

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

357

im Hainich hervorgerufenen Kostensteigerungen durch den Materialreichtum des Berglandes kompensiert werden. Die Bevorzugung von Talrand- und Höhenrückenstraßen war also nicht nur den schon im traditionellen Straßenbau feststellbaren Bemühungen um möglichst trockene bzw. leicht trocknende Untergründe geschuldet, sondern resultierte auch aus der Existenz von zum Steinstraßenbau verwendbaren Materialien. 40 Die Bedeutung der Materialfrage kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Kostenaufwand bei den um die Jahrhundertwende in steinarmen Gebieten häufig gebauten Sand- oder Kieschausseen im Vergleich zu den Steinchausseen nur 30 bis 60 % betrug. 41 Der Ankauf und der Transport der Materialien stellten generell den wichtigsten Kostenbestandteil beim Straßenbau dar, zumal die Steine oft aus enfernten Gegenden herangeschafft werden mußten.42 Ein Indiz dafür ist, daß im Herzogtum Braunschweig bei den zwischen 1818 und 1821 ausgeführten Straßenbauten für Fuhrlöhne genauso viel ausgegeben wurde wie für Arbeitslöhne. 43 Erst in diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der entschädigungslosen Materialentnahme von Nachbargrundstücken klar, 44 die eben auch für die Senkung der Transportkosten wichtig war. Nach der Materialbeschaffung und den Arbeitslöhnen bildeten die vorbereitenden Erdarbeiten und die Grundentschädigung die größten Kostenbestandteile. Die Preußische Seehandlung erhielt in den zwanziger Jahren für den materiellen Bau 43.177 Thlr. pro Meile. Hinzu kamen pro Meile 6484 Thlr. Grundentschädigung, die also immerhin 13 % der Gesamtkosten ausmachten.45 Die Entschädigungshöhe differierte natürlich mit der Bodenqualität. Der Gastwirt Völker aus Faulungen erhielt beispielsweise 1856 für ein 89,5 Quadratruthen großes Grundstück 9 Thlr., 28 Sgr. und 4 Pfennige, also etwa 10 Thlr. für 1000 Quadratmeter. Hinzu kamen für jeden gefällten Baum weitere 10 Thlr. 46 Der Verzicht auf die Grundentschädigung nach Anwendung der Rotherschen Bedingungen von 1834 hat daher zur Kostensenkung beigetragen. Weitergehende Vergleiche der Kostenstrukturen lassen sich aufgrund der unter40 B. Schulze, Geschichtliches über das norddeutsche Straßenwesen, S. 30. - Vgl. auch M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 79. 41 H. Hummel, Anhaltinische, kursächsische und preußische Chausseebauten, S. 216. - Die 1787 als Kieschaussee ausgebauten Teile der Magdeburg-Leipziger Straße kosteten 15.000 Thlr. pro Meile, während für die Steinchaussee 40.000 Thlr. pro Meile aufzubringen waren. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 13. 42 In den achtziger Jahren stellten 40 % der Straßenbauaufwendungen Materialkosten dar. Brinckmann, Landstraßen, S. 320. - Zu den verwendeten Materialien: U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 23 ff. 43 Ebenda, S. 22. 44 Vgl. Kapitel G.V. 45 Über den Chausseebau, 1848, S. 181. 46 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 128.

358

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

schiedlichen Vorgehensweisen bei der Erstellung von Anschlägen und der Abrechnung nur schwer anstellen. Daher ist dem folgenden Kostenvoranschlag in erster Linie eine illustrative Bedeutung beizumessen.

Tabelle 12 Kostenvoranschlag für den Bau einer Anschlußstraße zwischen Förderstedt und der Magdeburg-Leipziger Chaussee aus dem Jahre 1852 Aufgliederung

der Kosten

Erd-, Planums- und Aufbruchsarbeiten Befestigung der Gräben und Dammböschung

Veranschlagte Summe (Taler) 2.374 91

Materialien und deren Anfuhr

5.785

Arbeitslohn

3.402

Meilenzeichen und Nummernsteine

47

Wohnungen und Stallungen

100

Beschaffung und Unterhaltung der Gerätschaften

780

Grund- und Nutzungsentschädigung

150

Aufsichtskosten

553

Sonstige Ausgaben

315

Summe

13.597

Quelle: GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 253 ff.

Im Gegensatz zu den vorgefundenen geographischen Gegebenheiten konnten andere, die Kostenentwicklung bestimmende Faktoren von den Straßenplanern durchaus beeinflußt werden. Das traf in erster Linie auf die bereits behandelte Verringerung der Straßenbreite zu. Insbesondere bei den nun verstärkt errichteten Nebenstraßen wurde entweder eine schmalere Steinbahn gebaut oder die Anlegung eines Sommerweges gestrichen. 47 Auch der Verzicht auf die Grundentschädigung und die in den dreißiger und vierziger Jahren sinkenden Löhne haben bei der Kostensenkung eine Rolle gespielt. Gravierende Produktivitätsfortschritte durch technologische Verbesserungen lassen sich hingegen nicht nachweisen. Die bessere Ausbildung der Wegebaumeister und die generell wachsende Erfahrung mit dem Steinstraßenbau dürften jedoch kostensenkend gewirkt haben. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, daß im Zuge des Ausbaus des Straßennetzes und der Verbesserung anderer Verkehrsmittel gerade auch die Kosten für den Transport von Straßenbaumaterialien gesunken

47

Vgl. Kapitel G.VI.2.

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

359

sind. Der Transport von Harzer Gestein zu Straßenbauzwecken im Nordteil des Herzogtums Braunschweig stellte nicht nur ein wichtiges Motiv für den Bau der Harzburger Bahn dar, sondern war noch in den siebziger Jahren eines ihrer wichtigsten Geschäftsfelder. 48 Materialbeschaffungsausgaben und die Qualität der verwendeten Steine sowie die Höhe der Tagelöhne beeinflußten auch die regionalen Unterschiede bei den Unterhaltungskosten entscheidend.49 Unter den geographischen Bedingungen spielte die Witterung eine wichtige Rolle, da Nässe nach wie vor der größte „natürliche Feind" des Straßenzustands war. 50 Zur Steigerung der Haltbarkeitsdauer sollten die Baumaterialien bei trockener Witterung herangefahren und verarbeitet werden. 51 Ein unmittelbarer Zusammenhang bestand schließlich zwischen der Häufigkeit der Unterhaltungs- oder Instandsetzungsarbeiten und der auf der Straße herrschenden Verkehrsintensität, wobei letztere durch die „Frequenz", aber auch durch das Gewicht der Ladungen bestimmt wurde. 52 Über Ladungsgewichte, Felgenbeschaffenheit usw. existierten bereits frühzeitig gesetzliche Vorschriften. 53 Die im Jahre 1852 vom braunschweigischen Baurat Voigt erhobene Forderung nach einer exakten Ermittlung des auf den verschiedenen Straßen herrschenden Verkehrs war vor allem durch das Streben nach einer optimalen Verteilung der Unterhaltungsarbeiten motiviert. 54 Sowohl die Knappheit an geeignetem Material als auch die intensivere Straßennutzung haben dazu beigetragen, daß innerhalb Preußens in der Provinz Sachsen und insbesondere im Regierungsbezirk Magdeburg die höchsten Unterhaltungskosten anfielen. 55 Zunehmender Verkehr, die Notwendigkeit, Instandsetzungsmaterialien aus immer größeren Entfernungen herbeizuschaffen, steigende Vergütungen von Hand- und Spanndiensten sowie deren Ersetzung durch Lohnarbeit bewirkten, daß die relativen Unterhaltungskosten, anders als die Baukosten, im Untersuchungszeitraum gestiegen sind. 56 Allerdings existieren auch hierüber keine systematischen Untersuchungen, so daß erneut auf einzelne Angaben zurückgegriffen werden muß. Im Jahre 1830 lagen die jährlichen Unterhaltungskosten in

48

U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 26 f. und 44 f. G. Fischer, Wirtschaftliche Strukturen, S. 45. 50 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460. 51 F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 38 f. 52 Mittheilungen aus dem Geschäftsbereiche, Bd. 1, 1852, S. 18. - In den zeitgenössischen Quellen spricht man in diesem Zusammenhang von „Lebhaftigkeit und Art des Verkehrs". 53 Vgl. Kapitel G.VI.3. 54 Brinckmann, Landstraßen, S. 321. 55 Über den Chausseebau, 1848, S. 185. 56 Ebenda, S. 183. 49

3 6 0 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

der Provinz Westfalen zwischen 340 und 2500 Thlr. pro Meile, wobei der Durchschnitt 1000 Thlr. pro Meile betrug. 57 Im Jahre 1836 gab der braunschweigische Kreisbaumeister Märtens den Unterhaltungsaufwand auf den preußischen Staatsstraßen mit 2000 bis 4000 Thlr. pro Meile an. 58 In Preußen verwende man bei der Unterhaltung mehr als doppelt so viel Material wie in Braunschweig, wodurch die Unterhaltung wesentlich teurer werde. Märtens begründete so seine Auffassung, daß der bessere Straßenzustand in den braunschweigischen Nachbarstaaten allein durch die höheren Unterhaltungsausgaben verursacht worden sei. Vor diesem Hintergrund sind Zweifel an den von Märtens angegebenen Zahlen angebracht, da diese offensichtlich der Entschuldigung für den schlechten Straßenzustand in Braunschweig dienten. Möglicherweise sind Märiens' Angaben auch nur auf den Berichtszeitraum zurückzuführen. Im Jahre 1835 wurden nämlich auf zahlreichen Straßen über die gewöhnliche Unterhaltung hinausgehende Instandsetzungsarbeiten durchgeführt, die die durchschnittlichen Kosten tatsächlich über 2000 Thlr. pro Meile steigen ließen.59 In den fünfziger Jahren haben derartig gründliche Instandsetzungen, die mit einer Verstärkung der Steinbahn verbunden waren, Kosten von etwa 9000 Thlr. pro Meile verursacht. 60 Bei der grenzüberschreitenden Straße von Braunschweig nach Halberstadt lagen die Verhältnisse im übrigen genau umgekehrt. Während auf der preußischen Seite die jährlichen Unterhaltungskosten zwischen 1819 und 1836 bei 1611 Thlr. pro Meile lagen, wurden auf braunschweigischer Seite allein für 1837 4062 Thlr. pro Meile veranschlagt. 61 Auch dieser auf nur eine Straße und nur auf ein Jahr bezogenen Rechnung ist indes keine Repräsentativität beizumessen. Realistischer sind hingegen die Angaben des Arnsberger Bau-Inspectors Boese von 1837, nach denen in Preußen die Unterhaltungskosten zwischen 900 und 1800 Thlr. pro Meile lagen.62 Im Herzogtum Braunschweig betrugen sie in den vierziger Jahren 1600 bis 2300 Thlr. pro Meile. 63 Eine Erklärung für die höheren Werte in Braunschweig liegt in den Arbeitskosten. In den dreißiger Jahren übertraf der geringste Lohnsatz in Braunschweig die in Preußen gewöhnliche Vergütung um 11 %. 6 4 Die Unterschiede zwischen dem Herzogtum

57

F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 38 f. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 59 Über den Chausseebau, 1848, S. 184. 60 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 197. 61 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3467. 62 Ebenda. 63 F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973 f. 64 In einem Bericht der Herzoglichen Baudirektion an das braunschweigische Staatsministerium vom 8.9.1840 heißt es, „daß der gewöhliche Tagelohnsatz bei den diesseitigen Chaussirarbeiten sich zu dem analogen preußischen verhalten dürfte, wie ein Gütergroschen zu einem Silbergroschen. ... Der geringste diesseitige Lohnsatz von 58

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

361

Braunschweig und der benachbarten Provinz Sachsen waren außerdem viel kleiner, da Sachsen im preußischen Rahmen die höchsten Unterhaltungskosten aufwies. Wichtig dürfte auch der zeitliche Unterschied zwischen den Angaben sein, da gerade in den dreißiger und vierziger Jahren die Verkehrsintensität auf den Staatsstraßen beider Länder und mit ihm der Unterhaltungsaufwand kontinuierlich gewachsen sind. 65 Einige Zeitgenossen sahen allerdings in der Steigerung der Verkehrsintensität auch einen finanziellen Vorteil. So hoffte der Verfasser einer 1854 erschienenen Staatsbeschreibung auch auf „Skaleneffekte": „Doch läßt der immer lebendiger werdende Verkehr auf den Straßen erwarten, daß mit der Zeit ein günstigeres Verhältniß zwischen Ertrag und Kosten der Chausseen hergestellt wird." 6 6 Ein weiteres Indiz für die Entwicklung der Unterhaltungskosten stellen die bei der Planung der Unterhaltungsausgaben zugrunde gelegten Sätze dar. Die KO vom 28. Oktober 1827 regelte mit dem Übergang der Verwaltung der Chausseegeldeinnahmen an das Finanzministerium auch die Überweisung von jährlich 1100 Thlr. pro fertige Chausseemeile von der Finanzverwaltung an das Innenministerium zur Gewährleistung der Straßenunterhaltung. Der Initiator dieser Maßnahme, Finanzminister von Motz, wollte dadurch angesichts in der Höhe schwankender Chausseegeldeinnahmen die Regelmäßigkeit der Unterhaltung sichern. 67 Der Satz von 1100 Thlr. pro Meile schloß auch die Nebenkosten ein, also vor allem die Gehälter der Chausseewärter und Aufseher, die etwa 200 Thlr. pro Meile ausmachten.68 Im Jahre 1841 wurde das jährliche Aversum auf 1125 Thlr. pro Chausseemeile erhöht. Nach einer Kalkulation aus dem Jahre 1846 betrugen die Nebenkosten nur noch 145 Thlr., so daß für die eigentlichen Unterhaltungsarbeiten 980 Thlr. pro Meile zur Verfügung standen. 1847 wurde der Unterhaltungssatz auf 1250 Thlr. pro Meile erhöht. 69 Im Handelsarchiv werden für die Jahre von 1835 bis 1845 die durchschnittlichen Unterhaltungskosten aus den ordentlichen Unterhaltungsausgaben und der jeweiligen Gesamtlänge der Staatschausseen berechnet (Vgl. Tabelle 13 auf S. 362).

5 ggr. 4 Pf. in der Wesergegend beträgt nämlich immer noch 6 Silbergroschen, 8 Pfennige, während der herrschende Lohnsatz bei Unterhaltung der preußischen Straßen mit Ausnahme einiger Distrikte von Westphalen und der Rheingegend nur 6 Silbergroschen beträgt." Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3476. 65 Vgl. dazu U. Müller, Verkehrsintensität, S. 34. 66 A. Frantz, Der preußische Staat, S. 204. 67 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 36. - Die Anregung soll der Minister auf einer „Orientierungsreise" durch Westeuropa erhalten haben. 68 Über den Chausseebau, 1848, S. 182 f. 69 F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 2, S. 401.

3 6 2 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung Tabelle 13 Durchschnittliche Kosten für die Unterhaltung der preußischen Staatschausseen 1835-1845

Jahr

Kosten in Taler pro Meile

1835

2009

1836

1666

1837

1109

1838

959

1839

1013

1840

1405

1841

1009

1842

996

1843

1041

1844

1046

1845

1094

Quelle: Über den Chausseebau, 1848, S. 184.

Die Daten bestätigen also den bei der Etataufstellung zugrunde gelegten Unterhaltungssatz von 1100 bzw. 1125 Thlr. pro Meile. In den Jahren 1835, 1836 und 1840 waren aus dem Haushalt auch umfangreichere Instandsetzungsarbeiten zu finanzieren. Eine Aufschlüsselung der in den einzelnen Provinzen anfallenden Unterhaltungskosten weist für die Provinz Sachsen die höchsten Werte aus.70 Dort wurden im jährlichen Durchschnitt in der Zeit von 1835 bis 1839 1905 Thlr. pro Meile und von 1840 bis 1845 1531 Thlr. aufgewendet. Damit übertrafen die provinzialsächsischen Werte die gesamtpreußischen Durchschnitte um immerhin jeweils etwa 40 %. In den dreißiger und vierziger Jahren sind also die relativen Unterhaltungskosten im Gegensatz zu den Baukosten nicht gesunken. Die Erhöhung der Unterhaltungssätze läßt eher auf einen mäßigen Anstieg der Unterhaltungskosten schließen. Für 1853 werden die durchschnittlichen Unterhaltungskosten für die materielle Unterhaltung, also ohne Verwaltungsaufwendungen, in Preußen mit 974 Thlr. pro Meile angegeben, was also dem Wert von 1846 entspricht. 71 Der Regierungsbezirk Magdeburg lag mit 1300 Thlr. pro Meile an der Spitze der 25 70 71

Über den Chausseebau, 1848, S. 185. A. Frantz, Der preußische Staat, S. 658.

I. Die Kostenentwicklung bei Straßenbau und Straßenunterhaltung

363

Regierungsbezirke. Auch die Kosten in den Bezirken Erfurt und Merseburg waren mit 1100 Thlr. pro Meile größer als der gesamtpreußische Durchschnitt. Im Vergleich zu den vierziger Jahren hatten jedoch die regionalen Kostenunterschiede abgenommen. Daten aus den siebziger Jahren zeigen, daß die Unterhaltungskosten seit der Jahrhundertmitte etwa konstant geblieben sind. Die Differenzen zwischen Preußen und Braunschweig existierten nicht mehr. Im Jahre 1875 betrugen die jährlichen Unterhaltungskosten im Herzogtum Braunschweig 542 Mark pro km und in Preußen 558 Mark pro km. 7 2 An anderer Stelle werden für Preußen Unterhaltungskosten von 600 bis 700 Mark pro km angegeben.73 Wie problematisch der Umgang mit solchen statistischen Durchschnittswerten ist, zeigt der Hinweis auf die Verhältnisse im Magdeburgischen. Dort lag der jährliche Unterhaltungsaufwand wegen der Zuckerrübenfuhren bei 1300 Mark pro km. 74 Trotz aller Unsicherheit bei der exakten Quantifizierung der Unterhaltungskosten muß betont werden, daß die Unterhaltung der neuen Chausseen im Vergleich zu den herkömmlichen Landstraßen eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung darstellte. Das zeigt ein Vergleich mit den Aufwendungen für die Unterhaltung und Instandsetzung der unbefestigten Wege. Im Jahre 1840 standen 20.000 Thlr. für die Unterhaltung der etwa 200 Meilen im Regierungsbezirk Merseburg vorhandenen fiskalischen Landstraßen zur Verfügung. Dies entsprach 100 Thlr. pro Meile und betrug daher weniger als ein Zehntel des Aufwandes bei Chausseeunterhaltungen.75 Außerordentliche Zuschüsse aus dem Wegebaufonds und die Erhöhung des für Wegeunterhaltung und -Instandsetzung vorgesehenen ordentlichen Etats auf jährlich 30.000 Thlr. haben zwar auch hier in den vierziger Jahren die Aufwendungen gesteigert. Die Kosten für die Chausseeunterhaltung blieben trotzdem um ein Vielfaches höher.

72

Brinckmann, Landstraßen, S. 323. - Das entspricht 1361 bzw. 1401 Taler pro

Meile. 73

H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 16. Ebenda. 75 A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 64 f. - Aus dem Wegeunterhaltungsfonds mußte im übrigen auch die Unterhaltung der 850 kleinen Brücken bestritten werden. 74

364

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung Der Beginn des Chausseebaus war mit dem „Übergang zur Geldwirtschaft im Straßenwesen" verbunden und bedeutete daher auch für die Haushalte aller deutscher Staaten eine „spürbare finanzielle Mehrbelastung". 76 Das erklärt zum beträchtlichen Teil die schleppende Abschaffung der Wegebaudienste und den nur schrittweisen Übergang zur Lohnarbeit. Bereits die Umwandlung der Straßenbaudienste in die Zahlung von sogenannten Straßenbausurrogatgeldern, wie sie bereits im 18. Jahrhundert vor allem in Kursachsen praktiziert wurde, ermöglichte, Straßenbauten auf Lohnarbeitsbasis durchzuführen, die Lasten jedoch bei den traditionell Wegebaupflichtigen zu belassen. Langfristig traten jedoch „an die Stelle der Straßenfronden der Anwohner ... allgemeine finanzielle Beiträge sowie Benutzungsgebühren für Wege und Straßen." 77 Straßenbau- und -Unterhaltung konnten daher aus dem Staatshaushalt, durch die Straßenbausurrogat- bzw. Äquivalentgelder und aus Chausseegeldern bezahlt werden. 78 Das Verhältnis zwischen diesen Finanzierungsquellen spiegelte die jeweilige Belastung der Steuerpflichtigen, der dienstpflichtigen Bauern oder der Reisenden, also der Kauf- und Fuhrleute, wider. 79 Der Übergang zum haushaltsfinanzierten Straßenbau bei gleichzeitiger Zurückdrängung der „buntscheckigen Vielfalt autonomer Einkommensquellen für die fürstliche, ständische, gemeindliche, städtische Finanzwirtschaft" ist als Teil des allgemeinen Trends „zur modernen Steuerwirtschaft" anzusehen.80 Während die Dienstpflichten schon wegen der zahlreichen regionalen Unterschiede81 nur schwer zu quantifizieren sind, wird im folgenden versucht, die Höhe der Straßenbau- und Straßenunterhaltungsausgaben zu rekonstruieren.

76

J. Salzwedel, Wege, S. 226. Vgl. Kapitel G.IV. J. Salzwedel, Wege, S. 225. 78 In der Provinz Westfalen mußten ab 1815 die Anlieger Beiträge für Wegebaufonds zahlen, aber auch weiterhin Hand- und Spanndienste leisten. Erst 1828 wurden die Zahlungspflichtigen von den Dienstpflichtigen getrennt. F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 73 f. 77

79

U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt? Straßennutzungsgebühren auf deutschen Straßen seit dem Beginn des Chausseebaus, in: Verkehr und Mobilität in der Moderne, (= Sozialwissenschaftliche Informationen, 1996, Heft 4), S. 228. 80 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 369. 81 Vgl. Kapitel G.IV.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

365

1. Die Ausgaben für Straßenbau, Straßenunterhaltung und Subventionierung von Nichtstaatschausseen in Preußen Die Erlangung von zuverlässigen Daten über die preußischen Chausseebauund -unterhaltungsausgaben ist äußerst kompliziert. Der erste veröffentlichte Staatsetat aus dem Jahre 1821 weist 420.000 Thaler aus, die zur „Unterhaltung der Kunststrassen" bestimmt waren. 82 In dieser Summe waren „besondere Erhebungen, die in einigen Landestheilen zur Unterhaltung der Wege statt finden", nicht enthalten."83 Seit 1829 wurden die „Finanz-Etats" alle drei Jahre in den Gesetzsammlungen „publicirt". 84 Erst seit 1835 läßt sich den Haushaltsrechnungen ein „allgemeiner Haupt-Titel des Etats" für das „Finanzministerium zur Unterhaltung und zum periodischen Neubau der Chausseen, einschließlich Mittel zur Verzinsung und Tilgung der aufgenommenen Chausseebaukapitalien" entnehmen.85

Tabelle 14 Straßenbau- und -unterhaltungsausgaben in Preußen von 1835 bis 1844 nach den veröffentlichten Finanz-Etats Jahr

Ordinäre Ausgaben

Extraordinäre Ausgaben absolut (Taler)

Ordinäre Ausgaben

ExtraGesamtordinäre ausgaben Ausgaben Anteile an den gesamten (Taler) Staatsausgaben (%) 5,51 2,61 51.740.000

1835

2.852.000

1.350.000

1838

2.925.000

2.323.000

5,55

4,41

52.681.000

1841

3.000.000

2.500.000

5,37

4,47

55.867.000

1844

2.782.000

2.500.000

4,82

4,33

57.677.194

Quelle: GS, 1835, S. 65 ff.; 1838, S. 196 ff.; 1841, S. 48 ff.; 1844, S. 93 ff.

82

F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 303. - Vgl. dazu auch R. Koselleck, Preußen, S. 330; T. Ohnishi, Die Entstehung des ersten preußischen Staatshaushaltsetats im Jahre 1821, in: J. Schneider (Hrsg.), Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. III. A u f dem Weg zur Industrialisierung. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Bamberg 1978. 83 J.D.A. Höck, Materialien zu einer Finanzstatistik der deutschen Bundesstaaten, Schmalkalden 1823, S. 17. 84 GS, 1829, S. 13 ff.; GS, 1832, S. 65 ff., GS, 1835, S. 61 ff., GS, 1838, S. 196 ff., GS 1841, S. 48 ff., GS 1844, S. 93 ff., GS 1847, S. 133 ff. 85 F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 307 f.; K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 176.

3 6 6 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Einzelne Chausseebauprojekte wurden aber auch als außerordentliche Ausgaben und Aufwendungen zu den Landesverbesserungen verbucht. Den Zweck des entsprechenden Haushaltstitels bezeichnete das Finanzministerium seit 1841 als Ausgaben „zu extraordinairen Chaussee-, Strom-, Hafen- und sonstigen Bauten und zu Landesverbesserungen" (Tabelle 14 auf S. 365). Die Absenkung der ordentlichen Ausgaben im Jahre 1844 war vor allem auf die in diesem Jahr geringere Abschlagstilgung zurückzuführen. 86 Eine langfristigere Perspektive zeigt, daß die ordentlichen Staatsausgaben für Straßenbauund -Unterhaltung von 1816 bis 1845 kontinuierlich gestiegen sind.

Tabelle 15 Ordentliche Staatsausgaben im Königreich Preußen für Unterhaltung und Neubau der Staatschausseen sowie für Zuschüsse 1816-1845 87

Zeitraum

durchschnittlich jährliche Gesamtausgaben (Taler)

1816-1828

1.661.538

1829-1840

2.250.000

1841-1845

2.940.000

Berechnet nach: F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 308.

In diesen Daten sind die extraordinären Ausgaben für den Straßenbau nicht enthalten. Extraordinäre Ausgaben spielten, wie noch zu zeigen sein wird, für die Unterhaltungsfinanzierung in den dreißiger Jahren und für die Baufinanzierung in den vierziger Jahren eine wichtige Rolle. Straßenbau und -Unterhaltung gehörten also zu den Bereichen, die unter Umgehung des Staatsschuldengesetzes von 1820 aus nicht ausgewiesenen „Staatsmehreinnahmen" Mittel erhielten. 88 In ähnlicher Weise wurde schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren der Staatsstraßenbau von der Seehandlung finanziert. Erst seit 1847 sind im veröffentlichten Etat die Ausgaben für Neubau und Unterhaltung getrennt aufgeführt worden. Hinzu kam ein dritter Titel für „Besoldungen, Diäten und Fuhrkosten der Wegebaubeamten sowie Unterstützungen der Hinterbliebenen solcher Beamter und der Chausseewärter". Diese Aus86

F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 316. Die Gesamtsumme von 63,3 Mill. Thlr. entspricht auch anderen in der Literatur gemachten Angaben. Vgl. u.a. H. Kunze, Wegeregal, S. 21. 88 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 163; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 376. - Vgl. zum Staatsschuldengesetz Kapitel I.II.4. 87

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

367

gaben flössen jedoch schon seit 1848 in den allgemeinen Titel „bautechnisches Beamtenpersonal" ein. Diese Strukturveränderung dürfte mit der gleichzeitigen Abkehr vom Nettoprinzip verbunden gewesen sein. 89 Von nun an wurden Einnahmen und Ausgaben getrennt gebucht, also nicht mehr innerhalb eines Postens gegeneinander aufgerechnet. Neben den ordentlichen Ausgaben existierte zwar weiterhin das Extraordinarium. Dessen Einsatz für Straßenbau und -Unterhaltung verlor allerdings seit den fünfziger Jahren an Bedeutung.

a) Die Finanzierung der Staatschausseeneubauten in Preußen Die offiziellen Haushaltsdaten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind also nicht nur lückenhaft; sie verschleiern auch das wahre Ausmaß der Straßenbauinvestitionen. Unmittelbar nach der Staatsschuldenverordnung von 1820 drohte die Verwirklichung des ehrgeizigen Straßenbauprojekts von 1817 an den mangelnden Finanzen zu scheitern. Auf der Suche nach Alternativen schlug Handelsminister von Bülow vor, die Projekte über die Seehandlung zu finanzieren. 90 Diese entschloß sich ihrerseits, die 1822 durch die zweite Anleihe bei der Londoner Privatbank Rothschild erworbenen Mittel für Infrastrukturinvestitionen auszugeben, da ihr direkte Kredite an Privatunternehmen wegen der Krisensituation zu risikovoll erschienen. 91 Daraufhin schlossen Handelminister von Bülow als Vertreter des preußischen Staates und Rother als Chef der Preußischen Seehandlung am 17. Januar 1824 einen am 7. Februar allerhöchst genehmigten Vertrag, „... in welchem sich die Seehandlung im Ganzen 124 % Meilen Chausseen, namentlich die Straßen von Berlin nach Königsberg, Stettin, Hamburg und Cassel zu bauen verpflichtete, wogegen sie vom Staate den zu diesen Chausseen erforderlichen Grund und Boden geliefert und für den Bau 43.000 Thlr. pro Meile erhalten sollte. ... Die Staatskasse sollte die Vorschüsse der Seehandlung durch jährliche Abschlagszahlungen von 400.000 Thalern auf Kapital und Zinsen abtragen, wozu später ein besonderer jährlicher Fonds außer dem Neubaufonds bei der General-Staatskasse angewiesen worden ist." 92 Die Seehandlung baute bis 1830 als „Entrepreneur im Staatsauftrag" Straßen mit einer Gesamtlänge von 125,75 Meilen. Dafür wurden 6.247.778 Thaler aufgewendet. 93 Die Seehandlung gewährte dem Staat außerdem in beinahe

89

Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 4; W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 500. 90

E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 82. W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 115. 92 Über den Chausseebau, 1848, S. 177. Vgl. auch F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 304. 91

93

Über den Chausseebau, 1848, S. 178.

368

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

gleicher Höhe Darlehen für weitere Staatschausseebauten.94 Insgesamt gab die Bank zwischen 1824 und 1832 12 Mill. Thaler für Chausseebauten aus und dürfte damit den Bau von etwa 250 Meilen finanziert haben.95 Dies entspräche einem Anteil von 5 2 % aller zwischen 1816 und 1831 gebauten Staatschausseen.96 Zweifellos hatte also die Seehandlung nicht nur einen wesentlichen Anteil an der Verbindung der preußischen Hauptstadt mit den verschiedenen provinziellen Zentren, sondern auch am zollpolitisch motivierten Straßenbau.97 Nur auf dieser Grundlage war es Finanzminister Motz möglich, „alle finanziellen Engpässe" zu beseitigen.98 Innerhalb der ordentlichen Staatshaushalte wurden zwischen 1825 und 1845 jährlich nur 0,5 Mill. Thaler für den Chausseeneubaufonds angegeben.99 „Indessen sind mit Ausnahme weniger Jahre regelmäßig beträchtliche extraordinaire Bewilligungen hinzugetreten." 100 Deren Höhe überstieg häufig das Volumen der ordentlichen Neubauausgaben. In den Jahren 1827 bis 1829 wurden 373.160, 904.804 und 766.334 Thlr. „an extraordinären Zuschüssen zum Bau Allerhöchst bewilligt." 101 Auch als Seehandlungspräsident Rother 1834 die Leitung des Staatschausseebaus übernahm, zahlte der Staat offiziell jährlich 500.000 Thaler für den Neubau in die Chausseebaukasse.102 Die darüber hinaus gehenden Kosten sollte die Seehandlung selbst beisteuern oder zumindest vorfinanzieren. Insgesamt ist die Differenz zwischen den im ordentlichen Haushalt ausgewiesenen Ausgaben und den tatsächlichen Neubauaufwendungen vor allem nach dem Ende der von der Seehandlung getragenen Investitionstätigkeit gewachsen. (Vgl. Tabelle 16 auf S. 369) Insgesamt sind somit zwischen 1816 und 1846 vom preußischen Staat 25.805.284 Thaler für Chausseeneubauten verwendet worden. Hinzu kommen für die Zeit zwischen 1816 und 1836 6.247.778 Thlr. für von der Seehandlung in Entreprise gebaute Straßen und 3.073.287 Thlr., die aus anderen Staatsfonds,

94 H. Kunze, Wegeregal, S. 42. - Sie übernahm den „Bau der großen Landstraßen, welche vor 1830 in Angriff genommen wurden, zum großen Theil in Entreprise ..., und sowohl die daraus erwachsenen Kosten, als auch andere Summen zur Verstärkung des Neubaufonds bei den damals beschränkten Mitteln der Staatskasse ..." Über den Chausseebau, 1848, S. 177. 95

F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 306. Berechnet nach: Tabelle A 3. 97 W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 360 und 424. 98 R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 59; Vgl. auch R. Koselleck, Preußen, S. 330. 99 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 69. Ab 1846 wurde 1 Million Thlr. ausgewiesen. 100 Über den Chausseebau, 1848, S. 177. 101 Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, Tab. II. 102 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 170 f. 96

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

369

dem Hauptextraordinarium der General-Staatskasse, der Direktion der Domänen und Forsten, der Postkasse und der Oberbergamtskasse in den Chausseebau flössen. 103

Tabelle 16 Tatsächliche Neubauausgaben für den preußischen Staatschausseebau aus den Etats des preußischen Handels- bzw. Finanzministeriums 1816-1846

Zeitraum

durchschnittlich jährliche Neubauausgaben (Taler)

1816-1825

610.208

1826-1834

836.046

1835-1846

1.014.899

Quelle: Über den Chausseebau, 1848, S. 178.104

Mit Hilfe dieser im Handelsarchiv veröffentlichten Angaben lassen sich also trotz der im Haushalt nicht im einzelnen oder wesentlich zu niedrig ausgewiesenen Daten die finanziellen Aufwendungen des preußischen Staates für den Straßenbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekonstruieren. Die bis auf den Taler aufgeführten Summen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß insbesondere die Straßenbauaufwendungen, die nicht vom Handelsministerium bzw. von der Handelsabteilung getragen wurden, schwer erfaßt werden können. Beispielsweise wurde im Jahre 1834 die von Halberstadt über Zilly ins hannoversche Hornburg führende Straße, die Teil der Verbindung ins westfälische Minden und daher für den Ost-West-Verkehr sehr wichtig war, auf preußischem Gebiet durch die Postdirektion und mit Mitteln der Wegebaufonds „grundlegend instandgesetzt". Unmittelbar danach übernahm die Chausseebauverwaltung die Straße und chaussierte sie mit relativ geringem Aufwand. 105

103

Über den Chausseebau, 1848, S. 178 f. - Ab 1844 wurden aus der Staatskasse auch Beiträge zu Provinzial-Straßenbaufonds gezahlt, was für die Provinz Sachsen jedoch nicht relevant war. 104

Andere Angaben liegen etwas über diesen Werten. So gibt E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 83, an, daß Preußen zwischen 1816 und 1822 jährlich 746.000 Thaler für den Chausseeneubau aufgewendet hat. P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 4, meint, daß zwischen 1817 und 1828 jährlich 917.000 Thaler für Chausseebau aufgewendet wurden. - Die Zahlenangaben enthalten offensichtlich die von der Seehandlung gewährten Kredite, nicht jedoch die durch die Seehandlung direkt vorgenommenen Straßenbauinvestitionen. 105

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 24 f.

24 Uwe Müller

3 7 0 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Tabelle 17 zeigt die für die Jahre 1837 bis 1848 vorliegenden „zu ChausseeNeubauten aus Staatsfonds verwendeten Summen" sowie die ab 1853 „zu Chaussee-Neubauten aus der Staatskasse angewiesenen Beträge".

Tabelle 17 Ordentliche Ausgaben für Staatschausseeneubauten in Preußen zwischen 1837 und 1848 sowie zwischen 1853 und 1873 Jahr 1837

Ausgaben (Taler)

Jahr

Ausgaben (Taler)

877.448

1857

308.475

1838

749.313

1858

415.314

1839

488.051

1859

297.553

1840

488.870

1860

518.110

1841

528.644

1861

504.251

1842

714.964

1862

580.614

1843

951.293

1863

386.507

1844

1.141.646

1864

294.209

1845

1.342.477

1865

397.839

1846

1.817.609

1866

402.981

1847

1.588.271

1867

517.696

1848

1.006.000

1868

764.284

1869

476.358

1853

639.231

1870

476.096

1854

403.846

1871

394.250

1855

216.346

1872

278.712

1856

345.525

1873

402.187

Quellen: Über den Chausseebau, 1848, S. 178; GStA PK Berlin, Rep. 151 I A, Nr. 321 und 322; Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 4. Jg., Berlin 1876, S. 328 f.

Die tatsächlichen ordentlichen Neubauausgaben lagen somit in den dreißiger und vierziger Jahren über den in den Staatshaushalten angesetzten Beträgen von 500.000. Taler bis 1845 bzw. von 1.000.000 Taler ab 1846. In den fünfziger und sechziger Jahren erreichten hingegen die tatsächlichen ordentlichen Neubausgaben nicht mehr die in den Haushalten seit 1851 veranschlagte Summe von 1.040.000 Taler. Abweichungen zwischen den starr festgelegten Sollund den tatsächlichen Ist-Ausgaben sowie die jährlichen Schwankungen innerhalb des zweiten Zeitabschnitts waren prinzipiell auf die unterschiedlichen Entwicklungsstände der einzelnen Straßenbauprojekte zurückzufuhren. Das

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

371

starke Wachstum der ordentlichen Neubauausgaben zwischen 1839 und 1846 reflektiert durchaus einen entsprechenden Trend, zumal es von einer gleichlaufenden Tendenz bei den aus dem „Mehrertrage der Staatseinnahmen" bestrittenen extraordinairen Aufwendungen begleitet wurde.

Tabelle 18 Außerordentliche Ausgaben für den Chaussee- und Wegebau in Preußen 1842-1845

Jahr

Ausgaben (Taler)

1842

2.229.174

1843

2.391.561

1844

2.832.778

1845

3.606.646

Quelle: F.W. Schubert, Handbuch der allgemeinen Staatskunde, S. 313 f.

Die Steigerung im Jahre 1845 wurde in erster Linie mit der Arbeitsbeschaffung in der Provinz Preußen begründet. Generell dürfte die Expansion der Straßenbauausgaben, die ja der Rotherschen Sparpolitik von 1834 widersprach, in erster Linie eine Folge sozialpolitischer Intentionen gewesen sein. 106 Spätestens seit 1853 schlug sich die Wende in der Trägerpolitik auch in einer dauerhaften Absenkung der ordentlichen Straßenbauausgaben nieder. 107

b) Die Entwicklung der Ausgaben für die Unterhaltung der preußischen Staatschausseen Die Neubauausgaben stellten nur einen Teil der Straßenaufwendungen dar. Eine erste Vorstellung über die Entwicklung der Unterhaltungsausgaben vor 1845 vermittelt ein Vergleich der in Tabelle 15 ausgewiesenen ordentlichen Gesamtausgaben mit den Zahlen über die ordentlichen Neubauausgaben in Tabelle 16. Zwischen 1816 und 1845 wurden also 40,7 % der Ausgaben für Neubauten und 59,3 % für die Unterhaltung der Staatschausseen sowie die Subventionierung der Nichtstaatschausseen verwendet. Prämienzahlungen spielten

106 11,7

Vgl. Abschnitt E. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 87.

3 7 2 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

allerdings bis in die vierziger Jahre hinein nur eine geringe Rolle. Wegen der unterschiedlichen Einteilung der Zeitabschnitte in den Tabellen 15 und 16 lassen sich keine unmittelbaren Vergleiche zwischen der Entwicklung der Bauund Unterhaltungsausgaben anstellen. Die Zahlen zeigen jedoch, daß zwischen 1816 und 1845/46 sowohl die Neubau- als auch die Unterhaltungsausgaben von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt kontinuierlich anstiegen. Dieses Ergebnis überrascht nicht, wenn man berücksichtigt, daß ein wachsendes Chausseenetz auch einen absolut größeren Instandhaltungsaufwand erforderte. Zusätzlich stiegen ja auch die pro Meile aufzuwendenden Unterhaltungskosten. Eine genauere Beurteilung des Trends ermöglichen die für 1835 bis 1848 vorliegenden Angaben über die jährlichen ordentlichen Unterhaltungsausgaben.

Tabelle 19 Ausgaben für die materielle Unterhaltung und außerordentliche Instandsetzungen der Staatschausseen in Preußen von 1835 bis 1848

Jahr

Ausgaben (Taler)

Jahr

Ausgaben (Taler)

1835

2.198.565

1842

1.308.160

1836

1.909.151

1843

1.394.483

1837

1.331.070

1844

1.447.897

1838

1.171.426

1845

1.545.292

1839

1.263.331

1846

1.619.910

1840

1.773.809

1847

1.593.538

1841

1.292.375

1848

1.651.310

Quelle: Über den Chausseebau, 1848, S. 184; GStA PK Berlin, Rep. 151 I A, Nr. 320; 321 und 322.

Es ist bereits daraufhingewiesen worden, daß in den Jahren 1835, 1836 und 1840 über die gewöhnliche Unterhaltung hinausgehende Instandsetzungsarbeiten die Ausgaben in die Höhe trieben. In den hier verwendeten zeitgenössischen Statistiken wurden diese „Kosten für die außerordentliche Instandsetzung", anders als bei den extraordinairen Neubauausgaben, in den allgemeinen Unterhaltungsfonds integriert. Ursprünglich war die extraordinaire Unterhaltungsfinanzierung nur zum Ausgleich außergewöhnlich starker Belastungen, beispielsweise nach Truppendurchmärschen, vorgesehen. 108 1832 gewährte Innenminister von Schuckmann für die Straßenunterhaltung einen extraordinairen

108

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 202.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

373

Zuschuß von 160.000 Thlr. 1834 wurde der Unterhaltungsfonds mit dem ausdrücklichen Hinweis auf den nach der Gründung des Zollvereins gestiegenen Verkehr um 362.000 Thlr. aufgestockt. 109 Rother plante nach Abschluß des Bauprogramms der Seehandlung für die Folgejahre die gründliche Instandsetzung von 200 Meilen Staatschausseen, wofür allein in den drei Jahren zwischen 1835 und 1837 2,2 Mill. Thlr. zusätzlich aufzubringen waren. In diesem Zeitraum lag auch der Höhepunkt der extraordinairen Unterhaltungsfinanzierung. 110 Mit Ausnahme von 1840 wurden in der Folgezeit kaum noch außerordentliche Instandsetzungsarbeiten durchgeführt, wobei gleichzeitig der Bau neuer Straßen durch extraordinaire Zuweisungen gefördert wurde. In den vierziger Jahren stagnierten trotz Chausseenetzwachstums die Ausgaben für die gewöhnliche Chausseeunterhaltung und fielen unter den festgelegten Meilensatz von 1125 Thlr. 111 Offensichtlich wurde die Unterhaltung der Straßen bewußt vernachlässigt, um die finanziellen Mittel auf den Neubau zu konzentrieren. Für das Jahr 1853 liegt eine genauere Aufgliederung der 2.171.075 Thlr. betragenden Unterhaltungsausgaben vor. 112 Für „Vermessungs- und Veranschlagungskosten von Chausseen, ... Prämien für das Auffinden neuer Steinund Kiesgruben; ... die Besoldung der Chaussee-Aufseher und Wärter, die Kosten der Bekleidung derselben sowie die Unterstützung an deren hinterlassene Wittwen und Kinder" wurden 231.547 Thlr., also 10,7% der Gesamtsumme ausgegeben. Die restlichen 1.939.528 Thlr. waren „Kosten der materiellen Unterhaltung selbst". Darin waren jedoch noch 257.198 Thlr. „extraordinäre Unterhaltungskosten" enthalten, was einem Anteil von 11,8% an den Gesamtsausgaben entspricht. Im Gegensatz zu den Neubauausgaben stiegen die Unterhaltungsausgaben in den fünfziger und sechziger Jahren. (Vgl. Tabelle 20 auf S. 374) Der kontinuierliche Anstieg der Unterhaltungsausgaben ist ein Indiz für die Orientierung am Wachstum des Straßennetzes und an der Höhe der Kosten. Die Politik billigte jetzt den Unterhaltungsausgaben den Charakter fester Kosten zu. Dadurch reduzierte sich jedoch auch der infrastrukturpolitische Gestaltungsspielraum. 113 Der Rückgang des Staatschausseeneubaus seit den fünfziger Jahren entsprang also auch finanzpolitischen Notwendigkeiten. Diese hatten zwar schon die trägerpolitischen Neuorientierungen von 1834 und 1836 beeinflußt.

109

P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 78. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 65. 111 Vgl. Tabelle 13. 112 A. Frantz, Der preußische Staat, S. 657 ff. - Vgl. auch F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 2, S. 400 f. 113 J. Wysocki, Infrastruktur, S. 128 ff. 110

374

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Deren ausgabenpolitische Umsetzung erfolgte jedoch erst nach 1850. In einigen Regionen ist der Rückgang der Bauinvestitionen aufgrund des hohen Unterhaltungsaufwandes aber schon früher zu beobachten gewesen. Dieser Mechanismus wirkte im Herzogtum Braunschweig zwischen 1815 und 1830, in den Regierungsbezirken Erfurt und Merseburg seit 1835 und im Regierungsbezirk Magdeburg seit 1845. 114 Die Unterhaltungskosten spielten eben in der Landstraßenpolitik eine wesentlich gewichtigere Rolle als bei Wasserstraßen und Eisenbahnen. Gerade finanzhistorisch orientierte Darstellung haben jedoch diesen Bereich oft vernachlässigt. 115

Tabelle 20 Ausgaben für die materielle Unterhaltung und außerordentliche Instandsetzungen der Staatschausseen in Preußen von 1849 bis 1866

Jahr

Summe in Taler

1849

2.031.800

1851

2.104.089

1852

2.134.200

1853

2.171.075

1854

2.206.100

1855

2.222.875

1859

2.266.071

1862

2.392.199

1866

2.537.912

Quellen: O. Schwarz / G. Strutz, Staatshaushalt, Bd. 2, S. 1249 f.; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, S. 165; F. W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 2, S. 389

114

Vgl. Abschnitt D. H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 16. - Sowohl K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 260 ff. als auch H. Mauersberg, Finanzstrukturen deutscher Bundesstaaten zwischen 1820 und 1944, St. Katharinen 1988, haben nur Straßenbauausgaben bzw. Investitionen beachtet. 1,5

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

375

c) Die Entwicklung der Staatsausgaben für die Subventionierung der preußischen Nichtstaatschausseen Seit Beginn der vierziger Jahre belasteten erstmals die Subventionen für den Nichtstaatsstraßenbau den Etat in nennenswertem Maße. 116

Tabelle 21 Staatliche Subventionen für die „Prämienchausseen" in Preußen 1843-1873 Jahr

Ausgaben in Taler

Jahr

Ausgaben in Taler

1843

162.763

1861

170.654

1844

221.213

1862

227.626

1845

332.862

1863

201.164

1846

397.115

1864

301.930

1865

267.386

1852

141.187

1866

289.361

1853

244.875

1867

250.762

1854

332.143

1868

254.180

1855

282.935

1869

300.827

1856

343.106

1870

273.535

1857

297.267

1871

172.993

1858

296.002

1872

221.736

1859

342.611

1873

222.832

1860

202.066

Quelle: Über den Chausseebau, 1848, S. 180; Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 4. Jg., Berlin 1876; Berechnungen nach: O. Schwarz / G. Strutz, Staatshaushalt, Bd. 2, S. 1250.

Die signifikante Steigerung zwischen 1843 und 1846 ist auf die Anhebung der Prämiensätze auf über 3000 Taler pro Meile durch Finanzminister von Alvensleben zurückzuführen. 117 Die Datenreihe widerspiegelt auch die deutliche Förderung des Nichtstaatschausseebaus durch Handelsminister von der Heydt

1,6 117

Vgl. Kapitel F.II. Vgl. Ebenda.

376

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

seit 1853. 118 Als sich in der „neuen Ära" mit der Stellung von der Heydts in der Regierung auch sein finanzieller Spielraum verschlechterte, wurden die Bedingungen zur Prämiengewährung verschärft, wodurch die Ausgaben für Chausseebauprämien in den sechziger allmählich sanken.119

Abbildung 4: Jährliche Ausgaben des preußischen Staats für Neubau, Unterhaltung und Subventionierung des Nichtstaatschausseebaus (in Talern) Quelle: Tabellen 18 und 20-22.

Eine vergleichende Betrachtung der Entwicklung von Bau-, Unterhaltungsund Subventionsausgaben weist noch einmal auf zwei wesentliche Tendenzen hin. Die Unterhaltungsausgaben bildeten insgesamt und besonders seit 1850 den wichtigsten Bestandteil der Straßenaufwendungen. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß in den der Abbildung 4 zugrundeliegenden Daten extraordinäre Unterhaltungsaufwendungen enthalten sind, während extraordinäre Neubauausgaben fehlen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß in den fünfziger und sechziger Jahren die Unterhaltungsausgaben etwa doppelt so hoch waren wie Direktinvestitionen des Staates und Investitionsbeihilfen für Ge-

118

Vgl. Kapitel F.III. R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 87; W. Klee, Preußische Eisenbahngeschichte, S. 132 f. 1,9

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

377

bietskörperschaften und Private zusammen. Der trendwidrige Verlauf der Kurven in den vierziger Jahren liefert ein weiteres Indiz für den in dieser Zeit dominierenden Einfluß sozialpolitischer Motive gegenüber finanz- oder verkehrspolitisch bestimmten Interessen.

2. Die Ausgaben für Straßenbau, Straßenunterhaltung und Subventionierung von Nichtstaatschausseen in der preußischen Provinz Sachsen Über die Verteilung der Straßenaufwendungen zwischen den einzelnen Provinzen liegen für die Zeit bis 1853 keine systematisch erhobenen Daten vor. Grundsätzlich sollte also die regionale Verteilung der Mittel indirekt anhand der Netzentwicklung beurteilt werden. Bei den vorhandenen einzelnen Angaben handelt es sich meistens um extraordinäre Ausgaben, da sich diese auf konkrete Projekte bezogen und daher lokalisierbar waren. Eine Aufstellung der 1827 bis 1829 aus extraordinären Zuschüssen in einer Gesamthöhe von 2.044.294 Thlr. finanzierten Straßenzüge enthält auch mehrere provinzialsächsische Straßen, die ausnahmslos im Regierungsbezirk Merseburg lagen. 120 1827 wurden 35.000 Thlr. für den Ausbau der Chaussee Treuenbrietzen-Jüterbog-Dresden (pCh Nr. 62), die auch durch den Regierungsbezirk Potsdam führte, bewilligt. 1828 und 1829 finanzierte man den Ausbau der Chaussee von Weißenfels über Zeitz nach Giebelroth (pCh Nr. 71) mit insgesamt 91.200 Taler. Weitere 30.000 Thlr. erhielten 1829 die Straßen von Bitterfeld über Delitzsch nach Leipzig (pCh Nr. 64) sowie von Cönnern nach Eisleben. Der Regierungsbezirk Erfurt bekam für seine Staatschausseen im Jahre 1835 195.766 Thlr.. 121 Davon wurden 92.113 Thlr. für Neubauten, 82.648 für „Umbauten", also grundlegende Instandsetzungen, und 21.004 Thlr. für Reparaturen verwendet. Von einer finanziellen Zuwendung besonderer Art profitierte in den vierziger Jahren der Regierungsbezirk Magdeburg. Der 1840 verstorbene König Friedrich Wilhelm III. hatte in seinem Testament verfügt, daß die Altmark 350.000 Taler aus seinem „Chatoullvermögen" zum Chausseebau bekommt, „womit die Chaussee von Dolle auf Wittenberge über Stendal, Osterburg und Seehausen gebaut worden ist" 1 2 2 (pCh Nr. 86a). Das Geld wurde außerdem für

120 121 122

Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, Tab. II. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 48. Über den Chausseebau, 1848, S. 180.

378

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

die Chaussierung der Straße von Stendal nach Tangermünde sowie von Tangermünde nach Fischbeck (pCh Nr. 84b) verwandt. 123 Ein „Verzeichnis der für die Provinz Sachsen in den Jahren 1840 bis 1843 überwiesenen extraordinairen Baugelder" weist inklusive der Vorschüsse für 1844 einen Gesamtbetrag von 1.544.903 Thlr. aus. 124 Der größte Teil, nämlich 929.192 Thlr., wurden für Chausseebauten, weitere 248.193 Thlr. für den Umbau bzw. Neupflasterungen von Chausseen verbraucht. Die in der ganzen Monarchie zwischen 1843 und 1846 ausgegebenen extraordinären Chausseebauausgaben betrugen jährlich etwa 2,8 Mill. Thlr. Die Provinz Sachsen erhielt also in dieser Zeit etwa 8 % der Mittel. Innerhalb der Provinz profitierte der Regierungsbezirk Magdeburg in überdurchschnittlichem Maße von den Zuweisungen. Die drei größten der insgesamt 15 Neubauprojekte lagen in diesem Bezirk. Die Chaussierungen der Straßen von Wolmirstedt nach Lüneburg, von Magdeburg nach Hamburg auf dem rechten Elbufer und von Magdeburg nach Helmstedt erhielten 638.810 Thlr., also 7 0 % der insgesamt für Neubauten bestimmten Summe. Hier widerspiegelt also die Ausgabenverteilung die bereits skizzierten Prioritäten in der Chausseebaupolitik.125 Die große Bedeutung des Extraordinariums und die methodischen Probleme bei einer Rekonstruktion der Gesamtaufwendungen illustriert eine Aufstellung der dem Regierungsbezirk Merseburg insgesamt im Jahre 1847 für den Straßenbau und die Straßenunterhaltung zur Verfügung stehenden Staatsmittel.126 Der Bezirk erhielt 157.000 Taler aus etatsmäßigen Fonds, von denen 108.000 Taler der Chausseeunterhaltung, 29.000 Taler dem Chausseeneubau und 20.000 Taler dem allgemeinen Wegebaufonds, also der Unterhaltung der unbefestigten Straßen, zuflössen. Hinzu kamen aber noch 100.000 Taler außerordentliche Zuschüsse, von denen 83.000 Taler für fünf spezielle Straßenneubauten verwandt wurden. Weitere 14.000 Talern wurden als allgemeine Zuschüsse zum Chaussee- und Wegebaufonds sowie als Ausgaben für spezielle Landstraßenregulierung verbucht. Die restlichen 3000 Taler gingen als Staatsprämie an die Aktienchausseebaugesellschaft Harzgerode-Aschersleben. Von den insgesamt 257.000 Talern wurde also bei Berücksichtigung des Extraordinariums der größere Teil für Chausseebauten verwandt. Damit lag der Regierungsbezirk Merseburg, obwohl er bereits über relativ viele Staatschausseen verfügte, im gesamtpreußischen Trend der vierziger Jahre.

123 124 125 126

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 184. Ebenda, Bl. 127. Vgl. Kapitel D.II. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 43.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

379

Für die Zeit ab 1853 liegen Daten über die jährlichen Ausgaben ftir Staatschausseeneubauten

sowie

Prämienzahlungen

für

Nichtstaatschaussen

auch auf Regierungsbezirksebene vor.

Tabelle 22 Prämienzahlungen für Nichtstaatschausseen in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1853-1873 Prämienzahlungen (jährlicher Durchschnitt in Thlr.)

Anteile an den gesamtpreußischen Ausgaben (%)

RB Erfurt

18531859 22.675

18601866 4468

18671873 4866

18531859 IM

18601866 0,63

18671873 0,67

RB Magdeburg

58.318

31.005

39.477

6,36

4,36

5,43

RB Merseburg

15.461

17.094

12.828

1,69

2,40

1,76

Provinz Sachsen

96.454

52.567

57.172

10,52

7,39

7,86

916.688

711.508

727.228

Zeitabschnitt

Kgr. Preußen

Quelle: Jahrbuch für die amtliche Statistik, 1876, S. 330 f.

Tabelle 23 Jährliche Ausgaben für den Neubau von Staatschausseen in den Regierungsbezirken der preußischen Provinz Sachsen 1853-1873 Neubauausgaben (jährlicher Durchschnitt in Taler)

Anteile an den gesamtpreußischen Ausgaben (%)

18531859 6.669

18601866 8.279

18671873 9.840

18531859 1,78

18601866 1,88

18671873 2,08

RB Magdeburg

4.998

3.139

6.918

1,33

0,71

1,46

RB Merseburg

7.057

7.918

31.407

1,88

1,80

6,64

18.724

19.336

48.165

4,99

4,39

10,19

375.184

440.644

472.798

Jahr RB Erfurt

Provinz Sachsen Kgr. Preußen

Quelle: Jahrbuch für die amtliche Statistik, 1876, S. 328 f.

Es ist bereits mehrfach festgestellt worden, daß in den fünfziger Jahren die Förderung des Nichtstaatschausseebaus gegenüber dem Staatschausseebau in

3 8 0 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

den Vordergrung trat. 127 Bereits in den sechziger Jahren sanken jedoch die Prämienzahlungen. Dies gilt für die Provinz Sachsen in noch stärkerem Maße als für die gesamtpreußische Ebene. Nach der Initiierung des Kreis- und Gemeindechausseebaus in den fünfziger Jahren war der Staat also bemüht, bei weiteren Projekten seine Alimentierung zu reduzieren. Die sich dabei ergebende differenzierte Behandlung der einzelnen Provinzen kann jedoch an dieser Stelle ebensowenig behandelt werden wie die Unterschiede zwischen den Straßenfinanzierungspolitiken der in dieser Frage seit 1876 selbständigen Provinzialverbände. 128

3. Die Ausgaben für Straßenbau und Straßenunterhaltung im Herzogtum Braunschweig Eine Unterscheidung zwischen Ausgaben für den Chausseebau und die Chausseeunterhaltung ist in den offiziellen braunschweigischen Staatshaushaltsrechnungen und meist auch in den archivalischen Quellen nicht vorhanden. Für die Zeit von 1816 bis 1833 konnten die Ausgaben für „Chausseeinstandsetzung und Unterhaltung" aus verschiedenen Aufstellungen der Geheimen Kanzlei errechnet werden. (Vgl. Tabelle 24 auf S. 381) Da die Ausgaben zum Teil nach Straßenzügen aufgeschlüsselt wurden, läßt sich erkennen, daß für die Instandsetzungen der Leipziger und Frankfurter Straße, die stellenweise den Charakter von Neuchaussierungen hatten, und den Bau der Holzmindener Straße am meisten Geld benötigt wurde. 129 Die Angaben schließen offensichtlich extraordinär bewilligte Beträge ein. Die für 1816 genannte Summe setzte sich beispielsweise aus 33.800 Thlr. aus dem durch die Wegegeldeinnahmen gespeisten Fonds der Wegebaukasse und einem außerordentlichen Zuschuß von 10.000 Thlr. zusammen.130 Für das Jahr 1834 wurden Ausgaben in Höhe von 70.000 Thlr. veranschlagt.131 Davon sollten 15.000 Thlr. für Neubauten verwendet werden. Die gerade gegründete Baudirektion hielt allerdings diese Summe nicht für ausreichend und forderte unter Berufung auf den bei der Übernahme angefertigten

127

Vgl. Kapitel D.II.3. und Abschnitt F. Vgl. E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 120. 129 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 2, X, Nr. 24, Bl. 37 ff., 67 ff., 103 ff., 142 ff., 199 ff. - Allein für die Unterhaltung der Leipziger Straße wurden von 1822 bis 1831 116.400 Thaler ausgegeben. G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 10. 130 S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 32. 131 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3460. 128

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

381

Zustandsbericht 90.000 Thlr.. 132 Diese sollten ausschließlich der Wiederinstandsetzung dienen. Bei einer Verdopplung der Ausgaben für Chausseehäuser von 2000 auf 4000 Thlr. könnte man außerdem die Einnahmen steigern.

Tabelle 24 Ausgaben für Chausseeneubau, Instandsetzung und Unterhaltung der Staatschausseen im Herzogtum Braunschweig 1816-1833

Jahr

Ausgaben in Taler

Jahr

Ausgaben in Taler

1816

44.800

1825

83.001

1817

47.763

1826

93.101

1818

51.437

1827

119.202

1819

49.600

1828

136.746

1820

79.727

1829

129.802

1821

50.488

1830

140.926

1822

91.578

1831

93.325

1823

62.432

1832

75.478

1824

58.787

1833

68.434

Quelle: Nds STA Wolfenbüttel, 12 A Neu, Fb. 2, Nr. X, 24, Bl. 37 ff.; Ebenda, 12 A Neu, Fb. 2, Nr. X, 34, Bl. 126 ff.; C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig 1829, S. 98; F.K. von Strombeck, Staatswissenschaftliche Mittheilungen, 1. Heft, 1831, S. 55.

Seit der Reform des Staatshaushaltswesens im Herzogtum Braunschweig, das sich ja seit 1832 zur konstitutionellen Monarchie entwickelte, enthielten die nunmehr für jeweils drei Jahre aufgestellten Haushaltspläne einen Titel für „Wege-, Brücken- und Wasserbau". Ein Vergleich der Angaben für 1833 und 1834 zeigt, daß in diesen Jahren zwei Drittel bis drei Viertel der Tiefbaumittel für das Chausseewesen verwendet wurden. Die schon zuvor geübte Praxis, einen Teil der Ausgaben aus außerordentlichen Zuschüssen zu finanzieren, ist aber auch nach 1833 fortgeführt worden. Die Bedeutung dieser Extraordinarien im Haushalt stieg sogar seit den fünfziger Jahren an, was aber nur zu einem geringen Teil auf den Straßenbau zurückzuführen war. 133

132

Ebenda; G.Ph. von Bülow, Erläuternde Bemerkungen, S. 4. Vgl. auch Kapitel

H.IV. 133 Nach F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 986, wurden 1850 für das gesamte Bauwesen 152.500 Taler ausgegeben.

382

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung Tabelle 25 Der Stellenwert der Ausgaben für Wege-, Brücken- und Wasserbau im Staatshaushalt des Herzogtums Braunschweig 1833-1872

Periode

Wege-, Briickenund Wasserbau

Extraordinarium

Anteil der AusgaExtraordinäre Verwendungen aus ben für WegeBrücken- und Wasden Überschüssen serbau am Gesamtetat

Gesamtausgabe

(%)

absolut (1000 Taler)

1833 1834/36

93 330

22 55

1513 4709

4

6,15 7,01

1837/39

394

63

5094

82

7,73

1840/42

393

69

5195

63

7,56

1843/45

385

44

5437

0

7,08

1846/48

328

97

5641

0

5,81

1849/51 1852/54

323

38 64

5642

41

5,72

5822

21

5,98

1855/57

63

5933

283

1858/60

390 398

1861/63

380

45 44

6501 6587

470 499

6,57 6,12

1864/66

380

63

7236

408

5,25

1867/69

380

59

8407

883

4,52

1870/72

412

391

9840

2612

4,19

348

1

5,77

Quelle: Kybitz, Der Staatshaushalt des Herzogtums Braunschweig in den Jahren 1833/1886, in: Finanzarchiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen, 5. Jg., 2. Bd., Stuttgart 1888, S. 208 f.

Tabelle 26 Ausgaben der Kreiskommunalwegebaukassen im Herzogtum Braunschweig 1872-1886 Finanzperiode

Regelmäßige Unterhaltung

Neubauten

Instandsetzungen und außerordentliche Aufwendungen Absolute Anteil Zahlen (%) (Mark)

Ausgaben insgesamt

Absolute Zahlen (Mark)

Anteil (%)

Absolute Zahlen (Mark)

Anteil (%)

1872/76

2.942.070

65,17

1.254.353

27,78

318.221

7,05

4.514.644

1877/81

3.516.440

69,68

1.136.741

22,53

393.340

7,79

5.046.521

1882/86 1872/1886

(Mark)

3.774.726

75,50

675.263

13,51

549.394

10,99

4.999.383

10.233.236

70,28

3.066.357

21,06

1.260.955

8,66

14.560.548

Berechnet nach: F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 84.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

383

Für die seit 1872 den Kreisen zugeordneten Kommunikationswege liegen Daten über Neubau- und Unterhaltungsausgaben vor, die zeigen, wie stark sich zu dieser Zeit die Infrastrukturpolitik auf die Unterhaltung des bereits vorhandenen, relativ dichten Straßennetzes konzentrieren mußte (Vgl. Tabelle 26 auf S. 382).

4. Die Ausgaben für das Straßenwesen im Rahmen der Gesamthaushalte Absolute Werte über die Höhe der Straßenbau- und -unterhaltungsausgaben sagen an sich noch nichts über deren Stellenwert im Staatshaushalt aus. Es wird daher im folgenden ihr Anteil an den Gesamthaushalten sowie ihre Bedeutung innerhalb der Infrastrukturausgaben analysiert. Nach dem Wagnerschen Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit steigen im Zeitverlauf die Staatsausgaben in Relation zum Sozialprodukt. 134 Wenn aufgrund des Fehlens von Sozialproduktsdaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bevölkerungszahlen zugrundegelegt werden, so läßt sich jedoch für das Königreich Preußen kein relatives Wachstum der Staatsausgaben feststellen. 135 Erst seit den siebziger Jahren, also zum Zeitpunkt seiner „Entdeckung", läßt sich die Gültigkeit des Wagnerschen Gesetzes, vor allem durch das Wachstum der kommunalen Haushalte, empirisch nachweisen.136 In verschiedenen Einzelstaaten lassen sich jedoch auch andere Tendenzen beobachten. So sind im Herzogtum Braunschweig spätestens seit den dreißiger Jahren die Staatsausgaben pro Kopf der Bevölkerung kontinuierlich gestiegen. Diese stetig anwachsende Tätigkeit des braunschweigischen Staates, dessen Pro-Kopf-Ausgaben auch deutlich höher waren als in Preußen, reflektiert auch den unterschiedlichen Grad des Staatsinterventionismus. 137 Sie stellt die finanzpolitische Erklärung für den in Braunschweig früher einsetzenden und mehr Nebenstraßen erfassenden Chausseebau dar. Daher soll kurz auf die Grundlage für die im Herzogtum Braunschweig vergleichsweise hohen und während der

134 A. Wagner, Finanzwissenschaft, Teil 1, 2. Aufl., Leipzig-Heidelberg 1877, S. 68. Zu Darstellung und Kritik des Wagnerschen Gesetzes: K. Littmann, Öffentliche Ausgaben. Die „Gesetze" ihrer langfristigen Entwicklung, in: W. Albers u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 1, Stuttgart-New York-Tübingen-Göttingen-Zürich 1988, S. 349 ff. 135 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 164 ff.; O. Weitzel, Entwicklung der Staatsausgaben, S. 35 ff. 136 J. Bolenz, Wachstum, S. 154 ff. und 206 ff. - Vgl. auch H. Timm, Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben, in: Finanzarchiv, N.F., 21. Jg., 1961, H. 2, S. 201 ff., insbes. S. 234 ff.; J. Wysocki, Infrastruktur, S. 107 f. 137 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 194.

384

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Industrialisierung steigenden Staatsausgaben eingegangen werden. Diese bestand zum einen in einer spezifischen Einnahmenstruktur und zum zweiten in einer anderen Verschuldungspolitik. Tabelle 27 Wachstum der Staatsausgaben und Bevölkerungsentwicklung im Herzogtum Braunschweig 1831-1871 Jahr 1831 1836 1843 1849 1855 1858 1861 1864 1867 1871

Einwohnerzahl 245.798 258.309 267.563 270.085 269.213 273.394 281.708 292.708 302.801 311.764

Staatsausgaben (Taler) 1.513.000 1.567.000 1.812.000 1.880.000 1.978.000 2.167.000 2.196.000 2.412.000 2.802.000 3.280.000

Staatsausgaben pro Einwohner (Taler) 6,16 6,07 6,77 6,96 7,35 7,93 7,80 8,24 9,25 10,52

Berechnet nach Tabelle A 38 und Kybitz, Staatshaushalt, S. 208 f. Bemerkung: Es werden hier auf ein Stichjahr bezogene Bevölkerungsdaten mit jährlichen Staatsausgaben verglichen, die Durchschnittswerte dreijähriger Finanzperioden darstellen. Die sich daraus ergebenden Verzerrungen sind für den Gesamttrend unerheblich.

Die Braunschweiger Herzöge verfugten bereits im 18. Jahrhundert über einen im Vergleich zu anderen Reichsfiirsten außerordentlich großen Besitz an landwirtschaftlichen Gütern und Bergwerken. 138 Während der Regierung Karl Wilhelm Ferdinands erwirtschafteten allein die Domänen 36 % der Staatseinnahmen.139 Noch um 1840 betrugen die Domäneneinkünfte Preußens nur das Fünffache der braunschweigischen, obwohl die Fläche des Königreichs 75mal größer war. 140 Seit dieser Zeit sank allerdings die Bedeutung der herzoglichen Domänen, Forsten und Jagden, Berg- und Hüttenwerke sowie Zinseinnahmen für den braunschweigischen Fiskus. (Vgl. Tabelle 28 auf S. 385) Das Herzogtum Braunschweig hat somit, ähnlich wie andere nord- und mitteldeutsche Kleinstaaten, die Abkehr von der traditionellen Domänen- und Regalienwirtschaft erst sehr spät begonnen. Dieser Prozeß war zudem nicht mit

138 139 14()

S. 14.

G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 247. C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig, 1829, S. 95. C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 2. Fortsetzung für 1840 bis 1842, 1844,

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

385

dem quantitativen Ausbau einer Steuerwirtschaft verbunden, denn der relative Rückgang der Einnahmen aus Kammergut und Klosterreinertragskasse wurde ausschließlich durch die wachsenden Erträge der neueren Staatsunternehmen, insbesondere der Eisenbahn, kompensiert. 1 4 1 Aus diesem Grunde konnte sich die braunschweigische Regierung trotz Steuerbewilligungsrecht des Landtages einen großen finanzpolitischen Spielraum bewahren. 1 4 2 Tabelle 28 Struktur der Staatseinnahmen des Herzogtums Braunschweig 1814-1872 143 Haushaltsperiode

prozentuale Anteile der Einnahmen aus Kammergut

1814 1824 1829 1833 1834/36 1837/39 1840/42 1843/45 1846/48 1849/51 1852/54 1855/57 1858/60 1861/63 1864/66 1867/69 1870/72

33,07 33,61 39,42 35,47 34,43 36,55 33,64 29,94 28,50 28,57 26,97 25,60 24,82 23,02 22,87 19,09 16,43

direkten Steuern

34,98 31,31 31,89 27,81 26,59 25,01 24,56 24,10 23,91 22,68 21,53 20,32 19,94 20,33 19,50 15,62 12,85

indirekten Steuern

25,02 24,74 26,35 27,28 27,83 27,40 29,06 31,68 30,69 28,38 26,20 22,88 21,40 22,23 24,47 19,04 21,62

Klosterreinertragskasse

7,40 7,84 7,64 8,00 7,26 7,51 7,05 6,96 6,92 6,61 6,91 7,21 5,82 5,33

Sonstigen Einnahmen (vor allem Post und Eisenbahn)

6,93 10,34 2,34 2,05 3,31 3,40 4,74 7,02 9,39 13,33 18,33 24,27 27,23 27,51 25,94 40,44 43,76

Berechnet nach Kybitz, Staatshaushalt, S. 206 f. Bemerkung: Sonstige Einnahmen resultierten aus der Post, der Eisenbahn, dem Leihhaus, der Lotterie und den Zinsen fiir in Wertpapieren angelegtes Staatsvermögen sowie extraordinären Einnahmen.

141

Kybitz, Der Staatshaushalt des Herzogtums Braunschweig in den Jahren 1833/1886, in: Finanzarchiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen, 5. Jg., 2. Bd., Stuttgart 1888, S. 218. 142 Die Aufhebung der adligen Steuerprivilegien im Jahre 1821 verminderte zudem die relative Belastung der einzelnen Steuerpflichtigen. C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig, 1829, S. 99. - Vgl. auch Kapitel B.I. 143 Die Abweichungen zwischen den Angaben in Tabelle 28 und bei K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 42 ff., resultieren aus einer unterschiedlichen Zuordnung der Einnahmen aus den Berg- und Hüttenwerken. - Die Finanzgeschichtsforschung hat bislang keine vergleichende Betrachtung der Haushaltspolitik in den deutschen Bundesstaaten vorgelegt. E. Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen, beschränkt sich auf Preußen und Österreich. Den von H. Mauersberg, Finanzstrukturen, gelieferten Daten mangelt es an Kompatibilität. - Aus diesem Grunde konnten auch „benachbarte" Studien meist nur vage Aussagen treffen. Vgl. z.B. H. Kunze, Wegeregal, S. 13. 25 Uwe Müller

386

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Neben dem hohen Stellenwert staatlicher Eigenbetriebe gehört das relativ große Ausmaß der Staatsverschuldung zu den Besonderheiten der braunschweigischen Finanzpolitik. Zwar wuchsen in den meisten deutschen Ländern zwischen 1825 und 1850 die Staatsschulden stärker als die Staatseinnahmen.144 Insofern stellte die auf Schuldenabbau gerichtete preußische Haushaltspolitik eine Ausnahme dar. Das Herzogtum Braunschweig wies allerdings 1825 mit 23,05 Thlr. die zweithöchste Pro-Kopf-Verschuldung aller Staaten des Deutschen Bundes auf und lag noch 1850 mit 38,39 Thlr. pro Kopf an dritter Stelle. 145 Die Kreditaufnahmen wurde zum Teil unmittelbar mit bestimmten Projekten verbunden, wobei eben der Verkehrswegebau und die Realisierung der Agrarreformen von zentraler Bedeutung waren. 146 Die Verteilung der Finanzierungslasten auf mehrere Generationen wird von der modernen Infrastrukturtheorie mit Hinweis auf die lange Lebensdauer dieser Investitionen ausdrücklich gebilligt. 147 Das Herzogtum Braunschweig, das bekanntlich die erste deutsche Staatsbahn gebaut hat, folgte diesem Prinzip frühzeitig und finanzierte seine Eisenbahnen über Staatsschuldverschreibungen. 148 Preußen konnte nur einen geringeren Teil seiner Einnahmen aus den Gewinnen landesherrlicher bzw. staatlicher Unternehmen decken als zum Beispiel Braunschweig. Wichtigste Einnahmequelle waren hier, vor allem nach den Steuergesetzen von 1820, die indirekten Steuern. 149 Die Daten zeigen außerdem, daß noch in den sechziger Jahren, als auch in Preußen die Einnahmen aus den Eisenbahnen und anderen Staatsgewerbeanstalten enorm anwuchsen,150 die Steuern etwa 10 Prozentpukte mehr zum Budget beitrugen als im Herzogtum Braunschweig. (Vgl. Tabelle 29 auf S. 388) Die wachsende Rolle der Eisenbahnen im Rahmen der Staatsausgaben und wenig später auch der Einnahmen weist auf einen weiteren Aspekt hin: die Rolle der Ausgaben für den Ausbau und den Erhalt der Infrastruktur, speziell

144

K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 106. Ebenda, S. 92. 146 Ebenda, S. 57 und 89. 147 U. Scheele, Privatisierung, S. 95. 148 W. Siebenbrot, Die braunschweigische Staatseisenbahn, S. 93 f. 149 Vgl. E. Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen, S. 116 ff.; W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 497 ff. - Für die Bewertung des hohen Anteils der indirekten Steuereinnahmen ist allerdings zu berücksichtigen, daß darin auch die Einnahmen aus dem Salzmonopol enthalten sind, die beispielsweise in den Jahren 1849-1851 9 % aller Einnahmen ausmachten. Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat fur das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 3. 145

150 Der enorme Anstieg der Einnahmen aus den Staatsunternehmen in den sechziger Jahren ist von der neueren Finanzgeschichtsforschung kaum beachtet worden, obwohl er dem allgemeinen Bild einer dem Höhepunkt des Liberalismus zustrebenden Wirtschaftspolitik widerspricht.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

387

für die Verkehrsinfrastruktur, innerhalb der Staatshaushalte. Trotz aller am Beispiel der Straßenbauausgaben bereits aufgezeigten Datenprobleme ist festzustellen, daß in Preußen der größte Teil der Infrastrukturausgaben aus dem Etat des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten bzw. seiner Vorgängerinstitutionen bestritten wurde. In diesem Rahmen stellten die Infrastrukturausgaben wiederum den wichtigsten Ausgabeposten dar. Zwischen 1821 und 1850 stiegen die in den Etats ausgewiesenen Ausgaben absolut von 1.574.000 auf 6.636.000 Taler, so daß auch der Anteil an den Gesamtausgaben von 3 % auf 9,7% wuchs. 151 Eine relative Expansion der Verkehrsausgaben fand aber nicht nur in Preußen, sondern auch in den anderen deutschen Bundesstaaten statt. 152 Seit der Jahrhundertmitte hing der Stellenwert der Infrastrukturausgaben in erster Linie von der Eisenbahnpolitik ab. Zinsgarantien, staatliche Beteiligungen, vor allem natürlich der Betrieb von Staatsbahnen sorgten bei einer Nettohaushaltsrechnung für eine Vervielfachung des Anteil der Infrastrukturausgaben. 153 Gleichzeitig wurden jedoch auch Ausgaben für andere Infrastrukturbereiche gekürzt oder in Länder- und kommunale Haushalte verlagert. Bei der Infrastrukturpolitik ging es schon damals nicht in erster Linie um eine „Umverteilung der Aktivitäten zwischen Infra- und Suprastruktur, sondern vor allem auch um die Umverteilung zwischen den verschiedenen Infrastrukturbereichen." 154 Vor 1850 war der Bedeutungszuwachs des preußischen Handelsetats in erster Linie auf das Wachstum der ordentlichen Straßenbau- und -unterhaltungsausgaben zurückzuführen. Innerhalb des 1848 wiedergegründeten Handelsministeriums existierten neben der für die Post zuständigen ersten Abteilung und der zweiten Abteilung für Eisenbahnangelegenheiten eine dritte Abteilung für Land-, Wasser- und Chausseebauwesen, die im Jahre 1849 4.637.917 Thlr. erhielt, was 7 0 % des Ministeriumsetats entsprach. 155 Davon dienten 3.180.580 Thlr. dem Staatschausseeneubau, der Staatschausseeunterhaltung sowie als staatlicher Zuschuß für die Unterhaltung der Bezirksstraßen auf dem linken Rheinufer. Da von den restlichen Mitteln der dritten Abteilung in Höhe von 1.457.337 Thlr. neben den Ausgaben für die Unterhaltung der Wasserwerke und der Dienstgebäude der Regierungen auch die gesamte Be-

151

Ebenda, S. 176 f. Vgl. Tabelle 14. Vgl. die Angaben zu Baden und Bayern bei K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 123 und 145 sowie Ebenda, S. 199 ff. 153 Ein eindrucksvolles Beispiel stellt hier Österreich dar, wo der Anteil der Infrastrukturausgaben am Gesamthaushalt von 12% im Jahre 1868 auf 47,6% im Jahre 1913 stieg. J. Wysocki, Infrastruktur, S. 1, 18 und 114. 154 R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, S. 49. 155 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 235. 152

388

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

amtenbesoldung und die Unterhaltung der unchaussierten Wege zu bestreiten war, kann man davon ausgehen, daß mindestens 55 %, eher 60 % des dem Handelsministerium zur Verfügung stehenden Etats für die Erweiterung und Erhaltung des Straßennetzes verwendet wurde. Es ist bereits festgestellt worden, daß innerhalb der Straßenausgaben die Unterhaltungsausgaben ein immer stärkeres Gewicht erlangten. Diese festen Kosten bewirkten, daß der Handelsminister von der Heydt trotz des Rückzuges des Staates aus dem Chausseeneubau nur durch eine über dem relativen Zuwachs an Staatschausseen liegende Vergrößerung des Etats Spielräume für seine Staatsbahnpolitik erlangen konnte.

Tabelle 29 Struktur der Staatseinnahmen im Königreich Preußen 1821-1867 absolute Einnahmen (Taler)

Haushaltsjahr

17.247.850 17.761.000

sonstige EinnahDomänen und Forsten men (vor allem Post und Eisenbahn) 19.080.000 8.067.500 5.604.650 23.516.000 5.280.000 4.239.000

1841

18.762.000

28.518.000

5.020.000

3.567.000

55.867.000

1847

20.312.335

30.410.998

5.294.883

8.015.481

64.033.697

1850

20.339.180

37.572.267

11.700.736

21.726.265

91.338.448

1855

26.219.122

38.842.157

10.456.430

1860 1867

26.046.892 32.730.000

44.290.966 47.086.928

11.433.530 14.956.270

36.310.076 48.843.867 74.156.675

111.827.785 130.615.255 168.929.873

direkte Steuern

1821 1829

direkte Steuern

1821 1829 1841

34,50 34,97

1847

31,72

1850 1855

33,58

indirekte Steuern

prozentuale Anteile an den Gesamteinnahmen indirekte Domänen Sonstige EinnahSteuern und Forsten men (vor allem Post und Eisenbahn) 38,16 11,21 16,14 46,29 10,39 8,35 51,05 8,99 6,38

Insgesamt

50.000.000 50.796.000

100 100 100

8,27

12,52

100

22,27

47,49 41,14

12,81

23,79

100

34,73 33,91

9,35 8,75

32,47

100

1860

23,45 19,94

37,40

100

1867

19,37

27,87

8,85

43,90

100

Berechnet nach: H. Mauersberg, Finanzstrukturen, S. 125 ff. Bemerkung: Im Jahr 1850 schlagen größere Domänenverkäufe zu Buche.

II. Die Entwicklung der Staatsausgaben für Straßenbau und -Unterhaltung

389

Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwunges in den fünfziger und sechziger Jahren sowie der erhöhten Kreditaufnahme wuchsen die Staatseinnahmen Preußens tatsächlich stärker als das Staatschausseenetz. Aus diesem Grunde sank der Anteil der Straßenausgaben am Gesamtetat. Dies war seit den fünfziger Jahren auch im Herzogtum Braunschweig und anderen deutschen Staaten zu beobachten.156 In den dreißiger und vierziger Jahren war indes die geringe Bereitschaft der Bürokratie zu Eisenbahninvestititionen bei den gegebenen finanzpolitischen Restriktionen auch darauf zurückzuführen, daß Umschichtungen im der Abteilung für Handels-, Fabrik- und Bauwesen zur Verfügung stehenden Etat vor allem durch die Erfordernisse der Chausseeunterhaltung erschwert wurden. 157 Die Bedeutung des Straßenwesens für die Staatsfinanzen offenbart sich jedoch erst, wenn neben den ordentlichen auch die außerordentlichen Ausgaben berücksichtigt werden. Da innerhalb des Extraordinariums Bau und Unterhaltung der Straßen eine zentrale Rolle einnahmen, betrug der Anteil der Straßenausgaben am Gesamtetat eben nicht nur 4 bis 5 %. 1 5 8 In den vierziger Jahren machten sie beinahe 10 % der Staatsausgaben aus. 159

I I I . Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus 1. Finanzierungsquellen des Kreischausseebaus in der preußischen Provinz Sachsen Die Neuordnung des Steuersystems durch das Edikt vom 30. Mai 1820 über das Abgabenwesen führte zur Zurückdrängung der Kreis- und Kommunalsteuern. 160 Erst im Zeitraum zwischen 1841 und 1845 erhielten die preußischen Kreise die Möglichkeit, Chausseegelder zu erheben, Kreissteuern für den Straßenbau einzufordern und Kredite für diesen Zweck aufzunehmen. Auf die An-

156

Kybitz, Staatshaushalt. Für Württemberg W.R. Ott, Grundlageninvestitionen,

S. 126. 157

In der Literatur über die frühe preußische Eisenbahngeschichte wird bei der Suche nach Motiven für die anfangliche Eisenbahnfeindlichkeit natürlich auf die Staatsschuldenverordnung von 1820 und mitunter auch auf die zuvor getätigten Straßenneubauinvestitionen hingewiesen, jedoch nicht auf die Rolle der Aufwendungen für die Straßenunterhaltung. 158 Dies ergäbe eine Berechnung nach den Daten bei K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 158 und 176. 159 Daraufhat W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 481, Anm. 287, hingewiesen. 160 Vgl. E. Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen, S. 116 ff.; W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 497 ff.

390

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

fangsprobleme des Kreischausseebaus und ihre verschiedenen Ursachen ist bereits ausführlich eingegangen worden. 161 Die meisten Projekte der vierziger Jahre wurden erst später und mit beträchtlichen Veränderungen umgesetzt. Unter finanzhistorischem Blickwinkel und als Beispiel für die Anfänge kommunaler Selbstverwaltung sind allerdings die von den Kreisen erarbeitenen Finanzierungskonzepte, auch unabhängig von ihrer praktischen Umsetzung, interessant. Zunächst ist hier der unter seiner peripheren Lage leidende Kreis Salzwedel zu nennen, der als einer der ersten Kreise einen detaillierten Straßenbauplan entwickelte. Bereits am 10. Mai 1844 beschloß der Kreistag den Bau von vier Straßen von insgesamt 12 Meilen Länge und entwickelte in diesem Zusammenhang auch ein Finanzierungskonzept. 162 Da man Kosten von 16.000 Thlr. pro Meile veranschlagte, benötigte der Kreis 200.000 Thlr. Er war jedoch wegen der hohen Zinsbelastung nicht bereit, einen so hohen Kredit aufzunehmen. Der Kreistag beantragte daher einen Vorschuß aus der Staatskasse und wollte als Gegenleistung auf die Gewährung einer Staatsprämie verzichten. Innerhalb von 50 Jahren wollte man den Staatskredit tilgen. Die Unterhaltungskosten sollten durch eine spezielle Steuer aufgebracht werden. Bei der Verteilung der Steuerlast auf die Kreiseingessenen wollte man sich an der Klassifizierung der Grund- und Klassensteuer orientieren, wobei die drei untersten Steuerstufen keine Beiträge zu entrichten hätten. Eine gerechte Beteiligung der mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Kreisstadt sollte noch berechnet werden. Das Konzept wurde aber nicht realisiert, weil das Finanzministerium jegliche Vorschußzahlungen ablehnte.163 Daraufhin betonte der Landrat, daß die Straßen von Salzwedel nach Seehausen und nach Braunschweig eigentlich potentielle Fernhandelsrouten darstellten und daher vom Staat auszubauen seien.164 Tatsächlich wurde die Verbindung nach Seehausen zu Beginn der fünfziger Jahre als Staatschaussee gebaut (pCh Nr. 86b). Für die anderen Straßen lehnte jedoch das Finanzministerium die trotz des Steinmangels als viel zu hoch empfundene Prämienforderung von 8000 Thlr. pro Meile ab. 165 Ab 1853 baute der Kreis dann doch die Straße von Salzwedel über Rohrberg nach Wolfsburg, die allein im Kreisgebiet 35 km lang war. 166 Die Anlegung der Diesdorf-Salzwedeler Chaussee wurde im Jahre 1858 begonnen, wobei „zur Deckung der Kosten 161

Vgl. Kapitel F.III. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 143 ff. - Es handelte sich dabei um folgende Linien: Salzwedel -Diesdorf-Celle (Kgr. Hannover), Salzwedel -RohrbergMellin-Braunschweig (Hztm. Braunschweig, heutige Β 248), Rohrberg -Klötze und Mahlsdorf-Kalbe-Stendal. 163 Ebenda, Bl. 153. 164 Ebenda, Bl. 174 f. 165 Ebenda, Bl. 184. 166 Vgl. Tabelle A 30. 162

III. Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus

391

zwei Ausschreiben durch Steuerzuschlag von 7848 und 7865 Thlr., zusammen von 15.713 Thlr. erlassen worden." 167 Die Statistik von 1862 weist für Salzwedel 63 km Kreischausseen auf, wodurch die Netzdichte deutlich über dem Provinzdurchschnitt lag. 168 Der Kreis Gardelegen entwickelte ebenfalls bereits 1844 ein eigenes Chausseebaukonzept.169 Er plante den Bau von 9 Meilen Steinchausseen, für die 195.000 Thlr. veranschlagt wurden, sowie von 7,5 Meilen Grand- und Lehmchausseen für 30.000 Thlr. Von den insgesamt 225.000 Thlr. sollten 50.000 Thlr. aus Staatsprämien, 43.000 Thlr. aus Beihilfen von Gemeinden und Privaten sowie 132.000 Thlr. durch den Kreis aufgebracht werden. Da man nicht davon ausging, daß der Beitrag des Kreises sofort anfalle, hielt man eine Anleihefinanzierung für unnötig. Statt dessen sollte eine spezielle Steuer erhoben werden, die sich an dem Maßstab der sogenannten Königlichen Steuern, also der Grund-, Klassen- und Gewerbesteuer, orientierte. Anders als im Kreis Salzwedel wollten die Gardelegener auf eine Befreiung für die unteren Steuerklassen verzichten. Statt der sozialen Gerechtigkeit hatte man hier jedoch einen regionalen Ausgleich der Belastungen im Blick. Das Kreisgebiet wurde in drei Entfernungsklassen mit jeweils unterschiedlichen Beitragssätzen eingeteilt. Erst am 22. August 1854 erging ein entsprechender Kreistagsbeschluß, der am 7. Mai 1856 bestätigt wurde. 170 Der Kreis Gardelegen verfügte 1862 über 22,6 km Kreischausseen. 171 Ein grundsätzlich anderes Finanzierungskonzept entwickelte im April 1847 die Zeitzer Kreis Versammlung, um den Bau einer Chaussee von Zeitz nach Ronneburg in Sachsen-Altenburg durchzuführen. 172 Von dem Ausbau der Straße versprachen sich die Zeitzer bessere Bedingungen für den Getreideexport nach Westsachsen und den Steinkohleimport aus dem Zwickauer Raum. Der Kreis selbst wollte sich lediglich mit seinem Anteil an den entsprechend dem sächsischen Straßenbaumandat von 1781 zu zahlenden Straßenbausurrogatgeldern, dessen Höhe er mit jährlich 1100 Thlr. angab, beteiligen. Außerdem erwartete man einen kräftigen Zuschuß aus der Staatskasse, da es sich um eine fiskalische Straße handelte. Daher konnte man auch bei der Projektierung auf ältere Staatschausseepläne zurückgreifen, die allerdings 1834 gestoppt worden waren. Schließlich sollten die anliegenden Gemeinden die Materialanfuhr und die Erdarbeiten übernehmen. Das Konzept wurde jedoch von der Merseburger

167

Kreis Salzwedel. Die statistischen und sonstigen Verhältnisse desselben betreffend, o.O., o.J., O.S. 168 Vgl. Tabelle A 20. 169 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 155 ff. 170 Ebenda, Nr. 3469, Bl. 152. 171 Vgl. Tabelle A 20. 172 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 37.

3 9 2 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung Regierung abgelehnt. Das Herzogtum

Sachsen-Altenburg beschwerte

sich

1849, daß nicht einmal die „polizeimäßige Instandsetzung" der fiskalischen Straße gegeben sei und verwies darauf, daß auf altenburgischer Seite bereits 61.000 Thlr. in die Chaussierung der Anschlußstrecke investiert worden waren. 1 7 3 Die Instandsetzung wurde 1850 m i t Hilfe eines extraordinären Zuschusses zum Bezirkswegebaufonds in Höhe von 2000 Talern durchgeführt. 1 7 4

Tabelle 30 Finanzierungsquellen für den Bau von Kreischausseen in der preußischen Provinz Sachsen in den fünfziger Jahren Kreis

Projekt

Aschersleben

QuedlinburgThale HaderslebenWinningen 4 Kreisschausseen 3 Chausseen nach Beschluß vom 20.12.1853 4 Chausseen nach Beschluß vom 30.9.1856

Aschersleben Jerichow I Wanzleben

Wanzleben

Wolmirstedt Bitterfeld

Bitterfeld

ZörbigStumsdorf (1851) StumsdorfPloetz (1856)

Gesamtkosten (Thlr.)

anleihefinanziert (Thlr.)

Staatsprämien (Thlr.)

Chausseesteuer (Thlr.)

Beiträge von Gemeinden und Privaten (Thlr.)

Sonstige (Thlr.)

24.567 33.500 231.732

87.750

U.162

48597

16.316

158.676

132.300

24.504

251.162

95.666

23.226

133.951 9.434

110.231 4.485

23.625 2.949

2.000

42.406

26.697

8.661

5.890

1.871

54600

66.526

11.144

Quellen: Statistische Darstellung des Kreises Aschersleben von den Jahren 1859 bis 1861, Quedlinburg o.J., S. 70; Die statistischen und Communalverhältnisse des I. Jerichowschen Kreises, zusammengestellt nach den Ergebnissen der Jahre 1856, 1857 und 1858 (handschriftlich), o.O. und o.J., O.S.; Statistik des Kreises Wanzleben, im Allgemeinen auf den statistischen Ermittelungen des Jahres 1864 beruhend, Oschersleben 1867, S. 59 und 61; Statistische Darstellung des Kreises Wolmirstedt pro 1862-1864, (handschriftlich), o.O. und o.J., S. 55; Statistik des Bitterfelder Kreises, (handschriftlich), o.O. und o.J., O.S.; GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 146.

173 174

Ebenda, Bl. 114 f. Ebenda, Bl. 144.

III. Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus

393

Die drei angeführten Beispiele sollen als Beleg für die Vielfältigkeit der Finanzierungskonzepte in den verschiedenen Kreisen genügen. (Vgl. auch Tabelle 30 auf S. 392) Die Unrealisierbarkeit einiger dieser Überlegungen und ihre Ablehnung durch die Bezirks- oder Ministerialbürokratie waren neben den bereits genannten Gründen für das anfanglich geringe Ausmaß des Kreischausseebaus verantwortlich. Durchgesetzt haben sich in den fünfziger Jahren Konzepte, die möglichst unterschiedliche Finanzierungsformen und damit auch verschiedene Finanzierungsquellen miteinander kombinierten. Die Auswahl der fünf Kreise mußte sich an der Quellenlage orientieren und kann daher keine Repräsentativität beanspruchen. Unter Berücksichtigung von Einzelinformationen über weitere Kreise lassen sich dennoch einige für die ganze Provinz gültige Schlußfolgerungen ziehen. Im Kreis Aschersleben existierten zwei unterschiedliche Chausseebaukassen. Während die Chaussee von Quedlinburg nach Thale noch ausschließlich durch die „Zuhülfenahme der von Privatpersonen und von den betreffenden Communen geleisteten freiwilligen Beiträge" hergestellt wurde, mußte die Hadersleben-Winninger Chaussee zu zwei Dritteln durch eine Kreisanleihe finanziert werden. 175 Insgesamt erfolgte die Kreditfinanzierung sowohl durch die Ausgabe einzelner Kreisobligationen als auch über die Aufnahme von Darlehen, wobei die Provinzial-Hülfskasse von Sachsen mehrmals als Geldgeber fungierte. Die Zinssätze für die Anleihen bewegten sich zwischen 3,5 und 4,5 %. 1 7 6 Die Erhebung von Chausseesteuern als Kreisabgaben beschränkte sich nicht auf die Kreise Jerichow I und Wanzleben. Hier wurden die Einnahmen allerdings auch zur laufenden Baufinanzierung genutzt. In der Regel diente das Steueraufkommen jedoch vorrangig der Leistung von Zinszahlungen und zur Kredittilgung. Die Bemessungsgrundlage der Kreisabgaben stellten in der Regel, wie schon in den vierziger Jahren geplant, die sogenannten Staatssteuern dar, also Grund-, Klassen- bzw. klassifizierte Einkommenssteuer sowie Gewerbesteuer. Die Höhe der Chausseesteuer differierte von Kreis zu Kreis. Der Kreis Gardelegen beispielsweise erhob für die Chausseebaukasse seit 1855 einmal im Jahr eine Abgabe in der Höhe der monatlichen Grund-, Klassen-, Einkommens- und Gewerbesteuer. 177 Im Kreis Jerichow I betrug sie immerhin 33,3 % des jährlichen Staatssteueraufkommens, was relativ viermal größer war als in Gardelegen und absolut einer jährlichen Einnahme von 12.200 Talern

175

Statistische Darstellung des Kreises Aschersleben. Statistik des Bitterfelder Kreises; GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 146. 177 Mittheilungen über Verhältnisse des Kreises Gardelegen (handschritflich) o.O., o.J. 176

394

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

entsprach. Der Satz wurde 1863 sogar auf 43,3 % erhöht. 178 Im gleichen Jahr brachten die Steuerpflichtigen im Kreis Stendal, der zwischen 1854 und 1857 zu Chausseebauzwecken Kredite von insgesamt 100.000 Thlr. aufgenommen hatte, „zwecks der Verzinsung und Amortisation der Schuld nach dem Maßstabe der Grund-, Klassen- und klassificirten Einkommenssteuer jährlich 5000 Thlr. (1 % für die Amortisation) auf." 179 Während der Kreis Stendal noch etliche Jahre für die Rückzahlung seiner Anleihe benötigte, vermeldete der Kreis Osterburg bereits im Jahre 1864, daß die bei der Finanzierung der Kreischaussee von Osterburg nach Bismarck 1855 durch Ausgabe von Kreisobligationen entstandene Schuld „durch Auslösung vollständig getilgt" sei. 180 Im Kreis Bitterfeld verzichtete man hingegen bewußt auf die Erhebung von Kreissteuern. Hier wurde ein Kreischausseeschuldentilgungsfonds gegründet, der durch Erlöse von der Ausgabe der Jagdkarten, aus der Chausseeverwaltung selbst, insofern diese nicht der Chausseeunterhaltung dienten, aus den Zinsen des Reservefonds der Sparkassen sowie mit der Hälfte der Zinsüberschüsse der laufenden Sparkassenverwaltung gefüllt wurde. 181 Der Kreis finanzierte also den Ausbau der defizitären Infrastruktur durch die Umverteilung der Gewinne eines rentablen öffentlichen Unternehmens. 182 Die Höhe der Staatsprämien schwankte zwischen 2000 und 10.000 Talern pro Meile. Damit bewegte sich auch ihr Anteil an den Gesamtkosten zwischen 9 und 34 %. 1 8 3 Noch 1847 lagen die durchschnittlichen Subventionen für den Bau von Kreischausseen in der Provinz Sachsen bei 6000 Talern pro Meile, was 25 % der Gesamtkosten entsprach. 184 Zwar lassen sich aufgrund von Datenmangel keine eindeutigen Trends über die zeitliche Entwicklung und regionale Verteilung der Staatssubventionen feststellen. Die auf gesamtpreußischer Ebene und speziell auch für die Provinz Sachsen festgestellten Bemühungen des Staates, die Prämienzahlungen nach erfolgreicher Ingangsetzung des Kreischausseebaus zu senken, haben aber wohl die Konzentration auf bestimmte Kreise befördert. Es fällt jedenfalls auf, daß der wirtschaftlich prosperierende Kreis Wanzleben die prozentual geringste, der strukturschwache Kreis Jerichow I die relativ größte Staatsunterstützung erhielt.

178

Statistische Darstellung des Kreises Jerichow I (handschriftlich), o.O., o.J., O.S. Statistische Darstellung des Kreises Stendal, Stendal 1863, S. 40. 180 Statistische Darstellung des Kreises Osterburg, o.O. 1864, O.S. 181 Statistik des Bitterfelder Kreises. 182 Die Möglichkeit von Quersubventionen war eines der wichtigsten Argumente fur die Entwicklung des Munizipalsozialismus seit den siebziger Jahren. Vgl. W.R. Krabbe, Kommunalpolitik, S. 78. 183 Berechnet nach Tabelle 30. 184 Berechnet nach Angaben in: GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3468, Bl. 21. 179

III. Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus

395

Entscheidend für die Inangriffnahme von Kreischausseeprojekten wurde in zunehmendem Maße die Minimierung des über Kreditaufnahme zu finanzierenden Anteils durch Beiträge von Gemeinden und Privatpersonen, sei es in finanzieller Form oder durch die Bereitstellung von Land, Baumaterialien oder auch durch unentgeltliche Fuhrdienste. Durch solche speziellen Beiträge der von bestimmten Kreischausseebauten besonders Begünstigten wurde auch das Problem der nicht für den gesamten Kreis relevanten Projekte gelöst. 185 Bereits ein Gesetzentwurf des Landwirtschaftlichen Vereins Halberstadt aus dem Jahre 1852 sah vor, daß „Forsten und gewerbliche Etablissements, deren Betrieb die Benutzung der Straßen in einem ungewöhnlichen Grade erforderlich macht, z.B. Ziegeleien, Glashütten, Mühlen, Kohlengruben, Zucker- und SpiritusFabriken, Steinbrüche ... zu besonderen durch die Kreis Vertretung zu bestimmenden Beiträgen zu den Kosten des Ausbaues und der Unterhaltung ... herangezogen werden." 186 Der Entwurf wurde von der Ministerialbürokratie abgelehnt. Trotzdem begann auch hier 1857 eine Diskussion, ob von den am stärksten interessierten Kreiseingesessenen „Präzipual-Leistungen" verlangt werden dürften. 187 Eine Entscheidung wurde zwar nicht getroffen, die Beteiligung gerade der genannten Unternehmen wurde hingegen häufig praktiziert. Diese Beiträge werden in den Quellen oft als „freiwillig" charakterisiert, was mitunter auch zutraf, da gerade die auf dem Lande befindlichen Unternehmen an der Verbesserung der Transportwege ein vitales Interesse hatten. Beispielsweise trugen freiwillige Beiträge der Gemeinden Altenweddingen, Bahrendorf und Stemmern von insgesamt 2509 Thlr., aber auch einer Firma Kühne & Schäper aus Wanzleben mit 1250 Thlr. zur Finanzierung des Wanzlebener Kreischausseebauprogramms vom 30. September 1856 bei. 188 Im gleichen Jahr baute der Kreis Bitterfeld die „Chaussee von Stumsdorf über Werben, Ostrau, Werderthau, Coesseln, Ober- und Unterploetz bis zur Kreisgrenze zwischen Ploetz und Löbejün mit einem Kostenaufwande von 42.406 Thlr., excl. der vielen freiwillig und unentgeltlich geleisteten Fuhren." 189 Freiwillige Beiträge lieferten die Gemeinden Werben und Stumsdorf mit 250 bzw. 140 Thlr. Gewichtiger waren jedoch die Zuschüsse der Steinkohlengrube „Karl Moritz" bei Ploetz mit 3000 Thlr., der Magdeburg-Leipziger Eisenbahngesellschaft mit 1500 Thlr. und des über eine Zuckerfabrik verfügenden Ritterguts Ostrau mit 1000 Thlr. 1 9 0 Im Kreis Worbis war es das Neustädter Handlungshaus Solf, 185

Vgl. Kapitel F.III, und G.III. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 16. 187 Ebenda, Bl. 154. 188 Statistik des Kreises Wanzleben, S. 61. 189 Statistik des Bitterfelder Kreises. 190 Ebenda. - Die Magdeburg-Leipziger Eisenbahngesellschaft hatte schon zuvor den Kreischausseebau Zörbig-Stumsdorf mit 1000 Talern bezuschußt, da die Straße direkt zu einem ihrer Bahnhöfe führte. 186

396

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

das sich mit einem Zuschuß von 2000 Thlr. an den Baukosten der Gemeindechaussee von Breitenworbis nach Mackenrode beteiligte. 191 Hinsichtlich der Finanzierungsquellen für den Kreisstraßenbau bewirkte also die preußische Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 keine gravierende Veränderung. 192 Die juristische Kodifizierung der „Interessentenchausseen" verstärkte lediglich einen in der Provinz Sachsen bereits in Gang befindlichen Trend. 193 Die Prämien zahlte seit 1876 nicht mehr der Staat, sondern der Provinzialverband, dem ausdrücklich die Unterstützungspflicht für den Kreis- und Gemeindechausseebau auferlegt worden war. 194 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war die Beteiligung spezieller Unternehmen an den UnterhaltungsXasitn verbreiteter als die freiwilligen Beiträge zum Straßeniaw. Die Möglichkeit, „daß industrielle und gewerbliche Betriebe, Bergwerke oder Betreiber von Steinbrüchen, die öffentliche Wege in außergewöhnlichem Maße abnutzten und dadurch die Wegebaulast beträchtlich vermehrten, zu den Kosten der Wegeunterhaltung beizutragen hatten," war noch im Preußischen Gesetz betreffend die Vorausleistungen zum Wegebau vom 18. August 1902 festgeschrieben, so daß die entsprechenden Unternehmen häufig nicht nur durch die für die unmittelbare Benutzung zu zahlenden Wegegelder und durch ihre allgemeinen Steuern zur Wegeunterhaltung beitrugen, sondern auch durch spezielle Abgaben, die als Wegebauvorausleistungen bezeichnet wurden. 195

2. Die Straßenbaufinanzierung in den braunschweigischen Kreiskommunalverbänden Im Herzogtum Braunschweig entstand durch das Gesetz über die Gründung der Kreiskommunalverbände vom 5. Juni 1871 und die gleichzeitig erlassene Wegeordnung auch ein neues System der Straßenbaufinanzierung. Die Kreiskommunalverbände waren für die „Herstellung und Erhaltung gemeinnütziger Anstalten, Bildungs-, Kranken-, Armen, Werk- und Rettungshäuser sowie zur Tragung der Kreislasten, insbesondere der Herstellung und Instandhaltung der

191

Statistische Darstellung des Kreises Worbis, S. 111. J. Bolenz, Wachstum, S. 75. 191 E. Petersilie, Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 117. - Andere deutsche Länder, wie Baden, Bayern, Hannover und Oldenburg hatten dieses Problem schon zuvor durch die Gründung von Wegebauverbänden gelöst. 194 L. Baumeister, Zur Geschichte und Problematik, S. 16. 195 H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 21 f.; A. Zatsch, Staatsmacht, S. 389. 192

397

III. Die Finanzierung des Kreisstraßenbaus

Wege" verantwortlich. 196 Wegebau und Wegeunterhaltung stellten die finanziell mit Abstand größte Belastung der Kreise dar. 1872 waren 89 % und 1913 noch 74 % aller Kreisausgaben für den Wegebau bestimmt. 197 Aus den „KreisKommunal-Wegebaukassen" flössen zwischen 1872 und 1886 14.836.459 Mark in den Ausbau und die Unterhaltung der Kreisstraßen.

Tabelle 31 Einnahmen der Kreiskommunalwegebaukassen im Herzogtum Braunschweig 1872-1886 Absolute Zahlen (Mark) Finanzperiode

Zuschuß aus der Kreiskommunalkasse

Vorleistun- VorleiWegebausteuer der gen der stungen Gemeinden Gemeinden der Unternehmen

Einnahmen durch Wegenutzung

sonstige Einnahmen

Gesamteinnahmen

1872/76

1.582.140

2.064.272

631.344

206.810

63.586

89.854

4.638.006

1877/81

2.062.871

1.968.538

574.463

301.991

97.049

74.175

5.079.087

1882/86

1.922.683

2.198.842

344.732

458.940

130.415

63.754

5.119.366

1872/86

5.567.694

6.231.652

1.550.539

967.741

291.050

227.783

14.836.459

Anteile an den Gesamteinnahmen (%)

1872/76

34,11

44,51

13,61

4,46

1,37

1,94

100

1877/81

40,61

38,76

11,31

5,95

1,91

1,46

100

1882/86

37,56

42,95

6,73

8,96

2,55

1,25

100

1872/86

37,53

42,00

10,45

6,52

1,96

1,54

100

Berechnet nach: F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 82

Die Gemeinden trugen auch weiterhin einen beträchtlichen Teil der Wegebaulasten, zumal sie bei der Übergabe von ausbau- oder reparaturbedürftigen Straßen an den Kreis einen beträchtlichen Anteil der Baukosten zu übernehmen hatten. Die Beiträge der einzelnen Gemeinden zur Umlage wurden nach den Anteilen am Grundsteuerkapital bestimmt. 198 Im Gegensatz zu diesen auch als „Wegebausteuer" bezeichneten Gemeindebeiträgen belasteten die Zuschüsse der Kreise an ihre Wegebaukassen die Kreiseinwohner nicht. Obwohl das Gesetz vom 5. Juni 1871 zur Erfüllung der Kreisaufgaben die Erhebung von Kreissteuern, die nach der Grundsteuerveranlagung der Bürger bemessen wer196 197 198

R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136 f.; Vgl. Kapitel F.VI. W. Diederichs, 125 Jahre, S. 41. F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 37.

3 9 8 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

den sollten, vorsah, wurde erst 1910 erstmals von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.199 Anders als in Preußen erhielten nämlich die braunschweigischen Kreise zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben außerordentlich hohe Dotationen. Von den Einnahmen aus dem Verkauf der braunschweigischen Staatsbahnen gingen 7,5 Mill. Mark als zweckgebundene Fonds für den Ausbau der sozialen Infrastruktur und eben den Wegebau an die Kreise. 200 Die Privatisierung eines gewinnträchtigen öffentlichen Verkehrsunternehmens, das seine strukturpolitische Funktion nicht mehr wahrnehmen konnte, wurde hier zum Ausbau und zur Erhaltung eines zwangsläufig defizitären Infrastrukturbereiches genutzt. 201 Der Anschubfinanzierung folgten schon 1874 und 1876 weitere Staatszuschüsse an die Kreisfonds, so daß die Kreise bis 1886 Dotationen von insgesamt 15 Mill. Mark erhalten haben.202 In wachsendem Maße wurden auch Beiträge von „gewerblichen Anlagen, welche die Kreisstraßen besonders schwer belasten," eingefordert. 203 In der Wegeordnung von 1871 hieß es dazu: „Wird die Instandsetzung und Unterhaltung eines Communicationsweges durch dessen außergewöhnliche Abnutzung für gewerbliche Etablissements unverhältnißmäßig vertheuert, so können solche Etablissments mit einem außerordentlichen Beitrage zu den Kosten herangezogen werden." 204 Angewandt wurde diese Bestimmung insbesondere bei Ziegeleien, Glashütten, Mühlen, Steinbrüchen, Berg- und Hüttenwerken sowie Zucker- und Cichorienfabriken. 205

199

W. Diederichs, 125 Jahre, S. 41 f. Brinckmann, Landstraßen, S. 319; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 40; U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 105 f. - Maßstab für die Verteilung der Dotation zwischen den Kreisen war die jeweilige Zahl der steuerpflichtigen Bürger. H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 139 f. 201 Vgl. Kapitel E.III. 202 Neben den Erlösen aus der Privatisierung der Braunschweigischen Staatsbahnen konnte dabei auf französische Reparationsleistungen und Haushaltsüberschüsse zurückgegriffen werden. H. Mundhenke, Entwicklung der braunschweigischen Kreisverfassung, S. 140; W. Diederichs, 125 Jahre, S. 41 f. 203 Brinckmann, Landstraßen, S. 319. 204 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136. 205 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 37. 200

IV. Die Chausseegelderhebung

399

IV. Die Chausseegelderhebung 1. Chausseegelder zwischen Wegezoll und Nutzungsgebühr Im Gegensatz zur Beseitigung der Binnenzölle in Preußen ab 1818 sowie im Deutschen Zollverein ab 1834 wurden die Chausseegelder nicht generell abgeschafft. 206 Die zeitgenössische Rechtslehre wies in diesem Zusammenhang auf die unterschiedliche Herkunft der in der Praxis und zum Teil auch in der Gesetzgebung miteinander verflochtenen Abgabenformen hin. 2 0 7 Während der Zoll als Preis für die Passage entstand, sollten Wege-, Brücken- und Fährgelder der Unterhaltung der entsprechenden Kommunikationseinrichtungen dienen. Die aus dem kaiserlichen Recht entstammenden Zölle bemaßen sich in der Regel nach Quantität und Qualität der Ladung oder nach ihrem Wert. Die Erhebung der anderen Kommunikationsabgaben wurde mit den Unterhaltungskosten begründet, so daß ihre Höhe durch die Größe und Beschaffenheit der Transportmittel bestimmt war. Zu dieser Kategorie zählte auch das Chausseegeld. Die Bindung an die Unterhaltungskosten bewog bereits einige Kameralisten des 18. Jahrhunderts, für eine Zweckbindung der Wegegeldeinnahmen zu plädieren. 208 Diesen Gedanken enthält in abgewandelter Form auch die Instruktion vom 23. Oktober 1817, in der die Regierungen verpflichtet wurden, Einnahmen zur Unterhaltung und eventuell auftretende Überschüsse zum Neubau der Chausseen zu verwenden. 209 Die Definition des Chausseegeldes als Benutzungsgebühr erforderte allerdings, daß die Chausseegeldeinnahmen die Erhaltungs- und Wiederherstellungskosten nicht überschreiten durften. 210 Sie schloß zudem die Nutzung von Chausseegeldeinnahmen zur Finanzierung von Bauinvestitionen, wie sie noch bei Einführung der Chausseegelderhebung geplant gewesen war, aus. 211 Mit der Einführung dieser Prinzipien war die Funktion der Landstraßen als staatliche Einnahmequellen juristisch beseitigt und der entscheidende Schritt zur Gemeinwirtschaftlichkeit getan. „Die Verkehrswege waren damit zu öffentlichen

206

Die häufig vertretene Meinung, daß 1834 „Wege- und andere Binnenzölle aufgehoben wurden", ist also zumindest ungenau. Vgl. u.a. H. Pohl, Entwicklung des Verkehrswesens, S. 6. 207 L. von Rönne, Wegepolizei, S. 481 f. - Ähnliche Unterschiede wurden zwischen Wasserzöllen einerseits und Abgaben zur Unterhaltung der Stromschiffahrt und Flößerei im Zusammenhang mit dem Erlaß der verschiedenen Schiffahrtsakte betont. E. Sax, Verkehrsmittel, S. 81 ff. 208

Vgl. u.a. Sonnenfels, Grundsätze der Polizei, Handlung und Finanz, 1756, S. 224. Zitiert in: H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 17. 209 Ebenda. 210 E. Sax, Verkehrsmittel, S. 66; W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 480. 211 H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 17, Anm. 27. Vgl. auch Kapitel C.VII.

4 0 0 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Einrichtungen geworden, die der Staat den Benutzern zu höchstens kostendekkenden Tarifen ... zur Verfügung stellte. Darin lag ein wichtiger Beitrag zur Wirtschaftsförderung, für den der preußische Staat in der Zeit vor dem Eisenbahnbau beträchtliche Aufwendungen machte." 212 In der Regel lagen allerdings schon vor 1818 die Chausseegeldeinnahmen unter den Unterhaltungskosten. 213 Nach 1818 wurde zunächst darüber diskutiert, inwieweit es zulässig war, daß die Chausseegeldeinnahmen in Einzelfällen die entsprechenden Unterhaltungskosten übertrafen. Daher überprüfte man bis 1838 alle bestehenden Wegegebühren hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Unterhaltungsaufwand. 214 Gleichzeitig bemühte sich der Fiskus, die Einnahmen möglichst nahe an die Unterhaltungskosten heranzuführen, wodurch es in Preußen nach 1818 innerhalb eines Jahrzehnts zu vier Tarifänderungen kam. 1822 und noch einmal 1824 wurden die Sätze gegenüber 1819 erhöht, 1828 jedoch wieder abgesenkt. Trotz der Erhöhung der Hebesätze waren nämlich die Chausseegeldeinnahmen gesunken, da offensichtlich zahlreiche Fuhrwerke erfolgreich versucht hatten, die Mautstellen zu umgehen. 215 Der dann folgende Tarif von 1840 sollte bis zur Abschaffung der Chausseegelder im Jahre 1875 Gültigkeit behalten. Er war das Ergebnis der vorhergehenden Untersuchung, sollte das gemeinwirtschaftliche Prinzip durchsetzen und stellte gegenüber seinem Vorgänger von 1828 eine Vereinfachung sowie eine erneute Ermäßigung dar. Der Chausseegeldertrag durfte auch an den einzelnen Strecken den Unterhaltungskostenaufwand nicht überschreiten, so daß wegen des Prinzips der Tarifeinheitlichkeit die Erträge insgesamt deutlich unter den Kosten lagen. Selbstverständlich erklärt die rein juristische Argumentation für sich genommen noch nicht die Beibehaltung der Chausseegelder bei gleichzeitiger Abschaffung der Binnenzölle. Schließlich verteuerte die Chausseegelderhebung die Transporte und übte letztlich einen den Zöllen vergleichbaren negativen volkswirtschaftlichen Effekt aus. 216 Tatsächlich war ihre Beibehaltung vor allem pragmatischen Überlegungen geschuldet. Angesichts begrenzter finanzpolitischer Spielräume und der tendenziell abnehmenden Möglichkeit zur Inanspruchnahme von bäuerlichen Diensten sah die Verwaltung in der Erhebung von Nutzungsgebühren die einzige Möglichkeit, die Unterhaltung der Chausseen zu gewährleisten. Allerdings war gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Abweichung zwischen Straßennutzern und Wegebaupflichtigen

212

W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 481. "In keiner Provinz erhielten die Chausseen sich selbst." GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 74, Κ XVI, Nr. 1, Vol. 1, Bl. 50. 214 Ebenda, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 223, Bl. 17 ff. 215 P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 37. 216 Dementsprechend negativ fällt auch ihre Charakterisierung in der historischen Forschung aus. Vgl. U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 228. 213

IV. Die Chausseegelderhebung

401

besonders groß. Die Straßen dienten nicht mehr in erster Linie staatlichen, sondern wirtschaftlichen Zwecken. Der Handel hatte sich so stark gesteigert, daß viele ehemalige Nachbarschaftswege, die fast ausschließlich den Gemeindemitgliedern zugute gekommen waren, jetzt vor allem dem überlokalen Handel dienten. Andererseits gehörte die Existenz von Straßen noch nicht zu den allgemeinen Kollektivbedürfnissen. Alle diese Argumente sprechen auch aus der Sicht der heutigen Theorie öffentlicher Güter für die Finanzierung aus Nutzungsgebühren und gegen die Finanzierung aus allgemeinen Steuern. In Frankreich sowie in den meisten süddeutschen Staaten wurde die Erhebung von Mautgebühren bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Die Fortführung der Chausseegelderhebung in Preußen ist dennoch nicht nur als Indiz für die weitere Dominanz fiskalischer Motive oder für den im Konservatismus begründeten Unwillen zur Änderung bestehender Rechtsverhältnisse zu interpretieren. Es ging dabei auch um die gerechte Lasten Verteilung zwischen den Steuerpflichtigen, den dienstpflichtigen Bauern und den Straßennutzern, also den Kauf- und Fuhrleuten. 217

2. Chausseegeldtarife und Befreiungen von der Gebührenpflicht Der erste gesamtpreußische Chausseegeldtarif wurde am 10. Juni 1811 erlassen.218 Darin war bereits die auch später übliche Tarifstruktur enthalten. Entscheidendes Kriterium für die Differenzierung der Tarife stellte die jeweilige Abnutzung der Straße dar. Dabei wurde zur Schätzung des Ladungsgewichts die Zahl der Zugtiere herangezogen. Eine Werttarifierung, wie bei Zöllen oder Steuern, fand hingegen nicht statt. Die Tarifbestimmungen für die preußischen Staatschausseen wurden mit den Verordnungen vom 21. Januar 1819, 21. Mai 1822, 15. August 1824, 28. April 1828 und 29. April 1840 mehrfach geändert. 219 Es existierten verschiedene Tarife für Personen- sowie beladene und unbeladene Frachtfuhrwerke, deren Höhe auch durch die Anzahl der Räder und Zugtiere bestimmt wurde. Nach dem höchsten Tarif aus dem Jahre 1824 mußten vier- wie zweirädrige Frachtfuhrwerke zwei Silbergroschen und sechs Pfennige pro Zugtier und Meile bezahlen. Der entsprechende Satz betrug nach der Verordnung von 1840 nur noch einen Silbergroschen pro Zugtier und

217

U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 227 ff. F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 42 f f ; E. Pätzel, Räumliche Entwicklung, S. 51 ff. 219 Über den Chausseebau, 1848, S. 187 f. 218

26 Uwe Müller

4 0 2 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Meile. Gleichzeitig wurde die Zahl der Nutzerkategorien auf sieben reduziert. 220 Chausseegeld konnte erst dann erhoben werden, wenn „eine Staatsstraße mindestens eine volle Meile im Zusammenhang chaussirt" war. 221 Dazu wurden die Straßen in Hebestrecken mit Längen zwischen einer halben und zwei Meilen eingeteilt. In diesen Abständen traf der Reisende auf Chausseehäuser, an denen die entsprechenden Gebühren zu entrichten waren. Auf größeren Brükken konnte zusätzlich ein „Brückgeld" erhoben werden, das dem Chausseegeldtarif für eine halbe Meile entsprach. 222 Der preußische Tarif von 1840 ist auch im Zusammenhang mit der Herausbildung des Zollvereins zu sehen. Bereits 1828 hatten sich die Königreiche Preußen, Bayern und Württemberg sowie das Großherzogtum Hessen darauf verständigt, die Wegegeldtarife nicht über die Höhe der Unterhaltungskosten steigen zu lassen. Daraufhin wurde 1833 der hessische Tarif an das preußische Gesetz von 1828 angeglichen. Diese Bestimmung wurde in Artikel 13 des Zollvereinsvertrag vom 22. März 1833 übernommen. 223 Im ganzen Zollverein sollte damit das Chausseegeld auf allen Chausseen und auf unchaussirten Landund Heerstraßen, welche die unmittelbare Verbindung zwischen den aneinan220 In der KO vom 29. Februar 1840 hieß es zum „Tarif zur Erhebung des Chausseegeldes für eine Meile von 2.000 Preußischen Ruthen" im einzelnen: „ A n Chausseegeld wird entrichtet: A. Vom Fuhrwerk, einschließlich der Schlitten, I. zum Fortschaffen von Personen, als Extraposten, Kutschen, Kaleschen, Kabriolets etc., für jedes Zugthier: 1 Sgr. II. zum Fortschaffen von Lasten: 1) von beladenem -d.h. von solchem, worauf sich, außer dessen Zubehör und außer dem Futter für höchstens drei Tage, an andern Gegenständen mehr, als zwei Centner, befinden,- für jedes Zugthier: 1 Sgr. 2) von unbeladenem: a) Frachtwagen für jedes Zugthier: 8 Pf. b) gewöhnlichem Landfuhrwerk und Schlitten, für jedes Zugthier: 4 Pf. B. Von unangespannten Thieren I. Von jedem Pferde, Maulthiere, oder Maulesel, mit oder ohne Reiter oder Last: 4 Pf. II. Von jedem Stück Rindvieh oder Esel: 2 Pf. III. Von je fünf Fohlen; Kälbern, Schaafen, Lämmern, Schweinen, Ziegen: 2 Pf. Weniger als fünf der vorstehend zu III. gedachten Thiere, sind frei." Vgl. GS, 1840, S. 94, 221 Über den Chausseebau, 1848, S. 186. 222 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 165. 223 S. Wollheim, Staatsstraßen und Verkehrspolitik, S. 18; W. Rüfner, Verwaltungstätigkeit, S. 480, Anm. 283.

IV. Die Chausseegelderhebung

403

der grenzenden Vereinsstaaten bildeten und auf denen ein größerer Handelsund Reiseverkehr stattfand, nicht mehr betragen als zu den gewöhnlichen Herstellungs- und Unterhaltungskosten erforderlich war. Dementprechend wurde das in dem Preußischen Chausseegeldtarif von 1828 bestimmte Chausseegeld als der höchste Satz angesehen und durfte in keinem der Vereinsstaaten überschritten werden. 224 Die Anpassung der entsprechenden Landesgesetze an den preußischen Tarif von 1828 und die Übernahme der Bindung an die Unterhaltungskosten gehörte in den dreißiger Jahren zu den ersten Vereinheitlichungsbemühungen im Deutschen Zollverein. 225 Preußen konnte daher 1840 seinen Tarif gar nicht erhöhen, sondern hat ihn in der bereits genannten Form vereinfacht, um die Kompatibilität mit den Bestimmungen der anderen Zollvereinsstaaten zu verbessern. 226 Damit wurde der preußische Tarif auch für das Herzogtum Braunschweig relevant, das sich gerade in den Verhandlungen über seinen Beitritt zum Zollverein befand. In Braunschweig existierte seit 1796 ein für die Staatschausseen einheitlicher Chausseegeldtarif. 227 Er betrug zunächst in Abhängigkeit vom Ladungsgewicht zwischen 2 und 8 Pfennigen pro Pferd. 228 Bis Anfang der dreißiger Jahre war er auf 9 Pfennig pro angespanntes Zugtier angestiegen.229 Bereits 1832 verglich das Landessteuerkollegium im Auftrage des Staatsministeriums diesen braunschweigischen Tarif mit den entsprechenden Vorschriften in den benachbarten Königreichen Hannover und Preußen von 1823 bzw. 1828. Der hannoversche Tarif lag am höchsten. Der preußische Satz entsprach im Ergebnis etwa dem braunschweigischen, enthielt jedoch eine stärkere Staffelung nach der Bespannung, „was billig erscheinen mag, denn dieses Fuhrwerk benutzt die Chausseen durch übermäßige Ladungen auf eine Weise, wo die Entschädigung durch die Abgabe außer allem Verhältnis gegen die Abnutzung steht, und besonders in den nassen Jahreszeiten den Kunststraßen von einem solchen Fuhrwerke bedeutender Schaden zugefügt wird." 2 3 0 Trotzdem wurde die Einführung eines solchen Tarifs in Braunschweig abgelehnt, „da jede die Frachtfuhren treffende Erhöhung der Wegeabgaben nur höchst nachtheilig sein kann." 231

224

Über den Chausseebau, 1848, S. 188. H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 80. 226 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 223, Bl. 3 ff.; P. Thimme, Straßenbau und Straßenbaupolitik, S. 69. 227 Vgl. Kapitel C.VII. 228 G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220. Im Herzogtum Braunschweig entsprachen um 1800 24 Pfennige einem Groschen. 229 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 174. - Zu dieser Zeit entsprachen im Herzogtum Braunschweig 10 Pfennig einem Groschen. Vgl. B. Sprenger, Das Geld der Deutschen, S. 156 ff., besonders S. 169. 230 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 179. 231 Ebenda. 225

4 0 4 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Wahrscheinlich bestimmte die Furcht vor einer Umlenkung der Verkehrsströme auch in diesem Fall die braunschweigische Verkehrspolitik. Die damit im Zusammenhang stehende Außenhandelspolitik tendierte in den dreißiger Jahren zur Anlehnung an Hannover. Das braunschweigische Gesetz zur Chausseegelderhebung vom 8. Mai 1835 orientierte sich daher an den hannoverschen Bestimmungen.232 Seine Handhabung war durch die Unterscheidung von 30 verschiedenen Hebesätzen äußerst kompliziert. 233 Mit der Abkehr Braunschweigs vom Steuerverein und dem Beginn der Beitritts Verhandlungen mit dem Zollverein im Jahre 1841 kam die Frage des Verhältnisses des braunschweigischen Chausseegeldtarifs zu den preußischen Bestimmungen erneut auf die Tagesordnung. 234 Die Herzogliche Baudirektion plädierte prinzipiell für die Übernahme des gerade erlassenen preußischen Tarifs. Man wollte allerdings die bewährten Vergünstigungen für das „einheimische Landfuhrwerk" sowie für zweispännige Fuhren mit vier Rädern beibehalten, weil der Verkehr vieler leichter Fahrzeuge sowohl für den Straßenzustand als auch für die Gesamteinnahmenentwicklung günstiger sei als die Passage von wenigen schweren Fuhrwerken. 235 Der braunschweigische Verhandlungsführer, Finanzdirektor von Arnsberg, wollte hingegen an dem bisherigen Tarif festhalten und vertrat deshalb die Auffassung, daß „nicht mit Gewißheit zu ermitteln stehe, inwiefern der Braunschweiger Tarif höher sei als der Preußische." 236 Fest stehe allerdings, daß die Unterhaltungskosten durch die Chausseegeldeinnahmen „kaum zur Hälfte gedeckt" wurden. Außerdem sei „bei der eigenthümlichen Lage der Braunschweigischen Landestheile gegen das Hannoversche sehr zu wünschen, dass in beiden Staaten -wie jetzt der Fall- möglichst gleichmässige Chausseegeldtarife bestehen, indem Ungleichheiten zwischen denselben störend auf den Verkehr einwirken könnten." Schließlich verwies von Arnsberg darauf, daß bei einer Einigung der Zollvereinsstaaten über einheitliche Radfelgenbreiten ohnehin eine Abänderung des Chausseegeldtarifs eintreten müsse. Von Arnsberg hatte letztlich Erfolg. Die Vertragspartner anerkannten, daß die braunschweigischen Chausseegeldeinnahmen unter den Unterhaltungskosten lagen. Der Tarif von 1835 sollte Gültigkeit behalten, so lange es keine „Reclamationen" anderer Mitgliedsstaaten gab. Im Gegenzug verpflichtete sich Braunschweig, nicht nur das einheimische, sondern generell das zollvereinsländische Landfuhrwerk zu begünstigen, wovon gerade der kleine Grenzverkehr mit agrarischen Produkten profitierte. 237

232 233 234 235 236 237

F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 35. Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3476. Ebenda, 12 A Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 99. Ebenda, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3476. Ebenda, 12 A Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 95. Ebenda, Bl. 96.

IV. Die Chausseegelderhebung

405

Stärker als die Gestaltung der Tarife kennzeichnen die Bestimmungen über die Befreiungen von der Gebührenpflicht die Verbindung von Verkehrs-, Finanz· und Sozialpolitik. 23 2 8 9 Diese Befreiungen resultierten historisch aus dem traditionellen Wegerecht. Die Chausseegeldbefreiung für den Lokalverkehr war auch aus volkswirtschaftlicher Sicht gerechtfertigt, weil in diesem Falle die Staatsstraßen die Funktion von Nachbarschaftswegen ausübten, auf denen die Erhebung von Nutzungsgebühren abzulehnen war, da sie allen Gemeindemitgliedern gleichermaßen zugute kamen. 240 Neben diesen nichtkommerzielle Fuhren der ortsansässigen Bevölkerung wurden auch im öffentlichen Interesse liegende Transporte von den Gebühren befreit. Auf die braunschweigischen Bestimmungen über die Chausseegeldbefreiung von 1796 ist bereits eingegangen worden. 241 Hassel und Bege berichteten einige Jahre später, daß in Braunschweig „dienstthuendes Militär, die Posten und Estafetten, die Herrndienst- und Hülfsfuhren" keine Chausseegelder zahlen mußten.242 Auch der erste gesamtpreußische Chausseegeldtarif vom 10. Juni 1811 befreite Transporte des Hofes, der Armee, der ordinären Posten sowie Feuerlöschungsführen und Reitpferde von den Gebühren. 243 Eine beinahe identische Formulierung über die Chausseegeldbefreiung für Transporte des Staates bzw. der Staatsunternehmen findet sich im Chausseegeldtarif von 1840. Danach waren Transporte des Hofes, der Verwaltung, des Militärs und der „ordinairen" Post sowie Transporte „für unmittelbare Rechnung des Staates, ... Feuerlöschungs-, Kreis- und Gemeine-Hülfsfuhren, ... Armen- und Arrestantenfuhren" von der Pflicht der Chausseegeldentrichtung enthoben.244 Die Definition der nichtkommerziellen Fuhren der ortsansässigen Bevölkerung erfuhr hingegen im Laufe der Zeit eine schrittweise Erweiterung. Seit 1816 durften Düngerfuhren auch außerhalb der Feldmarken Staatschausseen benutzen, ohne die Maut zu entrichten. Diese Maßnahme sollte der „Erleichterung des landwirtschaftlichen Gewerbes" dienen. 245 Der Tarif von 1840 definierte mit größerer Genauigkeit als die zuvor erlassenen Bestimmungen den Kreis der Guts- und Gemeindefuhren. Chausseegeldbefreit waren generell „Fuhren mit thierischem Dünger" sowie innerhalb der jeweiligen Feldmarken Transporte von Wirtschaftsvieh, „Bestellungs- und Erntefuhren, einschließlich der Fuhren mit Asche, Gyps, Kalk u.s.w. zur Düngung" und Fuhren mit Bau238 239 240 241 242 243 244 245

U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 231 f. Vgl. Kapitel C.V. und C.VII. E. Sax, Verkehrsmittel, S. 61. Vgl. Kapitel C.VII. G. Hassel / K. Bege, Geographisch-statistische Beschreibung, Bd. 1, S. 220. H. Liman, Preußischer Chausseebau, S. 22. GS, 1840, S. 95. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 151 III, Nr. 8150.

4 0 6 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

und Brennmaterialien zum eigenen Bedarf oder im Rahmen der Frondienstleistung. Schließlich wurden auch bei Kirchen- und Leichenfuhren innerhalb der Parochie und für Transporte von Chaussee-Baumaterialien keine Chausseegelder erhoben. Generell konnte die Verwaltung in Einzelfällen, zum Beispiel bei ungewöhnlich schlechter Straßenqualität infolge extremer Witterungsbedingungen, einen niedrigeren Tarifsatz gewähren. 246 Solche Fälle traten in den vierziger Jahren verstärkt auf. Finanzminister Flottwell räumte 1845 auch „kleinen Ackerbesitzern, welche mit Benutzung von Kühen selbst gewonnene Erzeugnisse verfahren oder ihre Bedürfnisse an Brennmaterial herbeiholen", eine Ermäßigung ihrer Chausseegelder ein. 247 Hier sollten also Kleinbauern angesichts des wachsenden Pauperismus eine Kostenentlastung erfahren. Derartige Siege der Sozial- über die Fiskalpolitik waren allerdings nicht typisch für den Vormärz. 1847 lehnte Flottwells Nachfolger von Pommer-Esche eine Chausseegeldbefreiung für Gemeinden und Privatpersonen, die Hilfsdienste oder Geldbeiträge zu Staatschausseebauten geleistet hatten, ab. Der Finanzminster meinte, falls die Betreffenden regelmäßig bestimmte Straßenabschnitte nutzen wollten, könnten sie ja Abonnementverträge abschließen.248

3. Die Entwicklung der Chausseegeldeinnahmen im Königreich Preußen, der preußischen Provinz Sachsen und im Herzogtum Braunschweig Über die Höhe der Chausseegeldeinnahmen in Preußen liegen unterschiedliche, jedoch voneinander nicht gravierend abweichende Angaben vor. (Vgl. Tabelle 32 auf S. 407) Obgleich in Tabelle 32 jährliche Veränderungen erst ab 1844 berücksichtigt werden konnten, wird deutlich, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Chausseegeldeinnahmen stetig angestiegen sind, jedoch seit Mitte der vierziger Jahre stagnierten. Darüber hinaus lassen sich Einnahmeverluste während der Revolution erkennen, während konjunkturelle Einflüsse keine offensichtliche Rolle spielten. Der Zuwachs von 1867 zu 1868 resultiert natürlich aus den Territorialgewinnen nach dem Krieg gegen Österreich. Die archivalische Überlieferung der Provinzialsteuerdirektion ermöglicht eine Rekonstruktion der auf den provinzialsächsischen Staatschausseen erzielten Einnahmen. (Vgl. Tabelle 33 auf S. 408)

246 247 248

LHA SA Magdeburg, Rep. C 75, Nr. 618, Vol. I, Bl. 3, 50; Vol. II, Bl. 252. L. von Rönne, Wegepolizei, S. 302. Ebenda, S. 305.

407

IV. Die Chausseegelderhebung Tabelle 32 Chausseegeldeinnahmen im Königreich Preußen 1829-1874

Jahr

Bruttoeinnahmen (Thlr.)

Jahr

Bruttoeinnahmen (Thlr.)

1829

698.506

1858

1.317.231

1832

763.878

1859

1.277.331

1837

1.061.482

1860

1.280.583

1840

1.219.661

1861

1.264.891

1844

1.278.174

1862

1.251.375

1845

1.332.464

1863

1.292.435

1846

1.392.881

1864

1.305.083

1847

1.322.635

1865

1.352.740

1848

1.146.929

1866

1.306.213

1849

1.154.221

1867

1.330.104

1850

1.265.218

1868

1.635.000

1851

1.267.787

1869

1.606.333

1852

1.306.485

1870

1.582.333

1853

1.308.307

1871

1.567.000

1854

1.296.378

1872

1.540.000

1855

1.327.500

1873

1.526.000

1856

1.299.299

1874

1.505.000

1857

1.356.401

Quellen: Über den Chausseebau, 1848, S. 188 f.; GStA PK Berlin, Rep. 151 I A , Nr. 319, 320, 321; O. Schwarz / G. Strutz, Staatshaushalt, Bd. 1, Anlage L X X I .

Am provinzialsächsischen Beispiel wird noch deutlicher, daß die Chausseegeldeinnahmen seit Mitte der vierziger Jahre kontinuierlich gesunken sind. Da gleichzeitig das Staatschausseenetz, wenn auch nur geringfügig, erweitert wurde, war die Abnahme des relativen Ertrages noch größer als der absolute Einnahmeverlust. Der sachliche Hintergrund für diese Tendenz liegt im Übergang des Fernverkehrs auf die Eisenbahn, in der relativen Zunahme der chausseegeldbefreiten Transporte sowie im Ausbau der Nichtstaatschausseen.249 Unter

249

Vgl. U. Müller, Verkehrsintensität, S. 26 ff.

4 0 8 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

fiskalischen Gesichtspunkten stellte der sinkende Ertrag ein wesentliches Argument für die Abschaffung der Chausseegelderhebung dar. 250 Tabelle 33 Chausseegeldeinnahmen auf den Staatschausseen in der Provinz Sachsen 1837-1870

Jahr

Einnahmen

Länge der hebeberechtigten

(Thlr.)

Staatschausseen (Meilen)

Einnahmen pro Meile (Thlr.)

1837

174.942

167,5

1044

1840

206.280

173,5

1189

1843

250.891

203

1236

1846

239.499

221

1084

1849

179.078

236,5

757

1852

198.294

240,5

825

1855

181.725

249,5

728

1858

176.817

250,5

706

1861

184.855

252

734

1864

193.697

252,5

767

1867

180.955

256

707

1870

173.695

263,5

659

Quelle: LHA SA Magdeburg, Rep. C 75, Nr. 618.

Im Herzogtum Braunschweig wurden innerhalb des Zeitraums zwischen den dreißiger und siebziger Jahren in den Finanzperioden 1837/39 und 1840/42 die höchsten Chausseegeldeinnahmen erzielt. (Vgl. Tabelle 34 auf S. 409) Um die finanzpolitische Bedeutung der Chausseegeldeinnahmen beurteilen zu können, müssen sie im Rahmen der gesamten Staatseinnahmen gesehen werden. (Vgl. Tabelle 35 auf S. 410) Die fiskalische Bedeutung der Chausseegeldeinnahmen war in Braunschweig größer als in Preußen. Vor diesem Hintergrund sind auch die braunschweigischen Diskussionen über die Angleichung der Tarifbestimmungen im Zuge des Beitritts zum Zollverein zu sehen. Für die relativ höheren Chaussee250

Ders., Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 232 f.

IV. Die Chausseegelderhebung

409

geldeinnahmen in Braunschweig waren hingegen die Tarifunterschiede nicht verantwortlich. Der Kleinstaat Braunschweig, der zudem als typisches Transitland fungierte, verfügte über ein wesentlich dichteres und sicher auch stärker frequentiertes Chausseenetz als Preußen. 251 Tabelle 34 Chausseegeldeinnahmen im Herzogtum Braunschweig 1833-1871 252

Jahr

Bruttoeinnahmen (Taler)

Jahr

Bruttoeinnahmen (Taler)

1833

47.000

1853

48.333

1835

43.333

1856

47.333

1838

53.333

1859

41.667

1841

53.333

1862

44.333

1844

48.000

1865

47.000

1847

46.000

1868

45.000

1850

43.000

1871

45.000

Berechnet nach: Kybitz, Staatshaushalt, S. 206.

Aus haushaltspolitischer Perspektive waren in Preußen die Chaussegeldeinnahmen zu keinem Zeitpunkt so wichtig wie um 1840. In Braunschweig war zu dieser Zeit der Ausbau der wichtigsten Straßen bereits abgeschlossen.253 Daher stagnierte das Chausseegeldaufkommen in seiner absoluten Höhe schon früher und verlor im Vergleich zu anderen Einnahmequellen an Bedeutung. Die politisch-juristische Begründung fur die Chausseegelderhebung lag ja in der Deckung der Unterhaltungskosten, so daß das Verhältnis zwischen Chausseegeldeinnahmen und Unterhaltungsausgaben fur die Zeitgenossen von Interesse war.

251 Dies gilt sicher für einen allerdings wenig aussagefähigen Vergleich mit dem gesamtpreußischen Durchschnitt. Vergleiche mit den in Tabelle 33 vorgestellten Angaben über die auf den Staatschausseen der Provinz Sachsen pro Meile erzielten Einnahmen können leider nicht angestellt werden, da die braunschweigische Statistik nur den Gesamtbestand der Staatsstraßen ausgewiesen hat, von denen ein beträchtlicher Teil gebührenfrei benutzt werden konnte. 252 Um Vergleiche mit den preußischen Daten zu ermöglichen, wurden aus den für die dreijährigen Finanzperioden angegebenen Werten die jeweils durchschnittlichen jährlichen Einnahmen berechnet und für das jeweils mittlere Jahr angegeben. 253 Vgl. Kapitel D.III.

4 1 0 I . Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung Tabelle 35 Bedeutung der Chausseegeldeinnahmen für die Staatshaushalte in Preußen und Braunschweig 1829-1867254 Jahr

Staatseinnahmen (Taler)

Chausseegeldeinnahmen (Thlr.)

Kgr. Preußen Hztm. Braun- Kgr. Preußen schweig

prozentualer Anteil

Hztm. Braun- Kgr. Preußen schweig

Hztm. Braunschweig

1829/1833

50.796.00

1.514.000

698.506

47.000

1,38

3,10

1841

55.867.00

1.758.667

1.219.661

53.333

2,18

3,03

1847

64.033.69

1.793.000

1.322.635

46.000

2,07

2,57

1850

91.338.44

1.911.000

1.265.218

43.000

1,39

2,25

1855

111.827.78

2.182.000

1.327.500

47.333

1,19

2,17

1860

130.615.25

2.325.667

1.280.583

41.667

0,98

1,79

1867

168.929.87

3.304.333

1.330.104

45.000

0,79

1,36

Quelle: Tabellen 28, 29, 32 und 34.

O b w o h l bei der Verwendung anderer Stichjahre oder der Jahresdurchschnitte bestimmter Zeitabschnitte die Deckungsgrade um einstellige Prozentpunktbeträge abweichen, 2 5 5 ergibt sich ein eindeutiger Trend. Die Chausseegeldeinnahmen deckten zu keinem Zeitpunkt die Unterhaltungsausgaben, was den erwähnten politischen Vorgaben in Preußen und im Zollverein entsprach. Der Deckungsgrad erreichte in den vierziger Jahren seinen Höhepunkt, w e i l der Verkehr auf den Staatsstraßen unmittelbar vor dem Siegeszug der Eisenbahn seinen Höhepunkt erlebte, während gleichzeitig die Ausgaben auf außerordentliche Baumaßnahmen konzentriert wurden, was zu einer Vernachlässigung der Straßenunterhaltung führte. Seit der Jahrhundertmitte stagnierten die Chausseegeldeinnahmen, so daß ihre Bedeutung für die Finanzierung angesichts leicht steigender Unterhaltungsausgaben sank. 254 Im Gegensatz zu den hier aufgeführten Daten erlauben die mitunter in der zeitgenössischen Literatur angestellten Betrachtungen über den Stellenwert der Chausseegeldeinnahmen in den verschiedenen Gesamtetats keine Aussagen über regionale und zeitliche Vergleiche. Außerdem werden hier Chausseegelder oft mit „dergleichen", beispielsweise „Damm- und Fährpachtgeldern" zusammengefaßt und widersprüchliche Aussagen über die Gesamteinnahmen des Staates gemacht. Vgl. u.a. E. Huhn, Topographisch-statistisch-historisches Comptoir-, Amts-, Post-, Reise- und Zeitungslexikon von Deutschland. Eine vollständige deutsche Landes-, Volks- und Staatskunde, Bd. 1, Hildburghausen 1848, S. 671; F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 948; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 129 ff. 255 Vgl. U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 231, Tabelle 2.

411

IV. Die Chausseegelderhebung Tabelle 36 Das Verhältnis von Chausseegeldeinnahmen und Unterhaltungsausgaben im Königreich Preußen 1837-1866

Kostendeckungsgrad

Chausseegeldeinnahmen

Unterhaltungsausgaben

(Thlr.)

(Thlr.)

(%)

1837

1.061.482

1.331.070

79,75

1844

1.278.174

1.447.897

88,28

1851

1.267.787

2.104.089

60,25

1859

1.277.331

2.266.071

56,37

1866

1.306.213

2.537.912

51,47

Jahr

Quelle: Tabellen 19, 20 und 32.

Da in den braunschweigischen Etats nicht zwischen Bau- und Unterhaltungsausgaben unterschieden worden ist, läßt sich über die zeitliche Entwicklung des Einnahmen-Ausgaben-Verhältnisses keine Aussage treffen. Einzeln überlieferte Daten zeigen allerdings, daß hier in den zwanziger und dreißiger Jahren die Chausseegeldeinnahmen etwa 55 bis 60 % der Unterhaltungsausgaben gedeckt haben. 256 Da im Herzogtum Braunschweig die Chausseegeldeinnahmen in den dreißiger Jahren um etwa 50 % gestiegen sind, ist davon auszugehen, daß das Verhältnis zu den Unterhaltungsausgaben um 1840 den für Preußen errechneten Zahlen entsprochen hat. Aus den über die provinzialsächsischen Kreise bekannten Daten lassen sich in einem Fall Aussagen über das Verhältnis von Chausseegeldeinnahmen und Unterhaltungsausgaben treffen. Zwischen 1859 und 1864 wurden auf acht im Kreis Wanzleben vorhandenen Kreis- und Gemeindechausseen im jährlichen Durchschnitt 6455 Taler eingenommen.257 Gleichzeitig wandten die Träger pro Jahr 14.499 Taler für die Unterhaltung dieser Straßen auf, so daß sich hier ein Kostendeckungsgrad von 44,5 % ergab. Der Kreis Wanzleben gehörte im Untersuchungsgebiet zu den früh industrialisierten Gebieten und dürfte daher eine relativ hohe Straßenverkehrsintensität aufgewiesen haben. Es soll hier nicht spekuliert werden, in welchem Maße dies einerseits zur Einnahmenerhöhung 256 1821 standen den 50.000 Talern, die für Chausseereparaturen ausgegeben wurden, 30.000 Taler Einnahmen aus Wegegeldern gegenüber. Um 1830 wurden jährlich 34.000 Taler Chausseegeldeinnahmen eingenommen. Die „Instandhaltungskosten (ohne Neubau und Zinsen)" betrugen 60.000 Taler. S. Hindelang / P. Walther, Von der Wegbauintendance, S. 32; Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 5, Nr. 5692, Bl. 174. 257 Statistik des Kreises Wanzleben, S. 67.

412

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

sowie andererseits zur stärkeren Straßenabnutzung und daher zu einem größeren Unterhaltungsaufwand geführt hat. Insgesamt konnten jedoch in den ländlichen Gebieten die auf Kreis- und Gemeindechausseen erzielten Einnahmen die Unterhaltungskosten nicht decken. 258

4. Die Einstellung der Chausseegelderhebung in Preußen und Braunschweig in den siebziger Jahren Das immer ungünstiger werdende Verhältnis der Chausseegeldeinnahmen zu den Unterhaltungsausgaben und die sinkenden Einnahmen pro Erhebungsabschnitt stellten die fiskalischen Beweggründe für die Einstellung der Mauterhebung in den siebziger Jahren dar. Hinzu kam, daß angesichts stagnierender Einnahmen der für die Gebührenerhebung erforderliche Verwaltungsaufwand erneut ins Blickfeld geriet. Bemühungen um die Erhöhung der Nettoeinnahmen hatten seit den zwanziger Jahren in den preußischen Westprovinzen dazu geführt, daß eine zunehmende Zahl der Hebestellen verpachtet wurde. 259 Seit den dreißiger Jahren ging man auch im mittleren und östlichen Teil der Monarchie dazu über, so daß die Länge der mit Hebestellenpächtern besetzen Staatschaussestrecke von 185 Meilen im Jahre 1837 auf 344 Meilen im Jahre 1844 anstieg.260 Die Verpachtung erfolgte entweder mit befristeter Dauer, meistens für drei Jahre, oder auf unbestimmte Zeit mit entsprechenden Kündigungsfristen. Im ersten Fall wurde ein fester, im zweiten ein dynamischer, also jährlich um zwei oder drei Prozent steigender, Pachtzins vereinbart. 261 Gegenüber der sonst üblichen Verwaltung der Hebestellen durch Staatsbeamte erhoffte man sich von der Verpachtung mehrere Vorteile. Prinzipiell sollten die Pachtzahlungen höher sein als die um Gehalt und Pension der Staatsdiener verminderten Chausseegeldeinnahmen. Dieser Effekt sollte durch das bei den Pächtern vorhandene stärkere Eigeninteresse an der Einnahmensteigerung erreicht werden. Durch das Pachtsystem entfiel auch die Notwendigkeit der Rechnungskontrolle, so daß auch die Revisionskosten in der Verwaltung minimiert wurden. Die Verminderung des Anteils der Verwaltungskosten an den 258 "Die Chausseegeldeinnahmen der städtischen Straßen decken so ziemlich die Kosten der Unterhaltung, wogegen die der ländlichen Communalchausseen nicht hinreichen und je nach Bedürfnis von der betreffenden Gemeinde ... Zuschüsse geleistet werden müssen." Statistische Darstellung des Kreises Erfurt, o.O. 1863 (handschriftlich), o.S. 259 Nach F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 43, sollen 1827 im Regierungsbezirk Arnsberg die Verwaltungskosten ein Drittel der Chausseegeldeinnahmen betragen haben, was mir allerdings etwas zu hoch erscheint. 260 Über den Chausseebau, 1848, S. 186 f. 261 Die Pachteinnahmen wurden im Rahmen der Chausseegeldeinnahmen verbucht.

413

IV. Die Chausseegelderhebung

Bruttoeinnahmen von 10,4 % im Jahre 1832 auf 9,1 % im Jahre 1845 wurde in erster Linie auf die Verpachtung zurückgeführt, denn bei den „administrirten Stellen" betrugen die Unkosten im Durchschnitt 12,5 % des Bruttoertrages. 262 Sie kann allerdings auch durch die Steigerung der Verkehrsintensität hervorgerufen worden sein. Auf jeden Fall erreichten die Effekte der Verpachtung nicht das gewünschte Ausmaß, so daß in einigen Regionen die Pachtverträge nicht verlängert wurden. In der Provinz Westfalen wurden schon in den vierziger Jahren die Hebestellen fast ausnahmslos wieder unmittelbar der staatlichen Verwaltung unterstellt. 263 In der preußischen Provinz Sachsen begann man hingegen erst in den vierziger Jahren zaghaft mit den Verpachtungen und weitete diese Praxis in den sechziger Jahren aus. Tabelle 37 Anteil der verpachteten Chausseegeldhebestellen an den Chausseegeldeinnahmen in der Provinz Sachsen 1843-1870

Jahr

Gesamteinnahmen (Thlr.)

Einnahmen aus verpachteten Hebestellen absolut (Thlr.)

Anteil an den Gesamteinnahmen

(%) 1843

250.891

45

0,02

1846

239.499

236

0,10

1849

179.078

357

0,20

1852

198.294

12.482

6,29

1855

181.725

21.565

11,87

1858

176.817

14.663

8,29

1861

184.855

14.096

7,63

1864

193.697

18.961

9,79

1867

180.955

36.357

20,09

1870

173.695

50.078

28,83

Berechnet nach: LHA SA Magdeburg, Rep. C 75, Nr. 618.

Insgesamt verdient die Verpachtung der Hebestellen vor allem unter verwaltungs· und sozialhistorischen Aspekten Interesse. Die Verwaltungskosten konnten dadurch letztlich nicht entscheidend verringert werden, zumal die Ver-

262 263

Über den Chausseebau, 1848, S. 187 ff. F. Sälter, Entwicklung und Bedeutung, S. 47 f.

414

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Pachtung gar nicht möglich war, wenn „die Einnahme gering war ... und sich keine Königlichen Empfangshäuser befanden, welche dem Pächter zur Wohnung angewiesen werden" konnten. 264 Im Gegensatz zu den Chausseegeldeinnahmen wuchs der Verwaltungsaufwand durch steigende Beamtengehälter, Pensionierungen sowie Instandhaltungsarbeiten an den Chausseehäusern. Die Höhe der Verwaltungsausgaben war trotzdem für die Abschaffung der Chausseegelderhebung nicht so entscheidend, wie es häufig dargestellt worden ist, zumal ihr Verhältnis zu den Gesamteinnahmen durchaus nicht bei 25 %, sondern auch in den sechziger Jahren bei maximal 15 % gelegen hat. 265 Im Herzogtum Braunschweig betrugen die Erhebungskosten um 1840 sogar nur 6,5% der Roheinnahmen.266 Dieser Anteil dürfte auch danach nicht wesentlich gestiegen sein, zumal die Zahl der „Chaussee-, Weg- und Brückengelderheber" in den folgenden Jahren trotz wachsenden Straßennetzes gesunken ist. 267 Es ist allerdings zu bezweifeln, daß die Reduzierung der Hebestellen ein finanzieller Erfolg gewesen ist. Schließlich verschärfte sie ein Problem, das die Behörden weder in Preußen noch in Braunschweig in den Griff bekamen. Es gelang nämlich einigen Fuhrunternehmern immer wieder, die Hebestellen zu umfahren. 268 Diese „technischen" Probleme haben für die Beseitigung der Chausseegelderhebung ebenso eine Rolle gespielt wie die unbefriedigenden finanziellen Ergebnisse. Hinzu kamen aber auch grundsätzliche Erwägungen. Die technischen Probleme bei dem Versuch, einzelne Verkehrsteilnehmer von einer unentgeltlichen Nutzung der Straßen auszuschließen, weisen bereits daraufhin, daß die Straßen in der Praxis in zunehmendem Maße zu öffentlichen Gütern wurden. 269 In der zeitgenössischen Diskussion wurde nun auf die „Gemeinnützigkeit" der Straßen hingewiesen. Nach diesem Prinzip wurde die Chausseegelderhebung in dem Moment als nicht mehr gerechtfertigt angesehen, in dem die Straßen von 264

Über den Chausseebau, 1848, S. 186. Die überhöhten Zahlen finden sich bei: H. Ritsehl, Die Deckung der Straßenkosten, S. 19. 266 F.W. Frh. von Reden, Allgemeine vergleichende Finanzstatistik, Bd. 1, S. 973. Für die Verwaltung der 68 Hebestellen wurden jährlich 2500 Taler ausgegeben. 267 Sie betrug 1846 64 und zu Beginn der sechziger Jahre 60. C. Venturini, Das Herzogthum Braunschweig in seiner vormaligen und gegenwärtigen Beschaffenheit, geschichtlich und statistisch dargestellt, 3. Aufl. Helmstedt, 1847, S. 126; A. Lambrecht, Das Herzogthum Braunschweig, S. 233. 265

268 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3467, Bl. 98 ff. Dabei ging es den Fuhrleuten häufig nicht nur um die Vermeidung der Benutzungsgebühren, sondern auch um die wegepolizeilichen Vorschriften. Durch die Reglementierung der Felgenbreiten war es sehr schwierig geworden, schwere Massengüter wie Braunkohle gewinnbringend zu transportieren. 269 Ch.B. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 2. Aufl., München 1994, S. 54 ff.

IV. Die Chausseegelderhebung

415

der Allgemeinheit benutzt wurden und der Allgemeinheit nutzten. 270 Die Straßenunterhaltung sollte also prinzipiell unter Verwendung von Steuereinnahmen finanziert werden, wenn „die Nutzungsanteile der einzelnen ... zu ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer Steuerpflicht in Proportionen stehen".271 Schon bevor die Chausseegelder auf den preußischen Staatschausseen aufgehoben wurden, lehnten Handels- und Finanzministerium in den sechziger Jahren Anträge von Kreisen und Gemeinden auf die Erteilung der Hebeberechtigung auf neu errichteten Chausseen immer häufiger ab. 1861 wurde den Gemeinden Ilversgehofen und Gispersleben Viti im Kreis Erfurt die Erhebung eines Chausseegeldes auf einer Gemeindechaussee, die fast ausschließlich den weimarschen Gemeinden Mittelhausen, Nöda, Riethnordhausen und Haßleben als Zufahrt nach Erfurt diente, gestattet.272 Das Argument, auch ausländische Straßennutzer an den Unterhaltungskosten zu beteiligen, das schon bei der Einfuhrung der Chausseegelder eine wichtige Rolle gespielt hatte, hatte seine Wirkung noch nicht verloren. Auch im Falle der Gemeindechaussee von Schönstedt über Weberstedt nach Flarchheim im Kreis Langensalza befürwortete die Erfurter Regierung 1865 die Genehmigung der Chausseegelderhebung, da in erster Linie nicht die Gemeindemitglieder, sondern auswärtige Fuhrleute und Holzhändler von der Straße profitierten. 273 Für das Handelsministerium war dieser Gesichtspunkt jedoch nicht mehr entscheidend, da prinzipiell „Chausseen nicht als Finanz-Quellen, sondern zur Förderung des Verkehrs gebaut wurden, und die auf ihre Unterhaltung zu verwendenden, den Ertrag des Chausseegeldes übersteigenden Kosten der größeren oder geringeren Nutzung entsprechen." 274

270

A. Schellenberg, Entwicklung des Landstraßenwesens, S. 66. E. Sax, Verkehrsmittel, S. 62. Vgl. auch H. Ritsehl, Deckung der Straßenkosten, S. 19; A. Zatsch, Staatsmacht und Motorisierung, S. 380. - Der Wanzlebener Kreistag trat 1865 unter anderem mit Hinweis auf den hohen Verwaltungsaufwand fur die Abschaffung der Chausseegelder ein. Zur Finanzierung der Straßenunterhaltung sollte statt dessen eine Besteuerung des in den Ortschaften, aber auch in „Zuckerfabriken, Stärkefabriken, Brennereien, Cichoriendarren, Dampfmahlmühlen und anderen ... gewerblichen Etablissements" vorhandenen Zugviehs erfolgen. Der Antrag zur Erhebung einer „Wagensteuer" durch den Kreis wurde jedoch durch die Königlichen Ministerien abgelehnt. Statistik des Kreises Wanzleben, S. 61. 271

272

GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3469, Bl. 194 ff. "Daß diese Fuhrleute und Holzhändler, welche durch Chaussirung des in Rede stehenden Weges ein nicht unbedeutendes Kapital an Zeit und Arbeitskräften ersparen, in entsprechender Weise zur Unterhaltung herangezogen werden, erscheint uns sowohl im Interesse der betreffenden Gemeinden als auch aus Billigkeitsrücksichten um so gebotener, als derselbe außerdem nur mit leichtem Fuhrwerk befahren wird, und ohne die starke Holzabfuhr seltener und in weit geringerem Maße der Reparatur bedürfen würde." Ebenda, Bl. 249. 274 Ebenda, Nr. 3470, Bl. 18. 273

416

I. Die Finanzierung des Chausseebaus und der Chausseeunterhaltung

Die wachsende Zahl nichtwegegeldberechtigter Straßen und die Stagnation des Bestandes an Aktien- und Privatchausseen bewirkten, daß aus dem Argument der Gleichberechtigung aller Straßen das Recht des Staates, auf seinen Chausseen Mautgebühren zu erheben, nicht mehr ableitbar war. Außerdem hat die ständige Erweiterung des Kreises chausseegeldbefreiter Transporte, die zunächst als verteilungspolitisches Regulierungsinstrument genutzt worden war, nicht nur zur Stagnation der Einnahmen beigetragen. Sie hat gerade in der Provinz Sachsen dazu gefuhrt, daß die ursprünglich der ortsansässigen Bevölkerung gewährten Vergünstigungen von den im Zuge der Industrialisierung entstandenen Unternehmen der Nahrungsgüterwirtschaft genutzt wurden. 275 Wenn jedoch die intensivsten Straßennutzer keine Gebühren zahlen mußten, wurde das Gebührenprinzip an sich in Frage gestellt. Das preußische Abgeordnetenhaus beschloß daher im Frühjahr 1874 die Abschaffung der Maut auf den preußischen Staatschausseen zum 1. Januar 1875. 276 Dieser Schritt stellte die letzte wichtige Entscheidung der preußischen Straßenverkehrspolitik vor der Übergabe der Staatschausseen an die Provinzialverbände dar. Der Staat erschwerte dadurch die Erhebung von Straßennutzungsgebühren durch die Provinzen. Gemeinden, Kommunalverbände und Private, die bereits über das Chausseegeldheberecht verfugten, konnten davon auch nach 1875 Gebrauch machen. Im Herzogtum Braunschweig forderte die Landes Versammlung bereits 1867 die Aufhebung der Chausseegelder. 277 Zunächst beseitigte jedoch die Wegeordnung von 1871 auf den Kommunalwegen die Erhebung von Wegegeldern. 278 Dieser von den preußischen Verhältnissen abweichende Schritt war nur durch die bereits erwähnte großzügige Ausstattung der Kreiswegebaufonds aus der Staatskasse möglich. Als Herzog Wilhelm 1873 ohnehin einen Steuererlaß plante, nutzten Landtag und Beamte die Chance, um erneut auf die Abschaffung der Chausseegelder hinzuweisen. In einem schleunigst erstellten Gutachten über die Verwaltungskosten der Hebestellen, die Ausgaben fur Wegewärterpensionen und den bei einem Verkauf der Gebäude und Grundstücke zu erzielenden Erlös befürwortete die Herzogliche Baudirektion diesen Schritt. 279 Durch das Gesetz vom 10. November 1873 wurden daher in Braunschweig bereits zum 1. Januar 1874 alle Chaussee-, Damm- und Brückengelder abgeschafft. 280 275

Vgl. U. Müller, Mautschranke oder freie Fahrt?, S. 231. GS, 1874, S. 184; R. Gador, Entwicklung des Straßenbaues, S. 32; H. Hummel, Preußischer Chausseebau, S. 345. 277 Nds STA Wolfenbüttel, 12 Neu Fb. 9, Nr. 3477. 278 F.W.R. Zimmermann, Übersicht über die bisherige Verwendung, S. 37. 279 Nds STA Wolfenbüttel, 76 Neu Fb. 2, Nr. 791. 280 R. Buerstenbinder, Landwirtschaft, S. 136; Kybitz, Staatshaushalt, S. 202. 276

J. Wechselwirkungen zwischen Straßenverkehrsinfrastruktur und regionaler Wirtschaftsentwicklung In aktuellen Untersuchungen über die Infrastruktur geht es meist in erster Linie um die Beziehungen zwischen ihr und der ökonomischen Entwicklung. So wird in einer Studie über die optimale Höhe von Infrastrukturinvestitionen einleitend folgende Problemstellung genannt: „Erstens müssen die in der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung liegenden Ursachen für die Höhe und Zusammensetzung der Infrastrukturinvestitionen gefunden werden. Zweitens stellt sich die Frage, welche Wirkungen gehen umgekehrt von den Infrastrukturinvestitionen auf die Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung aus."1 Eine exakte Quantifizierung dieser Wirkungen wird allerdings dadurch erschwert, daß es sich hier zu einem großen Teil um externe Effekte handelt, die somit „nicht über Preise erfolgten". 2 Gerade Leistungen bzw. Nutzungen der Infrastruktur werden oft unabhängig von marktwirtschaftlichen Prinzipien unterhalb der Markt- bzw. der Entstehungspreise, abgegeben. In der historischen Forschung wurden mit Ausnahme des Eisenbahnsektors die Wechselbeziehungen zwischen der Qualität der Infrastruktur einerseits sowie der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung andererseits, also auch die Bedeutung der Infrastruktur für soziale und regionale Strukturen, nur selten thematisiert. 3 Vom Eisenbahnbau ist bekannt, daß er, auch im zeitlichen Sinne,

1

D. Kühn, Ursachen, S. 1. Ebenda, S. 33. H. Körte, Infrastrukturentwicklung, S. 414, betont, daß unter externen Effekten auch unbeabsichtigte direkte oder indirekte Folgen zu verstehen sind. - Nach R. Jochimsen / K. Gustafsson, Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, S. 49, handelt es sich vor allem um Einkommens-, Kapazitäts-, Bodennutzungs- und Anreizeffekte. Vgl. auch U. Schlieper, Externe Effekte, in: W. Albers u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 2, StuttgartNew York-Tübingen-Göttingen-Zürich 1988, S. 524. 2

3

Im deutschen Sprachraum sind die Studien von R. Fremdling, Eisenbahnen; W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, und J. Wysocki, Infrastruktur, als wichtigste Ausnahmen anzusehen. Wegen der Synthese von Wirtschaftsgeschichte und -theorie stellt die Arbeit von F. Voigt, Verkehr, immer noch ein Standardwerk dar. Wesentlich größere Beachtung als in Deutschland haben Arbeiten zu diesem Thema schon vor Jahrzehnten in den USA gefunden. So hat Fabricant als erster demographische und ökonomische Variablen als Einflußfaktoren der regionalen Unterschiedlichkeit der öffentlichen Ausgaben beachtet und mit Hilfe der multiplen Regressionsanalyse analysiert. Eine der am stärksten beachteten Pionierarbeiten der „New Economic History", deren Verfasser 1993 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 27 Uwe Müller

418

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

Vorleistungen für den wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland erbracht hat.4 Auch der in vorindustrieller Zeit beginnende Ausbau des Wasserstraßennetzes trug zur Markterweiterung bei.5 In welchem Verhältnis zum Wirtschaftswachstum stand jedoch die Entwicklung der Straßenverkehrsinfrastruktur im vorliegenden Untersuchungszeitraum? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, stößt man auf zahlreiche Probleme, deren Lösung im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist. Diese Schwierigkeiten sind zum einen methodischer Art, resultieren aber vor allem aus dem Mangel an harten Daten. Für die quantitative Beschreibung der Chausseenetzentwicklung ist zwar in den vorhergehenden Kapiteln einiges geleistet worden. Der Umfang der auf Kreisebene ermittelbaren Daten blieb jedoch relativ gering. 6 Wegen der im Vergleich zu Eisenbahn und Binnenschiffahrtswegen hohen Netzbildungsfähigkeit des Landstraßensystems werden jedoch Entwicklungsprozesse auf dieser Aggregationsebene besonders deutlich widergespiegelt. Das gilt in ähnlicher Weise generell für die regionale Wirtschaftsentwicklung während der beginnenden Industrialisierung. Die zweifellos sehr verdienstvollen Forschungen über die regionale Industrialisierung in Deutschland haben sich jedoch meist auf einen Vergleich der preußischen Regierungsbezirke bzw. der entsprechenden Verwaltungseinheiten in den Mittel- oder Kleinstaaten konzentriert. Kreisdaten fanden bei Untersuchungen bestimmter Gewerbelandschaften Berücksichtigung, wurden jedoch selten flächendeckend ausgewertet. Die preußische Provinz Sachsen gehört zudem hinsichtlich ihrer Wirtschaftsgeschichte zu den am schlechtesten untersuchten Gebieten in Deutschland.7 Aus diesem Grunde mußte sich das aus der Rezeption des Forschungsstandes erwachsene Kapitel Β weitgehend auf qualitative Deskriptionen beschränken. Um trotzdem Aussagen über die regionalwirtschaftlichen Effekte, die von Straßenbau und Existenz des Straßennetzes ausgingen, treffen zu können, sind geehrt wurde, versuchte sich an der Quantifizierung der Wechselwirkung von Eisenbahnbau und Industrialisierung in den USA. Vgl. S. Fabricant, The Trend of Government Activity in the United States since 1900, New York 1952; R.W. Fogel, Railroads and American Economic Growth. Essays in Economic History, Baltimore 1964. 4 Vgl. Kapitel A.IV. 5 K. Borchard, Staatsverbrauch, S. 239. 6 Eine Betrachtung der Gesamtentwicklung der preußischen und deutschen Straßenstatistik im 19. Jahrhundert zeigt allerdings, daß die Erhebung der Kreisdaten von 1862 einen Höhepunkt an detaillierter Datenerfassung darstellte. Noch Anfang unseres Jahrhunderts mangelte es an Daten über die in den einzelnen Kreisen vorhandenen Straßen. Petersilie mußte daher auf einen Vergleich der Straßenverkehrsinfrastruktur mit den Ergebnissen der landwirtschaftlichen Betriebszählung verzichten. Vgl. E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 131. 7 Vgl. Kapitel B.I.

I. Volks- und regionalwirtschaftliche Effekte von Straßenbauinvestitionen

419

zwei Wege beschritten worden. Erstens wurden, nach dem bereits in der Trägerfrage bewährten Muster, Infrastrukturtheorie und die vergleichsweise gut aufgearbeitete Eisenbahngeschichte befragt, worin die wesentlichen Effekte der Infrastrukturinvestitionen allgemein und speziell der Verkehrsinvestitionen während der Industrialisierung gelegen haben. Dadurch geraten in mehreren Fällen analoge Entwicklungen bei der Straßenverkehrsinfrastruktur ins Blickfeld. Die Eisenbahngeschichte liefert gleichzeitig den Maßstab für die Bewertung dieser Effekte. Mit dieser Methode können natürlich zunächst nur relativ unpräzise, sich nur auf Einzelbeispiele beziehende oder sehr allgemeine Aussagen getroffen werden. Studien über aktuelle Infrastrukturentwicklungen und in begrenztem Maße auch über die Eisenbahngeschichte liefern aber auch Hinweise auf Indikatoren, mit denen sich solche Effekte messen lassen. In einem zweiten Schritt werden daher diese Indikatoren hinsichtlich ihrer Operationalisierbarkeit für den hier zu untersuchenden Gegenstand und die zu untersuchende Zeit geprüft. Am Ende des Kapitels wird dann der Versuch stehen, in einem einfachen Korrelationsmodell Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Straßenverkehrsinfrastrukturentwicklung aufzuzeigen.

I. Volks- und regionalwirtschaftliche Effekte von Straßenbauinvestitionen 1. Kopplungseffekte Die von Eisenbahnbau und -betrieb ausgehenden Vorwärtskopplungs- und Rückkopplungseffekte stellen eine der zentralen Erklärungen für den deutschen Industrialisierungsprozeß dar. 8 Vorwärtskopplungseffekte bestanden in erster Linie in der allgemeinen Transportkostensenkung und wirkten daher auf alle Branchen, deren Rohstoffe oder Produkte mit der Eisenbahn transportiert werden konnten. Rückwärtskopplungseffekte wurden durch die Nachfrage nach Industriegütern, wie Lokomotiven, Waggons und Schienen und damit auch Eisen, aber auch Bergbauprodukten, wie Kohle und Eisenerz, hervorgerufen. 9 Von der durch die Errichtung der Strecken entstehenden Nachfrage nach Bauleistungen gingen zwar keine unmittelbaren Industrialisierungsimpulse aus. 8

R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 29 ff. H. Wagenblass, Der Eisenbahnbau und das Wachstum der deutschen Eisen- und Maschinenbauindustrie 1835 bis 1860, Stuttgart 1973, S. 85; R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 55 ff. und 74 ff. - Beispiele aus dem Untersuchungsgebiet befinden sich in Kapitel B.III. 9

420

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

Die Beschäftigung einer großen Zahl von Handarbeitern war jedoch mit wichtigen Einkommenseffekten verbunden, deren Ausmaß bislang noch nicht quantifiziert worden ist. Die „relative Autonomie" der Eisenbahninvestitionszyklen im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen und auch speziell der industriellen Entwicklung hat deren Bedeutung zusätzlich gesteigert. 10 So war es angesichts der Krise von 1847, die sich im Regierungsbezirk Erfurt vor allem auf das Textilgewerbe auswirkte, „als ein besonderes Glück für die dortige arbeitende Bevölkerung ... anzusehen, daß die damaligen großen Eisenbahnbauten stets fortgesetzt wurden, wodurch ihr Beschäftigung und Erwerb dargeboten war." 11 In diesem Punkt ergibt sich eine deutliche Parallele zum Straßenbau, der in den vierziger Jahren zum wichtigsten Feld staatlicher Beschäftigungspolitik wurde. 12 Im Gegensatz zu Landwirtschaft und Textilgewerbe, die die Wirtschaftsstruktur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten, waren Verkehrsinvestitionen „von den Schwankungen des direkten Verbrauchs abgehoben".13 Der Chausseebau war somit prädestiniert, antizyklische Beschäftigungseffekte hervorzurufen, und wies dabei eine höhere regionale Flexibilität auf als der Eisenbahnbau. Die entsprechenden Einkommenseffekte waren allerdings geringer als die des privaten Eisenbahnbaus. Das trifft in sicher noch stärkerem Maße für die vom Straßenbau ausgehenden Rückkopplungseffekte zu. Der Einsatz von Technik bei der Herstellung von Verkehrsweg und -mittel war eben deutlich geringer als beim Eisenbahnbau.14 Die Nutzung der Gabbro-Steinbrüche bei Harzburg, die unmittelbar nach Vollendung der Braunschweig-Harzburger Eisenbahn einsetzte, ist allerdings ein Beispiel, in dem die Nachfrage nach Straßenbaumaterialien in Verbindung mit der von der Eisenbahn bewirkten Transportkostensenkung zur Gründung eines Unternehmens führte. 15 Seit den fünfziger Jahren wurde die Industrie der

10

R. Spree, Wachstumszyklen, S. 303 ff., besonders S. 316. F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 1. Abth., 1853, S. 797. 12 Vgl. Kapitel E.IV. und I.II, sowie W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 359. 13 H. Best, Interessenpolitik, S. 58. - Verkehrsleistungen wiesen im übrigen relativ große und stabile Wachstumsraten auf. R. Spree, Wachstumszyklen, S. 119 ff. 14 W.R. Ott, Grundlageninvestitionen, S. 325. 15 "Ursprünglich befanden sich die größten Brüche im Kreis Helmstedt. Einen Aufschwung nahm dieser Gewerbezweig vor allem seit den dreißiger Jahren mit dem wachsenden Chausseebau; zu dieser Zeit wurden vor allem im Amt Harzburg mehrere große Steinbrüche begonnen, deren Erzeugnisse mit der neu angelegten Eisenbahn in den nördlichen Teil des Herzogtums und auch ins 'Ausland' transportiert wurden." F. Tenner, Hundert Jahre Gabbro-Brüche 1838-1938, Bad Harzburg 1939, zitiert in: H. Theissen, Industrielle Revolution, S. 318 f . - D i e Initiative zur Nutzung der Steinbrüche ging von Baurat Voigt aus. Vgl. Brinckmann, Landstraßen, S. 321; U. Baldermann, Entwicklung des Straßennetzes, S. 27. 11

I. Volks- und regionalwirtschaftliche Effekte von Straßenbauinvestitionen

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Steine und Erden zu einem besonders für die strukturschwachen Gebiete des Herzogtums Braunschweig wichtigen Wirtschaftsfaktor. 16 Die in den Steinbrüchen gewonnenen Straßenbaumaterialien wurden seit der Jahrhundertmitte in Schotterfabriken zerkleinert, wozu ein beträchtlicher Energieaufwand notwendig war, der oft den Einsatz von Dampfmaschinen erforderte. Über die Existenz derartiger Unternehmen im Untersuchungsgebiet ist jedoch ebensowenig bekannt wie über die Herstellung von Dampfwalzen, die seit den vierziger Jahren zur Verdichtung des Baumaterials eingesetzt wurden. 17 Der volkswirtschaftlich wichtigste Effekt des Chausseebaus war zweifellos die Verbesserung der Verkehrswertigkeit der Landstraßen. Dies drückte sich in erster Linie in einer Senkung der Selbstkosten des Fuhrgewerbes aus, die eine Reduzierung der Transportkosten für große Teile des produzierenden Gewerbes bewirkte. Nicht zu unterschätzen waren auch die durch den Chausseebau hervorgerufenen Verbesserungen hinsichtlich der Sicherheit, Berechenbarkeit und Bequemlichkeit des Landtransports. 18

2. Marktintegration Im Zusammenhang mit der Transportkostensenkung trat durch den Eisenbahnbetrieb ein weiterer wesentlicher Effekt auf: die Marktintegration. Obwohl im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der überregionale Handel ständig an Bedeutung gewonnen hat, zerfiel Preußen noch bis zu Beginn des Eisenbahnbaus „in eine Unzahl lokaler Märkte, die schon wegen der unzureichenden Verkehrsverhältnisse nur geringe Kommunikation hatten." 19 Erst die Eisenbahn beseitigte die Unsicherheiten und langen Transportzeiten, ermöglichte Massenguttransporte und eine Spezialisierung der Produktion. Die Schaffung neuer überregionaler Märkte bildete die Grundvoraussetzung für die Konstituierung der deutschen Volkswirtschaft. 20 Derartige Integrationsprozesse schlagen sich in der Nivellierung regionaler Preis- und Lohnunterschiede sowie

16 Vor allem der Kreis Holzminden „exportierte" Kalk, Gips und Glas in großem Umfang. G. Kanzow, Grundzüge der braunschweigischen Industrie, S. 34. 17 M.G. Lay, Geschichte der Straße, S. 102 und 107. 18 Vgl. dazu im einzelnen Kapitel D.I. 19 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S. 28. 20 F. Voigt, Verkehr, S. 550; G. Fischer, Wirtschaftliche Strukturen, S. 65; H. Best, Interessenpolitik, S. 65. Güter wie Steine, Schrott und Kohle waren erstmals auf dem Landwege über größere Strecken transportierbar.

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J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

in einer Angleichung der Branchenkonjunkturen nieder. 21 Beide Prozesse waren eher langfristiger Natur, was auch darin begründet lag, daß die Herausbildung eines flächendeckenden Eisenbahnnetzes etwa ein Dreivierteljahrhundert in Anspruch nahm und ein nur einigermaßen gleichwertiges Komplementärverkehrsmittel nicht vorhanden war. Gerade weil der Transport auf Achse, Rad und Wagen den Engpaßfaktor des Verkehrssystems darstellte, waren jedoch Unterschiede und Veränderungen der hier anfallenden Kosten und der produzierten Qualität von großer Bedeutung für die Marktintegration und damit für die Verbreitung der Marktwirtschaft schlechthin.22 Die Verbindung der lokalen Märkte kann somit als wichtigster Multiplikatoreffekt des Chausseebaus angesehen werden. 23 Diese Bedeutung hatte er jedoch weniger für die klassischen Führungssektoren der Industrialisierung, sondern vorrangig für Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Handel und Heimgewerbe. Der Chausseebau hat seit 1815 auch in Preußen zur Nivellierung der regionalen Getreidepreisunterschiede beigetragen. Der endgültige Sieg über den Hunger als regionales Verteilungsproblem blieb allerdings der Eisenbahn vorbehalten. 24

3. Regionale Konvergenz und Divergenz Aus dem Integrationseffekt resultiert letztlich auch die Wirkung der Verkehrsinfrastrukturverbesserung auf regionale Disparitäten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß im Untersuchungszeitraum von der Straßennetzentwicklung nivellierende, vom Eisenbahnbau hingegen eher differenzierende Effekte ausgingen.25 Das resultiert schon aus der Affinität von größeren Personen- sowie Massenguttransporten zur Eisenbahn. Auf den Chausseen bewegte sich hingegen meist ein auf wesentlich kleinere Transporteinheiten verteilter Nahverkehr. 26 Die Eisenbahn verstärkte also zunächst regionale Unterschiede, etwa durch die Aufhebung des natürlichen Importschutzes, wurde später jedoch als wichtiges Instrument einer sich im Deutschen Kaiserreich herausbildenden, auf 21

Zur Nivellierung der Weizenpreisunterschiede in Europa sowie innerhalb Preußens als Folge der Eisenbahn: H. Witte, Lebensadern der Wirtschaft, S. 171. Zur Konjunktur: R. Spree, Wachstumszyklen, S. 259. 22

H.-W. Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 156, weist auf die um 1860 immer noch starken Lohn- und Preisgefälle und unterschiedliche Konjunkturen im Zollverein hin. 23 W. Radtke, Preußische Seehandlung, S.l 17. 24 F. Voigt, Verkehr, S. 441; G. Fischer, Wirtschaftliche Strukturen, S. 488. 25 F. Voigt, Verkehr, S. 444. 26 E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 116.

I. Volks- und regionalwirtschaftliche Effekte von Straßenbauinvestitionen

423

Wohlstandsausgleich gerichteten regionalen Strukturpolitik eingesetzt.27 Dabei spielten erneut straßenbaupolitische Erfahrungen eine Rolle. Jeweils zwei bis drei Jahrzehnte vor der Eisenbahn waren in analoger Form die Hauptverkehrslinien chaussiert worden, um sich danach auf die Ostprovinzen zu konzentrieren. 28 Die Konzentration des Staatschausseebaus auf die Ostprovinzen war allerdings nur möglich, weil der Fernverkehr auf die Eisenbahnen übergegangen war, in den westlichen und mittleren Provinzen die Hauptverkehrslinien chaussiert waren und weil gleichzeitig Kreise, Kommunen und Private die Straßen zweiter und dritter Ordnung ausbauten. Daraus resultierte natürlich auch, daß trotz der staatlichen Bevorzugung der Ostprovinzen das West-OstGefälle in der Chausseenetzdichte insgesamt gestiegen ist. 29 Wenn es schon der preußischen Eisenbahnpolitik Ende des Jahrhunderts nicht gelang, das Einkommensgefälle abzubauen, so konnte sich die Straßenbaupolitik der fünfziger und sechziger Jahre erst recht nicht gegenüber wirkungsmächtigeren Strukturfaktoren durchsetzen. 30 Allerdings beschränkten sich die regionalen Entwicklungsdifferenzen im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht auf den Ost-West-Gegensatz. Die Abschwächung der Unterschiede zwischen ländlichen Räumen und Agglomerationen in großen Teilen Nordwest- und Mitteldeutschlands gehört zu den weniger beachteten, gleichwohl wichtigsten Trends der regionalen Entwicklung nach 1870.31 Sowohl im Herzogtum Braunschweig als auch in der preußischen Provinz Sachsen bereitete die Verdichtung der Straßennetze diesen Integrationsprozeß vor. Allerdings spielten regionalpolitische Überlegungen, etwa zur Förderung peripherer Regionen, in der Provinz Sachsen bis 1870 kaum eine Rolle. Im Gegensatz dazu betrieb das Herzogtum Braunschweig seit den dreißiger Jahren mit Hilfe des Straßenbaus Regionalpolitik. Diese war nicht nur wegen der kleineren räumlichen Dimension des Herzogtums spürbarer als in Preußen. Braunschweig verfugte eben generell in der inneren Wirtschaftspolitik über größere Gestaltungsmöglichkeiten als Preußen. Die Staatsquote war auch im Straßenwesen höher. Schon aus diesem Grund konnte das kleine Braunschweig viel wirkungsvoller gegen sein Nord-Süd-Gefälle vorgehen als das große Preußen gegen das West-Ost-Gefalle. 32

27 28 29 30 31 32

W. Abelshauser, Staat, Infrastruktur und regionaler Wohlstandsausgleich, S. 18 ff. Vgl. Anlage A 4. Vgl. Anlage A 5. W. Abelshauser, Staat, Infrastruktur und regionaler Wohlstandsausgleich, S. 20. D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 528 ff. Vgl. Kapitel D.III.4. und E.VI.

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J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

4. Weitere Effekte Schließlich soll nur kurz auf drei weitere Effekte der Verkehrsinfrastrukturverbesserung hingewiesen werden, die in der Arbeit innerhalb unterschiedlicher Kontexte bereits eine Rolle gespielt haben. 1. Die Verbesserung der Versorgungswege war eine unabdingbare Voraussetzung für die Urbanisierung. Neben Eisenbahnen und Wasserstraßen waren die Landstraßen vor allem für die Lebensmittelversorgung von Bedeutung, wie Untersuchungen über den Zusammenhang von Stadtnähe und Verkehrsintensität zeigen.33 2. Für die Eisenbahn wird verschiedentlich auf die Nutzung der Tarifpolitik für einkommenspolitische Zielsetzungen hingewiesen.34 Verteilungspolitische Motive spielten aber auch bei den Bestimmungen über die Chausseegeldbefreiungen eine Rolle. 35 3. Die Bedeutung des Eisenbahnbaus für die Entwicklung des Kapitalmarkts, die Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals, die Verbreitung des Aktienwesens und die Herausbildung des deutschen Universalbankensystems ist wohl kaum zu überschätzen. 36 Trotz der relativ geringen Kapitalmobilisierung verdienen aber auch die älteren Chausseebauaktiengesellschaften, mindestens als Teil der Aktienrechtsgeschichte das Interesse der Wirtschaftshistoriker. 37 Das gilt in ähnlicher Weise für die von Kreisen und Kommunen getragenen Chausseebaugesellschaften, die relativ früh bewirkten, daß Selbstverwaltungskörperschaften als Nachfrager auf dem Finanzmarkt auftraten. 38

33

U. Müller, Verkehrsintensität, S. 35. Vgl. u.a. H.St. Seidenfus, Eisenbahnwesen, S. 230. 35 Vgl. Kapitel I.IV. 36 R.H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 59 ff. 37 Vgl. Kapitel F.II, und R. Gador, Die Entwicklung des Straßenbaues. - Die Chausseebauaktiengesellschaften werden von H. Thieme, Statistische Materialien zur Konzessionierung von Aktiengesellschaften in Preußen bis 1867, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1960, T . I I . , S. 285 ff., und P.C. Martin, Die Entstehung des preußischen Aktiengesetzes, aus möglicherweise wohl überlegten, aber nicht genannten Gründen ausgespart. 38 Vgl. Kapitel I.III, sowie U. Müller, Der preußische Kreischausseebau zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Regulierung (1830-1880), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1999/1, S. 11 ff. 34

II. Die Messung wirtschaftlicher Effekte des Infrastrukturausbaus

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II. Die Messung wirtschaftlicher Effekte des Infrastrukturausbaus Während sich die Liste der Effekte vergleichsweise schnell erstellen und auch noch erweitern ließe, erweist sich der empirische Nachweis in der Form von Messungen als komplizierteres Unterfangen. 39 Der Verfasser der jüngsten umfassenderen Arbeit über die Eisenbahnentwicklung in Deutschland kommt zu dem Schluß, daß die Wirkung des Infrastrukturausbaus auf das Wirtschaftswachstum nicht meßbar sei. Dazu fehlten zum einen die Daten. Außerdem lasse „die volkswirtschaftliche Literatur ... auch keinen methodisch befriedigenden Ansatz erkennen." 40 Die wirtschaftshistorische Perspektive hat in dieser Beziehung auch zuvor meist Skepsis hervorgebracht. 41 Im folgenden können daher nur einige methodische Vorüberlegungen genannt werden, die selbstverständlich aus der Perspektive des hier zu behandelnden Gegenstandes und vor dem Hintergrund des bislang ermittelten Datenmaterials entstanden sind.

1. Das Kausalitätsproblem. Verkehrsinfrastrukturinvestitionen als Vorleistung für und Reaktion auf Wirtschaftswachstum Voraussetzung für die statistische Bestimmung der Abhängigkeiten verschiedener Merkmale ist die Festlegung der kausalen Anordnung, denn „eine Interpretation des Regressionskoeffizienten ist nur möglich, wenn eine eindeutige Kausalitätsrichtung unterstellt werden kann." 42 . Diese „ergibt sich allein aus dem fachwissenschaftlichen oder sachlogischen Kontext", kann also von der Statistik nicht ermittelt werden. 43 Geht man von staatlichen Infrastrukturinvestitionen aus, so läßt sich das Problem folgendermaßen formulieren: „Ist die Produktivität deshalb so hoch, weil die Infrastrukturausgaben so hoch sind, oder ist es nicht eher so, daß es sich eine Gesellschaft mit hohem Produktivitätswachstum eher leisten kann, 39 Auch vielen aktuellen Untersuchungen werden theoretische und empirische Schwächen nachgesagt. U. Scheele, Privatisierung, S. 31 f. - „Speculations on the impact of infrastructure have been more prevalent than solid scientific analysis." F. Bruinsma / P. Nijkamp / R. Rietveld, Employment Impacts of Infrastructure Investments, in: K. Peschel (Hrsg.), Infrastructure and the Space-Economy, BerlinHeidelberg 1990, S. 209. 40 D. Ziegler, Eisenbahnen, S. 504. 41 Vgl. z.B. Κ. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 11 ff. 42 D. Kühn, Ursachen, S. 139. 43 J. Sensch, Statistische Modelle in der Historischen Sozialforschung I: Allgemeine Grundlagen - Deskriptivstatistik - Auswahlbibliographie, Köln 1995, (= Historical Social Research, Supplement, Nr. 7), S. 183.

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J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

hohe Infrastrukturausgaben zu tätigen?" 44 Aus allgemeinerer Sicht ist zu konstatieren, daß nicht nur die Infrastruktur die Produktivität steigert, sondern auch die Erhöhung der Nachfrage nach Infrastrukturleistungen auf einer Produktivitätssteigerung basieren muß. Petersilie stellte bereits 1906 fest: „Geringe Verkehrsmittel pflegen auch zum Verkehre nicht zu reizen; der Übergang von extensiver zu intensiver Wirtschaft wird auf allen Gebieten unseres Wirtschaftslebens solange verzögert, als nicht genügende Verkehrsmittel jeder Art für den Umschlag der Produkte sorgen. Eines ist zugleich Ursache und Folge des andern." Diesen Kreislauf könne „nur ein mit elementarer Wucht hervorbrechendes Verkehrsbedürfnis", beispielsweise ein bedeutender Fund von Bodenschätzen sprengen. 45 Die in diesem Zusammenhang stehende Frage nach der Initialzündung der Eisenbahn, dem Verhältnis von Vorleistung und Induzierung durch Nachfrage ist in der wirtschaftshistorischen Forschung bereits erörtert worden und soll noch einmal mit der Kenntnis der Straßenentwicklung aufgegriffen werden. Die von der neoklassischen Wachstumstheorie geleitete wirtschaftswissenschaftliche Infrastrukturforschung sieht Infrastrukturinvestitionen als eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum an. Der Infrastruktur wird dabei nicht nur ein allgemeiner Vorleistungscharakter, sondern auch ein zeitliches Vorangehen vor „direkten produktiven Aktivitäten" zugeschrieben. 46 Die Geschichte des deutschen Industrialisierungsprozesses bestätigt diese These, denn hier war, anders als in England, „der Aufbau des Eisenbahnwesens ... gerade nicht aus dem Bedürfnis der Industrie erwachsen, sondern aus dem Niveau vorindustrieller Transportnachfrage -Personenverkehr sowie der Transport von Handels- und Kaufmannsgütern-, welche das Entstehen des neuen Verkehrsmittels erforderte." 47 Aus dieser Tatsache wird häufig auf die Rückständigkeit des Landstraßenwesens geschlossen. Die Geschichte des Straßenwesens unterstützt nun mit einer ganzen Reihe von qualitativen Hinweisen die These, daß in den dreißiger Jahren die Nachfrage nach Verkehrsleistungen beachtlich gestiegen ist. So entfiel zwar mit der Gründung des Zollvereins das wichtigste politische Motiv zum Straßenbau. Trotzdem wurde das Straßenbauprogramm fortgeführt. Die Rotherschen Bedingungen von 1834 bewirkten erst mehr als zehn Jahre nach ihrer Erarbeitung unter dem Einfluß des Eisenbahnbaus einen Rückgang des Staatschausseebaus. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal auf den Mentalitätswandel hinzuweisen. Anders als um 1800 wollte faktisch jeder Ort einen Straßenanschluß, war jedoch meist noch nicht bereit, selbst die Initiative 44 45 46 47

U. Scheele, Privatisierung, S. 35. E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 131. R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 103. Ebenda, S. 161. Vgl. auch B. Mester, Partikularismus der Schiene, S. 198.

II. Die Messung wirtschaftlicher Effekte des I n f r a s t r u k t u r a u s b a u s 4 2 7

zu ergreifen, und hoffte auf den Staat. Beides beweisen die zahlreich überlieferten Petitionen an die Regierungen und das Handelsministerium. Eine quantitative Analyse des vorhandenen Straßenverkehrs, also der realisierten Nutzung der Infrastruktur, würde eine eigenständige Untersuchung erfordern. Hier kann nur auf zwei Indizien für eine Steigerung des Landstraßenverkehrs in den dreißiger Jahren hingewiesen werden. Zum einen ist die erhebliche Steigerung der Chausseegeldeinnahmen im Königreich Preußen, der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig als Resultat eines zunehmenden Verkehrs anzusehen.48 Außerdem sprechen die Einrichtung und die rasch wachsende Zahl der Schnell- bzw. Eilpostlinien für einen steigenden Bedarf an Personen- und Nachrichtenbeforderung. Dies gilt in besonderem Maße für das Untersuchungsgebiet. So wurde 1819 auf der Strecke Berlin-Magdeburg die erste preußische Schnellpostlinie eröffnet. Eine Betrachtung des bis 1845 in den deutschen Bundesstaaten entstandenen Schnellpostnetzes zeigt, daß dieses in einem am nördlichen Mittelgebirgsrand von Dresden über Magdeburg und Braunschweig nach Köln verlaufenden Streifen die höchste Dichte aufwies. 49 Sicherlich beseitigte der beginnende Eisenbahnbau einen Verkehrsengpaß. Es wird dabei jedoch oft übersehen, daß gerade in Preußen nur wenige Jahre zuvor durch die schrittweise Verwirklichung des Chausseebauprogramms auf vielen wichtigen Handelsrouten die Transportkosten bedeutend gefallen waren. Beispielsweise sanken die Kosten für den Transport von einem „Centner Landfracht" zwischen Berlin und Breslau nach der Fertigstellung der Chaussee im Jahre 1825 von 5 Talern „bei Versendungen größerer Parthieen auf nur noch 1 Rthlr. 5 Sgr. bis 1 Rthlr. 10 Sgr. Breslau und Berlin benötigen jetzt nur weniger Tage zu ihren wechselseitigen Transporten auf der Achse, statt der Wochen, welche die Schiffahrt erfordert. Dies nämliche Verhältniß findet auch auf andern Handelsstraßen statt. Es geht jetzt also eine große Zahl von Centnern, welche die höhere Fracht tragen können, von der Schiffahrt auf die Landfracht über." 50 Neben dem „Übergang" der Güter von einem Verkehrsträger zum anderen stieg das Frachtaufkommen generell an, denn eine Transportkostensenkung bewirkte immer auch die Erweiterung der Marktgebiete. Durch die Gründung des Zollvereins kam es zu einer weiteren Kostenentlastung vieler Fernhandelstransporte, so daß die ersten Eisenbahn-

48

Vgl. Kapitel I.IV.; U. Müller, Verkehrsintensität, S. 26 ff. C. Neutsch, Der Beitrag der Post, S. 126 f.; H. Leclerc, Post- und Personenbeförderung in Preußen zur Zeit des Deutschen Bundes, in: W. Lötz (Hg.), Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder, Berlin 1989, S. 171 ff.; G. North, Eine Revolution im Reiseverkehr. Die Schnellpost, in: H. Bausinger u.a. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 291 ff. 50 C.W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis, S. 220 f. 49

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J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

Projekte in eine Zeit fielen, in der die Wirtschaft gerade die von einer Transportkostensenkung hervorgerufenen Wachstumseffekte realisiert oder zumindest aufgezeigt bekommen hat. Die Erweiterung des Straßennetzes bildete in diesem Sinne „eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen einer wirklichen Volkswirtschaft", indem sie „den Wert eines systematisch aufgebauten Verkehrswesens demonstrierte, als man über die Anlage von Eisenbahnlinien nachzudenken begann."51 Diese Sichtweise erklärt auch die Ursprünge der Eisenbahninvestitionseuphorie wesentlich besser als die Vorstellung von einem gegenüber der Produktionssphäre stark zurückgebliebenen Verkehrswesen.

2. Die Indikatorenwahl Grundsätzlich erforderte die Auswahl der Indikatoren sowohl inhaltliche Vorüberlegungen als auch eine Bestandsaufnahme der zur Verfügung stehenden Daten. Da Entwicklungsunterschiede innerhalb des Untersuchungsgebietes aufgezeigt werden sollten, war die Existenz von Kreisdaten unabdingbar. Die Grundgesamtheit der sechs braunschweigischen Kreise erscheint allerdings für eine statistische Untersuchung zu klein, so daß sich die Suche auf die 23 braunschweigischen Ämter und die 41 provinzialsächsischen Kreise bzw. die 39 provinzialsächsischen Landkreise konzentrierte. Messungen der Infrastrukturqualität basieren gewöhnlich auf Kapitalbestand, Ausgabenhöhe oder erbrachten Leistungen.52 Aus bereits dargelegten Gründen konnten hier nur Angaben über die Chausseenetzdichte genutzt werden. 53 Die Auswahl und Ermittlung von Wirtschaftswachstum widerspiegelnden Daten erforderten umfangreichere Vorüberlegungen und Recherchen, deren Resultate hier nur knapp wiedergegeben werden können. Dabei war zunächst der ausdrückliche Hinweis der Infrastrukturtheorie zu beachten, daß der Wachstumseffekt der Infrastruktur in der Regel die Produktivität des Kapitals und nicht unmittelbar die Produktionsmenge betrifft. 54 Daraus resultiert auch die Tatsache, daß den Infrastrukturinvestitionen erst mittel- oder langfristig Wachstumseffekte folgen. Dieses Problem könnte durch die Einbeziehung von

51

W. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 359 f. K. Borchardt, Bedeutung der Infrastruktur, S. 15. 53 Ausführlich dazu Kapitel D.I. Die für den Abschnitt I erhobenen Daten über Straßenbauausgaben lassen keine regionale Aufschlüsselung zu. 54 U. Scheele, Privatisierung, S. 34 f. 52

II. Die Messung wirtschaftlicher Effekte des I n f r a s t r u k t u r a u s b a u s 4 2 9

time-lags gelöst werden, was für die vom Eisenbahnbau ausgehenden Effekte auch praktiziert worden ist. 55 Die Messung von Wirtschaftswachstum kann aus verschiedenen Gründen im Untersuchungszeitraum nicht mit Hilfe von Sozialproduktsdaten erfolgen. 56 Während gesamtwirtschaftliche Untersuchungen auf einigermaßen verläßliche Mengen- und Wertreihen über Produktion, Konsum und Finanzsektor zurückgreifen können, liegen auf Kreisebene nur sehr wenig Daten oder gar Datenreihen vor. Aus diesem Grunde wird häufig mit Angaben über die Bevölkerungsentwicklung gearbeitet. 57 Darauf soll auch hier nicht verzichtet werden, zumal entsprechende Daten auf Kreisebene und in zeitlicher Dimension vorliegen. 58 Überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum oder hohe Bevölkerungsdichte in einem Gebiet können jedoch nicht ohne weiteres mit einer entsprechenden Produktivitätsteigerung in Verbindung gebracht werden. Aus der wirtschaftstheoretischen Definition des Produktivitätsbegriffs wäre sogar auf das Gegenteil zu schließen. Außerdem wurde das Bevölkerungswachstum seinerseits von zahlreichen nichtökonomischen bzw. nicht vom Wirtschafts Wachstum abhängigen Prozessen beeinflußt. Wenn trotzdem demographische Daten herangezogen werden, so läßt sich dies nicht nur mit deren Verfügbarkeit und der üblichen Forschungspraxis begründen. Regionale Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung haben sich eben in der Bevölkerungsbewegung, speziell in den Wachstumsraten niedergeschlagen, wie beispielsweise der absolute Bevölkerungsrückgang im Eichsfeld nach 1849 und das gleichzeitig überdurchschnittliche Bevölkerungswachstum in den sich industrialisierenden Kreisen des nördlichen Harzvorlandes zeigen.59 Gleichwohl sollten auch Indikatoren in die Untersuchung einbezogen werden, die wesentlich eindeutiger als die Bevölkerungsbewegung Veränderungen der Produktivität widerspiegeln. Diese Notwendigkeit wird auch durch eine ältere, von der Forschung weitgehend unbeachtete Untersuchung über die verschiedenen die Bevölkerungsverteilung im Herzogtum Braunschweig beeinflussenden Faktoren verdeutlicht. Der Autor weist hier

55 R. Fremdling, Eisenbahnen, S. 101 f. und 150 f.; R. Spree, Wachstumszyklen, S. 272 und 295 ff. 56 R. Spree / J. Bergmann, Die konjunkturelle Entwicklung, S. 291. 57 H. Kiesewetter, Zur Dynamik der regionalen Industrialisierung, S. 103, bezeichnet die Bevölkerungsdichte als „relativ unproblematischen Indikator" zur Beschreibung der Dynamik regionaler Industrialisierungsprozesse. Vgl. auch G. Hohorst, Demographischökonomische Dynamik im Industrialisierungsprozeß von Regionen unterschiedlicher Aggregationsebenen: Hagen, Ostpreußen, Rheinland und Preußen im Vergleich, in: H. Kiesewetter / R. Fremdling (Hrsg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985; P.B. Huber, Regionale Expansion. 58 Vgl. Kapitel B.V. 59 Vgl. Ebenda.

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J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

darauf hin, daß zwischen der regionalen Struktur des Verkehrsnetzes und der Bevölkerungsdichte lediglich ein „indirekter" Zusammenhang bestand. Ein „ausschlaggebender" Einfluß auf das Verkehrsnetz sei hingegen von der Entwicklung der Industrialisierung ausgegangen.60 Dabei war die Eisenbahn nicht die alleinige Ursache für den allgemeinen Verkehrsaufschwung. Straßenzüge wirkten sogar stärker als sämtliche natürliche Faktoren auf die Standortstruktur der Industrie. 61 Da auf Kreisebene weder Sozialproduktsdaten noch verläßliche Angaben über Produktion oder Konsumtion wesentlicher Güter vorhanden sind, bietet sich als Indikator für die in den einzelnen Regionen erzielten Einkommen zunächst deren Steueraufkommen an. Grundsätzlich lassen sich aus dem Verhältnis von Steueranteil und Bevölkerungsanteil Rückschlüsse auf die Wirtschaftskraft einer Region im Rahmen eines Staates ziehen.62 Im Untersuchungsgebiet existierten jedoch verschiedene Steuersysteme nebeneinander. Daher würde ein Vergleich keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Das gilt für die Grundsteuer, 63 die Gewerbesteuer 64 und die Klassen- bzw. Mahlund Schlachtsteuer.65 Die Produktivität des Produktionsfaktors Kapital kann durch die Zahl und die Leistung der Dampfmaschinen widergespiegelt werden. Eine entsprechende Erhebung auf Kreisebene liegt jedoch leider nur für das Jahr 1849 vor. Sie widerspiegelt also die Ergebnisse der ersten Industrialisierungsansätze und nicht die Mechanisierung im Laufe der fünfziger Jahre. Diese war durchaus beachtlich, wie die Angaben für die drei Regierungsbezirke in den Jahren 1852, 1855 und 1858 gezeigt haben.66 Um den Industrialisierungsprozeß der fünfziger Jahre auch in seiner regionalen Struktur erfassen zu können, mußte also auf die Daten über die Entwicklung der Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten zurückgegriffen werden. Der Anteil dieser Beschäftigten an der

60 F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums, S. 38 f.; Vgl. auch G. Schildt, Tagelöhner, S. 29. 61 F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums, S. 36. 62 Vgl. dazu J. Wysocki, Infrastruktur, S. 189, und die entsprechenden Daten im Anhang. Wysocki nutzt auch den Anteil der direkten Steuern als Indikator für Wirtschaftswachtum. Vgl. Ebenda, S. 188. 63 1850 waren in der Provinz Sachsen 1,72 Mill, der insgesamt 9,89 Mill. Morgen landwirtschaftliche Nutzfläche grundsteuerfrei. Vgl. R. Koselleck, Preußen, S. 526, Anm. 156 und S. 528; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 29. 64 R. Koselleck, Preußen, S. 588 f.; E. Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen, S. 118. 65 Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 98. 66 Vgl. Tabellen 1 und 2.

III. Verkehrsnetzdichten, Industrialisierungsgrad, Bevölkerungsentwicklung

Gesamteinwohnerzahl bezeichnet.

wird

im

folgenden

431

als „Industrialisierungsgrad'

Wegen der Veränderungen in der preußischen Gewerbestatistik 67 lassen sich für die ökonomischen Indikatoren keine längeren Zeitreihen erstellen. Schon aus diesem Grund werden die Angaben über die Netzdichte abschließend mit demographischen Daten konfrontiert. Neben dem Bevölkerungswachstum als indirekter Hinweis auf Wirtschaftswachstum wird hier auch die Bevölkerungsdichte zu betrachten sein. In aktuellen Untersuchungen spielt die Frage, ob eine Proportionalität von Bevölkerungs- und Verkehrsnetzdichte als optimal anzusehen ist oder inwieweit hier Skalenerträge auftreten, eine wichtige Rolle. Letzteres würde schließlich bedeuten, daß bei wachsender Bevölkerungsdichte die Verkehrsausgaben pro Kopf sinken.68

I I I . Korrelationen zwischen Verkehrsnetzdichten sowie Industrialisierungsgrad und Bevölkerungsentwicklung Mit Hilfe der Liste der im Jahre 1858 in der preußischen Provinz Sachsen existierenden Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten konnte auf Kreisebene ein „Industrialisierungsgrad" errechnet werden. Dabei ist zwar zu beachten, daß „Fabriken" und „Fabrikation" im Verständnis der Zeitgenossen durch die Überschreitung der „gewöhnlichen handwerksmäßigen Ausdehnung" sowie die „Fabrikation im Grossen" für einen überregionalen Markt, nicht jedoch durch die Zentralisation der Produktion an einem Ort gekennzeichnet wurden. 69 Daher weist die Tabelle der „Fabrikations-Anstalten" gerade für den Regierungsbezirk Erfurt auch einige dezentrale Textilmanufakturen aus, die mitunter mehr als 50 Heimarbeiter beschäftigten. Allerdings stellten die aufgeführten „Anstalten", zumindest im Nahrungsgüter- sowie im metallverarbeitenden Gewerbe, zweifellos die ersten Industrieunternehmen dar. Außerdem ist davon auszugehen, daß auch das im Verlagssystem organisierte Textilgewerbe ein gut ausgebautes Straßennetz benötigte.

67

Vgl. dazu ausfuhrlich O. Büsch, Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800-1850. Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit, Berlin 1971, S. 151 ff. 68 D. Kühn, Ursachen, S. 92. 69 D. Hilger, Fabrik, Fabrikant, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 238 f.

432

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung Tabelle

38

Unternehmen in der preußischen Provinz Sachsen mit mehr als 50 Beschäftigten im Jahre 1858 insgesamt

Kreis

Anzahl

Besch.

Industriebeschäftigte pro 1000 Einwohner

davon Rübenzuckerfabriken

davon Textiluntemehmen

davon Metallverarbeitung/ Maschinenbau

Anzahl

Anzahl

Besch.

Anzahl

Besch.

1

104

Besch.

Aschersleben

12

1765

9

1520

2

141

Calbe

16

2734

10

2080

2

211 1

Halberstadt

9

983

3

424

Jerichow I

15

1311

1

205

12

914

Magdeburg

1

256

32,52 44,11

60

18,75 22,05

6

591

41,53

27

3433

12

1931

Neuhaidensleben

5

713

4

660

15,77

Oschersleben

6

1211

6

1211

30,93

Osterburg

1

200

1

200

Stendal

2

430

1

130

Wanzleben

7

1638

Wernigerode

2

651

Wolmirstedt

9

1697

8

1412

Bitterfeld

4

515

4

515

Delitzsch

5

2176

Halle

4

532

Liebenwerda

2

596

1

4,61 1

300

9,71

4

1090

27,14

1

550

1

53

1

285

37,86

4

2103

39,28

10,87

270

Mansfelder Gebkr.

5

606

3

476

Mansfelder Seekreis

8

2148

7

1929

Merseburg

6

1010

4

772

Naumburg

4

570

Querfurt

5

757

5

757

Saalkreis

16

2550

12

1803

3

939

Sangerhausen

4

997

Torgau

3

351

Weißenfels

3

347

2

220

Zeitz

6

623

1

156

Erfurt

34,56

13,58 2

596

1

73

14,76 15,65 38,63

1

71

16,85

1

303

22,64 15,16 1

164

46,37

1

58

16,15

2

151

6,26

3

285

16,64

6,28

13

1980

7

1291

Heiligenstadt

3

1188

3

1188

Langensalza

3

636

3

636

18,89

Mühlhausen

15

5516

14

5435

116,15

Nordhausen

23

5492

14

4517

Schleusingen

8

964

3

392

Weissensee

3

1015

10

2495

2

180

Worbis Ziegenrück

10

3

422

35,75 29,47

93,48 3

400

26,57

2

945

39,28

1

110

2495

59,15 12,65

Quelle: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1858, Berlin 1860, S. 538 ff., Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 1. Jg., Berlin 1863, S. 73 f. (Bevölkerungszahlen für 1858)

III. Verkehrsnetzdichten, Industrialisierungsgrad, Bevölkerungsentwicklung

433

Die Branchenstatistik verdeutlicht noch einmal die große Bedeutung der Rübenzuckerfabriken für die Industrialisierung in den Regierungsbezirken Magdeburg und Merseburg. 70 Die Korrelation des Anteils der „industriell Beschäftigten" an der Gesamtbevölkerung mit den Dichten der verschiedenen Verkehrsnetze im Jahre 1862 ergab für die Kreise der Provinz Sachsen durchgehend einen positiven Zusammenhang zwischen Verkehrsinfrastrukturaustattung und Industrialisierungsniveau. Dieses Resultat konnte sicherlich erwartet werden. Bemerkenswert waren hingegen folgende Ergebnisse. Den stärksten Zusammenhang wiesen der Industriebeschäftigtenanteil und die Chausseenetzdichte auf (r = 0,48). Dies kann als Indiz für die große Bedeutung des Straßennetzes im dezentralen Industrialisierungsprozeß der Provinz angesehen werden.

140,00

Ί

u U

1 120,00 S

G

£ 100,00 ο ο

2 α

80,00 -Ι

•j? c,

60,00

χ:



40,00 3

Ό

C



ν

20,00 • 0,00 0,00

- r J 50,00



Χ 100,00

150,00

200,00

250,00

300,00

350,00

Chausseenetzdichte (km/1000 qukm)

Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad (1858) und Chausseenetzdichte (1862) in 39 Landkreisen der preußischen Provinz Sachsen Quelle: Tabelle 38 und A 22.

Vgl. Kapitel B.III. 28 Uwe Müller

434

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

Eine nach Regierungsbezirken getrennte Analyse ergab, daß im Bezirk Magdeburg Verkehrsnetzdichte und Industrialisierungsniveau am stärksten korrelierten (r = 0,75). In diesem Bezirk stand demnach den Industrialisierungszentren eine relativ diversifizierte Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung. 50,00

Ί

45,00 40,00 35,00

• •

30,00 25,00

20,00 15,00

10,00 5,00 0,00-| 0,00

1• 50,00

4 » 100,00

1

1

150,00 200,00

1

1

1

250,00

300,00

350,00

Verkehrsnetzdichte (km/1000 qukm) Abbildung 6: Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad (1858) und Verkehrsnetzdichte (1862) in 14 Landkreisen des preußischen Regierungsbezirks Magdeburg Quelle: Tabelle 38 und A 23.

Im Regierungsbezirk Erfurt korrelierte lediglich die Netzdichte der Nichtstaatschausseen mit dem Anteil der industriell Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung (r = 0,48). Die Signifikanz des Koeffizienten wird durch die aus nur neun Kreisen bestehende, geringe Grundgesamtheit gemindert. Trotzdem dürfte das Ergebnis auf die große Aktivität der Kreise und Gemeinden hinweisen, die weder von Eisenbahnlinien noch von den durch die Fernhandelsrichtungen bestimmten Staatschausseen berührt wurden. Der Nichtstaatschausseebau bot sich für diese Regionen als Alternative an, weil der Bedarf an Massenguttransporten im dezentralen Textilgewerbe relativ gering war.

III. Verkehrsnetzdichten, Industrialisierungsgrad, Bevölkerungsentwicklung

435

140,00

ο ο ο

120,00 100,00

-(-» Λ) 00 c

II

g .s « a 'C 3 "O C

80,00 60,00 40,00

20,00

0,00 0,00

50,00

100,00

150,00

200,00

Nichtstaatschausseenetzdichte (km/1000 qukm)

Abbildung 7: Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad (1858) und Nichtstaatschausseenetzdichte (1862) in 9 Landkreisen des preußischen Regierungsbezirks Erfurt Quelle: Tabellen 39 und A 22.

Die Feststellung eines positiven Zusammenhangs zwischen der Bevölkerungsdichte und der Dichte der verschiedenen Verkehrswegnetze stellt natürlich keine Überraschung dar. Berechnungen fur die 39 Landkreise der Provinz Sachsen im Jahre 1861/62 ergeben Korrelationskoeffizienten von r = 0,61 (Bevölkerungsdichte und Chausseenetzdichte), r = 0,67 (Bevölkerungsdichte und Staatschausseenetzdichte) sowie r = 0,71 (Bevölkerungsdichte und Verkehrsnetzdichte). 71 Insgesamt kamen also die regionalen Differenzen in der Bevölkerungsdichte denen im Gesamtverkehrsnetz näher als in allen Subsystemen der Verkehrsinfrastruktur. Dieses Ergebnis spricht dafür, daß Defizite bei der Ausstattung mit einer bestimmten Wegeart durch die vermehrte Anlegung anderer Systeme ausgeglichen wurden. In der Regel dürfte es sich dabei um die Substitution fehlender Eisenbahnen oder Wasserstraßen durch Chausseebauten gehandelt haben. Ein Vergleich der Chausseenetzdichte mit den Bevölkerungswachstumsraten ergibt eine interessante zeitliche Abstufung. Während sich die Korrelationskoeffizienten bei einem Vergleich der Bevölkerungswachstumsraten zwischen 1816 und 1831, 1831 und 1849 sowie 1849 und 1867 mit der Chausseenetzdichte im Jahre 1862 um den Nullpunkt bewegen, ergibt sich für die Zeit 71

Berechnungen auf der Grundlage von Daten aus A 21 und A 22.

436

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

zwischen 1867 und 1885 ein beachtlicher positiver Zusammenhang (r = 0,66). Die Existenz eines dichten Chausseenetzes zu Beginn der sechziger Jahre bot offensichtlich gute Voraussetzungen für ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum in den folgenden Jahrzehnten, was die These vom Vorleistungscharakter der Infrastrukturinvestitionen auch bezüglich des Chausseenetzes bestätigt.

2,50 η

S

2,00-

• •

1,50-

1,00 0,50·



• • • 4



• •

100

150



0,00· 50

200

250*

300

350

-0,50 -

-1,00 J Chausseenetzdichte (km/ 1000 qukm)

Abbildung 8: Zusammenhang zwischen dem Bevölkerungswachstum zwischen 1867 und 1885 und der Chausseenetzdichte (1862) in 39 Landkreisen der preußischen Provinz Sachsen Quelle: Tabellen A 22 und A 25.

IV. Schlußfolgerungen für weitere quantitative Untersuchungen Aus der Nutzung der deskriptiven Statistik ergeben sich also durchaus einige Hinweise über den Zusammenhang zwischen Verkehrsinfrastrukturentwicklung und Wirtschaftswachstum. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist selbstverständlich Vorsicht angebracht, zumal es sich zweifellos um

IV. Schlußfolgerungen für weitere quantitative Untersuchungen

437

multifaktorelle Zusammenhänge handelt und Autokorrelationen nicht ausgeschlossen werden können. Außerdem können die Ergebnisse wegen der verhältnismäßig kleinen Grundgesamtheit schon durch wenige „Ausreißer" verändert werden. Zur Überprüfung der Ergebnisse sollte also die quantitative Analyse in mehrfacher Hinsicht erweitert werden. 1. Es bietet sich die Nutzung der Regressionsanalyse bis hin zur multiplen Regression an, um beispielsweise über Signifikanztests „sicherere" Ergebnisse zu erhalten. Allerdings sollte zuvor eine ausreichende Qualität der Daten gewährleistet werden. Wenn also beispielsweise die Statistik für einen Teil des Regierungsbezirks Merseburg keine Kreis- und Gemeindechausseen ausweist, obwohl dort Steinstraßen vorhanden waren, 72 so lassen sich diese Fälle bei der Beschränkung auf Methoden der deskriptiven Statistik und der Nutzung von Streudiagrammen noch als „Ausreißer" kennzeichnen. Bei der Nutzung „höherer" Verfahren werden diese Ergebnisse in der Regel nicht mehr auf das einzelne Untersuchungselement zurückflihrbar sein. Bei ungenügenden Recherchen über die historischen Hintergründe kann dies zu gravierenden Fehlschlüssen fuhren. 2. Ein auf die Mikroebene orientierter traditioneller geographischer Ansatz ermöglicht die Summierung vieler Einzelbeispiele für den Zusammenhang zwischen der Existenz eines Verkehrsweges bzw. eines Schnittpunktes verschiedener Verkehrswege, der Einwohnerentwicklung eines Ortes sowie dem Werdegang einzelner Unternehmen. Für die Grundgesamtheit Herzogtum Braunschweig ist auf diesem Wege ein positiver Zusammenhang zwischen der Nähe zu einer wichtigen Straße und der Bevölkerungsentwicklung festgestellt worden. 73 Im Jahre 1890 straßenverkehrsgünstig gelegene Ortschaften wiesen bereits am Ende des 18. Jahrhunderts eine höhere Bevölkerungsdichte auf als fern von Straßenzügen gelegene Ortschaften. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs dieser Abstand noch. Allerdings wird durch die isolierte Betrachtung dieses Zusammenhangs der Umstand vernachlässigt, daß die Streuung der Bevölkerungsdichte generell gewachsen ist. 3. Es sollten weitere Indikatoren herangezogen werden, die Infrastrukturqualität und Wirtschaftswachstum widerspiegeln. So dürfte beispielsweise die Verbesserung der Kommunikation die Mobilität der Bevölkerung erhöht

72

Vgl. Kapitel F.IV. F.W.R. Zimmermann, Einflüsse des Lebensraums, S. 35. Vgl. auch W. Asmus, Probleme der Verkehrsstruktur, S. 195 und 205. 73

438

J. Straßenverkehrsinfrastruktur und regionale Wirtschaftsentwicklung

haben.74 Für die Effekte des Straßennetzes war dessen Auslastung, also die Verkehrsintensität von Bedeutung.75 4. Bei diesen Bemühungen sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die Infrastrukturentwicklung nicht nur ökonomischen Notwendigkeiten folgte. Daher stand im Mittelpunkt dieser Arbeit ihre politische Gestaltung, die ihrerseits zahlreichen externen Einflüssen unterlag, aber auch in vielfacher Hinsicht strukturprägend war.

74 75

H. Siebert, Infrastruktur und regionales Wachstum, S. 188. U. Müller, Verkehrsintensität, S. 37 ff.

Κ . Resümee Die Infrastruktur bildet die materielle Grundlage fur die Integrations- und Entwicklungsfähigkeit von Volkswirtschaften. Erst durch den Aufbau einer adäquaten Infrastruktur konnten grundlegende Prozesse der industriellen Revolution, wie die Ressourcenverwendung und die Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, neue Qualitäten erreichen. Die Modernisierung der Infrastruktur leistete somit einen wesentlichen Beitrag zum makroökonomischen Kernprozeß der Industrialisierung, der Institutionalisierung des Wirtschaftswachstums. So ermöglichten die Modernisierung und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur den Austausch von Personen, Gütern und Informationen in größerer Quantität und über größere Entfernungen bei sinkenden Kosten, wodurch die Wirkung des Marktmechanismus verstärkt wurde. Die im 19. Jahrhundert entstandenen, immobilen Infrastrukturen wirken schon durch die Prägung räumlicher Strukturen stärker auf Wirtschaft und Gesellschaft der Gegenwart als die technischen und viele ökonomische und soziale Grundprozesse der Industrialisierung. Außerdem läßt sich bei den Zielen und Instrumenten der praktizierten Infrastrukturpolitik eine beachtliche Konstanz beobachten, obwohl Stellenwert und Wirkungsweise der technischen, ökonomischen und institutionellen Infrastrukturmerkmale historischen Veränderungen unterliegen. Historische Faktoren wirken aber auch in der Form von kulturellen und länderspezifischen Traditionen im wirtschaftspolitischen Denken und Handeln auf Intensität und Ziele der jeweiligen Infrastrukturpolitik. Probleme der Infrastrukturentwicklung beeinflußten ihrerseits Veränderungen ordnungspolitischer Grundsätze. So bestehen Wechselwirkungen zwischen der Ε isenbahn Verstaatlichung und dem Ausbau des Interventionsstaates im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. In ähnlicher Weise beförderte die Notwendigkeit der Chaussierung von Nebenstraßen in den vierziger Jahren die Herausbildung der modernen kommunalen Selbstverwaltung. Die Bereitstellung von Infrastrukturleistungen als öffentliche Güter oder zumindest die intensive Regulierung gegenüber privaten Infrastrukturträgern impliziert einen wesentlichen Einfluß des Staates auf die Infrastrukturentwicklung. Die Staatstätigkeit wird mit Marktversagen oder mit der gesellschaftlichen Nichtakzeptanz der aus dem Marktwirken resultierenden Ergebnisse begründet. In der historischen Realität entsprangen entsprechende staatliche Akti-

440

Κ. Resümee

vitäten tatsächlich aus mangelndem privatwirtschaftlichen Engagement, das seinerseits durch die Nichtausschließbarkeit und die Nichtrivalität im Konsum hervorgerufen wurde. Ein wesentlich wichtigerer Anstoß zum infrastrukturpolitischen Handeln ging im Untersuchungszeitraum jedoch von technologischen Unteilbarkeiten und entsprechend hohen Kapitalkoeffizienten sowie von der Existenz externer Effekte aus. Die seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland vorhandene Bereitstellung des beinahe vollständigen Straßennetzes als öffentliches Gut beruhte jedoch vor allem aus einem seit dem frühen Mittelalter existierenden Eigentumsrecht der Landesherrn (Wegeregal) sowie dem traditionell der Allgemeinheit zustehenden Nutzungsrecht. Die erste Grundsatzentscheidung jeder Infrastrukturpolitik über staatliche oder private Trägerschaft unterliegt im Falle des Straßennetzes somit einer historischen Präfiguration. Als sich um 1800 die materiellen Anforderungen an die Straßenbaupolitik vervielfachten, versuchte der Staat gleichwohl, die Kosten der als notwendig erkannten Verbesserung des Straßennetzes durch die weitere Inanspruchnahme von Wegebaudiensten zu minimieren sowie durch die Billigung und schließlich sogar Förderung von nichtstaatlichen Bau- und Unterhaltungsträgern zu externalisieren. In der Wirtschaftspolitik Preußens und, in geringerem Maße, der anderen deutschen Staaten wurde der merkantilistisch motivierte direkte Staatsinterventionismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch das liberale Laissez-fairePrinzip zurückgedrängt. Parallel zum Abbau von Subventionen, Privilegien und Schutzzöllen sowie zur Privatisierung von Staatsunternehmen erfolgte jedoch eine Verlagerung der wirtschaftspolitischen Aktivitäten auf Investitionen in gesamtwirtschaftlich nützliche Einrichtungen. Die Infrastrukturpolitik beschränkte sich nicht mehr auf die Durchfuhrung einzelner Großprojekte, sondern zielte stärker auf die staatliche und volkswirtschaftliche Integration durch die Errichtung netzartiger Systeme. Den Eisenbahnbau überließ Preußen vor allem deshalb der Privatwirtschaft, weil diese über ausreichend Kapital verfügte, investitionsbereit war, und weil die volkswirtschaftlichen Effekte ihrer Tätigkeit durch das Eisenbahngesetz von 1838 ausreichend regulierbar erschienen. Die Ausweitung infrastrukturpolitischen Handelns stellte einen Reflex auf die Veränderungen sozialer Strukturen im Zuge von Industrialisierung und bürgerlicher Umwälzung dar. Dabei ging es in ökonomischer Hinsicht um die Gewährleistung der interregionalen Arbeitsteilung, deren Wachstum noch über dem des Sozialprodukts lag. Darüber hinaus erforderten die generell wachsende Mobilität in der Gesellschaft und die Zerstörung oder zumindest fortschreitende Auflösung traditioneller Gesellschaftsstrukturen eine Intensivierung der Infrastrukturpolitik sowie die Modernisierung ihrer Ziele und Instrumente.

Κ . Resümee

Inwieweit Infrastrukturpolitik eine bewußte Industrialisierungsförderung darstellte, lediglich auf offensichtliche gesellschaftliche Probleme reagierte oder gar Wirtschaftswachstum behinderte, kann nur durch die Betrachtung konkreter Fälle entschieden werden. Im 18. Jahrhundert wurden die Straßen vorrangig für den Fernverkehr mit hochwertigen oder nur örtlich gewinnbaren Gütern des notwendigen Bedarfs sowie für den Personenverkehr genutzt. Massengutverkehr war nur im lokalen Rahmen rentabel und beschränkte sich demzufolge auf die Versorgung von Städten aus der nächsten Umgebung sowie die Zulieferung an Wasserwege. Die Befestigung der Straßen durch die Chaussierung brachte eine wesentliche Steigerung ihrer Verkehrswertigkeit hervor. Insbesondere im Personenund Postverkehr ermöglichte sie eine Vervielfachung der Reisegeschwindigkeit. Der Güterverkehr profitierte in erster Linie von der Erhöhung der Frachtwagenkapazität auf den befestigten Steinstraßen. Insgesamt erreichten die Transportdienstleistungen durch die zu jeder Jahreszeit befahrbaren Chausseen eine größere Sicherheit und Zuverlässigkeit. Die sich mit der Frühindustrialisierung intensivierenden Marktbeziehungen waren daher auch mit einer Zunahme des Landstraßenverkehrs verbunden. Im Zuge der Eisenbahnbauten gingen zunächst der Personen- und relativ rasch auch der Güterfernverkehr auf die Schiene über. Die Chausseen gewährleisteten den Komplementärverkehr für die hinsichtlich der Netzbildungsfähigkeit unterlegenen Eisenbahnen, spielten in der Versorgung der wachsenden Städte mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen weiterhin eine wichtige Rolle und dienten in nicht von der Eisenbahn berührten Gebieten auch dem überregionalen Verkehr. Dabei vollzogen sich grundlegende Veränderungen des Stellenwertes einzelner Straßenzüge. Das Wachstumstempo des Chausseenetzes erreichte erst durch den Ausbau der Nebenstraßen seinen Höhepunkt. Grundsätzlich geht mit der Ökonomisierung der Gesellschaft im Zuge ihrer Modernisierung auch ein Motivwandel in der Infrastrukturpolitik einher. Bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein rangierten in der Straßenbaupolitik wirtschaftliche Motive hinter machtpolitischen, militärischen und administrativen Erwägungen. Mit der Verbreitung des Merkantilismus gewannen dann wirtschaftliche, vor allem handels- und versorgungspolitische Ziele an Bedeutung. Konkrete Investitionsentscheidungen wurden jedoch weiterhin in erster Linie durch die jeweiligen fiskalischen Effekte bestimmt. Im Vorfeld der Zollvereinsgründung erhielten Linienführungsplanungen und Straßenbauinvestitionen letztmalig einen machtpolitischen Stellenwert. Mit der Liberalisierung der Wirtschaftspolitik wurde die Orientierung am kurzfristigen Gewinn tendenziell von einer stärker wohlfahrtsökonomischen

442

Κ. Resümee

Perspektive zurückgedrängt. Allerdings diente der Rückzug der Zentralstaaten aus dem Straßenbau auch der Verminderung von Staatsausgaben. Infolge der Industrialisierung und des Eisenbahnbaus zielte die Straßenbaupolitik nicht mehr allein auf die Handelspolitik, sondern diente auch der Gewerbeförderung und der Konstituierung lokaler Nahrungsmittelmärkte. In ihrer Linienführung orientierten sich die neuen Chausseen nicht mehr ausschließlich an den Richtungen des überregionalen Transitverkehrs, sondern stärker an den Bedürfnissen der lokalen Wirtschaft. Trotz dieses Prämissenwechsels blieben jedoch unmittelbare Vorleistungen für die Entwicklung spezieller Unternehmen oder Branchen die Ausnahme. Es gab also keine gezielte Industrialisierungsförderung durch Straßenbaupolitik. Als Mittel der Strukturpolitik diente der Straßenbau vorrangig der Verminderung sozialstruktureller und zum Teil auch regionaler Einkommensdifferenzen und damit auch der politischen Systemstabilisierung. Am Ende des 18. Jahrhunderts wies die Qualität der Landverkehrsinfrastruktur, die sich anhand der Dichte des Chausseenetzes messen läßt, im Untersuchungsgebiet einen beträchtlichen Entwicklungsrückstand gegenüber südwestdeutschen Territorien sowie generell gegenüber Westeuropa auf. Die Ursachen dieses Defizits lagen sowohl in geographischen Faktoren als auch in dem weitgehenden Fortbestand der mittelalterlichen Wegeverfassung. So verfügte Preußen über ein relativ gutes Netz aus natürlichen Wasserwegen und Kanälen. Für den Chausseebau geeignete Straßenbaumaterialien existierten hingegen in den mittleren und östlichen Provinzen nur in geringem Umfang. Die entscheidende Retardation ging jedoch von der das Wegerecht bestimmenden Frondienstverfassung aus. Die Herstellung und Unterhaltung von Steinstraßen konnte aus technischen, rechtlichen und politischen Gründen nicht mehr ausschließlich durch die Inanspruchnahme von Frondiensten realisiert werden. Die Staaten waren jedoch nicht bereit oder nicht in der Lage, Kapital und freie Arbeitskräfte in ausreichendem Maße zu mobilisieren. Die Erfolge kameralistischer Straßenbaupolitik beschränkten sich daher auf die juristische Kodifizierung von Bau- und Unterhaltungsvorschriften, die Erstellung von Straßenklassifizierungen sowie den Aufbau einer zentralistischen Wegeadministration. Die Tätigkeit dieser Verwaltung bestand allerdings bis zur Inangriffnahme der ersten Chauseebauprojekte lediglich in der Straßenaufsicht. Die Staaten setzten vor der Chaussierung nur geringe finanzielle Mittel zur Verbesserung der Straßen ein. Für die Fürsten stand nach wie vor die Nutzung des Wegeregals als Einnahmequelle im Vordergrund. Chausseebauten erwiesen sich jedoch trotz der Erhebung von Chausseegeldern aus kurzfristig fiskalischer Perspektive meist als Verlustgeschäfte und wurden deshalb nur sehr zögernd in Angriff genommen. Weil in Mitteleuropa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Κ. Resümee

nur der Staat in der Lage war, eine grundlegende Verbesserung des Straßennetzes zu erreichen, zog sich die Diffusion der Innovation Chaussee über mehrere Jahrzehnte hin. Ein systematischer Ausbau des Chausseenetzes durch die jeweiligen Staaten begann im Herzogtum Braunschweig in den 1780er Jahren und in der preußischen Provinz Sachsen ab 1815. Die Linienführungen der ersten Chausseen zeigen, daß die Straßen der wirtschaftlichen und politischen Integration der Staaten dienen sollten. In Braunschweig wollte man außerdem die Stellung der Landeshauptstadt im Fernhandel sichern. Der Ost-West-Verkehr durch die Provinz Sachsen erlangte für die Verbindung des preußischen Zentrums mit den wirtschaftlich und machtstrategisch wichtigen Westprovinzen gesamtstaatliche Bedeutung. In den zwanziger und dreißiger Jahren erhielt der Staatsstraßenbau als Mittel der preußischen Zollvereinigungspolitik eine zusätzliche Aufwertung. Die an mehrere mitteldeutsche Staaten angrenzenden Regierungsbezirke Merseburg und Erfurt wurden in dieser Zeit mit einem vergleichsweise dichten Staatschausseenetz ausgestattet. In Analogie dazu unterstützte der braunschweigische Straßenbau die außenhandelspolitische Orientierung auf das Königreich Hannover. Die Versuche, den preußischen Ost-West-Verkehr auf braunschweigisches Territorium zu ziehen, scheiterten hingegen weitestgehend. Im Unterschied zu Preußen beschäftigte sich der braunschweigische Staat seit den dreißiger Jahren mit der Netzverdichtung durch Nebenstraßenbau. Seit den fünfziger Jahren wurde der Staatschausseeneubau in beiden Untersuchungsgebieten stark eingeschränkt. Nach der Reichseinigung übertrug Preußen seine Chausseen an die neu gegründeten Provinzialverbände. Die Straßenverkehrsinfrastrukturpolitik wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl in Preußen als auch im Herzogtum Braunschweig durch die Exekutive, also die Staatsbürokratie bestimmt. Mit der Fertigstellung des Hauptstraßennetzes setzte eine Tendenz zur Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen ein, die durch den Eisenbahnbau verstärkt wurde. Andererseits erforderte die höhere Spezialisierung und Qualifizierung der Beamten und die Nutzung der Straßenbaupolitik für Ziele der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik weiterhin zentrale Entscheidungsträger. Vor diesem Hintergrund wurde die Dezentralisierung der administrativen Strukturen von einer wesentlich langsamer verlaufenden Dekonzentration begleitet. Nach der Gründung des Zollvereins versuchte die preußische Ministerialbürokratie, zunächst die Kosten des Staatschausseebaus zu verringern, indem sie den Straßenanschluß der Gemeinden von deren Verpflichtung zur entschädigungslosen Bereitstellung von Grund und Boden sowie zur Leistung unentgelt-

444

Κ. Resümee

licher Fuhrdienste abhängig machte (Rothersche Bedingungen). Seit 1836 wollte man schließlich den Staatsstraßenbau auf einzelne sozial- oder regionalpolitisch wichtige Projekte beschränken. Ökonomische Grundlageninvestitionen sollten durch Private oder Gebietskörperschaften vorgenommen werden. Diese Haltung resultierte aus wirtschaftsliberalen Politikauffassungen sowie aus der Erkenntnis, daß die Eisenbahn eine grundlegende Veränderung der verkehrsökonomischen Bedeutung des Landstraßennetzes bewirkte. Ein spürbarer Rückgang der Ausgaben für Staatschausseeneubauten konnte jedoch erst in den fünfziger Jahren erreicht werden. Dieser Umstand ist auf die für Infrastrukturinvestitionen typische technologische Unteilbarkeit, jedoch vor allem auf den Rückstand der östlichen Provinzen sowie auf beschäftigungspolitisch motivierte Straßenbauten im Vormärz zurückzuführen. Im Herzogtum Braunschweig konnte die Exekutive die straßenbaupolitische Zuständigkeit auch nach der Verfassung von 1832 gegenüber den Landständen behaupten. Die seit den vierziger Jahren angestrebte Umwandlung der bereits vom Zentralstaat ausgebauten Nebenstraßen in „Communicationswege" scheiterte jedoch am Widerstand der Gemeinden gegen eine Erhöhung ihrer Wegebaulasten. Im Gegensatz zur Chaussierung der Fernhandelsstraßen konnte der Ausbau des Nebenstraßennetzes seit den vierziger Jahren nicht mehr durch die Zentralstaaten erfolgen. Nach einem zwischenzeitlichen Aufschwung des Privat- und Aktienchausseebaus im Preußen der vierziger Jahre wurde seit den fünfziger Jahren der sogenannte Nichtstaatschausseebau vorrangig von den Kreisen und Gemeinden getragen. Diese Entwicklung wurde durch das latente Mißtrauen der Bürokratie gegenüber privaten Infrastrukturträgern, aber auch durch die den in den Kreistagen dominierenden Rittergutsbesitzern eingeräumte Möglichkeit, die Straßenbaukosten auf alle steuerpflichtigen Kreiseinwohner zu verteilen, maßgeblich befördert. Als wichtigstes Argument gegen die Konzessionierung privater Straßenbauten führte die Beamtenschaft die nicht vorhandene Gewährleistung einer regelmäßigen Unterhaltung an. Die Möglichkeit zum Kreischausseebau bestand in der preußischen Provinz Sachsen seit 1841, als den vorparlamentarischen Kreisversammlungen das Recht eingeräumt wurde, zur Finanzierung gemeinnütziger Einrichtungen eigene Steuern zu erheben sowie Kredite aufzunehmen. Die Kreise erhielten außerdem das Bodenenteignungs- und Chausseegelderhebungsrecht. Nach mannigfaltigen Anlaufschwierigkeiten erlebte der Kreischausseebau seit Anfang der fünfziger Jahre einen enormen Aufschwung. Dieser wurde auch durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung und die staatliche Förderung, insbesondere durch Subventionen, die zwischen 10 und 35% der Baukosten ausmachten, ermöglicht. Die konkrete Höhe der Staatssubventionen wurde entsprechend der Wichtigkeit der Projekte für den Verkehr, dem Kostenbedarf, der

Κ . Resümee

Leistungsfähigkeit der beteiligten Träger sowie einer eventuellen Entlastung des Staatshaushaltes durch die Chaussierung einer fiskalischen Landstraße festgelegt. Der Kreischausseebau stellte vor 1872 das wichtigste Experimentierfeld für die wirtschaftliche Tätigkeit von Gebietskörperschaften dar, die im Kaiserreich bis dahin ungeahnte Ausmaße annehmen sollte. Zur Finanzierung wurden Anleihen, zweckgebundene Steuern, Nutzungsgebühren, staatliche Subventionen sowie spezielle Beiträge von Gemeinden und Unternehmen herangezogen. In diesem Zusammenhang entwickelten die Kreise relativ moderne Methoden zur Regulierung der sozialen und regionalen Lastenverteilung. Im kleinen, eher zentralistischen Herzogtum Braunschweig chaussierten die Gemeinden die „Communikationswege" bei fortdauernder Gültigkeit des traditionellen Wegerechts. Die Kompetenzen der Kreisverwaltungen wurden 1832 und 1840 erhöht, so daß diese für die Planung und Beaufsichtigung sowie die Verteilung der aus dem zentralen Staatshaushalt zur Verfügung gestellten Mittel verantwortlich waren. Eine eigenständige Trägerschaft übernahmen die braunschweigischen Kreise erst mit der Gründung der Kreiskommunalverbände im Jahre 1871. Insgesamt wirkten also Kreise und Gemeinden sowohl als Gebietskörperschaften als auch als untergeordnete Exekutivorgane der staatlichen Administration. Im südlicheren Teil des Regierungsbezirks Magdeburg setzte die erste Phase der Industrialisierung in den vierziger, im Regierungsbezirk Merseburg sowie im nördlichen Teil des Herzogtums Braunschweig in den fünfziger Jahren ein. Als Führungssektor fungierte die auf eine intensive Landwirtschaft aufbauende Nahrungs- und Genußmittelindustrie, speziell die Rübenzuckerherstellung. Rückkopplungseffekte stimulierten die Entwicklung der Landwirtschaft, des Braunkohlebergbaus und des Maschinenbaus. Eine Korrelationsanalyse der Daten für die provinzialsächsischen Kreise ergab einen positiven Zusammenhang zwischen dem Bevölkerungswachstum, dem Tempo der Agrarreformen, dem Aufbau der Zuckerrübenwirtschaft sowie deren Mechanisierung durch den Einsatz von Dampfmaschinen. Gleichzeitig verlor das traditionelle Textilgewerbe in seiner ländlichen, heimgewerblichen Form an Konkurrenzfähigkeit und auch an gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Die gegensätzliche wirtschaftliche Entwicklung in den durch den Niedergang der „Protoindustrien" gekennzeichneten Mittelgebirgsregionen einerseits sowie den durch intensive Landwirtschaft und den Aufbau der Nahrungs- und Genußmittelindustrie geprägten Gebirgsvorländern andererseits wird unter Berücksichtigung der Datenverfügbarkeit durch die Analyse von Bevölkerungsdichte und Bevölkerungswachstum am deutlichsten widergespiegelt.

446

Κ. Resümee

Die Industrialisierung des ländlichen Nahrungs- und Gemußmittelgewerbes brachte eine dezentrale Standortstruktur hervor. Die einzelnen Zuckerfabriken benötigten für ihre Roh- und Brennstoffversorgung sowie für ihren Absatz nicht nur das Massengüter im Fernverkehr transportierende Linienverkehrsmittel Eisenbahn, sondern auch ein dichtes, tragfähiges und regelmäßig unterhaltenes Straßennetz. Der preußische Staat war nach der Gründung des Zollvereins und der Herstellung der wichtigsten Fernverbindungen in der Altmark nicht bereit, in der Provinz Sachsen Straßenbauten durchzufuhren. In den vierziger Jahren bauten Gutsbesitzer und Fabrikanten vereinzelt Aktien- und Privatchausseen. Erst durch den Aufschwung des Kreis- und Gemeindechausseebaus in den fünfziger Jahren kam es jedoch zu einer raschen Netzverdichtung. Die in den Wachstumsregionen des Regierungsbezirks Magdeburg gelegenen Kreise verfugten in den sechziger Jahren über die dichtesten Kreischausseenetze, was auf die Wirtschaftskraft der Kreisbewohner und das Interesse der in den Kreisversammlungen dominierenden Großgrundbesitzer und Fabrikanten zurückzuführen war. In den früh industrialisierten Gebieten des Regierungsbezirks Merseburg verzögerte sich hingegen der Beginn des Kreischausseebaus, weil weder Kreise und Gemeinden noch der preußische Staat bereit waren, die nach dem sächsischen Wegerecht „fiskalischen" Straßen zweiter Ordnung zu chaussieren. Mit dem Beitritt zum Zollverein und dem Beginn des hier meist staatlichen Eisenbahnbaus stellte das Herzogtum Braunschweig den Neubau von Staatsstraßen fast vollständig ein. Die weitere Chaussierung des Nebenstraßennetzes wurde im sich industrialisierenden Nordteil größtenteils von den Gemeinden übernommen. Die vom Niedergang der traditionellen Gewerbe geprägten Gebiete des Harz- und Weserdistrikts verfugten in den siebziger Jahren über ein quantitativ und qualitativ mindestens ebenbürtiges Haupt- und Nebenstraßennetz. Dies war wesentlich auf die bis 1840 vorherrschende außenhandelspolitische Orientierung an Hannover und die bessere Ausstattung mit Straßenbaumaterialien zurückzuführen. Außerdem befanden sich in diesem Teil beinahe alle land- und forstwirtschaftlichen sowie gewerblichen Staatsunternehmen, so daß der Fiskus auch weiterhin einen beachtlichen Teil des Nebenstraßenbaus in vollem Umfang trug. Die Eisenbahn veränderte die regionale Wirtschaftsstruktur, indem sie den rationellen Transport industrieller Roh- und Brennstoffe ermöglichte, aber auch die räumliche Unabhängigkeit der Industrie von Rohstoff- und Energiequellen beförderte und gleichzeitig den Absatzradius der Fertigwaren erheblich erweiterte. Dadurch verloren zahlreiche traditionelle Gewerbe ihren natürlichen Importschutz. Durch die Förderung industrieller Ballungen und in ihrer Eigenschaft als ausgesprochenes Linienverkehrsmittel trug die Eisenbahn zum zu-

Κ . Resümee

mindest für die erste Phase der Industrialisierung typischen Wachstum regionaler Disparitäten bei. In der regionalen Entwicklung des Eisenbahnnetzes selbst erfolgte in den achtziger Jahren innerhalb Preußens eine Trendwende zu seitdem dominierender Konvergenz, also zu einer Verminderung des West-OstGefälles. Der preußische Staatsstraßenbau konzentrierte sich seit Mitte der vierziger Jahre auf die bis dahin vernachlässigten Ostprovinzen. Insgesamt wuchsen jedoch auch bei der Straßennetzdichte die regionalen Differenzen innerhalb Preußens, da seit der Jahrhundertmitte der nichtstaatliche Chausseebau dominierte, der sich seinerseits in bereits entwickelten Regionen konzentrierte. Während die braunschweigische Chausseebaupolitik die peripheren Räume des strukturschwachen Weserdistrikts seit den dreißiger Jahren bevorzugte, existierte in Preußen unterhalb der Ebene des allgemeinen Strebens nach Abbau des West-Ost-Gefälles keine die spezifischen Bedürfhisse einzelner Gebiete beachtende regionale Strukturpolitik. Ein wichtiger Fortschritt der Straßen- und Wegegesetzgebung bestand in der Kodifizierung einer in sich stärker differenzierten Straßenklassifizierung, die sich an der Bau- und Unterhaltungspflicht sowie an der Funktion der jeweiligen Straße im Verkehrssystem orientierte und diese beiden Aspekte stärker in Einklang brachte. Die Klassifizierung führte aber auch zu einer strikten Trennung von Chausseen, die daher sowohl technisch als auch juristisch definiert waren, sowie Landstraßen und Wegen. Die Chausseegesetzgebung entwickelte sich folglich unabhängig von den regional sehr unterschiedlichen Regelungen des Wegewesens, wodurch der Erlaß allgemeiner Vorschriften über die Bau- und Unterhaltungsausführungen sowie die Festlegung technischer Standards und deren Kontrolle wesentlich erleichtert wurde. Durch zahlreiche Vorschriften über die Fahrzeugbeschaffenheit konnte der staatliche Unterhaltungsaufwand auf Kosten der privaten Straßennutzer minimiert werden. Die Erfordernisse des Chausseebaus trugen auch zur Herausbildung einer rechtsstaatlichen Enteignungsgesetzgebung und -gerichtsbarkeit mit entsprechenden Entschädigungsregelungen bei, die ihrerseits im Spannungsfeld zwischen dem bürgerlichen Streben nach Schutz des Privateigentums sowie den wohlfahrtsökonomischen Aufgaben des modernen Staates und dessen begrenzter Bereitschaft zur Kompensation stand. Das eigentliche Wegerecht blieb hingegen weitgehend unverändert, da der Staat schon aus fiskalischen Gründen keine Möglichkeit sah, die Unterhaltung der unchaussierten Landstraßen ohne die Wegebaupflicht der Adjazenten bzw. die Inanspruchnahme von Wegebaudiensten zu gewährleisten. Die mit einer

448

Κ. Resümee

Entschädigungszahlung verbundenen Ablösungen der entsprechenden Dienstpflichten kamen daher außerordentlich langsam voran, zumal die Arbeiten im Gemeindeverband organisiert waren und die Bauern auf eine Chaussierung der Straßen auf Staatskosten hofften. Die unchaussierten fiskalischen Straßen, speziell des Regierungsbezirks Merseburg, befanden sich deshalb in einem äußerst schlechten Zustand. Der Staat forderte aufgrund ihrer fehlenden überregionalen Bedeutung den Ausbau als Kreis-, Gemeinde- oder Aktienchausseen, die Gemeinden verwiesen auf die weiterhin bestehende fiskalische Trägerschaft, die unter der schlechten Straßenqualität besonders leidenden Guts- und ländlichen Fabrikbesitzer profitierten von der Lastenverteilung des traditionellen Wegerechts. Im Herzogtum Braunschweig bildeten sich im Gegensatz dazu bei der Chaussierung und Unterhaltung der Landstraßen und Kommunikationswege seit den vierziger Jahren verschiedene Mischformen staatlicher und gemeindlicher Beiträge heraus. Dadurch konnte hier die Chaussierung der Nebenstraßen wesentlich größere Ausmaße annehmen als in der Provinz Sachsen. Im 18. Jahrhundert wurden die Wegebaulasten fast ausschließlich von den Adjazenten und Dienstpflichtigen, also letztlich von den Bauern bzw. Dorfgemeinden, getragen. Die Chaussierung des Straßennetzes erforderte jedoch den Einsatz von Lohnarbeitern, die Vergütung von Straßenbaumaterialtransporten sowie die Ausbildung und Versorgung spezialisierter Beamter. Die Aufwendungen für den Straßenbau wurden deshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum bedeutendsten Bestandteil der Infrastrukturausgaben, die ihrerseits in einer Phase sinkender Staatsquoten der wichtigste die Staatsausgaben steigernde Faktor waren. Von 1815 bis Ende der vierziger Jahre stiegen sowohl die Neubau- als auch die Unterhaltungsaufwendungen für die preußischen Staatschausseen an und erreichten schließlich beinahe 10% der Staatsausgaben. Der Zuwachs der außerordentlichen Neubauausgaben im Vormärz stellt ein Indiz für die zeitweise Dominanz beschäftigungspolitischer Motive gegenüber Verkehrs- und finanzpolitischen Intentionen dar. Seit der Jahrhundertmitte gingen die Neubauausgaben zurück, so daß die Ausgaben für die Unterhaltung und die Subventionierung des von den Kreisen, Kommunen und Privaten getragenen Chausseebaus innerhalb der Straßenaufwendungen eine immer wichtigere Rolle spielten. Die Entwicklung der relativen Bau- und Unterhaltungskosten verstärkte diesen Trend. Der Rückgang des Staatschausseebaus in den fünfziger Jahren wurde also, ähnlich wie die ablehnende Haltung gegenüber dem Staatseisenbahnbau Ende der dreißiger Jahre, auch durch den geringen Spielraum innerhalb des Etats des Handelsministeriums verursacht.

Κ . Resümee

Neben der Finanzierung aus allgemeinen Steuern wurden jedoch entsprechend des seine Gültigkeit behaltenden Wegerechts weiterhin unentgeltliche oder nur gering vergütete Dienste der Anlieger eingefordert. Durch die Erhebung sogenannter Chausseegelder trugen auch die Straßennutzer zur Unterhaltungsfinanzierung bei. Die Chausseegelder dienten, im Unterschied zu den Wegezöllen der frühen Neuzeit, nicht mehr in erster Linie der Erhöhung der Staatseinnahmen. Sie fungierten als Nutzungsgebühren, die die aus dem Fortbestand des traditionellen Wegerechts resultierende unverhältnismäßig hohe Belastung der bäuerlichen Straßenanlieger teilweise ausglichen. Die erzielten Einnahmen lagen unter den Unterhaltungsausgaben. Infolge des Eisenbahnverkehrs und der Verdichtung des Straßennetzes sowie durch die zunehmende Bedeutung des chausseegeldfreien Verkehrs verstärkte sich das Defizit, so daß in den fünfziger und sechziger Jahren nur noch 50% der Unterhaltungsausgaben durch Chausseegeldeinnahmen gedeckt waren. Wegen der sinkenden Einnahmen bei gleichzeitig steigenden Verwaltungsausgaben, den technischen Problemen beim Ausschluß der „free rider" sowie der Annäherung der individuellen Anteile an allgemeiner Steuerlast und Straßennutzung stellten sowohl Preußen als auch Braunschweig in den siebziger Jahren die Chausseegelderhebung auf den Staatsstraßen ein. Die Eisenbahn prägte die Verkehrsinfrastruktur der Industrialisierung in Mitteleuropa. Die Straßenbaupolitik war dagegen in vielfacher Hinsicht exemplarischer für die Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung als die Eisenbahnpolitik. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes veränderte die Bedeutung der Straßen im Verkehrsnetz grundlegend. Die Eisenbahnpolitik wurde jedoch in vielfältiger Weise von den beim Aufbau des Chausseenetzes gesammelten Erfahrungen beeinflußt. So demonstrierte der Staatschausseebau unmittelbar vor dem Beginn des Eisenbahnbaus die von einer grundlegenden Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ausgehenden wirtschaftlichen Effekte. Das in den dreißiger Jahren steigende Verkehrsaufkommen auf den Landstraßen beeinflußte daher die Rentabilitätserwartungen der potentiellen Eisenbahninvestoren. Der Privatstraßenbau zeigte, daß sich in einzelnen Fällen von einer Transportkostensenkung profitierende Unternehmen an Bau und Betrieb von einzelwirtschaftlich nicht rentablen Verkehrswegen beteiligten.Die Straßenbaupolitik war hinsichtlich der allgemeinen Linienführungsprinzipien und der konkreten Linienführungen, speziell bei der Nutzung von Verkehrsbauten als außenpolitische Druckmittel Vorbild für die Eisenbahnpolitik. Straßenbaupolitische Erfahrungen wirkten auf die Eisenbahnpolitik gegenüber privaten Infrastrukturträgern sowie den auf Eisenbahnanschluß hoffenden Gebietskörperschaften.Der Staatschausseebau konzentrierte sich seit dem Beginn des Eisenbahnbaues auf Regionen, deren Erschließung für die Privatbahnen nicht gewinnversprechend waren. Die Ein29 Uwe Müller

450

Κ. Resümee

schränkung des Staatschausseebaus in den fünfziger Jahren begünstigte die Erhöhung der Investitionen in den Staatsbahnbau. Die Privatisierung der Braunschweigischen Staatsbahnen im Jahre 1870 ermöglichte die weitere Verbesserung des Kommunikationswegenetzes. Das Herzogtum Braunschweig begann früher mit dem Chausseebau und verfügte zu jedem Zeitpunkt über ein dichteres Haupt- und Nebenstraßennetz als die preußische Provinz Sachsen. Die Ursache für diesen Vorsprung lag zunächst in dem Charakter eines von einer wichtigen Handelsstadt, die über keinen Wasserstraßenanschluß verfugte, bestimmten Kleinstaates sowie in dem hohen Anteil von direkt dem Herzog dienstpflichtigen Bauern. Das Herzogtum Braunschweig konnte aufgrund seiner Staatseinnahmenstruktur eine höhere Staatsquote als Preußen erzielen. Diesen Umstand nutzte der Staat in erster Linie für eine außerordentlich aktive Infrastrukturpolitik. Die administrativen Strukturen waren zentralistischer als in Preußen. Das Staatschausseenetz umfaßte zahlreiche Straßen von nur lokaler Bedeutung. Das größere Preußen dezentralisierte seine Straßenbauverwaltung wesentlich früher und entwickelte schließlich mit dem von Gebietskörperschaften getragenen Kreis- und Gemeindechausseebau eine den wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechende Finanzierungsform. Aufgrund des veralteten Wegerechtes waren jedoch große Teile der Provinz Sachsen nicht in der Lage, die Netzdichtendifferenz gegenüber dem braunschweigischen Straßensystem zu verringern. Die Chausseen bildeten die wesentliche infrastrukturelle Voraussetzung für die Intensivierung des Güterverkehrs in den zwanziger und dreißiger Jahren. Der Chausseebau stellte in den vierziger Jahren den einzigen Bereich dar, in dem die Staaten zumindest den Versuch antizyklischer Beschäftigungspolitik unternahmen. Nach dem Beginn des Eisenbahnbaus beschränkte sich die unmittelbare Wirkung des Straßengüterverkehrs auf die Konstituierung lokaler Märkte. Gerade weil jedoch der Landstraßentransport zum Engpaßfaktor im Verkehrssystem wurde, waren Unterschiede und Veränderungen der hier anfallenden Kosten und der produzierten Qualität von zentraler Bedeutung für die Marktintegration auf volkswirtschaftlicher Ebene. Eine Analyse der provinzialsächsischen Kreisdaten ergab einen engen positiven Zusammenhang zwischen Chausseenetzdichte und Industrialisierungsgrad sowie zeitlich nachfolgendem Bevölkerungswachstum. Die Verbesserung der Landstraßen durch Chaussierung stellte also auch noch im Eisenbahnzeitalter eine wichtige Grundlageninvestition für industrielles Wirtschaftswachstum dar.

Tabellenanhang

Übersicht Vorbemerkung: Die Tabellen wurden erstens nach der jeweiligen Aggregationsebene und zweitens nach den Indikatoren geordnet. Daten über die preußischen Provinzen bzw. preußischen Regierungsbezirke beziehen sich auf den Gebietsstand vor 1866 unter Ausschluß der süddeutschen Exklaven.

1. Daten über die preußischen Provinzen A 1 : Länge der Staatschausseen und Nichtstaatschausseen in den preußischen Provinzen 1846-1875 A 2: Netzdichte der Staatschausseen und Nichtstaatschausseen in den preußischen Provinzen 1846-1875

2. Daten über die preußischen Regierungsbezirke A 3: Länge der Staatschausseen 1816-1875 A 4: Durchschnittlich jährliches Wachstum des Staatschausseebestandes 1816-1875 A 5: Staatschausseenetzdichte 1816-1875 A 6: Länge der Nichtstaatschausseen und der Chausseen insgesamt 1848-1870 A 7: Durchschnittlich jährliches Wachstum des Nichtstaatschausseebestandes sowie der Chausseen insgesamt 1848-1870 A 8: Dichte des gesamten Chausseenetzes 1848-1870 A 9: Länge der Staatschausseen, Nichtstaatschausseen, Eisenbahnen und Wasserstraßen im Jahre 1862

452

Tabellenanhang

A 10: Dichte des Staatschaussee-, Nichtstaatschaussee-, Eisenbahn- und Wasserstraßennetzes im Jahre 1862 A l l : Bevölkerungszahl 1816-1875 A 12: Durchschnittlich jährliches Wachstum der Bevölkerungszahl 1816-1875 A 13: Bevölkerungsdichte 1816-1875

3. Daten über die provinzialsächsischen Regierungsbezirke A 14: Länge der Staatschausseen 1816-1875 A 15: Länge der Nichtstaatschausseen 1816-1874 A 16: Dichte des Staatschausseenetzes 1816-1875 A 17: Dichte des Nichtstaatschausseenetzes 1816-1874 A 18: Länge der Staats-, Kreis-, Gemeinde-, Aktien- und Privatchausseen sowie der Eisenbahnen und Wasserstraßen im Jahre 1862 A 19: Dichte des Staats-, Kreis-, Gemeinde-, Aktien- und Privatchaussee- sowie des Eisenbahn· und Wasserstraßennetzes im Jahre 1862

4. Daten über die Kreise der preußischen Provinz Sachsen A 20: Länge der Staats-, Kreis-, Gemeinde- sowie der Aktien- und Privatchausseen im Jahre 1862 A 21: Fläche, Bevölkerungszahl und Länge der Eisenbahnen und Wasserstraßen im Jahre 1862 A 22: Dichte des Staats-, Kreis-, Gemeinde- sowie des Aktien- und Privatchausseenetzes im Jahre 1862 A 23: Dichte des Eisenbahn- und Wasserstraßen- sowie des gesamten Verkehrsnetzes im Jahre 1862 A 24: Bevölkerungszahl 1816-1885 A 25: Durchschnittliches jährliches Wachstum der Bevölkerungszahl 1816-1885 A 26: Bevölkerungsdichte 1816-1885 A 27: Ländliche Bevölkerungsdichte und Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Gesamteinwohnerzahl im Jahre 1831

Übersicht

453

5. Daten über Straßenzüge i n der preußischen P r o v i n z Sachsen A 28: Im Jahre 1871 vorhandene Staatschausseen A 29: Zwischen 1830 und 1845 chaussierte Staatsstraßen A 30: Im Jahre 1855 vorhandene Nichtstaatschausseen A 31 : Im Jahre 1864 im Regierungsbezirk Merseburg vorhandene Nichtstaatschausseen

6. Daten über die Kreise des Herzogtums Braunschweig A 32: Länge und Dichte des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre 1850 A 33: Qualität des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre 1850 A 34: Länge und Dichte des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre

1862 A 35: Qualität des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre 1862 A 36: Länge und Dichte des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre 1871 A 37: Qualität des Staatsstraßen- und Kommunikationswegenetzes im Jahre 1871 A 38: Bevölkerungszahl 1793-1890 A 39: Bevölkerungsdichte 1793-1890 A 40: Durchschnittlich jährliches Wachstum der Bevölkerungszahl 1793-1890

7. Daten über die Ämter des Herzogtums Braunschweig A 41: Länge, Qualität und Netzdichte der Gemeindewege (1871) sowie Bevölkerungsdichte (1867) A 42: Bevölkerungsdichte in den braunschweigischen Ämtern 1831-1867

8. Daten über Straßenzüge im Herzogtum Braunschweig A 43: Im Jahre 1863 vorhandene Staatschausseen

Tabellenanhang

454

1. Preußische Provinzen Tabelle A 1 Länge der Staatschausseen und Nichtstaatschausseen in den preußischen Provinzen 1846-1875

1846

1848

Staatschausseen (km) 1852

1862

1875

Rheinprovinz Westfalen Sachsen Brandenburg Schlesien Pommern Posen Preußen

2228 1846 1648 1339 1702 702 483 1097

2244 1995 1726 1357 1793 955 541 1241

2268 2037 1772 1413 1946 1108 615 1630

2355 2160 1875 1463 2409 1253 694 2101

2302 2190 1993 1446 2113 1379 698 2466

Kgr. Preußen

11045

11852

12789

14313

14587

1846

1848

Provinz

Nichtstaatschausseen (km)

Provinz

1852

Rheinprovinz Westfalen Sachsen Brandenburg Schlesien Pommern Posen Preußen

1371 263 133 135 298 0 64 99

1522 459 160 145 587 0 102 163

1836 806 294 691 955 227 291 266

Kgr. Preußen

2363

3138

5365

Provinz

1862

1875

3588 1935 1503 1609 1539 1082 1408 1307 13971

4738 2574 2124 2440 2962 1591 2436 3720 22585

Chausseen insgesamt (km) 1846

1848

1852

1862

1875

Rheinprovinz Westfalen Sachsen Brandenburg Schlesien Pommern Posen Preußen

3599 2109 1781 1474 2000 702 547 1196

3766 2455 1885 1501 2380 955 642 1405

4103 2843 2066 2104 2901 1335 905 1896

5944 4095 3378 3072 3948 2336 2103 3408

7040 4764 4117 3886 5075 2970 3134 6186

Kgr. Preußen

13408

14989

18154

28284

37172

Quellen: Über den Chausseebau, 1847, S. 109 f.; C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 594; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 254; F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abth., S. 2204; von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214; E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 114.

455

1. Preußische Provinzen Tabelle A 2 Netzdichte der Staatschausseen und Nichtstaatschausseen in den preußischen Provinzen 1846-1875

Provinz

Staatschausseenetzdichte

(km/1000 km 2)

Fläche

1846

1862

1875

(km 2)

Rheinprovinz

80,61

85,21

83,29

27.654

Westfalen

88,42

103,47

104,90

20.962

Sachsen

63,06

71,76

76,26

26.174

Brandenburg

32,26

35,25

34,83

41.472

Schlesien

40,44

57,25

50,21

41.798

Pommern

21,45

38,30

42,14

32.777

Posen

15,87

22,81

22,93

30.187

Preußen

16,41

31,44

36,89

66.840

Kgr. Preußen

38,32

49,65

50,60

287.864

Provinz

Netzdichte der Nichtstaatschausseen (km/1000 km 2) 1846

1862

1875

Rheinprovinz

49,60

129,82

171,42

Westfalen

12,59

92,68

123,29

Sachsen

5,10

57,49

81,27

Brandenburg

3,25

38,76

58,78

Schlesien

7,07

36,56

70,38

Pommern

0,00

33,08

48,62

Posen

2,10

46,27

80,02

Preußen

1,49

19,55

55,66

Kgr. Preußen

8,20

48,47

78,35

456

Tabellenanhang

Fortsetzung von Tabelle A 2

Provinz

Dichte des gesamten Chausseenetzes (km/1000 krn^) 1846

1862

1875

Rheinprovinz

130,21

215,04

254,71

Westphalen

101,01

196,15

228,19

Sachsen

68,16

129,25

157,53

Brandenburg

35,50

74,01

93,61

Schlesien

47,51

93,82

120,59

Pommern

21,45

71,38

90,76

Posen

17,97

69,08

102,95

Preußen

17,90

50,99

92,55

Kgr. Preußen

46,51

98,12

128,96

Berechnet nach Tabelle A 1 Quelle für Flächenangaben: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 1, 1851.

. P r i s c h e Regierungsbezirke

457

2. Preußische Regierungsbezirke Tabelle A 3

Länge der Staatschausseen 1816-1875 (km)

Regierungs-

1816

1831

1846

1848

1852

1859

1862

18Ί)

18"5

bezirk 79,1

131,8

223,7

223,7

223,7

224,5

230,5

223,7

224,0

Düsseldorf

448,2

606,3

750,9

764,5

766,8

771,3

754,7

772,0

772,0

Koblenz

284,3

311,8

521,2

523,5

530,3

543,1

536,3

550,6

555,0

Aachen

Köln

154,4

238,8

249,3

249,3

264,4

264,4

313,3

264,4

265,0

Trier

143,1

220,7

482,8

482,8

482,8

483,6

520,5

484,3

486,0

Arnsberg

574,3

816,5

1130,6

1184,0

1189,3

1191,6

1209,6

1202,1

1202,0

Minden

94,2

278,7

398,4

442,1

447,4

488,1

493,3

497,1

497,0

Münster

20,7

114,5

317,1

369,1

400,7

413,5

457,2

474,5

491,0

Erfurt

89,4

222,2

365,3

371,3

375,8

418,0

433,1

467,7

483,0

Magdeburg

114,9

235,0

545,3

594,3

609,3

660,6

632,7

670,3

671,0

Merseburg

261,7

600,3

738,1

760,0

787,1

776,5

809,7

835,3

839,0

56,5

257,6

433,8

433,8

433,8

433,8

450,4

433,8

430,0

Potsdam

152,5

494,9

904,6

922,7

948,3

948,3

1013,1

955,8

959,0

Breslau

263,6

549,8

634,9

663,6

673,4

674,9

905,3

744,9

754,0

Liegnitz

389,8

601,1

825,5

831,5

875,2

915,1

995,0

924,2

925,0

Oppeln

26,4

177,8

241,0

298,3

397,7

427,8

509,2

432,3

434,0

Köslin

0,0

30,9

256,8

381,9

500,1

546,1

575,4

643,2

692,0

Stettin

0,0

66,3

362,3

433,8

462,5

509,9

528,0

538,5

537,0

Stralsund

0,0

0,0

82,9

139,3

145,4

146,1

149,9

149,1

150,0

Bromberg

0,0

114,5

157,4

204,9

281,7

328,4

311,1

329,1

330,0

Posen

0,0

93,4

326,1

335,9

332,9

365,3

383,4

368,3

368,0

Frankfurt

Danzig

8,5

192,1

263,6

280,9

333,7

374,3

421,0

418,8

419,0

Marienwerder

0,0

309,6

335,2

384,1

439,9

472,3

472,3

482,0

488,0

Gumbinnen

0,0

7,5

161,9

186,8

354,8

510,7

592,8

713,3

714,0

Königsberg Kgr. Preußen

0,0

122,0

335,9

389,4

501,6

634,2

615,4

769,0

845,0

3161,6

6793,9

11044,9

11851,6

12758,5

13522,2

14313,1

14344,7

14530,0

Quellen: Über den Chausseebau, 1847, S. 96 f.; C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 598; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, 1853, S. 254; C.F.W. Dieterici, Handbuch der Statistik, 1861, S. 642 ff.; Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats, 1863, S. 500 f.; Die Steinstraßen im preußischen Staate, in: Zeitschrift des Königlich - Preußischen Statistischen Bureaus, 11. Jg., Berlin 1871, S. 373 f.; E. Petersilie, Die Entwicklung der preußischen Chausseen, S. 114.

Tabellenanhang

458

Tabelle A 4 Durchschnittlich jährliches Wachstum des Staatschausseebestandes 1816-1875 (km pro Jahr)

Regierungs-

1816-1831

1831-1846

1846-1859

1859-1875

bezirk Aachen Düsseldorf

3,51

6,13

0,06

-0,03

10,54

9,64

1,56

0,05 0,75

Koblenz

1,83

13,96

1,68

Köln

5,62

0,70

1,16

0,04

Trier

5,17

17,47

0,06

0,15

Arnsberg

16,14

20,94

4,69

0,65

Minden

12,30

7,98

6,89

0,56

Münster

6,25

13,51

7,42

4,84

Erfurt

8,85

9,54

4,06

4,06

Magdeburg

8,01

20,69

8,86

0,65

Merseburg

22,57

9,19

2,95

3,90

Frankfurt

13,41

11,75

0,00

-0,24

Potsdam

22,82

27,32

3,36

0,67

Breslau

19,08

5,67

3,07

4,95

Liegnitz

14,08

14,96

6,89

0,62

Oppeln

10,09

4,22

14,37

0,39

Köslin

2,06

15,06

22,25

9,12

Stettin

4,42

19,73

11,36

1,69

Stralsund

0,00

5,52

4,87

0,24

Bromberg

7,63

2,86

13,15

0,10

Posen

6,23

15,52

3,01

0,17

Danzig

12,24

4,77

8,52

2,79

Marienwerder

20,64

1,71

10,54

0,98

Gumbinnen

0,50

10,29

26,83

12,71

Königsberg

8,13

14,26

22,94

13,18

242,15

283,40

192,94

61,06

Kgr. Preußen

Berechnet nach Tabelle A 3.

. P r i s c h e Regierungsbezirke

459

Tabelle A 5 Staatschausseenetzdichte 1816-1875 (km pro 1000 km 2 )

Regierungsbe-

Fläche

Netzdichte imJahre

zirk (km 2)

1816

1831

1846

1862

1875

52,24

53,82

52,31

4.282

18,47

30,78

Düsseldorf

5.650

79,32

107,32

132,91

133,58

136,64

Koblenz

6.225

45,68

50,09

83,73

86,15

89,16

Aachen

Köln

4.094

37,72

58,32

60,90

76,54

64,73

Trier

7.400

20,89

32,22

65,24

70,33

65,68

Arnsberg

7.990

71,88

102,19

141,50

151,39

150,44

Minden

5.450

17,28

51,14

73,11

90,53

91,20

Münster

7.520

2,75

15,22

42,17

60,80

65,30

3.652

24,49

60,84

100,02

118,58

132,24

Magdeburg

11.919

9,64

19,72

45,75

53,08

56,30

Erfurt Merseburg

10.600

24,69

56,63

69,64

76,39

79,15

Frankfurt

19.961

2,83

12,90

21,73

22,56

21,54

Potsdam

21.505

7,09

23,01

42,06

47,11

44,59

Breslau

14.010

18,82

39,25

45,32

64,62

53,82

Liegnitz

14.080

27,68

42,69

58,63

70,67

65,70

Oppeln

13.702

1,92

12,97

17,59

37,16

31,67

Köslin

14.563

0,00

2,12

17,64

39,51

47,52

Stettin

13.481

0,00

4,92

26,87

39,17

39,83

Stralsund

4.729

0,00

0,00

17,52

31,69

31,72

Bromberg

11.975

0,00

9,56

13,15

25,98

27,56

Posen

18.208

0,00

5,13

17,91

21,06

20,21

8.639

0,98

22,23

30,52

48,74

48,50

Marienwerder

Danzig

18.120

0,00

17,08

18,50

26,06

26,93

Gumbinnen

16.918

0,00

0,45

9,57

35,04

42,20

Königsberg Kgr. Preußen

23.154

0,00

5,27

14,51

26,58

36,50

287.826

10,98

23,60

38,37

49,73

50,48

Berechnet nach Tabelle A 3. Quelle für Flächenangaben: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 1, 1851.

460

Tabellenanhang Tabelle A 6

Länge der Nichtstaatschausseen und der Chausseen insgesamt 1848-1870 (km)

Regierungsbe-

Nichtstaatschausseen im Jahre

Chausseen insgesamt im Jahre

zirk 1848

1859

1870

Aachen

350,2

889,5

Düsseldorf

331,4

706,5

Koblenz

174,7

515,9

Köln

231,2

544,6

Trier

434,6

687,7

Arnsberg

291,5

601,1

Minden

118,3

510,7

Münster

49,7

Erfurt

35,4

Magdeburg Merseburg

1848

1859

1870

1081,6

573,9

1114,0

1305,3

888,0

1095,9

1477,8

1660,1

897,1

698,2

1059,0

1447,7

790,1

480,5

808,9

1054,5

888,8

917,4

1171,2

1373,1

917,4

1475,5

1792,6

2119,5

708,0

560,4

998,7

1205,1

476,8

727,6

418,8

890,3

1202,1

380,4

421,0

406,7

798,4

888,8

63,3

607,8

1153,1

657,5

1268,4

1823,5

61,0

200,4

396,2

821,0

976,9

1231,5

Frankfurt

17,3

635,7

1039,4

451,2

1069,5

1473,3

Potsdam

127,3

761,5

1132,1

1050,0

1709,8

2087,9

Breslau

305,8

830,0

1079,3

969,4

1504,9

1824,3

Liegnitz

90,4

329,1

462,5

921,9

1244,3

1386,6

Oppeln

190,6

641,7

1143,4

488,8

1069,5

1575,7

Köslin

0,0

406,7

714,8

381,9

952,8

1358,0

Stettin

0,0

282,5

500,9

433,8

792,4

1039,4

Stralsund

0,0

184,5

293,7

139,3

330,7

442,9

Bromberg

0,0

372,8

628,2

204,9

701,2

957,3

101,7

964,1

1573,4

437,6

1329,4

1941,7

0,0

30,9

292,2

280,9

405,2

711,0

Posen Danzig Marienwerder

69,3

531,8

1150,1

453,4

1004,0

1632,2

Gumbinnen

0,0

55,7

724,6

186,8

566,4

1437,9

Königsberg

94,2

266,6

1031,1

483,6

900,8

1800,1

3137,8

12415,0

20634,7

14989,4

25937,2

34979,4

Kgr. Preußen

Quellen: C.F.W. Dieterici, Statistische Übersicht, 4. Fortsetzung für 1846 bis 1848, 1851, S. 598; Ders., Handbuch der Statistik, 1861, S. 644 f.; Die Steinstraßen im preußischen Staate, 1871, S. 373 f.

461

2. Preußische Regierungsbezirke Tabelle A 7

Durchschnittlich jährliches Wachstum des Nichtstaatschausseebestandes sowie der Chausseen insgesamt 1848-1870 (km pro Jahr)

Regierungs-

Nichtstaatschausseebau

bezirk

1848-1859

Aachen

49,03

Düsseldorf Koblenz Köln

1859-1870

Chausseebau

Nichtstaats-

insgesamt

chaussee-

Chausseebau

bau

insg.

1848-1870

1848-1870

17,39

33,24

33,24

34,72

16,57

25,30

25,64

32,80

35,33

32,83

34,07

29,85

22,32

25,40

26,09 20,71

1848-1859

17,46

49,09

34,10

16,50

31,02

34,65

28,48

22,32

1859-1870

Trier

23,01

18,28

23,08

18,35

20,64

Arnsberg

28,14

28,76

28,83

29,72

28,45

29,27

Minden

35,67

17,94

39,85

18,76

26,81

29,31

Münster

38,82

22,80

42,86

28,35

30,81

35,61

Erfurt

31,36

3,70

35,61

8,22

17,53

21,91

Magdeburg

49,51

49,57

55,53

50,46

49,54

53,00

Merseburg

12,67

17,80

14,17

23,14

15,24

18,66

Frankfurt

56,22

36,70

56,22

36,70

46,46

46,46

Potsdam

57,65

33,69

59,98

34,37

45,67

47,18

Breslau

47,66

22,66

48,68

29,03

35,16

38,86

Liegnitz

21,71

12,12

29,31

12,94

16,91

21,12

Oppeln

41,02

45,60

52,79

46,01

43,31

49,40

Köslin

36,98

28,01

51,90

36,84

32,49

44,37

Stettin

25,68

19,86

32,59

22,46

22,77

27,53

Stralsund

16,78

9,93

17,39

10,20

13,35

13,80

Bromberg

33,89

23,21

45,12

23,28

28,55

34,20

Posen

78,40

55,39

81,07

55,67

66,90

68,37

Danzig

2,81

23,76

11,30

27,80

13,28

19,55

42,04

56,22

50,05

57,11

49,13

53,58

Gumbinnen

5,07

60,80

34,51

79,22

32,94

56,87

Königsberg

15,68

69,50

37,93

81,76

42,59

59,85

843,38

747,24

995,25

822,02

795,31

908,63

Marienwerder

Kgr. Preußen

Berechnet nach Tabelle A .

Tabellenanhang

462

Tabelle A 8 Dichte des gesamten Chausseenetzes 1848-1870 (km pro 1000 k m 2 )

1870

Regierungsbezirk

1848

1859

Aachen

134,03

260,15

304,83

Düsseldorf

193,97

261,56

293,82

Koblenz

112,16

170,12

232,55

Köln

117,39

197,60

257,59

Trier

123,97

158,27

185,55

Arnsberg

184,67

224,36

265,27

Minden

102,83

183,27

221,14

Münster

55,69

118,39

159,86

111,36

218,60

243,34

Magdeburg

55,17

106,42

153,00

Merseburg

77,45

92,16

116,18

Frankfurt

22,60

53,58

73,81

Potsdam

48,82

79,51

97,09

Breslau

69,19

107,42

130,21

Liegnitz

65,48

88,37

98,48

Oppeln

35,67

78,06

115,00

Köslin

26,22

65,43

93,25

Stettin

32,18

58,78

77,10

Stralsund

29,46

69,92

93,65

Bromberg

17,11

58,56

79,94

Posen

24,03

73,01

106,64

Danzig

32,52

46,91

82,30

Marienwerder

25,02

55,41

90,07

Gumbinnen

11,04

33,48

84,99

Königsberg

20,88

38,91

77,75

Kgr. Preußen

52,08

90,22

121,72

Erfurt

Berechnet nach Tabellen A 5 und A 6.

463

. P r i s c h e Regierungsbezirke Tabelle A 9 Länge der Staatschausseen, Nichtstaatschausseen, Eisenbahnen und Wasserstraßen im Jahre 1862 (km)

Regierungsbezirk

Staats-

Nichtstaats-

Eisen-

Wasser-

moderne

chausseen

chausseen

bahnen

straßen

Verkehrswege

Aachen

230,5

937,7

103,2

0,0

1.271,4

Düsseldorf

754,7

722,3

396,9

255,3

2.129,3

Koblenz

536,3

654,5

223,7

253,8

1.668,3

Köln

313,3

559,6

169,5

94,2

1.136,6

Trier

520,5

714,0

164,2

283,2

1.681,9

1.209,6

810,4

396,9

132,6

2.549,6

Minden

493,3

580,0

172,5

133,3

1.379,1

Münster

457,2

544,6

146,1

121,3

1.269,1

Erfurt

433,1

389,4

9,8

15,8

848,1

Magdeburg

632,7

882,0

352,5

317,9

2.185,0

Merseburg

809,7

231,2

351,0

379,6

1.771,5

Frankfurt

450,4

779,6

371,3

493,3

2.094,6

Potsdam

Arnsberg

1.013,1

829,3

437,6

1.056,0

3.335,9

Breslau

905,3

626,7

320,9

176,2

2.029,1

Liegnitz

995,0

268,1

282,5

96,4

1.642,0

Oppeln

509,2

644,0

553,6

224,5

1.931,2

Köslin

575,4

525,0

102,4

0,0

1.202,9

Stettin

528,0

351,7

177,0

505,4

1.562,1

Stralsund

149,9

205,6

0,0

45,2

400,7

Bromberg

311,1

429,3

227,5

221,4

1.189,3

Posen

383,4

979,2

196,6

292,2

1.851,4

Danzig

421,0

91,1

127,3

190,6

830,0

Marienwerder

472,3

757,7

76,8

185,3

1.492,1

Gumbinnen

592,8

43,7

94,9

293,7

1.025,1

Königsberg

615,4

414,3

160,4

441,4

1.631,4

14.313,1

13.971,1

5.615,1

6.208,6

40.107,9

Kgr. Preußen

Quelle: von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214.

464

Tabellenanhang Tabelle A 10 Dichte des Staatschaussee-, Nichtstaatschaussee-, Eisenbahn- und Wasserstraßennetzes im Jahre 1862 (km/1000 km 2 )

Regierungsbezirk

Staats-

Nichtstaats-

Eisen-

Wasser-

moderne

chausseen

chausseen

bahnen

straßen

Verkehrswege

Aachen

53,82

218,99

24,10

0,00

296,91

133,58

127,85

70,26

45,19

376,88

Koblenz

86,15

105,14

35,94

40,78

268,00

Köln

76,54

136,70

41,40

23,00

277,64

Trier

70,33

96,49

22,19

38,27

227,28

151,39

101,43

49,68

16,59

319,10

Minden

90,53

106,42

31,65

24,46

253,07

Münster

60,80

72,42

19,43

16,13

168,78

118,58

106,62

2,68

4,33

232,21

Magdeburg

53,08

74,00

29,58

26,67

183,33

Merseburg

76,39

21,82

33,11

35,81

167,13

Frankfurt

22,56

39,05

18,60

24,72

104,94

Potsdam

47,11

38,56

20,35

49,10

155,12

Breslau

64,62

44,73

22,90

12,58

144,84

Liegnitz

70,67

19,04

20,06

6,85

116,62

Oppeln

37,16

47,00

40,40

16,38

140,94

Köslin

39,51

36,05

7,03

0,00

82,60

Stettin

39,17

26,09

13,13

37,49

115,88

Stralsund

31,69

43,48

0,00

9,56

84,73

Bromberg

25,98

35,85

19,00

18,49

99,32

Posen

21,06

53,78

10,80

16,05

101,68

Danzig

48,74

10,55

14,73

22,06

96,08

Marienwerder

26,06

41,82

4,24

10,23

82,34

Gumbinnen

35,04

2,58

5,61

17,36

60,59

Königsberg

26,58

17,89

6,93

19,06

70,46

Kgr. Preußen

49,73

48,54

19,51

21,57

139,35

Düsseldorf

Arnsberg

Erfurt

Berechnet nach Tabellen A 5 und A 9.

465

. P r i s c h e Regierungsbezirke Tabelle A 11

Bevölkerungszahl 1816-1875 Regierungsbe-

1816

1831

1846

1861

1875

zirk Aachen

307.958

354.742

402.617

458.746

502.544

Düsseldorf

591.098

706.803

887.614

1.115.365

1.460.376

Koblenz

344.668

436.828

499.557

535.357

571.559

Köln

327.812

399.808

484.593

567.475

654.791

Trier

299.372

390.415

488.699

549.259

615.111

Arnsberg

376.736

465.775

564.842

703.523

981.741

Minden

339.016

396.325

459.833

472.145

480.612

Münster

350.518

399.896

421.044

442.397

443.344

Erfurt

238.717

282.352

343.617

364.695

385.499

Magdeburg

467.219

562.932

674.149

779.754

870.558

Merseburg

491.117

604.303

724.686

831.968

903.931

Frankfurt

572.723

683.188

840.127

973.154

1.059.392

Potsdam

513.176

648.069

818.364

947.034

1.100.161

Breslau

760.442

960.881

1.165.994

1.295.959

1.472.254

Liegnitz

656.837

773.489

912.497

956.892

995.083

Oppeln

524.784

730.044

987.318

1.137.844

1.376.362

Köslin

237.441

329.298

434.140

524.108

557.831

Stettin

316.718

432.570

547.952

654.963

695.734

Stralsund

128.493

150.355

182.981

210.668

208.725

Bromberg

244.835

326.231

463.969

522.109

572.337

Posen

575.341

730.047

900.430

963.441

1.033.747

Danzig

237.980

326.549

405.805

475.570

542.316

Marienwerder

333.101

455.807

613.300

712.831

800.434

Gumbinnen

353.527

527.115

632.356

695.571

754.774

Königsberg

532.647

716.456

847.952

982.894

1.101.647

10.122.276

12.790.278

15.704.436

17.873.722

20.140.863

Kgr. Preußen

Quelle: Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs für das Jahr 1879, Heft 7, Berlin 1879 (= Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 37, Th. II), S. 23 ff. 30 Uwe Müller

Tabellenanhang

466

Tabelle A 12 Durchschnittlich jährliches Wachstum der Bevölkerungszahl 1816-1875 ( % )

durchschnittliche jährliche

Regierungs-

Wachstumsrate

im Zeitabschnitt

1816-1831

1831-1846

1846-1861

1861-1875

1816-1875

Aachen

0,95

0,85

0,87

0,65

0,83

Düsseldorf

1,20

1,53

1,53

1,94

1,54

Koblenz

1,59

0,90

0,46

0,47

0,86

Köln

1,33

1,29

1,06

1,03

1,18

Trier

1,79

1,51

0,78

0,81

1,23

Arnsberg

1,42

1,29

1,47

2,41

1,64

Minden

1,05

1,00

0,18

0,13

0,59

Münster

0,88

0,34

0,33

0,02

0,40

Erfurt

1,13

1,32

0,40

0,40

0,82

Magdeburg

1,25

1,21

0,97

0,79

1,06

Merseburg

1,39

1,22

0,92

0,59

1,04

Frankfurt

1,18

1,39

0,98

0,61

1,05

Potsdam

1,57

1,57

0,98

1,08

1,30

Breslau

1,57

1,30

0,71

0,92

1,13

Liegnitz

1,10

1,11

0,32

0,28

0,71

Oppeln

2,23

2,03

0,95

1,37

1,65

Köslin

2,20

1,86

1,26

0,45

1,46

Stettin

2,10

1,59

1,20

0,43

1,34

Stralsund

1,05

1,32

0,94

-0,07

0,83

Bromberg

1,93

2,38

0,79

0,66

1,45

Posen

1,60

1,41

0,45

0,50

1,00

Danzig

2,13

1,46

1,06

0,94

1,41

Marienwerder

2,11

2,00

1,01

0,83

1,50

Gumbinnen

2,70

1,22

0,64

0,59

1,29

Königsberg

2,00

1,13

0,99

0,82

1,24

Kgr. Preußen

1,57

1,38

0,87

0,86

1,17

bezirk

Berechnet nach Tabelle

A .

2. Preußische Regierungsbezirke

467

Tabelle A 13

Bevölkerungsdichte 1816-1875

Regierungsbezirk

Fläche

1816

2

1831

1846

1861

1875

2

(km )

(Einwohner pro km )

Aachen

4.282,06

71,92

82,84

94,02

107,13

117,36

Düsseldorf

5.649,84

104,62

125,10

157,10

197,42

258,48

Koblenz

6.225,10

55,37

70,17

80,25

86,00

91,82

Köln

4.093,71

80,08

97,66

118,37

138,62

159,95

Trier

7.399,99

43,70

56,99

66,04

74,22

83,12

Arnsberg

7.990,00

47,15

58,29

IQ,69

88,05

122,87

Minden

5.449,58

62,21

72,73

84,38

86,64

88,19

Münster

7.519,70

46,61

53,18

55,99

58,83

58,96

Erfurt

3.652,34

65,36

77,31

94,08

99,85

105,55

Magdeburg

11.918,62

39,20

47,23

56,56

65,42

73,04

Merseburg

10.599,62

46,33

57,01

68,37

78,49

85,28

Frankfurt

19.961,38

28,69

34,23

42,09

48,75

53,07

Potsdam

21.505,03

23,86

30,14

38,05

44,04

51,16

Breslau

14.009,73

54,28

68,59

83,23

92,50

105,09

Liegnitz

14.080,07

46,65

54,94

64,81

67,96

70,67

Oppeln

13.702,24

38,30

53,28

72,06

83,04

100,45

Köslin

14.562,85

16,30

22,61

29,81

35,99

38,31

Stettin

13.480,99

23,49

32,09

40,65

48,58

51,61

Stralsund

4.729,10

27,17

31,79

38,69

44,55

44,14

Bromberg

11.974,78

20,45

27,24

38,75

43,60

47,80

Posen

18.208,39

31,60

40,09

49,45

52,91

56,77

Danzig

8.639,00

27,55

37,80

46,97

55,05

62,78

Marienwerder

18.120,46

18,38

25,15

33,85

39,34

44,17

Gumbinnen

16.917,76

20,90

31,16

37,38

41,11

44,61

Königsberg

23.153,63

23,00

30,94

36,62

42,45

47,58

287.825,98

35,17

44,44

54,56

62,10

69,98

Kgr. Preußen

Berechnet nach Tabellen A 5 und A l l .

468

Tabellenanhang

3. Provinzialsächsische Regierungsbezirke Tabelle A 14 Länge der Staatschausseen 1816-1875

Magdeburg

Regierungsbezirk Merseburg

Jahr

Erfurt

Provinz Sachsen

(km)

1816

115

262

89

1826

211

392

147

466 750

1831

235

600

222

1057

1836

250

652

310

1212

1841

266

686

348

1300

1846

545

738

365

1648

1848

594

760

371

1725

1852

609

787

376

1772

1859

661

III

418

1856

1862

633

810

433

1876

1870

670

835

468

1973

1875

671

839

483

1993

Quellen: Tabelle A 3; F.W. Frh. von Reden, Erwerbs- und Verkehrsstatistik, 3. Abtheilung, 1854, S. 2200 f.

Tabelle A 15 Länge der Nichtstaatschausseen 1816-1874

Magdeburg

Regierungsbezirk Merseburg

Jahr

Erfurt

Provinz Sachsen

(km)

1816

10

1831

16

1846

133

1848

63

61

35

1859

159

608

200

380

1188

1862

882

231

389

1503

1870

1153

396

421

1874

1970 2226

Quellen: Tabelle A 6; Horstmann, Über die Fortschritte des Chausseebaues, Tab. IL; von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214.

469

3. Provinzialsächsische Regierungsbezirke Tabelle A 16 Dichte des Staatschausseenetzes 1816-1875

Provinz

Regierungsbezirk Magdeburg

Merseburg

Erfurt

Sachsen

(km/1000 km 2)

Jahr 1816

9,67

24,72

24,37

17,82

1826

17,70

36,98

40,25

28,66

1831

19,72

56,60

60,79

40,39

1836

20,97

61,51

84,88

46,31

1841

22,32

64,72

95,29

49,67

1846

45,73

69,62

99,95

62,97

1848

49,84

71,70

101,59

65,91

1852

51,09

74,25

102,96

67,71

1859

55,42

73,30

114,46

70,90

1862

53,11

76,42

118,57

71,68

1870

56,21

78,77

128,15

75,39

1875

56,30

79,15

132,26

76,15

Berechnet nach Tabelle A 14.

Tabelle A 17 Dichte des Nichtstaatschausseenetzes 1816-1875

Regierungsbezirk Magdeburg

Merseburg

Provinz Erfurt

Sachsen

(km/1000 km 2)

Jahr 1816

0,38

1831

0,61

1846

5,08

1848

5,29

5,75

9,58

6,08

1859

51,01

18,87

104,05

45,39

1862

74,00

21,81

106,63

57,42

1870

96,74

37,36

115,28

75,27

1874

Berechnet nach Tabelle A 15.

85,06

Tabellenanhang

470

Tabelle A 18 Länge der Staats-, Kreis-, Gemeinde-, Aktien- und Privatchausseen sowie der Eisenbahnen und Wasserstraßen im Jahre 1862 Provinz

Regierungsbezirk Magdeburg

Erfurt

Merseburg

Sachsen

(km)

(km)

Staatschausseen

632,69

809,69

433,09

1875,47

Kreischausseen

589,76

142,35

88,12

820,23

Gemeindechausseen

201,86

3,01

301,28

506,15

Aktien- und Privatchausseen

90,38

85,86

0,00

176,25

1514,69

1040,92

822,49

3378,10

Eisenbahnen

352,50

350,99

9,79

713,28

Flüsse

274,92

379,61

15,82

670,35

Kanäle

42,93

0,00

0,00

42,93

2185,03

1771,53

848,10

4804,66

Chausseen insgesamt

Verkehrswege insg.

Quelle: von Nowak, Die Eisen-, Stein- und Wasserstraßen, S. 214.

Tabelle A 19 Dichte des Staats-, Kreis-, Gemeinde-, Aktien- und Privatchausseesowie des Eisenbahn- und Wasserstraßennetzes im Jahre 1862

Magdeburg

Regierungsbezirk Merseburg

Erfurt

Provinz Sachsen

(km/1000 km 2) Staatschausseen

52,90

75,95

118,58

71,38

Kreischausseen

49,31

13,35

24,13

31,22

Gemeindechausseen

16,88

0,28

82,49

19,26

Aktien- und Privatchausseen

7,56

8,05

0,00

6,71

126,63

97,64

225,20

128,57

Eisenbahnen

29,54

33,12

2,74

27,24

Flüsse

22,98

35,61

4,33

25,51

Kanäle

3,59

0,00

0,00

1,63

Verkehrswege insg.

182,68

166,17

232,21

182,86

Bevölkerungsdichte

65,19

78,04

99,85

75,22

Chausseen insgesamt

(Ew/km 2 ) Berechnet nach Tabelle A 13 und A 18.

Tf Γ- Tt -Η rr