Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs
 9783205122111, 5205983424, 9783205983422

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böhlauWien

Anton Gindely Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas herausgegeben von

Gerald Stourzh 4

Eine Veröffentlichung der ÖSTERREICHISCHEN

FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Robert S.Wistrich

DIE JUDEN WIENS IM ZEITALTER KAISER FRANZ JOSEPHS

Übersetzt aus dem Englischen von Marie-Therese Pitner und Susanne Grabmayr

böhlauWien Köln Weimar

Titel der englischen Originalmisgnl>c: The Jews of Viemiii in the Age of I'nmz Joseph ßv Kobcrt S. Wistrich @ The Oxford Centre lor Hebrew and Jewish Studies 1994 Gedruckt mit der Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und die Österreichische Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wistrich, S. Robert: Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs / Robert S. Wistrich. Ubers, aus dem Engl, von Marie-Therese Ktner. Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau 1999 (Anton-Gindely-Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas ; 4) ISBN 5-205-98342-4

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Umschlagabbildung: Osterreichische Nationalbibliothek Umschlaggestaltung: Bernhard Kollmann © 1999 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem ftipier Satz: Herbert Hutz, Wien Druck: Imprint, Ljubljana

In Erinnerung an meine Großeltern Salomon und Anna Wistreich Simon und Helena Silbinger Bürger von Krakau und ehemalige Untertanen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie

Vorwort des Herausgebers Die Buchreihe, in der Robert S. Wistrichs Werk erscheint, verdankt ihren Namen dem Prager Historiker Anton Gindely (1829-1892). Warum? Gindely hat als Sohn eines ungarischen Vaters deutscher Herkunft und einer tschechischen Mutter, als in zwei Sprachen schreibender Historiker, als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im vom nationalen Zwist geschüttelten Königreich Böhmen, Spannungen sprachlicher und ethnopolitischer Art persönlich erlebt und unter ihnen gelitten. Jene, welche in einer Stadt wie Prag, wo sich zwei Nationalitäten begegnen, ihre Erziehung erhalten hätten „und vielleicht schon durch ihre Abstammung einer doppelten Nationalität angehören", so schrieb Gindely 1862, „fühlen sich nachgerade durch das rücksichtslose Betreiben nationaler Bestrebungen eisig berührt..."1 Anton Gindely geriet als Ordinarius der Prager Karls-Universität zwischen die Mühlsteine deutscher und tschechischer Chauvinismen. „Den Deutschen galt er als tschechisch gesinnt, den Tschechen als nicht genug tschechisch", heißt es in einem Nachruf.2 „Mein Vater war ein Magyar, meine Mutter eine Böhmin, meine Erziehung deutsch; so weiß ich mich in einzelne Nationalitäten hineinzuleben, ohne im mindesten von einer befangen zu sein", so schrieb Gindely 1857.3 Vom Vorbild Gindelys inspiriert, stiftete 1979 die Osterreichische Forschungsgemeinschaft in Wien den Anton Gindely-Preis für Geschichte der Donaumonarchie mit dem Ziel, Historiker auszuzeichnen, die in ihren Arbeiten - darin Gindely ähnlich einen Beitrag zur kulturellen und historischen Verständigung in der sprachlichen und nationalen Vielfalt Mitteleuropas geleistet haben; der Preis wurde jährlich vergeben.4 Im Jahre 1992 wurde dieser Preis als Anton Gindely-Staatspreis für die Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas vom damaligen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung übernommen und aufgrund der Empfehlung einer aus österreichischen Historikern bestehenden Jury vom zuständigen Bundesminister vergeben. Erster Anton Gindely-Staatspreisträger war 1992 Robert S. Wistrich (Hebrew University Jerusalem). Seit 1998 wird aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und dem Institut für den Donauraum und Mitteleuropa der Anton Gindely-Preis weiterhin von diesem Ministerium getragen, jedoch vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa vergeben. 1993 ergriff die Osterreichische Forschungsgemeinschaft in Verbindung mit dem 1 2 3 4

Brief an Josef A. von Helfen, 51. 12. 1862, zit. bei Kamil Krofta, Antonin Gindely, Prag 1916, 233. Von J. Jung, zit. ebda., 251. Brief an Helfert, 13.2. 1857, zit. bei Richard Georg Plaschka, Von Palacky bis Pekar, Graz 1955, 36. Siehe hierzu Erhard Busek und Gerald Stourzh, Hg., Nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa, Wien-München 1990.

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Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs

Böhlau Verlag die Chance, bedeutende, aber nicht in deutscher Sprache vorliegende Werke von Gindely-Preisträgern in deutscher Ubersetzung zu veröffentlichen und gründete die Anton Gindely-Buchreihe. Diese Initiative galt und gilt zunächst Werken, die in international schwer zugänglichen Sprachen Mitteleuropas geschrieben wurden; mit dem Vorhaben, solche Werke in deutscher Ubersetzung zu präsentieren, sollen Sprachbarrieren überwunden werden, die nur allzu oft dazu fuhren, daß Werke von Historikern „kleiner" Kulturen aus der internationalen Diskussion ausgeschlossen sind. Mit der Übersetzung des vorliegenden Werkes von Robert S.Wistrich aus dem Englischen weicht die Gindely-Buchreihe von dieser Tradition ab, und zwar aus Gründen, die leicht nachvollziehbar sind. Dem vorliegenden Werk des Gindely-Staatspreisträgers Robert S. Wistrich kommt ob seines Themas und der umfassenden Bearbeitung dieses Themas eine Bedeutung zu, die es dringend wünschenswert erscheinen ließ, dem deutschsprachigen Publikum dieses Werk (auch schon in italienischer Ubersetzung vorliegend) in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Wie immer die - aus sozial- ebenso wie mentalitätsgeschichtlicher Perspektive sehr heterogene - jüdische Bevölkerung der Donaumonarchie gesehen wurde, als Religionsgemeinschaft oder als Volk oder beides,5 die Geschichte dieser Bevölkerung ist eines der großen Themen der Geschichte der Habsburgermonarchie und der Haupt- und Residenzstadt Wien im Zeitalter Franz Josephs. Voraussetzung für die Auszeichnung mit dem Gindely-Preis war die Heranziehung von Quellen bzw. Literatur in mindestens zwei von für die Donaumonarchie und Mitteleuropa relevanten Sprachen im Werk der Preisträger. Im Falle Robert S.Wistrichs handelt es sich zusätzlich zur deutschen um die jiddische bzw. um die hebräische Sprache. In Wien etwa erschien zwischen 1868/69 und 1884 eine Zeitschrift in hebräischer Sprache, auf deren große Wirkung Wistrich hinweist. Wistrichs Werk eröffnet auch den Zugang zu lediglich in hebräischer Sprache vorliegenden Arbeiten israelischer Historiker. Robert S. Wistrich widmet dieses Werk dem Andenken seiner Großeltern, alle Bürger von Krakau und Staatsbürger des alten Österreichs. Wistrich, 1945 in Kasachstan geboren, doch mit seinen Eltern - der Vater war Arzt - bald nach England gelangend, absolvierte und vollendete Schul- und Universitätsstudien in England, letztere an den Universitäten von Cambridge und London. Seit 1980 lehrt er an der Hebrew University of Jerusalem, seit Jahren als Inhaber des Neuberger-Lehrstuhls für Jüdische und Moderne Europäische Geschichte, zeitweise gemeinsam mit einer Professur an der Universität London, und nunmehr auch als Direktor des in Gründung begriffenen Center for Austrian Studies an der Hebrew University. Wistrich hat sich bereits in früheren Werken, vor allem in seinem 1982 erschienenen 5 Hierzu vgl. Gerald Stourzh, „Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs?" in: Anna M. Drabek/ Mordechai Eliav/Gerald Stourzh, Hg., Prag - Czernowitz - Jerusalem (= Studia Judaica Austriaca X, Eisenstadt 1984), 73-117.

Vorwort des Herusgebers

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bedeutenden Buch „Socialism and the Jews - The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungaiy" mit der Geschichte der Habsburgermonarchie befaßt. Auch im vorliegenden Werk schildert Wistrich, welche Bedeutung das österreichische Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 für die jüdische Bevölkerung hatte. Die Gleichstellung vor dem Gesetz mit allen anderen Staatsbürgern und die Freizügigkeit der Wohnsitznahme waren Errungenschaften von unermeßlichem Wert für die jüdische Bevölkerung Österreich-Cisleithaniens, umso mehr geschätzt, als in dem einzigen Land Europas, in welchem mehr Juden lebten als in der Donaumonarchie, nämlich im Russischen Reich, Freizügigkeitsbeschränkungen und andere rechtliche Diskriminierungen weiterbestanden. Eine der überragenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Wien, Adolf Jellinek, pries eingedenk des Staatsgrundgesetzes Franz Joseph dafür, daß er aus seinen jüdischen Untertanen „wirkliche Menschen und freie Staatsbürger" gemacht habe. Wistrich analysiert den Antisemitismus im Habsburgerreich in Verbindung mit dem multiethnischen Charakter der Monarchie. Die Persönlichkeit Theodor Herzls lind die Gründung des Zionismus nehmen ihren - selbstverständlichen - Rang in diesem Werk ein, aber auch andere, heute weniger bekannte Persönlichkeiten und Strömungen, wie etwa Nathan Birnbaum und die Bewegung des „Diaspora-Nationalismus", finden ihre eingehende Würdigung. Eindringliche Skizzen großer Persönlichkeiten des Geisteslebens um die Jahrhundertwende und danach runden das Werk ab - Karl Kraus und Otto Weininger, Freud und Schnitzler, Hofmannsthal und Broch, Stefan Zweig und Richard Beer-Hofmann - den Wistrich besonders liebt - , Martin Buber und Joseph Roth. In meiner Laudatio für Robert S. Wistrich anläßlich der Verleihung des GindelyStaatspreises habe ich eine Eigenschaft des Historikers Wistrich besonders hervorgehoben: Wistrich, dem Menschen in ihrer Individualität und Vielfalt noch wichtiger sind als Strukturen, verfügt über Einfühlungsvermögen, über „empathy". Wistrich kann, bei aller Entschiedenheit der eigenen Position, andere Perspektiven sehen; seine Wertungen sind klar, aber nie verdammt er dogmatisch. Abschließend möchte ich der angenehmen Pflicht Genüge tun, drei Personen meinen besonderen Dank zu sagen, die sich bei der Endredaktion der deutschsprachigen Fassung dieses Werkes große Verdienste erworben haben: Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz, die mit großem Einsatz die Produktion dieses Buches vorangetrieben hat; Frau Mag. Karin Riegler, die das Register neu erstellt und eine sorgfältige Überprüfung von Zitaten und bibliographischen Angaben durchgeführt hat (wobei unterschiedliche Schreibungen von „oe" oder „ö" bzw. „ss" oder „ß" normalisiert wurden); und Herrn Dipl.Ing. Mag. Dr. Peter Landesmann, einer der besten Kenner der Geschichte der jüdischen Gemeinde Wiens im 19. Jahrhundert, der die deutsche Übersetzung kritisch gelesen und wertvollste Hinweise zur zutreffenden Transkription hebräischer Begriffe und zur Erstellung des Glossars gegeben hat. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank! Gerald Stourzh

Vorwort zur deutschen Ausgabe Es ist mir eine besondere Freude, daß mein 1989 bei Oxford University Press und The Littman Library of Jewish Civilization erschienenes Buch The Jews of Vienna in the Age ofFranz Joseph nun auch in deutscher Ausgabe vorliegt. Durch einen glücklichen Zufall erscheint die deutschsprachige Ubersetzung in zeitlicher Nähe zum Hundert-Jahr-Jubiläum der Zionismusbewegung (im August 1897 fand in Basel der von Theodor Herzl veranstaltete Erste Zionistenkongreß statt) und zur 50. Wiederkehr der Gründung des Staates Israel. Dieses Buch, das sich mit der Position der Juden Wiens (und Österreichs) in den letzten 70 Jahren der Habsburgermonarchie in all ihrer Komplexität befaßt, widmet Herzl, dem Zionismus, der „jüdischen Frage" und dem Antisemitismus in ihrem historischen Kontext breiten Raum. Die englische Originalausgabe meines Buches wurde von der Kritik mit Wohlwollen aufgenommen und mit dem Anton Gindely-Staatspreis für die Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas (Wien 1992) und dem Viznitzer-Preis für die beste Veröffentlichung über jüdische Geschichte (Jerusalem 1990) ausgezeichnet. Ich habe mich bemüht, in den Anmerkungen und in der Bibliographie sowie teilweise auch im Text selbst, wo es mir wichtig erschien, die neueste Literatur zu berücksichtigen. Insgesamt scheint mir aber meine ursprüngliche Fassung nach wie vor gültig zu sein. Mein Dank gilt der Übersetzerin, der professionellen Betreuung im Böhlau Verlag und all jenen Persönlichkeiten und Institutionen in Wien, die die Realisierung der deutschsprachigen Ausgabe ermöglichten, um so dieses Buch in Osterreich, Deuschland, der Schweiz und Mitteleuropa insgesamt einem breiten Leserkreis zugänglich zu machen. Robert S. Wistrich London/Jerusalem, März 1999

Inhaltsverzeichnis Vorwort

1 I. DIE GEMEINDE

1. 2. 5. 4. 5. 6.

Vom Ghetto zur Revolution Zuwanderung in die Kaiserstadt Philanthropie, Politik und die Ostjuden Drei Wiener Prediger Liberalismus, Deutschtum und Assimilation Emporkömmlinge, Patrioten und Schutzjuden

9 58 58 84 111 138

II. DIE SELBSTVERTEIDIGUNG GEGEN DEN ANTISEMITISMUS 7. 8. 9. 10.

Der neue österreichische Antisemitismus Adolf Jellinek und die liberale Reaktion Joseph Bloch: Rabbiner, Parlamentarier und Publizist Die Österreichisch-Israelitische Union

171 198 225 257

III. DER AUFSTIEG DES ZIONISMUS 11. 12. 15. 14.

Kadimah und der Nationalismus jüdischer Studenten Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum Theodor Herzl: Das Werden eines politischen Messias Der Zionismus und seine jüdischen Kritiker

287 315 544 572

IV. KULTUR UND IDENTITÄT 15. 16. 17. 18.

Propheten des Untergangs: Karl Kraus und Otto Weininger Die jüdische Identität Sigmund Freuds Arthur Schnitzlers Weg ins Freie Kaiserlicher Schwanengesang: Von Stefan Zweig zu Joseph Roth

405 456 475 505

ANHANG Anmerkungen Auswahlbibliographie Glossar Register Abbildungsveraeichnis

545 694 706 708 727

Vorwort D A S W I E N D E S Fin

de Siecle

HAT I N D E N L E T Z T E N J A H R E N E I N E E N O R M E A N Z I E -

hungskraft auf Historiker, Soziologen und Literaturkritiker ausgeübt, die sich mit den kulturellen Wurzeln der Moderne oder den Ursprüngen einer Reihe von politischen Irrwegen des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Ohne eine umfassende Untersuchung der jüdischen Gemeinde, die eine so entscheidende Rolle im kulturellen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben der Habsburgermetropole spielte, bleibt unser Bild von Wien um 1900 aber unvollständig. Die Unmenge von Talenten, die aufgrund des jüdischen Akkulturationsprozesses und der Wechselwirkung mit anderen Volksgruppen (vor allem den Deutschösterreichern, Ungarn und Polen) unter dem wohlwollenden Schutz des vielsprachigen Habsburgerreiches aus diesem hervorgingen, haben mehr als akademische Bedeutung. Ist die Kultur des 20. Jahrhunderts ohne die Beiträge von Freud, Wittgenstein, Mahler, Schönberg, Karl Kraus oder Theodor Herzl vorstellbar? Ob es nun Juden, Personen mit teilweise jüdischer Herkunft, vom Selbsthaß erfüllte Menschen, Konvertiten oder Zionisten waren, diese säkularisierte jüdische Intelligenz veränderte das Angesicht Wiens - ja, sogar der ganzen modernen Welt. Sie trugen dazu bei, daß eine Stadt, die keine Spitzenstellung im intellektuellen oder künstlerischen Leben Europas (außer in der Musik) innehatte, zum Experimentierfeld für schöpferische Triumphe und Niederlagen der modernen Welt wurde. Mein Interesse an der gewaltigen Explosion jüdischer Kreativität in Mitteleuropa und insbesondere in Wien begann vor ungefähr zwanzig Jahren, als ich als junger Student mein erstes Universitätsdiplom in Cambridge abschloß. Jeder, der sich damals mit moderner europäischer Geschichte befaßte, fand sich mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert, daß der jüdische Einfluß großteils ignoriert oder marginalisiert wurde, auch dort, wo er eindeutig dazu beigetragen hat, dem modernen intellektuellen Leben viel von seiner besonderen Farbe, seinem Stil und seiner Vitalität zu verleihen. Während eines postgraduierten Jahres, das ich an der Universität Stanford verbrachte, wurde mein Interesse an der Geistesgeschichte Mitteleuropas in der Folge durch das Studium der Schriften von Carl Schorske stark angeregt. Erstmals wurden einige Verbindungen zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft im habsburgischen Osterreich vor dem Ersten Weltkrieg klar erkennbar. Aber schon damals wurde mir bewußt, daß ohne eine sehr genaue Untersuchimg des habsburgischen Judentums und dessen Geschichte keine umfassende Behandlung von Wien zur Jahrhundertwende möglich sein könnte. Die ersten Versuche auf diesem ungemein schwierigen Gebiet unternahm ich 1969/70 während meines Studienaufenthaltes an der Hebräischen Universität in Je-

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Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs

rusalem. Damals hatte ich dem verstorbenen Professor Jacob Talmon eine Doktorarbeit über „Die Jüdische Intelligenz im Wien des Fin de Steele" vorgeschlagen, aus verschiedenen Gründen kam es aber nicht dazu. Dieses Jahr in Israel sollte aber entscheidend für mich sein, weil ich eine Vorstellung vom Zusammenhang des habsburgischen Judentums und von einer habsburgischen jüdischen Tradition bekam, welche die deutsch-österreichischen, ungarischen, tschechischen, polnischen und südslawischen Juden miteinander verband. Da ich langsam die notwendigen Sprachen beherrschte und die Möglichkeiten der Gegenüberstellung und des Vergleichs dieser verschiedenen jüdischen Gemeinden untereinander sah, die durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu einem untergegangenen Reich verbunden waren, eröffneten sich mir wahrhaft neue Horizonte. Mein Jahr in Israel führte mich auch zum Titel meiner Doktorarbeit, die ich in London unter der Leitung von Professor Chimen Abramsky schrieb, die sich mit der Einstellung der deutschen und österreichischen Sozialisten zur „Judenfrage" in Mittel- und Osteuropa befaßte. Ich lernte die Stadt Wien und ihre Archive in den frühen 1970er Jahren während der Forschungsjahre für meine Doktorarbeit kennen. Das jetzige Werk, dessen Thema schließlich vor ungefähr zwanzig Jahren Gestalt annahm, wäre ohne diese früheren (und teils mühsamen) Lehrjahre kaum zustandegekommen. 1978 bot mir das Osterreichische Ministerium für Wissenschaft und Forschung ein Stipendium für Studien in Wien als erste Etappe in der Materialsuche für dieses Buch an. Ich teilte meine Zeit zwischen den städtischen Archiven, der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wiener Universitätsbibliothek, während ich gleichzeitig versuchte, soviel wie möglich von dieser Kaffeehausgesellschaft und museumsartigen Atmosphäre in mich aufzunehmen, die noch immer die österreichische Hauptstadt prägt. Es war mir möglich, einen Großteil der Wiener - liberalen, klerikalen, alldeutschen, antisemitischen und sozialistischen - Presse sowie einschlägige Pamphletliteratur zu lesen. Eine Durchsicht der Sitzungsberichte des österreichischen kaiserlichen Reichsrates, des niederösterreichischen Landtages und des Wiener Stadtrates versetzten mich in eine Zeit zurück, in der sich bereits ein Antisemitismus von unglaublich grober und bösartigen Art breit machte und die Ruhe der österreichischen Juden bedrohte. Diese Schattenseite der kulturellen Revolution in Osterreich sollte immer mehr an Bedeutung gewinnen, je mehr ich mich mit der Untersuchung befaßte, welche Beziehungen die Wiener Juden zu ihren nichtjüdischen Mitbürgern aufbauten und welche sozioökonomischen Spannungen ihren gesellschaftlichen Aufstieg und ihren Zuwachs an intellektueller Kreativität begleiteten. Wenn die Juden wirklich der „intellektuelle Zement" (Milan Kundera), der kosmopolitische Sauerteig in der mitteleuropäischen Kultur vor dem Nationalsozialismus waren, so wurde immer klarer, daß ihre herausragende Rolle die schrecklichsten Ängste und Befürchtungen bei den Antisemiten auslösten.

Vorwort

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Die nächste größere Etappe in meiner Forschungsarbeit führte mich nach Jerusalem, das fraglos noch immer das bedeutendste Zentrum für alte und moderne jüdische Geschichte ist. Hier begann ich nach 1980 mit der näheren Untersuchung des inneren Aufbaus der Wiener jüdischen Gemeinde, ihres sozialen Hintergrunds, der religiösen Differenzierung und der politischen Strömungen. Ich befaßte mich mit ihren Reaktionen auf Antisemitismus und Zionismus, auf die Zuwanderungswellen aus den Provinzen und auf den Anpassungs- und Modernisierungsprozeß in der Großstadt. In Jerusalem konnte ich die Central Archives of the History of the Jewish People (wo sich auch die erhaltenen Protokolle der Israelitischen Kultusgemeinde befinden), den Bestand der Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek sowie die Akten der Central Zionist Archives benutzen. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde (d. h. des Heraens des Wiener Judentums, das sich seiner Identität bewußt und gemeinschaftlich organisiert war) nahm Gestalt an. Ich begann mir auch ein klares Bild über das Aufkommen des Zionismus in Wien und über die dadurch hervorgerufenen Reaktionen zu machen, ein Thema, das bis auf die umfassende Literatur zu der charismatischen Persönlichkeit Theodor Herzls noch selten aufgegriffen wurde. Durch die Lektüre von Quellen wie Smolenskins Ha-Schachar und Birnbaums Selbstemanzipation nahm die frühe Geschichte des österreichischen Zionismus für mich andere, differenziertere Züge an. Eine sorgfältige Untersuchung der spezifisch jüdischen Presse - von Die Neuzeit bis zu Dr. Blochs Österreichische[r] Wochenschrift (eine Fundgrube für Nachrichten über das österreichische Judentum vor 1914) - ermöglichte es mir, über die Frage des Zionismus hinaus, allmählich das Gesamtbild des Wiener Judentums mit all seinen Widersprüchen, Spannungen und inneren Konflikten nachzuzeichnen. In Wien und Jerusalem fand ich auch einschlägige Quellen für das Verständnis der Geschichte der Osterreichischen Israelitischen Union, der Tätigkeit der Baron-HirschStiftung und der religiösen Anschauungen und Ansichten von Wiens führenden Rabbinern. Ich erweiterte dieses Quellenstudium noch durch Besuche der Archive der Alliance Israelite in Paris (bedeutend durch einen Briefwechsel mit der in Wien befindlichen Israelitischen Allianz) und des Leo Baeck-Archivs in New York mit seinen wertvollen Sammlungen über die Geschichte der deutschsprachigen Juden Mitteleuropas. Hier las ich auch die Tagebücher von Rabbi Moritz Güdemann (Oberrabbiner von Wien) und die Korrespondenz von Richard Beer-Hofmann. Die letzte und schwierigste Etappe bei der Entstehimg dieses Buches war schließlich der Versuch, all diese verschiedenen Materialien durch die Verbindung der inneren Geschichte der jüdischen Gemeinde mit den umfassenderen Themen der späten habsburgischen Kultur und Gesellschaft miteinander zu verknüpfen. Die bestehende Literatur, vor allem die älteren, impressionistischen Berichte über das Wiener Judentum, wie jene von Ludwig Bato, Hans Tietze oder Max Grunwald, und

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Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs

das sehr gut lesbare, von Josef Fraenkel herausgegebene Buch The Jews of Austria waren nützlich, aber eindeutig unzureichend und altmodisch. Die Juden Wiens 18671914 (1985) von Marsha L. Rozenblit, im wesentlichen eine Bevölkerungsstudie, war als Grundlage fur Fakten und Zahlen äußerst wertvoll, behandelte aber jene Fragen, die mir so bedeutend erscheinen, wie das Wesen der jüdischen Identität und Selbstdefinition, die Auswirkung des Antisemitismus und die Rolle der Juden in der Wiener Kultur und Politik, nicht eingehend genug. Es verblieb noch eine ständig wachsende (meist sehr spezialisierte) Literatur, die sich mit herausragenden jüdischen Persönlichkeiten, auf die in diesem Buch noch eingegangen wird, mit dem Antisemitismus, dem Zionismus und mit der Soziologie des österreichischen Judentums beschäftigt, die für Forscher auf diesem Gebiet unverzichtbar ist, die aber bis jetzt noch nicht in eine einzige systematische Studie über die Wiener Juden eingebunden worden ist. Während seiner langen Entstehungszeit hat dieses Buch stark von der Forschung vieler Wissenschaftler, Freunde, Kollegen und Mitstreiter auf dem Gebiet der österreichischen, Wiener und jüdischen Geschichte profitiert. In Osterreich habe ich unter anderen vor allem von den Werken des verstorbenen Professors Karl Stadler aus Linz, von Professor Gerhard Botz aus Salzburg und den Professoren Gerald Stourzh, Wolfgang Häusler und Erika Weinzierl aus Wien gelernt. Die Arbeiten einer Reihe amerikanischer Wissenschaftler, angefangen mit Professor Carl Schorske und einschließlich der Professoren William J. McGrath, Peter Loewenberg, Marsha Rozenblit, John Boyer, Harry Zohn und Dennis B. Klein, boten mir wertvolle Anregungen. In England konnte ich mich auf den Rat der Professoren James Joll und Peter Pulzer (Oxford) und die Freundschaft von Dr. Arnold Paucker, Direktor des Leo Baeck Instituts in London, stützen. Ich hatte auch das große Glück, Gespräche mit dem verstorbenen Dr. Robert Weltsch, einem wahren Kenner des österreichisch-ungarischen Judentums, und mit Dr. Anna Freud führen zu können, die geduldig meine vielen Fragen über ihren berühmten Vater Sigmund Freud, über die Psychoanalyse und über die jüdische Identität in Wien beantwortete. Dr. Solomon Birnbaum aus Toronto (Kanada) konnte mir ähnlich wertvolle Antworten auf Fragen zu seinem Vater Nathan Birnbaum geben. Besonderer Dank gebührt meinem Freund und Kollegen, dem unermüdlichen Ivaar Oxaal von der Universität Hull, dessen ansteckende Begeisterung für die Soziologie der Wiener Juden mein Interesse an dem Thema immer wieder von neuem weckte, wenn es zu erlahmen drohte. Ich lernte auch aus Gesprächen über verwandte Themen, die ich unter anderen mit Steven Beller (Cambridge), Michael Pollak vom CNRS (Paris), Dr. Gerald Stieg (Rouen) und Allan Janik (Innsbruck) führte. Walter R. Weitzmann (New York) machte mich als erster auf die Bedeutung der Politik der Kultusgemeinde aufmerksam, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

Vorwort

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Von den Institutionen in Israel, die zu diesem Buch beigetragen haben, sei vor allem das Institute of Advanced Studies der Hebräischen Universität Jerusalem erwähnt, wo ich 1981/82 als Gastwissenschaftler tätig war. Mein Dank gilt seinem damaligen Direktor Aiyeh Dvoretsky, dessen Stellvertreter Shabtai Giron und Professor Shmuel Ettinger, dafür, daß sie mich eingeladen hatten, an ihrer Arbeitsgruppe über modernen jüdischen Nationalismus teilzunehmen. Unter den Kollegen und Freunden in Jerusalem, die mir halfen, grundlegende Fragen der mitteleuropäischen jüdischen Geschichte zu klären, möchte ich Professor Michael Graetz von der Fakultät für Jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem meinen besonderen Dank aussprechen, mit dem ich 1982/85 eine gemeinsame Vorlesung über dieses Thema hielt. Einige der Themen dieses Buches diskutierte ich auch mit Dr. Steven Aschheim von der Fakultät für Geschichte, mit Dr. Shmuel Almog vom Institut für Zeitgenössisches Judentum und mit Professor Yosef Salmon von der BenGurion Universität in Beersheba. Für die Hilfe bei der Quellensuche über die Geschichte des österreichischen Zionismus möchte ich mich bei Dr. Michael Heymann, dem Direktor der Central Zionist Archives in Jerusalem, und dessen Assistenten Dr. Moshe Schaerf und Chaya Har-El sowie Professor Jehuda Reinharz (Brandeis) und Professor Julius H. Schoeps (Duisburg) bedanken. Dr. Alex Bein war auch so liebenswürdig, mir sein enzyklopädisches Wissen über Herzl und seine Umgebung zugänglich zu machen. Meine Forschungsaufenthalte in Wien wurden durch die Großzügigkeit des Osterreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, durch das Leo Baeck Institut in New York (vor allem dank Dr. Fred Grubel) und durch die Gustav Wurzweiler Foundation, ebenfalls in New York, ermöglicht. Dr. Fred Lessing gebührt mein besonderer Dank für seine finanzielle Unterstützung in der ersten Forschungszeit. Mein Dank geht ebenfalls an den verstorbenen Herrn Louis Littman (der bei dieser langen Odyssee nie das Vertrauen verlor) und auch an die Herausgeberin, Dr. V. D. Lipman, deren moralische Unterstützung zu einer Zeit sehr willkommen war, als die Ergebnisse noch unsicher erschienen. Dankbarkeit ganz anderer Art möchte ich meiner Mutter aussprechen, die selbst in Krakau zur Zeit Kaiser Franz Josephs geboren wurde, die mir (vielleicht unbewußt) einige der verlorenen Traditionen des habsburgischen Judentums vermittelt hat, und meinen Großeltern, die den letzten Akt in dem Drama des habsburgischen Judentums durchlebten, das ich in diesem Buch einzufangen versuchte. Janet Lieber aus Jerusalem möchte ich für ihre außergewöhnliche Ausdauer der Abschrift eines langen und umfangreichen Manuskriptes danken, die weit über Pflichterfüllung hinausging. Einige wichtige Überarbeitungen und Hinzufügungen zum Manuskript nahm ich im Lauf meines Aufenthaltes während eines Forschungsfreijahres am Oxford Cen-

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Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs

tre for Post-graduate Hebrew Studies vor, wo ich Gastprofessor und Frank Green Stipendiat für Moderne Jüdische Geschichte war. Es ist mir daher eine besondere Freude, dem Gründer und Präsidenten dieses Zentrums, Dr. David Patterson, zu danken, daß er meinen Aufenthalt in Oxford so annehmlich und erfreulich gestaltet hat. Weit entfernt von der „fröhlichen Apokalypse" Wiens und den messianischen Träumen von Zion vermittelten die grünen Weiden von Yarnton mir gerade die richtige Stimmung für die Vollendung dieses Buches. Jerusalem/Oxford 1986/87

R. S. W.

I.

DIE GEMEINDE

1. Vom Ghetto zur Revolution Ich kenne keine ärgere Pest vor den Statt als dise nation ... wegen ihrer Falschheit, ihrer Wucherzinsen und ihrer Fähigkeit, Leute an den Bettelstab zu bringen. Kaiserin Maria Theresia (1777) ...es ist Unser Witte, die Juden dem Staat nützlicher und dienlicher zu machen, vor allem dadurch, daß ihren Kindern eine bessere Ausbildung und Aufklärung gewährt werde und daß sie in der Wissenschaft, den Künsten und dem Handwerk verwendet werden. Kaiser Josef Π, Wien, 2. Jänner 1782 Seit der Zeit des Pharao büßten Beverungen dafür, daß sie Juden verfolgten. Fürst Felix Schwarzenberg Dreißig Jahre lang haben wir genug auf den Knien gebettelt und mit erhobenen Händen für unsere Bechte und die Anerkennung als Menschen gebetet. Isaak Noah Mannheimer, 18. März 1848 Beaktionäre brandmarken die Juden als das perpertuum mobile der Bevolution, Fortschrittliche sehen in den jüdischen Geldleuten das Hindernis zur Freiheit. Adolf Jellinek (1848)

D A S SCHICKSAL DER J U D E N IM ÖSTLICHEN M I T T E L E U R O P A WAR IN DER N E U Z E I T

eng mit dem des Vielvölkerstaates verknüpft, der seit 1275 bis zu seiner Auflösung 1918 von der Dynastie der Habsburger regiert wurde. Der historische Kern ihres Reiches war Osterreich, obwohl es nach 1526 auch Länder wie Ungarn, Böhmen und Mähren mit einem beträchtlichen jüdischen Bevölkerungsanteil umfaßte; die Juden der italienischen Gebiete gehörten im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls dazu. Nach der Teilung Polens und der Annexion Galiziens (1772) und der Bukowina (1775) lebten die meisten jüdischen Gemeinden Europas westlich des russischen Reiches innerhalb des habsburgischen Herrschaftsbereiches. Dieses riesige Gebiet erhielt nach 1867 eine dualistische Struktur und wurde zur sogenannten Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die aus zwei verschiedenen Staaten (Österreich und Ungarn) unter einem Herrscher, Kaiser (und König) Franz Joseph I., bestand. Die Geschichte Österreichs unter den Habsburgern war weniger die Geschichte eines Volkes oder Landes als die Geschichte eines Staates.1 Der wahre Begründer der Dynastie, Rudolf von Habsburg, hatte Ende des 13. Jahrhunderts durch seinen

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Die Gemeinde

Sieg über den böhmischen König Ottokar den eigentlichen Kern des späteren Reiches entstehen lassen. Wahrend der folgenden 650 Jahre vergrößerte sich das habsburgische Herrschaftgebiet stetig durch Heirat, Schenkung und Tausch - Beüagerant alii, tufelix Austria nube! (Kriege fuhren andere, du, glückliches Osterreich, heirate!) Zusätzlich zu ihren Familienbesitzungen an der Donau wurden die Habsburger im Spätmittelalter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und somit oberste Herren der Juden des Reiches, die Kammerknechte (servi camerae regis) genannt wurden. Das kaiserliche Trugbild des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit seinem Traum einer Universalherrschaft verfolgte die Dynastie bis ins 19. Jahrhundert, als Napoleon es erschütterte und Bismarck es 1866 endgültig zerstörte. Aber erst 1871 gaben die Habsburger ihren Traum auf, über Deutschland zu herrschen. Gleichzeitig expandierte der österreichische Staat seit dem 16. Jahrhundert nach Osten und befruchtete durch die deutsche Kolonisierung die einfacheren und weniger weit entwickelten sozialen Strukturen des östlichen Mitteleuropa. Hier sollten die Habsburger in der Verteidigung des Christentums und der westlichen Zivilisation gegenüber der türkischen Gefahr eine neue Aufgabe finden.2 Erst während der Gegenreformation traten die Habsburger als Verfechter eines militanten Katholizismus in Erscheinung und verbannten gemeinsam mit den Jesuiten den Protestantismus aus Mitteleuropa. Nach der historischen Schlacht am Weißen Berg (1620) wurde das weitgehend unabhängige Königreich Böhmen zerstört und die tschechische Nation für fast 500 Jahre unterdrückt. Böhmen wurde nun ein „Erbland", der einheimische Adel des Landes verwiesen oder seiner Besitzungen beraubt, und auf seinen Trümmern entstand nun die grandiose österreichische Barockkultur mit ihrer Hauptstadt Wien.3 Die Rückeroberung Ungarns aus den Händen der Türken nach der mißglückten osmanischen Belagerung Wiens im Jahre 1685 kündigte die Konsolidierung Österreichs und dessen Aufstieg zu einer europäischen Großmacht im frühen 18. Jahrhundert an. Die Geschichte der Juden in Wien und in den habsburgischen Ländern ist komplex und enthält Phasen eines Auf und Ab. Sie wird von Zeiten des Wohlstandes, aber auch der blutigen Verfolgung bestimmt, von zeitweiligem Schutz durch die kaiserlichen Herrscher und von der Feindseligkeit der Stände, von Blutlibellen und Zwangsvertreibungen. Schon seit dem 10. Jahrhundert hatten Juden in Osterreich gelebt, die ersten Siedler waren wahrscheinlich mit den Römern gekommen. Bereits in einem um 906 verfaßten Schriftstück werden jüdische und christliche Händler auf die gleiche Stufe gestellt. Die Ernennung von Schlom (Solomon) zum Münzmeister 1194 ist der erste echte Beweis für eine permanente jüdische Siedlung. 4 Unter der Herrschaft des Babenbergers Friedrich I. (1195-1198) flohen viele Juden wegen der Verfolgungen aus den westlichen Teilen des Reiches in die Länder der Babenberger. 5 1204 wird eine Synagoge in Wien erwähnt, 1258 gewährte Kaiser

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Friedrich II. den Wiener Juden ein Privileg, indem er sie unter seinen Schutz stellte.6 1244 stellte der letzte Babenberger Herzog Friedrich II. der Streitbare den österreichischen Juden den „Fridericianum" genannten Freibrief aus. Dieses Statut, das den Juden die Unverletzbarkeit von Leben und Besitz, die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und das Recht, sich niederzulassen und Handel zu treiben, garantierte, wurde zum Vorbild für ähnliche Privilegien, die den Juden Böhmens, Ungarns und Polens im 15. Jahrhundert gewährt wurden.7 Die Ermordung eines Juden wurde mit der Todesstrafe geahndet und bei tätlicher Bedrohung, Schändung von jüdischen Friedhöfen, Synagogen oder Schulen schwere Geldstrafen verhängt - schon dies ein Beweis für die brutalen Gewohnheiten im mittelalterlichen Europa -, während die Entfuhrung jüdischer Kinder zum Zweck der Taufe strikt verboten wurde.8 Gleichzeitig beschränkte Friedrich II. ihre wirtschaftliche Rolle auf Geld- und Kreditgeschäfte - eine gesetzliche Entwicklung, die für die wirtschaftlich unterentwickelten Länder Osteuropas beispielgebend war, wo die Juden auch in den kommenden Jahrhunderten ein wichtiges Element der Mittelklasse bleiben sollten. Das Privileg wurde von Rudolf I. 1277 bestätigt und von dessen Nachfolgern 1330 und 1348 erneuert. Damals wurden Österreich und die habsburgischen Länder zum Zufluchtsort für Juden, zu Zentren jüdischer Gelehrsamkeit und zur führenden Kraft in den deutschen und westslawischen Ländern. Die Wiener Juden, denen schon unter dem Hohenstaufer Friedrich Π. 1238 in einem Freibrief (Judeos Wienne servos camere nostre) eine weitreichende Autonomie gewährt worden war, wurden im 14. Jahrhundert zunehmend als die führende jüdische Gemeinde im deutschen Sprachraum anerkannt. Der Einfluß der „Weisen von Wien" war weit über die Stadtmauern hinaus wirksam. Bezeichnenderweise blieben Wien die Judenverfolgungen während der Pestzeit 1348/49 erspart, als Juden in nahezu jeder Stadt in den deutschsprachigen Ländern niedergemetzelt wurden; Wien wurde sogar zum Asyl für jüdische Flüchtlinge aus anderen Ländern. Durch den Druck der wachsenden christlichen Mittelklasse in den Städten verschlechterte sich jedoch im Spätmittelalter die Lage der Juden rasch. Die jüdische Bevölkerung diente nicht zum letzten Mal als Blitzableiter für soziale Konflikte, die wenig mit ihnen zu tun hatten. So herrschte gegen Ende des 14. Jahrhunderts unter den Wiener Bürgern eine steigende Feindseligkeit gegenüber den Juden, die auch von der katholischen Kirche geschürt wurde. Beschlagnahmungen jüdischen Eigentums, die Annullierung von Zinsen und wirtschaftliche Einschränkungen fühlten zu ihrer allmählichen Verarmung.9 So befahl Herzog Albrecht V. nach dem Ennser Blutlibell im Jahre 1421 ihre Verhaftung, um seine leere Schatzkammer wieder aufzufüllen. In diesem Jahr starben nicht weniger als 214 Juden als Märtyrer am Scheiterhaufen, denen zur Last gelegt worden war, die geweihte Ho-

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stie entehrt zu haben - ein Ereignis, das als Wiener Gesera (das hebräische Wort „Gesera" bedeutet Verhängnis; es wurde von den Juden fur Verfolgungen und Vertreibungen verwendet) in die mittelalterliche jüdische Geschichte einging. 10 Die Gemeinde wurde zerstreut, ihr Eigentum von Albrecht V. konfisziert, und die Kinder, die nicht verbannt worden waren, wurden zwangsweise getauft. Nach dieser Katastrophe wurde Osterreich unter den Juden als „das blutgetränkte Land" (Erets haDamim) und Wien als „die Stadt des Blutes" (Irha-Damim) bekannt. In der Folge wurde die jüdische Besiedlung Wiens im 15. Jahrhundert in bescheidenem Umfang wieder aufgenommen und hielt trotz der feindseligen Haltung der Stände und der Kirche und der immer wieder drohenden Verbannungen an. Unter dem toleranten, kosmopolitischen Kaiser Rudolf II. (1576-1612) begann der großartige Aufstieg der Prager Juden, und eine Reihe jüdischer Familien, die Sonderprivilegien genossen (hoßefreite Juden), erhielt auch die Erlaubnis, nach Wien zu ziehen und später auch eine öffentliche Synagoge - die erste seit 1421 - zu errichten. Ohne Rücksicht auf die örtlichen Proteste, siedelte Ferdinand Π. die Juden 1624 außerhalb der Stadtmauern in einem Ghetto am Unteren werd, an der Stelle des heutigen Bezirks Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk), an. Bis 1652 gab es bereits 106 Häuser im Ghetto. Die jüdischen Bewohner, in erster Linie Kaufleute und kleine Händler, durften sich während der Geschäftszeiten in der „Inneren Stadt" bewegen und in anderen Teilen der Stadt Geschäfte besitzen.11 Die Judenstadt wurde direkt der kaiserlichen Kanzlei unterstellt, der Wiener Stadtrat hatte keine Kontrolle über sie. Von etwa fünfzig Familien im Jahre 1625 wuchs die Zahl der Wiener Juden bis 1650 auf ungefähr 2.000 an, bedingt unter anderem auch durch die Flüchtlinge, die nach den Chmielnicki-Massakern im Jahre 1648 aus Polen geflüchtet waren. Das Bevölkerungswachstum zeugt von der zunehmenden Bedeutung der Wiener jüdischen Gemeinde um die Mitte des 17. Jahrhunderts und der Dankbarkeit Kaiser Ferdinands, daß sie ihm während des Dreißigjährigen Krieges gegen die protestantischen Aufständischen und ausländische Gegner geholfen hatten, Geldmittel von anderen Juden seines Reiches zu beschaffen. Obwohl sich Ferdinand II. persönlich dem militanten Katholizismus der Gegenreformation verpflichtet fühlte, hatte er erkannt, daß die Juden in den Jahren 1618-1620, als die Habsburgermonarchie ihre größte Krise zu bestehen hatte, ein unverzichtbarer lokaler Faktor waren. Es waren die Juden, die Geld im voraus und im kritischen Moment Lebensmittel und Munition für die Soldaten zur Verfügung stellten, ein Akt der Zusammenarbeit, der belohnt wurde, als die Prager Judenstadt von den kaiserlichen Truppen während der Plünderung der Stadt 1620 verschont wurde. 12 Die wirtschaftliche Macht der Juden als Finanziers, Militärausstatter und Münzmeister, eine Macht, die während des Dreißigjährigen Krieges voll zur Geltung kam, weckte zunehmend den Neid der christlichen Geschäftsleute in Wien. Sobald nach

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1648 dem Protestantismus in Österreich und Böhmen das Rückgrat gebrochen worden war und in den österreichischen Ländern wieder Frieden herrschte, war der Kaiser, der die Juden vorher mit seiner Gunst geschützt hatte, aber nicht mehr von ihrer Unterstützung abhängig. Die der militanten Gegenreformation innewohnende und von einer triumphierenden katholischen Kirche aufgeputschte Logik konnte sich jetzt gegen die österreichischen und böhmischen Juden richten. Die neue Welle des Antisemitismus, von der die österreichischen Länder in den 50er und 60er Jahren des 17. Jahrhunderts erfaßt wurden, war von Volksdemonstrationen gegen die Judenstadt geprägt, die vom Klerus und vor allem von Jesuitenschiilern initiiert wurden und an denen sich Bürger und Handwerker beteiligten.15 Der junge, unerfahrene Kaiser Leopold I. entschloß sich unter dem Einfluß der Bigotterie des unversöhnlichen Bischofs von Wiener Neustadt, Kollonitsch, und des religiösen Fanatismus seiner spanischen Frau sowie unter dem ständigen Druck des Wiener Stadtrates - finanzielle Gewinne für seine Schatzkammer vor Augen - schließlich 1669, die Juden aus Wien zu vertreiben. Nicht einmal das Angebot von 100.000 Gulden oder die Vermittlung Königin Christinas von Schweden konnten die Ausführung des Dekrets verhindern.14 Bis Anfang 1670 wurden 3.000 bis 4.000 Juden aus Wien verbannt - die größte jüdische Vertreibung während eines ganzen Jahrhunderts.15 Zum zweiten Mal war die historische Kontinuität jüdischer Besiedlung in Wien gewaltsam unterbrochen worden. Trotzdem hinderten diese brutalen Vertreibungen den Wiener Hof nicht, weiter als wahre Brutstätte des katholischen Antijudaismus zu wirken. Die Situation spitzte sich 1683/84 zur Zeit der Wiener Türkenbelagerung weiter zu und erneut zu Beginn des österreichischen Vormarsches in Ungarn. In dieser Krisenzeit überrollte eine Welle antijüdischer Gewalt Mitteleuropa (vor allem Böhmen und Mähren), während der leidenschaftliche Augustiner Hofjprediger in Wien, Abraham a Sancta Clara (1646-1709), die Bevölkerung mit seinen stark antisemitischen Traktaten und Predigten aufhetzte, in denen er die Juden als die schlimmsten Feinde der Christenheit brandmarkte.16 Die der Stadt durch die Vertreibung entstandenen finanziellen Verluste und die gefahrliche Unordnung der österreichischen Staatsfinanzen, zu einer Zeit, in der die Habsburger sich an zwei Fronten, nämlich mit Frankreich und mit dem Osmanischen Reich, in Konflikt befanden, führte um 1693 zu dem Vorschlag, die Juden wieder zuzulassen. Ihre Zahl aber war verglichen mit der Zahl der Juden, die vor der Vertreibung im Jahre 1670 in der Judenstadt gewohnt hatten, sehr gering, und fast 200 Jahre lang gab es keine Anzeichen für eine organisierte jüdische Gemeinde. Nur den reichsten Juden war es nach Zahlung von 300.000 Gulden und einer jährlichen Steuer von 10.000 Gulden gestattet, als „tolerierte Untertanen" in Wien seßhaft zu sein. Gottesdienste waren nur in Privathaushalten erlaubt - eine Situation, die auch während des folgenden Jahrhunderts in Wien andauerte.

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Wahrend des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts waren die Führungspersönlichkeiten der Gemeinde prominente HoJjuden wie Samuel Oppenheimer, sein Neffe Samson Wertheimer und Baron Diego d'Aguilar (Moses Lopez Pereira), der 1736 die sephardische „Türkische Gemeinde" in Wien gründete, die infolge des Handels mit dem Balkan immer größer wurde.17 Oberflächlich betrachtet schienen die Hofjuden ein glanzvolles Leben zu fuhren, während die Mehrheit ihrer ärmeren Glaubensbrüder in Mitteleuropa weiterhin ein eingeschränktes Dasein in den Ghettos führen mußte. Trotzdem blieben viele Hofjuden überzeugte Juden, die sich bei der Obrigkeit für ihre Brüder einsetzten, auch wenn sie nach außen hin ihren Lebensstil und ihre Denkweise angepaßt hatten und sich manchmal selbstherrlich und despotisch gegen ihre Glaubensgenossen verhielten. Nicht selten gründeten sie Synagogen und jüdische Schulen, lasen die Thora und den Talmud und ließen religiöse Bücher und Werke jüdischer Gelehrter auf ihre Kosten drucken.18 Aufgrund ihrer Anstrengungen wurde Wien zu einem Zentrum jüdischer Diplomatie für die Juden der habsburgischen Länder sowie zu einem Zentrum der Philanthropie und auch der Unterstützung der Armen von Erez Israel. Außerdem gelang es den Hofjuden oft, die Erlaubnis zu erreichen, daß andere Juden ihnen dorthin nachfolgen durften, wo sie sich bereits mit ihren großen Familien und ihrem Gefolge niedergelassen hatten, sodaß die strikten Niederlassungsbeschränkungen, denen die Juden unterworfen waren, aufgelockert wurden.19 Bisweilen wirkten sie auch als Schtadlanim (Vermittler), um unter anderem ihren Einfluß gegen den neuen Antisemitismus, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Mitteleuropa aufkam, geltend zu machen. So wandten sich die Frankfurter Juden an den Judenkaiser von Wien, Samson Wertheimer, um die Veröffentlichung von Johann Andreas Eisenmengers bösartiger verleumderischer Schmähschrift Entdecktes Judenthum zu verhindern (1699).20 Unter dem Einfluß der Hofjuden Oppenheimer und Wertheimer wurde dieses äußerst „gelehrte" Werk des Heidelberger Professors für Hebräisch, das kommende Generationen von europäischen Antisemiten begeistern sollte, durch Kaiser Leopold und seinen Nachfolger Joseph I. rechtzeitig aus den habsburgischen Ländern verbannt, weil es „für die Öffentlichkeit und die christliche Religion und vor allem für die Ungebildeten schädlich" sei.21 Das Buch Eisenmengers sollte schließlich unter der Patronanz des preußischen Königs Friedrich I. in Berlin neu aufgelegt werden.22 Der Einfluß der Hofjuden geht auf ihre äußerst wichtige Funktion beim Unterhalt von Garnisonen und der Versorgung mit Bargeld während des Dreißigjährigen Krieges zurück. Seit damals beschafften die großen jüdischen Bankiers dank ihrer internationalen Kreditverbindungen in Mittel- und Osteuropa die Kriegsgelder für die habsburgischen Armeen. Obwohl die habsburgischen Kaiser natürlich strenge Katholiken waren, verließen sie sich lieber auf jüdische Geldgeber, weil - wie ein Hi-

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storiker es ausdrückte - „sie [die Juden] ihre Forderungen billiger erfüllen konnten und sie vor allem auch bereit waren, länger auf ihre Zahlung zu warten".23 Außerdem waren die Hofjuden unentbehrlich, solange der habsburgische Kaiser „keinen Verwaltungsapparat besaß, um die Armee zu zahlen und auszustatten", ein Umstand, der bis ins 19. Jahrhundert andauerte. Sie konnten im 17. und 18. Jahrhundert gerade deshalb eine so bedeutende Rolle im Finanz- und Geschäftswesen spielen, weil es in Mitteleuropa (im Gegensatz zu Frankreich oder England) keine leistungsfähige heimische Bürokratie, keinen gut funktionierenden Steuerapparat und kein wohlhabendes, entwickeltes Bürgertum gab, welches das notwendige Geld so reibungslos für den Herrscher hätte aufbringen können. In den habsburgischen Gebieten kam vor allem Samuel Oppenheimer aus Heidelberg (1630-1705), der fuhrende jüdische Armeelieferant, dieser Aufgabe nach; er versorgte die gesamte österreichische Armee am Rhein während des Krieges gegen Frankreich zwischen 1675 und 1679. Er war es auch, der die Logistik der Verteidigung Wiens gegen die Türken während der verzweifelten Belagerung im Jahre 1685 organisierte und der die österreichischen Truppen ausstattete, die nach Ungarn vorrückten, das nun endgültig unter die Herrschaft der Habsburger kam. Während des Neunjährigen Krieges (1689-98) war es wieder Oppenheimer, der die österreichischen Armeen sowohl in Deutschland (gegen die Franzosen) als auch in Ungarn belieferte, während er gleichzeitig den Wiener Hof mit Luxusartikeln und Livreen für dessen Kutscher und Kleider für die Höflinge versorgte.24 Wiederholte Versuche des bigotten, antisemitischen Bischofs Kollonitsch, ihn zu ersetzen, schlugen fehl, da praktisch kein „katholischer Faktor" das notwendige Kapital besaß oder willens war, dem habsburgischen Staat mit seiner sprichwörtlich leeren Schatzkammer in der überaus angespannten Situation solch hohe Kredite zu gewähren. Bis zum Jahr 1694 schuldete die kaiserliche Schatzkammer Oppenheimer die enorme Summe von 5 Millionen Gulden. Bei dessen Tod im Jahre 1703 weigerten sich die Habsburger, dem Erben Emmanuel Oppenheimer ihre Schulden zurückzuzahlen, und der darauffolgende Bankrott des Unternehmens löste nicht nur in der Monarchie, sondern in ganz Europa eine bedeutende Finanzkrise aus, schuldete der österreichische Staat doch noch so manchem Herrscher eine beträchtliche Summe Geldes.25 Samuel Oppenheimer hatte seine Monopolstellung als Militärlieferant der österreichischen Armee aufgrund seines ungewöhnlichen Geschäftssinnes und seiner organisatorischen Fähigkeiten erlangt. Als erster Jude, dem es gestattet war, sich nach der Vertreibung von 1670 wieder in Wien anzusiedeln, war er zu Macht und Ruhm gelangt, weil er die finanzielle Hauptlast der Türkenkriege trug, die ohne ihn wohl nicht zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht worden wären. Er war zwar zu mächtig, um je von den ortsansässigen Antisemiten vertrieben zu werden, dennoch

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wurde sein Haus in Wien 1700, drei Jahre vor seinem Tod, von einem rasenden Mob angegriffen und geplündert.26 Die Nachfolge Oppenheimers in Wien trat sein Protege Samson Wertheimer (1658-1724) an, der nun zum obersten jüdischen Hoffaktor (Bevollmächtigter) des Habsburgerreiches wurde. Wertheimer, der ursprünglich aus Worms stammte und an der Frankfurter Jeschiwa studiert hatte, war von Samuel Oppenheimer selbst Kaiser Leopold I. vorgestellt worden. Er sollte von 1694 bis 1709 als Bevollmächtigter für die finanziellen Angelegenheiten von drei aufeinanderfolgenden habsburgischen Kaisern fungieren. Während des Spanischen Erbfolgekrieges und des Krieges gegen die Türkei war Wertheimer in erster Linie für die Finanzierung der Militäroperationen verantwortlich. Er besorgte die Bezahlung der Generäle, Beamten und Botschafter sowie auch jener Reichsfiirsten, die eine kaiserliche Unterstützimg erhielten.27 Als wohlhabendster Jude seiner Zeit, konnte der findige Wertheimer rasch Geld beschaffen, weil er sich auf ein gut organisiertes internationales System jüdischer Geldwechsler, Händler und Vermittler stützte. Nachdem er die österreichische Schatzkammer schon 1703 nach der Oppenheimer-Krise gerettet hatte, kam er den Habsburgern erneut zu Hilfe, indem er dem Kaiser bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges enorme Summen vorstreckte. Dies allein ermöglichte es Österreich, einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und die ungarischen Aufständischen zu führen.28 Der Einfluß von Oppenheimer und Wertheimer war in der Tat so groß, daß die Behauptung durchaus berechtigt ist, daß die beiden ebensoviel für den Erhalt der Großmachtstellung der österreichischen Monarchie im frühen 18. Jahrhundert getan haben wie diverse Generäle und Staatsmänner. Wertheimer wurde auch mit einer Reihe wichtiger diplomatischer Missionen betraut und zahlte die Unkosten der Friedenskonferenz in Utrecht, die schließlich den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Wertheimer war nicht nur Hofjude, Philanthrop und Schtadlan, er war auch Gelehrter und Gönner von Gelehrten; er errichtete die große Synagoge in Eisenstadt und erhielt den Titel eines Landesrabbiners des ungarischen Judentums für seine Rolle bei der Wiederherstellung der dortigen jüdischen Gemeinden, die während des Krieges zerstört worden waren.29 In seiner Position folgte ihm 1725 sein Schwiegersohn Issachar Berusch Eskeles (1692-1753) nach, ein gelehrter, orthodoxer Jude mährischer Abkunft, der als Hoflieferant in Wien sowohl für die Beschaffung von Waffen als auch von anderen Waren verantwortlich war. Dessen Sohn Bernhard Eskeles (1753-1839), der 1797 geadelt wurde, sollte zu einem der führenden Finanziers der Monarchie werden; er gründete 1816 die Osterreichische Nationalbank und wurde gemeinsam mit seinem großen Rivalen Salomon Rothschild zum Wegbereiter des Eisenbahnbaus in Osterreich. Bernhard Eskeles' Frau Cäcilie, die Tochter des wohlhabenden Berliner Bankiers Daniel Itzig, machte ihr Haus während des Wiener Kongresses zu einem be-

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kannten Gesellschaftsmittelpunkt. Wie ihre Schwester Fanny von Arnstein - die in eine andere fuhrende Wiener Bankiersfamilie eingeheiratet hatte -, gehörte Cäcilie Eskeles einer weniger traditionellen, stärker assimilierten und ästhetisch bewußteren Generation als die ursprünglichen Hofjuden an.50 Da sie nicht mehr an kulturelle Traditionen gebunden waren, übernahmen sie die deutschen Bildungsideale und den Kunstsinn mit einer Ungebundenheit, Leidenschaft und Offenheit, die tatsächlich bemerkenswert waren. Die Bankiersdynastie Arnstein war von Isaak Aaron (1682-1744) gegründet worden, der 1705 nach Wien gekommen, im Dienst Samson Wertheimers aufgestiegen und schließlich zum Hoflieferanten Kaiser Karls VI. und seines Militärs geworden war. Sein finanzieller Einfluß trug dazu bei, die Vertreibung der Juden aus Wien im Jahre 1756 abzuwenden, während es seinem Sohn Adam Isaak Arnstein (1721-1785) durch eine diplomatische Intervention gelang, dazu beizutragen, daß die Verbannung der Prager Juden im Jahre 1744/45 durch Kaiserin Maria Theresia zurückgenommen wurde. Ein weiterer Sohn, Nathan Adam Arnstein (1748-1858), Fannys Ehemann, sollte später gemeinsam mit Bernhard Eskeles (seinem Geschäftspartner und Schwager) der Regierung Josefs II. Darlehen in großem Umfang gewähren. Anfang des 19. Jahrhunderts finanzierte die Arnstein-Eskeles Bank auch den Tiroler Bauernaufstand gegen die Armeen Napoleons.31 Die Hofjuden trugen daher nicht nur zur Entwicklung und Konsolidierung des zentralisierten absolutistischen Staates bei sie legten auch den Grundstein fur die Entstehung einiger wichtiger Bankhäuser, denen in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselfunktion zukommen sollte. Die Bedeutung der Hofjuden und ihrer Nachfolger fur die Zukunft der Wiener Juden und die Geschichte des Reiches insgesamt war beachtlich. Die symbiotische Beziehung, die sich zwischen den wohlhabenden Hofjuden und dem habsburgischen Staat im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte, beeinflußte nämlich die politische Ausrichtung des österreichischen Judentums in hohem Maße. Einerseits lag es im wirtschaftlichen Interesse des absolutistischen Staates, einzelnen Juden gewisse Vorrechte zuzugestehen, sie als spezielle Gruppe zu behandeln und zu verhindern, daß sie ganz mit einer katholischen Bevölkerung verschmolzen, die ihnen eindeutig feindselig gesinnt war; andererseits entwickelte sich auf jüdischer Seite gleichzeitig die Tendenz, den absolutistischen Staat als einen Schutzherrn anzusehen, auch wenn dessen Macht zurückging und dessen Politik sich scheinbar gegen die breite Masse der Juden richtete. Der daraus resultierende Handel setzte die Außergewöhnlichkeit und Unverzichtbarkeit der wirtschaftlichen Funktion der Juden voraus. Der absolutistische Staat war bereit, den Hofjuden Rechte und Freiheiten zuzugestehen, die er nicht nur der Masse der fast mittellosen Juden, sondern auch der damaligen christlichen Mittelklasse verwehrte. Dies traf nirgends mehr zu als in der Habsburger-

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monarchic, spielten doch nach Meinung von Heinrich Schnee und anderen die jüdischen Finanzen eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der Großmachtstellung Österreichs. Daß solche Regelungen äußerst ungewöhnlich waren, wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß die Juden im Gegensatz zu anderen europäischen Gesellschaftsgruppen der frühen Neuzeit zu keiner eindeutig definierten sozialen Gruppe gehörten. Sie waren weder Grundbesitzer noch Bauern, weder Soldaten noch Beamte, sie gehörten nicht dem Mittelstand an, waren keine Kleinbürger und keine Handwerker. Mit den Worten Hannah Arendts: „Obwohl also ihre gesellschaftliche Stellung dadurch bestimmt war, daß sie Juden waren, war sie ganz unabhängig von einer Beziehung zu einer der Klassen der Gesellschaft. Ihre Funktion im Staatsapparat, d. h. die Dienste, die sie dem Staat erwiesen, wie die Protektion, mit der die Regierung sie für diese Dienste entlohnte, verhinderte sowohl ihr Verschwinden in einer der bestehenden, wie ihre Etablierung als eine eigene Klasse innerhalb der Gesellschaft. Wo immer im neunzehnten Jahrhundert die Gesellschaft ihnen die Türen öffnete, sei es in der bürgerlichen oder der adeligen Gesellschaft, blieben sie stets eine von der Umwelt abgesonderte, leicht erkennbare Gruppe." 5 2

Die offizielle Politik zahlreicher habsburgischer Regierungen seit dem 17. Jahrhundert war natürlich viel weniger konsistent, beharrlich und klar umrissen, als solch ein theoretisches Modell nahelegen könnte. So schwankte die Politik Kaiserin Maria Theresias (1740-1780) zwischen dem merkantilistischen Wunsch, die Früchte jüdischer Teilnahme am Wirtschaftsleben zu ernten - wie in dem Dekret von 1749, in dem die Juden aufgefordert wurden, Manufakturen zu errichten - und einer strengen, restriktiven Gesetzgebung, die von einer tiefen religiösen Antipathie zeugte.53 Die völlige Vertreibung der Prager Juden nach dem Zweiten Krieg gegen Schlesien (bei dem Schlesien offiziell an Preußen abgetreten wurde) widersprach eindeutig der allgemeinen Linie ihrer Regierung, Handel und Industrie zu fordern, auch wenn sie wohl im Einklang mit ihren katholischen Vorurteilen stand.34 Zugegebenermaßen erstreckten sich diese Vorurteile nicht auf Joseph von Sonnenfels, einen getauften Juden, der einer der engsten Berater der Kaiserin war, ein deutsches Nationaltheater in Wien begründete und dieses zu einem Zentrum des aufgeklärten Gedankengutes machte.55 Abgesehen von solchen Ausnahmen, verhinderten drakonische Einschränkungen in den Niederlassungsrechten ihrer ungetauften „tolerierten Untertanen" unter Maria Theresia aber trotzdem jedes schnelle Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in Wien. 1752 lebten nicht mehr als 452 Juden in der Stadt, und bis 1777 stieg diese Zahl nur leicht auf 520 an (von insgesamt ungefähr 550.000 Juden in den habsburgischen Ländern). Ein Jahr später beschwerte sich jedoch der Wiener Erzbischof Migazzi bei der Regierung über wachsende gesellschaftliche Kontakte zwischen Christen und Ju-

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den. Ein konservatives Mitglied des Staatsrates erklärte in der darauffolgenden Debatte, daß er entsetzt sei, daß junge Juden in der Öffentlichkeit „in der Gesellschaft von jungen Christen" gesehen werden könnten, ohne Unterschied in der Kleidung und „einige sogar mit einem Schwert an ihrer Seite". Nicht weniger beunruhigend war ihm der Anblick jüdischer Frauen, die „fast wie eine Dame von Rang gekleidet wären und in Gesellschaft von christlichen Männern und Frauen gingen ..." Das jüdische Volk, beklagte sich der Rat, „besucht jetzt Gastwirtschaften, Ballsäle und Theater und verkehrt mit den Christen, die sich dort aufhalten".36 Dieser Integrationsprozeß sollte durch die aufgeklärte Gesetzgebung von Maria Theresias Sohn Josef II. (1780-1790) beschleunigt werden, dessen Toleranzpatent von 1781 in mancher Hinsicht die künftige Emanzipation ankündigte, auch wenn es in einigen jüdischen Kreisen kritisiert wurde. Josef teilte die Verachtung seiner in dieser Hinsicht fanatischeren Mutter für die Juden nicht, noch war er bereit, vorsichtig abzuwarten, bis sich eine Änderung der verbreiteten antisemitischen Vorurteile bei den Armen in Stadt und Land abzeichnete. Im Mai 1781 stellte er in einem Brief an den Hofkanzler klar, daß er die Zulassung der Juden zum öffentlichen Unterricht, zu Landwirtschaft, Industrie und sonstigen Berufen erwäge, sobald sie über die nötige Ausbildung verfugten. Das Ziel der josefinischen Politik war es, seine immer zahlreicheren jüdischen Untertanen (die Annexion Galiziens 1772 nach der ersten Teilung Polens hatte die jüdische Bevölkerung der Monarchie mehr als verdoppelt) für den Staat nützlicher τα machen. Josef sah die von ihm vorgeschlagene Reform als Teil eines größeren Vorhabens, das Reich zu modernisieren, zu zentralisieren und mit einheitlichen Verwaltungsgesetzen auszustatten, und für dieses Ziel konnte er mit der Unterstützung seiner fortschrittlicheren Ratsmitglieder und Berater rechnen. Das Toleranzpatent wurde schließlich 1782 erlassen. Es war eine Zusammenfassung früherer Vorschläge Josefs II., machte einige unvermeidbare Konzessionen an die verbreiteten Vorurteile (und an die feindselige Haltung der niederösterreichischen Regierung), hob aber trotzdem viele bestehende Einschränkungen für die Juden auf.37 So wurden das Tragen einer gelben Binde und die bis dahin von den Juden eingehobene Kopfsteuer abgeschafft.38 Juden wurden aufgefordert, sich in der Landwirtschaft zu betätigen und ein Handwerk zu erlernen; es wurde ihnen gestattet, Schulen und Universitäten zu besuchen. Es war ihnen erlaubt, Fabriken und große Unternehmen aufzubauen und im Handel gleichberechtigt zu konkurrieren. Im Zuge der neuen Bemühungen, den Kontakt der Juden mit der allgemeinen Kultur zu erleichtern, wurden sie angewiesen, deutschsprachige Grundschulen für ihre Kinder einzurichten (oder diese an staatliche Schulen zu schicken). Ein weiterer wichtiger Schritt zum Abbau der Trennung war die Zulassung von Juden zur Armee im Jahr 1787, wo sich ihnen schließlich, zumindest in den unteren Offiziersrängen, gleiche Chancen eröffneten.

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Gleichzeitig führten die Reformen Josefs II. zur Abschaffung der jüdischen Gerichtsautonomie (1784). 1788 wurde den Juden befohlen, sich bei öffentlichen und kommerziellen Angelegenheiten nicht mehr des Hebräischen oder Jiddischen zu bedienen und deutsch klingende Familiennamen anzunehmen. Diese Maßnahmen vor allem das Ende ihrer Autonomie und ihres Separatismus -, welche die jüdischen Sitten verändern, die wirtschaftlichen Gepflogenheiten reformieren und vor allem die nationale Eigentümlichkeit des österreichischen Judentums beenden sollten, wurden von der Mehrheit der traditionellen Juden (außerhalb Wiens) als unheilvolle Bedrohung ihrer Kultur und ihres Lebensstils abgelehnt. Die Integration der Juden in die österreichische Gesellschaft, Erziehung und Armee brachte es mit sich, daß, wie ein Historiker der frühen Neuzeit Europas es vor kurzem ausdrückte, „die jüdische Selbstverwaltung und die Autonomie der jüdischen Gesellschaft hinweggefegt wurden". 59 Zunächst sollte den jüdischen Gemeindeorganisationen ihre steuerliche Gewalt genommen werden, dann wurde die rechtliche Autonomie der böhmischen und mährischen Gemeinden, die an die 69.000 Juden umfaßten, durch die Dekrete der Jahre 1785 und 1788 abgeschafft. In Galizien, das bereits eine jüdische Bevölkerung von 212.000 Menschen umfaßte, als Naftali Herz Homberg (1749-1841) 1787 zum Inspektor der deutschsprachigen jüdischen Schulen (und Hilfszensor für jüdische Bücher) ernannt wurde, trat der Konflikt zwischen der josefinischen Modernisierung und der traditionellen Kultur besonders kraß in Erscheinung. Homberg, ein früherer Mitarbeiter von Moses Mendelssohn und Wegbereiter der Berliner Haskala, der in Lieben bei Prag geboren wurde, war 1782 nach Wien gezogen, da ihn die Neuerungen im Unterrichtswesen interessierten, die nach den Toleranzedikten der Regierung Josefs Π. in die Wege geleitet worden waren. Nach seiner offiziellen Ernennung 1787 sollte Homberg nicht weniger als 107 Klassen und Schulen in Galizien und ein Lehrerseminar in Lemberg einrichten. In Galizien arbeitete er eng mit den österreichischen Behörden zusammen, um bei den dortigen Glaubensbrüdern seine Auffassung von „Aufklärung" durchzusetzen, und denunzierte erbarmungslos strenggläubige Juden, die sich weigerten, seinen Forderungen nachzukommen.40 In offiziellen Memoranden brandmarkte er die Rabbiner und den Talmud, weil sie Juden davon abhielten, ihre patriotischen Pflichten gegenüber dem christlichen Staat zu erfüllen (bezeichnenderweise konvertierten Hombergs vier Söhne), und er schlug wiederholt vor, die jüdische Literatur von ihrem abergläubischen und angeblich heidnischen Vorurteil zu säubern. Bei seinen radikaleren Vorschlägen trat Homberg dafür ein, die strengsten Formen jüdischer Erziehung aufzugeben, die Verwendung des Hebräischen strikt zu verbieten, das Tragen der typischen Kleidung und der traditionellen Bärte abzuschaffen und die Juden zu verpflichten, produzierenden Tätigkeiten nachzugehen.41 Hombergs pädagogisches Programm, die jüdische Erziehung unbarmherzig der zeit-

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genössischen europäischen (und vor allem deutschen) Kultur anzupassen, entsprach sicherlich dem Ethos der josefinischen Aufklärung; für die Verdienste, die er der Regierung bei der Umgestaltung des jüdischen Lebens geleistet hatte, erhielt er auch eine kaiserliche Goldmedaille. Seine Versuche, den galizischen Juden das deutsche Schulsystem mit Hilfe von ausschließlich mitteleuropäischen Lehrern aufzuzwingen, stießen aber auf vehementen Widerstand vor Ort, so daß er 1806 zurücktreten mußte.42 Es überrascht nicht, daß ein großer Teil des traditionellen, in Galizien und Ungarn beheimateten habsburgischen Judentums von Beginn an die Toleranzedikte des josefinischen Absolutismus als „Gesera" („Verhängnis") ansah - vor allem die Einberufung der Juden zum Militärdienst. Die religiösen Führungspersönlichkeiten fürchteten außerdem die von den Aufklärern vertretene offene Ablehnung des Talmud, ihre Entschlossenheit, das Unterrichtssystem zu reformieren und die Selbstbestimmung in den Gemeinden zu zerstören (wobei nur religiöse Angelegenheiten und wohltätige Einrichtungen in den Händen der Gemeinde verblieben), ganz zu schweigen von der josefinischen Beharrlichkeit, die Nationalsprachen Jiddisch und Hebräisch abzuschaffen. Hinzu kam noch, daß die galizischen Juden nach 1785 ausdrücklich aufgefordert wurden, ihre geschäftlichen Tätigkeiten radikal zu ändern, um dem Staat von Nutzen zu sein. Die jüdische Allgemeinheit hatte tatsächlich guten Grund, über die unterdrückerischen „jüdischen" Sondersteuern und die stümperhaften Versuche des josefinischen Beamtentums verärgert zu sein, die sie „produktiver" machen sollten, aber nur zum Verlust der Lebensgrundlage für die Mehrzahl der ländlichen jüdischen Bevölkerung in Galizien und deren wachsender „Proletarisierung" beitrugen.43 In den Ländern der böhmischen Krone jedoch stießen die Versuche, die Juden in das wirtschaftliche und kulturelle Leben des Reiches zu integrieren, auf größere Zustimmung. 44 Es muß erwähnt werden, daß eine Reihe diskriminierender Bestimmungen in Kraft blieb, so zum Beispiel das berüchtigte Familiantengesetz Maria Theresias, das ein natürliches Wachstum der jüdischen Bevölkerung verhindern sollte, indem nur dem ältesten Sohn der Familie die Heirat erlaubt war; ein Steuersystem, das den Juden eine dreimal höhere Steuerlast auferlegte als nichtjüdischen Steuerzahlern; und der weiter geltende Ausschluß von der Staatsbürgerschaft. Die Anordnung des Kaisers, den Juden zu gestatten, Manufakturen (Fabriken und industrielle Werkstätten) zu errichten, die nicht den Einschränkungen der Zünfte unterlagen, hatte jedoch weitreichende Auswirkungen für die Zukunft. Von ebenso großer Bedeutung war, daß Kinder wohlhabenderer jüdischer Familien die Universitäten besuchen durften und daß die josefinische Assimilierung notgedrungen eine Anpassung an die deutsche Kultur und Sprache war. Dieser Germanisierungsprozeß war ein integraler Bestandteil des einheitlichen kaiserlichen Patriotismus des reformier-

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ten österreichischen Staates - der von nun an auf einem einheitlichen Unterrichtssystem basierte und sich auf eine einzige Staatssprache stützte. Wahrend religiös konservative böhmische Juden die josefinische Säkularisierung im deutschen Sinne ebenso ablehnten wie ihre Glaubensbrüder in Galizien, konnte die Politik Josefs II. in den böhmischen Ländern einige Erfolge verbuchen.45 Zur damaligen Zeit übte die deutsche Literatur mit ihrem humanistischen Anliegen eine große Anziehungskraft auf die gebildeten böhmischen Juden aus. Sie schien nicht nur mit dem Mendelssohnschen Rationalismus und anderen liberalen Tendenzen in der jüdischen und nichtjüdischen Welt übereinzustimmen, sie war das beste Mittel für einen kulturellen und sozioökonomischen Fortschritt und sprach vor allem jene städtischen Juden an, die schon eine dem Deutschen nahe verwandte Sprache sprachen (das Jiddische), obwohl sie in einer bäuerlich-tschechischen Umgebung lebten. Der Josefinismus schien den böhmischen Juden des 19. Jahrhunderts ein universalistisches, säkularistisches Konzept für die neue Zeit zu bieten, das sie bereitwillig aufgriffen, ohne sich bewußt zu sein, daß sie dies in den Augen des aufkommenden tschechischen Nationalismus als Fremde und Pro-Deutsche abstempeln würde. Während Josef II. in der Folge zum Idol der jüdischen Maskilim in der gesamten Monarchie wurde, wurde sein Toleranzpatent doch nirgends begeisterter aufgenommen als von den „tolerierten" Juden Wiens, auch wenn es keine der rechtlichen Restriktionen, denen die Juden in Wien unterlagen, lockerte.^ Den Wiener Juden wurden auch weder die Bürgerrechte im Staat noch in den Gemeinden gewährt. Tatsächlich hatten sie alle Bürgeipflichten, aber nicht alle Bürgerrechte. Sie wurden strikt vom Staatsdienst ausgeschlossen, eine Vielzahl von Einzelhandelsgewerben und Berufen war ihnen verboten, und es war ihnen nicht gestattet, Land oder bäuerlichen Grundbesitz zu kaufen. Die Wiener Juden durften nicht einmal ohne Genehmigimg ein Haus bauen und waren noch immer mühsamen bürokratischen Kontrollen unterworfen. Sie durften auch noch immer nicht ihre eigene Gemeinde (Kehüla) mit anerkannten Statuten, eigenen öffentlichen Synagogen und anerkannten Rabbinern organisieren. Die „tolerierten" Juden konnten sich jedoch überall niederlassen und durften überall in der Stadt und den Vororten wohnen. Es war ihnen nun auch gestattet, an Sonntagen und christlichen Feiertagen vor Mittag auf die Straße zu gehen. Außerdem erkannten die „tolerierten" Juden und die Maskilim, daß die Politik Josefs Π. trotz all ihrer Unzulänglichkeiten dennoch eine revolutionäre Abwendung von der rein ausbeuterischen Haltung des merkantilistischen Absolutismus war, wie sie seine Vorgänger vertreten hatten. Sie konnten sehen, daß sie von relativ toleranten, aufgeklärten Grundsätzen und von dem echten Wunsch getragen war, mit den schmachvollen Demütigungen vergangener Knechtschaft Schluß zu machen. Die Verbesserung der Lage der Juden war ja ein erklärtes Ziel der Aufklärung, auch

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wenn es der österreichischen Regierung geboten schien, gleichzeitig ihre Zahl weiterhin zu beschränken. Aus Wiener Sicht konnte dies aber nicht von der Tatsache ablenken, daß die josefinische Politik einer wachsenden Schicht von Händlern neue wirtschaftliche Möglichkeiten, vor allem im Großhandel, eröffnete. Gleichzeitig stand sie am Beginn einer weltoffenen jüdischen Intelligenz, die in deutschsprachigen Schulen unterrichtet wurde und welcher der Universitätsbesuch offenstand.47 Gerade weil die josefinischen Reformen die jüdische Kultur zum ersten Mal in deutsche Kanäle lenken wollten, sollten sie den Juden in ihrem langen Kampf um Emanzipation in Österreich neue Möglichkeiten eröffnen. Abgesehen davon, daß das Toleranzpatent einen wichtigen Präzedenzfall in Osterreich schuf, war es schließlich auch das erste Gesetz eines europäischen Staates, das den Juden das Recht zuerkannte, sich als ständige Bewohner des Landes zu fühlen, in dem sie lebten. Es implizierte, daß der Herrscher die Juden in seinen Ländern als Untertanen sah, für deren Wohlergehen er genauso verantwortlich war wie für das der Angehörigen anderer religiöser oder nationaler Gruppen. Als Gegenleistung für das Recht der Teilhabe an der allgemeinen Kultur wurde von den Juden natürlich erwartet, daß sie frühere Gruppeninteressen aufgaben. Aber auch dies schien nur Teil jenes allgemeinen Preises zu sein, der vom modernen, einheitlichen Beamtenstaat gefordert wurde, dessen Ziel es war, alte Beschränkungen, Verbote und Sonderinteressen einzelner Gruppen zu nivellieren. Josef II., jener unermüdliche erste Beamte seines Staates, akzeptierte, daß es die Pflicht seiner Regierung war, sich um das Wohlergehen aller seiner Untertanen zu kümmern, genauso wie er optimistisch an die Souveränität der Vernunft und die Formbarkeit des Menschen und der Gesellschaft glaubte. Das kaiserliche Modell des aufgeklärten Absolutismus, das eine Umsetzung der „himmlischen Stadt" der Philosophen des 18. Jahrhunderts war, übte nicht nur wegen seines Rationalismus, seiner Weltoffenheit und seines praktischen Humanismus einen so großen Einfluß auf das gebildete österreichische Judentum des 19. Jahrhunderts aus, es versprach vielmehr eine Synthese des nahezu religiösen Glaubens vieler Juden an die starke väterliche Hand des übernationalen Staates und ihrer stetig wachsenden Bindung an die deutsche Bildung und Kultur. Es sollte dies eines der wichtigsten Vermächtnisse der neuen Epoche an die österreichische jüdische Geschichte sein, die in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts durch einen Gesetzesakt Kaiser Josefs II. eingeleitet worden war. Wie der angesehene österreichische Jude Josef von Wertheimer 1842 schrieb, war Josef Π. „ein Despot wie der Frühling, der des Winters Eis zerbricht".4® In anderer Hinsicht hinterließ die josefinische Ära ein ambivalentes Vermächtnis. Der Weg zur sozialen und kulturellen Integration war den höheren jüdischen Schichten, die sich nur zu bereitwillig assimilieren wollten, fraglos geebnet worden. Die Lage der breiten Masse der jüdischen Bevölkerung verschlechterte sich andererseits

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umso mehr, als sie ihren traditionellen Zusammenhalt und ihr altes System der institutionellen Selbstbestimmung verloren. Die soziale und intellektuelle Elite des Wiener Judentums des späten 18. Jahrhunderts schien in der Tat mit ihrer Umgebimg zu verschmelzen. Je mehr sich die „Tolerierten" in Wien in ihrem Verhalten und ihrer Lebensführung integrierten, desto weiter entfernten sie sich von der jüdischen Gesellschaft insgesamt. Trotz der noch immer geltenden rechtlichen Restriktionen wurde eine Reihe dieser privilegierten Familien in den Adelsstand erhoben. In dieser Beziehung waren die Habsburger viel großzügiger als die übrigen deutschen Dynastien. So gab es 1820 unter den 135 „tolerierten" Familien in Wien neun (Bankiers, Industrielle und Großkaufleute) mit verschiedenen Adelstiteln - Rothschild, Arnstein, Eskeles, Herz, Neuwall, Wertheimstein, Honigsberg, Lämel und Leibenberg - , und das zu einer Zeit, in der kein österreichischer Jude bürgerliche oder politische Rechte genoß.49 An der Spitze der gesellschaftlichen Anerkennung standen eindeutig die Bankiers, Hoflieferanten und Monopolinhaber; ihnen folgten die Getreide-, Woll- und Fellgroßhändler, die auch die fertigen Textilprodukte, Seide und Kurzwaren aus ihren Fabriken in und um Wien in die Provinz exportierten. Sie führten neue Produktions- und Vertriebsmethoden ein und forderten die industrielle Entwicklung in der Hauptstadt. Diese Schicht überaus reicher Finanziers und Händler gab den Ton in der jüdischen Gesellschaft Wiens im frühen 19. Jahrhundert an. Die Kriege gegen die Französische Revolution und Napoleon hatten mittlerweile den jüdischen Bankiersfamilien, die oft durch Heirat miteinander verbunden waren, wie die Arnstein mit den Eskeles, neue Möglichkeiten geboten, ihre geschäftlichen Aktivitäten auszuweiten. Einige von ihnen sollten besondere Erfolge in der Wiener Gesellschaft und den zeitgenössischen kulturellen und intellektuellen Kreisen verzeichnen. Viele führende Persönlichkeiten der Zeit, von Kaiser Josef II. und der Aristokratie bis zu den Varnhagen, Schlegel, Madame de Stael und dem berühmten österreichischen Dichter Franz Grillparzer, besuchten den luxuriösen Salon Fanny von Arnsteins (1757-1818). Am Wiener Kongreß (1815-1816) nahmen die führenden Diplomaten der Zeit wie Metternich, Talleyrand und Hardenberg an ihren Empfangen teil, und der „Kongreß tanzte" vor allem in ihren Ballsälen. Obwohl die Arnstein die Sitten und das Leben der christlichen Oberschicht annahmen und sich wenig für das Judentum interessierten, unterzeichnete Fannys Ehemann Nathan Adam gemeinsam mit Eskeles, Heiz, Lämel und Auspitz während des Wiener Kongresses eine Petition an den Kaiser, in der die Bürgerrechte für die österreichischen Juden gefordert wurden, eine Bitte, die abgeschlagen werden sollte, was nicht weiter erstaunlich war.50 Das glänzende, elegante kulturelle Leben Wiens zu Beginn des 19. Jahrhunderts war stärker aristokratisch geprägt, es fehlte ihm die kritische Intellektualität Berlins,

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die damals vor allem vom Salon Rahel Varnhagens ausging.51 Trotzdem sorgten die engen familiären Verbindungen zu Berlin (Fanny von Arnstein war die Tochter des Berliner Hofjuden Daniel Itzig) und der enorme intellektuelle Einfluß führender Persönlichkeiten der deutschen Aufklärung, wie der Philosophen Kant und Lessing, Wilhelm von Humboldt und Hardenberg (Vertreter Preußens am Wiener Kongreß, die den Juden wohlgesonnen waren), fur viele Gemeinsamkeiten.52 Wie in Berlin ließen sich viele dieser arrivierten Juden der Oberschicht aus unterschiedlichsten Gründen taufen. Für einige zählte vor allem die Aussicht auf wirtschaftliche Möglichkeiten, gesellschaftlichen Status und die Chance, heiß ersehnte einflußreiche Positionen zu erlangen. Für andere war es, wie Heinrich Heine es zynisch formulierte, ihre „Eintrittskarte in die europäische Kultur"; für wieder andere war es eine Frage der religiösen Uberzeugung, Resultat idealistischer Romantik, echter, komplexer, innerer geistiger Bedürfnisse. So wurde Dorothea Mendelssohn-Veit (die älteste Tochter von Moses Mendelssohn) nach ihrer Heirat mit dem hitzköpfigen Friedrich Schlegel in Berlin schließlich nach 1808 zur Fürsprecherin des gegenreformatorischen Katholizismus im Wien der Restaurationszeit.55 Der Katholizismus, der eine so beherrschende Rolle im Mittelalter, während der Gegenreformation und in der österreichischen Kultur des Barock gespielt hatte, sprach jene Juden und Jüdinnen der wohlhabenden, kultivierten Elite an, die von ihrem geistigen Ursprung abgeschnitten worden waren. Da sie sich, im Gegensatz zur Situation in Berlin, nicht auf eine legale, organisierte jüdische Gemeinde oder das Beispiel starker Rabbiner stützen konnten und sich schon weit von der Welt des Ghettos und des orthodoxen Judentums entfernt hatten, wurden sie leichter von der Kraft des katholischen Mystizismus angezogen. Andererseits waren viele Konvertiten nicht Christen im tieferen Sinne des Wortes, sie sahen die Aufgabe des Judentums eher als einen geeigneten Schritt, sich vollkommen an ihre neue Umgebung anzupassen. So wurde geschätzt, das drei Viertel der geadelten jüdischen Familien Wiens zwischen 1787 und 1847 zum Christentum übergetreten sind. Für diese Elite stand ein Übertritt nicht im Widerspruch zu den Idealen der Toleranz und der Religion der Vernunft, wie sie von der Aufklärung verkündet wurden, er entsprach vielmehr ihrem Wunsch, sich dem Geist der Zeit anzupassen. Fanny von Arnstein kann als typisches Beispiel für eine Frau gelten, die zwischen den Kulturen stand. Obwohl sie die erste war, die in Wien in einem jüdischen Haus einen Christbaum hatte, konvertierte sie trotzdem nicht, sie behielt eine letzte, sentimentale Anhänglichkeit zum Judentum, die sie vergeblich ihrer getauften Tochter weiterzugeben versuchte.54 In ihrem Testament bedachte sie zu gleichen Teilen das örtliche jüdische Krankenhaus und ein Altersheim fur katholische Priester in Wien. Was die „fortschrittliche", wenn auch strukturell schwache Gemeinde der Wiener Juden in der Zeit vor 1848 (Vormärz) vor dem vollkommenen Zerfall bewahrte,

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war die Gründung einer jüdischen Schule (1812), der Bau einer beeindruckenden klassizistischen Synagoge (Stadttempel) in der Seitenstettengasse (1826) und die Berufung des jungen dänischen Rabbiners Isaak Noah Mannheimer (1793-1865) aus Deutschland zum geistigen Leiter der Gemeinde. Mannheimer war es auch, der in der Folge einen Bruch zwischen „Orthodoxen" und „Reformern" verhinderte, weil er gemeinsam mit dem musikalisch begabten Kantor Salomon Sulzer sein eigenes „Wiener Ritual" einführte, eine ästhetisch ansprechende Form des Gottesdienstes, die von einem Chor ergänzt wurde, in dessen Mittelpunkt eine erbauende, auf Deutsch gehaltene Predigt stand.55 Mannheimer hatte seine Lehrjahre in den reformierten Tempeln in Deutschland verbracht, obwohl er darauf bedacht war, in Wien die radikalen Aspekte der deutschen Reform (wie die Verwendung einer Orgel, priesterliche Kleidung oder die Imitation von Kirchenliedern) abzuschwächen und jede Veränderung, die dem Schulchan Aruch widersprach, zu vermeiden. Insbesondere akzeptierte Mannheimer, daß der Gottesdienst auf Hebräisch gehalten wurde und die Gebete mit messianischem und nationalem Charakter weiter verwendet wurden. Diese gemäßigte und relativ konservative Wiener Reform hatte eine große Auswirkung auf die imgarische Neologie - sie wurde in Pest angenommen (1826) und verbreitete sich rasch in den Zentren der österreichischen Länder wie Prossnitz (1852), Prag (1833), Lemberg, Krakau und Brody in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und schließlich auch in Warschau und Odessa. Die treibende Kraft der Wiener Reform und auch der Mann, der Mannheimer in die Stadt eingeladen hatte, war der energische Gemeindevorsteher Michael Lazar Biedermann (1769-1845), ein wohlhabender Großhandelskaufmann aus dem ungarischen Preßburg, der Wien im frühen 19. Jahrhundert zu einem Zentrum der Wollindustrie des Reiches gemacht hatte.56 Biedermann war als Jugendlicher nach Wien gekommen, hatte das Graveur-Handwerk gelernt und wurde beauftragt, 1798 am kaiserlichen Siegel zu arbeiten. Nach einigen Jahren im Schmuck- und Antiquitätengeschäft stieg er gemeinsam mit L. A. Auspitz ins Wollgeschäft ein, wo er sein Vermögen machte. Biedermann spielte eine äußerst wichtige Rolle bei der Bildung einer religiösen Gemeinde in Wien, deren Vertreter er ab 1806 war, zu einer Zeit, als sich die Bedingungen für Juden ständig verschlechterten. Seiner Entschlußfreudigkeit als führende Persönlichkeit der Gemeinde, der seinen Einfluß beim Kaiser als erfolgreicher Finanzier und Unternehmer (er hatte eine der ersten Banken Österreichs gegründet) geltend machte, verdankte die Wiener Judenschaft bei ihrem Kampf um eine gewisse offizielle Anerkennung und gesellschaftliche Achtung sehr viel.57 Biedermann wurde von seinem Buchhalter Leopold Harzfeld (der auch als Wiener Zensor hebräischer Bücher fungierte) bestärkt, die Einführung von Unterrichtsreformen und Gottesdiensten anzustreben, die sich an das Hamburger und Berliner

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Vorbild anlehnten. Vor allem seinen Bemühungen war es zu verdanken, daß der Grundstein für den ersten Stadttempel (der eine Schule, ein Altersheim, ein rituelles Bad und eine Synagoge umfaßte) schließlich am 12. Dezember 1825 gelegt wurde und somit ein neues Zentrum für das religiöse und das Gemeindeleben des kultivierten jüdischen Großbürgertums im Wien der Restaurationszeit entstand. Mannheimer seinerseits sorgte für die geistige Inspiration und prägte den Charakter des neuen Stadttempels während der folgenden vierzig Jahre stark, indem er geschickt das traditionelle Judentum an das von seinen Gönnern geforderte Maß an Dekor, Würde, Veredelung und Bildung anpaßte, ohne religiöse Inhalte oder den Zusammenhalt der Gemeinde aufs Spiel zu setzen.58 In der Zeit des Vormärz war diese Harmonie noch nicht von einer Massenzuwanderung armer, orthodoxer Juden aus den Ghettos des gesamten Reiches bedroht, denen die Regierung den Zugang nach Wien strikt verwehrte.59 Trotzdem durfte das orthodoxe Element weder in Wien noch an der Peripherie des Reiches ignoriert werden - dies war ein Grund, der Mannheimers Reformabsichten unter Kontrolle hielt.60 Schon vor 1848 kamen jährlich Tausende Juden auf Geschäftsreise aus allen Ecken des großen Reiches - aus Böhmen, Mähren, Ungarn, Galizien, Triest und Görz - zu den großen Messen nach Wien.61 Obwohl sie unter ständiger polizeilicher Überwachung durch das Judenamt standen und unverzüglich ausgewiesen wurden, sobald man sie ohne „Eintrittskarte" ertappte, schlüpften einige tausend Juden durch das Netz der Kontrolle und machten alle Anstrengungen der Regierung zunichte, Wien von den Juden abzuriegeln und eine Zunahme ihrer „tolerierten" jüdischen Bevölkerung zu verhindern. Eine der unbeabsichtigten Folgen dieses stetigen Einsickerns von böhmischen, mährischen, ungarischen und galizischen Juden im Vormärz war, daß der beschleunigte Assimilationsprozeß im Wiener Judentum verlangsamt wurde. Schließlich ignorierten die Behörden diese illegalen Bewohner, die sich nicht, wie gesetzlich verlangt, meldeten, sich aber am raschen Aufstieg von Handel und Industrie in Österreich beteiligten (durch die Eröffnung von Werkstätten oder den Hausierhandel mit fertigen Produkten); so wurde die typisch österreichische Haltung des „schlampigen Despotismus" einer Reform oder Veränderung der Gesetze vorgezogen. Die Judenpolitik des Kaisers Franz I. (1792-1806 Franz II. als römisch-deutscher Kaiser, 1804-1835 Franz I. als Kaiser von Osterreich) wies tatsächlich eine Fülle solcher Inkonsequenzen und Widersprüche auf, sowohl in der Gesetzgebung als auch in der administrativen Anwendung - eine Mischung aus Toleranz und Unterdrükkung, Schutz und Illegalität, Förderung der Assimilation und deren Behinderung durch zahllose bürokratische Einschränkungen jüdischer Rechte.62 Die Gewährung von speziellen Privilegien an großbürgerliche Wiener Juden neben der demütigenden Unterdrückung der breiten Massen der jüdischen Bevölkerung in der Provinz

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bestimmte daher weiter die österreichische Politik vor 1848.63 Während Josef Π. seiner Zeit eindeutig voraus gewesen war, stellten seine konservativeren Nachfolger sicher, daß der Status des österreichischen Judentums auf der gleichen Position eingefroren wurde, die ihm durch das Patent von 1782 zugewiesen worden war, während die Juden Frankreichs (1791), Hollands, Preußens (1812) und der anderen deutschen Staaten unaufhaltsam ihrer Emanzipation und vollen rechtlichen Integration entgegenstrebten. Zwischen 1782 und der Revolution von 1848 fanden grundlegende Veränderungen im jüdischen Leben statt, denen von der österreichischen Gesetzgebung aber nicht Rechnung getragen wurde, womit sie eine gefährliche Kluft zwischen dem pays legal und dem pays reel schuf. Zu dieser Zeit wurden die Ausweitung und eine erste Modernisierung der österreichischen Industrie, des Handels, des Banken- und Transportwesens mit der entscheidenden Hilfe einer Reihe mutiger jüdischer Finanziers und Geschäftsleute in die Wege geleitet.64 Die Textilindustrie erlebte unter Lazar Auspitz, Michael Biedermann und Simon von Lämel einen Aufschwung; Salomon Mayer Rothschild (1774-1855), der 1816 nach Wien gekommen und sechs Jahre später geadelt worden war, baute die erste Eisenbahnlinie Österreichs und gründete in der Folge die Osterreichische Creditanstalt (die später zur Osterreichischen Nationalbank wurde). Die Beteiligung von Salomon von Rothschild an der Edition von Regierungsobligationen und seine engen Beziehungen zum allmächtigen Kanzler Clemens von Metternich gaben ihm defacto politische Macht sowie auch enorme wirtschaftliche Macht im Österreich vor 1848. Die Tatsache, daß Salomon Rothschild noch immer eine Sondergenehmigung benötigte, um Grundbesitz zu erwerben, da die Juden als Bürger nicht gleichgestellt waren, beleuchtet dieses seltsame Nebeneinander von Modernität und Konservatismus in der Ära Metternich.65 Neben den Rothschild gehörten auch die Arnstein, Eskeles und die Königswarter zu den fuhrenden österreichischen Bankiers, die auch im Verwaltungsrat der neu gegründeten Nationalbank saßen. In der Zeit zwischen dem Toleranzpatent und der Revolution von 1848 begannen auch viele Juden, die Universität zu besuchen und immer stärker in der deutschen Literatur und dem Journalismus in den Vordergrund zu treten. Obwohl keiner von ihnen eine so herausragende Bedeutung wie Heinrich Heine, Ludwig Börne und Karl Marx in Deutschland erlangte, waren doch talentierte Schriftsteller, Dichter und Journalisten unter ihnen, wie Ludwig August Frankl, Leopold Kompert, Moritz Saphir, Ignaz Kuranda, Hermann Jellinek und Moritz Hartmann - einige von ihnen sollten sich aktiv an der Revolution von 1848 beteiligen. Die Annäherung dieser jüdischen Intellektuellen an ihre christlichen Berufskollegen hatte eigentlich schon zur Zeit des Vormärz begonnen. Die Kluft zwischen den kulturellen Errungenschaften dieser zwar zahlenmäßig bescheidenen, aber wachsenden Intelligenz, die schon

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einen bedeutenden Anteil an der jüdischen Bevölkerung ausmachte, und ihrem unwürdigen Status führte zu großer Verstimmung. Sie war auch eine wichtige Ursache, weshalb sich diese jüngeren Juden offen mit den in Mitteleuropa aufkommenden liberalen, demokratischen und nationalistischen Ideologien identifizierten. Obwohl es im Revolutionsjahr 1848 noch keine geeinte jüdische Gemeinde in Wien (oder in ganz Osterreich) gab, waren nun immer mehr Angehörige dieser neuen Generation, die sich gegen das Metternichsche System auflehnte, bereit, sich offen für die Ideale von Freiheit und Gleichheit einzusetzen. Die meisten dieser jungen Männer waren aus der Provinz nach Wien gekommen und hatten in der habsburgischen Hauptstadt unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen studiert. Es waren auch zwei der bekanntesten Opfer der Revolution darunter, die beide aus Mähren stammten, der 25jährige Radikaldemokrat Hermann Jellinek (der im November 1848 durch das von Feldmarschall Windischgrätz eingerichtete Militärgericht hingerichtet wurde) und der jüdische Technikstudent Karl-Heinz Spitzer; zwei bekannte böhmische Juden, der Dichter Moritz Hartmann und der alldeutsche Journalist Ignaz Kuranda; und zwei ungarische Juden, der Sekundararzt Adolf Fischhof (1816-1895) und der Chemiker Josef Goldmark - beide spielten eine entscheidende Rolle als Sprecher der liberal-revolutionären Bewegung während der Ereignisse von 1848.66 Im neu gewählten Reichstag, der im Juli 1848 zusammentrat, saßen auch vier jüdische Vertreter, neben Fischhof und Goldmark der Prediger Isaak Mannheimer aus Wien und der Krakauer Rabbiner Berusch Meiseis. Die Frage der jüdischen Emanzipation stand auf der Tagesordnung dieses konstituierenden Reichstages, obwohl sie nie behandelt wurde, weil die Versammlung im Laufe der Gegenrevolution aufgelöst wurde. Aber die Tatsache, daß Juden in Osterreich (und anderen deutschen Staaten) 1848 in Parlamente und gesetzgebende Versammlungen gewählt wurden ein völliges Novum - , blieb zweitrangig, verglichen mit der Bedeutung, die einzelnen Juden in vielen Revolutionskomitees zukam. So wurde die Volksbewegung am 15. März 1848, ganz zu Beginn, durch eine mutige, leidenschaftliche Rede von Adolf Fischhof ausgelöst, in der er den Sturz des alten Systems forderte, bevor sich die aufständischen Massen vor dem niederösterreichischen Landhaus sammelten - Fischhof sollte damit zum Anführer der Revolution werden.67 In Wien, wo Studenten allgemein eine entscheidende Rolle an der Spitze der liberal-demokratischen Revolution spielen sollten, setzten sich vor allem die jüdischen Medizin- und Jusstudenten für die gemeinsame Sache ein. Der Vorsitzende des Ende März 1848 gegründeten Studentenkomitees, das eine bedeutende Rolle während der Revolution spielte, war Josef Goldmark. Außer Fischhof und Frankl gehörten noch weitere jüdische Mitglieder, wie Bloch, Flesch, Kapper, Mannheimer, Tausenau, Taussig und Unger, dem Komitee an. Als es im

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Mai 1848 zur Gründung des Sicherheitsausschusses, des wichtigsten politischen Gremiums in Wien vor Einberufung des Reichstags, kam, wurde Fischhof zu dessen Vorsitzenden ernannt, einer seiner beiden Stellvertreter war ebenfalls Jude. Nicht wenige Juden dienten auch in der Akademischen Legion und der Nationalgarde, die ursprünglich zur Verteidigung der Revolution gegen ihre Feinde ins Leben gerufen worden war, obwohl sie später auch gegen das Wiener Proletariat eingesetzt wurde. Es gab sogar österreichische Juden, wie den Radikalen Hermann Jellinek und den polnischen Juden Adolf Chaizes, die an der Spitze der „sozialistischen" Agitation der Arbeiterklasse standen.68 Während der blutigen Zusammenstöße und des bewaffneten Widerstandes im Oktober 1848 starben einige Juden auf den Barrikaden, andere wurden zur Emigration gezwungen. Sowohl quantitativ als auch qualitativ fand diese starke jüdische Beteiligung an dem österreichischen Aufstand von 1848 keine Parallele in anderen europäischen Staaten, weder in Deutschland noch in Ungarn, wo sich Juden ebenfalls stark für die revolutionäre Bewegung einsetzten.69 Natürlich traf dies hauptsächlich auf die Zustände in Wien zu, die Masse der orthodoxen Juden in Galizien, Böhmen und Mähren blieb im großen und ganzen von dem demokratischen Kampf unberührt. Aber diese beispiellose jüdische Beteiligung an der Revolution hatte weitreichende Auswirkungen, nicht nur auf die Juden selbst, sondern auch auf deren Gegner.70 Jacob Touiy hat betont, daß 1848, erstmalig in der europäischen Geschichte, eine sehr enge Identität zwischen jüdischen und weiter gefaßten liberalen und patriotischen Zielen der Mittelklasse in den deutschen Ländern zustande kam.71 Von nun an wurden die jüdischen Forderungen nach Emanzipation nicht mehr als separate oder partikularistische Anliegen gesehen, sondern vielmehr innerhalb allgemeiner politischer Bestrebungen. Es gab scheinbar keine weitere Rechtfertigung fur einen spezifisch jüdischen Kampf um Gleichheit.72 Äußerst eindrucksvoll wurde dies von dem Prediger Isaak Noah Mannheimer bei einer interkonfessionellen Begräbnisfeier für die ersten Opfer der Wiener Revolution (zu denen auch der in Mähren geborene jüdische Studentenheld Karl-Heinrich Spitzer gehörte) formuliert und eine Woche später, am 24. März 1848, in einer Predigt in der Wiener Synagoge wiederholt.75 Mannheimer warnte die österreichischen Juden davor, ihre eigenen Probleme in den Vordergrund zu stellen. „Kein einziges Wort über jüdische Emanzipation, außer es wird von anderen in unserem Interesse ausgesprochen!" Dreißig Jahre lang haben die Juden „auf den Knien und mit erhobenen Händen" um ihre Rechte gebettelt. Nun müssen die Juden unter der Prämisse handeln, daß „zuerst der Mensch, der Bürger, kommt, und dann erst der Jude. Niemandem soll Gelegenheit gegeben werden, uns vorzuwerfen, daß wir immer zuerst an uns selbst denken".74 Für Mannheimer und die Mehrheit der Wiener Juden, wie auch Isidor Busch und Meir Letteris, die Herausgeber der neu gegründeten Zeitschrift Österreichisches Central-Or-

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ganfür Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden, war 1848 die jüdische Gleichheit untrennbar mit dem allgemeinen emanzipatorischen Kampf um politische Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte verbunden. Mannheimer betonte, daß die Juden von nun an ihren Platz lediglich als Religionsgemeinschaft im Rahmen eines reformierten liberalen österreichischen Staates einnehmen sollten. Diese neue Konfessionalisierung jüdischer Identität und die Absage an jede organisierte jüdische Emanzipationsbewegung ging mit einem gestärkten Gefühl der Identifikation mit dem deutsch-österreichischen Volk und dessen Kampf um verfassungsmäßige Freiheit und Gleichheit einher. Von nun an identifizierten sich die Wiener Juden immer stolz nicht nur als Österreicher, sondern auch als Deutsche im kulturellen, nationalen und humanistischen Sinn. Welches Ausmaß diese glühende Identifikation mit der deutschen Kultur erreichte, die durch die Erfahrungen der Revolution von 1848 noch vertieft wurde, brachte Adolf Jellinek, der in Mähren geborene Prediger aus Ungarisch-Brod, der schließlich die Nachfolge Mannheimers als geistige Führungspersönlichkeit des Wiener Judentums antrat, noch deutlicher zum Ausdruck. In einem bedeutenden Artikel, der im Juli 1848 in Leipzig erschien, behauptete Jellinek, daß die Juden Österreichs ihre Emanzipation als integraler Bestandteil des deutschen Volkes innerhalb des Habsburgerreiches forderten. Als Deutsche würden sie (die Juden) auch Erziehung, Kultur, Handel und Industrie zu den nicht-deutschen Völkern des Reiches tragen; deutsch zu fühlen, hieße sich frei zu fühlen, da der deutsche Geist gleichzusetzen sei mit dem Geist der Freiheit.75 Die Zentren von Industrie und Wissenschaft im Reich waren deutsch; anders als beispielsweise die Tschechen wollte der deutsche Nationalismus sich anderen nicht aufdrängen. Nach Jellinek war er liberal und humanistisch, erfüllt von einem wohlbegründeten Selbstvertrauen in seine eigene kosmopolitische, geistige Mission; ihm kam es nicht auf reine Gewalt und Zahlen an. Jellinek erklärte, daß die Rettung der Juden nur von einer liberalen Regierung ausgehen könne und von einem Bündnis mit dem Deutschtum gegen den Fanatismus der „Tschechomanie, des Panslawismus und des Faustrechts".76 Viele Jahre später schrieb der österreichische Führer der zionistischen Bewegung Isidor Schallt in seinen Erinnerungen über diese Bindung der österreichischen Juden an die nationale Sache des Deutschtums, die aus den Kämpfen von 1848 hervorgegangen war: „Die Juden [in Österreich] waren durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch in ihrer Gesamtheit deutsch; sie waren deutsch durch ihre Erziehung, da die deutsche Kultur in dem vielsprachigen Reiche dominierte. Sie lehrten und lernten an deutschen Schulen. Die Juden waren deutsch, weil das deutsche Volk in Österreich das Symbol für Freiheit und Fortschritt war. Aber ihr Deutschtum verließ die natürlichen Grenzen. Die Juden blieben nicht nur Träger deutscher Kultur, sie wurden auch die aufdringlichsten Verfechter der deutschen Politik."77

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Diese Verallgemeinerung gilt im großen und ganzen fiir das böhmische Judentum und den Großteil der Wiener Juden während der liberalen Ära, bevor es zu der Divergenz zwischen einem universalistischen kulturellen Charakter des Deutschtums und den völkischen Definitionen der deutschen Nationalität im späten 19. Jahrhundert kam.78 Eindeutig nicht trifft sie auf das ungarische Judentum zu, wo die Anziehungskraft des magyarischen Nationalismus, die schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts erkennbar war, Hand in Hand mit der jüdischen Bewegimg für religiöse Reformen ging.79 Die begeisterte Teilnahme vieler Juden am ungarischen Freiheitskampf gegen die österreichischen Armeen wurde in der Tat mit äußerster Härte „belohnt", die ihnen die kaiserlichen Truppen angedeihen ließen. In gleicher Weise übte das wachsende Nationalbewußtsein des polnischen Freiheits- und Unabhängigkeitskampfes 1848 eine beträchtliche Anziehungskraft auf die aufgeklärteren jüdischen Kreise in den Städten im österreichischen Galizien aus, die nach Emanzipation strebten. Auch in Italien ergriffen die Juden in starkem Maß Partei für die italienische Sache gegen die österreichische Herrschaft. Da sie sich nicht gleichzeitig für die Sache der Ungarn, Polen, Italiener (oder auch Tschechen) und für den deutsch-österreichischen Kampf einsetzen konnten, waren Konflikte unvermeidbar, die oft anti-jüdische Vorurteile nährten, die im Grunde aus einem Aufeinanderprallen nationaler Interessen erwuchsen.80 Es war einer der schicksalhaftesten Widersprüche der Revolution von 1848 in Österreich, daß die Juden dadurch, daß sie aus ihrem Leben in den Ghettos befreit wurden, erstmals in der europäischen Geschichte nicht nur mit den Kräften des Nationalismus, sondern auch mit dem Keim der modernen antisemitischen politischen Bewegungen konfrontiert wurden, die im späten 19. Jahrhundert entstanden. 81 Während die aufkommende antisemitische Ideologie auf traditionelle christliche und verbreitete Vorurteile aufbaute, die jüdische Ansiedlungen in den habsburgischen Ländern seit dem frühen Mittelalter begleitet hatten, war sie eindeutig eine Reaktion auf das neue Phänomen eines säkularen Judentums, das sich kulturell angepaßt und aktiv an den politischen Ereignissen von 1848 beteiligt hatte.82 Bezeichnenderweise ereigneten sich die gewalttätigsten Reaktionen in jenen Gebieten der Monarchie, wie Böhmen, Mähren und Ungarn (aber nicht in Galizien), wo die Bedingungen für die Juden vor 1848 von wesentlich größerer Unterdrückung gekennzeichnet waren als in Wien oder Niederösterreich, wo es - wie wir gesehen haben - überhaupt nur wenigen Juden gestattet war sich niederzulassen - oder natürlich in rein deutschen Gebieten wie Oberösterreich, der Steiermark, Kärnten und Krain, wo überhaupt keine Juden geduldet wurden. Die öffentlichen Unruhen und antijüdischen Exzesse spiegelten teilweise die soziale und politische Krise wider, die für den revolutionären Ausbruch von 1848 verantwortlich war. So spielten zum Beispiel wirtschaftliche und nationale Fragen eine

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bedeutende Rolle bei den Angriffen auf jüdische Unternehmen in Prag und anderen böhmischen Städten seit Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. Gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden in Prag, die durch die Einführung neuer Maschinen in einer in jüdischem Besitz befindlichen Textilfabrik ausgelöst wurden, mußten sogar vom Militär niedergeschlagen werden.83 Im Frühling 1848, als die Preise stiegen und Arbeitslosigkeit heiTschte, griffen Prager Arbeiter erneut jüdische Kaufleute und Händler an.84 Auch im ungarischen Preßburg kam es zu Plünderungen und zur Zerstörung jüdischer Geschäfte, und die große Synagoge wurde zu Ostern 1848 dem Erdboden gleichgemacht. Die aufgebrachte Stimmung im Volk, die durch eine antijüdische Zeitimgskampagne und wirtschaftliche Unruhe aufgepeitscht wurde, veranlaßte das ungarische Parlament, alle Maßnahmen zur Emanzipation auszusetzen.85 Ahnliche Agitationen in anderen jüdischen Orten führten zu weiteren Ausschreitungen gegen die Juden und konnten in Pest sogar eine Zeitlang die öffentliche Unzufriedenheit ablenken.86 Obwohl es in Wien zu keinen Pogromen kam, trat dort die Verbindung zwischen antisemitischer Agitation und dem Verlauf der Revolution am deutlichsten zutage. Bis zu einem gewissen Grad wurde die Hetze gegen die jüdische Emanzipation, wie etwa die antijüdische Petition zeigt, die von Wiener Händlern und Geschäftsinhabern im Juli 1848 unterbreitet wurde, von Vertretern engstirniger sozialer und wirtschaftlicher Interessen getragen.87 Die Furcht vor freiem Wettbewerb und jüdischem „Wucher" war auch unter den Handwerkszünften weit verbreitet. Noch bedeutsamer war aber die politische Dimension, die in der Verbindung von Antisemitismus und reaktionärer Opposition gegen die radikalen und demokratischen Strömungen in der Wiener Revolution zum Ausdruck kam.88 Jene, die die liberalen und demokratischen Grundsätze der Revolution ablehnten, konzentrierten sich zumeist auf die jüdische Beteiligung an dieser Volksbewegung und sahen diese als Verschwörung an.89 Dies gilt vor allem für die konservativen und klerikalen Wortführer, die die wichtige Rolle von Juden wie Fischhof, Goldmark, Hermann Jellinek und anderen hervorhoben und diese als Protagonisten, Aufwiegler und „subversive Elemente" der Monarchie und der christlichen Gesellschaftsordnung brandmarkten. Die reaktionäre Wiener Zeitung Schild und Schwert diffamierte die Juden am 10. November 1848 sogar und bezeichnete „hauptsächlich die Juden als das Unglück unseres Vaterlandes, das heißt das Unglück von uns allen".90 Gustav Otrubas detaillierte Auflistung der oft skurrilen Pamphletliteratur von 1848 zeigt sehr anschaulich, daß die Furcht vor der Judenherrschaft, die sich angeblich in der jüdischen „Geldmacht" und der Kontrolle über die Presse zeigte, in konservativen Kreisen und in der unteren Mittelschicht schon während der Revolution ein wichtiger Faktor war.91 Viele ernstzunehmende Katholiken waren auch über die Aussicht alarmiert, daß den Wiener Juden gleiche Rechte zugestanden werden sollten, nachdem ihnen durch die

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Regierung im Vormärz jahrzehntelang weitreichende Einschränkungen auferlegt worden waren. Der Griindervater des modernen österreichischen Antisemitismus, Sebastian Brunner, ein katholischer Priester und Herausgeber der Wiener Kirchenzeitung - eine Zeitung, die während der Revolution von 1848 gegründet wurde - , hatte die fixe Idee, daß die Juden eine Bedrohung seien, ein Symbol für alles Schlechte und Destruktive in der modernen Gesellschaft. Schon sahen Katholiken die Juden an der Spitze der rationalistischen, weltlichen und antiklerikalen Kräfte des Liberalismus. Die Revolution von 1848 und die jüdische Emanzipation als ihr Nebenprodukt verkürzten sich in den Augen Brunners und seiner Anhänger zu einer Entchristianisierung des österreichischen Staates und der Gesellschaft - ein Prozeß, den sie entschlossen waren umzukehren. 92 Es war die historische Aufgabe der katholischen Kirche, entschieden gegen die subversive „freidenkerische Maske" des Judentums, gegen seinen finsteren „talmudischen" Geist und den Haß auf die altehrwürdigen christlichen Wahrheiten und Werte anzukämpfen. Die Kontrolle über das Geldwesen und die Beherrschung der Presse waren in Brunners Augen nur die letzte Erscheinungsform des uralten „jüdischen" Krieges gegen das Christentum, der sich nun der Waffen des Liberalismus und der Moderne bediente. Brunner und sein Nachfolger Albert Wiesinger, der 1866 zum Herausgeber der Kirchenzeitung wurde, sorgten für die Verbindung des traditionellen theologischen Antijudaismus der katholischen Kirche mit dem modernen politischen Antisemitismus der christlichsozialen Bewegung, die in Wien in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkam. Nicht einmal rassistische Argumente fehlten in dem antisemitischen Pamphletkrieg gegen die demokratische und liberale Bewegung von 1848. So tauchte in den Schriften des ehemaligen Artillerieoffiziers Johann Quirin Endlich der „Jude" als die Verkörperung alles Bösen auf - als kapitalistischer Ausbeuter und revolutionärer Demokrat - als subversives Element par excellence des christlichen Staates und als dessen schamloser Plünderer. 93 Die antijüdische Propaganda während der Revolution von 1848 wurde sowohl seitens der Linken als auch seitens der Rechten ebenfalls von antikapitalistischen Themen getragen. Zum Teil war dies eine Reaktion auf die herausragende Stellung, die jüdischen Bankhäusern in der österreichischen Geschichte von 1815 bis 1848 zufiel, die ebenso „die Ära Rothschild" wie die Ära Metternichs war.94 Die engen Verbindungen zwischen dem österreichischen Kanzler und der jüdischen Hochfinanz waren den europäischen Radikalen kaum verborgen geblieben. Obwohl es den Juden im Vormärz untersagt war, einer Regierung anzugehören, als Advokat oder Lehrer tätig zu sein oder politische Funktionen auszuüben, obwohl sie Kopfsteuer zahlen und sich regelmäßig beim Judenamt melden mußten, blieb das Haus Österreich von den Staatsanleihen Rothschilds genauso abhängig wie zur Blütezeit der Hofjuden.

Vom Ghetto zur Revolution

55

Sogar die Habsburger mußten ihren traditionellen Hochmut teilweise aufgeben und Salomon von Rothschild, den Pionier der Nordbahn, zu einem Bürger mit allen Rechten machen. 1845 wurde ihm endlich die Erlaubnis erteilt, erblichen Landbesitz zu erwerben, so wichtig war er mittlerweile für die unsicheren österreichischen Staatsfinanzen geworden. Im selben Jahr konnte Bruno Bauer, ein deutscher Linksradikaler hegelianischer Prägung, zweifellos mit der Allianz Metternich-Rothschild vor Augen, in seinem Werk Die Judenfrage schreiben: „Der Jude, der in Wien ζ. B. nur tolerirt wird, bestimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reichs."95 Der Begründer des Kommunismus, Karl Marx, der diese Zeilen in seinem Aufsatz Zur Judenfrage (1844) zustimmend zitierte, behauptete, daß dies kein Einzelfall sei. „Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert", fügte er hinzu, „nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist."96 Während der Revolution von 1848 wurde die jüdische „Geldaristokratie" nicht nur zu einer philosophischen Frage, sondern auch zur Zielscheibe des Volkszorns, einer Mischung antifeudaler und antikapitalistischer Strömungen, welche die Modernisierungskrise widerspiegelten, in der die Gesellschaft Mitteleuropas steckte. Es war nicht schwierig, bei den Wiener Kleinbürgern, den Händlern und Geschäftsleuten, bei den kleinen Schneidern und Schustern das Bild des gespenstischen Rothschild und der „Geldmacht" der jüdischen Bankiers heraufzubeschwören, auch wenn sich deren Lebensstil von der verarmten Masse des österreichischen Judentums weit entfernt hatte. Und genau dies tat der Wiener Korrespondent von Karl Marx' Neuer Rheinischer Zeitung, Eduard von Müller-Tellering, der in einem bissigen, antisemitischen Flugblatt schrieb, das 1848 in der habsburgischen Hauptstadt erschien: „Unter einer Million Juden ist kaum ein edler Mensch ... Wie jeder Volksund Freiheitssinn sich eine Aufgabe stellt, so wird es meine Aufgabe sein, auf die Vernichtung des Judentums hinzuarbeiten ,.." 97 In seinen Artikeln aus Wien für Marx' Zeitung (die von den Herausgebern sehr geschätzt und ohne Streichung ihrer bösartigen Schmähungen publiziert wurden) schwelgte von Müller-Tellering in einer Orgie fanatischer antijüdischer Rhetorik gegen „Israels satanische List", die angeblich die österreichische Freiheitsbewegung von 1848 preisgegeben hatte. Monarchen, Soldaten und Beamte waren lediglich Werkzeuge der Juden, die Osterreich zu Grabe getragen hatten und nun sein Blut aussaugten. Dieser fanatische Radikale bestand darauf, daß eine wirklich demokratische Ordnung nur durch die „Vernichtung des Judentums" in Osterreich möglich wäre. Solange die Wiener Demokraten von Juden angeführt werden, würde Osterreich einer Million blutsaugenden Kapitalisten ausgeliefert sein! Daher bestand die Aufgabe der mitteleuropäischen Revolution nicht nur in der Beseitigung des

56

Die Gemeinde

Feudalismus, sondern zunächst und vor allem in der Vertreibung der jüdischen Ausbeuter.98 Die Revolution von 1848 und die Gegenrevolution hatten daher eine komplexe Verschmelzung von traditionell religiösen und moderneren antikapitalistischen, nationalistischen und rassisch begründeten antisemitischen Motiven zur Folge, die sowohl von der Rechten als auch von der Linken ausgingen. Wie Reinhard Rürup dargelegt hat, wandten sich die verschiedenen Gegner eher „gegen ein Judentum, von dem angenommen wurde, daß es die Emanzipation erreicht hat" als gegen das traditionelle, nicht emanzipierte Judentum." Die zahlreichen und bösartigen antisemitischen Karikaturen von 1848 mit ihren antiliberalen, antikapitalistischen Motiven und der Furcht vor einer „jüdischen Beherrschung" geben diese Tatsache wieder, wie dies auch der Schlag gegen die starke jüdische Beteiligung an der Revolution belegt.100 Um Rürup nochmals zu zitieren: „So war das Thema der Post-Emanzipation, eine Grundlage des modernen Antisemitismus, schon in den antisemitischen Äußerungen der Revolutionszeit vorhanden. Schon damals, 1848, trat diese unheilvolle Mischung widersprüchlicher Gefühle - Verachtung des traditionellen Judentums gepaart mit der Furcht vor den modernen Juden - in Erscheinung. Der neue Antisemitismus war im wesentlichen ein Ausdruck dieser unvereinbaren Reaktionen, eine Mischung von Arroganz und Ängstlichkeit. Die bösartige Kraft dieses explosiven Gemenges trat zum ersten Mal während der Revolutionszeit zutage. Doch der neue Antisemitismus konnte in der Ära unmittelbar nach der Revolution nicht an Boden gewinnen, als trotz der Niederlage der liberalen und demokratischen Kräfte die bürgerlich-liberalen Ideen weiter vorherrschend blieben."101

Die Wiener Juden konnten in der Tat beruhigt sein, daß die neuen antisemitischen Ideologien nicht imstande waren, 1848/49 eine echte Massenbewegung in Gang zu setzen, die sich mit der politischen Reaktion verbinden hätte können, und daß es ihnen nicht gelungen war, das österreichische Judentum wieder in das Ghetto des Vormärz zu verbannen, trotz des Sieges der habsburgischen Dynastie und der Gegenrevolution. Nun konnte das Wiener jüdische Bürgertum das Revolutionsjahr 1848, trotz seiner beunruhigenden Merkmale und Rückschläge, in diesen liberalen Optimismus und Glauben an das Deutschtum integrieren, die seine Weltsicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts prägen sollten. Jüdische Dichter wie Ludwig August Frankl, berühmte Prediger wie Isaak Noah Mannheimer und Adolf Jellinek, Publizisten und liberale Politiker wie Adolf Fischhof oder Ignaz Kuranda und österreichische jüdische Persönlichkeiten wie Josef von Wertheimer konnten in den folgenden Jahren so scheinbare Widersprüche wie den Kult des 48er Liberalismus (dem sein revolutionärer Schwung genommen wurde) und die Verehrung der regierenden Dynastie der Habsburger, die ersterer beinahe zu Fall gebracht hätte, miteinander ver-

Vom Ghetto zur Revolution

37

binden. Sogar die österreichischen Zionisten des späten 19. Jahrhunderts sahen wehmütig zurück auf die bewegenden Heldentaten der Akademischen Legion und die deutschnationale Begeisterung der Wiener revolutionären Studenten und sahen darin Vorbilder für ihre eigene Bewegung. Trotz der offensichtlichen Widersprüche und Zweideutigkeiten läutete daher die Revolution von 1848 eine neue Phase des Selbstbewußtseins und des Selbstvertrauens im Bewußtsein des Wiener Judentums ein.102 Die bürgerliche Revolution war in Österreich zwar fehlgeschlagen, ihr Geist konnte aber nicht so leicht ausgerottet werden, und das Versprechen einer liberalen Emanzipation stand der Mehrheit der Wiener Juden noch leuchtend vor Augen.

2. Zuwanderung in die Kaiserstadt Der einsilbige Name der Haupt- und Residenzstadt hatte in jenem äußersten,fernsten Winkel der Monarchie einen Klang von stets begeisternder Wirkung. Nicht nur dem neunjährigen Knaben war Wien Glanz und Pracht... Und viele meinesgleichen träumten davon, daß sie später einmal in der Kaiserstadt zu Hause sein und gleich den gebürtigen Wienern Franz Joseph I. in seiner herrlichen, von Schimmeln gezogenen Karosse täglich bewundern würden. Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes (1974) In Wien geborene Juden, und ich war bereits ein Wiener der zweiten Generation, empfanden eine gewisse Abneigung gegenüber den weniger assimilierten Juden aus dem Osten. Wir waren, oder glaubten es wenigstens zu sein, so ganz anders als diese bärtige, kaftangewandete Gesellschaft. Wir waren nicht bloß Österreicher, wir waren Deutsch-Österreicher! George Clare, Letzter Walzer in Wien

A M V O R A B E N D D E R R E V O L U T I O N VON 1 8 4 8 GAB E S O F F I Z I E L L E N

SCHÄTZUNGEN

zufolge nur 179 „tolerierte" Familien in Wien, auch wenn sich - wie wir gesehen haben - in der Zeit des Vormärz unablässig illegale Zuwanderer in der Hauptstadt niederließen. Sie kamen hauptsächlich aus Böhmen, Mähren und Ungarn - vor allem aus dem Preßburger Ghetto und kleineren jüdischen Gemeinden im Burgenland unmittelbar östlich von Wien - , und durch die entsprechenden Bestechungszahlungen an örtliche Beamte konnten diese Zuwanderer ihren Aufenthalt in der Stadt oft verlängern. 1 Sigmund Mayer, selbst ein solcher Neuankömmling aus dem Preßburger Ghetto (der später einer der geachtetsten Gemeindepolitiker der Wiener Judenschaft werden sollte), erinnert sich in seinen Memoiren deutlich an den starken Gegensatz zwischen den dunklen, überfüllten und schmutzigen Ghettos der österreichisch-ungarischen Provinz und den sauberen, luftigen und hellen Straßen Wiens im Vormärz, das dem Wesen seiner Juden seinen Stempel aufgedrückt hat. Modern, elegant, freidenkerisch wie sie waren, hatten sie sich, wie auch die übrige Bevölkerung, schon daran gewöhnt, die schöne Umgebung Wiens zu genießen und seine elitären Bälle, aristokratischen Restaurants, Kaffeehäuser und Vergnügungsstätten zu besuchen. 2 Aber nicht nur ihr persönliches Leben war freier und ihre soziale Mobilität größer, sondern sie konnten auch in einem viel größeren und üppigeren Umfang Handel treiben, als dies in den Ghettos der Provinz möglich war. 5 Mayer zufolge waren die Wiener Juden in der Zeit des Vormärz bei ihren vom Glück weniger begünstigten und rückständigeren Glaubensbrüdern hoch angesehen.

Zuwanderung in die Kaiserstadt

39

40

Die Gemeinde

Zugegebenermaßen gab es unter ihnen keine wirklichen Aristokraten, Diplomaten, hochrangigen Offiziere oder Beamten, und bislang noch keine berühmten jüdischen Gelehrten, Professoren oder Künstler. Die sehr reiche Elite der Bankiers und Kapitalisten und die neue Schicht der Intellektuellen rangierte in ihren Augen trotzdem in Wien auf einem viel höheren materiellen und literarischen Niveau als in anderen Teilen der Monarchie.4 Vor allem der Reichtum der Wiener Juden flößte Vertrauen und Respekt ein und erhöhte deren Prestige bei der breiten Masse der jüdischen Bevölkerung in der Provinz, auch wenn diese Elite einen viel schlechteren Ruf genoß, wenn es um die Religiosität und das Festhalten an den jüdischen Traditionen ging. Wenn offizielle Schätzungen von zwischen 2.000 und 4.000 Juden in Wien am Vorabend der Revolution sprechen, so glaubt Mayer, daß sich die tatsächliche Zahl eher auf 10.000 bis 12.000 der 400.000 Einwohner5 der Hauptstadt belief, also etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. Um diesen hohen geschätzten Wert in der richtigen Relation zu sehen, müssen wir bedenken, daß die Volkszählung des Jahres 1846 (auch wenn sie in vieler Hinsicht unzuverlässig ist) 729.005 Juden in Osterreich ausweist - wobei sich die beiden größten Gemeinden in Galizien (517.225) und Ungarn (265.260) befinden, gefolgt von Böhmen (70.037) und Mähren (37.169). In der Bukowina gab es 11.581 Juden, in den italienischen Gebieten Venetiens und der Lombardei 7.725, in Siebenbürgen 7.000, in Istrien, Görz und Triest 3.530, in Schlesien 2.895, in Tirol/Vorarlberg 978 und in Dalmatien 410 Juden. In Oberösterreich, der Steiermark und Kärnten gab es keine Juden, und für die Krain wurden lediglich zwei gemeldet.6 Es ist außerdem zweifelhaft, ob es in Niederösterreich außerhalb der Hauptstadt Wien Juden gab. Wenn wir daher die offizielle Schätzung von 4.296 Juden für Niederösterreich aus dem Jahre 1846 (0,9 Prozent der österreichischen Juden insgesamt) nehmen, wird ersichtlich, welch dramatische geographische Verlagerung in der jüdischen Demographie während der langen Regierungszeit Franz Josephs I. in den habsburgischen Gebieten stattgefunden hat. Das zentrale Merkmal bei der Verteilung der Bevölkerung, wie sie aus Tabelle 2.1 hervorgeht, war eindeutig die spektakuläre Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Niederösterreich (d. h. zum überwiegenden Teil in Wien), die zwischen 1857 und 1869 von 1,1 auf 6,3 Prozent der Gesamtzahl der österreichischen Juden anstieg und dann 1910 mit 14 Prozent einen Höchstwert erreichte. Gleichzeitig nahm die Konzentration der Juden in Galizien, Böhmen und Mähren etwa im selben Zeitraum ab - am deutlichsten in den tschechischen Ländern. Galizien blieb während des 19. Jahrhunderts (selbst 1910 stellten sie immer noch 66,4 Prozent der Gesamtbevölkerung) das demographische Zentrum der österreichischen Judenschaft, sobald sich aber in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts die Tore der kaiserlichen Hauptstadt fur die Massenzuwanderung öffneten, verließen die Ostjuden aus den polnischen Gebieten langsam diese wirtschaftlich gesehen rückständige Region und

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Zuwanderung in die Kaiserstadt

Tabelle 2.1: Verteilung der Juden in Zisleithanien Juden in Österreich (mit Ausnahme

nach Ländern

1846-1910: Gesamtzahl

der

Ungarns in Prozent)

1846

1857

1869

1880

1900

1910

0,9

1,1

6,5

9,4

12,8

14,1

Galizien

75,5

72,5

70,0

68,2

66,2

66,4

Böhmen

15,6

15,9

10,9

9,4

7,6

6,5

Mähren

8,9

6,7

5,2

4,5

3,6

5,1

Bukowina

-

4,7

5,8

6,7

7,8

7,8

Schlesien

-

0,5

0,7

0,8

0,5

1,0

Land Niederösterreich

Quellen: Diese Zahlen basieren auf den Angaben in Jacob Thon, Die Juden in Österreich (Berlin 1908), S. 6-8; Anson G. Rabinbach, „The Migration of Galician Jews to Vienna, 1857-1900", Austrian History Yearbook, 11 (1975), S. 44; und Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern (Wien 1912), S. 57, Tabelle XXX.

Tabelle 2.2: Zuwachs der jüdischen Bevölkerung Jahr Gesamtbevölkerung Juden

1857

Wiens 1857-1910

1880

1869

1890

1890*

1900

1910

476.220 607.510 726.105 827.567 1,364.548 1,674.957 2,031.498 6.217

40.227

72.543

99.441

10,0

12,0

118.495

146.296

8,7

8,8

175.518 Gesamtbevölkerung (%)

1,3

6,6

8,6

* Enthält die erweiterten Grenzen Wiens von 1890. Quellen·. Zahlen von Tabelle I. aus Ivar Oxaal und Walter R. Weitzmann, „The Jews of Pre-1914 Vienna: An Exploration of Basic Sociological Dimensions", in: LeoBaeck Yearbook30, 1985, S. 398. & gibt einige kleinere Widersprüche zwischen diesen Zahlen und den von Rabinbach in „Migration of Galician Jews",

strömten nach Wien oder wanderten nach Ubersee aus. Zu ihnen gesellte sich ein kontinuierlicher Strom jüdischer Zuwanderer aus Böhmen, Mähren und vor allem Ungarn, der zumindest anfangs sogar noch stärker war als der Zuzug aus Galizien, so daß die weniger als 10.000 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde Wiens in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts auf einen Höchstwert von 175.518 im Jahre 1910 anschwoll - wodurch Wien nach Warschau und Budapest zur zahlenmäßig drittgrößten jüdischen Stadt Europas wurde.

42

Die Gemeinde

Aus Tabelle 2.2 geht hervor, daß die jüdische Bevölkerung Wiens im Jahre 1910 28mal größer war als 1857, obwohl die Gesamtbevölkerung in dem gleichen Zeitraum nur um einen Faktor 5 angewachsen war. Zu dieser außergewöhnlichen Wachstumsrate gibt es nach 1860 keine Parallele in der Habsburgermonarchie oder auf dem europäischen Kontinent. Obwohl das Budapester Judentum in absoluten Zahlen noch rascher anstieg, von 44.890 (16,6 Prozent) im Jahre 1869 auf 205.687 (23 Prozent) im Jahre 1910, war der ursprüngliche Anteil an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher als jener der Juden Wiens.7 In der deutschen Kaiserstadt Berlin, wo 1871 36.015 und 1910 144.007 Juden lebten, ging der prozentuelle Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung sogar von 4,4 auf 3,7 Prozent zurück.8 Ein ähnlicher Trend läßt sich in kleineren Städten wie Prag erkennen (13.056 Juden, d. h. 8,2 Prozent, im Jahre 1869 im Vergleich zu 18.041, d. h. 8,1 Prozent, im Jahre 1910), bei den Lemberger Juden (von 30,6 Prozent im Jahre 1869 auf 27,8 Prozent der Bevölkerung im Jahre 1910) und in Krakau, wo der prozentuelle Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum von 35,5 auf 21,3 Prozent zurückging.9 So wuchs Wien, im Gegensatz zu anderen Landeshauptstädten im Reich, weiter an und blieb auch nach den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Anziehungspunkt für die habsburgischen Juden, wobei ihm in dieser Hinsicht nur Budapest Konkurrenz machte. Wie Tabelle 2.2 zeigt, ist die größte Wachstumsrate zwischen 1857 und 1869 zu verzeichnen, einer Zeit, in der die verbleibenden Regierungseinschränkungen betreffend die Bewegungsfreiheit der Juden und deren Erwerb von Grundbesitz aufgehoben wurden (1859-60) und in der am 21. Dezember 1867 auch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger verabschiedet wurde, das allen österreichischen Juden endgültig die Gleichheit in den Bürgerrechten einräumte. Im selben Jahr erhielt die Israelitische Kultusgemeinde Wiens (IKG) ihre endgültigen Statuten - der Höhepunkt einer langen, durch Rückschläge gekennzeichneten Entwicklung, vom Toleranzpatent Josefs Π. über die Revolution von 1848 bis zur vorläufigen Anerkennung durch die Behörden im Jahre 1852. Es ist daher nicht überraschend, daß der erste massenhafte Zustrom nach Wien mit der Aufhebung der gesetzlichen Schranken, der vollen Emanzipation in Osterreich und dem Goldenen Zeitalter der liberalen Vormachtstellung zusammenfiel. Nach einer Stichprobenstudie über die soziale Struktur der Wiener Judenschaft im Jahre 1857 (die sich besonders auf die Leopoldstadt stützt) stammten interessanterweise 25 Prozent aus Ungarn (vor allem Preßburg), 20 Prozent aus Wien selbst, 15 Prozent aus vielen kleinen jüdischen Gemeinden in Mähren, 10 Prozent aus Galizien und nur 4 Prozent aus Böhmen.10 Daraus würde hervorgehen, daß 1857 die Massenzuwanderung aus den traditionell strukturierten osteuropäischen jüdischen Gemeinden Galiziens noch nicht eingesetzt hat, und es ist zweifelhaft, ob diese Ostjuden wirklich für die Zuwanderung nach Wien in der Zeit vor 1880 verantwortlich

Zuwanderung in die Kaiserstadt

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waren.11 Es gibt jedenfalls Zahlenmaterial, das zeigt, daß der Anteil der galizischen Juden am Wiener Judentum 1880 viel stärker angestiegen war als jede andere regionale Komponente seit 1857 (von 10 auf 18 Prozent), obwohl sie noch immer hinter jenen, die in Wien geboren waren (31 Prozent), jenen aus Ungarn (28 Prozent) und aus den tschechischen Gebieten (20 Prozent) rangierten.12 Der Eindruck, daß die ungarischen Juden bei den ersten Zuwanderungswellen nach Wien anteilsmäßig stark vertreten waren, was zweifelsohne durch die geographische Nähe gefördert wurde, wird noch durch die Volkszählung vom Dezember 1869 verstärkt, die zeigt, daß von 40.227 Wiener Juden nicht weniger als 17.500 dem Geburtsort ihres Vaters nach aus den ungarischen Gebieten stammten (d. h. 42,5 Prozent).13 Bis zu einem gewissen Grad war dies nicht erstaunlich, da 1857, am Beginn des Zuwanderungsprozesses, 40 Prozent aller Juden der Habsburgermonarchie in Ungarn lebten. Andererseits ist es interessant, daß die Massenzuwanderung der galizischen Ostjuden nach Wien erst so richtig einsetzte, als der Zustrom aus Ungarn in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts spürbar nachließ; damit waren die galizischen Juden für die letzte große Welle jüdischer Zuwanderung in die Kaiserstadt vor 1914 verantwortlich.14 Der wachsende Einfluß der Magyarisierung und die Anziehungskraft von Budapest als bedeutendes städtisches Zentrum dürften diesen Rückgang in der Zuwanderung ungarischer Juden nach Wien im gleichen Zeitraum erklären. Die ungarische Zuwanderung kam vor allem aus mittleren oder großen jüdischen Gemeinden aus geographisch gesehen nahe von Wien liegenden Gebieten, wie Westungarn oder der westlichen Slowakei, und nicht aus den Gebieten Mittel- und Ostungarns, wo die meisten Juden des Landes lebten. Obwohl viele der frühen Zuwanderer aus Ungarn einen traditionellen Hintergrund hatten und einige die orthodoxe Gemeinde in Wien verstärkten, besteht doch kein Zweifel, daß sie im Vergleich zu den galizischen Juden viel stärker germanisiert waren - die Familie Herzl ist eines der bekannteren Beispiele. Dieser Trend spiegelt den tiefgreifenden Einfluß der deutschen Haskala in Ungarn wider, der sich schon lange vor dem Ausgleich bemerkbar machte.15 Die Ungarn waren meist recht wohlhabend, auch wenn sie dabei von den böhmischen Juden weit übertrofFen wurden. Höchstwahrscheinlich gehörte die Mehrheit, bevor sie nach Wien zogen, der Mittelklasse an oder es gelang ihnen recht rasch, eine angesehene Position zu erreichen.16 Es gab zweifelsohne auch Armutsnester unter den zugewanderten ungarischen Juden, wesentlich auffallender im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben Wiens ist aber die Zahl jener aktiven, dynamischen und kreativen Juden, die aus den ungarischen Gebieten stammten. Böhmische und mährische Juden zählten zu den ersten, die nach der Aufhebung der Niederlassungsbeschränkungen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nach

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Die Gemeinde

Wien zogen. Wie wir gesehen haben, war der Rückgang der österreichischen Juden, die in den tschechischen Gebieten lebten, nach 1846 besonders dramatisch, und Wien übte auf die böhmischen und mährischen Juden aus geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen eine besonders große Anziehungskraft aus.17 Die böhmischen Juden wanderten aus allen fünf Regionen des Landes zu (nahezu ein Drittel aus Prag und Mittelböhmen), und die mährischen Juden stammten vor allem aus Südmähren. Nachdem sie schwer unter den drückenden Beschränkungen bezüglich des Bevölkerungswachstums und der Bewegungsfreiheit im Osterreich des 18. Jahrhunderts gelitten hatten, ist es nicht erstaunlich, daß die mährischen Juden ihre kleinen Gemeinden rasch verließen, um in den städtischen Zentren, vor allem in Wien, größere wirtschaftliche Möglichkeiten zu suchen.18 Außerdem fühlten sich sowohl die mährischen als auch die böhmischen Juden durch den Anstieg eines konkurrierenden tschechischen Bürgertums bedroht, das die halb-monopolartige Stellung der jüdischen Händler und Geschäftsleute in der ländlichen Wirtschaft untergrub.19 Die Gründung lokaler Verbrauchergenossenschaften zur Ausschaltung der jüdischen Zwischenhändler und die Organisation von antijüdischen Boykotts wurden zu Charakteristika der tschechischen Nationalbewegung. Wie wir gesehen haben, waren schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts während der antisemitischen Unruhen in Böhmen wirtschaftliche und nationale Fragen eng miteinander verknüpft. Da der tschechische Nationalismus im späten 19. Jahrhundert schärfere antideutsche Züge annahm, um so den lokalen wirtschaftlichen und politischen Einfluß der Deutschen möglichst zu schwächen oder gar auszuschalten, verstärkte sich auch der Druck auf die Juden als „germanisierte" Elemente.20 Ahnliche Tendenzen konnten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in der von Ungarn beherrschten Slowakei und dem österreichischen Galizien beobachtet werden, als slowakische, polnische und ukrainische Nationalisten die jüdischen Händler, Kaufleute und Zwischenhändler aus ihrer traditionellen Rolle in der ländlichen Wirtschaft verdrängen wollten. Der drohende Verlust des Lebensunterhalts, das Gefühl, den lokalen nationalistischen Gegenströmungen ausgeliefert zu sein, und der wirtschaftliche Antisemitismus - dies alles führte dazu, daß der Anreiz für Juden noch stärker wurde, sich in die relative Sicherheit Wiens zu flüchten oder ins Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten, auszuwandern. Für die böhmischen und mährischen Juden war es völlig natürlich, daß ihre Wahl auf Wien fiel, da keine andere jüdische Gemeinde in den österreichischen Ländern seit der Zeit Josefs II. eine so intensive Germanisierung erfahren hatte. Außerdem hatten sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon zunehmend an das Leben in der Stadt gewöhnt, so daß es für sie einfacher war, einen Umzug in die Metropole zu erwägen, und sie sich leichter in der Weltstadt einlebten.21 Die böhmischen Juden waren auch die wohlhabendsten Zuwanderer nach Wien, was sich un-

Zuwanderung in die Kaiserstadt

45

ter anderem daran zeigte, daß sie als Steuerzahler in der Kultusgemeinde überproportional vertreten waren.22 Böhmische und mährische Juden verhielten sich bei der Wahl des Wohnbezirkes in Wien ganz anders, als dies die nichtjüdischen tschechischen Zuwanderer in die Hauptstadt taten, welche die größte nationale Minderheit in der Stadt bildeten.23 Die 100.000 Wiener Tschechen konzentrierten sich vor allem in Arbeiterbezirken, wie Favoriten (10. Bezirk) und Ottakring (16. Bezirk), oder in der Landstraße (3. Bezirk), wo der untere Mittelstand wohnte. Größtenteils arbeiteten sie in Fabriken, sprachen tschechisch als Alltagssprache und besuchten eher Wiener Handelsschulen als Gymnasien. Die böhmischen und mährischen Juden Wiens hingegen konzentrierten sich in den typisch „jüdischen" Gegenden (Innere Stadt, Leopoldstadt, Aisergrund), sie übten Berufe der Mittelklasse aus, sprachen nur deutsch und hatten den Ehrgeiz, ihre Söhne in die anerkanntesten Schulen Wiens zu schicken.24 Anders ausgedrückt verhielten sich die böhmischen Juden sehr ähnlich den in Wien geborenen Juden, sobald sie sich an die Stadt gewöhnt hatten, und lebten in vorherrschend „jüdischen" Wohngegenden, wie andere jüdische Zuwanderer auch. Erstaunlicherweise hatten sie praktisch keinen Kontakt zu nichtjüdischen böhmischen Zuwanderern, der größten vergleichbaren Minderheit in der Stadt; von ihnen fühlten sie sich durch Religion, gesellschaftliche Schicht, Kultur und berufliche Ausrichtung getrennt, obwohl sie aus der gleichen Region stammten. Marsha Rozenblit hat in ihrer detaillierten Studie ausgeführt, daß dieses Phänomen Teü eines größeren Anpassungsmusters an die Metropole war, in dem jüdische Zuwanderer jüdische Wohngebiete schufen, wo „Juden aller sozialen Schichten lieber miteinander lebten als mit Nichtjuden, deren ökonomische Interessen sie teilten".25 Dieses Verhalten, sich in Wohngegenden zu konzentrieren, das auch auf ungarische, galizische, böhmische, mährische und in Wien geborene Juden zutraf, diente ihrer Meinung nach dazu, das jüdische Selbstbewußtsein und die jüdische Identität zu stärken, während der Einfluß der Assimilationsfaktoren der Umgebung eingeschränkt wurde. Der Vergleich zwischen Wien und Prag ist in dieser Hinsicht sowohl was das Wohnverhalten als auch was den Integrationsprozeß in die nichtjüdische Gesellschaft betraf aufschlußreich.26 Zugegebenermaßen kam die Zuwanderung von Juden nach Prag hauptsächlich aus anderen Gebieten Böhmens und war kein multinationales, vielsprachiges Phänomen. Vor 1914 gab es in Prag praktisch keine Ostjuden, und die Assimilation erfolgte als Minderheit in eine andere (d. h. deutsche) Minorität. Trotz dieser bedeutenden Unterschiede und der Tatsache, daß die Wiener Juden nie ernsthaft mit einem vergleichbaren Problem kultureller Ausrichtung (d. h. zwischen Tschechen und Deutschen) konfrontiert waren, ergaben sich dennoch gemeinsame Probleme aus religiösen Differenzen, unterschiedlichen Berufs- und Schichtstruktu-

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Die Gemeinde

ren sowie politischen Anschauungen. Gary Cohen weist in seiner Studie zum Beispiel daraufhin, daß deutsche Juden und Nichtjuden in Prag einander im allgemeinen im privaten Umfeld (Familienbeziehungen, Freundschaften, soziale Kontakte und Eheschließungen untereinander) aus dem Weg gingen, trotz des hohen Maßes jüdischer Beteiligung am öffentlichen Leben in der deutschen Gemeinde. 27 Wie in Wien neigten sie dazu, andere Juden den Deutschen als Nachbarn vorzuziehen. 28 Obwohl sie sich nicht in speziellen Wohngegenden konzentrierten, außer bis zu einem gewissen Maß in Josefov, „neigten jüdische Haushalte, vor allem deutsche Juden, dazu, mit wenigen deutschen Nichtjuden, wenn überhaupt, in dem gleichen Gebäude zu wohnen". 29 Cohen folgert, daß die deutschen Juden in Prag trotz der großen Akkulturation „so etwas, wie ein getrenntes Leben" beibehielten, ein bestimmtes Maß an jüdischen Werten und Gewohnheiten, ein Gefühl von Gruppenidentität, das auf engen Familien- und Gesellschaftsverbindungen im privaten Umfeld mit anderen Juden basierte.30 Das Verhalten von Juden und Nichtjuden bei der Vermischung in den Wohngebieten war in Wien ganz anders als in Prag, wobei die Grenzen der Gemeinden in der österreichischen Hauptstadt weniger klar gezogen waren. Trotz der jüdischen Konzentrationen in gewissen Gegenden der Stadt, bot Wien mit seinem großstädtischen Charakter, seinem rascheren Wachstum und seiner umfangreicheren Bevölkerung eine breiteres Spektrum an gesellschaftlichen Kontakten und Möglichkeiten zur Assimilation als Prag.31 Bezeichnenderweise war die Trennung innerhalb einzelner Mietshäuser nicht so stark ausgeprägt wie in Prag.32 Dies gilt insbesondere für die reicheren Gebiete der Inneren Stadt, wo wohlhabende Juden, die im Großhandel und als Freiberufler tätig waren, sich bevorzugt niederüeßen. In der Leopoldstadt, dem Bezirk mit dem höchsten Anteil an Juden, war die Tendenz der Juden, zusammenzuleben, deutlicher ausgeprägt, vor allem im Zentrum des Bezirks. Aber wie Ivar Oxaal und Walter Weitzmann erst kürzlich unterstrichen haben, lebten sogar dort Juden inmitten einer christlichen Mehrheit. Außerdem begünstigten die Wohnungsnot und die Praxis, Teile der Wohnung an Lehrlinge und Kostgänger unterzuvermieten, ein gewisses Maß an Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden. 33 Im kosmopolitischen Wien gab es - trotz des Vorhandenseins eindeutig jüdischer Wohngegenden - entschieden mehr soziale Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden als in Prag, ganz zu schweigen von der alten mährischen Gemeinde oder den Ghettos in Ungarn und Galizien. In diesem Rahmen waren die Ostjuden aber ein Sondeifall unter den Neuzuwanderern nach Wien, sobald der Bau der Eisenbahnen und die Abschaffung der Einschränkungen aus der Zeit des Vormärz es ihnen ermöglichten, in Massen in die Hauptstadt zu strömen. 1914 stellten sie ungefähr ein Viertel der Wiener Juden, und ihre Präsenz fiel umso mehr auf, als sie andere Bräuche und religiöse Gewohnhei-

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teil sowie eine andere Kleidung und Sprache hatten. Das josefinische Zwischenspiel und seine Folgen hatten es nicht vermocht, die Galizier zu „verwestlichen" oder den ethnischen Zusammenhalt der breiten Masse der Juden an den nordöstlichen Rändern des Reiches zu untergraben. Ihr Anteil an der jüdischen Bevölkerung Wiens stieg nach den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts stetig an, als sich die Bedingungen in den polnischen Gebieten verschlechterten. Zwischen 1857 und 1900 war die jüdische Bevölkerung Galiziens tatsächlich von 448.975 auf 811.185 (11,1 Prozent der Gesamtbevölkerung) angewachsen.34 Wie die übrige nichtjüdische Bevölkerung hatten auch sie stark unter Mißernten, Choleraepidemien sowie der Uberfullung und Verarmung der Stadt gelitten, die seit den frühen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts immer stärker spürbar wurden. Langfristig gesehen viel bedeutsamer für die galizischen Juden aber war der allmähliche Verlust ihrer Vermittlerrolle zwischen den polnischen Großgrundbesitzern (Schlachte.) und der Bauernschaft - ein Trend, der sich mit dem Beginn des antijüdischen Wirtschaftsboykotts und der Bildung von landwirtschaftlichen Genossenschaften, von denen Juden in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts offen ausschlossen wurden, verstärkte. Gegen Ende des Jahrzehnts machte sich der wachsende Antisemitismus in der polnischen Mittelschicht und unter den Bauern, der von dem katholischen Priester Pater Stojalowski angeheizt wurde, in den Pogromen von 1898 Luft, was die bereits prekäre Situation der galizischen Juden weiter verschlechterte.35 So spielten eine Reihe von Faktoren zusammen - die wirtschaftliche Rückständigkeit des Gebietes, endemische Armut, Unterernährung, Bevölkerungsdruck, polnischer Nationalismus und Antisemitismus -, daß es die galizischen Juden nach Wien zog.36 Die finanzielle Situation dieser Zuwanderer war viel schlechter als jene von Zuwanderern aus anderen Teilen des Reiches, und unter den Steuerzahlern der Wiener Kultusgemeinde (IKG) waren nur relativ wenige Galizier aufgelistet. Marsha Rozenblit hat zum Beispiel errechnet, daß, obwohl 20 Prozent der Wiener Juden zwischen 1870 und 1910 aus Galizien stammten, nur 8 Prozent aller Steuerzahler der IKG aus Galizien kamen. Die Armut dieser letzten Welle jüdischer Zuwanderer (zwischen 1900 und 1910) war besonders deutlich, waren doch nur 4 Prozent der neuen Steuerzahler der Gemeinde Galizier.37 Die Galizier hoben sich von den anderen Juden nicht nur durch ihre Armut ab, sondern auch durch ihre stärkere Bindung an die orthodoxe Religion; sie errichteten ihre eigenen ehrwürdigen Synagogen, wie es dem polnischen Ritus entsprach, oder sie hatten ein Stieblach, wo es lauter zuging und sie nach althergebrachter Weise beten konnten. Sie fühlten sich nicht wohl bei dem Formalismus, dem Dekorum und der Zurückhaltung der deutschen Juden sowie dem Prunk der offiziellen Wiener Kultusgemeinde. Auch die vor 1914 in der österreichischen Hauptstadt nicht besonders zahlreichen ultra-orthodoxen chassidischen Juden (deren Zahl

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während des Ersten Weltkrieges aufgrund des russischen Vormarschs nach Galizien dramatisch ansteigen sollte) organisierten sich zum Schutze ihrer Interessen und eröffneten 1905 einen Zweig der galizischen Machzike Hadath in Wien. Zusätzlich zu den religiösen Interessen bauten die galizischen Juden ein ganzes Netzwerk von Landsmannschaften in Wien auf, die wohltätige Zuwendungen, gegenseitige Hilfe und soziale Kontakte anboten, um den neuen Zuwanderern zu helfen. Wien war jedoch kein fruchtbarer Boden für die Entstehung einer jiddisch sprechenden Subkultur der Arbeiterklasse, wie sie in der weit verstreuten russischen und polnischen Diaspora der Juden um die Jahrhundertwende bestanden hatte - von Vilnius und Minsk bis zum Londoner East End, der Lower East Side in New York, dem Pariser Pletzl oder Amsterdam. Die Vorherrschaft der deutschen Sprache und Kultur in Wien und das Fehlen eines in der Bekleidungsindustrie und den Ausbeutungsbetrieben wurzelnden jüdischen Proletariats dürfte diese Entwicklung gehemmt haben.38 Außerdem gab es kein jiddisches Zeitungswesen oder Theater, das mit jenem in London oder New York vergleichbar gewesen wäre, und auch keine ideologisch geprägte, jüdische sozialistische Bewegung, wie sie schon in Galizien selbst zur Jahrhundertwende in Ansätzen bestanden hatte.39 Die zugewanderten galizischen Juden beteiligten sich aber aktiver als andere Wiener Juden am Aufstieg des Zionismus, des Autonomismus und am „Diaspora"Nationalismus innerhalb der Habsburgermonarchie während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Dieser politische Einsatz zeugt von ihrem starken Empfinden für ethnische Identität und Separatismus, der sich aus den in Galizien selbst geltenden demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren ableiten läßt - ein Trend, der durch ihr Gefühl der Entfremdung und des Ausgeschlossenseins von der deutsch-jüdischen Gesellschaft in Wien noch verstärkt wurde. Die galizischen Juden waren sich sehr stark der Feindseligkeit bewußt, die ihnen nicht nur von antisemitischen Parteien in Österreich, sondern auch von der germanisierten jüdischen Elite in der Hauptstadt entgegenschlug.40 Der Grund für diese feindselige Haltung lag in der Verunsicherung, welche die in der Stadt geborenen und dort besser etablierten Juden - die assimilierten, die böhmischen, mährischen oder ungarischen Juden der Hauptstadt - gegenüber ihren „hinterwäldlerischen" Brüdern aus dem Osten empfanden, die hartnäckig darauf bestanden, ihren Gruppenpartikularismus zu bewahren. Nichts konnte mit größerer Sicherheit ihren Zorn auslösen als der Anblick eines bärtigen, Kaftan tragenden Juden in den Straßen Wiens mit seinem „jiddischen Singsang", der sie an ihre eigene, gar nicht so weit zurückliegende Vergangenheit in den Ghettos vor ihrer Emanzipation erinnerte.41 Die Ostjuden galten in den Augen ihrer moderneren, am Westen orientierten Brüder als laut, ungeschliffen und schmutzig, als unmoralisch und kulturell rückständig - eine symbolische Vorstellung, die vor allem unter den

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deutschen und österreichischen Juden gegen Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war.42 Wie wir gesehen haben, gehen die Ursprünge dieser Spaltung innerhalb des Judentums auf die Aufklärung zurück. In Osterreich waren solche Stereotypen unter den josefinischen Beamten, die Galizien mit eiserner Hand beherrschten und offen versuchten, den Chassidismus in der Zeit des Vormärz auszurotten, gang und gäbe.45 Mit dem Zusammenbruch der traditionellen jüdischen Gesellschaft und des jüdischen Selbstverständnisses verinnerlichten die deutsch-österreichischen Juden diese Haltung zunehmend in systematischerer Form. Die Aufsplitterung der Juden in „westliche" und „östliche" Zweige wurde durch die Modernisierung und den Einfluß der Haskala unweigerlich beschleunigt. Als Folge der ungleichen sozioökonomischen Entwicklung und der unterschiedlichen Stadien der kulturellen Assimilation, die für das Judentum Mittel- und Osteuropas charakteristisch war, verschärften sich lokale und regionale Unterschiede zwischen den Juden. Im Falle der österreichisch-imgarischen Juden war diese Aufsplitterung und schwindende Solidarität schon seit den josefinischen Reformen deutlich geworden. Infolge der Emanzipation und der Zuwanderung der Juden aus allen Teilen des Reiches nach Wien war dieses Problem noch brennender geworden. Die negative Vorstellung des „Ghetto"-Juden mit dem damit verbundenen Bild von Isolation, Zwang, Engstirnigkeit, Obskurantismus und einem Ethos gegenseitigen Mißtrauens und Feindschaft hatte sich breit gemacht.44 Verkörpert wurde dies sozusagen durch die jüdischen Zuwanderer aus Galizien. Für liberale (jüdische oder nichtjüdische) Geister des 19. Jahrhunderts war der Ostjude nicht viel mehr als ein mittelalterliches Relikt, das „den Unterschied zwischen Fortschritt und Reaktion, Aufklärung und Aberglauben, ja selbst Schönheit und Häßlichkeit" symbolisierte.45 All die Werte, die Wiener (und anderen deutschen) Juden am Herzen lagen - angefangen von der Schlüsselidee der Bildung, die ein ästhetisches und ethisches Ideal der um die Kultur bemühten Persönlichkeit ausstrahlte, welche die Reinheit des Ausdrucks, des Umgangs und der Verfeinerung betonte - schienen ihren Gegenpol in der Unbildung der osteuropäischen Juden zu finden.^ In Wien war die Begegnung dieser beiden Welten sowohl physisch als auch intellektuell zumeist direkter, da die geographische Nähe und die gemeinsame Staatszugehörigkeit sie in einem Schmelztiegel zusammenbrachte. In der habsburgischen Hauptstadt war der Kaftan tragende Jude mit seinem Talmud und den Schläfenlocken kein „Ausländer", dem seine Rechte als österreichischer Bürger und loyaler Untertan des Kaisers eines konstitutionellen Staates abgesprochen werden konnten, eine Tatsache, der sich die Antisemiten nur allzu bewußt waren. Außerdem konnten sich die germanisierten Juden Österreichs letztlich nicht ihrer Verantwortung für ihre Glaubensbrüder entziehen, auch wenn sie insgeheim die „polnischen" Juden noch so sehr dafür verantwortlich machten, daß ihre

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eigene Assimilation gehemmt und der Antisemitismus durch sie verschärft werde. Traditionelle Formen der gegenseitigen Hilfe und ein Verantwortungsgefühl für das Schicksal ihrer weniger vom Glück begünstigten Brüder mußten auf irgendeine Weise mit der grundlegenden Annahme der Emanzipation in Einklang gebracht werden, daß die jüdische nationale Solidarität der Vergangenheit angehörte.47 Die Wiener Kultusgemeinde versuchte zum Beispiel, dies auf ihre (nicht immer erfolgreiche) Weise durch einen Rahmen von wohltätigen Institutionen, philanthropischen Organisationen wie die Wiener Israelitische Allianz und durch die Unterstützung des Netzwerkes der Baron Hirsch-Schulen in Galizien, das der abergläubischen breiten Masse der Juden westliche Aufklärung vermitteln sollte, miteinander in Einklang zu bringen. Dieses wohltätige Werk hatte seine edelmütige Seite, faßte das Problem aber kaum an der Wurzel und war nicht geeignet, die sozialen und wirtschaftlichen Krankheiten, an denen das östliche Judentum litt, zu heilen. Kein liberaler Autor schildert die Probleme der Zeit nach der Emanzipation, die durch die kulturelle Kluft entstanden sind, die sich zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen des Judentums im Kaisertum auftat, anschaulicher als Karl-Emil Franzos (1848-1904). Die außergewöhnliche Popularität dieses in Czortkow (an der russisch-galizischen Grenze) geborenen österreichischen Schriftstellers und Journalisten, der seine Erzählungen und Skizzen über das osteuropäische Judentum regelmäßig in Wiens größter Tageszeitung, der Neuen Freien Presse, veröffentlichte, war ein Indiz dafür, welch ein brisantes Thema er aufgegriffen hatte. Diese Erzählungen mit dem Titel Aus Halb-Asien, die in zwei Bänden 1876 erschienen, beschreiben anschaulich die Grenzgebiete des österreichisch-ungarischen Reiches (Galizien, Bukowina, Rumänien, Westrußland). Sie waren in der Tat „nicht nur eine geographische Bestimmung, sondern eine Geisteshaltung", eine Metapher für Europa als Reich des Lichtes und der Liebe im Gegensatz zu seinem Gegenpol, Asien, einem Dschungel der Finsternis, der Barbarei und des wilden Hasses.48 Die Ostjuden waren „HalbAsiaten", gerade weil sie innerhalb dieser gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen lebten. Sie waren ein unglückseliges Produkt dieser nicht erlösten Welt des religiösen Fanatismus, der nationalen Unterdrückung, des Aberglaubens und der Rückständigkeit.49 In diesem speziellen Zusammenhang prägte Franzos seinen berühmten Satz „Jedes Land bekommt die Juden, die es verdient". Obwohl Franzos die osteuropäischen Juden mit ihren fremden Gebräuchen und ihrem Aberglauben oft einfühlsam beschrieb, vor allem in den Erzählungen Die Juden von Barnow (1877) oder Der Pojaz (1905 posthum veröffentlicht), war er kompromißlos in seiner Forderung nach Bildimg. Die Juden Halb-Asiens sollten nach dem Bild des deutschen liberalen Humanismus neu geschaffen werden, nach den kulturellen Normen eines Deutschtums, dessen moralische Überlegenheit klar ersichtlich und unbestreitbar war. Es war die Pflicht aller westlichen Juden, diese hei-

Zuwanderung in die Kaiserstadt

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lige Mission im Namen der Glaubensgenossenschaft - des „entnationalisierten" Judentums der Emanzipation - zu erfüllen.50 Franzos war peinlichst darauf bedacht, scharf zwischen der Gennanisierung des Ostens, die er ablehnte („ein undeutsches Wort für ein undeutsches Thun"), und der Weitergabe der deutschen Kultur - vor allem der produktiven, körperlichen Arbeit, der Selbstlosigkeit und der Gründlichkeit - an die rückständigen und trägen slawischen Nationalitäten des Ostens zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang konnte er Jiddisch, die Sprache der Ostjuden, nur als ein verfälschtes und vulgäres Kauderwelsch ansehen, das einer Assimilation51, die seiner Meinung nach die einzige langfristige Lösung für das sozioökonomische Elend der Ostjuden war, im Wege stand. Es nimmt nicht wunder, daß Franzos in seinen didaktischen Erzählungen die traditionelle Auffassung der galizischen Juden über die Ehe erbarmungslos angriff und sich über irrationalen Aberglauben und Gebräuche in der klassischen Art der Aufklärung lustig machte. Dieser österreichische Erzähler, der auf deutsch für eine westliche Leserschaft der Mittelschicht schrieb, entwickelte ein Bild der Ostjuden, das exakt deren liberale Erwartungen widerspiegelte und diesen entsprach.52 Diese etwas gönnerhafte Sicht, der Franzos Gestalt verlieh und die von seinen Lesern aus dem jüdischen Bildungsbürgertum Wiens enthusiastisch aufgenommen wurde, Heß die Stärken der galizisch-jüdischen Kultur weitgehend außer acht, vor allem die Tatsache, daß deren Vertreter standhaft am ethnischen und religiösen Stolz festhielten.53 Das Gefühl der Andersartigkeit, das sich auch auf das Privatleben erstreckte (galizische Juden heirateten meist untereinander und verkehrten auch gesellschaftlich nicht mit Nichtjuden), bewahrte sie vor der Zerstörung ihrer Identität, die unausweichlich mit der Assimilation einherging. Selbst als die galizischen Juden um die Jahrhundertwende in Wien immer häufiger in Stellungen als Beamte, Verkäufer und Führungskräfte aufrückten - und dadurch in engeren Kontakt mit Wiener Nichtjuden kamen - , bewahrten sie sich das Gefühl, zu einer abgegrenzten Gruppe zu gehören. Da sie außerdem oft aus der Unterschicht stammten, besuchten sie viel seltener Wiener Gymnasien als Juden mit anderer Zuwanderungsvorgeschichte. Daher spielte der wichtige Faktor der frühen Sozialisation in die deutsche Kultur durch das Eliteschulsystem Wiens eine viel weniger entscheidende Rolle bei der Formung ihres Weltbildes.54 Es ist auch weiter nicht erstaunlich, daß nur wenige galizische Juden oder Jüdinnen zum Christentum konvertierten. Auch hier waren sie einmal mehr ein Gegenpol zu den in Wien geborenen Juden.55 In Anbetracht dieser Tatsache muß die Präsenz einer großen galizisch-jüdischen Komponente in Wien als Gegengewicht zu dem durch den Entschluß zur Taufe bedingten Mitgliederschwund gesehen werden (zwischen 1868 und 1903 ließen sich über 9.000 Wiener Juden taufen).56 Die starke Zuwanderung österreichisch-ungarischer Juden in die Weltstadt nach

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Die Gemeinde

1848 war also keine einheitliche Geschichte der Assimilation in die nichtjüdische Kultur oder einer geradlinigen Anpassung an das Ethos einer modernen weltlichen Gesellschaft. Der Druck der Umgebung und der Kultur führte tatsächlich zu einer wachsenden Integration der Juden in die Wiener Wirtschaft und im Falle vieler jüdischer Zuwanderer zu einem hohen Maß an Akkulturation und gesellschaftlicher Anpassung an die Nichtjuden.57 Es kam jedoch zu keiner „strukturellen Assimilation" in dem Sinne, daß eine Gruppe mit der Mehrheit verschmolzen wäre (und somit ihren ethnischen Charakter und ihre eigene Kultur verloren hätte) - in Wien ebensowenig wie in anderen Landeshauptstädten mit einem großen jüdischen Bevölkerungsanteil wie Budapest, Prag, Lemberg, Krakau oder Czernowitz.58 Juden begannen sich eindeutig wie andere Wiener zu verhalten, zu kleiden und zu sprechen, sie behielten aber dennoch ihre eigene Art der gesellschaftlichen Integration bei, ihr eigenes Netzwerk jüdischer Organisationen und - vor allem die galizischen Juden - einen starken Sinn für ihre ethnische Identität.59 Da die Juden schon vor ihrer Zuwanderung städtische Erfahrung erworben hatten und über Bildung und geschäftliche Fähigkeiten verfugten, konnten sie die Herausforderungen des Lebens in der Stadt zweifellos schneller als viele Nichtjuden meistern. Ihre gut dokumentierte gesellschaftliche Mobilität, ihr Bildungsdrang und ihr Ehrgeiz, im Berufsleben erfolgreich zu sein, bedeuteten jedoch nicht, daß sie einfach als Individuen in der Anonymität der Großstadt aufgehen wollten oder konnten.60 Die Eingliederung in die Metropole Wien übte trotzdem einen bedeutenden Einfluß auf diese neue jüdische Bevölkerung aus. Die Großstadt eröffnete ihnen viel mehr Möglichkeiten bezüglich Gesellschaft, Wirtschaft und Bildimg.61 Die Juden waren nicht mehr länger an die Zwänge ihres traditionellen Lebensstils in den Kleinstädten und Schtetlnach der Provinz gebunden. Sie begannen in neue Berufe einzusteigen, gaben bei Kunst und Wissenschaft den Ton an, veränderten das Antlitz des Journalismus in Wien und Osterreich und beteiligten sich aktiv an der Politik.62 Da die Juden aus heterogenen jüdischen Gesellschaftsformen aus der Provinz mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau und Anpassungsgrad an die Moderne ankamen, erlebten sie Wien weder alle auf die gleiche Weise, noch reagierten sie gleich auf die großstädtische Umgebung, da sie einer abgegrenzten Gruppe angehörten, die oft aus völlig anderen Gründen in die Hauptstadt zuwanderte, als dies bei Nichtjuden der Fall war.63 Im Gegensatz zu nichtjüdischen Zuwanderern stammten sie nicht hauptsächlich aus Böhmen, Mähren oder Niederösterreich, sondern eher aus Ungarn und Galizien; sie waren weder Bauern, denen das städtische Leben fremd war, noch kamen sie als Einzelpersonen oder als Arbeiter auf der Durchreise, die in erster Linie nach besseren Löhnen Ausschau hielten. In der Mehrzahl kamen sie im Familienverband in der Hoffnung, der Armut, der Stagnation in der Provinz und dem Antisemitismus ihrer Heimatgegenden zu entfliehen. Typischerweise stiegen

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sie in Handels- oder Biiroberufe ein, arbeiteten eher als Freiberufler und Fiihrungskräfte denn in der Industrie.64 Für Juden der zweiten Generation, Söhne von Kleinhandelstreibenden und Kaufleuten, bot Wien die verlockende Aussicht auf größeren Wohlstand, höhere Sicherheit und einen besseren sozialen Status, als sie ihn je zuvor innegehabt hatten. Die österreichische Hauptstadt zog die Juden jedoch nicht nur als Mekka finanzieller Möglichkeiten und persönlicher Freiheit an, sondern übte auch ihren Reiz als die bedeutendste kosmopolitische und deutschsprachige Stadt in der Monarchie aus; außerdem war es das übernationale Zentrum der habsburgischen Macht und ihrer wichtigsten Einrichtungen, die in der liberalen Ära den Juden gegenüber als wohlwollender galten als der lokale Nationalismus. So gab es sowohl eine kulturelle und ideologische als auch eine wirtschaftliche Dimension beim Ansehen und der Anziehungskraft Wiens in den Augen der östereichisch-ungarischen Juden. Die spektakuläre Zunahme an sozialem Status und Prestige in der Zeit nach 1848 war ein integraler Bestandteil des Emanzipationsprozesses des Wiener Judentums, der risikofreudigen jüdischen Zuwanderern neue Chancen auftat, ihnen gesellschaftliche Mobilität ermöglichte und dadurch ihre rasche „Verbürgerlichung" förderte. Es war beispielsweise bezeichnend, daß nur sehr wenige Juden in Arbeitergegenden der Stadt, wie Ottakring (16. Bezirk), Hernais (17. Bezirk) oder Favoriten (10. Bezirk), lebten und nur ein sehr geringer Prozentsatz der Allerreichsten in den Villenbezirken Döbling (19. Bezirk), Währing (18. Bezirk) oder Hietzing (13. Bezirk) zu finden war. Wie Tabelle 2.3 zeigt, lebten die Wiener Juden vorwiegend in drei Bezirken: der

Tabelle 2.5: Die jüdische Bevölkerung Wiens zwischen 1869-1910 Bezirk

I. Innere Stadt

II. Leopoldstadt

IX. Aisergrund

X X . Brigittenau*

Jüdische

% der Gesamt-

Jüdische

%derGesamt-

Jüdische

%derGesamt-

Jüdische

%derGesamt-

Bevölkerung

bevölkerung

Bevölkerung

bevölkenmg

Bevölkerung

bevölkenmg

Bevölkerung

bevölkerung

1869

9.256

14,4

19.657

23,2

1.943

3,2

1880

12.452

17,8

35.061

34,6

6.872

10,1

1910

10.807

20,3

59.722

33,9

21.615

20,5

-

14.144

-

14,0

* Bis 1900 gehörte Brigittenau zur Leopoldstadt (2. Bezirk) Quellen: Statistisches Die Juden

Jahrbuch

der Stadt Wienfür das Jahr 1910 (Wien 1912), S . 45; L e o G o l d h a m m e r ,

Wiens: Eine statistische

Studie (Wien 1927), S. 10; Rabinbach, „Migration of G a l i d a n J e w s " ,

Tabelle ΧΠ. F ü r d e n Prozentsatz aller Wiener J u d e n , die in j e d e m Bezirk lebten, siehe M.Rozenbüt, Die Juden Wiens, S . 85.

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Die Gemeinde

Inneren Stadt (dem Regierungs-, Banken- und Handelszentrum), der Leopoldstadt (dem ältesten Siedlungsgebiet mit einer gemischten Zusammensetzung der Schichten) und am Aisergrund, dem Bezirk der Mittelschicht und der Freiberufler. 1880 wohnten 75 Prozent aller Juden Wiens in diesen drei Bezirken, 1900 war diese Zahl aber auf 55 Prozent zurückgegangen.65 1910 war die jüdische Bevölkerung in den mittelständischen Geschäfts- und Einkaufsbezirken Josefstadt, Neubau und Mariahilf deutlich angestiegen, was von einer größeren Verbreitung der Wiener Juden zeugt.66 1910 gab es also sechs Wiener Bezirke, in denen die Juden mehr als 10 Prozent der Bevölkerung stellten - Leopoldstadt (34 Prozent), Aisergrund (20 Prozent), Innere Stadt (20 Prozent), Brigittenau (14 Prozent), Mariahilf (13 Prozent) und Neubau (11 Prozent).67 Ein bedeutende Faktor bei dieser Verteilung war die Tatsache, daß die Wiener Juden aller sozialen Schichten dazu neigten, sich in bestimmten Gegenden zu konzentrieren und dadurch trotz des allgemeinen Trends zur Akkulturation eine definierbare ethnische Enklave zu bilden.68 Dieses Ghettosyndrom der Zuwanderer trat in der „Mazzesinsel" der Leopoldstadt zutage, wo die orthodoxen galizischen Juden durch ihre andersartige Kleidung und Erscheinung besonders auffielen. Aber selbst im mittelständischen Aisergrund, der Heimat von Sigmund Freud, Victor Adler, Theodor Herzl und vielen anderen Größen des intellektuellen Lebens in Wien, war ein deutlich „jüdischer" bürgerlicher Charakter spürbar. Die jüdische Elite der Stadt, vor allem die reichsten Gememdemitglieder, neigten ihrerseits dazu, sich in der Inneren Stadt zu konzentrieren, wie einige der erfolgreicheren jüdischen Ärzte, Advokaten und Angehörigen anderer freier Berufe. Andererseits konnte man sie auch in der Leopoldstadt antreffen, wo sie sich in anderen Teilen desselben Bezirks niederließen, in dem auch arme Juden wohnten.69 Diese Siedlungsstruktur scheint Marsha Rozenblits Behauptung zu unterstützen, daß im Wien vor 1914 „Jüdischsein und nicht die Klasse das Hauptkriterium [war], nach dem Juden ihre Nachbarschaft aussuchten", obwohl die Juden innerhalb der jüdischen Gebiete nach dem gesellschaftlichen Stand getrennt lebten.70 So gab es zum Beispiel hinsichtlich der Wohngebiete keine deutliche Trennung zwischen deutschen und osteuropäischen Juden, wie sie in anderen europäischen und amerikanischen Städten der damaligen Zeit bestand, obwohl vergleichbare soziale, kulturelle und politische Spannungen ebenso vorhanden waren.71 Wenn, wie dies auch in anderen europäischen Städten der Fall war, Juden in Wien wohlhabender oder erfolgreicher wurden und aus ihrem alten Wohngebiet wegzogen, so verstreuten sie sich nicht einfach oder paßten sich nicht der Allgemeinheit an, sondern tendierten dazu, neue jüdische Ballungsräume innerhalb der mittelständischen Bezirke der Stadt zu bilden. Anders ausgedrückt, es gab keine eindeutige Unterscheidung zwischen den Wiener Juden der „Vorstadt" und der „Innenstadt", obwohl sich die Juden sehr

Zuwanderung in die Kaiserstadt

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wohl durch die soziale Schicht, den kulturellen Hintergrund und ihren Herkunftsort voneinander unterschieden. Auf dem Gebiet der Erziehung, wo der jüdische Ehrgeiz, gesellschaftlich aufzusteigen, besonders auffallend war, traten die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden noch stärker in Erscheinung als zwischen den Juden unterschiedlicher Schicht. Fast ein Drittel aller Wiener Gymnasiasten und ungefähr ein Fünftel aller Schüler an Realschulen waren Juden.72 Die Entschlossenheit, mit der jüdische Eltern der Mittelschicht für eine hervorragende Ausbildung ihrer Kinder sorgten, ist einzigartig und spiegelt sowohl die traditionelle Achtung der Juden für Bildung als auch deren post-emanzipatorisches Streben nach erfolgreicher Akkulturation und beruflicher Mobilität wider. In der Inneren Stadt waren zwei Fünftel aller Gymnasiasten Juden, im Aisergrund waren es zwei Drittel und in der Leopoldstadt sogar drei Viertel.73 Obwohl die ärmeren Neuzuwanderer aus Galizien größere finanzielle Schwierigkeiten hatten, ihre Kinder an Eliteschulen zu schicken, taten sie dies bedeutend häufiger als nichtjüdische Wiener in einer vergleichbaren sozialen Position. Die Klassenschranken in der nichtjüdischen österreichischen Gesellschaft wurden durch das Bildimgswesen in einer Art und Weise aufrechterhalten, die auf die jüdische Bevölkerung nicht zutraf, wo erwartet werden konnte, daß ein gewisser Prozentsatz der Söhne von Handwerkern, Ladenbesitzern und Geschäftsleuten ein Gymnasium besuchte. Ähnliches galt für die österreichischen Universitäten, hier vor allem für Wien, wo die Juden die Universitätsausbildung als Mittel für den sozialen Aufstieg viel effektiver nutzten als Nichtjuden.74 Statistiken zeigen, daß zwischen 1800 und 1890 im Durchschnitt genau ein Drittel aller Studenten Juden waren, auch wenn diese Zahl um 1900 auf 24 Prozent zurückgegangen war.75 An den Höheren Technischen Lehranstalten Wiens läßt sich ein ähnlicher Trend beobachten, wobei Juden in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts 30 Prozent und um die Jahrhundertwende 27 Prozent der Schüler stellten.76 An der Universität Wien bevorzugten jüdische Studenten vor allem die medizinische und die juridische Fakultät. Der Höhepunkt wird im Jahr 1885 erreicht, wo 41,4 Prozent der Medizinstudenten Juden waren, um 1900 stellten sie nur mehr rund ein Viertel der Medizinstudenten.77 Der Einfluß der antisemitischen Bewegung und Agitation im Wien des Fin de Stiele war wahrscheinlich einer der Hauptgründe für diesen relativen Rückgang. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war die Universität Wien zu einer wahren Brutstätte nationalistischer und antisemitischer Feindseligkeiten geworden, wobei diese Agitation vor allem von den alldeutschen Burschenschaften ausging, die um die Jahrhundertwende zunehmend gewalttätig wurden.78 Der rassistische Feldzug hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei den jüdischen Studenten in Wien, die sich nach 1900 zunehmend in Scharen mit der zionistischen Ideologie des

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jüdischen Nationalismus identifizierten. Bezeichnenderweise führten Studenten aus Galizien und der Bukowina diese militanten Reaktion an (ungefähr ein Viertel aller jüdischen Universitätsstudenten Wiens stammte aus Galizien), obwohl diese auch in Wien geborene und böhmische jüdische Studenten erfaßte und - wenn auch in etwas geringerem Maße - mobilisierte.79 Sigmund Freuds Sohn Martin, der sich der zionistischen Studentenverbindung Kadimah anschloß, erinnerte sich noch genau an die Atmosphäre an der Wiener Universität um die Jahrhundertwende. Er beschrieb, wie die deutschnationalen Studenten oft in die Vorlesungssäle stürmten und so lange „, Juden hinaus' riefen, bis die Juden und sehr wenigen Jüdinnen ihre Bücher zusammengesammelt hatten und verzweifelt den Saal verließen".80 Das Aufkommen des Zionismus gab den jüdischen Studenten jedoch neue Willenskraft, den Diffamierungen und der Einschüchterung die Stirn zu bieten. Widerstand zeigten, zumindest anfänglich, „Burschen aus Galizien und der Bukowina, die verachteten und verschmähten,polnischen Juden'". 81 Fünfzig Jahre nach der großen Zuwanderung in die Kaiserstadt war der goldene Schein der Assimilationsträume etwas verblaßt, vor allem bei der jüngeren Generation von Juden. Obwohl Wien zur größten jüdischen Stadt in der österreichischen Hälfte der Monarchie und zu einem dynamischen, kreativen Zentrum jüdischen Lebens geworden war, hatte die Erfolgsgeschichte durch den starken politischen Antisemitismus, der in der Stadt seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts spürbar war, etwas gelitten. Der Massenexodus nach Wien hatte Tausenden Juden eine neue Welt der Moderne und ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, er hatte aber auch neue Identitätsprobleme und das verhängnisvolle Aufkommen der rauhen Massenpolitik zur Folge, die sich zur Vermittlung ihrer Ideen in erster Linie des Judenhasses bediente.82 Die politischen Kämpfe im Wien des Fin de Siecle waren daher damals unentwirrbar mit der weitreichenden demographischen Verlagerung verknüpft, die aus dem großen Zuzug der Juden des 19. Jahrhunderts in die habsburgische Hauptstadt resultierte. Deren Konzentration, Urbanisierung und spektakulärer Aufstieg innerhalb des Stadtgebietes veränderte das Antlitz Wiens und den Charakter der jüdischen Gemeinde sowie deren gesellschaftliche Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung. Die Geschichte der Wiener Juden in der Zeit der Emanzipation und Assimilation kann nicht mehr losgelöst von jener der Gesamtmonarchie betrachtet werden. Außerdem kam der Regierungspolitik nicht mehr dasselbe entscheidende Moment wie in der Zeit vor 1848 zu, als das Schicksal der Juden großteils von den Launen des Kaisers und der ihn umgebenden Beamten und Berater entschieden wurde. Nun waren komplexe soziale, wirtschaftliche und politische Prozesse am Werk, die in viel größerem Ausmaß von unten her die Dialektik der jüdischen Beziehungen zu Nichtjuden bestimmten.

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Die jüdische Gemeinde war den Veränderungen durch die Modernisierung, Säkularisierung und den sozialen Wandel ebenfalls völlig unvorbereitet ausgesetzt Gefangen zwischen den Gegenpolen von Tradition und Moderne, Orthodoxie und Reform, Liberalismus und Nationalismus, Assimilation und Antisemitismus, mußten die Wiener Juden neue Antworten und Ideologien finden, um den Herausforderungen zu begegnen. Die mit der Führung der Gemeinde betrauten wohlhabenden, angesehenen Persönlichkeiten und Rabbiner mußten sich dem Dilemma stellen, einer heterogenen Gemeinschaft von Zuwanderern mit äußerst unterschiedlicher Vergangenheit vorzustehen, die sich nicht mehr auf traditionelle Weise definierten. Die jüdische Intelligenz war nun auch mit der erschreckenden Möglichkeit konfrontiert, daß ihr Anspruch, Deutsche zu sein, von einer steigenden Zahl ihrer österreichischen Mitbürger nicht mehr akzeptiert würde. Der aufkommende Zionismus eröffnete eine nicht minder beunruhigende Alternative - eine neuerliche scharenweise Migration der Juden in ihren eigenen Staat, um die allgegenwärtige „Judenfrage" zu lösen. Die Wiener Juden wurden nun plötzlich mit einer verwirrenden Vielfalt von Gegenströmungen und rivalisierenden Ideologien konfrontiert, noch bevor sie selbst ein eigenes Gruppenbewußtsein aufgebaut und ihre Identität gefunden hatten. Trotz dieser Spannungen und Konflikte zog das Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiterhin Juden an, es bot einen fruchtbaren Boden für ihre Talente und Hoffnungen auf eine erfolgreiche Integration als geachtete und gebildete Mitglieder der Gesellschaft. Innerhalb des Gewirrs widersprüchlicher Tendenzen und feindseliger Strömungen mußten Wege der Anpassung und des Kompromisses gefunden werden, welche die Aufrechterhaltung einer einzigartigen und pulsierenden jüdischen Gemeinde bis zum Ende des Jahrhunderts ermöglichen sollten.

5. Philanthropie, Politik und die Ostjuden Chassidismus! Hier liegt es. Dieses jüdische Jesuitenthum, das seit mehr denn hundert Jahren sein Regiment im polnischen Judenthumefiihrt, diesem, nur diesem ist es zuzuschreiben, daß das polnische Judenthum im Finstern seine Tage zubringt, daß in seiner Mitte Aberglauben, Fanatismus, Verachtung und Abscheu zur Civilisation blüht...

Adolf Jellinek, Die Neuzeit (1889) Einem Volke kann man nicht philantropisch helfen, sondern einzig und allein politisch.

Theodor Herzl an Baron Moritz von Hirsch (1895)

D A S W I E N E R J U D E N T U M WAR IN D E R ZWEITEN H Ä L F T E D E S i g . J A H R H U N D E R T S

durch die Vielfalt seines regionalen und kulturellen Hintergrunds gekennzeichnet. Die Massenzuwanderung aus Böhmen und Mähren, wo die Juden schon stärker dem deutschen Einfluß ausgesetzt waren, aus Ungarn und aus den östlichen Provinzen (vor allem aus Galizien) veränderte nicht nur die Sozialstruktur der jüdischen Gemeinde, sie führte auch zu neuen Spannungen zwischen etablierten Wiener Juden und den Neuankömmlingen sowie zwischen Juden und Nichtjuden. Diese Spannungen gaben in der Tat die große soziale Kluft, die sich innerhalb des österreichischen Judentums auftat, in einem Mikrokosmos wieder und beleuchteten das unterschiedliche Tempo, in dem sich die Akkulturation in den einzelnen Teilen der Monarchie vollzog. Sogar nach der Emanzipation konzentrierte sich die breite Masse der österreichischen Juden (fast 70 Prozent) weiter im wirtschaftlich rückständigen, stark überbevölkerten polnischen Galizien unter unzureichenden hygienischen Bedingungen. In ihrer traditionellen Religionsausübung, ihrem Brauchtum, der jiddischen Sprache und der sozioökonomischen Struktur glichen sie eher den rumänischen und russischen Juden; die Juden Westösterreichs (Böhmen, Mähren und Niederösterreich) standen hingegen in ihrem sozialen Charakter den Deutschen viel näher als den osteuropäischen Juden. 1 Die ungarischen Juden, die selbst bis zu einem gewissen Grad entlang einer ähnlichen Ost-West-Achse gespalten waren, spielten bei der Zuwanderung nach Wien sozusagen eine Mittlerrolle. Infolge dieser Gegensätze besaß die jüdische Bevölkerung der habsburgischen Hauptstadt am Ende des 19. Jahrhunderts soziale und kulturelle Charakteristika sowohl des westlichen als auch des östlichen Judentums innerhalb einer Gemeinde. 2 An der Spitze der sozialen Pyramide standen die wohlhabenden, gebildeten jüdischen Bankiersfamilien, die Industriellen und Kaufleute, die in den Gemeindeein-

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richtüngen den Ton angaben. Nach ihnen kam das immer stärker kulturell angepaßte, deutschfreundliche Bürgertum, das im Handel, im Gewerbe und in den freien Berufen gut vertreten war. Im Einzelhandel, wie der Bekleidungsindustrie, der Möbelherstellung, bei der Lederwarenerzeugung, der Nahrungsmittelindustrie und den Warenhäusern, fiel dem jüdischen Bürgertum eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft der Stadt zu.3 Im Zeitungswesen, im Theater, in der Oper und im Konzertsaal war ihre Präsenz nicht weniger auffallend. Die mächtigsten Meinungsträger der liberalen Mittelklasse der Monarchie - vor allem die Neue Freie Presse - waren im Besitz von Wiener Juden, wurden von ihnen herausgegeben und großteils auch geschrieben.4 Bei den Rechtswissenschaften und in der Medizin stellten jüdische Studenten einen beträchtlichen Anteil an den Absolventen der Wiener Universität, und 1889 waren von den 681 in der Hauptstadt niedergelassenen Anwälten angeblich 594 Juden.5 Andererseits bildeten die kleinbürgerlichen und halbproletarischen Zuwanderer aus Galizien und der Bukowina mit ihrem jiddischen Dialekt, ihrem talmudischen Erbe und ihrer traditionellen jüdischen Kultur einen starken Kontrast zu den germanisierten Wiener Juden der Mittelklasse. Viele von ihnen konnten sich als Hausierer, Lumpenhändler und Kleingewerbetreibende gerade über Wasser halten. In den Bezirken Leopoldstadt und Brigittenau gehörten nicht wenige dieser Ostjuden zu den Arbeitern und Angestellten, obwohl bedeutend mehr Juden als Nichtjuden in der Industrie, dem Handel und den freien Berufen selbständig waren.6 Die Zuwanderung aus Galizien, vor allem nach 1870, hinterließ bei den Nichtjuden und auch bei den etablierten Wiener Juden ihre Spuren - wobei der Antisemitismus des Volkes die Befürchtungen widerspiegelte, daß der arme galizische Hausiererjude die einheimischen Geschäftsleute, die Kleinhändler lind Handwerker aus ihren schon gefährdeten wirtschaftlichen Stellungen verdrängen könnte. Auf einer anderen Ebene scheute sich der berühmte Wiener Chirurg Theodor Billroth 1876 nicht zu behaupten, daß das Medizinstudium in Wien durch den Ansturm „proletarischer Juden" aus Galizien und Ungarn verdorben würde, „welche absolut gar nichts haben, und denen man die wahnsinnige Idee beigebracht hat, sie könnten in Wien zugleich Geld erwerben (durch Unterricht, kleine Börsendienste, durch Hausiren mit Schwefelhölzern oder indem sie zugleich sich als Post- oder Telegraphenbeamte in Wien oder anderswo anstellen lassen etc.) und dabei Medicin studiren."7 Es sollte erwähnt werden, daß der Anteil jüdischer Studenten, die an der medizinischen Fakultät immatrikuliert waren, zwischen 1857 und 1885 von 22,7 auf 41,4 Prozent angestiegen war und daß dieser Zuwachs tatsächlich auf die Zuwanderung aus Ungarn und Galizien zurückzuführen war.8 Es ist nicht weiter erstaunlich, daß die antisemitische Bewegung in Wien bei jenen sozialen Gruppen, wie Universitätsstudenten, Kleingewerbetreibenden und

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Handwerkern starken Rückhalt fand, die sich am stärksten von der „jüdischen" Konkurrenz bedroht fühlten und die mit größter Wahrscheinlichkeit in direkten Kontakt mit Ostjuden kamen. Der 1880 gegründete Osterreichische Reformverein, der sich für den Schutz der einheimischen Handwerker und kleinen Geschäftsleute einsetzte, nannte die von den galizischen (und ungarischen) jüdischen Hausierern verursachten Probleme beim Namen. Bei ihrer ersten Massenzusammenkunft in der Dreher Bierhalle im November 1880 rief der Uhrmacher Josef Buschenhagen erbost aus, daß sie den Handwerkern schadeten.9 Das negative Stereotyp des polnisch-jüdischen Hausierers sollte in späteren Jahren von der christlichsozialen Bewegung und den deutschnationalen Antisemiten wirksam benutzt werden, wie auch das Schreckgespenst einer massenhaften Zuwanderung armer ungarischer und vor allem russischer Juden, die Osterreich über die ostgalizische Grenze überschwemmen würden. In Wien konkurrierten die galizischen Juden, die sich in den übervölkerten ärmlichen Bezirken entlang des Donaukanals niederließen, in gewissem Maße mit den Handwerkern der unteren Mittelschicht. Da sie als Schneider, Schuhmacher, Juweliere, Drechsler, Tapezierer, Schlosser, Buchbinder und Tischler vor allem im Kleingewerbe tätig waren, bildeten sie die eindeutige Zielscheibe für die allgemeine Xenophobie.10 Durch ihre osteuropäische Kleidung, die Schläfenlocken und ihren Kaftan sowie den Besuch ihrer eigenen Synagogen waren sie leicht zu erkennen, sie unterschieden sich eindeutig von den deutschen Juden. Ν. H. Tur-Sinai erinnert daran, daß „man jeden Rosch ha-Schana Tausende von ihnen in der Taschlik-Vrozession sehen konnte. In anderen Teilen der Stadt konnte man einen anderen jüdischen Typus sehen, und je weiter man sich von diesen Zentren jüdischer Massenbesiedlung entfernte, desto weniger echte Juden fand man. Juden waren nicht mehr als solche zu erkennen."11 Die galizischen Juden, die in den Bezirken Leopoldstadt und Brigittenau lebten, mußten mit den schlimmsten Wohnbedingungen der Stadt fertig werden, wobei sich bis zu sechs Juden ein Zimmer teilten.12 Durch sie schwoll die Zahl der Wiener Juden, die in irgendeiner Form des Handels tätig waren, auf 45 Prozent an, gegenüber 28 Prozent der katholischen Bevölkerung.15 Es wurde vor allem Kleinhandel betrieben, insbesondere mit Textilien in der Bekleidungsbranche. Andererseits war das Verhältnis zwischen Nichtjuden und Juden in der Industrie und im Handwerk beinahe umgekehrt. Fünfzig Prozent der Wiener Nichtjuden waren in einer Fabrik oder mit sonstiger Handarbeit beschäftigt, gegenüber 28 Prozent der Juden, die im allgemeinen in der Heimindustrie tätig waren.14 Das jüdische halbproletarische Element blieb in Wien ebenso außerhalb des primären Produktionsprozesses, wie dies schon in Galizien der Fall gewesen war.15 Ihre wirtschaftliche Funktion schien daher nur geringe Bedeutung für die Wiener Wirtschaft insgesamt zu haben.

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Die allgemeinen Statistiken über die Beschäftigung katholischer und jüdischer Männer in Wien zeigen, daß drei Viertel der nichtjüdischen berufstätigen Männer, die in Handel und Industrie beschäftigt waren, Arbeiter waren; nur 9 Prozent waren Angestellte, und 14 Prozent waren selbständig. Andererseits konnte fast genau ein Drittel der jüdischen Männer „entweder als Freiberufler, Angestellter bzw. Arbeiter" eingestuft werden.16 Inwieweit war die jüdische Präferenz für freie Berufe, Kleinhandel oder geringfügige Beschäftigung im Handwerk ein „abweichendes" Phänomen?17 War die Tatsache, daß es den Juden gelang, eine „Proletarisierung" zu vermeiden, wirklich eine Anomalie im weiteren Wiener Kontext der langsamen Modernisierung, des Uberlebens zahlreicher kleiner Einzelhändler und Handwerksbetriebe und der geringen industriellen Organisation? Oxaal und Weitzmann, die dieses Problem im größeren Zusammenhang der Wiener und österreichischen Sozialstruktur untersuchten, kamen zu dem Schluß, daß „der normale Jude eine besonders passende und wesentliche Rolle ... im Wirtschaftsleben seines geliebten (sie) Wien spielte";18 trotz der jüdischen „Uberrepräsentation" in einigen wichtigen Wirtschaftszweigen spielten die beruflichen Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden vielleicht eine weniger bedeutende Rolle, als bisher oft angenommen worden war. Diese Ansicht scheint „objektiv" überzeugend, obwohl sie nicht berücksichtigt, daß die Antisemiten, aber auch viele Juden, damals anders dachten. Im späten 19. Jahrhundert war die Uberzeugung weit verbreitet, daß die Wiener Juden im Bankwesen sowie als Unternehmer, Kaufhausbesitzer, in den freien Berufen und im kulturellen Leben überrepräsentiert wären; ebenso reagierten die Antisemiten und in gewissem Maße sogar die Juden ablehnend auf das ihrer Meinung nach sich verändernde wirtschaftliche Profil der jüdischen Gemeinde gegen Ende des Jahrhunderts. Peter Pulzer faßte diese Verlagerung vor mehr als zwanzig Jahren zusammen, als er die Hypothese aufstellte: „Und als die Zahl der galizischen Juden in Wien zunahm, wurde das jüdische Großbürgertum immer weniger typisch für das Wiener Judentum im ganzen, während der Trödler, der Altwarenhändler, der Lumpenproletarier, der sich am Rande des Wirtschaftssystems ungeregelt den Lebensunterhalt zusammenscharrte zum Typ wurde."19 Die jüngste Forschung hat uns an die dunkle Begleiterscheinung dieser gesellschaftlichen Randstellung erinnert - an die Rolle der galizischen Juden bei der kommerziellen Prostitution -, die für die deutschen und österreichischen Antisemiten höchst willkommen war.20 Die Beteiligung jüdischer Männer und Frauen an der Führung und Beschickung von Bordellen in Galizien und der Bukowina führte im Winter 1892 zu einem großen Prozeß in Lemberg. Der antisemitische Abgeordnete Schlesinger brachte am 11. November 1892 eine parlamentarische Anfrage ein, die von vierzehn seiner christlichsozialen Parteifreunde unterzeichnet war und wirkungs-

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volle Maßnahmen gegen „die allgemeinen schändlichen Ausschreitungen des jüdischen Volkes in Oesterreich" forderte.21 Der darauf folgende Skandal führte zu einer Zurechtweisung des antisemtischen Abgeordneten, aber sogar die sozialistische Arbeiterzeitung fühlte sich veranlaßt, einen unfreundlichen Kommentar über den unverhältnismäßig großen Anteil an Kriminellen, Schwindlern, Schmugglern und „weißen Sklavenhändlern" unter den galizischen Juden abzudrucken: „Es ist einmal wahr, daß die Ausbeuter in Galizien und vielfach anderwärts Juden sind, und daß gerade sie eine Raffinirtheit und Schlauheit entwickeln, die den Deutschen oder Slaven mitunter fehlt."22 Einige Jahre später führt Theodor Herzl in seinem Artikel in Die Welt (24. Juni 1898) nach Ausbruch von Pogromen in Westgalizien dieses Phänomen auf die „schauerlichen Zustände" und „geradezu untermenschlichen Bedingungen" zurück, unter denen die galizischen Juden lebten. Er bemerkt, daß „galizische Jüdinnen in den letzten Jahren auffallend der Prostitution zufallen" und fügt hinzu: „Sie kommen als Ware nach allen Weltgegenden in den schrecklichsten Handel. Bedenkt man die alte Reinheit des jüdischen Familienlebens, so schnürt einem eine solche Tatsache das Herz zu. Und die so in ihrer moralischen Widerstandskraft Geschwächten sind nicht nur den grimmigsten Entbehrungen, sondern auch Verfolgungen und Mißhandlungen durch den Pöbel ausgesetzt."

Die Verbindung zwischen galizischen Juden und der Prostitution war zu jener Zeit, als Herzl diese Zeilen schrieb, in Wien tatsächlich nur allzu bekannt und trug mit dazu bei, die Stimmung am Ende des Jahrhunderts durch antisemitische Gefühle zu vergiften. Aufwiegler, wie der christlichsoziale Abgeordnete Ernst Schneider, bezogen sich im Parlament weiter auf „zahllose Fälle, bei denen christliche Dienstboten, die in jüdischen Diensten standen, spurlos verschwanden und zu einem schrecklichen Schicksal in die Bordelle Ungarns, des Orients und Südamerikas verschleppt wurden". 23 Bezeichnenderweise verbanden Schneider und andere österreichische Antisemiten „weiße Sklaverei" mit Phantasien von Ritualmorden; sehr zu Unrecht bezichtigten sie die Juden, einen massenhaften Handel mit christlichen Frauen zu organisieren, obwohl die meisten Opfer in Wirklichkeit jüdische Mädchen waren. Adolf Hitler griff auf diese verzerrten rassistischen Phantasien zurück, als er in Mein Kampf schrieb: „Das Verhältnis des Judentums zur Prostitution ... konnte man in Wien studieren wie wohl in keiner sonstigen westeuropäischen Stadt..." - eine Verbindung, die schon in der öffentlichen Meinung fest verankert war, als er 1907 in der österreichischen Hauptstadt eintraf.24 Das Problem der jüdischen Prostitution zog auch die Aufmerksamkeit wichtiger jüdischer Organisationen in Deutschland und Österreich auf sich, die schon lange erkannt hatten, daß die Gesellschaft in Galizien wiederaufgebaut werden mußte. Die Israelitische Allianz in Wien, die bald nach ihrer Gründung im Jahr 1875 Schulen

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und Hilfswerke in der polnischen Provinz zu fordern begann, wandte sich mit dem Vorschlag an die Zentrale in Paris, „alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, der elenden Bevölkerung Galiziens zu Hilfe zu kommen".25 1901 legte eine Gruppe Wiener Philanthropen den Grundstein fur das Hilfswerk Galiziens, das gefährdeten jüdischen Frauen Beschäftigung verschaffte. Die österreichischen B'nai-Brith-Logen schlossen sich für ein umfassendes Vorhaben zur Rehabilitation Galiziens mit deutschen und tschechischen Logen zusammen. Die Wiener jüdische Feministin Bertha Pappenheim gründete 1904 den Jüdischen Frauenbund, der die gesamte Frage der Prostitution in den Vordergrund der Frauenfragen stellte.26 Die Organisation rief Kindergärten, Mädchenklubs und Wohnstätten ins Leben und rekrutierte „die tatkräftigen Frauen Galiziens und der Bukowina für Komitees gegen die Sklaverei".27 Sogar einige orthodoxe Rabbiner Galiziens konnten trotz der herrschenden Indifferenz und ihres eigenen sprichwörtlichen Argwohns gegenüber Einmischung von außen für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. Der Kampf gegen die „weiße Sklaverei" war natürlich nur ein Punkt innerhalb des viel umfangreicheren Problems, die materiellen und kulturellen Bedingungen der galizischen Juden zu verbessern, das im 19. Jahrhundert immer stärker die Aufmerksamkeit der etablierten Wiener Juden auf sich gezogen hatte. Aus Selbstinteresse und auch aus Nächstenliebe war es den angesehenen Wiener Juden klar, daß Maßnahmen ergriffen werden mußten, um die ihrer Meinung nach schwerwiegenden moralischen und beruflichen Mängel bei ihren weniger assimilierten Glaubensbrüdern zu korrigieren. In der Tat war schon vor 1848 die Notwendigkeit, Mittel und Wege zu finden, die elende Lage der galizischen Juden durch Heranführung an produktive Tätigkeiten zu verbessern und sie zu „respektablen Juden westficher Prägung" zu machen, auf der Tagesordnung der Wiener Gemeinde gestanden. 1840 hatte der in Wien geborene Philanthrop, Pädagoge und Kaufmann Josef Ritter von Wertheimer (1800-1887) den „Verein zur Förderung des Handwerks unter den inländischen Israeliten" organisiert, dessen Ziel es war, Tausende jüdische Kinder in nützlichen Berufen zu unterweisen.28 Der Mann, der der Präsident der Wiener Jüdischen Gemeinde und erster Präsident der Israelitischen Allianz zu Wien (1872-1887) werden sollte, hatte schon in der Zeit des Vormärz die Korrelation zwischen der Eingliederung der österreichischen Juden in den produktiven Arbeitsprozeß und ihrem Kampf um einen gleichen sozialen und politischen Status erkannt.29 Durch die Förderung der beruflichen Ausbildung armer jüdischer Jugendlicher wollte er „das Vorurtheil, welches gegen die Juden herrschte, als seien sie arbeitsscheu" entkräften.30 Das Programm stieß zunächst auf den Widerstand der Regierung (die Behörden waren vor 1848 nicht daran interessiert, jüdische Lehrlinge zu ermuntern, sich in Wien niederzulassen), nach der Liberalisierung der Handelsbestimmungen im Jahr 1859 war es aber recht erfolgreich.31

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Im Jahr 1875 unterstützte der Verein schon 258 Lehrlinge bei ihrer Ausbildung zum Tischler, Schlosser, Drechsler und Mechaniker etc. - indem er sie bei nichtjüdischen Handwerksmeistern auf eigene Kosten unterbrachte. 1890 unterstützte der Verein jährlich über 1.500 jüdische Lehrlinge in Wiener Handwerksbetrieben, darunter auch bei Schustern und Tischlern, die traditionell besonders stark antisemitisch eingestellt waren.52 Dieses Ausbildungsprogramm wurde von fuhrenden jüdischen Finanziers wie Baron von Hirsch (der in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine jährliche Unterstützung von 14.000 Gulden gewährte) und dem Industriellen David Ritter von Gutmann gefördert.33 Die Auswirkungen des Vereins waren zugegebenermaßen paradox. Einerseits bewirkte er, wie ursprünglich von Wertheimer vorgesehen, daß die überkommenen Vorstellungen und Stereotypen der Juden als Wucherer, Lumpenhändler, Spekulanten und Kleinkrämer, die zu keiner ehrlichen Arbeit fähig seien, abgebaut wurden. Es wurde auch die berufliche Diversifikation ermöglicht, die nach Meinung der fuhrenden Mitglieder der Wiener jüdischen Gemeinde entscheidend für eine Integration der Juden in die nichtjüdische Bevölkerung war.34 Gleichzeitig verstärkte die Berufsausbildung jüdischer Lehrlinge aber auch die Furcht vor wirtschaftlicher Konkurrenz gerade bei jenem Teil der Wiener Gesellschaft, der besonders anfallig fur antikapitalistische und antisemitische Rhetorik war. Unter dem Einfluß rassistischer Demagogie waren die Handwerksmeister nun in Sorge, daß die zugewanderten jüdischen Lehrlinge und Handwerker ihren Lebensunterhalt zerstören könnten, und verstärkten daher ihre Forderung nach „Leistungsprüfungen", welche die jüdische Konkurrenz aus den Handwerksinnungen ausschließen sollten.35 Trotzdem blieb die Wertheimersche Idee der jüdischen „Produktivierung" und Selbsthilfe, die zunächst in Wien entwickelt worden war, das Mittel, das am häufigsten zur Lösung der sozialen Probleme der Ostjuden angewandt wurde. Handwerk und produktive Bearbeitung des Bodens wurden von Wertheimer und der jüdischen Führungsschicht als eine Möglichkeit zur Erlangung der Selbstemanzipation angesehen.56 Juden, wurde argumentiert, müßten unermüdlich daran arbeiten, die Tugenden des Fleißes zu entwickeln und die Laster der Faulheit, körperlichen Schwäche und Isolation auszumerzen, die die Folgen der vergangenen Unterdrückung waren. Um sich der rechtlichen Gleichstellung würdig zu erweisen, mußten sie die Extreme, den übertrieben zur Schau gestellten Reichtum und das Luftmensch-Syndrom, vermeiden; körperliche Arbeit und das Erlernen eines Handwerks würden dazu beitragen, patriotische Tugenden einzuprägen, sie zu ehrlichen, loyalen, gesetzestreuen Untertanen machen, die dem gesellschaftlichen Umgang mit ihren christlichen Mitbürgern gewachsen wären.37 Diese Selbstemanzipation würde die Verachtung und Voreingenommenheit der nichtjüdischen unteren Klassen beseitigen und die Ostjuden von dem Stigma des Pariatums und dem Erbe des Ghettos befreien.

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Gesetzliche Gleichheit und bürgerliche Freiheit würden somit durch die volle soziale Emanzipation vervollständigt werden.58 Wertheimer zufolge hätten die „tolerierten" Wiener Juden in der Zeit des Vormärz schon den Weg gewiesen. Schon lange bevor sie die Gleichstellung erhielten, hätten sie der Stadt Wien und dem österreichischen Staat ihre wirtschaftliche Nützlichkeit bewiesen. Sie hätten die erforderlichen Gepflogenheiten erlernt, erbauliche Gottesdienste eingeführt und eindrucksvolle wohltätige Einrichtungen geschaffen, die den Respekt der Nichtjuden gewonnen hatten.39 Während Wertheimer vor prahlerischem Auftreten, luxuriöser Lebenshaltung und oberflächlichem Benehmen von Emporkömmlingen warnte, betonte er immer wieder die von der Wiener jüdischen Eüte gepflegten Werte der Gefälligkeit, städtische Umgangsformen und Höflichkeit.'10 Im Gegensatz dazu wies er auf die verheerenden Auswirkungen traditioneller jüdischer Verhaltensmuster hin, die er mit dem Ghetto in Verbindung brachte: Heiratsvermitdung, übermäßige Fruchtbarkeit, krämerhafte Gesinnung und Verachtung jeder Art von körperlichen Arbeit als erniedrigende Beschäftigung.41 Eine Verbesserung der Sitten könnte am besten durch eine den Charakter bildende Tätigkeit erzielt werden, die sich auf den altehrwürdigen lateinischen Spruch Mens sana in corpore sano gründete. Konkreter ausgedrückt, propagierte er die Notwendigkeit, in Galizien und der Bukowina ein Netzwerk von Bildungseinrichtungen nach dem Wiener Vorbild einzurichten, das ein Gegengewicht zu dem schädüchen Einfluß der rabbinischen Orthodoxie und dem Chassidismus bilden würde.42 Teilweise zu diesem Zweck wurde 1873 in Wien die Israelitische Allianz von Wien als eine unabhängige jüdische Gesellschaft mit Josef Wertheimer als ihrem ersten Präsidenten gegründet. Obwohl sie ursprünglich als Niederlassung der Alliance Israelite Universelle in Paris fungieren sollte43 - eine Verbindung, der sich die österreichischen Behörden aus politischen Gründen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts widersetzten -, konzentrierte sie sich zunächst darauf, die Juden aus Rumänien und Serbien zu unterstützen. In den ersten Jahren eilte sie jüdischen Opfern des russisch-türkischen Kriegs von 1877 zu Hilfe und stand der Pariser Mutterorganisation bei der Kampagne für jüdische Bürgerrechte am Balkan bei. Beim Berliner Kongreß von 1878 arbeitete die Wiener Allianz mit internationalen jüdischen Organisationen zusammen, um die Rechte rumänischer Juden sicherzustellen.44 Diese diplomatische Tätigkeit erhöhte ihr Ansehen und verstärkte ihre Bindungen an die Alliance Israelite Universelle, die ursprünglich heruntergespielt worden waren aus Furcht, daß dies von den österreichischen Antisemiten ausgenützt werden könnte, die Ehre der Wiener Juden in den Schmutz zu ziehen.45 Sowohl Wertheimer als auch Adolf Jellinek waren davon überzeugt, daß die Wiener Allianz eher eine universelle Organisation sein sollte, die mit der Pariser Alliance zusammenarbeitete, als eine rein österreichische, nationale Institution.46 Der

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Schutz der Juden, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt und denen die bürgerlichen Rechte verwehrt wurden, wurde als eine internationale humanitäre Aufgabe angesehen, die über nationale, separatistische und konfessionelle Grenzen hinausging, und eindeutig als solche definiert.47 Die Wiener Allianz sollte kein „österreichisch-ungarischer Hilfsverein" werden, der sich lediglich auf die Unterstützung der galizischen Juden oder kleinerer Gemeinden in Böhmen, Mähren, Nieder- und Oberösterreich beschränkte, ihr Wirkungskreis sollte vielmehr so global sein wie das jüdische Volk selbst. Wie ihr französisches Vorbild, war ihre Zielsetzung eine Verbindung von Patriotismus und humanem Kosmopolitismus, der die Segnungen der „modernen Kultur" und der Emanzipation zu den weniger begünstigten Glaubensbriidern brachte.48 Deshalb konnte sie sich nicht auf irgendeine Gemeinde, auf eine einzige Provinz oder sogar auf ein Reich beschränkten, sondern mußte ihre Aktivitäten für die Juden überall dort ausüben, wo immer bürgerliche Rechte, religiöse Bedürfnisse oder Unterweisung in die Produktivierung ihr Einschreiten erforderten.^ Indem die Wiener Organisation die Botschaft von Bildung und Kultur zu den rückständigen jüdischen Massen brachte, meinte sie, wie ihr Pariser Vorbild, so zur Ausrottung der alten Vorurteile gegenüber den Juden beizutragen und gleichzeitig den humanitären und mosaischen Prinzipien treu zu bleiben. Sie holte zum Schlag gegen alle Formen des nationalen Separatismus, des engstirnigen religiösen und provinziellen Partikularismus, des Barbarentums, der Intoleranz und Unmenschlichkeit aus, unter denen die Juden jahrhundertelang zu leiden hatten.50 Es handelte sich hier nicht um doppelte Loyalitäten, da die Meinung vertreten wurde, daß Judaismus, Patriotismus und Weltbürgertum eine unauflösliche Einheit bildeten.51 Sowohl Wertheimer als auch Jellinek waren stark von dem universalistischen Modell des französischen Emanzipationsglaubens beeinflußt, der die Alliance Israelite Universelle inspiriert hatte. Sie betrachteten diese Organisation auf fast messianische Weise als den modernen weltlichen Ausdruck des hebräischen Monotheismus. 52 Gemäß den französischen Idealen von 1789 - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wie sie in die humanitäre Gedankenwelt der Alliance Israelite aufgenommen worden waren - sahen sie diese als „l'institution la plus memorable du judaisme de nos temps", wie Wertheimer sie nannte.53 Die vom modernen französischen Judentum übernommenen liberalen, zivilisatorischen Ideale, sein universalistischer Patriotismus und seine Gegnerschaft gegenüber allen Formen des religiösen Vorurteils, der Intoleranz und der Bildungsfeindlichkeit wurden als nachahmenswerte Vorbilder angesehen. Kosmopolitische Führungspersönlichkeiten der Wiener Juden, wie Wertheimer, Jellinek, Ignaz Kuranda und Leopold Kompert, erkannten das Element der Selbsterhaltung, das in dieser weitgefaßten Sicht jüdischer Interessen lag. Solange jüdische Rechte irgendwo auf der Welt straflos verletzt würden, gäbe es keine wirkliche Si-

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cherheit für Juden in zivilisierten Nationen. Haß und Verfolgung könnten nicht leicht räumlich begrenzt werden, und das Aufkommen des modernen Antisemitismus hätte dessen epidemischen Charakter unterstrichen.54 Der Kampf gegen Diskriminierung war daher unteilbar und konnte nicht als enges „jüdisches" Interesse gesehen werden. Weit entfernt davon, einem blutleeren kosmopolitischen Ideal anzuhängen, behauptete die Allianz, an der Stärkung des Heimatgefuhls der Juden in ihren angenommenen Vaterländern, an der Uberwindung der traditionellen Schranken, die sie von den Nichtjuden trennten, zu arbeiten. Sie erzog die Juden zu echtem Patriotismus und zu staatsbürgerlichem Pflichtgefühl in Österreich-Ungarn wie in anderen Ländern Europas und in den rückständigeren Gebieten außerhalb Europas. Ihre „zivilisatorische" Mission, die sich in weltlicher Ausbildung, Erziehung zur Höflichkeit, Hebung des Lebensstandards und Modernisierung des Rehgionsunterrichts äußerte, verstärkte die Bindungen der Juden an die Länder, in denen sie lebten.55 In Wien hatte die Allianz außerdem die besondere Aufgabe, in der, wie Jellinek es nannte, „Metropole der osteuropäischen Juden" und in einem Zentrum zu arbeiten, das den Bedürfnissen von über einer Million österreichischer Juden diente. Weiters konnte nur in Osterreich der archimädische Punkt zum Kampf gegen den Antisemitismus gefunden werden, wie Die Neuzeit optimistisch in einem Leitartikel vom 26. August 1881 behauptete;56 von Wien war auch der Hilferuf für die russischen Juden ausgegangen, die vor den zaristischen Pogromen flohen, und auch nur von der österreichischen Hauptstadt aus konnte das Elend der galizischen Juden letztlich gelindert werden.57 In Wirklichkeit war die Politik der Wiener Allianz weitaus ambivalenter, als dieses humanitäre Gerede andeuten könnte. Aus Angst vor einer vorhersehbaren Reaktion der Nichtjuden in Wien hatte die Allianz versucht, die österreichischen Juden vor einer Überschwemmung mit jüdischen Flüchtlingen aus Rußland zu bewahren, die sich seit 1881 nahe der ostgalizischen Grenzstadt Brody zusammengedrängt hatten, und daher wies sie jeden Vorschlag zurück, diese in Österreich anzusiedeln.58 Die führenden Wiener Juden waren bereit, die Emigration der russischen Juden nach Amerika finanziell zu unterstützen, sie wollten aber ihre eigene Stellung oder die ihrer österreichischen Glaubensbrüder nicht in Gefahr bringen. In einem Brief an Baron Edmond de Rothschild in Paris im Juli 1882 erklärte Wertheimer, daß Österreich keine russischen Flüchtlinge aufnehmen könne, da die Juden in der Doppelmonarchie schon Schwierigkeiten hätten, gegen den aufkommenden Antisemitismus zu kämpfen.59 Die Zugehörigkeit zum gemeinsamen österreichischen Staat entledigte die fuhrenden Wiener Juden jedoch der Aufgabe, die Repatriierung der galizischen Ostjuden in die habsburgischen Länder zu fordern; eine wachsende Zahl von ihnen hatte sich ohnedies bereits in der Hauptstadt niedergelassen. Wie unangenehm deren Sitten und Kultur, die von jahrhundertelangem rabbinischem und tal-

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mudischem Einfluß geprägt waren, den Wiener Juden auch waren, sie waren nicht nur Glaubensbrüder, sondern auch Mitbürger eines gemeinsamen Reiches, die noch voll „aufgeklärt" und durch die deutsche Bildung zivilisiert werden mußten. In ihrem Kampf, diese Ostjuden zu modernisieren, hatte die Allianz das Glück, in dem großen Philanthropen und Finanzier, Baron Moritz von Hirsch (1831-1896) einen mächtigen Verbündeten zu finden.60 Hirsch, ein Nachfahre einer Familie bayerischer Hofjuden, war nicht nur ein herausragender Eisenbahnmagnat und Industrieller, sondern auch der erste jüdische Wohltäter, der auf den Gedanken einer großangelegten Wiederansiedlung von Juden kam und diese auch plante. Er hatte persönlich eine Eisenbahnverbindung zwischen Wien und Konstantinopel initiiert und überwacht, die in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde - ein abenteuerliches Vorhaben, das ihm den Beinamen „Türkenhirsch" einbrachte. 61 Durch den Erfolg dieser und anderer Unternehmungen in der Zuckerund Kupferindustrie hatte Hirschs Vermögen bis 1890 umgerechnet etwa eine Milliarde Schilling erreicht. Er war in den höchsten Kreisen der europäischen Aristokratie bekannt, ein enger Freund des österreichischen Kronprinzen Rudolf, des Prince of Wales und von König Eduard VII. Da er sich für Pferderennen begeisterte, spendete er all seine auf der Rennbahn erzielten Gewinne philanthropischen Unternehmungen. In den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Hirsch die Notwendigkeit erkannt, daß die furchtbare Armut und das Elend der osteuropäischen Juden gelindert werden müsse, vor allem dadurch, daß ihre Massenemigration und Wiederansiedlung in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Argentinien und Brasilien ermöglicht wurde. Zu diesem Zweck richtete er 1891 den Baron Hirsch Fonds in New York und die Jewish Colonization Association ein. Hirschs zentraler Gedanke, der in seiner Betonung auf dem Land als der Quelle aller Werte an die französischen Physiokraten erinnerte, war, die Juden wieder zu einem Agrarvolk zu machen, zu freien Bauern in ihren eigenen Siedlungen, so daß sie, wie er dachte, die Tugenden ihrer biblischen Vorfahren wiedererlangen könnten. Hirsch war jedoch gegen eine Wiederansiedlung in Palästina, er befürwortete die Tätigung von Landkäufen in Nord- und Südamerika, vor allem in Argentinien, seitens der Jewish Colonization Association.62 Baron von Hirsch, der sprichwörtliche Weltbürger, war gleichzeitig naturalisierter österreichischer Staatsbürger, der weitläufige Besitzungen in Mähren und Ungarn besaß. Nach dem Berliner Kongreß (1878) hatte er Wien zu einem Zentrum seiner Unternehmungen gemacht. Seit Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts war er eng mit den Bemühungen der Wiener Allianz verbunden, die Lage der Juden in Österreichs durch die Errichtung eines Netzwerks von Volksschulen und technischen Schulen sowie durch die Förderung der beruflichen Ausbildung zu verbes-

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sern. 1888 gründete er aus Anlaß des 40. Thronjubiläums Franz Josephs mit einem Kapital von 12 Millionen Gulden seine eigene Organisation, die Baron-Hirsch-Stiftung, für Bildungsarbeit in Galizien und der Bukowina.63 Ihr erster Präsident, der wohlhabende Wiener Industrielle und Wohltäter David Ritter von Gutmann (18541912), war mittlerweile der Nachfolger Josef von Wertheimers im Präsidentenamt der Israelitischen Allianz in Wien geworden, was die Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen weiter stärkte. Die Kuratoren der Hirsch-Stiftung waren vorwiegend wohlhabende Wiener Juden, die sich darin einig waren, daß die Ostjuden Galiziens neu ausgebildet, in den Produktionsprozeß eingegliedert und allmählich ihrer nichtjüdischen Umgebung angepaßt werden müßten. Einer von Hirschs engsten Beratern in der galizischen Frage war der Prediger Adolf Jellinek, der führende Ideologe der Wiener Allianz seit ihrer Gründung.64 Beide Männer waren der Ansicht, daß die russischen und galizischen Juden am besten durch manuelle Tätigkeiten und geeignete Ausbildung zum Handwerker oder Landwirt emanzipiert werden könnten. Die Befreiung von Armut und Leiden, die Verbesserung der Lebensbedingungen und des Bildimgsniveaus waren daher keine rein wohltätigen Handlungen, sondern sollten vielmehr die osteuropäischen Juden zu freien, sich selbst erhaltenden und der Gesellschaft nützlichen Menschen umformen. Eine neue Art von Juden würde dann entstehen, die den antisemitischen Stereotypen von Schacherei und Wucherei ein Ende setzen würde.65 Zu diesem Zweck richtete die Baron-Hirsch-Stiftung Kindergärten, Volksschulen und Spielplätze ein, versorgte arme Schulkinder kostenlos mit Schulbüchern, Nahrung und Kleidung, subventionierte die Lehrer, gewährte zinsenlose Darlehen an jüdische Handwerker und Landwirte und unterstützte jüdische Schüler an Handels- und anderen Berufsschulen in Galizien und der Bukowina. Hirschs Ziel - das sich nicht so sehr von der radikalen zionistischen Idee der Berufsumschichtung unterschied - war es, der Welt zu zeigen, daß sich die Juden doch „zur Landwirtschaft" und zum Handwerk „eignen" und nicht nur ein Ubermaß an rührigen Geschäftsleuten, gerissenen Anwälten, erfolgreichen Ärzten sowie Intellektuellen mit Hochschulausbildung hervorbringen konnten. Wie er Theodor Herzl am 2. Juni 1895 in ihrem Gespräch, dessen Verlauf das antiintellektuelle Element des Barons in seinem Credo deutlich unterstrich, ungeduldig sagte: „Ich will das Niveau gar nicht heben. Alles Unglück kommt daher, daß die Juden zu hoch hinaus wollen. Wir haben zu viel Intelligenzen. Meine Absicht ist, die Juden von der Streberei abzuhalten. Sie sollen nicht so große Fortschritte machen. Aller Haß kommt daher."66 Was wohlhabende jüdische Finanziers, wie Baron von Hirsch, die Rothschilds und ihre Berater geflissentlich übersahen, war die Rolle, die ihr eigener enormer Reichtum und Einfluß im Hintergrund bei der Förderung des wirtschaftlichen Neides und der Furcht angesichts eines starken Antisemtismus im Fin de Sikcle spielten.

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Noch viel seltsamer war die Tatsache, daß großstädtische, kosmopolitische Juden wie Hirsch und Edmond de Rothschild in Paris, die an der Spitze des modernen Kapitalismus standen, einer solch romantischen, vor-kapitalistischen Idee anhängen konnten, welche die Landwirtschaft als Schlüssel zur jüdischen Eingliederung sah. Wie Kurt Grunwald vorschlug, war ihr Drang zu einer „Rückkehr zur Scholle" vielleicht auf „die Sehnsucht des Wandernden Juden zurückzuführen, der gerade dem Ghetto entronnen war und bodenständig werden wollte".67 Hirschs Vorstellungen standen der Weltanschauung des Zionismus überraschend nahe, obwohl ihnen eindeutige nationale oder ideologische Begründungen fehlten und trotz der wohlbekannten skeptischen Haltung des Barons gegenüber der wirtschaftlichen Durchführbarkeit einer Ansiedlung in Palästina. Was seine Aktivitäten im österreichischen Galizien und seine Anstrengungen für die russischen und rumänischen Juden verband, war die Einsicht, daß reine Philanthropie das Problem der wirtschaftlichen Randstellung der Juden nicht lösen würde, und daß Massenemigration und Selbstemanzipation in einem neuen Gebiet für die russischen und rumänischen Juden unumgänglich waren und nur durch Ansiedlung am Land bewerkstelligt werden könnten.68 Dies war auch sein Allheilmittel für die galizischen Juden, ob sie nun auswanderten oder in Osterreich blieben - ein Grundsatz mit mehr als nur einem Anklang an das zionistische Arbeitscredo des avodah atzmith (landwirtschaftliche Eigenarbeit).69 Nur eine solche Erlösung durch Arbeit und Erdverbundenheit würde - Baron von Hirsch zufolge - der Demoralisierung der Ostjuden und der Verfolgung durch Judenhetzer ein Ende bereiten.70 Die Wiener Baron-Hirsch-Stiftung war daher nicht nur eine weitere „wohltätige" oder „philanthropische" Einrichtung, sondern eine Art Entwicklungsagentur, ein Pilotprojekt zur Befreiung von wirtschaftlicher Armut und kultureller Rückständigkeit der galizischen Juden. Wie Kurt Grunwald anmerkte, zielte die Stiftung auf die Errichtung eines Bildungssystems ab, das die wirtschaftliche Struktur der galizischen Juden durch Uberwindung ihres traditionellen Widerstandes gegen „fremde" Kultur umformen würde, indem sie sie mit einem modernen Volksschulwesen versorgte und die Kenntnis der Landessprache vermittelte - zwei Grundvoraussetzungen für die berufliche Eingliederung.71 Der Unterrichtsstandard war hoch genug, um eine Gleichwertigkeit zwischen den Abschlüssen der Hirsch-Schulen und jenen der staatlichen Schulen zu gewährleisten. Ende des Jahrhunderts gab es in Österreich fünfzig Hirsch-Schulen mit insgesamt 9.954 Schülern (darunter 95 Nichtjuden), und beinahe 1.500 Schüler besuchten Abendkurse.72 Diese rasche Expansion erforderte die Errichtung der Baronin Clara von Hirsch-Kaiser-Jubiläums-Stiftung zur Unterstützung von Knaben und Mädchen in Osterreich durch Hirschs Witwe im Jahr 1898 (50. Regierungsjahr Franz Josephs). Die zusätzliche Stiftung mit ihrer Ausstattung von 1,5 Millionen Gulden sorgte für den schulischen Mittagstisch und die Kleidung

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für bedürftige Schüler an Hirsch-Schulen, für Zuschüsse für eine weitere Ausbildung ihrer Absolventen im Ausland, fur finanzielle Hilfe zur Errichtung von Berufsschulen und Handelsoberschulen sowie für Stipendien zur Erlernung eines Handwerks. Nicht zuletzt ermöglichte sie auch eine spezielle Ausbildung für behinderte Kinder. Charakteristischerweise betonten die Hirsch-Schulen die Unterweisung in der Handarbeit sowie in manuellen Fertigkeiten (Holz- und Kartonarbeiten) und versuchten, neben dem regulären Lehrplan Gymnastik und Ausflüge zu fordern. Nach dem Abschluß der Volksschule wurde die Lehrlingsausbildung in einem Handwerk unterstützt, und viele junge Leute wurden unter der Aufsicht des „Vereins zur Förderung des Handwerks unter den inländischen Israeliten in Wien" als Lehrlinge untergebracht. Es gab auch Handwerksschulen für Mädchen, wo sie schneidern, Hauswirtschaft usw. erlernten. Abgesehen von dieser Betonung der beruflichen Ausbildung galt das schulische Niveau als recht hoch, auch wenn nicht alle fünfzig Hirsch-Schulen oder ihre 230 Lehrer gleiche Voraussetzungen boten. Angesichts der vorherrschenden Unwissenheit in Galizien und des kompromißlosen Hasses der meisten Chassidim auf jede Art „weltlicher" Erziehung, war der soziale und kulturelle Einfluß der Hirsch-Schulen besonders wichtig. Trotz des Cherem (Verbot), das die chassidischen Rabbiner anfangs ausgesprochen hatten, und der Gewalt, die chassidische Raufbolde manchmal Schülern antaten, welche die „goyischen Schule" besuchten, wurden sie bald ein akzeptierter Teil im Leben der galizischer Juden.73 In einer Schrift von 1904 bemerkte die führende Wiener jüdische Feministin Bertha Pappenheim: „Dennoch ist jede Schule ein zum Teil schwer eroberter Befestigungspunkt im Kampf gegen alle jene Schaden, an denen die jüdischen Einwohner Galiziens wie an einer schweren, sich stetig forterbenden Krankheit leiden."74 Pappenheim, wie auch die Bankiers, Industriellen, Rabbiner und Anwälte, die im Vorstand der Hirsch-Stiftung in Wien saßen, sahen die Schulen als Kampfplatz, um „den Einfluß der Chederfiir einzelne Gemeinden oder Familien wenigstens ab[zu]schwächen oder [zu] verdrängen".75 Obwohl die HirschSchulen keineswegs nur weltlich ausgerichtet waren (es wurden Hebräisch-Stunden wie auch Religionsunterricht in polnischer Sprache abgehalten), konnten sie einen Kulturkampf in Galizien gegen die vorwiegend konservative und orthodoxe Gemeinde nicht vollkommen vermeiden, obwohl dies sicherlich nicht die Absicht des Barons gewesen war.76 Schließlich konnte man nicht ein allmähliches Verschwinden des Jiddischen und aller äußerlichen Merkmale, welche die Juden von den Nichtjuden unterschieden, fordern, ohne den Verdacht der Orthodoxen auf eine assimilationistische Intrige zu erregen, die religiöse Bräuche und Überzeugungen verändern wollte.77 Es waren hauptsächlich die praktische Ausrichtung und der Erfolg der Hirsch-Schulen ebenso wie die konservative Ausrichtung des Hebräisch- und Religionsunterrichts, die den Widerstand langsam etwas abschwächten.78

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Trotzdem blieb die Frage nach Wohlfahrt, Armenhilfe und religiöser Erziehung für die Ostjuden in Wien weiter ein Anlaß fiir die Spaltung orthodoxer und liberaler Juden in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Von orthodoxer Seite wurde manchmal Kritik an der MißWirtschaft, dem hochfahrenden Benehmen seitens der Bürokratie und an der herzlosen Gleichgültigkeit der verantwortlichen Stellen der Kultusgemeinde gegenüber den armen Juden laut.79 Es wurde angedeutet, daß die Ehrenmitglieder des Vorstands wenig gewissenhaft Fälle von Armut erkundeten und ihr Hang zu Selbstgefälligkeit und Selbstbeweihräucherung gänzlich unangemessen sei.80 Vom Herausgeber einer Wiener orthodoxen Zeitung wurde die Führung der Gemeinde offen bezichtigt, eine eigennützige „autokratische Clique" zu sein, die für die weit verbreitete „religiöse Gleichgültigkeit" in der Hauptstadt die Hauptverantwortung trage.81 Besonders kritisiert wurden von den Konservativen die völlig unzulängliche Entlohnung der Religionslehrer und die Vernachlässigung des Hebräischunterrichts in Wien im Gegensatz zu den übertriebenen die Verwaltung und den Kultus betreffenden Ausgaben.82 Es wurde eingewandt, daß die Gemeinde der jüdischen Erziehung und der Eingliederung verarmter Familien in Wien mehr Geld zur Verfugung stellen sollte als der Verschönerung ihrer Synagogen.85 Orthodoxe Kritiker warnten auch davor, daß ein jüdischer Jugendlicher, der keinen Unterricht über seine eigene Herkunft erhalten hatte, dem die hebräische Sprache und die Werte der Thora fremd geblieben waren, den Feinden des Judentums und der Religion wehrlos gegenüberstünde. In dieser Richtung argumentierten auch die Österreichische Wochenschriß von Dr. Bloch und der Oberrabbiner von Wien, Moritz Güdemann, in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts.84 In bezug auf Galizien war die orthodoxe Kritik noch schärfer und die Behauptungen der Führung der Wiener Allianz, daß sie in diesem Land eine „kulturelle Mission" vorantreibe, wurden verärgert abgelehnt.85 Es wurde festgestellt, daß die traditionellen galizischen Juden, die dem Glauben ihrer Väter treu geblieben waren, solch gönnerhaftes Verhalten nicht nötig hätten, am wenigsten von den „ungläubigen" Juden Wiens; daß die wohlhabenden Salonjuden, die die Lehre der „reinen Menschlichkeit" predigten und gegen die Dekadenz des traditionellen Cheder-Unterrichts agitierten, den galizischen Juden kaum als wünschenswertes Vorbild dienen könnten. Orthodoxe Gegner gaben zu verstehen, daß sich die Wiener Reformer mehr mit Theater, Ballett und Tanz beschäftigten als mit der gewissenhaften Förderung religiöser Erziehung und religiöser Werte. Es wurde sogar angedeutet, daß Ungläubigkeit und moralische Trägheit selbst inmitten der Allianz vorherrschten.86 In ihrer fehlgeleiteten Arroganz hätten die fuhrenden Wiener Juden die Fähigkeit, richtig deutsch lesen und schreiben zu können mit jenen religiösen Tugenden verwechselt, die den echten Kulturmenschen kennzeichneten. Die liberalen Juden Wiens ihrerseits wetterten weiterhin gegen den Zelotismus,

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den „Ultramontanismus" und den Bildungshaß der galizischen Rabbiner und Chassidim, die zu den schlimmsten Feinden des Judentums zählten.87 Sie beharrten darauf, daß die Chedervnd die traditionelle Talmud-Thora-Erziehung völlig anachronistisch geworden seien; daß der jüdische Religionsunterricht weltliches Wissen, moderne Kultur und die durch die bürgerliche Emanzipation hervorgerufenen veränderten politischen Umstände berücksichtigen müsse. Um voll am öffentlichen Leben, den spektakulären Errungenschaften von Wissenschaft, Industrie und Kunst teilhaben zu können, müßten sich die galizischen Juden von dem Joch des orthodoxen Obskurantismus befreien, wie dies ihre Glaubensbriider im Westen schon lange getan hatten.88 Chassidismus und polnische Orthodoxie waren in liberalen Augen die Ergebnisse von jahrhundertelangem Leiden, von Verfolgung und Unterdrückung, von der schwermütigen Resignation und dem Isolationismus, die durch die Bedingungen im Ghetto begünstigt worden waren.89 Der blinde Fanatismus und der durch den Wunderrabbiner, durch den Machzike Hadath und andere orthodoxe Einrichtungen in Galizien geforderte Aberglaube wurden als ein Nachhutgefecht gebrandmarkt, das den Interessen der polnischen Juden selbst widersprach, indem es ihr wirtschaftliches Elend, die soziale Rückständigkeit und das Fehlen moderner hygienischer Einrichtungen verstärkte. Das unglückselige Ergebnis war, daß der polnische Jude in den Augen der Nichtjuden ein wahrer Prototyp von Schmutz, Häßlichkeit, Parasitismus, Schnorrertum und unehrlicher Geschäftemacherei geworden war.90 Es war das Ziel der Allianz und der Wiener jüdischen Philanthropie, diese soziale Pathologie zu überwinden, die galizischen Juden besserzustellen, zu kultivieren und in den Produktionsprozeß einzugliedern, indem sie von diesem tragischen Erbe des Ghettos befreit wurden. Und es wurde vor allem die Hoffnung gehegt, sie mit einer modernen Arbeitsethik vertraut zu machen.91 Dadurch würde eine neue Generation der jüdischen Jugend allmählich von dem Fluch der Bettelei und des Luftmensch-Syndroms befreit werden.92 Durch die Begegnung mit der deutschen Bildung und Aufklärung würden sie menschüche Würde, Selbstvertrauen und die Möglichkeiten erwerben, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Antwort der fuhrenden Juden Wiens auf das Elend ihrer eigenen Ostjuden wurde also weder hinter rein philanthropischen Begriffen kaschiert, noch sollte sie einfach die Massenzuwanderung nach Wien verhindern, was sowohl legal als auch unter den österreichischen Bedingungen ohnedies unvermeidlich war. Das Ausmaß des Problems verstärkte sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der galizischen Juden jedoch erheblich.93 Zu dieser Zeit bekam die bürgerliche Philanthropie harte Konkurrenz durch neue Bewegungen, wie den Zionismus und die Sozialdemokratie; damals wurde die Israelitische Kultusgemeinde in Wien stark unter Druck gesetzt, die Ge-

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meindeinstitutionen zu demokratisieren. In Galizien selbst führte allgemeiner wirtschaftlicher Druck zur allmählichen Verarmung jüdischer Krämer und Händler; immer mehr Polen stiegen in städtische Berufe ein, die vorher von Juden ausgeübt worden waren; neue Kreditgesellschaften und lokale landwirtschaftliche Genossenschaften begannen, die jüdischen Vermitder auszuschließen.94 Diese Faktoren, die mit der Boykott-Bewegung und gewalttätigen antisemitischen Ausschreitungen in der polnischen Provinz einhergingen, ließen die jüdische Zuwanderung nach Wien anschwellen, wodurch die Wohlfahrtseinrichtungen der Gemeindeinstitutionen äußerst stark in Anspruch genommen wurden. Gleichzeitig buhlten die österreichischen und polnischen Sozialdemokraten, die jüdischen Sozialisten Galiziens und die keimende zionistische Bewegung um die Unterstützung des jüdischen „Proletariats" in Galizien.95 Auch in Wien wurden die kulturellen und organisatorischen Bedürfnisse der galizischen Zuwanderer sowohl in der internen jüdischen Politik als auch bei den allgemeinen Wahlen zu einem Thema. Die österreichischen und polnischen Sozialisten waren starke Gegner des Separatismus der jüdischen Massen und deren religiöser Leitung; sie griffen ständig die soziale Rolle der galizischen Juden als Ausbeuter der Bauernschaft an. 96 Gleichzeitig warfen sie den jüdischen Bankiers und Geschäftsleuten in Wien und Galizien vor, die jüdischen Proletarier allein zu lassen und diejenigen, die sozialistischen Organisationen beitraten, zu schikanieren. Nach der marxistischen Analyse von Wilhelm Ellenbogen hat der Tallisweberstreik in Kolomea (Galizien) gezeigt, „daß selbst diese eherne, durch jahrhundertelange Verfolgungen geschmiedete [nationale] Solidarität durch den Capitalismus in Fetzen gerissen würde". 97 Die Wiener jüdische Philanthropie war nichts als eine hypokritische Maske für die nackte Tatsache des Klassenkampfes. 98 Die Zionisten waren in ihren Angriffen auf die Politik der Philanthropie der Mittelklasse nicht weniger aggressiv und versuchten, sich eine Wählerbasis unter den Ostjuden aufzubauen, die durch „Proletarisierung" in Galizien und im Wiener Bezirk Leopoldstadt bedroht waren. 99 Seit den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte der Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, „die leidende, verachtete und brave Gruppe der armen Juden in Gegensatz zu den reichen Juden bringen" wollen, die er vorwiegend für den Antisemitismus verantwortlich machte. 100 Herzl war nicht weniger als die liberalen führenden Juden Wiens davon überzeugt, daß das Ghetto den jüdischen Charakter ernstlich geschädigt hatte, da es die Juden erniedrigte und diese ehrenrührigen Beschäftigungen nachgehen mußten. Seiner Meinung nach aber war das Prinzip der Philanthropie vollkommen falsch, ein weiterer Faktor, der „den Volkscharakter verlumpt". In seinem Gespräch mit Baron von Hirsch am 2. Juni 1895 warf er seinem Gesprächspartner vor, nutzlos „diese Ackerjuden hinüber zu schleppen". Der Export von fünfzehn- oder zwanzigtausend Juden

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nach Argentinien würde die „Judenfrage" nicht lösen - „in einer Gasse in der Leopoldstadt wohnen mehr".101 Was die Juden brauchten, war keine Philanthropie, sondern eine geeinte politische Führung, eine gemeinsame Vision, einen organisierten Massenexodus, der von einer nationalen Idee inspiriert wird. Falls nötig, müßten die jüdischen Massen sogar gegen den Willen der Rothschilds und der wohlhabenden jüdischen Elite mobilisiert werden, wenn sich diese weiter gegen den Zionismus stellten.102 Bezüglich der Ostjuden wies Herzl die Vorurteile, die mit der liberalen Einstellung seines Milieus und seiner Klasse im 19. Jahrhundert verbunden waren, zurück, besonders nach seinem Zusammentreffen mit russischen Juden beim Ersten Zionistischen Kongreß in Basel (1897). Seiner Meinung nach waren diese tatsächlich „Ghetto-Juden", aber gleichzeitig auch unverfälscht, authentisch und noch nicht durch die Assimilation verdorben. Zugegebenermaßen hatte er anfangs den Ostjuden eine rein untergeordnete Rolle in der zionistischen Bewegung zugewiesen: Die Massen „ungelernter Arbeiter" in Rußland, Rumänien, Ungarn und Galizien würden die Mannschaften für seine zukünftige Armee liefern.103 Sie waren elende, unterdrückte, verarmte Schnorrer, die der Zionismus von einem „anormalen" Leben erlösen würde und die nun zur körperlichen Arbeit auf den Boden ihrer Vorfahren zurückkehrten.104 Diese etwas bevormundende Haltung gegenüber den Ostjuden unterschied sich nicht so sehr von jener des Baron von Hirsch und der assimilierten jüdischen Führungsschicht, die nicht weniger daran interessiert waren, den osteuropäischen jüdischen Luftmenschen durch eine Rückkehr in die Landwirtschaft zu produktivieren. Trotzdem bestand Herzl darauf, daß sich seine zionistische Einstellung zur Judenfrage als nationales Problem vollkommen von jener der bürgerlichen Philanthropie unterschied. Wie er einem großen Auditorium von über 1.000 Zuhörern im Februar 1898 in Berlin sagte: „Wohltätigkeit an einem ganzen Volke ausgeübt heißt Politik, und die Wohltätigkeit, die ein Volk zu seinem eigenen Gedeihen auszuüben versucht, ist die Politik dieses Volkes."105 Das Entstehen des politischen Zionismus in Wien um die Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts spiegelte nicht nur eine durch antisemitische Wahlerfolge hervorgerufene Assimilationskrise wider, sondern auch die zunehmende Unfähigkeit der Kultusgemeinde und ihrer philanthropischen Organisationen, die Probleme der Ostjuden zu bewältigen. Obwohl die jüdischen Massen in Galizien im großen und ganzen immer noch an den Rockschößen der rabbinischen Orthodoxie und den assimilationistischen politischen Parteien in Polen hingen, machte der Zionismus trotzdem sofort großen Eindruck auf die galizischen Zuwanderer in Wien, vor allem auf die Studenten und Intellektuellen. Schon lange vor Herzls Auftreten hatte ein Gefühl nationaler Identität bestanden und war noch durch ihren Eindruck, von der jüdischen Gemeinde in Wien ausgeschlossen zu sein, verstärkt worden.

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Auch in Galizien hatte die zionistische Bewegung Angehörige der gebildeten jüdischen Mittelklasse, Universitätsstudenten und Oberschüler sowie Handelsangestellte seit Mitte der 90er Jahre für sich gewonnen. Sogar ein unabhängiger chassidischer Gelehrter wie Aron Marcus (1845-1916), ein orthodoxer deutscher Jude, der in Hamburg geboren und erzogen worden war und die geistige Welt des polnischen Ghettos begeistert angenommen hatte, unterstützte Theodor Herzl und seinen Judenstaat wohlwollend.106 In einem Brief aus Krakau-Podgorze vom 27. April 1896 an Herzl sprach Aron Marcus äußerst begeistert von dessen „wundervollen Flugschrift", die seiner Meinimg nach weit über die veralteten Polemiken zwischen Anpassern und orthodoxen Juden in Galizien hinausging. Er drückte auch seine vollkommene Ubereinstimmung mit Herzls Kritik an der kapitalistischen Philanthropie aus, wobei er den kurz zuvor verstorbenen Baron von Hirsch auf das heftigste kritisierte.107 Der religiöse Zionismus dieses in Deutschland geborenen Verbreiters kabbalistischer Lehren war natürlich weit davon entfernt, für die chassidischen Juden Galiziens typisch zu sein, seine scharfe Kritik an der assimilationistischen Ideologie der Allianz und dem Wiener jüdischen Establishment war aber sehr wohl repräsentativ für die Orthodoxie, sowohl in Galizien als auch in Wien. Eine derartige Unterstützung von religiöser Seite war für Herzl außerdem sehr wichtig, um die Vorwürfe des Wiener Oberrabbiners Moritz Güdemann zu entkräften, daß der Zionismus in ausdrücklichem Widerspruch zur jüdischen Orthodoxie stünde. Zum Beweis des Gegenteils konnte Herzl nun aus einer Flugschrift von Marcus zitieren, in der es hieß, daß „die Bewegung landwirtschaftlicher Siedlungen vor funfeig Jahren in orthodoxen Kreisen durch einige der angesehensten Rabbiner mit dem ausdrücklichen Zweck der Staatsbildung begonnen wurde".108 Aron Marcus hatte die Meinimg vertreten, daß sogar „die orthodoxesten Juden mit Bereitwilligkeit die Vorschläge zur staatlichen Regenerierung des Judentums annehmen, welche von den modernsten Freidenkern gemacht werden".109 Die Ansichten dieses unkonventionellen Chassidim verliehen Herzls Uberzeugung, daß der Zionismus „alle Mitglieder der jüdischen Nation", Orthodoxe, Reformer und Freidenker, Ost- und Westjuden, umfassen würde, einiges Gewicht. Sie ermutigten ihn auch zu der Andeutung, daß Oberrabbiner Güdemann in Wien von den wohlhabenden Laienführern der Wiener Gemeinde manipuliert wurde und keinen echt jüdischen Glaubensstandpunkt vertrat. Herzls Gegnerschaft zur kapitalistischen und philanthropischen Elite machte sich nun vermehrt in verbitterten Kommentaren Luft: „Diese Leute [d. h. wohlhabende Juden], von denen man fortwährend hört, bald durch den Skandal ihrer Maitressen, bald durch den Triumph ihrer Rennpferde, bald durch die Börsenmanöver, mit denen sie den Mittelstand der Börse zu Proletariern machen, bald durch die Korruption, die sie um sich her wie einen Pesthauch verbreiten; diese

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Leute, die man überall sieht, nur nicht dort, wo die armen Juden in einem schweren Kampf stehen, diese Leute mögen sich in acht nehmen, daß nicht in ihrem Rücken eine zweite Volksbewegung gegen sie aufstehe, numerisch schwächer, aber gerade darum verzweifelter als die erste. Ah ja, es gibt sogenannte,Wohltäter' unter ihnen; das heißt, sie züchten Schnorrer. D. h., sie schaden dem jüdischen Volke auch noch durch milde Gaben aus denjenigen Vermögen, die mitunter auf kompromittierende Art entstanden sind."110 Zu Lebzeiten Herzls wurde die Drohung, eine Volksbewegung gegen das Wiener jüdische Establishment auszulösen, die sich teilweise auf die Armut der Ostjuden stützte, nicht wirklich in die Tat umgesetzt. In Herzls Augen war seine Bewegung im wesentlichen global ausgerichtet, und trotz seiner Forderung, „die Gemeinden zu erobern", widmete er der internationalen Diplomatie viel mehr Energie, als sich um Unterstützung bei den internen Wahlen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zu kümmern. Erst nach seinem Tod im Jahr 1904 kam es zu einer harten, offenen Konfrontation um die Macht in der Gemeinde zwischen den Zionisten und der Führung der IKG. Die von den jüdischen Gememdevertretern direkt und indirekt geführte Kampagne gegen den Zionismus während der internen Wahlen und in der lokalen Wiener jüdischen Presse war Herzl aber trotzdem keineswegs gleichgültig. In seinem eigenen Presseorgan, Die Welt, prangerte er aufs schärfste an, was er als Kleinmütigkeit, Mittelmäßigkeit und hinterlistige Taktiken der führenden Gemeindemitglieder ansah, wenn diese mit der Herausforderung des Zionismus und den weitreichenderen Problemen der Juden konfrontiert waren.111 Er wies auf die äußerst geringe Wahlbeteiligung bei den Wiener IKG-Wahlen von 1898 als Zeichen ihres politischen Bankrotts hin - nur 2.000 Wähler der fast 140.000 Wiener Juden nahmen an der Wahl der Kandidaten zum Vorstand teil. Diese Gleichgültigkeit spiegelte den extremen Konservatismus der Gemeindestrukturen in Wien wider, der es ermöglichte, daß die assimilationistisch gesinnte Führungsschicht der wohlhabenden Persönüchkeiten das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ununterbrochen die Geschicke der Gemeinde bestimmte.112 Seit 1852, als die Gemeinde erstmalig als alleinige Vertreterin für die Leitung der kultischen, religiös-erzieherischen und wohltätigen Angelegenheiten zuständig erklärt wurde, war sie von einer Oligarchie reicher Bankiers, Industrieller, Kaufleute und Anwälte geführt worden. Den Statuten von 1867 nach (die 1890 abgeändert wurden), hatte sie vor allem religiöse und wohltätige Funktionen:113 die Errichtung von jüdischen Synagogen, Friedhöfen und rituellen Bädern, der Unterhalt einer Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen (ζ. B. Krankenhäuser, Altenheime, Anstalten für Waisen, Blinde, Taube und Stumme sowie die Armenhilfe) und die Aufsicht über den jüdischen Religionsunterricht. Diese rechtlich anerkannte Religionsgenossenschaft hatte keine ein-

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deutigen politischen Funktionen, auch wenn sie intern selbständig war und ihre eigenen Vorstandswahlen abhielt. Üblicherweise war das Hauptaugenmerk der Gemeinde auf kultische Fragen gerichtet gewesen, die das Prestige der Gemeinde in den Augen der Nichtjuden heben und die äußeren Formen der Gottesdienste veredeln sollten.114 Dies war ein besonderes Anliegen der Wiener Juden der Oberschicht, die sich dadurch von den, wie sie meinten, unästhetischen Formen des osteuropäischen Judentums abgrenzen wollten.115 Der Gemeinde zu dienen, war im Laufe fast des gesamten Jahrhunderts Ehrensache fur diese jüdische Elite - von denen viele geadelt worden waren -, und die lange Amtszeit, die durch das anachronistische Wahlverfahren gefördert wurde, machte den Vorstand praktisch zu deren Privatmonopol. Reichtum, gesellschaftliche Stellung, Familienverbindungen und Prestige der Laienelite machten ihn bis zum Ende des Jahrhunderts mehr oder weniger unanfechtbar. Sogar in rein religiösen Angelegenheiten konnten die führenden Vorstandsmitglieder entscheidenden Einfluß ausüben, wann immer sie wollten, und die Rabbiner durch Anwendung der ihnen durch die Statuten verliehenen Machtfulle auf ihre Plätze verweisen.116 Ihr Erfolg in der nichtjüdischen Welt, ihre häufig engen Verbindungen zum Hof, zur Aristokratie, zu Banken- und Geschäftskreisen verliehen ihnen besonderes Ansehen, das die führenden Juden scheinbar unersetzlich machte. Bei Gemeindewahlen vor 1900 wurden enge Verbindungen zu den höheren Schichten der Gesellschaft immer als Vorzug und nicht als Nachteil angesehen.117 Gleichzeitig galten gute Beziehungen der Kultusgemeinde zu mächtigen jüdischen Familien, wie den Rothschilds, als wesentlich für die Interessen der Gemeinde.118 In dieser Hinsicht bestimmten die voremanzipatorischen Normen des Schtadlanut weiterhin die politischen Reaktionen der Gemeindeelite, obwohl der Antisemitismus langsam die erreichte bürgerliche Gleichstellung gefährdete. Äußerst starke Loyalität gegenüber dem Staat, Gier nach Titeln, Ehrungen und gesellschaftlicher Akzeptanz in höchsten Kreisen, das unbewußte Nachahmen feudaler, aristokratischer Werte und die übertriebene Beachtung der äußerlichen Form waren alle Teil dieses Parvenu-Syndroms, das den Ton des jüdischen Gemeindelebens in Österreich wie in anderen mitteleuropäischen Ländern bestimmte. Reichtum, sozialer Erfolg und eine gute gesellschaftliche Stellung waren, so glaubte man, das beste Gegenmittel und der wirksamste Schutz gegen antijüdische Angriffe von unten; desgleichen waren die total verarmten Ostjuden, die keinerlei sozialen Status oder eine sichtbare „Nützlichkeit" für die jüdische Gemeinde und den Staat aufweisen konnten, eine Quelle der Verlegenheit und Gefahr. Sie mußten daher aus der jüdischen Politarena verbannt werden. Philanthropie auf jüdischem Gebiet wirkte hier als Geld, das zur Beruhigung des Gewissens eingesetzt wurde, als eine Zementierung des Klassensystems und eine Art der Selbstbeweihräucherung; abgesehen davon,

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daß es eine anerkannte Verpflichtung der Reichen erfüllte, wurde es auch in der Öffentlichkeit als Tribut der einzigartigen humanitären Vorzüge des mosaischen Glaubens hingestellt. Aber in einer Gemeinde, in der 1895 nur 12.797 Juden (von 135.397) Steuern zahlten, konnte weder ihr gesamtes Einkommen noch zusätzliche Philanthropie die wirtschaftlichen Probleme der ärmeren jüdischen Zuwanderer nach Wien lösen. Mit einem Gesamthaushalt, der von der Berliner Gemeinde um das Vierfache übertroffen wurde, war die Wiener Kultusgemeinde nach der Jahrhundertwende ständig in den roten Zahlen.119 1907 betrug das Defizit 96.000 Kronen, obwohl die Zahl der Steuerzahler auf 21.164 angestiegen war, und 1908 war das Minus auf 175.848 Kronen angewachsen. Der berühmte Reichtum der Gemeinde als juristische Person war wirklich ein Mythos, auch wenn einige Familien, die sich an ihrer Verwaltung beteiligten, außerordentlich reich, angesehen und berühmt waren.120 Schon seit der Erstellung der Statuten von 1867 hatte die gut situierte liberale Elite darauf bestanden, daß das Wahlrecht in der Gemeinde von der Zahlung einer jährlichen Gemeindesteuer von mindestens 10 Gulden abhing.121 Auch wenn eine Senkung der Mindesthöhe auf fünf Gulden den Fonds der Steuerzahler erhöht und zur Verbesserung der Gemeindefmanzen beigetragen hätte, hätte dies auch die Wählerschaft verbreitert - wozu die führenden Mitglieder eindeutig nicht bereit waren. So wurden 1893 lediglich 11.000 jüdische Haushalte in Wien besteuert, und neun Zehntel dieser Beitragszahler entrichteten das Minimum von 10 Gulden.122 Wie ein Kritiker dieses Grundsatzes drei Jahre später in der Osterreichischen Wochenschrift darlegte, schien die jüdische Führungsschicht zu fürchten, daß eine Senkung des Steuersatzes und damit eine Erteilung des Wahlrechts an ärmere Juden und jene der Mittelklasse ihre Macht und Autorität untergraben würde.123 Daher kam es zu der vom vorherrschenden Trend abweichenden Tatsache, daß in einer Zeit wachsender Demokratisierung in der österreichischen Politik (die 5-Gulden-Handwerker und kleinen Händler waren in Wien seit 1882 zu allgemeinen und lokalen Wahlen zugelassen) die jüdische Gemeinde in ihrer internen Steuer- und Wahlstruktur oligarchischer ausgerichtet blieb als die Allgemeinheit. Das unterentwickelte politische Bewußtsein der meisten ärmeren Ostjuden in Wien, die sich hauptsächlich damit beschäftigten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und sich an die neue Umgebung anzupassen, verstärkte diesen Trend zur Oligarchie. Erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begann eine ernsthafte Demokratisierungsbewegung innerhalb der jüdischen Gemeinde an Kraft zu gewinnen. Sogar Organisationen, wie die Österreichisch-Israelitische Union, die 1886 in Gegenposition zur etablierten jüdischen Führungsschicht gegründet worden war und ursprünglich das politische Bewußtsein der jüdischen Massen heben wollte, vermieden jeden Versuch, die Wahlstrukturen der IKG grundsätzlich zu revidieren. Die zionistische Bewegung,

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die weitaus militanter war als die Union, forderte die Führung der IKG zur Jahrhunderwende zugegebenermaßen heraus, sie war aber dadurch stark benachteiligt, daß es äußerst schwierig war, die Gemeindestatuten zu verändern, und daß ihr eigene finanzielle Mittel fehlten. Bis zum Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts war nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Juden aktiv an den internen Angelegenheiten der Gemeinde beteiligt gewesen, trotz der massiven antisemitischen Verleumdungskampagne, die schon seit mehr als zehn Jahren zu verzeichnen war, und trotz der wachsenden Unzufriedenheit mit der Verwaltung der Gemeinde. Die vorherrschende Teilnahmslosigkeit in vielerlei Hinsicht war der bestehenden Leitung nur recht.124 Ihr Sprecher wies ständig daraufhin, daß die Gemeindeangelegenheiten auf jeden Fall am besten dem Besitzbürgertum überlassen werden sollten, dessen größerer Wohlstand, bessere soziale Stellung, Verbindungen und Fähigkeiten dieses zur Führungsrolle berechtigte. Besitz wurde oft als Garant fur Unabhängigkeit und Objektivität angesehen, während Ansehen und Anerkennung der Elite den nötigen Zugang und Einfluß bei den Behörden sicherstellen würden.125 Diese Voraussetzungen veränderten sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwas durch die Haushaltskrise und einen beträchtlichen Zuwachs an Steuerzahlern in der Gemeinde.126 Die Zahl der Beitragszahler stieg von 19.045 im Jahr 1904 auf 25.276 im Jahr 1909, was einen Sprung von 35 Prozent bedeutet. Ebenso wuchs die Zahl der wahlberechtigten Mitglieder der Gemeinde von 13.111 im Jahr 1902 auf 18.632 Juden im Jahr 1912.127 Angesichts der gesamten jüdischen Bevölkerung Wiens waren diese Zahlen jedoch weitaus weniger eindrucksvoll, da sie nie mehr als auch nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßten.128 Auf die Wahlen bezogen ist dies noch eindrucksvoller, wenn man die Zahl der wahlberechtigten Juden untersucht, die ihr Recht wirklich ausübten: von 4.700 im Jahr 1902 ging diese Zahl auf 4.421 im Jahr 1906 zurück, stieg 1908 kurzfristig auf 5.019 an, pendelte sich 1910 auf4.446 ein und fiel 1912 auf einen neuen Tiefstand der Apathie mit nur 1.960 von 18.657 wahlberechtigten Wählern (10,5 Prozent), die sich die Mühe machten, ihre Wahl bei den internen Wahlen zum Jüdischen Gemeindevorstand zu treffen.129 Die Kriterien für das passive Wahlrecht bei diesen Wahlen waren durch die Statuten von 1896 modifiziert worden, die das Wahlrecht nicht mehr von dem Recht auf Niederlassung in der Stadt abhängig machten. 1896 waren zum Beispiel weniger als 8.000 der 40.000 Juden Wiens im Besitz der Niederlassungsbewilligung, die erforderlich war, um der offiziellen Gemeinde anzugehören. In dieser liberalen Zeit, als die Kluft zwischen der Oberschicht und den jüdischen Massen besonders auffallend war, nahmen nur wenige Hundert an den jährüchen Wahlen zur Neubestellung eines Viertels der Gemeinderatsmitglieder teil.130 Nach 1896 mußte man dreißig Jahre alt und drei aufeinanderfolgende Jahre hindurch Steuerzahler gewesen sein,

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um als Kandidat zu den IKG-Wahlen wählbar zu sein. Frauen waren natürlich vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, so wie auch die Masse der armen Ostjuden. Orthodoxe Juden, denen österreichische Gesetze eine Abspaltung und Gründung von eigenen Gemeinden verwehrten, wie dies ihr Wunsch gewesen war, weigerten sich im allgemeinen, an den Wahlen teilzunehmen und eigene Bewerber aufzustellen.131 Die Statuten von 1896 setzten alle zwei Jahre Wahlen fest, wobei jeweils ein Drittel aller Vorstandssitze zur Wahl stand. Die Anzahl der Ratsmitglieder wurde von 20 auf 24 und 1900 von 24 auf 56 erhöht. Die zusätzlichen zwölf Sitze wurden ausschließlich von Mitgliedern bestimmt, die den höchsten Steuersatz der Gemeinde bezahlten (mehr als 200 Kronen im Jahr) - d. h. sie wurden von rund 1.000 Personen gewählt. Wahrend also nach 1900 der allgemeine Trend in der Habsburgermonarchie zu mehr Demokratisierung der Politik ging, bewegte sich die Kultusgemeinde in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einer Verstärkung ihrer „plutokratischen" Struktur. Nicht einmal die zahlenmäßige Zunahme der jüdischen Bevölkerung und das Heranwachsen einer mächtigen zionistischen Herausforderung innerhalb der Gemeindepolitik zwischen 1900 und 1914 ermöglichte einen echten Wechsel in der Leitung, solange kein allgemeines Wahlrecht bestand. In ähnlicher Weise konnten die großen Debatten des Tages in der offiziellen Gemeinde keinen richtigen Eingang finden oder vertreten werden, solange sich die Leitung weiter der Demokratisierung und jedem Angriff auf die alte, ehrenwerte Politik widersetzte. Vor allem die zionistische Bewegung tat ihr möglichstes, solch wichtige Fragen aufzuwerfen wie die Stellung der Juden in den Nationalitätenkonflikten der Monarchie oder das Ringen um Anerkennung der jüdischen „Nationalität" und ihrer Rechte auf kulturelle Autonomie; sie lenkte die Aufmerksamkeit auf das Verhalten gegenüber den Ostjuden, auf die Bekämpfung des studentischen Antisemitismus, auf allgemeine politische Fragen und die Kolonisierung Palästinas. Im allgemeinen gab sie sich große Mühe, interne Wahlen mit diesen nationalen und globalen Problemen, wie auch mit der tiefer gehenden Frage nach Wesen, Schicksal und Zukunft der Wiener Juden insgesamt zu verbinden. Die Leitung der Kultusgemeinde beharrte aber weiterhin darauf, sich hinter ihrem offiziellen Status als religiöse Institution ohne politische Funktionen zu verschanzen. Dies war großteils Fiktion, da sie seit den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Wirklichkeit gezwungen war, teilweise aufgrund des aufkommenden organisierten Antisemitismus, zu größeren wirtschaftlichen und politischen Fragen Stellung zu beziehen. Das Aufkommen des Zionismus und vor allem dessen Forderung nach der „Eroberung der Gemeinden" nach August 1898 waren zweifelsohne starke Störfaktoren und Herausforderungen für die traditionelle, etablierte Leitung. Das zionistische Oppositionsmanifest von 1900 stellte nämlich die Frage der Demokratisierung und

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schwang sich zum Kampf gegen die „plutokratische" Herrschaft auf. Es verlangte Abhilfe gegen die Armut der jüdischen Massen, gegen die von der christlichsozialen Stadtverwaltung ausgeübte Diskriminierung jüdischer Lehrer, Angestellter und zuwandernder Hausierer aus Galizien und forderte allgemein eine aktiven Politik zur Verteidigung der nationalen jüdischen Rechte. 132 Es stellte sich außerdem heraus, daß die Zionisten von Wählern mit bescheideneren Mitteln in der Wiener jüdischen Gemeinde Unterstützung erhielten und daß deren Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht wahrscheinlich den Untergang der alten Machtstrukturen der Gemeinde bedeuten würde. Diese demokratische Einstellung trieb die offizielle Leitung der Kultusgemeinde in eine Abwehrhaltung. Es war jedoch allen klar, daß die Zionisten keinen wirklich bedeutenden Sieg erringen könnten, solange die Gemeinde bei ihren vordemokratischen Wahlstatuten blieb. Eine Zeitlang versuchte die IKG den Zionismus zu ignorieren, ihn durch Schweigen und Gleichgültigkeit zu zerstören; als dies fehlschlug, warf sie den Zionisten vor, die traditionelle Harmonie und die Ubereinstimmung in der Gemeinde zu stören, die rauhe Politik der Straße in das jüdische Leben einzuführen. Im November 1900 hatte der Präsident der jüdischen Gemeinde, Heinrich Klinger, sich scharf gegen die intolerante Vorgehensweise zionistischer Agitation gewandt. 135 Die neue Opposition war nun gezwungen, die Formen und Methoden der christlichsozialen Antisemiten, deren Gewalttätigkeit und Militanz sowie deren nationalistische Ideologie zu übernehmen. Die Zionisten ihrerseits kritisierten die jüdische Leitung, daß diese eine „liberale" und „demokratische" Ausrichtung in der allgemeinen Politik unterstütze, während sie gleichzeitig eine bürokratische und oligarchische Herrschaft innerhalb der jüdischen Gemeinde zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Vorteil aufrechterhalte. Sie rügten, daß es bei den reichsten Familien so häufig zu Übertritten zum Christentum kam, daß sich ihre Leitung zu stark ihrem Lebensstil assimiliert hätte,134 dem Elend der Ostjuden gleichgültig gegenüberstünde und vitale Belange der jüdischen Gemeinde entpolitisiere. 155 Sie warfen sogar dem Gemeindevorstand vor, nichts mit dem Judentum zu tun zu haben und die demokratischen Werte des jüdischen Volkes zu verraten. 156 Wieder und wieder polemisierten die Zionisten gegen ein korruptes Wahlsystem, das über 125.000 Juden Wiens von der Teilnahme an Gemeindeangelegenheiten ausschloß, und griffen das Zwei-Klassen-Wahlsystem aufs heftigste an, das die reiche, anpasserische „Clique" begünstigte. 137 Sie behaupteten, daß sie im Falle ihrer Wahl die kastrierte „Israelitische" Kultusgemeinde - eine pathetische Karikatur jüdischer Selbstbestimmung - zu einer wirklich repräsentativen Volksgemeinde umformen würden, die den Bedürfnissen aller Juden dienen und deren vitale Interessen energisch vertreten würde. 138 Am Höhepunkt ihrer Erfolge im Jahr 1906 erhielten

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die zionistischen Listen 42 Prozent der Stimmen, und zwei ihrer Kandidaten erhielten genügend Unterstützung, um eine Stichwahl zu erzwingen, bei der sie eine Niederlage erlitten.139 Trotz ihres respektablen Abschneidens bei den Gemeindewahlen nach 1902 hatten die Zionisten aber vor dem Ersten Weltkrieg noch immer keine realistischen Aussichten, in den Gemeindevorstand gewählt zu werden, ganz zu schweigen von den Gemeindeeinrichtungen. Da die meisten armen Juden Wiens nicht wahlberechtigt waren, reduzierte sich ihre Gefolgschaft auf einen Teil der neuen jüdischen Mittelklasse in jenen Bezirken Wiens, wo sich hauptsächlich die Angehörigen der freien Berufe konzentrierten.140 Vor 1914 konnte die Führungsspitze der IKG daher erfolgreich der zionistischen Herausforderung widerstehen, ohne substantielle Reformen bei der undemokratischen Struktur des Gemeindesystems einzuleiten.141 Es gelang ihnen recht erfolgreich, sich als die loyalen Hüter jüdischer Interessen darzustellen, als unermüdliche, unparteüsche Verwalter von Gemeindeangelegenheiten und selbstlose Philanthropen, die sich nur um das Wohlergehen des Judentums insgesamt bemühten. Ihre im wesentlichen konfessionelle Definition jüdischer Identität herrschte bis 1914 vor, wie auch ihr Credo des „Noblesse oblige" bezüglich der armen Juden.142 Sie konnten stolz auf ein eindrucksvolles Netzwerk religiöser, wohltätiger und humanitärer Organisationen verweisen, die von der Kultusgemeinde unterstützt wurden und zweifelsohne zur Erleichterung der Last der Verarmten, Kranken, Alten und Waisen beitrugen. Durch ihre Unterstützung der beruflichen Ausbildung und ihre finanzielle Hilfe für jüdische Handwerker in Wien sowie durch die Anstrengungen der Wiener Allianz und der Hirsch-Stiftung, in Galizien moderne Schulen zu errichten, trugen sie wesentlich zur Linderung jüdischer Armut und Not in der Monarchie bei. Außerdem tat die jüdische Elite Wiens viel zur Unterstützung der Opfer von Pogromen in Rußland und Osterreich selbst, während sie sich auch auf stillem diplomatischem Wege für die verfolgten Juden am Balkan und im Nahen Osten einsetzte.143 Diese Leistungen darf man keineswegs geringschätzen. In einer Zeit des aufkommenden Antisemitismus, in der sich auch die sozialen und nationalen Gegensätze verschärften, erschien die alte, ehrenwerte Politik den jüngeren, militanteren Kräften aber als verbrauchtes Relikt einer assimilationistischen Fata Morgana.

4. Drei Wiener Prediger Schließlich haben die Juden seit den Tagen Moses Mendelssohns und besonders seit der großen weltgeschichtlichen Umwälzung in Frankreich deshalb ihre besten Männer ausgesandt, um fiir ihre Anerkennung und Gleichberechtigung in den europäischen Staaten zu kämpfen, in zahlreichen Flugschriften, auf der Tribüne wie auf der Kanzel ihre geistigen Kräftefiirdas hohe Ziel der Emanzipation in Bewegung gesetzt, um im Jahre 1882 alles Errungene preiszugeben, alles Erkämpfte aufzugeben, sich selbst als Fremde, Heimat- und Vaterlandlose oder, wie Sie sagen, als Vagabunden zu bekennen und, den Wanderstab in der Hand, ein problematisches Vaterland aufzusuchen? Nein. Adolf Jellinek (1882) Das Judenthum hat aber immer in der Zukunft undfür die Zukunft gelebt, es ist niemals in der Gegenwart aufgegangen, es hat die Zukunft niemals der Gegenwart aufgeopfert. Will man diesen innersten Zug seines Wesens idealistisch nennen, so kann es sich diese Bezeichnunggefallen lassen. Rabbi Morilz Güdemann (1895)

1 8 2 6 HATTE ISAAK N O A H M A N N H E I M E R DIE NEU ERBAUTE ELEGANTE S Y N A G O G E

in der Wiener Seitenstettengasse eingeweiht, der er bis zu seinem Tod am 17. März 1865 vorstehen sollte.1 Als Sohn eines ungarischen Chasan wurde dieser Prediger, der vierzig Jahre lang der geistige Hirte der Wiener Juden sein sollte, in der freieren Atmosphäre Kopenhagens geboren und erzogen, wo er seit 1816 oberster Religionslehrer gewesen war. Seit 1814 waren die Juden in Dänemark vollkommen emanzipiert.2 Mannheimer hatte in Kopenhagen auf Dänisch gepredigt und allwöchentlich Gottesdienste fiir reformierte Juden mit Orgelbegleitung und mit Musik christlicher Komponisten abgehalten. Sehr zum Ärger der Traditionalisten in der Gemeinde war Hebräisch vollkommen abgeschafft worden. Vor seiner Ankunft in Wien hatte er auch in den Synagogen von Berlin und Hamburg sowie bei der Leipziger Messe gepredigt, wo er Michael Biedermann aufgefallen war, der ihn einlud, ein Amt in der neuen Wiener Synagoge zu übernehmen. 3 Da es den Wiener Juden zu der damaligen Zeit noch nicht erlaubt war, eine Gemeinde zu bilden, wurde Mannheimer nicht der Titel eines Rabbiners und nicht einmal der eines Predigers verliehen, sondern jener eines „Directors der Wiener Κ. K. genehmigten öffentlichen israelischen Religionsschule" - anders ausgedrückt, war er offiziell zum „Religionslehrer" ernannt worden. 4 Obwohl Mannheimer nicht nur über jüdische Gelehrsamkeit, sondern

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auch über ein breites Wissen weltlicher Kultur sowie über eine klassische Erziehimg verfügte, war er entschlossen, dem Hebräischen im Religionsunterricht eine Vorrangstellung einzuräumen, sodaß seine Schüler die Bibel im Original lesen und hebräischen Gebeten folgen konnten.5 Im Gegensatz zu seiner früher in Dänemark und Deutschland geübten Praxis, behielt er auch Hebräisch als Sprache bei den Gottesdiensten bei und widersetzte sich der Verwendung der Orgel, da er darin eine christliche Neuerung sah, die dem Geist des Judentums fremd war.6 Seit Mitte der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts war Mannheimer durch seine unermüdliche Hingabe und seinen organisatorischen Einsatz zu einem Hauptkristallisationspunkt im Gemeindeleben geworden.7 Er bestimmte die Liturgie und wollte dabei so viel wie möglich vom traditionellen Gottesdienst erhalten, trotz des eher intellektuellen Anspruchs seiner wohlhabenden Gemeinde und seiner eigenen persönlichen Vorliebe für eine weiterreichende Reform.8 Seine beispielhafte Ubersetzung des Gebetbuches und der Festgebete, die 1840 erschien, sollte bleibende Bedeutung erlangen. Zusätzlich zu seinen pädagogischen, religiösen und sozialen Aufgaben führte Mannheimer das Register aller Geburten, Eheschließungen und Todesfalle, wie dies von den kaiserlichen Behörden von ihm verlangt wurde. In seiner Pastoralarbeit war er außergewöhnlich selbstlos und kümmerte sich um jeden Aspekt der Gemeindeangelegenheiten.9 Ob es sich nun um einen Rat für reiche, angesehene Gemeindemitglieder oder um Hilfe für Arme durch wohltätige Einrichtungen handelte, er zeigte immer praktischen Verstand, was seinen Einfluß und sein Ansehen erhöhte.10 Gemeinsam mit Josef Ritter von Wertheimer war er ein Hauptinitiator bei der Gründung vieler jüdischer sozialer Einrichtungen in Wien, um die viel reichere Gemeinden jenseits der österreichischen Grenzen die Wiener Juden beneideten. Vielleicht den größten Verdienst erwarb sich Mannheimer bei den Wiener Juden durch die Einführung liturgischer Reformen in moderater Form in der Gemeinde, wodurch eine offene Spaltung zwischen Orthodoxen und Reformern vermieden werden konnte, wie dies später in Deutschland und Ungarn der Fall war. In seinen reifen Jahren lehnte Mannheimer eine Reform ab, die auf systematischem Rationalismus, auf der Zurückweisung von Offenbarung und Tradition, auf der Eliminierung des Hebräischen und dem Ausschluß von messianischen Abschnitten im Gebetbuch beruhte, welche die Rückkehr nach Zion betrafen.11 Hinsichtlich der öffentlichen Gottesverehrung stand er dem positiven, historischen Judentum, wie es von der Breslauer Schule von Zacharias Frankel formuliert worden war, näher als den radikaleren deutschen Reformern wie Samuel Holdheim und Abraham Geiger.12 So sprach er sich vehement gegen Mischehen, gegen die Verlegung des Sabbath auf den Sonntag und die Abschaffung der rituellen Beschneidung aus.13 Nach Mitte der 40er Jahre wies er jedes weitere Experiment im Kultusleben der Gemeinde zurück. Ob-

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wohl er nicht grundsätzlich dagegen war, bestand er darauf, daß der historische Kern des Judentums nicht angetastet werden dürfe. 14 Dieser religiöse Konservatismus, der Mannheimer für das Ethos der habsburgischen Hauptstadt und deren jüdische Gemeinde geeignet schien, ermöglichte es ihm, eng mit Rabbi Lazar Horowitz, dem geistigen Oberhaupt der orthodoxen Juden im Wien des Vormärz, zusammenzuarbeiten, der die Gottesdienste im polnischen Ritus abhielt. Horowitz war ein Schüler des Preßburger Rabbiners Moses Sofer (Schreiber), der führenden Persönlichkeit des ungarischen ultra-orthodoxen Judentums, dessen Einwilligung er für die Zusammenarbeit mit Mannheimer erhalten hatte. Horowitz beriet Mannheimer bei der Abfassung der Satzungen des Ersten Tempels, bei der Auswahl des Pijut für sein Gebetbuch, bei geringfügigen Veränderungen der Beschneidungszeremonie und bei allen den Ritus betreffenden Fragen. 15 Trotz seiner strengen Orthodoxie nahm Horowitz an den Tempeldiensten teil, da er die Einheit der Gemeinde über alles andere stellte. 16 Sein Einfluß und seine Zusammenarbeit mit Mannheimer schoben den offenen und tiefen religiösen Konflikt hinaus, der nach 1849 ausbrach, als die liberaleren Juden Wiens und Böhmens den orthodoxen Zuwanderern aus Ungarn und Galizien gegenüberstanden. Trotz all seiner Vorsicht und seines Taktgefühls in religiösen Belangen, war Mannheimer nichtsdestoweniger entschlossen, das Judentum an den Geist der Moderne anzupassen, das Niveau an Distinktion, Würde und „Veredelung" in der Synagoge zu heben. Nicht umsonst beschrieb ihn der große jüdische Historiker Heinrich Graetz als die Verkörperung der geistigen „Veredelung der Juden". 1 7 Seine modernen Predigten zielten nicht nur darauf ab, die Sehnsucht nach sozialem Status und Respektabilität seiner Zuhörer zu befriedigen, die vor allem dem Wiener jüdischen Großbürgertum angehörten, oder deren Ansehen in den Augen der Nichtjuden zu heben. Mannheimer glaubte nämlich zutiefst an die „Wiedergeburt eines zerfallenen, aufgelösten Volkes" durch die Wiederherstellung eines gereinigten Gottesdienstes, wie er Zunz gegenüber 1816 anmerkte. 18 Obwohl ihn die Einschränkungen seiner Wiener Umgebung gezwungen hatten, seinen glühenden Idealismus zu zügeln, gab er den leidenschaftlichen Glauben seiner Jugend an die Reinheit und Erhabenheit der „Idee" des Judentums niemals auf, den er mit der ästhetischen Seite der deutschen Bildung verband. Dieser Glaube fand lebhaften Ausdruck in seinen mitreißenden, für die damalige Zeit vorbildlichen, deutschen Predigten und Ansprachen, die oft voll durchdringender prophetischer Kraft und Eloquenz waren. Alexander Altmann nannte ihn sogar „den nachdrücklichsten und liebenswertesten Prediger der frühen Zeit und zweifellos die herausragende Person auf der jüdischen Kanzel des 19. Jahrhunderts". 19 Mannheimers rhetorisches Talent ermöglichte seinen Erfolg in Wien, wo er sowohl bei christlichen als auch bei jüdischen Zeitgenossen einen tiefen Eindruck hinterließ.

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Er gehörte der neuen, akademisch gebildeten Generation mitteleuropäischer Prediger an, die durch den Einfluß klassischer und christlicher Vorbilder die Anhebung des Niveaus an Distinktion und Höflichkeit, Schönheit und Ordnung im Gottesdienst der Synagoge als eine notwendige Einleitung zur Emanzipation ansahen. Bei dieser Aufgabe wurde Mannheimer tatkräftig von dem begabten Kantor Salomon Sulzer (1804-1890) unterstützt, der 1825 nach Wien kam, um die Verantwortung für die Musik in der Synagoge zu übernehmen. In späteren Jahren sollte Sulzers Schule für religiöse Musik einen bleibenden Einfluß auf die Synagogengottesdienste in der ganzen westlichen Welt ausüben, und er selbst wurde wegen seiner herausragenden Singstimme und seiner würdigen, erhebenden Interpretation der Gebete sehr bewundert. Hunderte Chassanim (Vorbeter) kamen nach Wien, um in seinem Synagogenchor zu singen und ihre Kunst zu seinen Füßen zu lernen. Sein SchirZion, eines der bedeutendsten musikalischen Denkmäler Wiens im 19. Jahrhundert, gehörte zum Standard-Repertoire an den Synagogen des deutschen und angelsächsischen Sprachraumes. In seinem Vorwort zum ersten Band schrieb er, daß „die anregende und belebende Kraft des Gesanges beim öffentlichen Gottesdienste ... schon im grauesten Altherthume anerkannt und zur Förderung der gemeinsamen Andacht und Erhebung sorgfaltig benutzt" wurde. Er verweist auf die einigende Kraft der Musik, die in den Gemeinden durch die Anerkennung des Synagogengesanges erzielt worden sei. Schließlich preist er das „schöne Beispiel der Wiener Israeliten" und spricht von der „Einführung eines allgemeinen Gesangsunterrichtes in den israelitischen Schulen" als „dem wärmsten Wunsch", den er in diesem Vorwort zum Ausdruck bringen wolle.20 Wie sehr sich Sulzers Vorstellungen mit jenen Mannheimers deckten, pries Eduard Hanslick in späteren Jahren mit den Worten: „Der alte Manheimer - noch sehe ich seinen hageren, geistvollen Kopf mit den flatternden Haaren - predigte wie Sulzer sang. Dieselbe Gewalt über das Material, dieselbe fremdartige und doch alles fortreissende Leidenschaftlichkeit, dasselbe begeisterte Aufleuchten des Auges und der Stimme. Es war die glühendste Kanzelberedsamkeit, die ich erlebt habe, hier in Worten, dort in Tönen." 21 Die traditionellen Melodien sollten ihren Platz in der Liturgie beibehalten, sollten aber „verbessert, sorgfältig ausgewählt und an die Gesetze der Kunst angepaßt" werden. Auch für die Psalmentexte wurde eine neue Musik eingeführt, die teüs sogar von nichtjüdischen Wiener Komponisten stammte, wie etwa dem berühmten Franz Schubert (1797-1818), der Τον lehodot (Psalm 92) für Chor ohne Begleitung beisteuerte. Nachdem Schubert gehört hatte, wie Sulzer einige seiner deutschen Lieder sang, bemerkte er: „Nicht einmal mein treuer Freund Vogl ist in der Lage, meine Lieder so zu interpretieren ... wie Sie es tun." Der Komponist Franz Liszt (1811-1886) war ebenfalls ein großer Bewunderer von Sulzer. Er berichtet euphorisch von einem Gottesdienst imWiener Stadttempel, bei

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dem er Gelegenheit hatte, Sulzer zu hören. „Seine Reden klangen gleichsam, als habe er die Felsenquadern zum Aufbau der Pyramiden mit gemessen, als habe er die ägyptische Finsternis und Pharao, den gottlosen, erblickt... als hätten seine Ohren den freudigen Klängen der Cymbeln und Psalter aus Sion gelauscht, die Harfe Davids vernommen." 22 Juden wie auch Nichtjuden kamen zum Tempel, um Sulzers majestätische Wiedergaben zu hören, und der Kantor erhielt die höchsten Auszeichnungen der Stadt Wien und genoß auch die Achtung der jüdischen Gemeinde. 1868 wurde er mit dem Franz Josephs Orden ausgezeichnet, und selbst der russische Zar verlieh ihm eine Auszeichnimg. Sulzers Musik war vielleicht zu assimiliert und unjüdisch für den Geschmack des osteuropäischen Judentums, ihre Würde, ihre Erhabenheit und ihr künstlerischer Charakter aber übten einen starken Einfluß auf die eher westlich geprägten Juden Deutschlands aus. Sulzers „Vermittlerrolle" zwischen hebräischen Melodien und westlicher Musik war das ästhetische Äquivalent zu Mannheimers Anpassung des rabbinischen modus operandi. Mannheimer gab nicht vor, ein traditioneller „Raw" zu sein, ein talmudischer Thora-Gelehrter. Die religiöse Neubelebung des Judentums bedeutete für Mannheimer und seine Nachfolger in Wien eine Integration des Judentums in die Welt der modernen europäischen Kultur, die Verbesserung jüdischer Bildung und die intellektuelle Rechtfertigung von Glaube und religiösen Bräuchen. Die Verteidigung der jüdischen Vergangenheit und der jüdischen Ehre gegenüber deren Verleumdern, das Beharren auf der bedingungslosen Loyalität der Juden gegenüber ihrem angenommenen Vaterland und die Aufklärung der öffentlichen Meinung bezüglich der jüdischen Werte sollten für die Wiener Prediger zu äußerst wichtigen Aspekten ihrer Tätigkeit als geistige Führungspersönlichkeiten werden. Das Judentum war für Mannheimer eine historische Institution, die von göttlicher Offenbarung, väterlicher Tradition und Frömmigkeit der Söhne zusammengehalten wurde und nicht so sehr von philosophischen Lehren, obwohl er der „wissenschaftlicheren", systematischen Ideologie der deutschen religiösen Reform durchaus wohlwollend gegenüberstand. So erhob er keinen prinzipiellen Einspruch gegen die Verwendung des Deutschen in den Gebetbüchern des Hamburger Tempels und lud sogar dessen Prediger, Dr. Gotthold Salomon, ein, in der Synagoge in der Seitenstettengasse zu predigen. Im Gegensatz zu einigen seiner deutschen und ungarischen Kollegen waren Mannheimer der Erhalt der äußeren Einheit und die gut organisierte Ubereinstimmung des Glaubens wichtiger als jeder metaphysische Gedanke des Judentums oder die Theorie seiner historischen Entwicklung. Obwohl er eindeutig von der Wissenschaft des Judentums beeinflußt war, konnte man ihn nicht als einen ihrer fuhrenden Vertreter ansehen, auch nicht als großen Talmudgelehrten. Mannheimer hob sich von seinen Zeitgenossen vielmehr durch seine zündende

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Rhetorik ab, seinen fein abgestimmten Sinn für das Judentum, das seinen Ausdruck in der Synagoge und Gemeinde fand, und durch seine Verbindung der Funktionen als Seelsorger, Prediger, Gemeindeorganisator und Pädagoge. Dies alles ist umso erstaunlicher, als er im Rahmen einer Gemeinde aibeitete, die nicht von Rabbinern, sondern von einer reichen Laienelite angesehener Bürger beherrscht wurde. Mannheimers Synthese von Erneuerung und Tradition, von liberaler Aufklärung und Konservatismus, von deutschen Reformwerten und osteuropäischer Orthodoxie spiegelte nicht nur seine eigenen diplomatischen Fähigkeiten wider, sondern auch etwas von dem Genius loci Wiens. Er war sich nur allzu bewußt, daß die Empfindlichkeiten der viel gläubigeren, traditionalistischen Bevölkerung in den Provinzen des Reiches berücksichtigt werden mußten; es war insbesondere seine Aufgabe, die Ansichten der polnischen und ungarischen Orthodoxie mit den gehobeneren Ansprüchen seiner liberalen Gemeinde in Wien in Einklang zu bringen. Wie er 1842 von Wien aus dem Chacham Bernays nach Hamburg schrieb, konnte er (Mannheimer) gerade als Lehrer und geistige Führungspersönlichkeit einer der wichtigsten Gemeinden in Deutschland weder die orthodoxen, schismatischen Strömungen des osteuropäischen Judentums noch den religiösen Nihilismus des radikalen Reformjudentums akzeptieren. Dieser Balanceakt war der Kern seiner Gemeindearbeit und auch sein wichtigstes Erbe. Um aus Mannheimers optimistischer Rede vom 19. April 1863 zu zitieren: „Der Orient mit seiner tausendjährigen Uberlieferung, der Occident mit seinen modernen Anschauungen, die starre Observanz von ehedem und der forschende, bildende Geist, wie ihn die neue Zeit in sich trägt", treffen einander in Wien.23 Dieser Versuch, die heterogenen Elemente des kulturell angepaßten westlichen Judentums mit der Orthodoxie der Provinzen zu verbinden, war tatsächlich eine der größten Herausforderungen, der sich die Wiener Gemeinde gegenübersah. Es war ein Versuch, der die Harmonie der formalen Gemeindestruktur (Israelitische Kultusgemeinde) nach der Ankunft der ersten bleibenden Zuwanderer aus dem Osten auf eine äußerst harte Probe stellte. Bedingt durch ihre oft erniedrigende Abhängigkeit von den habsburgischen Herrschern und von der „Toleranz" der österreichischen Bürokratie hatte die Elite der jüdischen Patrizier vor 1848 die Orthodoxie bekämpft. Mannheimer war sich dieser Abhängigkeit sehr wohl bewußt und engagierte sich sehr aktiv in dem langen und harten Kampf um die jüdische Emanzipation. In den 40er Jahren widersetzte er sich erfolgreich dem Versuch von Professor Rosas, für die Juden beim Medizinstudium einen numerus clausus einzuführen, und es gelang ihm gemeinsam mit einer Gruppe österreichischer Rabbiner, darunter auch Lazar Horowitz, 1846 die Abschaffung des erniedrigenden mittelalterlichen morejudaico („Jüdischer Schwur") zu erreichen.24 Mannheimer scheute sich weder, die sozialen und politischen Probleme der öster-

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reichischen Juden in seinen Predigten gelegentlich klar anzusprechen, noch den willkürlichen Despotismus, der ihnen vor 1848 die grundlegenden Menschenrechte vorenthielt, abzulehnen. Dieser zunehmend politische Standpunkt, der seinen Höhepunkt in der Revolution von 1848 erreichte, als sich Mannheimer leidenschaftlich mit der populären Frage der konstitutionellen Freiheit identifizierte, war radikal genug, einige Gemeindefiihrer zu alarmieren.25 Sie versuchten tatsächlich seine liberalen Aktivitäten einzuschränken und sogar seine Äußerungen im Reichstag zu zensurieren, aus Angst, seine Offenheit könnte ihre Stellung beeinträchtigen. Im März 1848 - vor dem gemeinsamen Grab der Gefallenen - hielt Mannheimer eine Rede, in der er zu seinen „christlichen Brüdern" sagte: „Ihr habt gewollt, dass die toten Juden da mit euch ruhen in eurer, in einer Erde! Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schweren, dass sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unverkümmert wie Ihr ... Nehmt auch uns auf als Freie Männer, und Gottes Segen über euch!"26 In einer Predigt am 18. März 1848 hatte Mannheimer seinen Glaubensbrüdern laut verkündet, daß die Zeit ihrer Befreiung vom Joch der Knechtschaft nahe sei.27 Die Ära von Amalek und Haman sowie der anderen zeitgenössischen Unterdrücker werde bald zu Ende gehen, um einer Herrschaft von Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit und der Menschenrechte zu weichen.28 Am 24. März erklärte er nochmals, daß 600.000 österreichische Juden mehr als dreißig Jahre lang vergebens auf die Durchsetzung der Bürgerrechte gewartet hätten, die ihnen beim Wiener Kongreß 1815 versprochen worden waren. Sie dienten loyal beim Militär, vergossen ihr Blut für das Vaterland, beteiligten sich seit 1815 an den Freiheitskämpfen der deutschen Nation, und doch hatte ihnen ein willkürliches, absolutistisches Regime ihren Anteü vorenthalten.29 Mit der Revolution von 1848 hatte die liberale Lehre von den Menschenrechten endlich im Habsburgerreich Einzug gehalten und verkündete Gewissens-, Rede-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit. Und doch hatten schon der „Krämergeist" der kleinen Händler und das allgemeine Vorurteil ihr häßliches Haupt erhoben und bedrohten die versprochene jüdische Emanzipation. Mannheimer wandte sich vehement und lautstark gegen die Behauptungen und Ansprüche der neuen antisemitischen Literatur, die nun in Wien auftauchte. Er versuchte an die edleren Instinkte, an den Sinn für Gerechtigkeit und Fairneß der Deutschösterreicher zu appellieren.30 Als österreichischer Reichstagsabgeordneter für die galizische Stadt Brody hielt er zwei bewegende Reden; in der einen forderte er die Aufhebung der „Judensteuer" (5. Oktober) und in der anderen die Abschaffung der Todesstrafe, da diese gegen das Gesetz, die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit verstoße.31 Radikale jüdische Politiker, wie Adolf Fischhof und Josef Goldmark, sowie auch der polnische Rabbiner Meiseis unterstützten seine leidenschaftliche und erfolgreiche Kampagne zur Annullierung dieser besonderen Judensteuer. Die rücksichtslose Niederschlagung des

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Oktoberaufstandes von 1848 (der radikalste in dem Revolutionsjahr) rief Mannheimers bitteren Protest über das Ausmaß der Repression hervor, und es erfüllte ihn gleichzeitig mit Genugtuung, daß an den Racheakten, den Plünderungen und der Barbarei keine Juden beteiligt waren.52 Andererseits machte Mannheimer kein Hehl aus seiner Abscheu vor der kriecherischen Haltung der führenden Mitglieder der Wiener Gemeinde gegenüber der habsburgischen Regierung. Der Sieg der Dynastie und der Gegenrevolution hatte den achtzehnjährigen Franz Joseph auf den Thron gebracht, dessen künftige Politik teilweise durch die Erlebnisse von 1848 beherrscht werden sollte, als das Reich vor seinen Augen zu zerbrechen schien. Er, der in vielen Beziehungen der letzte Monarch der alten Ordnung war, sollte achtundsechzig Jahre lang regieren und über den goldenen Abglanz des Habsburgerreiches herrschen, das zwei Jahre nach seinem Tod im Jahr 1916 auseinanderbrach. Die Juden der österreichischen Monarchie sollten mit der Zeit einen wahrhaften Kult um Kaiser Franz Joseph aufbauen, der einfach dadurch, daß er so lange unverrückbar am gleichen Platz blieb, ein Gefühl der Sicherheit und Dauerhaftigkeit schaffen konnte, das ihnen ihre physische Existenz, ihre bürgerlichen Rechte und den Wohlstand zu garantieren schien. In den zehn Jahren nach 1849, die dem Wiedererstarken der Habsburger und der Niederlage des revolutionären Liberalismus folgten, erschien die innere Lage jedoch in einem viel düstereren Licht. Der neue Absolutismus, welcher der kaiserlichen Politik zugrundelag, die erneute Beherrschung Österreichs durch das Militär, die äußerst kastenbewußte Landaristokratie und die vielleicht reaktionärste Kirche in Europa machten alle 1849 verliehenen Freiheiten zur Gänze rückgängig und die jüdischen Hoffnungen auf Emanzipation zunichte. Der neue Kaiser und seine Berater widerriefen rasch die Verfassung von 1848, die das implizite Versprechen auf bürgerliche Gleichstellung der Juden enthalten hatte, und verschafften früheren Verboten bezüglich des Erwerbs von Grundbesitz wieder Geltung, die über zehn Jahre lang nicht aufgehoben werden sollten.33 Das mittelalterliche Recht, das es Juden verbot, christliche Dienerschaft zu beschäftigen, wurde wieder in Kraft gesetzt und die Eheschließung wieder von der Zustimmung von Regierungsbeamten abhängig gemacht. Juden wurden wieder vom öffentlichen Dienst und Lehrerstellen ausgeschlossen.34 Das Konkordat mit der katholischen Kirche von 1855, das deren Ausbildungsmonopol wiederherstellte, und die Bemühungen des klerikalen Ministers Leo Graf Thun, jüdische konfessionelle Schulen zu schaffen, alarmierten die jüdische Gemeinde zusätzlich. Antisemitische Artikel wurden, offensichtlich mit Zustimmung einiger Regierungsbeamter, in Wiener Zeitungen abgedruckt.35 Diese negativen Tendenzen wurden zweifelsohne durch das Mißtrauen der Behörden gegenüber der neuen 1848er Generation von Juden und deren liberale Opposition gegen das Anden Regime verstärkt. Aufgrund dieser Angst und der Be-

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fiirchtungen hielten die Behörden es für opportun, die Ansprüche der ärmeren orthodoxen Juden in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts gegenüber den liberaleren Tendenzen der Gemeindeführung zu unterstützen. Nicht, daß die habsburgischen Beamten besonderen Gefallen am jüdischen Traditionalismus gefunden hätten, sie schätzten aber doch das monarchistische, kaisertreue Element, das der politischen Haltung der Orthodoxie anhaftete, während die Reformjuden als die eifrigsten Vertreter des modernen Geistes der Gleichmacherei galten. Dennoch konnten nicht alle Errungenschaften von 1848 durch das neoabsolutistische Regime wieder rückgängig gemacht werden. Die Bewegungsfreiheit wurde nur teilweise eingeschränkt, und die Juden mußten sich nicht mehr verstecken oder um eine Sondererlaubnis ansuchen, um in Wien zu leben. Die offizielle jüdische Bevölkerung wuchs daher von fast 4.000 im Jahr 1846 auf 9.000 im Jahr 1849 und auf 14.000 bis 15.000 bis zum Jahr 1854 an. Durch die Zuwanderungsfreiheit kamen Juden sogar in Gebiete wie die Steiermark, Kärnten, Oberösterreich und Tirol, die vor der Revolution praktisch judenrein gewesen waren. Trotz der Rücknahme der jüdischen Rechte spielten dennoch die fuhrenden Bankiers- und Kaufmannsfamilien weiter eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der österreichischen Industrie und dem Aufschwung Wiens als Handelszentrum.36 Juden beherrschten die Börse, die Geldmärkte und den Ausbau des österreichischen Eisenbahnnetzes. Auf Gebieten wie der Textilindustrie, dem Handel mit Alkoholika, der Herstellung von solch unterschiedlichen Produkten wie Unterwäsche und Schirmen, bei der Schiffahrtsund der eisenverarbeitenden Industrie sowie im Kohlebergbau waren die Wiener Juden führend vertreten. Sie hatten praktisch die Bekleidungsindustrie und den Exportgroßhandel in Osterreich aufgebaut und kontrollierten diese Märkte nach 1848. 1855 organisierte Anselm Rothschild, der Nachfolger seines Vaters Salomon Rothschild, die Osterreichische Creditanstalt. 1861 wurde er zu Beginn der liberalen Ära als Mitglied des Oberhauses des österreichischen Parlaments zugelassen. Die Kaiser-Ferdinand-Nordbahn - die von seinem Vater finanziert worden war und Wien über Mähren und Schlesien mit Galizien verband - führte zur Entwicklung der Kohlebergwerke von Witkowitz, welche die Rothschilds mit den aus Mähren stammenden Gebrüdern Gutmann gründeten. Seit den frühen 50er Jahren hatten die Direktoren der Nordbahn die Möglichkeiten einer Ölfordenmg in Galizien geprüft und sollten viel zu deren künftiger Entwicklung beitragen. Für die Gemeindestruktur der Wiener Juden aber war die „vorläufige" Anerkennung der Statuten der Israelitischen Religionsgemeinde, fur die sich Mannheimer und seine Kollegen so zäh eingesetzt hatten, durch die Behörden am 14. Jänner 1852 von weitaus unmittelbarerer Bedeutung.37 Schon am 3. April 1849 hatte Kaiser Franz Joseph anläßlich eines Empfanges von Vertretern der Wiener jüdischen Kultusgemeinde bei einer Audienz, „den Ausdruck der Gefühle treuer Ergebenheit und An-

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hänglichkeit" entgegengenommen, „welche Sie Mir im Namen der israelitischen Gemeinde von Wien darbringen".38 Dies war das erste Mal, daß dieses bis dahin als Tabu geltende Wort „Gemeinde" offiziell benutzt worden war, um die Juden Wiens zu bezeichnen. Auch wenn ihre rechtliche Gleichstellung bald widerrufen worden war, rückten Kaiser Franz Joseph und seine Beamten von dieser Zeit an nicht mehr von der Anerkennung der Wiener „Israeliten" als einer rechtlich verfaßten religiösen Gemeinschaft mit vollkommener Autonomie ab. Gemäß den Statuten, die während der Regierungszeit Franz Josephs (und danach) in Kraft blieben, bestand der Vorstand aus fünf Vertretern und fünfzehn Beiräten, die für ihre Arbeit nicht bezahlt wurden.39 Diese offiziellen Repräsentanten hatten die volle Macht in der Gemeinde und konnten alle religiösen Angelegenheiten nach ihrem Gutdünken regeln. Die Rabbiner und Prediger hatten im Gegensatz zu ihren Kollegen in Osteuropa in Wien nur eine beratende Funktion und keinerlei Kontrolle über die Gemeindeangelegenheiten, ja sie besaßen nicht einmal das Stimmrecht.40 Selbst im Vergleich zu den äußerst undemokratischen Wahlen zum Wiener Stadtrat, dem Osterreichischen Landtag oder dem kaiserlichen Parlament, wurde die jüdische Intelligenz (d. h. Professoren, Lehrer, Ärzte, Beamte) in der jüdischen Gemeinde in der Tat diskriminiert, es sei denn sie zahlten die festgesetzte Kultussteuer, deren Mindestbetrag sich auf zehn Gulden jährlich belief.41 Diese Steuer und die Wahlordnimg verliehen der Leitung der Kultusgemeinde einen eindeutig oligarchischen Charakter. Die führenden Laien der Wiener Juden widersetzten sich beharrlich jedem Versuch, das Wahlrecht auszuweiten, und wiesen sogar die Wünsche der Regierung zurück, den Rabbinern mehr Mitsprache bei der Führung der Gemeinde zu geben. Als die österreichische Regierung selbst in den 90er Jahren im Oberhaus einen diesbezüglichen Antrag stellte, mobilisierten die führenden Persönlichkeiten der Gemeinde noch zu diesem Zeitpunkt all ihren politischen Einfluß, um diesen Plan zu Fall zu bringen.42 Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Frage der Kultussteuer und der Stimmrechte mit der internen Herausforderung des Nationalismus verquickt. Erstmals wurde eine offene Diskussion über das Problem der Beherrschung des organisatorischen Lebens durch die wohlhabende Führung der Gemeinde und über die Belastung ihrer Reserven durch die notwendige Versorgung einer großen Zahl von ärmeren Zuwanderern geführt.43 In den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts war der Konflikt zwischen Orthodoxie und Reform, der auch seine politische Dimension hatte, jedoch weiterhin das beherrschende Thema in der Gemeinde.44 Die Kultusgemeinde war in ihrer Einstellung liberaler geworden und galt bei einigen Reichsministern als potentiell subversiv. Ihre Führungspersönlichkeiten, einschließlich Mannheimer, standen im Verdacht, liberal-demokratische, ja sogar „revolutionäre", staatsfeindliche Neigungen zu hegen.45 Einen unerwarteten Verbündeten fand die Regierung in dem ortho-

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doxen Geldwechsler Ignaz Deutsch (1808-1881), einem gebürtigen Preßburger und seit 1848 Gabe (Vorstand) der polnischen Schul in Wien. Deutsch überreichte dem Kultusminister in den 50er Jahren eine Reihe von Memoranden, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, daß die Reformjuden einen radikalen politischen Wechsel begünstigten, während die Orthodoxie der habsburgischen Herrschaft ergeben sei. Deutsch forderte die orthodoxen Rabbiner sogar auf, die Proteste der Kultusgemeinde gegen die Widerrufung jüdischer Rechte nicht zu unterstützen, und wandte sich stattdessen an die Regierung, die Rabbiner mit der gleichen Machtfiille auszustatten, wie sie der katholische Klerus durch das Konkordat von 1855 erhalten hatte. 1857 versuchte Deutsch mit Unterstützung von Graf Thun die Regierung zu überzeugen, daß diese den orthodoxen Gemeinden die Sezession von der etablierten Gemeinde und die Gründung ihrer eigenen zentralen Synagoge gestatte.^ Diese Forderung sollte später wiederholt von anderen österreichischen jüdisch-orthodoxen Führungspersönlichkeiten ausgesprochen werden. Deutsch versuchte, die orthodoxen Juden aus Ungarn und Galizien auf seine Seite zu bringen, um eine zweite Synagoge in der Leopoldstadt zu errichten, und machte sich hierbei deren wohlbekannte Abscheu vor den „frivolen" Gottesdiensten in der Seitenstettengasse zunutze.47 Aber trotz all ihrer Ablehnung der Dajtsch Jidn (deutschen Juden) konnten die orthodoxen Juden durch eine extremistische Führungspersönlichkeit wie Deutsch nicht so einfach gegen die liberalen Juden organisiert werden, und seine Bemühungen, eine eigene zentrale Synagoge für die Altgläubigen zu errichten, schlugen fehl.48 Letztlich wurde Ignaz Deutschs Karriere durch dessen Bereitschaft, den Standpunkt des Papstes in dem berüchtigten Mortara-Fall gutzuheißen (was praktisch einer Entschuldigung der Entführung jüdischer Kinder durch Katholiken gleichkam), durch die Aufdeckung seiner Zusammenarbeit mit dem klerikalen Unterrichtsministerium und durch den Zusammenbruch seiner Bank beendet. 49 Selbst sein Nachfolger, Salomon Spitzer (1826-1895), eine weitere aus Ungarn stammende Führungspersönlichkeit der Wiener Orthodoxen, weigerte sich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Spitzer, der Schwiegersohn des Chatam Sofer, des ultra-orthodoxen Führers der ungarischen Juden, war eigentlich 1855 auf Deutschs Vorschlag hin zum Rabbiner der Preßburger Schul in Wien ernannt worden, die vor allem einer kleinen Gemeinde orthodoxer Juden, insbesondere aus Preßburg und den ungarischen Provinzgemeinden, diente. 1858 war er zum Hilfsrabbiner fur Lazar Horowitz ernannt worden, und zehn Jahre später wurde ihm die Stellung des Oberrabbiners von Wien angeboten unter der Voraussetzimg, daß er seine strenge Orthodoxie modifizierte. Spitzer verweigerte dies und sollte 1871 die orthodoxe Opposition gegen die Bemühungen des bekannten liberalen Politikers Ignaz Kuranda - des neuen Präsidenten der Kultusgemeinde - (und anderer Vorstandsmitglieder) anfuhren, radikalere Re-

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formen in der Gottesdienstordnung einzuführen.50 Die Protestversammlung, die von ungefähr 500 Leuten besucht wurde - einem Viertel aller Mitglieder der Wiener Synagoge - führte schließlich zu einem Kompromiß. Die Einführung der Orgel in den Gottesdienst wurde endgültig verschoben, und statt einer feierlichen Rezitation von Hinweisen auf Zion und die Wiedereinführung der Opfer (wie dies der Wunsch der Gemeindeführer gewesen war), sollten diese Gebete von der versammelten Gemeinde still gebetet werden.51 Diese typisch wienerische Schlichtung des Streits ließ die erhitzte Atmosphäre abkühlen, insbesondere da die wenigen geringfügigen Veränderungen, die in den Gottesdienst eingeführt wurden, diplomatisch als „Modifikationen" bezeichnet wurden. Trotzdem trat Spitzer vom Rabbinat der Kultusgemeinde zurück und widmete sich von da an ganz der Adass Jisroel Synagoge in der Großen Schiffgasse (besser als die Schiffschul bekannt) und ihren dazugehörigen Einrichtungen. Der Antagonismus zwischen orthodoxen und reformerischen Juden, der in den 50er Jahren durch die Neuzuwanderungen aus Ungarn und Galizien, durch die Intrigen von Deutsch und die Kontroverse um den Bau eines zweiten Tempels in der Leopoldstadt ausgebrochen war, wurde 1856 durch die Ankunft eines neuen Predigers in Wien, Adolf Jellinek (1821-1895), noch weiter verstärkt. Dieser war ebenso eloquent wie Mannheimer, stand dem Reformjudentum aber näher; er war noch stärker entschlossen als sein Vorgänger, den traditionellen Glauben mit den modernen Entwicklungen in Einklang zu bringen.52 Jellinek war bei rituellen Angelegenheiten etwas lax. So ließ er zum Beispiel während seiner Amtszeit die Lesung der Rettuba (Ehevertrag) bei der Hochzeitszeremonie aus. Er ignorierte auch das verpflichtende Untertauchen eines Proselyten zum Judentum und gab den Ritus des Chatitza auf, wodurch die Leviratsehe einer Witwe, deren Ehemann keine Nachkommen hatte, vermieden werden konnte. Sogar Jellineks Einhaltung der Speisegesetze wurde angezweifelt. Allgemein galt er aber als der herausragende Prediger seiner Zeit und als wesentlich bedeutenderer Gelehrter in der Tradition der Wissenschaft des Judentums als Mannheimer.55 So war er zum Beispiel einer der Wegbereiter im Studium der Kabbala, hatte er doch schon als junger Mann im Alter von dreiundzwanzig Jahren La Cabbale von Adolphe Franck aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.54 Dies war nur der Ausgangspunkt für seine eigenen Forschungen auf dem Gebiet des jüdischen Mystizismus, die mit Moses ben Schemtow de Leon und sein Verhältnis zum Sohar (1851) begannen - später zeigte er in seiner Ausgabe von Abraham Abulafias Seferha-Ot aus dem Jahr 1887, daß de Leon und nicht Abulafia der Autor der Zohar war; 55 Arbeiten wie Beiträge zur Geschichte der Kabbala (1852), Auswahl Kabbalistischer Mystik (1855), Philosophie der Kabbala (1854) und seine Veröffentlichimg vieler zumeist unbekannter Midraschim erwiesen sich ebenfalls als äußerst wertvoll für das Studium der frühen Kabbala.56

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Der Prediger, der das geistige Leben der Wiener Juden in der liberalen Ära beherrschte, war in dem slowakischen Dorf Drslavice nahe Ungarisch-Brod (Uhersky Brod) in Mähren am 26. Juni 1821 geboren worden. Seine Vorfahren waren tschechische Bauern mit hussitischem Hintergrund gewesen, die wahrscheinlich im 18. Jahrhundert zum Judentum konvertierten, eine Abstammung, auf die Jellinek sehr stolz war. Seine Mutter, die starb, als er erst fünf Jahre alt war, entstammte einer angesehenen Rabbinerfamilie (ihr Großvater war der berühmte ungarische Rabbiner und Talmudist Hirsch Broda), und der junge Adolf Jellinek wurde in seinen frühen Jahren in die Prossnitzer Jeschiwa des orthodoxen ungarischen Rabbiners und Talmudisten Menahem Katz geschickt, einem der herausragenden Schüler des Chatam Sofer, mit dem sich Jellinek ebenfalls anfreundete. Schon in Prossnitz begann Jellinek zusätzlich zu seinen talmudischen Studien auf eigene Initiative hin moderne Sprachen und weltliche Fächer zu studieren. 1838 zog er nach Prag, wo er die Vorlesungen von Salomon Judah Rappoport und die klassischen Predigten von Dr. Michael Sachs hörte.57 Seine weltliche Ausbildung begann jedoch nach 1842 in Leipzig, wo er das Studium der Philosophie, Philologie und der Orientalischen Sprachen (vor allem Arabisch und Persisch) an der Universität abschloß. Einer seiner Lehrer war der bekannte christliche Semitologe Professor Heinrich Fleischer. Jellinek studierte auch mit großer Begeisterung Rhetorik an der Leipziger Universität (er war vor allem von Cicero und Bossuet begeistert) - was ihm in späteren Jahren sehr gelegen kam.58 Seine vollendete Vortragsweise, die Plastizität bei der Gedankenbildung, die Meisterschaft in der Beschreibung und das Talent, alles am richtigen Platz einzupassen, waren sorgfältig erworbene und erlernte Kenntnisse.59 Es war seine Fähigkeit, die reichen Quellen der Bibel und Midraschim mit der klassischen Kultur, die er an der Universität studiert hatte, zu verbinden, die Jellineks Reden zu solchen Meisterwerken im künstlerischen Aufbau machte.60 Mit Max Grunwalds Worten war er „ein Neuerer, der nicht so sehr einen neuen Stil in der Homiletik schuf, als daß er der alten Bedeutung des Midrasch zu neuem Leben verhalf. Jellinek folgte nicht der neuesten Form des Predigens, die in Nachahmung christlicher Methoden den Midrasch verbannte und sogar ein hebräisches Zitat vermied. Er verwendete die Derascha (Lesung, Predigt) aus vergangener Zeit, hauchte ihr aber neuen Geist ein."61 Durch seine Verbindung von biblischen, midraschistischen und rabbinischen Quellen mit den ästhetischen Erfordernissen der Erbauung, ihre geschickte Interpretation und die neuartigen und unerwarteten Bedeutungsveränderungen, die er alten Texten verlieh, führte Jellinek (wenn auch auf brillantere und extravagantere Weise) das Beispiel von Michael Sachs in Prag und Mannheimer in Wien fort.62 1845 wurde Jellinek zum Prediger in der kleinen Berliner Synagoge in Leipzig ernannt, die unter der Führung des Dresdner Rabbiners und Wissenschaftsgelehrten

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Zacharias Frankel gegründet worden war. Jellineks Ruhm als Prediger und Gelehrter nahm stetig zu, obwohl er in dieser Zeit etwas im Schatten der herausragenden Persönlichkeit Frankels stand. Er lehnte drastische Reformen der Liturgie ebenso ab wie sein Gönner, obwohl er ohne Zögern einen Chor fur die Gottesdienste in der Synagoge ins Leben rief, bei dem auch christliche Sänger der ortsansässigen Schule mitwirkten. In ähnlich liberalem Geist begründete er gemeinsam mit christlichen Geistlichen den Kirchlichen Vereinfür alle Religionsbekenntnisse,

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sionelle Vereinigung, die er bei der Deutschen Nationalversammlung 1848 vorstellen wollte, wäre dies nicht durch den sächsischen Minister für Religiöse Angelegenheiten verhindert worden. So vertrat Jellinek schon in seinen Leipziger Ausbildungsjahren ein dynamisches, auf dem Grundsatz der individuellen Gedanken- und Handlungsfreiheit beruhendes Judentum, das sich gegenüber der christlichen Welt öffnete.

Begeistert begrüßte der junge Prediger die Freiheit, die durch die Revolution von 1848 entstand, obwohl er sich gegen die radikalen, fast sozialistischen Ansichten seines jüngeren Bruders, Hermann Jellinek, wandte, der wegen seiner politischen Überzeugungen aus Deutschland verbannt wurde. Auch wenn Adolf Jellinek später nur selten auf die brutale Hinrichtung von Hermann im Alter von fünfundzwanzig Jahren (wegen der Rolle, die er bei der Wiener Revolution gespielt hatte) zurückkam, dürfte dies doch einen traumatischen Eindruck bei ihm hinterlassen haben. Eine der wenigen Anspielungen fand sich in der bewegenden Eloge im Jahr 1867 nach der Hinrichtung Kaiser Maximilians von Mexiko, dem Bruder Franz Josephs, in der sich Jellinek veranlaßt sah, die Abschaffung der Todesstrafe für politische Vergehen zu fordern. Adolf Jellineks Zurückhaltung bezüglich seines Bruders spiegelte deren gespanntes Verhältnis wider. Hermann verachtete seinen älteren Bruder als einen „lausigen Phrasendrescher" und hypokritischen Theologen; Adolf Jellinek seinerseits sagte eine Rolle in der öffentlichen Politik nicht zu, er blieb lieber im Hintergrund, auch wenn er später die Bedeutung der Revolution von 1848 für das Schicksal der deutschen und österreichischen Juden anerkannte. Er identifizierte sich aber bereits damals stark mit dem deutschen Kulturnationalismus von 1848; so trat er beispielsweise dem Vorstand einer Vereinigung bei, die für die Unterstützung deutscher Interessen in den slawischen Ländern gegründet worden war. In einem in Der Orient im April 1848 veröffentlichten Artikel vertrat Jellinek mit Nachdruck die Ansicht, daß die Juden in gemischt bevölkerten Gebieten der habsburgischen Vielvölkermonarchie in Sprache, Kultur und Bildung das „Deutschtum" repräsentierten. „Die Juden sind Deutsche in Osterreich, Böhmen, Ungarn, Galizien, Mähren und Schlesien. In den Ländern, in denen eine Mischung stattfindet, vertreten die Juden die deutsche Sprache, die Trägerin der Kultur, Bildung und Wissenschaft ... Die Deutschen in Böhmen, Mähren, Ungarn und Galizien müssen aber

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auch erwägen, daß sie durch die Verbrüderung mit den Israeliten einen kräftigen Zuwachs ihres nationalen Elements erhalten, und es ist im Interesse des Deutschtums ihre Pflicht, die Juden zu sich heranzuziehen und fur deren Freiheit aus allen Kräften zu wirken. Die Freiheit der Juden ist zugleich die Freiheit des Deutschtums."63 Jellineks Leipziger Jahre am Rand der slawischen Welt, am Schnittpunkt des west- und osteuropäischen Judentums, zwischen dem Reich von Haskala und Talmud, zwischen liberalem, christlichem Gelehrtentum und der Wissenschaft des Judentums bereiteten ihn gut für seine zukünftige Rolle in Wien vor.64 1856 wurde er als Prediger im Leopoldstädter Tempel eingestellt, und neun Jahre später, nach Mannheimers Tod, folgte er diesem in der Synagoge in der Seitenstettengasse nach. Seine rhetorische Brillanz und Meisterschaft als Apologet des Judentums - die zunächst in Leipzig gepflegt worden waren - sollten in Wien großen Eindruck machen, wo Theaterauffiihrungen so beliebt waren, wo die Poesie, das Gefühl für Pathos, Gestik und Atmosphäre so hoch geschätzt wurden.65 In Wien etablierte sich Jellinek rasch als der redegewandteste Prediger der damaligen Zeit, der Ruhm der Gemeinde breitete sich über die Grenzen der Monarchie hinweg in der ganzen Welt aus.66 Viele seiner Predigten wurden in verschiedenen Sprachen veröffentlicht, und seine fesselnden Reden mit ihrer geistigen Erhabenheit, ihrer jüdischen Gelehrsamkeit, dem originellen Gebrauch der Agada, die sowohl die Gefühle als auch den Intellekt ansprachen, erreichten die Herzen seiner Zuhörer. Trotz all seiner wohl eingeplanten Pausen, seines Aufstützens auf das Rednerpult, „seines Reichens der Hände, um nach der Predigt geküßt zu werden", war Jellineks Stil klar, einfach und überzeugend. In seiner Glorifizierung des Judentums und seiner spirituellen Einzigartigkeit lag ein prophetischer Funken, der an Mannheimer erinnerte, obwohl er nach seiner gescheiterten Kandidatur zum Niederösterreichischen Landtag 1861 weniger direkten Anteil am politischen Geschehen hatte als sein Vorgänger. Wie Mannheimer war Jellinek jedoch bemüht, die Einheit in einer Gemeinde zu erhalten, die ständig von einer möglichen Abspaltung der Orthodoxen bedroht war: Auch er widersetzte sich der Auslassung der Hinweise auf Zion im Gebetbuch, obwohl er jeglichen jüdischen politischen Nationalismus entschieden ablehnte.67 In gleicher Weise wandte er sich gegen die feindliche Hallung der Reformer gegenüber dem Talmud, den er vielmehr als die Verkörperung der jüdischen Liebe zu Bildung und Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen ansah. Für Jellinek war die talmudische Hinwendung zum Heiligen Wort, zu Wissen und religiösem Glauben ohne den Gedanken an Vorteile und Belohnung ein bewundernswerter jüdischer Charakterzug, der außerdem die Tugenden der Selbstbeherrschung, Genügsamkeit und Aufopferung für höhere geistige Werte, die das jüdische Volk kennzeichneten, gefördert hatte.68 Der Talmud illustrierte das Reich der

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Wahrheit und des Friedens, forderte die Pflege brüderlicher und göttlicher Liebe und stand allen Schichten des Volkes offen, ohne jedoch esoterisch zu sein. Er unterschied nicht zwischen Arm und Reich, zwischen den Mächtigen und den Machtlosen, sondern bekräftigte vielmehr die Überlegenheit geistiger und moralischer Werte gegenüber allen anderen. So war das traditionelle Ansehen, das talmudische Gelehrte, Talmudschulen und -lehrer in jüdischen Gemeinden genossen, ein Zeugnis für den egalitären Geist des Judentums. Jellineks Verteidigung talmudischer Gelehrsamkeit war umso bemerkenswerter, als diese von vielen „aufgeklärten" Wiener Juden offen abgelehnt und in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wieder zu einer zentralen Zielscheibe der österreichischen Antisemiten wurde. Indem sich Jellinek öffentlich gegen diese Vorurteile wandte, wollte er aufzeigen, daß die talmudische Ethik eigentlich zutiefst „kosmopolitisch" war und die Einheit der menschlichen Rasse verkündete, die seit der Zeit der Schöpfung einer gemeinsamen Wurzel und einem Stamm entsprungen war.69 Jellinek wandte sich auch leidenschaftlich gegen die Abschaffung des messianischen Gedankens im Judentum. Trotzdem verlieh er ihm eindeutig liberale und aufgeklärte Züge. Die Hebräer, so behauptete er, seien die ersten gewesen, die der Menschheit das Wissen von Gott, Menschenhebe, Güte und Moral vermittelt hätten; Jude zu sein, bedeute demnach im idealen Sinne, zu allen Menschen hebevoll, hilfreich und gütig zu sein.70 Im Gegensatz zum heidnischen Kult der Schönheit sei es die Aufgabe Israels gewesen und bleibe es auch weiterhin, Götzendienst, Macht, Willkür, Chaos und Narrheit vom Antlitz der Erde zu verbannen und stattdessen die Einheit der Schöpfung und der Menschheit auf der Grundlage von Ethik, Gerechtigkeit und Wahrheit zu verkünden. Israels Krieg gegen die heidnischen Götter sei ein harter, zäher und unbeugsamer Kampf gegen Grausamkeit und Barbarei gewesen. Für diese messianische Aufgabe als Licht unter den Nationen sei es auserwählt worden.71 Trotz der Diaspora und der ständigen Verfolgung hätte Israel seinen inneren Zusammenhalt, seine Einzigartigkeit und Einheit im Laufe der Weltgeschichte durch die Kraft dieser messianischen Vision aufrechterhalten.72 Gleichzeitig verüeh Jellinek dieser jüdischen Mission im Geiste der Aufklärung eine liberale humanistische und universalistische Deutung, er sprach im Namen religiöser Toleranz von der Gleichheit aller Glaubensrichtungen, der Brüderlichkeit des Menschen und von der Freiheit des Gewissens. Aus Anlaß des 100. Todestages von Moses Mendelssohn betonte er, daß die Botschaft der geistigen Veredelung, die Vervollkommnung der Menschheit und die Pflege der Menschenfreundlichkeit im Mittelpunkt der Aufklärung stünden. Mendelssohn habe das Kommen der „Himmlischen Stadt" der Gewissensfreiheit zu einer Zeit angekündigt, als die Juden durch ihre Mitmenschen nicht nur unterdrückt, erniedrigt, verabscheut und gehaßt wurden, sondern auch religiösem Zwang, willkürlicher Herrschaft und der Bestrafung

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durch Exkommunikation innerhalb ihrer eigenen Gemeinden unterworfen waren.73 Mendelssohns Forderung nach der Trennung von Staat und Religion, nach einer Beendigung aller klerikalen Sanktionen oder Doktrinen von Häresie und Ausschluß sowie sein Ruf nach Uberzeugung, Vernunft und Toleranz beinhalteten für Juden wie Christen gleichermaßen eine tiefe allgemeingültige Wahrheit. Er bleibe daher ein wichtiger Bezugspunkt des Lichtes, der Weisheit und der Gerechtigkeit nicht nur für Israel, sondern für die ganze zivilisierte Menschheit.74 Im Geiste der Mendelssohnschen Aufklärung glorifizierte Jellinek das Judentum als Fackel von Menschlichkeit, intellektuellem Fortschritt und moralischer Erhöhung für alle Nationen. Gleichzeitig war es auch dazu bestimmt, die messianische Religion der Zukunft zu sein.75 Hebräischer Monotheismus sei daher nicht nur ein Instrument für die ethische Veredelung der Menschheit, sondern würde sich auch als das ursprüngliche Vorbild für eine neue, gereinigte Weltreligion erweisen, die letztlich der gesamten Menschheit Frieden und Versöhnung bringen werde. 76 Im Gegensatz zum Katholizismus, der sich nach Jellineks fester Uberzeugung im Niedergang befand und dessen unaufhörliche polemische Angriffe gegen das Judentum ein ständiger Stachel im Fleisch der österreichischen Juden waren, versprach der israelitische Monotheismus eine glorreiche Vision eines Dritten Tempels, jenseits jedes trennenden Konfessionalismus - eine wahre Religion der Humanität, die allen Klassen und Rassen offenstand.77 Jellinek war sich jedoch sehr wohl des „Stammesbewußtseins" der Juden im Namen eines blutleeren, kosmopolitischen Begriffs der messianischen Rolle des jüdischen Monotheismus bewußt.78 Er wollte vielmehr dessen universalistische Ansprüche mit dem Partikularismus, der im jüdischen Leben und Gesetz verankert war, vermischen, um sein Humanitätsideal mit einem starken Sinn für ethnische Identität zu verbinden.79 Jellineks Stammesbegriff war nicht nur kein Vorläufer des weltlichen jüdischen Nationalismus, sondern vielmehr ein Versuch, den hebräischen Universalismus mit dem „Stammes"-Partikularismus so in Einklang zu bringen, daß die Kontinuität jüdischer Tradition und die Identität der modernen Zeit gewährleistet waren. Er hatte eine Abneigung gegen das exklusive Inselbewußtsein des östlichen orthodoxen Ghettos, aber auch gegen den oberflächlichen, „formlosen Universalismus" einer Reformbewegung, der „jeder innere Gehalt" fehlte.80 Nach Meinung Jellineks war der jüdische Stamm eine historische Kategorie, die nicht so sehr in biologischen oder unveränderlichen natürlichen Merkmalen, sondern vielmehr im Wesen hebräischer Religiosität und einer messianischen Idee des Judentums wurzelte, das mit dem modernen liberalen Streben nach universellem Fortschritt der Menschheit vereinbar war.81 Der jüdische Volksgeist sei tatsächlich eine Realität, die sich im Medium von Sprache, Literatur, religiöser Eigentümlichkeit, Geschichte, Ethik und vor allem im „Charakter" und im Ethos des jüdischen

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Volkes äußerte. Jellinek unterschied sorgfaltig zwischen „National-" und „Stammeseigentiimlichkeiten".82 In Derjüdische Stamm (1869) erklärte er, daß die Juden keine nationalen Merkmale an sich hätten, sondern die jeweiligen Charakteristika der Nation, innerhalb derer sie lebten, übernehmen würden. 85 Im Ghetto waren jüdische Partikularismen, die auf der Halacha und der Beachtung der Bräuche beruhten, aufgrund von Unterdrückung und fehlendem sozialem Umgang mit anderen Nationen dominant gewesen; bei Emanzipation und individueller Freiheit, bei kultureller Offenheit und Fortschritt würde die universalistische Polarität im Judentum gemeinsam mit seiner vorherrschend prophetischen, ethischen Ausdrucksweise die Oberhand gewinnen.84 Sowohl die talmudisch-rabbinische Zeit mit ihrem Dogmatismus und ihrer unentwegten Scholastik als auch die Kabbala mit ihrem mystischen Übernaturalismus hatten die einseitigen Polaritäten widergespiegelt, die durch die Herausforderung des Christentums, durch äußeren Druck und erzwungene Isolation geschaffen wurden. Jellinek war jedoch überzeugt, daß die moderne Zeit der Aufklärung und Toleranz enorme, ja grenzenlose Chancen biete, die es dem jüdischen Stamm ermöglichen werden, seine historischen Schwächen und Widersprüche durch den Kontakt zu anderen Nationen zu überwinden. Der scharfe Intellekt, der Witz, die Phantasie, die Aufnahmefähigkeit, die praktische Veranlagung und die Begeisterung der Juden, ihre Offenheit für zahlreiche Einflüsse als verstreutes Volk - sowie ihre „weiblichen" Qualitäten, wie Lebhaftigkeit, Gedankenschnelligkeit, Nachahmung und Anpassungsfähigkeit - hatten bereits auf zahllosen Gebieten kreativen Ausdruck gefunden.85 Sie würden sicherlich „die prädestinierten Vermittler" zwischen Ost und West werden, deren Versöhnung in einer höheren Einheit die begeisternde zukünftige Mission der Juden in der Diaspora werden würde.86 Jellineks glühender Optimismus bezüglich der positiven Auswirkungen von Aufklärung und Emanzipation hatte schon in einer berühmten Passah-Predigt, SchirhaSchirim (Hoheüed), leidenschaftlichen Ausdruck gefunden; sie wurde 1861 in der Leopoldstädter Synagoge nach der Proklamation des Februar-Patents des neuen liberalen Ministeriums von Anton von Schmerling gehalten. Er begrüßte die neue Verfassung mit seiner berühmt gewordenen Mischling aus religiösem und liberalem Pathos als „das Hohelied der Humanität, der völkererlösenden, völkerbefreienden Humanität". 87 Die österreichischen Niederlagen in Norditalien (1859) und die beginnenden Anzeichen einer Wiedergeburt der italienischen Nation waren tatsächlich die Vorboten für das Ende der absolutistischen Ära und ließen unter den Juden Hoffnungen auf eine endgültige Befreiung von ihren uralten Fesseln aufkommen. Jellinek machte sich zum Wortführer dieser Hoffnungen auf „Israels Auferstehung zu neuem Leben" und beschwor die Visionen des Propheten Ezechiel herauf.88 Das Jahr 1861 kündigte den Beginn einer neuen Epoche für die Wiener Juden an; die

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mittelalterlichen Ketten und veralteten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ihr Recht auf Grundbesitz, auf freie Meinungsäußerung und das Wahlrecht wurden langsam aufgehoben. Ebenfalls bezeichnend war, daß am 50. August 1861 Die Neuzeit {Wochenschriftfür politische, religiöse und Cultur-Interessen) als Organ fur die liberalen Wiener Juden gegründet wurde. Herausgeber waren Simon Szantö und der aus Böhmen stammende Schriftsteller Dr. Leopold Kompert. 89 Sie sollte dreißig Jahre lang Adolf Jellineks Sprachrohr und die wichtigste literarische Waffe bei seinen Bemühungen sein, das Judentum an die Erfordernisse des beginnenden liberalen Zeitalters anzupassen. 90 In einer bewegenden Lobeshymne auf „die neue, große und ruhmreiche Ära", die Jellinek anläßlich einer anderen Passah-Predigt (1863) hielt, begrüßte er überschwenglich die Zeichen, daß Osterreich das Joch des Mittelalters abschüttelte; daß die Monarchie endlich das Reich von Gerechtigkeit, Freiheit und Licht betrat, an dem die Juden auch als vor dem Gesetz gleichberechtigte Bürger vollen Anteil haben würden. Seine Predigten aus den 60er Jahren können als getreuer Spiegel der Sehnsüchte und Ideen der liberalen österreichischen Juden gesehen werden, die die Verfassung von 1867 dankbar als „das krönende Werk von Jahrhunderten" und als siegreiche Vollendung für ihr zähes Ringen um Emanzipation begrüßten. 91 Innere Unzufriedenheit mit Jellineks religiösem Liberalismus wurde in den orthodoxen Kreisen Wiens jedoch weiterhin laut, die durch seine freidenkerische Einstellung gegenüber der Einhaltung der Riten und durch seine offen zur Schau getragene Identifikation mit dem Reformwerk irritiert waren. Deren Anteil an Synagogenmitgliedern, vor allem in der Leopoldstadt, stieg weiter an, als sich die Zahl der Juden in Wien in den 60er Jahren der 40.000er-Marke näherte. Zu Beginn des Jahrzehnts war Mannheimer schon ein alter und kranker Mann, dessen mäßigender Einfluß auf die Gemeinde mit seiner nachlassenden Kraft abnahm; trotz seiner wunderbaren Ausdrucksweise und seiner wissenschaftlichen Verdienste hatte Jellinek jedoch nicht das gleiche Interesse oder verfügte nicht über eine ähnliche Autorität innerhalb der Gemeinde. Die Orthodoxen fühlten, daß nun die Zeit für den Gegenangriff gekommen war, und ihr Gefühl der Dringlichkeit wurde noch zusätzlich durch den Siegeszug des Liberalismus auf den meisten Gebieten des öffentlichen Lebens in Österreich und durch das wachsende Selbstbewußtsein der Laienführung der Kultusgemeinde verschärft, die auf Veränderungen in der Liturgie drängten. 92 Jellineks radikalster Anhänger, Simon Szanto (1819-1892), der aus Ungarn stammende Herausgeber der Neuzeit, der an den Reformsynoden von Leipzig und Augsburg teilgenommen hatte, wandte sich scharf gegen die Orthodoxen. Szanto, der Sohn eines Rabbiners, hatte während seiner Jugend in Talmudschulen eine streng religiöse Erziehimg erhalten. 1849 hatte er in Wien eine Knabenvolks- und Sekundärschule errichtet, wo jüdische und weltliche Fächer gelehrt wurden; es war dies

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die erste Schule dieser Art in Österreich, die berechtigt war, offiziell anerkannte Zeugnisse auszustellen. In der Folge wurde Szäntö zum Inspektor für jüdische Religion an öffentlichen Schulen und zum offiziellen Übersetzer der hebräischen Sprache ernannt. Auch lehrte er Bibelwissenschaft und hebräische Literatur an der Bet ha-Midrasch in Wien, die von Jellinek 1862 als ein Zentrum der jüdischen Wissenschaft gegründet worden war. Gepaart mit seinem ausdrucksstarken literarischen Stil verlieh dieser Hintergrund Szäntos Kampagne in der Neuzeit und anderen gegen die religiösen Konservativen gerichteten Zeitschriften zusätzliches Gewicht. Und doch war sogar Szäntö vorsichtig genug, Forderungen nach Veränderung mit dem Deckmantel der Sorge um die Tradition und die Wiederherstellung der historischen Grundsätze des Judentums zu verbrämen.95 Szäntos Mitherausgeber, Leopold Kompert (1822-1886), der durch seine plastischen Schilderungen des böhmischen Ghettos seiner Jugendzeit internationalen Ruhm erlangte, war eine weitere treibende Kraft in dem Reformfeldzug.94 In den 50er Jahren hatte Kompert begonnen, sich aktiv am bürgerlichen Leben Wiens zu beteiligen, und setzte sich als offizieller Vertreter der Kultusgemeinde für den liberalen Trend ein, der nun an Bedeutung gewann. Aufgrund eines Rechtsstreites, den die österreichische Regierung gegen ihn als Herausgeber des Jahrbuchsfür Israeliten anstrengte, zog er sich 1863/64 wegen seiner Ansichten die Feindschaft der orthodoxen Juden zu. Das Jahrbuch hatte einen Aufsatz mit dem Titel „Die Verjüngung des jüdischen Stammes" des bekannten deutschen Historikers Heinrich Graetz veröffentlicht, in dem dieser Israel als das leidende Messias-Volk bezeichnete und einige vernichtende Bemerkungen über das Christentum und den Begriff eines persönlichen Messias machte. Kompert war als Herausgeber von der Regierung (mit der Unterstützung von Ignaz Deutsch und dessen fanatischen Anhängern) beschuldigt worden, das orthodoxe Judentum herabzuwürdigen - wovon er letztlich freigesprochen wurde - und auch das Christentum zu beleidigen, wofür er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. 95 Obwohl Mannheimer und Lazar Horowitz zu seinen Gunsten ausgesagt hatten, indem sie anführten, daß es keine Sekten oder Abspaltungen im Judentum gäbe, veranlagte die Affare die orthodoxen Rabbiner, scharfe Widerlegungen und Proteste dagegen zu erheben, was sie als eine von der Reformbewegung inspirierte Abwendimg von dem Glauben an einen persönlichen Messias ansahen. Jellineks eigene Haltung zu religiösen Fragen wurde in orthodoxen Kreisen zunehmend kritisiert. Die Position der konservativen Kräfte wurde kurzzeitig durch die 1868 erfolgte Wahl des reichen Bankiers und orthodoxen Juden Jonas Freiherr von Königswarter (1807-1871) zum Präsidenten der Kultusgemeinde gestärkt.96 Es war teilweise auf seinen Einfluß und auf den zunehmenden Druck seitens der Orthodoxen zurückzufuhren, daß der konservative Rabbiner Moritz Güdemann (1835-1918) 1866 nach

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Wien zum Dienst in der Leopoldstädter Synagoge berufen wurde.97 Seine Ernennung und Einsetzung zum Rabbiner im Jahr 1869 (der erste religiöse Oberhirte in Wien seit der Vertreibung im Jahr 1670, der diesen Titel führte) trug im Endeffekt dazu bei, die orthodoxe Verstimmung zu besänftigen, da Güdemann eindeutig Jellineks Einfluß entgegenwirken und ausgleichen sollte.98 Die Entscheidung zur Ernennung Güdemanns spiegelte gleichzeitig - und nicht weniger bedeutsam - die demographische Auswirkung der traditionalistischeren jüdischen Zuwanderer aus Ungarn und Galizien wider, die den Charakter und die Struktur des Wiener Judentums allmählich veränderten.99 Kurz nach seinem Eintreffen in Wien wurde Moritz Güdemann mit Jellinek in einen Streit über die Gültigkeit einer Bekehrungszeremonie verwickelt, die ohne das rituelle Eintauchen ausgeführt worden war. Der Fall betraf die christliche Verlobte des Wiener jüdischen Neurologen Dr. Moritz Benedikt (der später ein berühmter Professor wurde), die ohne Untertauchen von dem deutschen Reformrabbiner Abraham Geiger konvertiert wurde. Der neo-orthodoxe Rabbiner der Heimatgemeinde des Arztes in Eisenstadt, Dr. Israel Hildesheimer, hatte sich geweigert, die Eheschließung zu bestätigen, sodaß die Zeremonie stattdessen durch Jellinek in Wien durchgeführt wurde. Güdemann unterstützte nicht nur die Position Hildesheimers, sondern machte auch deutlich, daß er die Neuerungen der Reformbewegung für ein trauriges Symptom der religiösen Dekadenz der Zeit erachtete.100 Güdemanns Einstellung gegenüber den jüdischen Gesetzen war viel strikter als jene Jellineks, obwohl er recht liberale Ansichten hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschimg vertrat. Güdemann war ein typisches Produkt der Wissenschaft des Judentums und verkörperte den neuen Typus des deutschen gelehrten Rabbiners. Er war am 19. Februar 1835 im Mittelschichtmilieu in Hildesheim in Preußen, nahe Hannover, geboren worden. Nach dem Besuch der jüdischen Grundschule trat er im Alter von acht Jahren in ein bischöfliches Institut ein, wo er von katholischen Priestern unterrichtet wurde, von denen zwei einen bleibenden Eindruck auf den Knaben machten. Dieser problemlose Umgang mit Nichtjuden und der fehlende Antisemitismus in seiner kindlichen Umgebimg verstärkten wahrscheinlich sein Gefühl, im deutschen Boden verwurzelt zu sein.101 Ab 1854 studierte er am Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar unter Dr. Zacharias Frankel, dem Historiker Heinrich Graetz und dem Gelehrten Dr. Jacob Bernays. Er besuchte auch Vorlesungen an der Universität Breslau über arabische, syrische und persische Literatur. Güdemanns Laufbahn als Rabbiner und Gelehrter wurde entscheidend durch den Charakter des Breslauer Seminars geprägt, das sein Interesse an historischer Forschung weckte, ihm eine kritische Methode und auch ein Gefühl vermittelte, wie das Judentum in den vergangenen Jahrhunderten auf die Herausforderungen einer nichtjüdischen Umgebung reagiert hatte. Seine Ausbildung in Philologie, in orienta-

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lischen Sprachen und seine islamischen Studien ermöglichten es Güdemann später, die arabische und hebräische Literatur des spanisch-jüdischen goldenen Zeitalters in seiner ersten bedeutenden wissenschaftlichen Arbeit, Das jüdische Unterrichtswesen während der spanisch-arabischen Periode (1875), zu rekonstruieren. Wie Ismar Schorsch bemerkte, hat das Studium der Errungenschaften des mittelalterlichen Judentums innerhalb der islamischen Zivilisation den scharfen Gegensatz zur Intoleranz des christlichen Mittelalters bewußt gemacht und sollte das Selbstbild des deutschen Judentums fördern. Die Faszination dieses Gebietes auf die Wissenschaftsgelehrten stand in eindeutiger Beziehung zum Kampf um Anerkennung, Selbstachtung und Emanzipation auf deutschem Boden.102 Auch Güdemanns Interesse an lokaler und kommunaler Geschichte der deutschen Juden hatte eine breitere, apologetische Funktion - nämlich zu beweisen, daß die Juden keine „Fremden" auf deutschen Boden waren, sondern daß deren Ursprung schon Jahrhunderte zurücklag und auf das frühe Mittelalter zurückging. Güdemanns bedeutendstes wissenschaftliches Werk, Die Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden (5 Bände, 1880-1888), war eine bahnbrechende Untersuchung der zugrundehegenden Strömungen und Institutionen mittelalterlichen jüdischen Lebens vor dem Hintergrund des nichtjüdischen Milieus.105 Es verschaffte ihm eine Spitzenstellung in der deutsch-jüdischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, und seine Bände markierten einen bedeutenden Wendepunkt in der Richtung der Sozial- und Kulturgeschichte, wobei es über seinen Mentor Heinrich Graetz hinausging, der sich auf literarisches und biographisches Material stützte. Es gelang Güdemann, das interne Leben des mittelalterlichen französisch-deutschen und italienischen Judentums zu rekonstruieren, indem er sich der Geschichte von unten näherte und jüdische Bräuche, Sitten, Aberglauben, Moral, Sprache und Literatur aus der Sicht der Gesellschaft, in der die Juden lebten, untersuchte.104 Er zeigte ein bislang unvermutetes Maß an harmonischer Koexistenz und sich gegenseitig befruchtenden Einflüssen zwischen Juden und Christen auf, wodurch viele anerkannte Kenntnisse über das Mittelalter revidiert werden mußten. Obwohl Güdemann die Bedeutung der sozioökonomischen Faktoren, der Pädagogik und der Gemeindeorganisation erfaßte, bestand er darauf, die jüdische Geschichte in erster Linie als eine religiöse Geschichte zu klassifizieren, und sprach ihr jeden nationalen oder politischen Charakter ab. Dies stand durchaus im Einklang mit seiner ideologischen Auffassung des Judentums, widersprach aber in vielerlei Hinsicht seinen kritischen Methoden und einigen seiner eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse.105 Güdemann war 1862 am Breslauer Seminar ordiniert und im gleichen Jahr zum Rabbiner in Magdeburg ernannt worden. Vier Jahre später wurde er Wiens zweiter Prediger, nachdem der Vorstand der Berliner jüdischen Gemeinde seine dortige Ernennimg aufgrund seines bekannten religiösen Konservatismus abgelehnt hatte.106

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Es war jedoch gerade diese vorsichtige Annäherung an das jüdische Gesetz und deren Einhaltung, die ihn für die gemäßigt liberalen fuhrenden Persönlichkeiten der Wiener Gemeinde nach Mannheimers Tod akzeptabel erschienen ließ. Angesichts des wachsenden Drucks seitens der orthodoxen Juden hoffte man, daß ein konservativer, gläubiger, deutsch gebildeter Rabbiner, dem die modernen kritischen Methoden der Wissenschaft vertraut waren, die beste Brücke zwischen den beiden feindlichen Lagern schlagen könnte. 107 Während seiner funfeig Amtsjahre lieferte der gelehrte Güdemann genügend Beweise, daß diese Erwartung berechtigt gewesen war, auch wenn seine Amtszeit nicht ohne Spannungen und Konflikte ablief. In der Gemeindekrise von 1872 bestand er beispielsweise darauf, die proponierte Einführung der Orgel oder den Vorschlag, die Zion betreffenden Passagen zu streichen, zurückzuweisen (die, wie er argumentierte, keine politische, sondern eine geistige Rückkehr Israels nach Zion behandelten); insbesondere verwarf er den Wunsch, Hinweise auf Opfer als eine inakzeptable Manipulation der Thora selbst wegzulassen. 108 Güdemann war bereit, gemeinsam mit Salomon Spitzer und dem Rabbiner der sephardischen Gemeinde in Wien, Reuben Baruch, wegen dieser Fragen sein Amt niederzulegen, bis der Gemeindevorstand schließlich nachgab.109 In späteren Jahren spielte Güdemann eine aktive Rolle bei der Entwicklung von Gemeindeeinrichtungen, wie der Österreichisch-Israelitischen Union (1886), und war an der Gründung der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt (1893) beteiligt. Seine Verbindung zur Österreichisch-Israelitischen Union gab teilweise wieder, was gegen Ende des 19. Jahrhunderts das zentrale Thema der Wiener Juden werden sollte, nämlich der Kampf gegen den Antisemitismus. Güdemann selbst beschäftigte sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit immer stärker mit der Widerlegung des akademischen Antisemitismus. Sogar in seinen rein wissenschaftlichen Arbeiten taucht dieses Rechtfertigungselement auf, das ihm durch die spürbare äußere Gefahr und die ständige Entstellung jüdischer Lehren durch christliche Wissenschaftler und antisemitische Demagogen praktisch aufgedrängt wurde. So schrieb er sogar in seiner Einführung zu der monumentalen Geschichte des Erziehungswesens, daß ihn die Notwendigkeit, den modernen antisemitischen Mythos der Verjüdung der deutschen Gesellschaft zu widerlegen, veranlaßt hätte aufzuzeigen, daß schon im Mittelalter starke gegenseitig befruchtende Einflüsse zwischen Juden und Christen bestanden hätten.110 Im zweiten Band fügte er seinen einleitenden Bemerkungen eine lange Fußnote hinzu, in der er auf die Vorwürfe des deutschen antisemitischen Orientalisten, Paul de Lagarde, einging, die den angeblich kosmopolitischen, merkantilen und verschwörerischen Charakter der Juden betrafen.111 Wie schon Jellinek vor ihm, war Güdemann äußerst empfindsam gegenüber christlichen Karikaturen des rabbinischen und talmudischen Judentums und der oft tendenziösen Darstellung der „höheren Kritik" (Hanack, Wellhausen, Kuenen usw.)

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auf diesem Gebiet.112 1906 widmete er diesem Thema eine ganze Abhandlung, die er Jüdische Apologetik nannte; sie sollte bewußt als Verteidigung des Judentums gegen dessen Verleumder dienen.113 Güdemann tat darin einige scharfe Äußerungen über die „wissenschaftliche" christliche Theologie und deren Negation der Einheit, Kontinuität und Integrität des Judentums als eine lebendige Tradition. Immer wieder kritisierte er die Unfähigkeit des Christentums, das Judentum als solches zu verstehen, die zentrale Bedeutung der mündlichen Uberlieferung und das jahrhundertelange Brauchtum einer gesamten Gemeinschaft zu erfassen, ebenso wie ihr paulinisches Mißverständnis der Thora als rigiden juristischen Dogmatismus.114 Für Güdemann war es ebenso wichtig, den Universalismus, Humanismus und Idealismus des monotheistischen jüdischen Glaubens zu betonen;115 Partikularismus, Stolz auf Herkunft, ethnisches Selbstbewußtsein oder Exklusivität gab es nicht, da das Judentum, wie er betonte, keine nationale Religion im modernen Sinne sei. Israel war immer eine Religionsgemeinschaft und kein Volk gewesen, formulierte er treffend in einer eindeutigen Anspielung auf die Rassenideologie der zeitgenössischen Antisemiten, die die Juden ihrer Rechte berauben wollten.116 Auch der Zionismus stand im offenen Widerspruch zu Güdemanns einseitig idealisierender und anationaler Deutung der Thora, der jedes partikularistische, ethnische oder historische Merkmal entzogen wurde, ganz zu schweigen von jedweder physischen Verbindung zum Verheißenen Land Israel.117 Die nationale Geschichte Israels hatte keine Bedeutung per se; sie war nur ein Präludium zur Anerkennung des Einen Gottes durch die Nationen, eine Vorbereitung auf die Herrschaft der universellen Bruderschaft und des Göttlichen Königtums über die ganze Menschheit. Güdemanns apologetische Arbeiten erfüllten trotz ihrer eindeutigen Schwächen dennoch eine wichtige und notwendige Aufgabe bei der jüdischen Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus. Seit 1891 hatte er die Stelle des Oberrabbiners von Wien inne und wurde drei Jahre später, nach Jellineks Tod, zum geistigen Oberhaupt einer Gemeinde von über 100.000 Seelen, wobei es ihm gelang, diese trotz ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt intakt und formal einheitlich zu erhalten. Dessen ungeachtet überstiegen die durch die explosiven Nationalitätenkonflikte, durch den überragenden Erfolg des politischen Antisemitismus in Wien und durch das Aufkommen des militanten jüdischen Nationalismus entstandenen Probleme eindeutig seine Fähigkeiten. Da Güdemann seinem Wesen nach ein apolitischer Mensch war, der sich bei den meisten brennenden öffentlichen Tagesproblemen außerordentlich zurückhielt, fühlte er sich in dieser Beziehimg überfordert. Obwohl ein guter Redner, fehlte ihm doch die charismatische Erscheinimg eines Mannheimer und Jellinek ebenso wie die Fähigkeit zu polemisieren; beim offenen Kampf gegen den neuen völkischen Antisemitismus überließ er daher dem kämpferischen und militanten galizischen Rabbiner Dr. Josef Samuel Bloch gerne das Feld.118

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Bei der einzigen Gelegenheit, bei der Güdemann sich an einer wichtigen politischen Kontroverse in der jüdischen Gemeinde beteiligte - nämlich bei seinen komplexen Verhandlungen mit Theodor Herzl und der zionistischen Bewegung - , war das Ergebnis eine Tragikomödie von Mißverständnissen, Fehlern und gegenseitigen Vorwürfen. Auf diese Episode soll noch gesondert eingegangen werden, zum jetzigen Zeitpunkt erscheint jedoch vielleicht eine Bemerkung in Herzls Tagebuch am 26. März 1896 über dessen Enttäuschung bezüglich Rabbi Güdemann angebracht. Herzl bemerkte sarkastisch: „Der Verleger Breitenstein erzählt mir, Güdemann habe es abgelehnt, einen Vortrag über meinen ,Judenstaat' zu halten. Mein Standpunkt sei ein staatspolitischer, der seinige ein religiöser. Von diesem aus müsse er es mißbilligen, daß ich der Vorsehung vorzugreifen versuche. Mit anderen Worten: er traut sich nicht, er findet es nicht mehr opportun, er hat Angst vor den reichen Juden, die dagegen sind."119 In seinen Erinnerungen streitet Güdemann entschieden ab, von den führenden Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Wien unter Druck gesetzt worden zu sein, den Zionismus abzulehnen. Wie dem auch sei, aus seinem eigenen Bericht geht hervor, daß Güdemann große Schwierigkeiten bei der Entscheidung hatte. Eine Zeitlang war er von Herzls charismatischer Persönlichkeit und von dessen grandioser Vision fasziniert, die zeitweise sogar die Oberhand über Güdemanns langjährige Ablehnung des Nationalismus gewann. Der Oberrabbiner war schließlich kein Politiker, sondern ein orthodoxer Jude und Wissenschaftsgelehrter der deutschen Schule. Die politischen Ansichten, die er hegte, unterschieden sich kaum von jenen des Großteils des Wiener jüdischen Bürgertums - denn sie waren liberal, antizionistisch, deutschfreundlich und dem Reich ergeben. 120 Solange er Herzls Vorhaben nur für eine Aktion „für die Wiener Juden" gegen den Antisemitismus hielt, stand er diesem tatsächlich wohlwollend gegenüber; sobald ihm aber die internationalen Dimensionen von Herzls Plänen zum Exodus der Juden aus Europa klarer zu Bewußtsein kamen, fühlte er sich nach eigenen Angaben verwirrt und überfordert. 121 Güdemann konnte nicht akzeptieren, daß Juden in Deutschland oder Osterreich anders als deutsch fühlten sollten. In seinen Erinnerungen bekannte er, daß er nicht verstehe, wie sich Herzl als ein Produkt deutscher Kultur der jüdischen Nation zugehörig fühlen sollte. Warum sollte sich ein Jude, vor allem einer ,der das Glück gehabt hatte, eine deutsche Erziehung zu erhalten, „sich vom eigenen Boden entwurzeln?" 122 Dies war ein Standpunkt, den die meisten deutschen Juden im Wien des Fin de Siecle teilten, obwohl sie ihn nicht notwendigerweise mit der spirituellen „Mission" des Judentums in der Diaspora und dem transzendenten Universalismus des hebräischen monotheistischen Glaubens erklärten.

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Die Zeit des Wirkens von Mannheimer, Jellinek und Güdemann, drei der bedeutendsten modernen Rabbiner ihrer Zeit, umfaßte nahezu das ganze 19. Jahrhundert und bestimmte großteils das geistige Profil der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Der Tod jedes dieser Verteidiger des jüdischen Glaubens symbolisierte den Wendepunkt einer Ära. Mannheimer widmete sein Leben dem Kampf um die jüdische Emanzipation und starb 1865 am Vorabend ihrer Vollendung. Jellinek führte die Aufsicht über die durch Emanzipation und Assimilation erfolgte Umwandlung imd paßte das Judentum an die Bedürfnisse einer neuen, liberalen Epoche bürgerlicher Gleichheit, Freiheit und religiöser Toleranz an. Sein Tod im Jahr 1893 erfolgte unmittelbar bevor der Wiener Liberalismus dem Angriff von Luegers antisemitischen Kohorten erlag. Der konservativere Güdemann hielt die Gemeinde in den letzten Jahren des Reiches zusammen, und sein Tod 1918 fiel mit dem Todesröcheln der Habsburgermonarchie zusammen. Schon 1907 schrieb Oberrabiner Güdemann folgendes an eine wohlmeinende Christin: „Hätte ich vor 60 Jahren in meiner Vaterstadt Hildesheim in Preussen ... auf die Frage nach meiner Nationalität geantwortet ,Ich bin Jude', so würde man mich ... für verrückt erklärt und mir gesagt haben: ,Du bist nach Deiner Nationalität Deutscher, ein Jude bist Du nur nach Deiner Religion.' Was ist geschehen, dass dies jetzt anders sein soll? Hat man erst jetzt entdeckt, dass semitisches Blut in meinen Adern rollt?"123 Diese drei großen Persönlichkeiten kamen als Prediger und Rabbiner in der Hauptstadt eines römisch-katholischen Staates zu Ruhm, wo der Schutz der herrschenden Religion eine Angelegenheit großen öffentlichen Prestiges war. Sie mußten kämpfen, um die Würde des jüdischen Glaubens nicht nur gegen das offizielle Vorurteil und den allgemeinen Antisemitismus, sondern auch gegen die wachsende Gleichgültigkeit seitens der Juden und die Ignoranz seiner wichtigsten Grundsätze zu behaupten. Sie mußten einer Laienführung dienen, die entschlossen war, die ausschließliche Kontrolle über die Gemeinde auszuüben und die Rolle der Rabbiner auf jene von Instrumenten ihrer eigenen sozialen Ansprüche bzw. von Wächtern ihres „Kults" zu reduzieren. Die großartigen Synagogen, die prächtigen Friedhöfe, die gut organisierte Bestattungsgesellschaft, die Krankenhäuser, die Altenheime, die Blinden- und Taubstummeninstitute, dies alles war eine Huldigung an die Effizienz dieses „offiziellen" Judentums und an die Fähigkeit der Wiener Juden, großzügig Wohltätigkeit zu üben. Aber trotz einer Vielzahl an Bildimgseinrichtungen, wie einigen Kindergärten, einer Talmud-Thora-Schule, einer Bet ha-Midrasch (1862) und einer Jüdisch-Theologischen Lehranstalt (1865) war die Masse der Juden Wiens von religiöser Erziehung wenig geprägt. Trotz der tapferen Versuche Mannheimers, Jellineks und Güdemanns, ihren aufgeschlosseneren Glaubensbrüdern die Gelehrtentraditionen der deutschen Wissenschaft nahezubringen, erwies sich Wien letztlich nicht als fruchtbarer Boden für moderne jüdische Erziehung und Bildimg.

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Die offiziellen Vertreter der Kultusgemeinde und ihre vielen bedeutenden und weniger bekannten Rabbiner kämpften in der liberalen Ära schon eine zum Scheitern verurteilte Zermürbungsschlacht gegen die Verführungen der größeren Gesellschaft und der weltlichen europäischen Kultur. Eine Zeitlang vermochten die feurige Rhetorik und religiöse Inbrunst der bekannten Wiener Prediger gegen den Strom der Zeit anzukämpfen. Wie sich aber ein scharfsinniger Beobachter des Geschehens erinnerte: „Es strömten große und interessierte Zuhörerscharen zu diesen Predigten, als ob sie Theaterauffiihrungen wären, trotzdem war das jüdische Wien, das kultivierte Wien, das gebildete Wien eigentlich gar nicht an Rabbinern oder dem Judentum interessiert. Die Wiener Juden hatten - äußerst starkes und aktives - Interesse an allgemeiner Kultur, nicht an jüdischer Kultur".12''' An dieser Beurteilung ist viel Wahres, auch wenn sie nicht der ganzen Wahrheit entspricht. Die Zwangslage, in der sich Mannheimer, Jellinek und Güdemann befanden, und die scheinbar trivialen Konflikte zwischen Orthodoxie und Reformströmungen, denen sie sich gegenübersahen, waren Teil eines tieferen, universelleren Problems, das alle Juden der modernen Zeit betraf. Wie konnte jüdische Kultur und Identität in einer pluralistischen, freien und offenen Gesellschaft unter den Bedingungen von Emanzipation, Akkulturation und Säkularisation am besten aufrechtcerhalten werden? Was bedeuteten das Judentum und seine Traditionen im Zusammenhang mit Aufklärung und bürgerlicher Gleichheit? Wie konnte die jüdische Gemeinde, die sich lediglich „konfessionell" definierte, die Belastungen und internen Konflikte überleben, die aus der ungleichen Geschwindigkeit im Modernisierungsprozeß unter ihren in Klassenzugehörigkeit, Kultur und regionalem Hintergrund divergierenden Mitgliedern resultierten? Und schließlich, was hatte das Judentum zu den verschiedenen politischen Optionen zu sagen, die sich den Juden in einer sich modernisierenden mitteleuropäischen Gesellschaft eröffneten, einer Gesellschaft, die selbst durch religiöse, klassenspezifische und ethnische Konflikte zerrissen wurde? Mannheimer, Jellinek und Güdemann versuchten jeder auf seine Weise, geistige Anleitung und moralische Führung zu diesen Fragen zu geben, sie konnten sie jedoch ebensowenig lösen, wie ihre eher weltlich ausgerichteten Zeitgenossen unter den österreichischen Juden. Und diesen müssen wir uns nun zuwenden.

5. Liberalismus, Deutschtum und Assimilation Der deutsche Geist wohnt auf Alpenhöhen, aber das deutsche Gemüt keucht infeuchten Marschländern. In unserem Herzen ist holländische Schleimblütigkeit, reine Bergluft betragt ihm nicht. Traurig, daß es so ist; denn nicht der Geist, das Herz macht frei... Ludwig Börne (1832) Die Juden deutscher Kultur, deren Jünglings- und erstes Mannesalter in die Zeit der Herrschaft liberaler Ideen fiel, haben sich mit aller Wärme ihres Herzens der deutschen Nation angeschlossen. Sie liebten ihr Deutschtum zärtlich und haben dem deutschen Volke wie dem Gedanken der bürgerlichen Freiheit aufopferungsvoll treue Dienste geleistet. Sie schmiegten sich der deutschen Nation in Kämpfen und Leiden eng an-zu eng, wie es scheint. Dann plötzlich begann man sie abzuschütteln. Plötzlich hieß es, sie seien Parasiten, die den Stamm aussaugen. Sie waren mit einem Ruck nicht mehr Deutsche, sondern Juden. Theodor Herzl (1897) Wer hat die liberale Bewegung in Österreich geschaffen? ... Die Juden!... Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Bewegung in Österreich geschaffen, die Juden. Vom wem sind die Juden im Stich gelassen ... was sage ich, im Stich gelassen ... bespuckt worden wie die Hunde?... von den Deutschen! Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie (1908)

S C H O N SEIT DEN R E F O R M E N KAISER J O S E F S I I . GEGEN E N D E DES 1 8 . J A H R H U N -

derts hatte sich das österreichische Judentum immer stärker mit der deutschen Sprache und Kultur identifiziert. Die Sprachenverordnung Josefs II., die Juden zwang, wo immer sie auch im Vielvölkerstaat lebten, deutschsprachige Schulen zu errichten und ihre inneren Angelegenheiten in deutscher Sprache zu regeln, hatte weitreichende Auswirkungen. Nicht nur die Wiener Juden, sondern auch sehr viele böhmische, mährische, bukowinische und ungarische Juden wurden zu Angehörigen der deutschen Kultur und sonderten sich dadurch noch mehr von der einheimischen Bevölkerung ab, unter der sie lebten. Sogar in Galizien mit seinem vorwiegend polnischen und ukrainischen Charakter gab es bedeutende Enklaven deutschsprachiger, gebildeter Juden, und die kulturelle Assimilation nach deutschem Vorbild machte unter den Maskilim in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Fortschritte. Osterreichische Juden identifizierten sich schließlich allgemein mit einem aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammenden aufgeklärten, kosmopolitischen Paradigma

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eines Deutschtums, dessen Vorbilder Goethe, Kant, von Humboldt, Lessing und Schiller waren;1 mit einer Idealvorstellung von Deutschland und der Macht der Bildung, die ihren Optimismus, ihren Glauben an Kultur und Humanität zum Ausdruck brachte. Bildung und Aufklärung, die sich im deutschen Vorbild vereinigten, waren die Schlüssel zur jüdischen Emanzipation in Mitteleuropa und der zentrale Mythos, der die jüdische Existenz und Identität nach deren Erreichen aufrechterhielt.2 Wie George Mosse erklärt hat, wurde der Begriff der Bildung tatsächlich fiir viele Juden „gleichbedeutend mit ihrem Jüdischsein" und war gleichzeitig das wichtigste Mittel für deren Integration in die deutsche Mittelklassegesellschaft.3 Außerdem waren deutsche Kultur und deutsche Schulen eindeutig der Schlüssel zu wirtschaftlichem Fortschritt und sozialem Aufstieg in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, ein essentieller Faktor, der die Juden aus Böhmen und Mähren, der Bukowina und dem Adriahafen Triest gleichermaßen beeinflußte. In Böhmen und Mähren veranlaßte die anhaltende Nachwirkung der josefinischen Reform die Juden dazu, lange Zeit den in ihrer Umgebung stattfindenden Tschechisierungsprozeß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in Städten wie Prag und Pilsen, zu ignorieren oder abzulehnen.4 Vor 1914 zog die große Mehrheit der Prager Juden deutsche Volks- und Sekundärschulen den tschechischen Schulen vor; im allgemeinen übernahmen sie die Werte und Ideale ihrer deutschen Nachbarn und die Kultur des deutschsprachigen Bürgertums Österreichs5: Die Vorherrschaft des Deutschen als Staatssprache in der gesamten Monarchie, als Sprache der Geschäftswelt, des öffentlichen Erziehungswesens und der weltlichen Bildung schien für die österreichischen Juden des 19. Jahrhunderts genügend Anreiz zu bieten, sich mit dem deutschen Bürgertum der Monarchie zu identifizieren. Dies galt sogar für Ungarn, trotz seines starken sprachlichen Nationalbewußtseins und trotz der Bereitschaft seines herrschenden Adels, den Status der Juden zu verbessern und deren Assimilation in die magyarische Nation zu fordern. Noch 1870 war das ungarische Judentum zahlenmäßig sozusagen die größte deutschsprachige jüdische Gemeinde in Europa. Deutsch war vor der magyarischen Literaturrenaissance die Sprache berühmter ungarischer Denker und Dichter im frühen 19. Jahrhundert gewesen. Deutsch wurde tatsächlich von jedem gebildeten Ungarn gesprochen. Sowohl Theodor Herzl als auch Max Nordau schrieben, obwohl sie in Budapest geboren wurden, natürlich Deutsch, das wesentlich mehr Möglichkeiten in Richtung einer umfassenderen europäischen Kultur eröffnete.6 Sogar nach 1890, als der Magyarisierungsprozeß sich bereits durchgesetzt hatte, war Deutsch für fast zwei Drittel der Juden in den westlichen Gebieten der von Ungarn beherrschten Slowakei weiterhin die Muttersprache. Dieses Festhalten an der deutschen Sprache ist umso bemerkenswerter, bedenkt man die enge Verbindung zwischen der jüdischen Emanzipation und dem liberalen magyarischen Nationalismus seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts

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und die demographische Stärke der jiddisch sprechenden orthodoxen chassidischen Juden in Ungarn.7 Im Fall Galiziens wandte sich die der Moderne zustrebende jüdische Elite ebenfalls nach Wien als der kulturellen Hauptstadt, obwohl nach 1867 vor allem unter den Juden des östlichen Teils der Provinz eine signifikante Verschiebung zugunsten einer polnischen Ausrichtung stattfand.8 Assimilationistische Tendenzen, ob nun dem Charakter nach deutsch oder polnisch, wurden jedoch durch die stärkere Strömung der chassidischen Orthodoxie und den größeren osteuropäischen Zusammenhalt der galizisch-jüdischen Gemeinde eingeschränkt.9 In der Bukowina hingegen, mit ihrem Vielvölkergleichgewicht zwischen Rumänen, Ukrainern, Deutschen, Polen und Juden (1910 stellten diese ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Provinzhauptstadt Czernowitz), konnte Deutsch seine zentrale Rolle als Verwaltungs-, Verkehrssprache sowie als Sprache des öffentlichen Bildungswesens beibehalten. Insbesondere das jüdische Bildungsbürgertum sah sich als Träger deutscher Kultur in dieser entlegenen nordöstlichen Randlage des Reiches, deren Charakter durch das deutschsprachige Staatsgymnasium und durch die 1875 in Czernowitz gegründete Franz-Josephs-Universität symbolisiert wurde.10 So ist es typisch, daß der österreichische Schriftsteller Karl-Emil Franzos die bukowinischen Juden als erfolgreiche Beispiele westlicher Kultur und deutschen Geistes in der „halbasiatischen Kulturwüste" des kaiserlichen Hinterlandes ansah, auch wenn diese ihre jüdische Nationalität beibehalten hatten.11 Erst Ende des 19. Jahrhunderts machte dieses enthusiastische „Deutschtum" mit seiner liberalen politischen Ausrichtung einer starken jüdischen Nationalbewegung Platz.12 Die deutsche Kultur war eigentlich schon lange vor 1848 für jüdische Masküim im gesamten habsburgischen Herrschaftsgebiet zum normativen Ausdruck für Europäertum und Aufklärung geworden. Deutsche Bildung und die Berliner Haskcda auf dem Gebiet jüdischer Gelehrsamkeit wurden allgemein als Weltanschauung und nachahmenswertes Vorbild anerkannt. In der Tat wurde die gesamte jüdische Moderne in Österreich, der Ubergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft, von den engen Grenzen des Ghettos zu Wohlstand, Status, Kultur und sozialer Akzeptanz in der nichtjüdischen Welt hauptsächlich durch das Tor eines kosmopolitischen Deutschtums ermöglicht.15 Im Falle der Wiener Juden lagen die Gründe für eine deutschfreundliche Ausrichtung im großen und ganzen klar auf der Hand. Obwohl Wien die Hauptstadt und der Mittelpunkt eines Vielvölkerreiches war, war es im wesentlichen noch eine deutsche Stadt und das bedeutendste Zentrum deutscher Macht und kulturellen Einflusses, der bis in die weitest entfernten Winkel der habsburgischen Länder ausstrahlte. Für ihre Glaubensbrüder in Budapest, Prag, Krakau, Lemberg, Czernowitz, Triest und die entfernten Gebiete der Monarchie waren die Juden Wiens die natürliche

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Verkörperung des deutsch-österreichischen Modernisiemngsmusters, auch wenn die zentrifugalen Kräfte des einheimischen Nationalismus diese kulturellen Bande im Laufe des 19. Jahrhunderts teilweise schwächten. Wir haben bereits die Bedeutung von Mannheimers Wiener „Ritus" und dessen moderne Anpassung der deutschen Reform an die Gottesdienste und die Liturgie der österreichischen Provinzen erwähnt. 14 Nicht weniger bemerkenswert und auf den ersten Blick widersprüchlich ist die Tatsache, daß Wien in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auch zu einem Zentrum einer hebräischsprachigen Haskala und deren Verbreitung in den habsburgischen Gebieten, insbesondere nach Galizien, wurde. 15 Mehr als jede andere deutsche Stadt pflegte Wien eine hebräische literarische Kultur, die von der Berliner Haskala inspiriert war. Und so wurde diese Stadt nach den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Veröffentlichung von hebräischen Büchern - der Bibel in verschiedenen Ausgaben, des Talmud, Midrasch, Schulchan Aruch und Gebetbüchern, aber auch von Arbeiten Maimonides', Nachmanides', Eybeschütz', Wesselys und anderen. Hier wurde von dem aus Polen stammenden Schalom ben Jacob Cohen, der 1810 nach Wien kam, die erste hebräische Zeitschrift im österreichischen Reich herausgegeben, BikkureiHa'Ittim („Die Ersten Früchte") (1820-1851), die gleichzeitig ein bedeutendes Forum der galizischen Haskala war. 16 Cohen, eine zentrale Figur in der frühen modernen hebräischen Dichtkunst nach Naftali Herz Wessely (dessen Berliner Kreis er angehört hatte), hatte zuvor die letzten drei Bände von Mendelssohns Ha-Meassef, der Wiege der Haskala-Bewegang, veröffentlicht und redigiert. Außerdem wurde in Wien neben der Bikkurei Ha'Ittim auch das hebräischsprachige Jahrbuch der galizischen Haskala, Kerem Hemed („Köstlicher Weinberg") (1833-56) herausgegeben, das deren verschiedene Aspekte reflektierte - humanistische und wissenschaftliche Studien, die Wiederbelebung des Hebräischen, scharfe Kritik an der chassidischen Bewegung und am jüdischen Mystizismus. Zu seinen Mitarbeitern gehörten so fuhrende Maskilim wie S. D. Luzzato, Josef Perl, Salomon Judah Rapoport und die Pioniere der deutschen Wissenschaft Zunz und Geiger. 17 Bezeichnenderweise wurde ein Kapitel von Nachman Krochmals berühmtem philosophisch-historischem Werk, More Newuche ha-Seman („Führer der Verirrten dieser Zeit") zuerst im Kerem Hemed veröffentlicht. Viele der frühen Wiener Maskilim stammten aus Galizien und waren Angestellte in Druckereien der Hauptstadt oder Privatlehrer, die in den Häusern der reichen „tolerierten" Juden unterrichteten. Da diesen Gelehrten als Schriftsetzern und Korrektoren Hebräisch, Aramäisch und Jiddisch vertraut waren, konnten sie sich in Wien ihren Lebensunterhalt verdienen und machten es zu einem Zentrum der Verbreitung hebräischer Kultur in der Monarchie. Juda Leb Ben-Zeev (1764-1811), einer der ersten dieser galizischen Zuwanderer, lehrte als erster Hebräisch als le-

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bende Sprache.18 Er war ein Vorkämpfer moderner hebräischer Grammatik und Lexikographie, und seine beiden Hauptwerke, Talmud Laschon Ivri (System der Hebräischen Sprache) und Otzar Ha-Schoraschim (Wörterbuch der Wurzeln), stellten einen Meilenstein in der Anwendung westlicher Forschungsmethoden auf das Studium des Hebräischen dar.19 Ben-Zeev war, wie andere Wiener Maskilim auch, in der hebräischen Druckerei des österreichischen kaiserlich-königlichen Verlegers Anton von Schmid angestellt, der von der Vorschrift profitierte, derzufolge Juden aus dem Druckereigewerbe ausgeschlossen waren, diese aber verpflichtet waren, nur in Osterreich gedruckte Bücher zu kaufen.20 Seine hebräische Druckerei machte sich dieses Monopol zunutze und hatte einen großen jüdischen Markt in der Monarchie, da hebräische Gelehrte und Dichter von Prag, Lemberg und Brody bis Padua, Triest und Görz ihre Manuskripte nach Wien zur Veröffentlichung sandten. So wurde Wien im frühen 19. Jahrhundert zum Schnittpunkt des westlichen und osteuropäischen Judentums mit Hebräisch als Lingua franca des literarischen Lebens, wie dies in Deutschland oder Westeuropa nicht mehr möglich war. Das Forum, das diese Wiener Zeitschriften vor allem hebräischen Gelehrten und Schriftstellern aus Galizien boten, forderte letztlich einen wachsenden Zustrom gebildeter Juden aus Galizien und machte diese mit der modernen europäischen Kultur bekannt. Wie schon Meir Henisch schrieb, „arbeiteten sie auf eine Synthese des historischen Judentums mit den neuen Wissenschaften hin, und schufen so eine Basis für die Wiederbelebung der hebräischen Sprache und der hebräischen Literatur".21 Als daher der russische Maskä Perez Smolenskin 1868 in Wien seine jüdische nationalistische Zeitschrift Ha-Schachar („Die Morgendämmerung") gründete, waren die Grundlagen für eine hebräischsprachige Kultur in der Kaiserstadt bereits gelegt worden. Nichtsdestoweniger hatte die frühe, in Wien ansässige Haskala, wie ihr Berliner Vorbild, keinerlei nationalen Charakter, sie wollte vielmehr zwischen der jüdischen und der deutschen Kultur vermitteln. Ein typisches Produkt der galizisch-österreichischen Haskala war der hebräische Dichter und Autor Meir Letteris (18001871), der auch als Lektor in der Druckerei Anton von Schmids (wie auch in Prag und Preßburg) arbeitete. Als äußerst fruchtbarer Ubersetzer von europäischer Literatur ins Hebräische (darunter auch so weltberühmter Klassiker wie Goethes Faust und Lessings Nathan der Weise) trug Letteris zur Einfuhrung einer modernisierten hebräischen Kultur im österreichischen Galizien neben dem Deutschen bei. Gemeinsam mit Isidor Busch war Letteris auch der Mitherausgeber des Österreichischen Central-Organsfür Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden, das im März 1848 erstmals erschien und sich die radikalliberalen Forderungen der Wiener Juden zu eigen machte.22 Später wandte sich Letteris von diesem Radi-

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kalismus ab und gab die deutschsprachigen Wiener Mitteilungen (1854-1869) und eine Reihe anderer Zeitschriften in Wien heraus, die sich an die größere Allgemeinheit wandten. Die von ihm versuchte Synthese von österreichischem Patriotismus mit deutscher und hebräischer Kultur wurde zwar mit einer kaiserlichen Goldmedaille ausgezeichnet, verlor aber in der freieren Atmosphäre der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung, als sich die bürgerliche Gleichstellung durchsetzte und die liberalen deutschen Wertvorstellungen unter den habsburgischen, und vor allem den Wiener Juden vorherrschten. 23 Das literarische Schaffen der Wiener und galizischen Maskilim übte keinerlei nennenswerten direkten Einfluß auf die Juden Wiens aus, die nie mehr als eine Minderheit der Abonnenten ihrer Zeitschriften gestellt haben dürften. Dennoch versuchten die geistigen Führungspersönlichkeiten des Wiener Judentums - Mannheimer, Jellinek und Güdemann - die Liebe zur heiligen Sprache und die Verbreitung hebräischer Kultur zu fordern, da sie diese eher als Ergänzung denn als Widerspruch zum Geist der deutschen Wissenschaft und Bildung ansahen. 24 Vor allem Jellinek pries die Vorzüge der hebräischen Sprache als treuen Verbündeten im heiligen Kampf für den guten Namen, die Ehre und Freiheit Israels.25 Er bediente sich ihrer für die Apologetik und erklärte in einer Rede in Wien im Jahr 1881, daß die heilige Sprache über ein reiches Arsenal von Vorstellungen verfuge, mit der die Verleumdungen von Israels Feinden widerlegt werden könnten. Wie jede Sprache das Spiegelbild „der Seele eines Volkes" sei, so gäbe auch das Hebräische den freiheitsliebenden Charakter, die hohen moralischen Ansprüche, die Ernsthaftigkeit, Würde und Menschlichkeit der Israeliten in ihrem historischen Kampf gegen Sklaverei und Unterdrückung wieder. Sie sollte nicht studiert werden, um gesprochen zu werden, wie dies an den jüdischen Schulen in Jerusalem versucht werde, oder um das geteilte Vaterland mit einer weiteren Sprache zu bereichern, sondern vielmehr um den jüdischen Geist zu fördern und zu ehren. 26 Die Bemühungen jüdischer weltlicher Nationalisten, wie Smolenskin oder Ben-Yehuda, das Hebräische wieder als lebende Sprache aufleben zu lassen, wurden von den Wiener Rabbinern als unwichtig abgelehnt. Für Jellinek war das Hebräische in erster Linie eine literarische und historische Waffe der Aufklärung im Kampf um die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte für die Juden, auch wenn es den ursprünglichen Charakter des jüdischen Volkes in seiner vormaligen Reinheit getreu wiedergab. Die Sprache könne als Juwel in der Krone von Jellineks glänzender Rhetorik dienen, als Mittel einer jüdischen nationalen Wiederbelebung würde sie nur die größte Ablehnung hervorrufen. Nicht weniger entschieden wies der fuhrende Prediger Wiens das „Phantom" einer „jüdischen Nationalität" zurück, das in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts von osteuropäischen hebräischsprachigen Zeitschriften wie Hamagid

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(Lyk), Hameliz (St. Petersburg) oder Hazefirah (Warschau) vorgebracht wurde. „Eine Genossenschaft, die in allen Weltgegenden zerstreut lebt und die Sprachen aller Völker redet, kein selbständiges Territorium besitzt, kein unabhängiges politisches Gemeinwesen bildet, hat durch die Macht der Zeit alle Elemente eingebüßt, welche die Merkmale einer Nationalität ausmachen."27 Es stimme, daß die Juden einen bestimmten Stamm bilden, daß sie die gleiche Religion ausüben, daß sie eine gemeinsame Vergangenheit und gemeinsame Ideale für die Zukunft teilen, sie seien aber nicht durch nationale Bande miteinander verbunden. Solange der hebräische Journalismus Osteuropas Kultur und Bildung unter den Juden, die keine europäischen Sprachen lasen, zu verbreiten versuchte, war dies eine notwendige Aufgabe. Aber in ihrer Phantasie lebt „das Phantom einer jüdischen Nationalität, deren Fahne sie aufpflanzen und für deren Erhaltung und Belebung sie mit glühendem Eifer einstehen" - und diese Kräftigung eines jüdisch-nationalen Bewußtseins könne nur „den Kampf gegen den Antisemitismus erschweren".28 Assimilation bedeutete für Jellinek weder die Preisgabe religiöser jüdischer Lehren, historischer Feste oder traditioneller Zeremonien, noch die Absage an die ruhmreiche jüdische Vergangenheit und ihrer Hoffnungen für die Zukunft; es bedeutete vielmehr, „die Juden sollen in ihrer Sprache, in ihrer Kleidung, in ihren Umgangsfonnen, in ihren gesellschaftlichen Manieren, in ihren Beziehungen zu ihren nichtjüdischen Mitbürgern sich nicht von den übrigen Bewohnern des Landes oder des Staates unterscheiden";29 und daß sie die Interessen und das Wohl der Staaten, denen sie angehörten, als „treue, loyale und opferfreudige Söhne des Vaterlandes" vertreten müßten. Sie könnten „hebräisch lernen, in Prosa und in Versen in der Sprache der Bibel schreiben, nur dürfen sie nicht die vaterländische Sprache durch Incorrectheiten und besondere Accentuation verunstalten, sich und das Judenthum dadurch lächerlich machen".30 Die österreichischen Juden müßten dem Beispiel der Juden in Frankreich, England, Italien, Belgien und den Vereinigten Staaten folgen, die „vollständig assimiliert und identificirt und dabei die Treue für das Judenthum sich bewahrt" haben.31 Diese klassische mitteleuropäische Ideologie jüdischer Emanzipation wurde jedoch durch das Völkergemisch und die Sprachenvielfalt Österreichs erschwert - ein Faktor, den Jellinek wie die meisten Wiener Juden gerne zu stark vereinfachte. In welche der Unmenge von Nationalitäten des alten Osterreich sollten die Juden sich assimilieren? Wer waren eigentlich die „Gastgeber" aus der Sicht der sich assimilierenden Juden?32 Wie definierte man, wer „österreichisch" und wer „un-österreichisch" war in einem Reich, das in eine Vielzahl von Regionen, Provinzen, Kreise, politische Gesellschaften, einander bekämpfende Volksgruppen und linguistische Einheiten aufgeteilt war? Es gab zahlreiche Probleme für die soziale Integration in ein von Natur aus derart zentrifugales und heterogenes Gebilde, selbst wenn nur die Klassenzugehörigkeit berücksichtigt wurde.

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Unter dem Ancien Regime vor 1848 trat dieses Dilemma weniger stark zutage, da die Metternichsche Zensur freier Meinungsäußerung und die fehlenden grundlegenden Menschenrechte die aufkeimende jüdische intellektuelle Schicht Wiens in das deutsche liberaldemokratische Lager trieben. Unter diesen Umständen war es schwierig, einem österreichischen dynastischen Patriotismus anzuhängen. Eine Opposition gegen das Regime bestärkte natürlicherweise eine alldeutsche Ausrichtung, da Deutschland als liberaler, dynamischer und progressiver angesehen wurde als der repressive habsburgische Staat. 33 Gleichzeitig forderten die Anfange eines Handelsund Industriebürgertums in den habsburgischen Ländern (das einen wichtigen jüdischen Anteil hatte und Österreichs Ansehen modernisieren wollte) in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die liberale alldeutsche Tendenz. Der aus Prag stammende jüdische Publizist und Politiker Ignaz Kuranda (18121884), der dreiundzwanzig Jahre lang die Deutschliberale Partei in Osterreich fuhren sollte und diese im Wiener Gemeinderat sowie im kaiserlichen Parlament vertrat, versuchte während seiner langen Laufbahn diese Ausrichtung mit österreichischem Patriotismus zu verbinden. 34 Der Autodidakt Kuranda war ein geschickter Journalist, der erstmalig wegen seiner Vorlesungen über deutsche Literatur in Belgien während seiner Exiljahre nach 1838 die Aufmerksamkeit auf sich zog. 1841 gründete er in Brüssel die Zeitschrift Die Grenzboten. Diese beliebte, in Osterreich verbotene Zeitung wurde zum Sprachrohr der liberalen Opposition Vinter habsburgischer Herrschaft vor 1848, da sie von Leipzig aus über die Grenze geschmuggelt wurde, wohin Kuranda 1842 übersiedelt war. Sie sprach sich für einen modernen Konstitutionalismus aus und war durch ihre scharfe Kritik an der österreichischen Innenpolitik ein Wegbereiter für den Sturz des Metternichschen Regimes. Bei seiner Ankunft in Wien im Jahre 1848 wurde Kuranda sofort als Abgeordneter zur Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt gewählt, nachdem er die Führung des 50er Ausschusses übernommen hatte, der ursprünglich die Forderung nach einem alldeutschen Nationalparlament ausgesprochen hatte. & stand an der Spitze der erfolglosen Verhandlungen mit tschechischen Politikern in Prag, die er zu einer Teilnahme an der Frankfurter Versammlung zu überreden suchte. Kurandas intensive politische Tätigkeit zur damaligen Zeit weckte den Zorn der tschechischen Nationalisten, die darin einen Ausdruck der Identifikation der böhmischen Juden mit der deutschen Sache sahen. So mußte Kuranda anläßlich seiner Hochzeit im Jahre 1848 tatsächlich aus Kolin in Böhmen fliehen, da er persönlich von tschechischen Hitzköpfen bedroht wurde. 35 Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 stand Kuranda wie sein Kollege Adolf Fischhof als einer der anerkannten Führer der liberaldemokratischen Opposition unter Polizeibeobachtung. Es gelang ihm trotzdem, die Ostdeutsche Post in Wien als fuhrende politische Zeitung und Nachfolger der Grenzboten zu gründen,

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die weiter für die Sache des Alldeutschtums, des Konstitutionalismus und des großösterreichischen Zentralismus eintrat. Als glühender Verfechter einer weiteren deutschen liberalen Vormachtstellung in Osterreich lehnte er den Krieg gegen Preußen 1866, den er als Bruderkrieg ansah, entschieden ab. Der Sieg der preußischen Streitkräfte, der Osterreich endgültig von dem deutschen Geschehen ausschloß, entzog auch Kurandas großdeutschem Programm seine Daseinsberechtigung, das die österreichischen Patrioten unter seinen Lesern im politischen Klima nach 1866 nur befremdlich finden konnten. 36 Kuranda blieb jedoch Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag (er war 1861 gewählt worden), von dort wechselte er in den Reichsrat und übernahm die Führung der Liberalen Partei. Er war nicht nur als ehemaliger Freiheitskämpfer von 1848 hoch angesehen, sondern galt auch als erfahrener Parlamentarier (in früheren Jahren hatte er im Exil in Frankreich, Belgien und Deutschland gelebt) mit ausgezeichneten Kenntnissen der Außenpolitik. Obwohl sich Kuranda aufgrund seiner liberalen, alldeutschen politischen Uberzeugung den deutschen kulturellen Idealen und der Sache des Deutschtums verschrieb, entfernte er sich jedoch nicht von den jüdischen Angelegenheiten, wie dies später in Osterreich so häufig der Fall war. Seit 1860 hatte er dem Vorstand der jüdischen Gemeinde angehört - demselben Jahr, in dem er in Wien einen berühmten Verleumdungsprozeß gegen den katholischen Antisemiten Sebastian Brunner gewann, ein Ereignis, das die jüdische Emanzipation einen gewaltigen Schritt voran brachte. Bei der Verhandlung verglich Kuranda den Fall mit den früheren Emanzipationsbestrebungen der Protestanten in Deutschland und der Katholiken in England. Kuranda erklärte: „So wie wir die ersten waren, die das Banner der Zivilisation als Volk oder Nation oder Stamm trugen, so sind wir die letzten, die an die Pforten der Menschheit klopfen und um Einlaß und rechtliche Gleichstellung bitten."37 Geschickt gelang es ihm, seinen klerikalen Widersacher als „den Vertreter einer verlorenen Sache" darzustellen, der sich in dem Kampf nur auf Haß und Vorurteile stütze „gegen das allgemeine Bewußtsein für Gerechtigkeit, das sich Gehör verschaffen will, gegen den Lauf der Geschichte".38 Kurandas Sieg kündigte die Gewährung der bürgerlichen Gleichstellung für die österreichischen Juden an, die eng mit dem Triumph des Liberalismus über die klerikale Reaktion verbunden sein sollte. Ein Jahr früher, 1859, hatte der jüdische Publizist und Rechtsanwalt Heinrich Jaques in seiner Denkschrift über die Stellung der Juden in Österreich, die innerhalb weniger Wochen vier Auflagen erlebte, in typisch pragmatischer Form die Argumente für die jüdische Emanzipation vorgezeichnet, die sich auf den gleichen liberalen bürgerlichen Zeitgeist gründeten, in dessen Sog Kuranda zu solchen Höhen aufsteigen sollte. Jaques argumentierte nicht so sehr als Jude, sondern als österreichischer Patriot, der sich mit „allgemeinen politischen" Fragen beschäftigte. Er wies auf den wirtschaftlichen und auch den intellektuellen Verlust für das Vaterland

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hin, den die Aufrechterhaltung des Paria-Status von Österreichs am stärksten ausgeschlossener religiöser Minderheit mit sich bringe: „Österreich läßt einen namhaften Theil seines materiellen und seines geistigen National-Capitals unbenützt und brach liegen, wenn es fortfahrt, seine israelitische Einwohnerschaft von Freizügigkeit und Grundbesitz, von bürgerlichen und politischen Amtern auszuschließen; wenn es fortfahrt aus den Juden mehr und mehr unproduktive Consumenten statt gemeinnützige Produzenten zu machen; wenn es nicht abläßt, ihr gesammtes materielles Capital zu dem immer beweglichen, schnell umspringenden, kosmopolitischen, nie mit dem Geschicke des Vaterlandes sich identificirenden Handel zu drängen, anstatt es mit allen Mitteln ... der Natur ihrer eigenen Interessen nach patriotischer Thätigkeit des Grundbesitzers, Landwirths, Bergbauern und Fabrikanten zuzuführen."59 Jaques erinnert an „das gesegnete Jahr 1848", als patriotische Reformer die Klassenschranken niederreißen wollten und in Paragraph 17 der Verfassung (25. April 1848) festhielten: „Allen Staatsbürgern ist die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die persönliche Freiheit gewährleistet." 40 Er ließ den stetigen Rückfall in den kaiserlichen Gesetzen nach 1849 Revue passieren und plädierte dafür, daß bürgerliche und nationale Rechte von einer religiösen Uberzeugung unabhängig gemacht werden müßten.41 Freimütig gab er zu, daß die bürgerliche Gleichstellung den Untergang der jüdischen Nationalität mit sich bringe - „... der jüdische Böhme, Pole usw. ist Böhme, Pole, Österreicher wie jeder Andere". 42 Die Tatsache, daß manche Juden jiddisch sprachen oder in hebräischer Schrift schrieben, verglich Jaques abfällig mit einer Art Privatsprache, der aus konstitutioneller Sicht keinerlei Bedeutung zukam. Die Aufgabe einer liberalen Verfassimg sei es, alle Kastenprivilegien und korporativen Partikularismen mit einem Schlag als antiquierte Uberreste eines mittelalterlichen Feudalismus hinwegzufegen.43 Jaques appellierte auf intellektueller Ebene an die freidenkerische Tradition der Aufklärung des deutschen Humanismus (Lessing, Schiller, Humboldt) gegen den klerikalen Obskurantismus der ultramontanen Gegner jüdischer Emanzipation.44 Es war ein entstelltes Christentum, das die Juden in Ghettos verbannt und zu Wucherberufen getrieben hatte. Die Klerikalen waren jedoch verschworene Feinde des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts, die Spaltung, Feindschaft und Unstimmigkeit im Reich säten. Ihr Sieg gehe nicht nur auf Kosten der persönlichen Freiheiten, indem Österreich wieder in das dunkle Zeitalter der Inquisition gestoßen wurde, er laufe auch den Interessen des Staates zuwider. Der Ultramontanismus sei nicht imstande zu erkennen, daß der österreichische Staat aufgrund seiner sprachlichen, konfessionellen und nationalen Mannigfaltigkeit eine Politik betreiben müsse, welche die Einheit des Reiches erhalten würde.45

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Die Juden könnten als patriotische, loyale und fleißige Bürger dem Staat nur behilflich sein, dieses Ziel zu erreichen, wenn ihnen eine berufliche Entwicklung eröffnete würde, die ihren Talenten entsprach.^ Sie würden das Finanzwesen und die Industrie Österreichs wie vorher weiter modernisieren, neue Unternehmen gründen, die landwirtschaftliche Produktivität steigern und den Handel stimulieren.47 Die Erfahrung habe gelehrt, daß die Juden nur dann, wenn sie ihrer Rechte und ihrer Interessen am Wohlergehen des Staates beraubt werden, sich an staatsfeindlichen Unternehmungen beteiligten, wie dies 1848 tatsächlich geschehen war. In Worten, die an Disraeli erinnern, schrieb Jaques: „Man hat die Juden oft unpatriotisch und revolutionär genannt; man mache sie zu Grundbesitzern und Staatsbürgern, ich glaube, man wird sie patriotisch und conservativ finden."48 Jaques bestand darauf, daß sich die Juden nur dort als „Fremde" sahen, wo sie der moderne Staat als Parias ausschloß und ihnen keine andere Möglichkeit ließ, als nach persönlicher Bereicherung und nicht nach dem öffentlichen Wohl zu streben.49 Andererseits bewiesen Beispiele wie Cremieux, Goudechaux, Disraeli und andere in westeuropäischen Ländern wie England, Frankreich, Belgien und Holland, daß die Juden fiir hohe öffentliche Ämter geeignet seien und sich ihr Moralkodex nicht von dem der Christen unterscheide. Die Emanzipation sei daher unabdingbar, wenn der österreichische Staat nicht seine eigene Existenz aufs Spiel setzen wollte, indem er eine Bevölkerungsklasse schuf, deren einzige Hoffnung auf Verbesserung ihrer Stellung in einer Revolution lag. Gleichzeitig sei die Emanzipation auch notwendig, wenn Osterreich modernisiert, wirtschaftlich wettbewerbsfähiger und genügend stark werden sollte, um seine Feinde abzuschrecken. Schon jetzt, warnte Jaques, bleibe es hinter Deutschland und Frankreich zurück und werde durch die größeren demographischen und militärischen Ressourcen des russischen Reiches bedroht. Deshalb müsse man „jede tüchtige und materielle Kraft im ganzen Staate aufsuchen, man muß sie suchen in der niederen Hütte des polnischen Juden wie in den Prachtpalästen des ritterlichen Adels, und jede muß man dem Ganzen und seinen großen Zwecken dienstbar machen, mit Allen insgesammt den Neubau vollenden."50 Die liberale Ideologie, die von Heinrich Jaques, Kuranda und anderen jüdischen Wortführern in Osterreich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts vertreten wurde, sah in einer Kombination einer starken Zentralmacht, freier politischer Institutionen und einer wirtschaftlichen Entwicklung, die auf dem /aissez^zzre-Kapitalismus beruhte, den Schlüssel zur jüdischen Emanzipation.51 Nach der verheerenden Niederlage gegen Preußen im Jahre 1866 und dem Antritt einer neuen Regierung, des sogenannten Bürgerministeriums, wurden die jüdischen Erwartungen schließlich mit dem „Staatsgrundgesetz" über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder (21. Dezember 1867) erfüllt, das den Höchststand eines liberalen Konstitutionalismus in Osterreich darstellte. Artikel 2

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besagte: „Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich." Artikel 5 erklärte, daß öffentliche Ämter allen Bürgern des Staates offenstünden. Artikel 14 garantierte vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit. Bürgerliche und politische Rechte wurden von der religiösen Uberzeugung unabhängig gemacht. Freie Berufswahl, das Recht auf Grundbesitz und das Recht auf freie Niederlassung waren durch die Verfassung garantiert. Artikel 17 sah vor, daß Forschung und Lehre der Wissenschaft frei sein sollten.52 Die Verfassung von 1867 war aus Sicht der österreichischen Juden der Höhepunkt im langen Kampf um Emanzipation, da sie ihnen wirksam sowohl ihre Gleichheit vor dem Gesetz als auch ihre bürgerlichen Rechte auf der Grundlage allgemeiner liberaler Prinzipien garantierte, die von der Zentralregierung bestätigt wurden. Es ist nicht verwunderlich, daß die Verbindung von Vertrauen in die zentralisierte österreichische Monarchie, in den Liberalismus und in die Vorherrschaft des deutschösterreichischen Bürgertums von nun an zum Fundament des politischen Credos der Wiener Juden wurde. Als diese Prinzipien ab den späten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Entstehung lokaler Partikularismen, des slawischen und deutschen Nationalismus, des wirtschaftlichen Protektionismus, des politischen Antisemitismus und der Massenbewegungen der Christlichsozialen und der Sozialdemokratie angegriffen wurden, sahen sich die Wiener Juden in die Defensive gedrängt, sie gaben ihr bestimmendes Credo aber niemals auf. Sowohl das Toleranzpatent Josefs II. (1781) als auch die Verfassimg von 1867 resultierten aus einer starken Zentralmacht, deren schützende Hand zur Wahrung der jüdischen Rechte als essentiell angesehen wurde. Wie Adolf Jellinek es im Juni 1885 ausdrückte: „Allein die Juden in Österreich sind Österreicher, fühlen und denken österreichisch, wollen ein großes, starkes und mächtiges Österreich, einen Gesammtstaat mit einem Herzen, von welchem das Gesammtieben ausströmt, und einem Haupte, das die staatlichen Gesammtinteressen überschaut... Die Juden in Österreich können es auch nicht vergessen, daß jenes Centralparlament, welches Gesammtösterreich repräsentirte, die Grundrechte votirt hat, kraft welcher alle früheren Ausnahmsgesetze aufgehoben wurden und sie in den kostbaren Besitz ihrer staatlichen Gleichstellung gelangten. Nicht der böhmische Landtag, nicht der mährische, nicht der steiermärkische und nicht der galizische hat ihnen den Eintritt in das Staatsleben als vollberechtigten Bürgern eröffnet, sondern der österreichische Reichsrath .. ,"53 Der wirtschaftliche und politische Liberalismus galt auch mehr als jede andere Uberzeugung als besser vereinbar mit der jüdischen Rolle als mobile Neuerer des kapitalistischen Systems - als Bankiers, Eisenbahnpioniere, Unternehmer in der Kohlen- und Eisenindustrie, Begründer der Textilindustrien, Besitzer bedeutender Großstadtzeitungen und als Börsenbarone. Die kapitalistischen Klassen im Habsburgerreich, in denen die Wiener und Buda-

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pester Juden eine zentrale Rolle spielten, waren schließlich „eine sehr wirkungsvolle Kraft in der Vereinheitlichung und im Zusammenhalt der Monarchie".54 Die gesellschaftliche Rückständigkeit sowohl Österreichs als auch Ungarns, die Stärke der feudalen Traditionen, die die Industrie und das Bankenwesen verachteten (die großteils in jüdischer Hand waren), und das Fehlen eines voll entwickelten einheimischen Bürgertums verschaffte den Juden unweigerlich eine Vorreiterrolle im Kapitalismus. Noch in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts waren weite Gebiete des Reiches im Vergleich zu Westeuropa hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung äußerst rückständig, und selbst in den vergleichsweise fortschrittlicheren Regionen war der kommerzielle Kapitalismus noch relativ unterentwickelt.55 Da die Grundpfeiler des dynastischen Regimes - die Aristokratie, die Kirche, das Beamtentum und die Armee - an einer schnellen Modernisierung nicht interessiert waren, fiel diese Aufgabe dem deutschösterreichischen Bürgertum zu, das von den Wiener Bankiers und den jüdischen Kapitalisten angeführt wurde.56 Ihre Zusammenarbeit mit dem übernationalen Staat, die ihren Höhepunkt in der liberalen Ära erreichte, konnte jedoch keine rasche Modernisierung fordern, da die durch die Industrialisierung gefährdeten Kräfte einfach zu stark waren und keine schlagkräftige „nationale" Politik im Rahmen der Monarchie ernsthaft ins Auge gefaßt werden konnte.57 Objektive institutionelle und strukturelle Schwierigkeiten, die im multinationalen Charakter des Reiches und dessen anachronistischer Klassenstruktur begründet waren, ließen den FreihandelsbegrifF des Liberalismus in Österreich-Ungarn nie wirklich Fuß fassen.58 Die politische Schwäche des österreichischen Liberalismus trat sogar noch deutlicher zutage, wie dies Carl Schorske hervorragend zusammengefaßt hat: „Der österreichische Liberalismus hatte wie der der meisten europäischen Völker sein heroisches Zeitalter im Kampf gegen den Adel und den barocken Absolutismus. Das fand in der überwältigenden Niederlage von 1848 sein Ende. Beinahe aus Versehen kamen die geläuterten Liberalen an die Macht und errichteten nun in den 1860er Jahren eine verfassungsmäßige Regierung. Nicht ihre eigene innere Stärke brachte sie an die Spitze des States, sondern die Schlappen, welche die alte Ordnung durch äußere Feinde erfuhr. Von Anfang an mußten sie die Macht mit dem Adel und der kaiserlichen Bürokratie teilen. Selbst während der zwei Jahrzehnte ihrer Herrschaft blieb die gesellschaftliche Grundlage der Liberalen schwach und war auf die mittelständischen Deutschen und deutschen Juden der städtischen Zentren begrenzt."39

In Anbetracht dieser schwachen sozialen Basis und ihrer Abhängigkeit von der deutschen Nationalität ist es nicht erstaunlich, daß es den österreichischen Liberalen letztlich nicht gelang, das habsburgische Reich in einen echten konstitutionellen Staat umzuformen; daß ihnen die Kraft fehlte, die Aristokratie als herrschende Klasse zu ersetzen; und, was noch viel verhängnisvoller war, daß sie für den Machterhalt im

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Parlament zur Aufrechterhaltung eines undemokratischen, eingeschränkten Wahlrechts griffen.60 Der deutsche Zentralismus der Liberalen stieß bei den erwachenden slawischen Nationalitäten auf immer stärkere Ablehnung. Gleichermaßen machte sie ihre Identifikation mit der kapitalistischen Oligarchie (besonders in Wien) zu einer natürlichen Zielscheibe der von dem Wahlsystem ausgeschlossenen, ausgebeuteten Gesellschaftsklassen - der unteren Mittelklasse, der Bauernschaft und des Proletariats - , und ihr zügelloser Antiklerikalismus sicherte ihnen die ewige Feindschaft der katholischen Kirche.61 Diese Schwächen des Austroliberalismus sollten letztlich einen äußerst schädlichen Einfluß auf die Stellung der Juden in Wien und anderen Teilen des Reiches haben. Bereits seit Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts machten sich warnende Signale bemerkbar. Der große Börsenkrach von 1873, der stark zur Diskreditierung des herrschenden liberalen Ministeriums und auch des laissez-faire-Kapitalismus in Österreich beitrug, war ein Vorzeichen für das, was noch kommen sollte. Die jüdische Dimension war, wenn auch weniger augenfällig als in Berlin, ebenfalls gegeben. Victor Ritter von Ofenheim, der Vorsitzende der bankrotten LembergCzernowitz-Eisenbahn, ein Jude, wurde in den im Jänner 1875 beginnenden Gerichtsverhandlungen angeklagt, die Interessen der Aktionäre kriminell vernachlässigt und illegale Profite gemacht zu haben. Auch wenn er freigesprochen wurde, rief der Prozeß einen Skandal hervor und zog auch Mitglieder des liberalen Kabinetts in Mitleidenschaft. Obwohl der Börsenkrach keine unmittelbaren antisemitischen Reaktionen in Osterreich hervorrief (im Gegensatz zu Deutschland), so mußte die Enttäuschung über die Moral des wirtschaftlichen Liberalismus angesichts der prominenten Stellung der Juden in der Finanzwelt, der Industrie, der liberalen Presse und der Politik eine schädliche Wirkung auf die Juden insgesamt haben.62 1879, dem entscheidenden Jahr, in dem die kurze liberale Ära in der österreichischen Politik zu Ende ging, hätte die bedingungslose jüdische Treue zum Liberalismus und zur deutschen Vorherrschaft im Reich sicherlich überdacht werden können. Dennoch wiederholte Adolf Jellinek in dieser entscheidenden Wahlkampagne noch einmal kompromißlos das zentrale Bekenntnis der emanzipierten österreichischen Juden: „Die Juden Österreichs sind ihrem vitalsten Interesse entsprechend verfassungstreu und Anhänger des Liberalismus, neigen infolge der Geschichte ihrer Bildimg zur deutschen Nationalität hin und haben die lebhaftesten Sympathien für das Groß-Österreichertum und einen starken Zentralismus."63 Jellinek fuhr fort mit einer langen Aufzählung der „politischen Feinde" der Juden - alle waren, wie vorherzusehen, Gegner des deutschen Liberalismus. Zu ihnen gehörten die klerikalen Ultramontanisten, die feudale, gegen den merkantilistischen Kapitalismus eingestellte Aristokratie, die proslawischen Föderalisten und sogar die aufkommende Arbeiterbewegung.64

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Diese Haltung hatte, wie wir bereits aufgezeigt haben, durchaus eine historische Berechtigung. Die deutschen Liberalen waren gegen den Klerikalismus, den Absolutismus und die „historischen Rechte" der Landtage.65 Es stimmt, daß sie die am besten ausgebildete, reichste und „aufgeklärteste" Nationalität im Reich repräsentierten, deren Sprache auch jene der kaiserlichen Verwaltung, des Geschäftslebens und der beherrschenden Kultur war. Außerdem standen die deutschen Liberalen für eine parlamentarische Regierung, den Säkularismus und den Freihandelskapitalismus Werte, mit denen sich die Wiener Juden zumeist und ganz natürlich identifizierten. Andererseits schienen ihre Feinde - die katholische Kirche, die feudalen Eliten und die slawischen Nationalitäten - eindeutig die illiberalen Kräfte der Reaktion und der Gegenrevolution zu repräsentieren, die den Aufstand von 1848 niedergeschlagen hatten und von denen angenommen wurde, daß sie gegen die jüdische Emanzipation waren. Trotz dieser Voraussetzungen konnte man die jüdische Bindung an die Verfassungspartei (deutsch-liberale Partei) dennoch in mancher Hinsicht als einseitig beurteilen. Sogar während der liberalen Ära blieben die Juden weiterhin von der Bürokratie, vom diplomatischen Dienst und den oberen Ebenen der Justiz ausgeschlossen;66 immer noch wurden sie bei Stellen als Lehrer an Universitäten und Gymnasien diskriminiert, und nur Konvertiten, wie Julius Glaser und Josef Unger - die gemeinsam die Grundlagen für die moderne österreichische Jurisprudenz legten - , wurden tatsächlich Minister.67 Als getaufte Juden konnten sie eine erstaunliche Karriere machen, die für ihre ehemaligen Glaubensbrüder völlig unerreichbar war. So diente Julius Glaser als Justizminister im liberalen Kabinett von 1871 bis 1879, gemeinsam mit JosefUnger, einem Minister ohne Portefeuille. Ein Jahr später wurde Unger zum Präsidenten des Reichsgerichts, der höchsten juristischen Instanz im Reich, ernannt.68 Derartige Beispiele unterstreichen jedoch nur die Meinung, daß die Bekehrung zum Christentum sogar unter der liberalen Herrschaft eine Bedingung für die Bekleidung der höchsten Amter des Staates war. Außerdem waren die deutschen Liberalen, die unter zunehmendem Druck standen, ihr Deutschtum gegen die Slawen und ihren Liberalismus gegen die reaktionären Kräfte unter den Deutschen zu verteidigen, kaum „philosemitisch". Sie wollten unter keinen Umständen den Eindruck einer „jüdische Partei" machen und dadurch ihre Position bei den deutschen unteren Schichten in den Landbezirken gefährden. Ihre Presse „vermied es [daher] sorgfältig, sich auf die Juden zu beziehen" und zog es vor, nicht zu viele jüdische Kandidaten aufzustellen, geschweige denn einen von ihnen in ein Amt zu berufen.69 Viel schwerwiegender als diese Ambivalenz der Liberalen waren jedoch die politischen Folgen der jüdischen Beteiligung am Kampf des Deutschtums gegen die Slawen und die sozialen Rückwirkungen ihrer Identifikation mit der kapitalistischen Oligarchie.

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Diese Gefahren waren von dem weitsichtigsten jüdischen Politiker des Jahrhunderts, Adolf Fischhof (1816-1893), vorhergesehen worden, dessen Gedanken über die habsburgischen Nationalitätenprobleme einen fruchtbaren Einfluß auf die unterschiedlichsten Strömungen im öffentlichen Leben Österreichs ausübten.70 Kein anderer Jude, die einzigen Ausnahmen waren vielleicht Ignaz Kuranda und der Begründer der Osterreichischen Sozialdemokratischen Partei, Victor Adler, hatte eine derartige Bedeutung in der österreichischen Politik des 19. Jahrhunderts, und keiner verfügte über eine vergleichbare moralische Autorität. Fischhof wurde in Budapest geboren, wo er das Gymnasium besuchte, und kam 1836 nach Wien, um Medizin zu studieren. Nach Jahren materieller Not, die den Abschluß seines Studiums verzögerten, wurde Fischhof 1846 zum Sekundararzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ernannt.71 Fast zwei Jahre später, am 13. März 1848, trat Adolf Fischhof vor dem Hof des Landhauses aus seiner Anonymität heraus und begeisterte die Wiener Massen in einer feurigen, enthusiastischen und spontanen Rede für die Sache der Pressefreiheit, der Souveränität des Volkes, der Verantwortlichkeit der Minister, für die Gewissensfreiheit und die Vereinigung der österreichischen Nationen.72 Mehr noch als seine Glaubensgenossen - Ludwig August Frankl, Verfasser des äußerst erfolgreichen Gedichtes Die Universität (die „Marseillaise" des Wiener Aufstandes), Josef Goldmark oder Hermann Jellinek - wurde Fischhof zum Revolutionshelden; von seinen Zeitgenossen wurde er wegen seines vernünftigen, taktvollen und staatsmännischen Verhaltens respektiert. Im März 1848 war er an die Spitze des Sicherheitsausschusses gesetzt worden, dem höchsten Regierungsamt der Revolution, und in den folgenden Monaten war er als Parlamentarier aktiv und nahm verschiedene Verwaltungsaufgaben wahr. 1848 gab es Zeiten, in denen seine moralische Autorität in fast der gesamten Monarchie galt und er ein Symbol für deren demokratische Sehnsüchte war.73 Nach der Niederschlagung der Revolution weigerte sich Fischhof, sich in Sicherheit zu bringen, mußte sich aber einem Hochverratsprozeß stellen, in dem er freigesprochen wurde, nachdem alle Zeugen zu seinen Gunsten ausgesagt hatten. Er wurde jedoch, bis zu einer Amnestie im Jahr 1867, aller politischen Rechte beraubt und verdiente sich seinen Lebensunterhalt mühsam als privat praktizierender Arzt. 1861 veröffentlichte er anonym (gemeinsam mit JosefUnger) unter dem Titel Zur Lösung der ungarischen Frage Vorschläge, die viele Merkmale des sechs Jahre später erfolgten Ausgleichs mit Ungarn vorwegnahmen. Darin wurde die zentralistische Unterdrückung der ungarischen konstitutionellen Traditionen und Rechte durch Wien scharf kritisiert.74 In der Zeit zwischen 1867 und seinem Tod im Jahre 1893 wurde Fischhof sozusagen zum „moralischen Bewußtsein" Österreichs, viele österreichische Politiker

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suchten ihn in seinem dörflichen Zufluchtsort in Kärnten auf. In diesen Jahren versuchte er, Gedanken über die nationale Frage zu entwickeln und zu systematisieren, die er erstmals 1848 geäußert hatte, als er eine „brüderliche Allianz" der Völker Österreichs forderte, um Stärke durch Einigkeit zu erlangen.75 Die Folgen der Niederlage von 1866 gegen Preußen und der Ausgleich mit Ungarn legten die Zerbrechlichkeit der Monarchie bloß und verstärkten die Ängste der Deutschösterreicher vor der inneren slawischen Gefahr. Obwohl Fischhof der Erziehung, den Gefühlen und der Kultur nach Deutscher war, versuchte er diese Ängste zu zerstreuen, indem er die Notwendigkeit einer friedlichen Aussöhnung zwischen den verschiedenen Volksgruppen betonte, die sich auf die Entwicklung von in der Verfassung von 1867 verankerten nationalen Rechten stützte.76 In diesem Jahr entwickelte er erstmals das föderalistische Modell als eine mögliche Lösung des tschechisch-deutschen Konfliktes, indem er argumentierte, daß, wenn den Völkern Österreichs eine freie Entwicklung nach Schweizer Vorbild erlaubt wäre, „Moskau aufhören wird, das Mekka der Slawen zu sein".77 1868 befürwortete er eine weitgehende administrative Dezentralisierung und eine breite städtische Autonomie als die beste Garantie zur Erhaltung der individuellen und nationalen Freiheiten. 78 Ohne Selbstverwaltung würde der Parlamentarismus, laut Fischhof, ein leeres Wort bleiben. Die freie, selbstverwaltete Stadt müsse die Grundlage des konstitutionellen Staates bilden. Auf diese Voraussetzungen wurde in Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes näher eingegangen, das 1869 in Wien erschien und weithin als Klassiker der österreichischen politischen Literatur anerkannt wird. In diesem Werk wies Fischhof auf den zentralen Widerspruch der Verfassung von 1867 hin - daß Österreich-Ungarn ein Nationalitätenstaat sei, der sich unter deutscher Vorherrschaft als Nationalstaat nach westeuropäischer Prägung ausgab. Er hatte zwei Gesichter, ein liberales hinsichtlich der Rechte des einzelnen, aber ein oppressives in seiner Beziehung zu den slawischen Nationalitäten, die noch immer als Bedientenvölker behandelt wurden.79 Österreich konnte jedoch nicht mehr als deutscher Staat definiert werden, wenn dessen deutsche Bewohner kaum ein Drittel der Gesamtbevölkerung Zisleithaniens (ohne Ungarn) ausmachten. Nur in den Alpenländern stellten die Deutschen eine überwiegende Mehrheit, vor allem in Niederösterreich, Oberösterreich, Vorarlberg und Salzburg. In der Region Böhmens mit der stärksten industriellen Entwicklung stellten die Deutschen nur 57 Prozent der Bevölkerung, während die Tschechen in der Mehrheit waren; das österreichische Schlesien war zu 44 Prozent deutsch, im Vergleich zu 52 Prozent Polen und 24 Prozent Tschechen; Mähren war überwiegend tschechisch, mit einer deutschen Minderheit von 28 Prozent. Galizien, das zwischen einer polnischen Mehrheit im Westen und einer ukrainischen Mehrheit mit einer großen jüdischen Minderheit im östlichen Teil aufgeteilt war, verfügte über fast

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keine Deutschen. In der Bukowina stellten die Deutschen neben den Polen, Ruthenen, Rumänen und Juden eine größere Minderheit. Die südlichen Teile Tirols waren italienisch, wie auch Triest. Die Krain war überwiegend slowenisch (es gab auch wichtige slowenischsprachige Minderheiten in der Steiermark und in Kärnten), und die adriatischen Gebiete von Dalmatien, Istrien und der österreichischen Küste waren vorwiegend serbo-kroatisch. 80 Das Nationalitätenproblem war jedoch nicht nur demographisch bedingt, es hatte auch konstitutionelle, wirtschaftliche, politische und moralische Gründe, die alle Aspekte des österreichischen Lebens betrafen. Die slawischen Nationalitäten hatten im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre eigene intellektuelle Klasse, Literatur, ihr eigenes nationalkulturelles Bewußtsein und ihre eigenen politischen Forderungen entwickelt. Sie waren nicht mehr bereit, die politische Führung der Deutschen als ausschließliche Staatsnation oder sogar ihre nach 1867 erfolgte Unterordnung unter das Triumvirat der „Herrenrassen", der Deutschen, Ungarn und Polen, zu akzeptieren.81 Außerdem stellten 1910 die Slawen 25,5 Millionen Einwohner (45 Prozent) der Gesamtbevölkerung Österreich-Ungarns. 82 Es war daher ein weitsichtiger Akt von politischem Realismus seitens Fischhofs, schon 1869 zu erkennen, daß keine der Nationalitäten Österreichs stark genug war, die anderen zu beherrschen, obwohl jede von ihnen durch ihren Widerstand die Gesamtheit gefährden könnte. 83 Österreichische Staatsmänner, so führte er an, sollten daher die Fiktion eines Einheitsstaates aufgeben und neue konstitutionelle Formen entwickeln, um die vernachlässigten nicht-deutschen Nationalitäten und deren Streben nach sozialer Gerechtigkeit und nationaler Gleichheit zufriedenzustellen. 84 Die habsburgische Tradition des zentralistischen Absolutismus hatte zentrifugale Strömungen unter den neu erwachenden Nationalitäten freigesetzt. Aber nur wenn Österreich dezentralisiert wäre, könnte es wahrhaft zentripetal werden. Die Ära der nationalen Privilegien sei schon lange vorüber, ebenso wie der josefinische Absolutismus, der, obwohl damals fortschrittlich, nun zu einem Hemmschuh für die freie Entwicklung der österreichischen Völker geworden war. Föderalismus nach Schweizer Vorbild sei die einzige rationale Lösung, da, laut Fischhof, „die Schweiz ein republikanisches Österreich en miniature ist, wie Österreich eine monarchische Schweiz im großen ist". 85 Die Beispiele der Schweiz, Belgiens, Kanadas, Britanniens und der Vereinigten Staaten bewiesen, daß Föderalismus, umfassende lokale Regierung und die Dezentralisierung der Erziehung den Wohlstand, die Freiheit und den Patriotismus der Bewohner stärkten. Der Fehler der österreichischen Liberalen liege in ihrem Unvermögen zu erkennen, daß die individuellen Freiheiten und die Integrität des Staates in Mittel- und Osteuropa nur garantiert werden könnten, wenn die Tatsache der Nationalität anerkannt würde. Dies erschien Fischhof eine logische Ausweitung der Befreiung des

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einzelnen, die durch die Französische Revolution bewirkt worden war. Dies mußte aber auch auf die nicht-deutschen „Nationalitäten" angewandt werden. Daher die Warnung an die Liberalen der Verfassungspartei, daß die Deutschösterreicher ihre fuhrende Rolle im Reich nur beibehalten könnten, „wenn wir mit deutscher Humanität die Rechte der anderen Nationen achten, ihre Sprach- und Kulturentwicklung fordern".86 Die Deutschösterreicher könnten und sollten es sich leisten, großzügiger in ihrer Nationalitätenpolitik zu sein, und auf ihre industrielle, kommerzielle, wissenschaftliche und kulturelle Überlegenheit vertrauen, statt auf institutionelle Unterdrückung und Wahlschikanen, um ihre Vormachtstellung zu erhalten. So unterstützte Fischhof das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ohne Eigentumseinschränkungen und zusätzlich die Idee der „Kurienstimme" zum Schutz der Minderheiten gegen die Mehrheiten in Gebieten mit gemischter Bevölkerung.87 Im Falle Österreichs würde territoriale Autonomie nicht ausreichen, da die Grenzen der historischen Kronländer nicht mit jenen der Volksgruppen übereinstimmen. Die Stimmabgabe in nationalen Kurien würde sicherstellen, daß in Fragen der Bildung und Kultur keine Maßnahmen beschlossen werden könnten, die einer nationalen Minderheit schaden würden oder deren Willen nicht entsprächen. Fischhof befürwortete auch rechtliche Garantien für die Verwendung der Muttersprache in Schulen, bei Gericht, in der lokalen und allgemeinen Verwaltung. Obwohl Deutsch weiterhin die Sprache der zentralen Behörden bliebe, würde die Muttersprache jeder Nationalität in einem bestimmten Gebiet als Pflichtfach gelehrt werden, und der Unterricht würde in den Schulen in den Umgangssprachen erteilt werden.88 Fischhof faßte daher nicht nur ein System lokaler Selbstverwaltung in den Bezirken, Kreisen und Gemeinden Österreichs ins Auge, sondern ein umfassendes Programm der nationalkulturellen Autonomie. Sobald das Gleichgewicht zwischen den Nationalitäten wieder hergestellt und den nationalen Minderheiten die freie Entwicklung ihrer kulturellen Eigenständigkeit garantiert wäre, wäre auch die Zeit für konstruktive Lösungen der „sozialen Frage" gekommen. Fischhof erkannte die sozioökonomische Komponente im Nationalitätenkonflikt, sah aber richtig, daß erst wenn letzterer gemildert wäre, die wirtschaftlichen Probleme der Arbeiterklasse und der Landbevölkerung gelöst werden könnten. Auch wenn Fischhofs Programm weit vom marxistischen Sozialismus entfernt war, nahm es viele der Ideen, die dem nationalen Programm der Österreichischen Sozialdemokratischen Partei zugrunde lagen, das am Brünner Kongreß (1899) formuliert wurde, genau um drei Jahrzehnte vorweg. Die Arbeiten des herausragenden austromarxistischen Denkers und Kanzlers der Ersten Republik, Karl Renner, zeigen klar den Einfluß von Fischhofs Föderalismus und dessen Theorien über die Umgestaltung des Vielvölkerstaates auf.89 1918, unmittelbar vor dem Zusammenbruch des habsburgischen Reiches, schrieb Renner treffend: „Von allen österreichischen Po-

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litikern deutscher Nationalität hat nur einer, Fischhof, die Lebensbedingungen der österreichischen Deutschen und des Reiches erkannt."90 Kurz bevor sich Karl Lueger, der zukünftige christlichsoziale Parteiführer, selbst an die Spitze der antisemitischen Bewegung setzte, ehrte sogar er Fischhof, mit dessen Bemühungen, den Zusammenhalt des österreichischen Staates durch Versöhnung der Nationalitäten zu sichern, er sich stark identifizierte. 1886 erklärte Dr. Lueger anläßlich Fischhofs siebzigstem Geburtstag, nachdem die Liberalen im Wiener Stadtrat einen Vorschlag, ihre Gratulationen zu übermitteln, abgelehnt hatten: „Keiner von den Herren hier im Saale kann Fischhof das Wasser reichen, und keiner lebt, der sich mit ihm an politischer Vergangenheit, an Verdiensten um die Stadt Wien und an Charakterintegrität messen kann .. ." 91 Es war eine der bitteren Ironien in der österreichischen Geschichte, daß Lueger Fischhof gehuldigt hat, während die Liberalen und ihre Wiener jüdischen Anhänger zu seinen schärfsten Gegner zählten. Dies ist umso erstaunlicher, als Fischhof nicht nur der einzige anerkannte Anführer der liberalen Revolution von 1848 war, sondern auch ein selbstbewußter, stolzer Jude mit einem gut entwickelten Sinn für jüdische Solidarität, den er sich in seiner Jugend und frühen Schulzeit in Budapest erworben hatte.92 Er konnte hebräisch schreiben und identifizierte sich stark mit den Lehren des Judentums, mit dessen Berufung als „ethischer Lehrmeister eines großen Theiles der Menschheit" und mit den Juden als einer Märtyrernation.93 Anläßlich des siebzigsten Geburtstages des Wiener Predigers schrieb Fischhof trotz ihrer unterschiedlichen politischen Uberzeugungen am 26. Juni 1891 einen Brief an Adolf Jellinek, in dem er dessen „flammende Beredsamkeit" und leidenschaftliche Verteidigung jüdischer Werte aufs wärmste lobte. In seinem Brief betonte Fischhof, daß er sich der hohen und veredelnden moralischen Mission bewußt sei, welche die hebräische Bibel enthalte, die die Religionen der zivilisierten Menschheit nachhaltig geprägt hatte. Er betonte seinen Stolz, daß die Juden in ihrer ganzen Geschichte eine unvergleichliche geistige Stärke gezeigt hätten, die sie in die Lage versetzt habe, der jahrhundertelangen Verfolgung zu widerstehen; daß sie trotz Unterdrückung, Diskriminierung und Ausschließung sich nicht ihren Feinden ergeben hätten und daß sie auch jetzt nicht der antisemitischen Hexenjagd in Wien nachgeben würden. „Man will uns ja zu Heloten, zu Parias erniedrigen, aber wir sind nicht das Volksmaterial, aus dem man Heloten macht."94 Der „Bildungstrieb, der Wissensdrang", die Achtung der Wissenschaft, der Drang, die Menschheit zu zivilisieren, sind kollektive Tugenden, die nicht einmal „die kannibalistische Gier" des Antisemitismus dem jüdischen Volk entreißen könne.95 Schon 1848 hatte sich Fischhof, gemeinsam mit dem Prediger Mannheimer, dessen Forderung nach Abschaffung der „Judensteuer" er stark unterstützte, klar für die politische Gleichstellung der Juden ausgesprochen.96 Dieser Kampf für jüdische

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Rechte war ein integraler Bestandteil seines allgemeinen Feldzuges fiir konstitutionelle Freiheit, nationale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Er beschäftigte sich auch mit dem wirtschaftlichen Elend der galizischen Juden. 1851 arbeitete er nach einer Studienreise nach Galizien eine modellhafte Vereinssatzung für die Gründung eines Israelitischen Ackerbauvereins aus, der die Lebensbedingungen des jüdischen Proletariats in Galizien durch die Förderung von Bauernkolonien verbessern sollte.97 Einen weiteren Beweis für sein tiefes jüdisches Bewußtsein lieferte Fischhof 1870. Nachdem 1867 die Verfassung verabschiedet und die jüdische Emanzipation durchgesetzt worden war, wurde dem amnestierten Fischhof ein Posten im österreichischen Kabinett angeboten, den er ausschlug. Abgesehen von gesundheitlichen Problemen und politischen Meinungsverschiedenheiten mit den deutschen Liberalen, war seine Ablehnung höchstwahrscheinlich auf das Widerstreben zurückzuführen, seinen jüdischen Glauben aufs Spiel zu setzen. Denn nicht einmal im liberalen Osterreich konnte ein Jude ein Ministeramt annehmen, ohne einen Amtseid zu leisten „unter Bedingungen, wie sie nur ein erklärter Christ annehmen konnte".98 Das Ausmaß von Fischhofs jüdischer Identifikation trat mit dem Aufstieg eines organisierten Wiener Antisemitismus in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts noch deutlicher in Erscheinung. 1882 unterstützte er begeistert die Bemühungen des unabhängigen galizischen Rabbiners Dr. Josef Samuel Bloch - zur damaligen Zeit das enfant terrible der Wiener jüdischen Gesellschaft -, den Talmud zu verteidigen, indem er den Kampf in die proletarischen Vororte Wiens trug. Bloch, der Fischhof als moralische Leitfigur und politischen Mentor ansah (und später dessen Theorien auf die nationale Unabhängigkeit für die galizischen Juden anzuwenden versuchte), sandte ihm eine Abschrift seiner Rede über „Der Arbeiter zur Zeit Jesu", die er bei einer sozialdemokratischen Versammlung in Floridsdorf gehalten hatte.99 Fischhof stimmte Blochs „hervorragender Lesung" nicht nur aufs wärmste zu, sondern unterstützte auch dessen erfolgreiche parlamentarische Kandidatur für einen galizischen Wahlkreis im Jahr 1885, da er in ihm einen mutigen Verteidiger jüdischer Bürgerrechte gegen antisemitische Verleumdungen sah. Bloch wurde ein regelmäßiger Gast in Fischhofs Kärntner Haus in Emmersdorf, wo er seinen Rat in parlamentarischen Fragen suchte und mit ihm über die Möglichkeiten sprach, den bürgerlichen Status der Juden gegen den wachsenden Antisemitismus zu verteidigen.100 Der galizische Rabbiner teilte Fischhofs Ansichten über den Vorrang der nationalen Versöhnung in Osterreich, sein Eintreten für den Föderalismus und seine Skepsis gegenüber der ausschließlichen Identifikation der Juden mit der deutschen nationalen Sache. Beide Politiker waren sich einig, daß eine aktive Haltung kollektiver Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus eingenommen werden müsse, die in Rabbi Blochs Anstrengungen mündete, die erste jüdische Selbstverteidigungsorganisation in Osterreich, die Österreichisch-Israelitische Union (1886), zu gründen.101

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Auch wenn Fischhof an deren Gründung nicht direkt beteiligt war und keinen aktiven Anteil an deren Beratungen nahm, sympathisierte er mit deren Zielen, und deren Mitglieder appellierten später oft an sein Andenken. Kurz nach Fischhofs Tod erinnerte ein Redner bei der Jahresversammlung der Union im April 1895, daß Fischhofs Arbeit für Fortschritt und Humanität in der besten Tradition des Judentums gestanden hätte.102 Nach dem Bericht in Dr. Blochs Wochenzeitung bemerkte der Redner: „... ein Volksstamm, aus dem ein Mann von der Charaktergröße, dem Lebenswandel und der Selbstlosigkeit Fischhofs hervorgegangen, trägt zweifellos die Gewähr seines Bestandes in sich. Die Namen der Feinde und Verfolger unserer Glaubensgemeinschaft werden längst vergessen, ... und die antisemitische Bewegung nur ein Object der Volkspsychiatrie bilden; - Fischhofs Namen jedoch wird leuchten und strahlen bis in die fernste Zukunft.. ,"103 Vier Jahre später empfahl die Union eine Rückkehr zu dem nationalen Versöhnungsprogramm des „unvergeßlichen Fischhof', das sich auf Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz als die einzige vernünftige Lösung für das Chaos stützte, dem die Juden und das österreichische Vaterland gegenüberstanden.104 Noch schärfer fragte ein enger nichtjüdischer politischer Verbündeter Fischhofs, der Wiener Demokrat Dr. Ferdinand Kronawetter, in einer Rede an die Union im April 1898 seine Zuhörer, warum Fischhof keine Unterstützung in der Gemeinde unter seinen Glaubensbrüdern gefunden hätte, als er 1882 eine Deutsche Volkspartei gründen wollte, um Liberale aller Nationalitäten zu vereinigen. „... ich muß aber offen sagen, daß die deutsche Volkspartei gerade bei den Israeliten keine Aufmunterung gefunden hat und daß wir von dieser Seite geradezu auf das Heftigste angegriffen worden sind."105 Diese Erinnerung an eine verpaßte historische Chance in der Geschichte der Wiener Juden beleuchtet die Unterschiede zwischen der Hauptströmung des Austroliberalismus und der radikaldemokratischen Variante, die von Fischhof und seinem Kreis vertreten wurde. Diese Unterschiede konzentrierten sich gleichermaßen auf die „soziale Frage" wie auf die Lösung des Nationalitätenkonflikts; beide waren nicht nur für die Monarchie, sondern auch für die österreichischen Juden von enormer Bedeutimg. Seit 1848 hatten die Wiener Liberalen systematisch versucht, das untere Bürgertum von dem privilegierten Kuriensystem auszuschließen und hatten sich ihre Machtbasis auf einem soliden mittleren und oberen Mittelstand von Grundbesitzern, Beamten, reichen Handwerkern und wohlhabenden Geschäftsinhabern aufgebaut.106 Diese höchst kapitalistische, interessenorientierte Politik, die ungeniert die radikaldemokratischen Ideale von 1848 verriet, wurde ein Markenzeichen des Wiener Liberalismus. Sie wurde ein Hauptziel der Protestbewegimg der unteren Mittelklasse in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und von den opportunistischen antisemitischen Politikern schlau ausgenützt, die ihr Hauptaugenmerk auf die Rolle der

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Juden im Wiener Banken- und Handelskapitalismus richteten. Nur eine kleine Gruppe linksliberaler Wiener Demokraten, die dem radikalen Ideal eines einheitlichen Bürgertums von 1848 treu geblieben war, leistete Widerstand gegen die oligarchischen Tendenzen der Liberalen und auch gegen den antikapitalistischen Antisemitismus der ausgeschlossenen Handwerker und deren Volkstribunen. Der Anführer dieser Wiener Demokraten, Kronawetter, war 1882 nicht von ungefähr einer von Fischhofs engsten Mitarbeitern in dem vergeblichen Versuch, eine Deutsche Volkspartei zu gründen. Unter den jüdischen Teilnehmern an diesem Versuch, die sich von Fischhofs sozialem Reformismus sowie von seinem nationalen Programm angesprochen fühlten, waren der Verleger und Herausgeber der Wiener Allgemeinen Zeitung, Theodor Hertzka (1845-1924), der Nationalökonom und Sozialstatistiker Professor Isidor Singer, der international anerkannte Neuropathologe Professor Moritz Benedikt und der Architekt Wilhelm Fraenkl.107 Der politisch einfhißreichste dieser Mitarbeiter war fraglos Hertzka (wie Fischhof in Budapest geboren), ein studierter Nationalökonom und Sozialreformer, der als Verfasser des langen utopischen Traktats Freiland berühmt wurde. 108 Hertzka, der das Wirtschaftsreformprogramm der Deutschen Volkspartei entwarf und einen gemäßigten liberalen, auf „Gegenseitigkeit" und Zusammenarbeit basierenden Sozialismus vertrat, stand Fischhofs sozialer Gedankenwelt am nächsten. Fischhof wie auch Hertzka wandten sich sowohl gegen den laissez^/aj're-Kapitalismus, der von den klassischen Liberalen vertreten wurde, als auch gegen den marxistischen, auf dem Klassenkampf beruhenden Sozialismus, der die persönliche Initiative und die individuellen Freiheiten ungebührlich einschränkte. Andererseits waren sie sich sehr wohl im klaren darüber, daß der Lebensstandard des Proletariats dringend angehoben und das Wahlrecht auf die Arbeiterklasse ausgedehnt werden mußte. Wie Kronawetter und seine Wiener Radikalen sprachen sich Fischhofs jüdische Anhänger für die Notwendigkeit einer gemäßigten deutschen Nationalpartei aus, welche die vergessenen Ideale von 1848 auf demokratischer Basis durch Kooperation mit gleichgesinnten Liberalen anderer Nationalitäten wieder aufleben lassen würde. In einem Brief an Hertzka, der am 28. Mai 1882 in der Wiener Allgemeinen Zeitung erschien, erklärte Fischhof, daß eine Wahlreform und Verfassungsgarantien für die slawischen Nationalisten äußerst wichtig seien, um einen offenen Zusammenstoß zwischen dem österreichischen Staat und seinen ihm angehörenden Völkern zu vermeiden. Letztere sollten nicht veranlaßt werden, zwischen österreichischem Patriotismus und ihren eigenen nationalpolitischen Interessen wählen zu müssen. Damit Liberalismus lebensfähig werde, müßte er zunächst von dem bis dahin berechtigten Vorwurf der Intoleranz gegenüber den Nichtdeutschen befreit werden.109

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Weder Fischhof noch Hertzka unterstützten die Politik des neuen österreichischen Ministerpräsidenten Graf Taaffe, der seit 1879 an der Spitze einer Koalition von Slawen, Klerikalen und Konservativen stand, welche die Slawen auf Kosten der Deutschen offen begünstigte.110 Nichtsdestoweniger wurden sie von der Verfassungspartei und den radikalen deutschen Nationalisten aufs heftigste wegen Verrat an der deutschen Sache attackiert. Gleichermaßen mißbilligten die liberalen Wiener Juden Fischhofs Eintreten für den Föderalismus und für eine größere nationale Autonomie als eine Abkehr vom deutschliberalen Zentralismus und daher als schädlich für die jüdischen Interessen. 111 Obwohl die jüdischen Gemeindevorsteher auf Fischhof als österreichischen Patrioten und Symbol des Liberalismus von 1848 stolz waren, waren sie von seinem sozialen und politischen Programm zutiefst verunsichert. Sie sahen in Graf Taaffe und seinem konservativen Kabinett einen unmittelbaren Gegner des Judentums und in der Rückkehr der Verfassungspartei zur Regierungsmacht ihre vorrangige Aufgabe. In der großen Debatte zwischen Zentralismus und Föderalismus, liberalem Kapitalismus und sozialer Reform, deutscher Vorherrschaft oder nationaler Gleichheit stellten sich die meisten Wiener Juden gegen Fischhof und blieben dem Geist der Verfassung von 1867 treu, die ihre Emanzipation garantiert hatte. Durch die Ablehnung der Nationalitätenpolitik als „Verrat an der deutschen Sache" waren sie bereit, den Zorn der Regierung Taaffe zu riskieren, obwohl er ihnen (aus persönlichen politischen Erwägungen heraus) die Zusammenarbeit bei der Unterdrückung der antisemtischen Bewegung angeboten hatte. 112 Obwohl der Antisemitismus in Wien täglich stärker wurde und die liberalen Oppositionsführer verdächtig ruhig blieben, sagte der Präsident der Kultusgemeinde, Josef Ritter von Wertheimer (selbst ein ehemaliger Liberaler), zu Rabbi Bloch, „Zum Taaffe gehen wir nicht". 113 Bloch mußte sich an Hertzkas Wiener Allgemeine Zeitung-wenden, um seinen militanten Gegenangriff gegen den klerikalen Antisemiten August Rohling zu veröffentlichen, da es die Gemeindevorsteher und die großen liberalen Zeitungen (die meist in jüdischer Hand waren) vorzogen, Zurückhaltung zu üben. Bei einem privaten Zusammentreffen im Jahr 1882 - wahrscheinlich bei Hertzka - warnte Fischhof einige der anwesenden Kultusgemeindevorstände, daß ihnen nur zwei Mögüchkeiten offenstünden: Entweder wurden die Nationalitäten in Österreich versöhnt oder diese würden zu Antisemiten. 114 Die Warnung wurde in den Wind geschlagen, ebenso wie Fischhofs prophetischer Rat, daß die Bemühungen von 8 Millionen Deutschösterreichern, 14 Millionen Nichtdeutsche zu beherrschen, zu einem grausamen Rassenkampf führen, die öffentliche Debatte vergiften und schließlich den österreichischen Staat selbst zerstören würden. 115 Stattdessen führten die Liberalen und die radikale deutsch-nationale Bewegung unter Georg von Schönerer eine stürmische Hetzkampagne gegen die Gründung der

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Deutschen Volkspartei. Bei deren erster Versammlung am 16. Juli 1882 sprengten zwei der Gefolgsleute von Schönerers, der zukünftige Sozialdemokrat Engelbert Pernerstorfer und der von jüdischen Eltern stammende Ideologe des österreichischen Alldeutschtums, Heinrich Friedjung (1851-1920), die Sitzung.116 Fischhofs neue Partei erholte sich nie von diesem Fehlstart sowie von dem entschlossenen Vorgehen der deutschen Liberalen und radikalen Nationalisten, sie zu einer Totgeburt zu machen.117 So löste sich in Luft auf, was eine der letzten Chancen gewesen sein mag, die Nationalitäten Osterreich miteinander zu versöhnen. Die Deutschfreundlichkeit der führenden Persönlichkeiten des Wiener Judentums sollte jedoch bittere Früchte tragen. Denn die Verschärfung des nationalen Kampfes zog bald das Aufkommen eines rassischen Antisemitismus nach sich, der den Bestand der jüdischen Gemeinde als solche bedrohte. Mitte der 80er Jahre Schloß die alldeutsche Bewegung solch begeisterte jüdische Mitarbeiter wie Heinrich Friedjung aus ihren Reihen aus. Nun forderte sie ofFen als einen zentralen und unverzichtbaren Grundsatz in ihrem Programm, „den jüdischen Einfluß auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu beseitigen".118 Das Schicksal des aus Mähren stammenden Heinrich Friedjung war tatsächlich ein Musterbeispiel fur den einseitigen Charakter der jüdischen Deutschfreundlichkeit und ihre unerwiderte Liebe zum Deutschtum. Friedjung, der zum bedeutendsten aller österreichischen Historiker des 19. Jahrhunderts werden sollte, hatte wie Fischhof erkannt, daß der Schock von 1866 eine grundsätzliche Revision der deutschösterreichischen Hoffnungen erforderte. Sie konnten nicht mehr länger hoffen, eine führende Stellung sowohl in Deutschland als auch im habsburgischen Reich zu halten. Der vor 1866 bestehende austroliberale Traum eines vereinten Deutschland unter österreichischer Führung bei gleichzeitiger deutscher Vormachtstellung innerhalb des Donaureiches war für immer ausgeträumt.119 Die Zeit war nun reif, so meinte Friedjung, für eine klare Entscheidung zugunsten einer deutschen und gegen eine österreichische Identität. Im Gegensatz zu Fischhof war Friedjung keineswegs der Meinung, daß eine föderale Lösung der Nationalitätenfrage wünschenswert sei, er bevorzugte vielmehr einen zentralisierteren und von Deutschen beherrschten Staat, der die Zahl der Slawen innerhalb seiner Grenzen möglichst verringern würde. Er machte die „reaktionäre" Dynastie für die Niederlage von 1866 verantwortlich und kritisierte scharf die Halbherzigkeit in der Nationalitätenfrage seitens der älteren Generation österreichischer liberaler Führer, wie Dr. Eduard Herbst.120 Deren „Osterreichertum" erschien ihm als ein künstliches, selbstentfremdetes Bemühen, ihre tieferen emotionalen Gefühle als Deutsche zugunsten einer nebulosen übernationalen Fiktion „wegzusperren". Es war die Uberzeugung des jungen Friedjung, daß es im Gegenteil die Pflicht eines politischen Schriftstellers sei, Ein-

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fluß auf den Nationalcharakter eines Volkes auszuüben. Es sei die Aufgabe der jüngeren, germanozentrischen Generation, unter den Deutschösterreichern ein neues Nationalgefiihl zu schaffen.121 Friedjungs alldeutscher Nationalismus war stark völkisch gefärbt, auch wenn er die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität hauptsächlich aufgrund kultureller und weniger aufgrund rassischer Merkmale definierte. Für ihn war es schwer zu verstehen, daß die slawischen Nationalitäten seinen begeisterten und fast mystischen Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur und deren erzieherische Mission nicht teilten. A. J. P. Taylors psychologische Erklärung trifft genau den Kern des Problems: „Friedjung sah sich als Deutschen an, aber er war nur Deutscher durch Adoption: er war Deutscher geworden, weil er die deutsche Kultur schätzte, und der Prozeß war nicht weniger überlegt, auch wenn er unbewußt geschah. Er neigte daher dazu, von anderen Rassen eine ähnliche unbewußte Anerkennung der deutschen Überlegenheit zu erwarten, und konnte nicht das Widerstreben der Tschechen, der Slowaken oder der Kroaten verstehen, seinem Beispiel zu folgen."122 Nach Taylor „beeinflußte und entstellte Friedjungs Rassenzugehörigkeit eigentlich seine politische Karriere, da sie ihn veranlaßte, die Leichtigkeit zu überschätzen, mit der die Deutschen die anderen Rassen des Reiches beherrschen und kontrollieren könnten". 123 Die Dynamik eines extremen Assimilationismus, wonach die Juden vollkommen in den Nationalitäten, in deren Mitte sie lebten, aufgehen sollten, bewirkte manchmal, daß ein übertriebener deutscher Chauvinismus gefordert wurde. 124 Während seiner Jahre als Herausgeber der Deutschen Wochenschrift (1883-1886) und danach als Chefredakteur der Deutschen Zeitung (die wichtigste Veröffentlichung der Deutschnationalen Partei) vertrat Friedjung weiter einen entschiedenen, elementaren Nationalismus und erinnerte ständig an die ruhmreiche Stammesvergangenheit sowie an die mittelalterliche germanische Größe. Durch den vorteilhaften Vergleich „des mächtigen Kanzlers" (Bismarck) mit dem „greisen" österreichischen Kaiser Franz Joseph behauptete Friedjung, daß eine Folge schwacher und reaktionärer österreichischer Regierungen seit 1848 die vitalen Lebenskräfte der deutschen Nationalität unterdrückt hätten. Aber das Stammesgefühl nähme jetzt wieder einen großen Aufschwung, wie Friedjung im Januar 1885 schrieb, „denn wir sind Eines Blutes und Eines Stammes, Kinder der einen Mutter Germania", eine ideologische Überzeugung, der er bis zum bitteren Ende treu blieb.125 Obwohl sich Friedjung persönlich vom extremen Antisemitismus von Schönerers getroffen fühlte, betrachtete er diesen anfänglich als eine unglückliche Ablenkung von der gemeinsamen, zentralen Aufgabe, die nationale deutsche Wiedergeburt gegen die slawische Bedrohung zu festigen. Wie andere jüdische Alldeutsche auch hatte Friedjung zweifelsohne ein gewisses Maß an kulturellem Antisemitismus in-

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ternalisiert, indem er sich die völkische Ideologie zu eigen machte.126 Von Schönerers Hinwendung zu einem schrankenlosen Rassismus versetzte ihn und andere Juden in der Bewegung jedoch in eine unhaltbare und letztlich unmögliche Position.127 Friedjung konnte vielleicht akzeptieren, daß die Juden zu intellektuell, zu kaufmännisch, zu wenig bodenständig oder kosmopolitisch seien, und er forderte wiederholt, daß diese vollkommen in der deutschen Nation aufgehen sollten.128 Aber der neue rassistische Antisemitismus entzog ihm den Boden unter den Füßen, da er implizierte, daß sogar der assimilierteste Jude nicht hoffen durfte, eine aktive Rolle bei der nationalen deutschen Wiedergeburt zu spielen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Angenommensein, die diesem assimilationistischen Antrieb zugrunde lag, erhielt so einen grausamen Schlag, während die schon gespaltenen deutschnationalen Kräfte noch weiter zersplittert wurden.129 Friedjungs Bemühungen, eine neue Partei zwischen den Liberalen und den radikalen Alldeutschen zu gründen, waren kurzzeitig erfolgreich, aber sogar in dieser gemäßigteren Gruppierung (dem Deutschen Klub) löste seine jüdische Herkunft eine bittere antisemitische Kontroverse aus, die quer durch den Klub ging.130 Friedjungs politische Laufbahn wurde infolgedessen nicht nur zunichte gemacht, er mußte auch die gegen ihn gerichteten schmähenden Erniedrigungen als Vertreter eines Judentums hinnehmen, von dem er sich abgewandt hatte - und die im Namen einer deutschen Kultur ausgesprochen wurden, die er weiterhin leidenschaftlich verteidigte. Wie der Fall Friedjung zeigt, hatte die Ideologie der radikalen Assimilation, die eine Verschmelzung mit der nichtjüdischen Gesellschaft erleichtern sollte, Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts eine eindeutig gegenteilige Wirkung. Der Aufstieg eines aggressiv illiberalen und rassistischen Volksdeutschtums in Osterreich, dessen vorrangiger Gegner das moderne, emanzipierte, germanisierte Judentum war, überschattete die gesamte Strategie der Assimilation in Mitteleuropa.

6. Emporkömmlinge, Patrioten und Schutzjuden Nicht auf den König von Böhmen, auf den Markgrafen von Mähren und auf den Herzog von Steiermark war ihr Auge hoffhunngs- und vertrauensvoll gerichtet, sondern auf den Kaiser von Österreich, der alle Königreiche und Länder, die seinem kaiserlichen Scepter unterworfen sind, mit gleicher Gerechtigkeit regiert und alle seine Unterthanen mit gleicher väterlicher Liebe umfaßt. Ihre Hoffnung ward erfüüt, ihr Vertrauen hat sich bewährt. Der Kaiser von Österreich hat alle Gesetze sanctionirt, welche die Gleichstellung der österreichischen Juden proclamiren ... und in den jüdischen Gotteshäusern wird es laut verkündet, daß Franz Joseph /., der Kaiser von Österreich, seine jüdischen Unterthanen zu wahrhaften Menschen und zu freien Bürgern gemacht hat. Sie sind daher durch und durch dynastisch, kaiserlich, österreichisch, der österreichische Doppeladler istfür sie ein Symbol der Erlösung, die österreichischen Farben schmücken die Fahne ihrer Freiheit. (Dr. Adolf Jellinek 15. Juni 1883) ...die Juden allein Österreicher sind sans phrase, d. höhne ein zweites nationales Adjectw, welches das erste einschränkt. Wenn eine specifisch österreichische Nationalität construirt werden könnte, so würden die Juden ihren Grundstock bilden. Dr. Samuel Bloch, Österreichische Wochenschrift (21. November 1884) Wir müssen vielmehr Alle von dem Gedanken durchdrungen sein, daß dort, wo es sich um das Wohl unseres Vaterlandes handelt, alle Confessionen die gleichen Interessen haben und daß die Emancipation der Juden eben nur dadurch zum vollsten Ausdrucke kommt, daß sie sich als österreische Staatsbürger fühlen, ihre Pflichten als solche zu erfüllen sehen und nicht etwa eine Sonderstellung für sich in Anspruch nehmen. Dr. Heinrich Jaques (7. Februar 1891) Ο Herr, hilf doch, daß die dunklen Schatten der Trauer aus dem Hause Habsburg und die des Hasses aus den Gassen Österreichsfür immer schwinden! Dr. M. Rosenmann, Rede, gehalten am 2. Dezember 1898 anläßlich der Feier der 50jährigen Regierung Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I.

E N D E D E S 1 9 . J A H R H U N D E R T S WAR D E R M A T E R I E L L E W O H L S T A N D D E R

JUDEN

Wiens und Österreichs in den Augen vieler Nichtjuden eine unumstrittene Tatsache. Diese legendären Reichtümer waren großteils sagenumwoben. Jüdischer Reichtum und jüdische Macht wurden von antisemitischen Demagogen beständig übertrieben, die kein Wort über die viel bedeutenderen Vermögenswerte und den größeren Ein-

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fluß der feudalen Großgrundbesitzer sowie die Armut der breiten Masse der österreichischen Juden verloren.1 Es entsprach jedoch der Wahrheit, daß die berühmten jüdischen Familien wie die Rothschild, Todesco, Auspitz, Lieben, Wodianer, Gustav Springer und Königswarter bei der Expansion von Industrie und Handel in Osterreich, bei den Staatsfinanzen und der Finanzierung der großen Eisenbahnlinien weiter eine bedeutende Rolle spielten. Die palaisähnlichen Ringstraßengebäude einiger dieser führenden Familien unterstrichen die nahezu monopolistische Stellung der Juden in der Hochfinanz Wiens.2 Außerdem spielten jüdische Industrielle einen wichtigen Part bei der Entwicklung der Textilindustrie in Prag, Reichenberg und Brünn, bei der Bierindustrie in Pilsen sowie bei den Zuckerraffinerien und der Malzindustrie in Böhmen. Jüdische Unternehmer eröffneten die mährisch-schlesischen Kohlenreviere und gründeten die riesigen Stahlwerke in Witkowitz; die Braunkohlenreviere Nordböhmens wurden von den Familien Petschek und Weinmann erschlossen und abgebaut, die 75 Prozent der Produktion abwickelten.3 Der millionenschwere Industrielle und Mäzen der musikalischen Künste, Karl Wittgenstein (Vater des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein), beherrschte das Stahlkartell des habsburgischen Reiches.4 Einige dieser Industriellen und Bankiers, wie ζ. B. Wittgenstein, hatten ihre Verbindungen zum Judentum und zur jüdischen Gemeinde abgebrochen, andere hingegen, wie die Familien Rothschild, Königswarter, Gutmann und Theodor von Taussig, waren in unterschiedlichem Maße in der Israelitischen Kultusgemeinde aktiv.5 Wenige Financiers, wie Jonas Freiherr von Königswarter, waren tief religiöse, gottesfiirchtige Juden orthodoxer Prägung.6 Einige, wie Moritz Ritter von Goldschmidt, hatten sich durch ihr makelloses Familienleben und durch die wohltätigen Unterstützung ihrer Glaubensgenossen ausgezeichnet.7 Das herausragendste Beispiel für eine Verbindung von industriellem Erfolg und der Hingabe an die jüdische Sache war die Firma Gebrüder Gutmann, die 1853 von Wilhelm und David Ritter von Gutmann gegründet worden war. Sie sollten schließlich zu Österreichs führenden Kohlenmagnaten und zu großzügigen Philanthropen werden.8 Wilhelm Gutmann (1825-1895) war in der mährischen Stadt Leipnik geboren worden, wo er einige Jahre lang an der Jeschiwa studierte. Als Jugendlicher hatte er all die bekannten Erniedrigungen des österreichischen Judentums vor 1848 erlitten, die durch die Gesetzgebung in Mähren noch verstärkt worden waren.9 Er hatte als Kommissionär im Kohlenhandel begonnen, bevor er mit seinem Bruder die Firma gründete, welche die Lagerstätten im Becken von Ostrau und in Galizien erschloß und damit fast den gesamten Kohlenabbau Österreich-Ungarns kontrollierte. 1865 war er eine Partnerschaft mit Anselm von Rothschild eingegangen und baute zwei Jahre später eine Zuckerfabrik auf. 1872 tat sich Gutmann mit den Wiener Rothschilds zusammen, um die Witkowitzer Eisen- und Stahlwerke zu errichten, an denen seine Firma zur Hälfte beteiligt war.10 Gutmann, einer der Begründer der

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Österreichischen Industriellenvereinigung im Jahre 1874 und Vorstandsmitglied der von Rothschild kontrollierten Creditanstalt, wurde ordnungsgemäß in den Niederösterreichischen Landtag gewählt, wo er die Deutschliberalen unterstützte. 1878 wurde der „Kohlenkönig" für seine Verdienste um die österreichische Industrie in den Ritterstand erhoben, sein Bruder wurde ein Jahr später geadelt.11 1891 wurde Wilhelm Ritter von Gutmann zum Präsidenten der Wiener Kultusgemeinde gewählt und gründete ein Kinderkrankenhaus in Wien, ein Heim für körperlich Behinderte in Krems, ein Waisenhaus für Mädchen in Döbling und im Jahre 1893 gemeinsam mit seinem Bruder die Wiener Israelitisch-Theologische Lehranstalt.12 Als Vorsitzender der Wiener Israelitischen Allianz und der Baron-HirschStiftung fur Galizien war David Ritter von Gutmann (1834-1912) nicht weniger intensiv mit jüdischen Angelegenheiten befaßt. Seit den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigte er sich durch den Anstieg des Antisemitismus in Osterreich beunruhigt und half Rabbi Josef Bloch, die Gerichtskosten für den langen Prozeß gegen den katholischen Judenhasser August Rohling zu tragen. In den stürmischen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts fand diese Sorge angesichts des Antisemitismus häufig Niederschlag in seinem Briefwechsel mit den Führungspersönlichkeiten der Alliance Israelite Universelle in Paris.13 So betonte David von Gutmann zum Beispiel in einem Brief an seine Pariser Kollegen vom 6. November 1895, daß die Wiener Allianz in dem feindlichen Wiener Klima, wo die Antisemiten keine Gelegenheit ausließen, gegen den „Internationalismus" und die Untreue der Juden loszuziehen, sehr vorsichtig vorgehen müsse. Die Gemeinde könne ihre Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß genau dieser Vorwurf den antisemitischen Kräften in die Hände spielen könnte.14 David von Gutmann wies daher die dringenden Bitten der französischen Organisation um finanzielle Unterstützung und Zusammenarbeit bei der Schaffung neuen Allianz-Schulen in Galizien als politisch unvorsichtig zurück. Die Affäre um den Ritualmörder Hilsner in Böhmen Ende der 90er Jahre verstärkte diese Zurückhaltung, und der lange Kampf um eine Revision des Urteils wurde, nach Aussagen Gutmanns, ständig durch Virulenz des österreichischen Antisemitismus gelähmt; dies machte jedes eindeutige öffentliche Eintreten einer offiziellen jüdischen Institution für Hilsner äußerst schwierig, da dies die Antisemiten veranlassen hätte können, ihre Aufmerksamkeit vom spezifischen Fall auf „jüdische Machenschaften" hinter den Kulissen zu lenken.15 Außerdem war Gutmann selbst gemeinsam mit den Rothschilds zu einer beliebten Zielscheibe nicht nur der Antisemiten, sondern auch der zunehmend erstarkenden österreichischen Sozialdemokratie geworden, die ihn gewissenlos als einen Kohlenbaron und „blutsaugenden Ausbeuter" der Arbeiter angriffen. Für die Wiener Sozialisten war er ein Symbol für die Macht der jüdischen Großkapitalisten, wel-

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che die Christlichsoziale Partei zwar mit Worten angegriffen, in der Tat aber mit ihnen zusammenarbeiteten. Nach marxistischer Erkenntnis waren die katholischen Antisemiten von der Logik der kapitalistischen Profitgier geleitet worden, um sich mit Gutmann und Rothschild gegen die streikenden Bergleute und Eisenbahner zu verbünden.16 Trotz aller Demagogie und des Anflugs von linker Judenangst lag in diesem Bild kapitalistischer Klassensolidarität ein Fünkchen Wahrheit. Immerhin war Wien das unumstrittene Finanzzentrum eines riesigen Reichs von 50 Millionen Einwohnern, und seinen führenden Banken fiel eine entscheidende Bedeutung bei der Industrialisierung der Monarchie zu. Ihre bevorzugten Verbindungen zum österreichischen Staat, ihre Kontrolle über langfristige Investitionen und die Ausstattung der Industrie mit Kapital verliehen ihnen eine Schlüsselstellung bei der wirtschaftlichen Entwicklung.17 Industrielle wie Gutmann oder Herrscher über Finanzimperien wie Albert de Rothschild und die Direktoren seiner Boden-Creditanstalt - insbesondere Theodor von Taussig und Rudolf Sieghart (1866-1954) - übten sehr wohl hinter den Kulissen Einfluß auf Regierungsvertreter aus, auch wenn sie sich nur widerwillig offen auf politisches Terrain begaben.18 Insbesondere Sieghart war die graue Eminenz einiger aufeinanderfolgender österreichischer Regierungen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts - was den Thronerben, Franz Ferdinand, zur Uberzeugung veranlaßte, daß dieser eine geheime „jüdische Verschwörung" anführte. Außerdem erhielten jüdische Bankiers und Unternehmer die höchsten Auszeichnungen des Kaisers und genossen allgemein das Vertrauen innerhalb der höheren Verwaltung. Im Bankwesen und dem Großunternehmertum wurden sie nicht sichtbar diskriminiert, und ihr Quasimonopol der Hochfinanz in Wien wurde vor 1914 nie ernsthaft untergraben. Dem französischen Wirtschaftshistoriker Bernard Michel zufolge stellten die Juden im späten 19. Jahrhundert über die Hälfte der bedeutenderen deutschen Bankiers Österreichs, und in den Schlüsselpositionen betrug ihr Anteil sogar 80 Prozent.19 Die Treue der jüdischen Finanzelite zum Kaiser, ihr glühender dynastischer Patriotismus und ihre Bindung an den Vielvölkerstaat standen außer Zweifel. Mächtiger Widerstand gegen ihren Einfluß schlug ihnen jedoch von den konservativen Großgrundbesitzern, der katholischen Kirche und den antikapitalistischen Kräften von rechts und links, vertreten durch die christlichsoziale antisemitische Partei und die Sozialdemokraten, entgegen. In einem halbfeudalen österreichischen Staat, der vor 1914 noch immer vom Adel, der Kirche und landwirtschaftlichen Interessen dominiert wurde - wo die kapitalistische Mentalität niemals bis in breitere Schichten der Gesellschaft durchgesickert war - , bedeutete dies eine ernsthafte Einschränkung ihrer Macht. Dennoch war es den gebildeteren Österreichern klar, daß sie bei der wirtschaftlichen Modernisierung des Reiches unverzichtbar waren, und sie schätzten sie als Kulturmäzene. Nach 1897 mußte sogar die herrschende antisemitische Re-

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gierung Wiens ihre Angriffe auf die großen jüdischen Banken mäßigen und bedrohte die wirtschaftliche Grundlage des jüdischen Finanzbürgertums nicht ernstlich.20 Zugegebenermaßen beherrschten die führenden Wiener Familien die österreichische Industrie, das Bankenwesen und die Börse nie wirklich in dem Ausmaß, wie dies in Budapest der Fall war.21 Auch konnten sie nicht auf den besonderen Schutz zählen, den die magyarischen Magnaten den ungarischen Juden verliehen. Dennoch waren sie angesichts der antikapitalistischen Hetzkampagne, die Osterreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfaßte, relativ sicher. 1873, während der Blüte der liberalen Ära, war die ihnen zuteil werdende Verleihung von Adelstiteln und Auszeichnungen Anlaß für große Genugtuung und Selbstlob in der jüdischen Gemeinde.22 Nicht nur im Bankwesen, sondern auch auf Gebieten wie der Lederwarenerzeugung, der Möbelproduktion, der Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie hatten die Juden schon eine starke wirtschaftliche Position behauptet. In den relativ aufgeklärten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden getaufte Juden wie Julius Glaser und JosefUnger zu Kabinettsmitgliedern ernannt. In der deutschliberalen Partei spielten Männer jüdischer Herkunft eine führende Rolle. In den 80er Jahren waren die Mehrzahl der Wiener Arzte und Anwälte Juden. 23 In der Literatur, beim Theater und auf dem Unterhaltungssektor fingen die Söhne des neuen jüdischen Bürgertums an, die öffentliche Meinung und den Geschmack zu beeinflussen, ein Trend, der bis zum Ende der Monarchie niemals ernsthaft umgekehrt werden sollte. Besonders hervorzuheben ist die Stellung der Juden unter den großen Pressezaren. Bei den meisten fuhrenden Zeitungen Wiens stellten sie den Eigentümer, den Herausgeber und die meisten Redakteure. Es war bezeichnend, wenn auch etwas übertrieben, daß Henry Wickham Steed, der Korrespondent der Times in der österreichischen Hauptstadt, schreiben konnte, daß „dem wirtschaftlichen, politischen und allgemeinen Einfluß nach, sie - die Juden - doch das wichtigste Element in der Monarchie sind". 24 Wickham Steed erwähnte besonders die liberale Neue Freie Presse - die wichtigste Zeitung im Reich - , deren pro-kapitalistische Orientierung und deren deutschen Chauvinismus er zutiefst verabscheute: „ ... im Besitz von Juden, herausgegeben und geschrieben von Juden spricht sie in erster Linie eine spezifisch jüdische Leserschaft an, wobei viele von ihnen, wie die meisten ihrer nichtjüdischen Leser, sie verdächtigen, ständig die Börse beeinflussen zu wollen ,.." 2 5 Wie viele feindselig gesonnenen Beobachter, sah Wickham Steed in der Neuen Freien Presse in erster Linie ein Organ „jüdischer" Finanzinteressen und glaubte, hinter dem übertriebenen Deutschtum eine Rationalisierung jüdischer assimilationistischer Bestrebungen zu sehen. Dennoch war es ihrem Chefredakteur, dem autokratischen Moriz Benedikt, der sich nie kleinkriegen ließ (und von dem gesagt wurde, daß „neben ihm der Kaiser der wichtigste Mann im Lande war"), zweifeis-

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ohne gelungen, sie trotz des endemischen Antisemitismus so vieler Deutschösterreicher zum Sprachrohr der liberal-bürgerlichen Meinung zu machen. Benedikts größter Konkurrent, das Neue Wiener Tageblatt - Herausgeber und Eigentümer war der frankophile galizische Jude Moritz Szeps - sprach die demokratischer Gesinnten unter dem Wiener Bürgertum und in der unteren Mittelklasse an. 26 Dieser halb-populistischen Zeitung vertraute Szeps' enger Freund und Vertrauter, der österreichische Kronprinz Rudolf, in den frühen 80er Jahren viele seiner anonymen Artikel über soziale und politische Themen an. Bezeichnenderweise beschäftigten sich sowohl der Kronprinz als auch Szeps ausfuhrlich mit der Bedrohung, die der neue Antisemitismus in Osterreich und Ungarn für die liberalen Werte darstellte. Sie waren sich völlig darüber einig, daß die antijüdische Hetze der 80er Jahre nicht nur eine schwere Beleidigung der religiösen Toleranz, Humanität und Zivilisation darstellte, sondern auch eine Strömung war, die die Stabilität der Monarchie selbst erschüttern könnte. 27 Eine weitere Zeitung in „jüdischer" Hand war die marxistische Arbeiterzeitung, die Wickham Steed trotz ihrer „engstirnigen marxistischen Orthodoxie" uneingeschränkt als Zufluchtstätte der Vernunft und „den einzigen Schutz gegen die Welle von offiziöser Berichterstattung und finanziellem Eigennutz, die die deutsche Presse Österreichs vergiftet" lobte.28 Ihr Begründer und Herausgeber, Victor Adler - der Führer der Osterreichischen Sozialdemokratischen Partei - wurde recht positiv als „ein Jude der prophetischen, selbstaufopfernden und eifrigen Art [beschrieben], die schon so oft das Volk Israel vor dem Vorwurf bewahrt haben, nur dem Goldenen Kalb zu dienen". 29 Die grundsätzliche Ablehnung von kapitalistischem Egoismus, rassischer Rivalität und brutaler Gewalt seitens der österreichischen Sozialdemokraten sowie ihr Eintreten für internationale Brüderlichkeit ließ sie etwas aus dem Rahmen der späten Habsburgermonarchie fallen. Obwohl die Arbeiterzeitung eindeutig nicht jüdischen kapitalistischen Interessen diente, spiegelte ihr Inhalt dennoch, so Wickham Steed, die „geistige Beweglichkeit jüdischer Intelligenz", die „Fähigkeit zu abstrakten Schlußfolgerungen" sowie die für die jüdische Rasse typische Konzentration und Zielstrebigkeit wider. In ihrem Bemühen, die proletarischen Massen zu erziehen und aufzubauen, hatte die sozialdemokratische Presse eindeutig etwas von der liberal-bürgerlichen Bildvingstradition im besten Sinn des Wortes geerbt. Wickham Steeds Beobachtung, daß die Juden im Wiener Journalismus überall zu finden gewesen seien (eine ähnlich dynamische Rolle spielten sie in Ungarn und einigen anderen Teilen der Monarchie), war durchaus berechtigt, wenn auch manchmal ungebührlich scharf formuliert. Schon 1848 hatten sich jüdische Intellektuelle, wie Ludwig Frankl, Ignaz Kuranda und Hermann Jellinek, in eine Tätigkeit gestürzt, die durchaus geeignet war, die Prinzipien einer Gesellschaft neu zu entwerfen, die ihnen

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noch immer den Zutritt verwehrte.50 In der liberalen Ära nach der Emanzipation folgten dann auch andere jüdische Zeitungsherausgeber und Journalisten ihrem Beispiel, wie Leopold Landsteiner, Max Friedländer, Alexander Scharf, Moritz Szeps, Moriz Benedikt, Eduard Bacher und Theodor Hertzka. So unterschiedliche Talente des Fin de Siicle wie Theodor Herzl, Victor Adler und Karl Kraus verdienten sich im Wiener Journalismus ebenfalls ihre ersten Sporen. Diese Journalisten zeichneten sich nicht durch spezielle „jüdische Interessen" oder Motivationen aus, sondern vielmehr durch ihre äußerst hoch entwickelten kritischen Fähigkeiten, ihr polemisches Talent und ihre Beobachtungsgabe. Diese Eigenschaften wurden vielleicht durch ererbte jüdische intellektuelle Traditionen, durch das Gefühl, sich von dem schweren Ghettoerbe zu befreien, und durch die Notwendigkeit verstärkt, ein Ventil für unterdrückte Energien zu finden, die nach Ausdruck verlangten.31 Es waren diese intellektuelle Beweglichkeit, diese Ruhelosigkeit und die Allgegenwart der jüdischen Präsenz - die in vielerlei Hinsicht durch ihre beherrschende Rolle im Pressewesen symbolisiert wurde -, die zeitgenössischen Beobachtern besonders auffielen. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann empfand bei seiner Ubersiedlung von München nach Wien im Jahre 1898 so etwas wie einen Kulturschock. Es war jedoch nicht das elegante und attraktive Außere der Metropole, die übertriebene Vergnügungssucht ihrer Bewohner oder die perverse Bosheit österreichischer Politik, das ihn in Erstaunen versetzte, sondern vielmehr die Tatsache, daß „die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde".32 Bei Wassermann findet sich die Feststellung einer „Allgegenwärtigkeit des Jüdischen": „Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, die gesellschaftlichen Veranstaltungen, alles war in den Händen der Juden ..." und sie haben den Ton und die Farbe des Wiener Lebens bestimmt. Es war nicht so, daß die Juden wirklich an der politischen Macht waren, sondern daß ihr Geist die kommerziellen, intellektuellen und künstlerischen Kreise animierte, von denen sich die österreichische Aristokratie, das Beamtentum und die Militärfamilien aus Verachtung fernhielten. „Der Hof, die Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge. Daß die Juden als die beweglichste Gruppe alle übrigen in unaufhörlicher Bewegung hielten, ist nicht weiter erstaunlich. Dennoch war meine Verwunderung groß über die Menge von jüdischen Ärzten, Advokaten, Klubmitgliedern, Snobs, Dandys, Proletariern, Schauspielern, Zeitungsleuten und Dichtern. Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. Ich war bei den deutschen Juden mehr an bürgerliche Abgeschliffenheit und soziale Unauffälligkeit gewöhnt. Hier wurde ich eine gewisse Scham nie ganz los. Ich schämte mich ihrer Manieren und schämte mich ihrer Haltung."33 Natürlich waren nicht alle Wiener Juden erfolgreich; aber der allgemeine Trend war durchaus erkennbar. Juden machten sich überall einen Namen, ob im Bankwe-

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sen, im Handel, in der Industrie, in den freien Berufen, in der Presse oder der Politik. Auch an den Universitäten hatte die Expansion der jüdischen bürgerlichen Elite 1880 schon an Stoßkraft gewonnen. Die Teilnahme von Juden am Unterricht in Wiener Mittelschulen war außerordentlich hoch. Bei den humanistischen Gymnasien erreichte sie 1885 31 Prozent, und in den naturwissenschaftlich orientierten Realgymnasien lag sie im späten 19. Jahrhundert bei etwa 20 Prozent.34 Ende der 80er Jahre war die jüdische Präsenz an der medizinischen (48 Prozent), juridischen (22 Prozent) und philosophischen Fakultät (15 Prozent) äußerst beeindruckend und trug, wie wir gesehen haben, in beachtlichem Maße zum studentischen Antisemitismus in Österreich bei.35 Es war dieser massenhafte Ansturm auf höhere Bildung, der auch das Rückgrat und das Reservoir für die Bildungselite Wiens darstellte und für den erstaunlich „jüdischen" Charakter der liberalen Intellektuellen der Hauptstadt verantwortlich war. Da nicht getauften Juden der Weg zu einer ordentlichen Professur häufig versperrt und eine Karriere im Rechtswesen ebenfalls nicht möglich war, verstärkte sich der jüdische Trend, eine unabhängige Laufbahn im Journalismus, den Geisteswissenschaften und den Künsten oder in den freien Berufen einzuschlagen.36 Trotz der politischen Emanzipation hatten die Juden auch äußerst schwierigen Zugang zu Beamtenstellen auf staatlicher, regionaler oder lokaler Verwaltungsebene.37 Ihr Ausschluß vom höheren Staatsdienst im allgemeinen - selbst während der liberalen Ära - spiegelte die große Kluft zwischen administrativer Praxis und den Vorgaben bürgerlicher Gleichstellung wider.38 Die wirtschaftliche Konkurrenz, die Juden auf den für sie zugänglichen Gebieten, wie dem Handel, den freien Berufen, als Angestellte im Bankwesen, im Handel und in der Privatindustrie, für Nichtjuden darstellten, trug andererseits dazu bei, den Antisemitismus in hohem Maße zu verstärken.39 In der österreichisch-ungarischen Armee, in der Juden seit den josefinischen Reformen der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts gedient hatten, gab es relativ wenige Diskriminierungen. Die ersten jüdischen Offiziere wurden in der österreichischen Armee vermutlich zwischen 1800 und 1810 ernannt. Trotz des allgemeinen Mißtrauens und der Zurückhaltung, die ihnen noch immer entgegenschlugen, stieg die Zahl jüdischer Soldaten stetig an, und in den Kriegen von 1859 und 1866 dienten schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Juden in der kaiserlichen Armee. 1902 waren es 60.000 (4 Prozent der Soldaten), was ungefähr ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach.'10 Juden machten nur ein Prozent der Berufsoffiziere in der regulären Armee aus - insbesondere im Medizin- und Versorgungskorps - , sie stellten jedoch 18 Prozent der Einjährig-Freiwilligen-Reserveoffiziere, was auf ihren hohen Anteil an Mittelschul- und Universitätsabsolventen zurückzuführen ist.41 Obwohl das Militär Juden keine große Karriere versprach, war ihr hoher Anteil in der österreichisch-ungarischen Armee im Vergleich zur deutschen und zu den

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meisten anderen europäischen Armeen trotzdem außergewöhnlich. Ganz im Gegensatz zu preußischen Regimentern gab es keinen ausdrücklichen Ausschluß jüdischer Offiziere, und antisemitische Vorurteile wurden offiziell nicht geduldet. 42 Der Antisemitismus scheint in der Armee trotz der ständigen nationalistischen Hetze und trotz der Tatsache, daß die meisten Offiziere römisch-katholische Deutsche waren, tatsächlich weitaus schwächer gewesen zu sein als in anderen Bereichen der österreichischen Gesellschaft. Vor 1914 gab es keinen Vorfall in der österreichischen Armee, der mit der Dreyfus-AfFäre vergleichbar gewesen wäre, noch gab es eine Parallele zur schmachvollen Judenzählung, die in der deutschen Armee während des Ersten Weltkrieges durchgeführt wurde. 43 In dieser übernationalen Einrichtung par excellence, die nur dem Kaiser und der Dynastie ergeben war, wurden die Juden im großen und ganzen gleich wie andere ethnische oder religiöse Gruppen behandelt.44 Die Armee konnte einfach keine offene rassische oder religiöse Diskriminierung dulden, die nur die moralische und patriotische Motivation untergraben hätte.45 Die österreichischen Juden als übernationale Gruppe innerhalb des Vielvölkerstaates empfanden eine starke Identifikation mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn und Symbol für die Einheit. Wie es die Österreichische Wochenschrift am 25. August 1901 ausdrückte: „Für uns ist die kaiserliche Armee das Symbol der Einheit und der Macht des Staates, in ihr verkörpert sich der reine Staatsgedanke ohne nationale, politische und confessionelle Verunstaltung ..." Zum bürgerlichen Patriotismus, der zum Eckpfeiler des post-emanzipatorischen Judentums in ganz Europa geworden war, fügten die österreichischen Juden noch die Dimension unerschütterlicher dynastischer Treue und Ergebenheit hinzu, die nach 1867 zu einem wahren Kult wurde. Religion, Vaterland und der Kaiser wurden für die österreichischen Juden zu heiligen Werten. Dieser kaiserliche Patriotismus wurde von der Kanzel, in der jüdischen Presse, bei öffentlichen Veranstaltungen und bei Gedenkfeiern genährt. Die kaiserlich-königliche Loyalität der Juden stand außerdem in scharfem Gegensatz zu den zentrifugalen Kräften des slawischen Nationalismus und des feudalen Partikularismus. 46 Und am bezeichnendsten war, daß die zivile Religion des dynastischen Patriotismus zu einem zentralen Merkmal in der Verteidigungsstrategie des jüdischen Establishments wurde, das sich nach 1880 von der neuen Macht des organisierten politischen Antisemitismus bedroht fühlte. Als der Kaiser am 26. September 1891 Vertreter des Vorstandes der Prager jüdischen Gemeinde empfing und ihnen mitteilte, daß er wisse daß „die Israeliten sehr patriotisch sind", waren Die Neuzeit und ihr Leitartikler Adolf Jellinek außer sich vor Freude. War dies nicht ein scharfer Vorwurf seitens der höchsten Autorität des Landes an Prinz Liechtenstein, Dr. Lueger, Ernst Schneider und ihre antisemitischen Freunde? Zeigte es nicht, daß der erhabene Monarch wirklich erfaßt hatte, wie „die Herzen der jüdischen Österreicher patriotisch für Kaiser und Reich schlagen"?47

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Als im Jahre 1882 der Judenhaß „wie im Mittelalter seine häßlichen Orgien feierte, da sprach Seine Majestät zu seinem Minister: ,Ich dulde keine Judenhetze in Meinem Reiche.'"48 Im Jahre 1885, als der Kaiser anläßlich der Feier der 600jährigen Zugehörigkeit der Steiermark zum Herrscherhause Habsburg die Israelitendeputation in Graz empfing, erwiderte Seine Majestät derselben: „Ich bin von der Treue und Loyalität der Israeliten vollkommen überzeugt und die Israeliten können immerdar auf Meinen Schutz rechnen."49 Im gleichen Jahr hatte er anläßlich eines Empfangs einer weiteren israelitischen Abordnung in Szeged die imgarischen Juden seines väterlichen Schutzes und des Schutzes der Dynastie im Gegenzug für ihre Loyalität zum Thron und zum Vaterland versichert - und das zu einer Zeit, als die antisemitische Agitation sich in Ungarn wie ein Waldbrand ausbreitete.50 Im Juni 1885 hatte er klar seine Mißbilligung eines möglichen antisemitischen Erfolges bei den österreichischen Wahlen angedeutet, und im September des gleichen Jahres erklärte er seine feste Absicht sicherzustellen, daß alle Bekenntnisse ihre Religion ohne Furcht oder Hinderung frei ausüben könnten.51 Am 12. September 1887 betonte Franz Joseph nochmals gegenüber Deputationen des israelitischen Kultusgemeinde: „Die imbedingte Gleichberechtigung ist in jeder Beziehung ein Gebot der Gerechtigkeit"; und daß er überzeugt war, daß „Ihre Glaubensgenossen durch Treue, Patriotismus und gesellschaftliche Tugenden die Achtimg Ihrer Mitbürger anderer Confessionen und königlichen Schutz sich auch ferner sichern werden".52 In der jüdischen Presse wurden solche Ausspriiche in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit überschwänglicher Genugtuung zitiert, um den Edelmut, die Aufrichtigkeit, die Güte und den Gerechtigkeitssinn des habsburgischen Kaisers zu unterstreichen. Den österreichischen Juden erschien Franz Joseph I. in zunehmendem Maße als ihr Schutzengel, Wächter und Schutzheiliger gegen die anschwellende Flut des Antisemitismus von unten.53 Man erinnerte daran, daß es 1849, nicht lange nach Übernahme der Herrschaft, eine seiner ersten Taten gewesen war, den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung zu gewähren; die Tatsache, daß die Emanzipation erst durch die den Habsburgern so verhaßte Revolution von 1848 auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde, spielte man diskret herunter. Stattdessen wurden das Chaos, die Unordnung und die antijüdischen Ausschreitungen dieser bewegtesten Jahre in der österreichischen Geschichte gebührend hervorgehoben. Auch die Tatsache, daß den Juden ihre versprochenen Rechte durch den neuen Herrscher sehr rasch wieder entzogen wurden und sie fast neunzehn Jahre lang warten mußten, bis Franz Joseph in der Blütezeit der liberalen Ära ihre volle Gleichberechtigung anerkannte, wurde geflissentlich übersehen. Es muß hier angeführt werden, daß die zunehmende Verschlechterung der Lage der österreichischen Juden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bewirkte, daß die Habsburger positiver gesehen wurden, als die einzigartig wohlwollenden Wäch-

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ter und Schutzherren der Juden, unter deren seligem Zepter sie immer Schutz gegen mittelalterliche Ritualmordverleumdungen, klerikalen Fanatismus und die Herrschaft des Pöbel genossen hatten.54 In jüdischen Augen wurde Franz Joseph I. nun zu einem Erben dieser gnädigen, dankenswerten und wohlwollenden habsburgischen Tradition, ein Monarch, der nicht nur seine berühmten Vorgänger, sondern auch alle zeitgenössischen fürstlichen Herrscher Europas in seiner Achtung von religiöser Toleranz und Gerechtigkeit übertraf.55 In einer zu Heizen gehenden Lobrede an seine Majestät den Kaiser bei der Chewra-Kaddischa-Feier in Wien am 22. Februar 1885 sagte Adolf Jellinek begeistert: „Kein Fürst aus dem glorreichen Hause Habsburg hat sich unseren Brüdern in Osterreich so huldvoll bewährt, als unser geliebter Monarch. Welche Fortschritte hat die Freiheit unserer Glaubensbrüder unter dem ruhmvollen Scepter unseres erhabenen Monarchen gemacht ... auf das erlösende Wort unseres erhabenen Regenten fielen die Fesseln, welche die Juden in Osterreich drückten, lösten sich die Bande, die ihre Kräfte gefangen hielten!"56

In Jellineks Zusammenfassung wurde der habsburgische Doppeladler zu einem Symbol der zweifachen Verpflichtung des Kaisers zu Freiheit und Gerechtigkeit für seine jüdischen Untertanen. 57 Es wurde auch angeführt, daß die österreichischen Juden dank des besonderen Schutzes seitens ihres Kaisers unter dem Antisemitismus weniger zu leiden hätten als ihre ungarischen Glaubensgenossen.58 Das vierzigjährige Regierungsjubiläum Franz Josephs bot die Gelegenheit für weitere Beweise an Dankbarkeit und Liebe zu dem habsburgischen Herrscher und eine optimistische Würdigung dessen, was die österreichischen Juden in Industrie, Kultur, Politik und in bürgerlicher Freiheit in den vier Jahrzehnten seiner Herrschaft geleistet hatten.59 Ein Jahr später bestätigte der Wiener Korrespondent der Londoner Jewish Chronicle bei der Betrachtung der im ganzen Reich stattfindenden jüdischen Feiern zum neunundfünfzigsten Geburtstag des Kaisers im August 1889, daß diese persönlich in seiner Schuld stünden „für die Freiheit, die sie in den letzten vierzig Jahren genossen haben".60 Die gleiche Quelle berichtete, daß sich der Kaiser anläßlich der antisemitischen Ausschreitungen in Wien „äußerst unzufrieden über die Maßnahmen der Behörden geäußert haben soll", denen es nicht gelang, die Exzesse zu unterbinden.61 Als wäre dies noch nicht genug, wünschte Franz Joseph I. der jüdischen Abordnung bei Militärmanövern im September 1890 in Großwardein den Frieden und Wohlstand, „den der Schutz des Rechtes und meine eigene unveränderliche Gunst ihnen sichern".62 Am 7. Oktober 1892 berichteten österreichische und ausländische Zeitungen wieder davon, daß der Kaiser die antijüdische Hetze „aufs nachdrücklichste" verurteilt hätte. Seine Bemerkungen bei einem Empfang der Delegationen in Budapest beschäftigten sich vor allem mit den Skandalen der vergan-

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genen Woche im niederösterreichischen Landtag, wo antisemitische Abgeordnete jüdische Arzte verleumdet hatten - indem sie ihnen vorwarfen, Christen ermorden zu wollen, wenn sie sie in die Cholerakrankenhäuser einwiesen!63 Seine Majestät soll zu Professor Eduard Suess, einem berühmten Geologen und liberalen Mitglied des niederösterreichischen Landtages gesagt haben: „Die Ausschreitungen, die wiederholt in letzterer Zeit im niederösterreichischen Landtage vorgekommen sind, machen eine erfolgreiche Thätigkeit dieser Körperschaft nahezu unmöglich. Solche Vorgänge können zu keinem guten Ende fiihren. Das ist eine Schande vor der ganzen

Welt, das ist ein Scandal... Man weiß gar nicht, was man dazu sagen soll."64 Es erübrigt sich zu betonen, daß derartige Äußerungen den Kaiser bei den österreichischen Antisemiten nicht beliebter machten, die schon wegen seiner toleranten Ernennungspolitik, seiner Bereitschaft, jüdische Abordnungen zu empfangen, seiner gelegentlichen Besuche von Synagogen und wegen der Auszeichnungen, die er anerkannten Juden verlieh, aufgebracht waren.65 Es besteht wenig Zweifel daran, daß Franz Joseph I. es ernst mit seinem Wunsch meinte, der Antisemitismus solle ausgerottet werden, und seine wiederholten Hinweise auf den Patriotismus, den Mut und die Ergebenheit der Juden waren sicherlich mehr als nur Gerede.66 Am Höhepunkt der Lueger-Hetzkampagne im Jahre 1895 schrieb er in einem Brief an seine Frau bezeichnenderweise: „Der Antisemitismus ist eine bis in die höchsten Kreise ungemein verbreitete Krankheit und die Agitation ist eine unglaubliche ... die Auswüchse sind entsetzlich."67 Die viermalige Weigerung des Kaisers, Karl Lueger in seinem Bürgermeisteramt zu bestätigen, stand zumindest teilweise in Zusammenhang mit seinem Abscheu vor dem pöbelhaften Charakter der christlichsozialen antisemitischen Hetze, wenn auch der ungarische Druck, das kaiserliche Veto einzusetzen, vermutlich den wichtigeren Ausschlag gab. Die fanatischeren Antisemiten reagierten auf diese Einmischung von oben, indem sie Franz Joseph den Beinamen „Judenkaiser" gaben.68 Für die österreichischen Juden bedeutete der eindeutige Widerwille, mit dem der Kaiser dem Emporkömmling Lueger und dessen Gefolgsleuten begegnete, jedoch eine weitere Bestätigung, daß sie auf seine Grundanständigkeit vertrauen durften. Daß Lueger schließlich doch als Bürgermeister bestätigt wurde, machte den Juden noch mehr als zuvor bewußt, wie sehr sie von Franz Josephs väterlichem Wohlwollen abhingen. Der Wiener Korrespondent der Jewish Chronicle kommentierte anläßlich des Jubiläums des österreichischen Kaisers im Dezember 1898: „Die Juden verdanken ihrem Kaiser Franz Joseph sehr viel; und wenn bei dem Gedanken an die verschiedenen politisch rückschrittlichen Maßnahmen, die sie zu ertragen haben, etwas Schmerz ihr Glück mindern sollte, so machen sie den Kaiser in keiner Weise dafür verantwortlich. Franz Joseph ist ein strikt konstitutioneller Monarch, der

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sich nicht in das Recht oder die Verantwortung des Ministerpräsidenten einmischt, dem er die volle und gänzliche exekutive Verantwortung und Handlungsfreiheit überläßt. Wir können daher sehen, daß die Juden in Ungarn, wo derzeit eine liberale Regierung an der Macht ist, die umfassendsten politischen Freiheiten genießen und vom Kaiser oft die höchsten Komplimente fur ihre Loyalität und ihren Patriotismus erhellten. Am 2. Dezember werden innige Gebete in den jüdischen Gotteshäusern gesprochen werden, nicht weil - wie vorauszusehen - einige Anführer jüdischer Gemeinden Auszeichnungen oder Titel erhalten werden, sondern weil die edle Haltung dieses aufrechten Monarchen eine Garantie für die Erhaltung unserer Rechte ist."69

Rabbi Moritz Rosenmann aus Floridsdorf äußerte ähnliche Gefühle in einer Rede am 2. Dezember 1898 in Wien, in der er direkter auf den Hintergrund des persönlichen Unglücks, das den Kaiser kurz zuvor ereilt hatte (die Ermordung seiner Gemahlin durch einen italienischen Anarchisten), sowie auf die turbulente innenpolitische Atmosphäre in Osterreich einging. Inmitten von Verwirrung und Verzweiflung, von parlamentarischer Obstruktion, fanatischem Nationalismus und blindwütigem Antisemitismus ragten die Dynastie und ihr Oberhaupt als eine Bastion der Frömmigkeit, des Patriotismus und der Hoffnung auf eine mögliche Harmonie zwischen den widerstreitenden Völkern Österreich-Ungarns heraus.70 Einmal mehr schrieb die jüdische Presse aus Anlaß dieses Jubiläums in den höchsten Tönen von „der versöhnenden Milde und Weisheit unseres Kaisers und dem Zauber seiner großen Regententugenden". Für Dr. Schmiedl war Franz Joseph in der Geschichte des Habsburgeireiches derjenige, „der das erlösende Wort unserer Gleichberechtigung gesprochen" hat, und auf sein befreiendes Wort „sind die tausendjährigen Ghettomauern gefallen und sind wir aus rechtlosen Stiefkindern der Gesellschaft rechtmäßige Söhne des Vaterlandes geworden".71 Diese Gleichstellung war allerdings durch die antisemitische Bewegung geschwächt worden, die in erster Linie von der Hocharistokratie und der klerikalen Partei gefördert wurde und fast zwanzig Jahre lang eine rücksichtslose Verleumdungs- und Schmähungskampagne gegen die Juden geführt hatte. Der mittelalterliche Aberglaube und die Barbarei der Antisemiten standen in scharfem Gegensatz zu „den edlen Tugenden" des habsburgischen Kaisers. „Wir müssen vielmehr Gott danken, daß den verderblichen Strömungen, die das Reich durchfluten und deren Anprall sich vor Allem gegen uns richtet, durch seine erhabene, achtunggebietende Persönlichkeit noch mancher kräftige Damm gezogen wird."72 Sowohl Franz Joseph als auch die ermordete Kaiserin Elisabeth - seine schöne, künstlerische Frau, die die Dichtung Heinrich Heines so bewunderte - sollten für viele Juden im Gegensatz zum rassischen und konfessionellen Zelotismus einer beunruhigenden und zunehmend antisemitischen Zeit schließlich die göttliche, unverfälschte königliche Gnade repräsentieren.75

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Das Kaiserhaus konnte bei patriotischen österreichischen Juden geradezu religiöse Gefühle hervorrufen, insbesondere wenn es als der letzte Wächter der Verfassung und der bürgerlichen Gleichstellung dargestellt wurde. Der junge habsburgische Kaiser, der 1849 mit seinem „mächtigen Arm" angeblich „die Schmach Ägyptens" von den Israeliten abgewendet hatte, wurde in einigen jüdischen Predigten tatsächlich als ein Moses der modernen Zeit apostrophiert, der sein auserwähltes Volk befreit.74 Die neuen Gesetzestafeln waren die Bestimmungen zur bürgerlichen Gleichheit, und das Gelobte Land war nun das kaiserlich-königliche Osterreich unter dem gütigen Zepter Seiner apostolischen Majestät, die nun „ein mächtiger Feldherr der Freiheit und Gerechtigkeit" war. In diesem idealisierten Bild schien Franz Joseph die Feinde Israels, „dieses feindliche Heer, das unsere Stellung angreift und vom Boden der Gleichberechtigung uns verdrängen will",75 gebieterisch zur Ordnung zu rufen. Er war das größte Bollwerk gegen die rohe und brutale Hand böser Verführer des Volkes, die in seinem Reich nur Uneinigkeit und Streit säten. Franz Josephs tragische Familiengeschichte (dazu gehörte der gewaltsame Tod seiner Frau, seines Bruders und seines einzigen Sohnes) verstärkte die bereits bestehenden Gefühle der Identifikation durch spontane Mitleidsbekundungen der jüdischen Untertanen des Reiches an den einsamen, leidenden Herrscher. Der unerwartete Selbstmord seines Sohnes, des vielversprechenden und begabten Kronprinzen Rudolf (1859-1889), hatte in der jüdischen Gemeinde von Wien einen tiefen Schock ausgelöst, die in ihm nicht nur eine der größten Hoffnungen der Monarchie, sondern auch einen ausgesprochenen Freund der Juden betrauerte. In einer Trauerrede, die Adolf Jellinek im Februar 1889 in der Synagoge der Inneren Stadt hielt, pries er den jungen Kronprinzen, der „durch die Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse, durch die Sicherheit seines Urtheils, durch die Schärfe seiner Beobachtung" seiner Zeit voraus gewesen sei - besonders „in dieser Zeit des Racen- und Religionshasses erhob er sich als eine eherne Stütze der Gleichberechtigung, strahlte er als ein Muster religiöser Duldsamkeit, glänzte er als Vorbild edler Humanität ,.." 76 Kronprinz Rudolfs gemäßigte Haltung, sein physischer Mut, sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Liebe zur Kunst und Wissenschaft hatten die Herzen aller patriotischen Osterreicher gewonnen; sein Tod hatte sie mit Melancholie, Schmerz und Angst vor der Zukunft erfüllt.77 Jellinek hob auch lobend Rudolfs scharfe, verurteilende Worte gegen den Antisemitismus hervor, den der Kronprinz in klassisch-liberalen Worten als die „Schmach des Jahrhunderts" gebrandmarkt hatte. Unerwähnt jedoch ließ er die kontroversiellen politischen Ansichten des Kronprinzen - seine heftige Opposition gegen den Klerikalismus, die aristokratische Arroganz und den sterilen habsburgischen Traditionalismus, seine Abscheu vor dem modernen Nationalismus, der Massendemokratie und dem österreichisch-deutschen Bündnis.78 Franz Josephs einziger Sohn war in Wirklichkeit ein politischer Einzel-

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ganger am habsburgischen Hof, in den meisten politischen Fragen anderer Meinung als sein autoritärerer Vater, außer bei ihrer gemeinsamen Liebe zur Armee und in ihrem Bemühen, die übernationale Monarchie zu stärken. Sowohl Vater als auch Sohn verabscheuten den Antisemitismus als eine vulgäre Form der Politik des Pöbels, wobei Kronprinz Rudolfs leidenschaftlichere Reaktion aus einer konsequent liberal-progressiven Einstellung herrührte, die sein Denken in den meisten Fragen bestimmte. Er identifizierte sich vollkommen mit den Idealen des kosmopolitischen Humanismus, des Fortschritts und der Aufklärung, der modernen Wissenschaft und des liberalen Rationalismus. Daher verabscheute er die katholische Kirche und die Jesuiten, „die mit allen einflußreichen Mitgliedern der kaiserlichen Familie in enger Verbindung stehen". Es ist nicht weiter erstaunlich, daß er auch das klerikal-konservative Kabinett des Grafen Taaffe verabscheute, welches Österreich seit dem Rücktritt der Deutschliberalen im Jahr 1879 als „hartnäckiger Feind der modernen Kultur" und der gebildeten Mittelschicht regiert hatte. Tatsächlich rief die Regierung Taaffe in ihm die gleichen Gefühle hervor wie bei den meisten liberalen Wiener Juden. „Elemente wurden in Bewegung gesetzt und Geister gerufen, die nicht mehr gebannt werden können. Wie sehr hat sich das stolze, liberale und sich hoffnungsvoll entwickelnde Osterreich innerhalb weniger Jahre verändert. Dies sind düstere Zeiten, und doch ist es erst der erste Schritt der Reaktion."79 Der Antisemitismus in Ungarn und auch in Zisleithanien, ja überhaupt in ganz Mitteleuropa war für Kronprinz Rudolf ein besonders häßliches Symptom dieser „Geister der Vergangenheit" - ein Produkt des Fanatismus der Reaktion und des Klerikalismus. „Die Bundesgenossen sind überall und insbesondere in Ungarn leicht gefunden. Die großen Meissen, welche heutzutage antikulturellen Bewegungen, einer Verwilderung der Sitten zuneigen, boten ein geeignetes Material zu den Antisemiten-Hetzen, und der Antisemitismus wurde geschickt ausgenützt, um die unteren Volksschichten gegen die liberale Partei, gegen die Männer des Fortschrittes und der Bildung auszuspielen."80

Im Gegensatz zu den Alldeutschen und selbst zu den liberalen Befürwortern des österreichisch-deutschen Bündnisses identifizierte sich Rudolf mit den westlichen Idealen parlamentarischer Demokratie und vertrat eine frankophile Ausrichtung in der Außenpolitik.81 Bei diesen und anderen damit in Zusammenhang stehenden Fragen fand der rebellische Rudolf einen willigen und mächtigen Verbündeten in seinem Freund und politischen Berater Moritz Szeps, den Chefredakteur der radikal-liberalen Zeitung Neues Wiener Tageblatt.82 Als Vertrauter der französischen Politiker Leon Gambetta und Clemenceau trat Szeps unermüdlich für eine Annäherung zwischen Osterreich und Frankreich ein, die ihn sowohl bei Graf Taaffe als auch innerhalb der alldeutschen und antisemitischen Kreise zum schwarzen Schaf stem-

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pelte. Der hochkultivierte Szeps, der zwanzig Jahre älter als der Kronprinz war, verfugte über gute Verbindungen und versorgte Rudolf so mit Insiderwissen über die Innen- und Außenpolitik, er verstärkte dessen republikanische, pro-westliche Sympathien und dessen Mißtrauen gegenüber dem Deutschland Bismarcks und dem zaristischen Rußland. Gleichzeitig konnte der Kronprinz in seiner Zeitung anonyme Artikel veröffentlichen. Rudolfs enge Verbindung zu einem liberalen bürgerlichen Journalisten wie Szeps (der noch dazu ostjüdischer Herkunft war) bot ein willkommenes Ziel für ständige Angriffe in der antisemitischen Presse. Aufgrund dieser Freundschaft und durch Gesten, wie seine Bereitschaft, öffentlich in einem berühmten Wiener Restaurant mit dem kosmopolitischen jüdischen Financier Baron von Hirsch zu speisen, wurde Rudolf von deutschen Nationalisten und katholischen Antisemiten schamlos vorgeworfen, im Sold der „Goldenen Internationale" zu stehen. Die Londoner Times bemerkte in einem Nachruf vom 8. Februar 1889 kühl, daß „einige antisemitische Zeitschriften sich äußerst unschicklich benommen haben, weil sie keinerlei respektvolle Worte zum Gedächtnis des Kronprinzen geäußert haben".83 In der Tat war mit seinem Selbstmord die letzte Hoffnung auf ein liberaleres Mitteleuropa, das von aufgeklärten, fortschrittlichen Prinzipien geleitet wurde, geschwunden, und in dieser sowie in anderen Beziehungen war das Jahr 1889 zweifelsohne bedeutsam für das kommende Schicksal der Wiener Juden. Die Anzeichen der sozialen und politischen Verschlechterung sollten in Osterreich bald zutage treten. Im Frühling des Jahres 1889 machte eine Delegation des Vorstands der religiösen Gemeinde der Wiener Juden Ministerpräsident Graf Taaffe auf die Ausschreitungen der antisemitischen Bewegung aufmerksam. Eine Kopie des 27seitigen Memorandums, das mit März 1889 datiert und in den Gemeindearchiven erhalten gebüeben ist, gab die bösartige Kampagne antijüdischer Verleumdung in Wiener Zeitungen wie dem katholischen Das Vaterland, dem Osterreichischen Volksfreund, dem deutsch-nationalistischen Skandalblatt Deutsches Volksblatt usw.

detailliert wieder; es dokumentierte die zunehmende Grausamkeit antisemitischer Hetze bei lokalen und nationalen Wahlen, im Stadtrat, an den Schulen, in Berufsverbänden und Zünften - und betonte dessen „anarchistischen", subversiven und revolutionären Charakter.84 Taaffe versicherte der Abordnung, daß seine Regierung die Gleichheit aller Bürger gemäß der Verfassung unterstütze, und versprach, sich der Angelegenheit anzunehmen. Die Tatsache, daß genau zu dieser Zeit antisemitische Agitatoren sich den Streik der Wiener Eisenbahner zunutze machten, um ihre Sache voranzutreiben, verlieh dem Protest der jüdischen Gemeinde größere Aktualität.85 Während einige ausländische Beobachter, wie der Korrespondent der Londoner Jewish Chronicle behaupteten, „es besteht keinerlei Gefahr, daß es die Behörden verabsäumen werden, die

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Juden gegen öffentliche Feindseligkeiten zu schützen",86 waren andere, wie die Londoner Times und die französische Tageszeitung Le Matin, weniger optimistisch.87 Le Matin berichtete von wilden Demonstrationen und der Plünderung jüdischer Geschäfte in einigen Wiener Bezirken vor dem Hintergrund antisemitischer Erfolge bei den jüngsten Gemeinderatswahlen und warf der österreichischen Regierung gleichzeitig ein zu mildes Verhalten vor, mit dem sie bis dahin die bestehenden Gesetze gegen rassische und religiöse Aufhetzimg angewandt hatte. Mitfühlend vermerkte die Zeitung den Protest der jüdischen Gemeinde, daß ähnliche Beleidigungen „niemals von der Regierung geduldet worden wären, wenn sie sich gegen die römischen Katholiken gerichtet hätten".88 Le Matin wie The Times aus London vermuteten, daß Graf Taaffe, „der sich bis dahin der Bewegung gegenüber gleichgültig gezeigt hatte, den Kaiser sicherlich über diese Angelegenheit unterrichten mußte und die Juden es dieser Vermittlung verdanken werden, daß sie etwas mehr vor ihren fanatischen Gegner geschützt werden".89 Britische und französische Berichte hoben besonders die Weigerung jüdischer und christlicher Firmen aus Budapest, Prag, Preßburg usw. hervor, die internationale Getreidemesse in Wien zu besuchen, weil dem zunehmenden Antisemitismus als wirtschaftliche Konsequenz eine stärkere Einmischung der Regierung folgen könnte. Andererseits wurde auch eingestanden, „daß die Regierung einer Meinung mit neun Zehntel der nichtjüdischen Bevölkerung ist, wenn sie den Antisemiten freie Hand läßt".90 Eher pessimistisch Schloß ein Bericht der Jewish Chronicle im Mai 1889: „Die jüngsten Wahlen auf parlamentarischer und städtischer Ebene zeigen unbestritten, daß die Juden einen großen Fehler gemacht haben, als sie es verabsäumten, ihre Verfassungsrechte vor fünf Jahren, als sich die Bewegung formierte, zu sichern. Nun ist es zu spät."91 Spätere Berichte wiesen jedoch daraufhin, daß der österreichische Ministerpräsident, auch wenn der Antisemitismus seiner Meinung nach nur eine vorübergehende Erscheinung, „ein Mantel für andere Agitationen" war, klare Anweisungen gegeben hatte, jeden Versuch zu unterdrücken, der Haß und Zwiespalt Vinter den verschiedenen Bürgern des Staates säen würde.92 Anfangs hofften die Juden in Österreich und anderen Ländern, daß diese klarere Politik zu einem Rückgang der antisemitischen Bewegung fuhren würde.93 Aber die Regierung Taaffe, die ganz von der „immer größer werdenden Kluft zwischen den einzelnen Nationalitäten" und den Schwierigkeiten in Anspruch genommen wurde, in einer höchst komplexen und konfusen innenpolitischen Situation eine parlamentarische Mehrheit zu bewahren, hatte wenige Zeit, sich der Eindämmung des Antisemitismus zu widmen.94 Tatsächlich gewannen die christlichsozialen Antisemiten, die nun von einflußreichen Aristokraten, wie Prinz Alois Liechtenstein, unterstützt wurden, an Stärke und konnten ihren Einfluß sogar auf andere Teile der Monarchie ausdehnen.95

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Einer der wenigen Lichtpunkte in dieser immer düsterer werdenden Lage war die Bildung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, der sich aus bekannten christlichen und aristokratischen Persönlichkeiten der vornehmsten gesellschaftlichen Kreise zusammensetzte,96 wie zum Beispiel Baron Arthur von Suttner, die Grafen Edmund Zichy und Rudolf Hoyos, Baron Friedrich Leitenberger, Baronin Marie von Ebner-Eschenbach, die Professoren Theodor Billroth, Rudolph Chrobak, Hermann Nothnagel, Eduard Suess und Victor Tilgner, Fürst und Fürstin Metternich, die Stadträte Frauenberger, Uhl und Constantin Noske, die Bürgermeister von Döbling, Nußdorf und Heiligenstadt sowie Michael Matscheko, der Präsident der Handelskammer. Die Gründung dieses christlichen Vereins im Juni 1891 wurde von der jüdischen Presse als Gegengewicht zu dem „brutalen, gefährlichen und gemeinschädlichen" Antisemitismus begrüßt, der Wien erfaßt hatte, obwohl nüchtern erkannt wurde, daß es äußerst schwierig sein würde, die Stadt von diesen „Giftpflanzen zu reinigen".97 Wie sein deutsches Vorbild wollte der Verein den Antisemitismus mit den Waffen der Vernunft, der Intelligenz, Kultur und des Anstände bekämpfen: Er war in erster Linie humanistisch und nicht politisch ausgerichtet; betont wurden im Gegensatz zur „brutalen Gewalt" und „moralischen Barbarei" der Antisemiten die universellen Ideale, die Christen und Juden teilten.98 Der Antisemitismus wurde als „Schmach" dargestellt, der in „den schmutzigsten und häßlichsten menschlichen Charakterzügen" seinen Ursprung hatte;99 seine Grundlage sei „die Abschaffung von Gerechtigkeit und Humanität" - er könne daher am besten durch die Wiederaufwertung der Menschlichkeit gepaart mit intensiver pädagogischer und publizistischer Tätigkeit bekämpft werden.100 Zu diesem Zweck gründete der Verein eine Wochenzeitschrift, Das Freie Blatt, das die Zusammenkünfte und Publikationen der Antisemiten genau verfolgte und deren Unwahrheiten richtigstellen wollte.101 Im März 1895 zählte der Verein bereits mehr als 1.000 Mitglieder,102 und 1895 waren es 4.520, was ungefähr einem Drittel des entsprechenden Berliner Vereins gleichkam. Unter der Führung des Schriftstellers Baron von Suttner und des berühmten Medizinprofessors an der Universität Wien, Dr. Hermann Nothnagel, war der Wiener Verein aristokratischer, intellektueller und weniger eindeutig politisch in seiner gesellschaftlichen Zusammensetzung als sein deutsches Vorbild.105 Dennoch organisierte er Protestveranstaltungen gegen den Antisemitismus, die dessen schädlichen sozialen, kulturellen und politischen Charakter und die Notwendigkeit betonten, aktiv gegen diesen vorzugehen, „welcher wie ein schleichendes Gift an der Gesellschaft frißt". Bei einer Protestversammlung im Oktober 1892 ergriff Hofrat Nothnagel das Wort: „Der Antisemitismus macht keine Ausschreitungen, er ist eine Ausschreitung! (Zustimmung) Er ist ein Frevel an der Moral, an der Gerechtigkeit, an der Menschheit... Der frevelhafte Haß, den sie mit wahnsinniger Wuth gegen Mitbürger schüren, ist zu gefahrlich, als

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daß man ihn mit kalter Gleichgiltigkeit, mit vornehmer Ruhe hingehen lassen könnte. Der Antisemitismus nimmt seinen Ursprung aus dem Gemeinen der Menschennatur, er ist einer der schwersten Vorwürfe gegen das menschliche Herz."104 Die geistige Anregung zu diesem Wiener Verein war von Professor Dr. Hermann Nothnagel, einem weltberühmten Magenspezialisten und Mann mit außergewöhnlich edlem Charakter, ausgegangen, dessen Philosemitismus bei den armen polnischen Juden Galiziens und Wiens legendär war. Als tiefgläubiger Christ verabscheute Nothnagel Luegers Bewegung, da sie weder religiös noch wirklich „sozial" sei, und weigerte sich, von der christlichsozialen Regierung den Titel eines „Ehrenbürgers" von Wien anzunehmen.105 Nothnagel, eine bevorzugte Zielscheibe der alldeutschen Studentenangriffe an der Universität Wien,106 sah den Nationalismus als ein „unheilbares Leiden", als die „gefahrlichste Krankheit der Menschheit" an. Sein Abscheu vor Schönerers Alldeutschen wurde noch durch die lautstarke Kampagne gegen ihn verstärkt, da er die deutschnationalen Interessen als Mitbegründer des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus" verraten hätte.107 Nothnagel und seine Mitarbeiter im Verein sahen die österreichischen Juden durchwegs als Mitbürger und Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft an, wie Katholiken und Protestanten auch. Daher wandten sie sich auch scharf gegen den jüdischen Nationalismus, da dieser die Verteidigung der bürgerlichen Gleichstellung unterminiere und die Deutschnationalen als Bewegung ermuntere. Einmal meinte Nothnagel bitter zu Herzl, er habe mit den Deutschnationalen gemeinsame Sache gemacht, um seinen (Nothnagels) Kampf gegen den Antisemitismus zunichte zu machen.108 In einem langen Brief an Baronin von Suttner wies Nothnagel nochmals auf eine Verwandtschaft zwischen den jüdischen Nationalisten und den Alldeutschen hin. Vor allem betonte er die enge Verbindung in ihrem Kampf gegen den Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Professor Nothnagel betrachtete beide Bewegungen als Feinde des kosmopolitischen österreichischen Staates und lehnte sie wie andere europäische Nationalismen ab, da sie die Abkehr von Menschlichkeit und Kultur repräsentierten, die zukünftig lediglich Chaos, Zerstörung, Uneinigkeit, Streit und Krieg hervorrufen würden.109 Er war der Ansicht, daß der jüdische Nationalismus dem deutschen Nationalismus zu einer großen Stärkung verholfen habe.110 Herzls eigene Meinung sowohl zur jüdischen als auch zur christlichen Abwehr gegen den Antisemitismus war ebenfalls vernichtend. Dies kommt in einem Brief vom 26. Jänner 1893 aus Paris an den Wiener Industriellen und Unterstützer des Vereins, Baron Friedrich Leitenberger, klar zum Ausdruck. Während Herzl grundsätzlich anerkennt, „welchen Einfluß in unserem guten Osterreich das Beispiel angesehener, adeliger und reicher Leute auf das große Publikum haben kann", wies er jedoch darauf hin, daß der Verein ungefähr zehn oder zwölf Jahre zu spät gekommen sei.111

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Die antisemitische Bewegung sei zu stark geworden, um ihr lediglich mit wohlmeinenden pädagogischen Bemühungen begegnen zu können. Die einzige praktische Alternative sei es, eine andere Bewegung, wie die Sozialdemokratie, zu schaffen, um deren Einfluß zu begegnen. Nach Auffassung Herzls konnte politisch durch „gemäßigte Publikationen" wie in der Neuen Freien Presse oder im Freien Blatt nichts erreicht werden, hielten diese ihre Predigten doch für Leute, die bereits konvertiert waren. Durchaus stichhaltig kritisierte Herzl die Vereinszeitung als „ein Circular - das nicht circuliert", das den Bedürfnissen einer Kleinstadt, eines Klubs oder einer Gruppe von ehrenwerten Bürgern entspricht, nicht aber dem Zeitalter der Massenpolitik.112 Herzl wandte sich nicht gegen die deutsch-liberale Gesinnung des Freien Blattes an sich, war aber überzeugt, daß die Zeitung - um erfolgreich zu sein - die Eintönigkeit und Langeweile, die von der etablierten liberalen Presse ausgingen, ablegen müsse. Es müßte mäßig „sozialistisch" sein und der Öffentlichkeit attraktiv präsentiert werden. Die potentielle Leserschaft, so warnte er, würde es nicht hinnehmen, „abgekanzelt, korrigiert und erzogen zu werden" - einer der Gründe für Herzls große Skepsis, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, den Antisemitismus auf journalistischem Wege zu bekämpfen. Es ist höchst interessant, daß Herzl noch im Jänner 1895 die Meinung des älteren jüdischen Establishments teilte, daß der Kampf gegen den Antisemitismus am wirksamsten (wenn überhaupt) von den Christen geführt werden könnte. Er schrieb daher an Baron Leitenberger, „das Blatt zur Abwehr etc. [darf] keinen einzigen Juden in der Redaction haben" - weder Juden noch „Judenknechte". 113 Im Grunde war Herzl Ende 1892 jedoch zu dem Entschluß gekommen, daß Selbstverteidigungsmaßnahmen ein fruchtloses Unterfangen waren, das sich auf falsche Prämissen stützte. Erzieherische und propagandistische Bemühungen würden niemals zur Beseitigung des uralten Antagonismus gegenüber den Juden fuhren. Diese allgemeine Ablehnimg der Apologetik und des vorsichtigen Optimismus des jüdischen Establishments betreffend die zukünftige Integration in die nichtjüdische Gesellschaft wurde später in der zionistischen Bewegung fast zu einem Dogma. Herzls Streit mit dem ersten Herausgeber der Welt, Saul Raphael Landau, rührte teilweise daher, daß der Begründer des Zionismus nicht von seiner Meinung abrückte, daß es nicht Aufgabe der Zeitung sei, sich in Polemiken gegen den Antisemitismus zu ergehen.114 Nach dem Grundsatz „je schlechter desto besser" sah Herzl sogar in einer Intensivierung des Antisemitismus einen Faktor, der die Unterstützung für die zionistische Bewegung verstärken und letztlich dem Wohl der Juden dienen würde. 115 Die Vorgangsweise der christlichen Abwehr von Baron Leitenberger und Bertha von Suttner basierte nach Meinung Herzls auf einem Mißverständnis des historischen Phänomens des Antisemitismus, auf der Unfähigkeit, die Dynamik von

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Massenbewegungen zu begreifen, und auf einem zu zaghaften Angehen des jüdischen Problems.116 Wie sehr war nun diese scharfe Kritik an der jüdischen Selbstverteidigung in Deutschland und Osterreich im Fin de Siecle berechtigt? In beiden Ländern gab es vor den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine starke Ablehnung von Verteidigungsmaßnahmen, die eine öffentliche Bestätigung der jüdischen Identität beinhaltet hätten. Allgemein wurde den traditionelleren Methoden der Vorzug gegeben, wie dem Ansuchen um besonderen Schutz seitens einflußreicher Hofjuden an die Machthaber, dem Herunterspielen des Antisemitismus, dem Vertrauen auf würdiges Schweigen oder der Forderung nach Unterdrückung unerwünschter, spezifisch „jüdischer" Merkmale.117 Während der ersten antisemitischen Welle in Deutschland (1879/80) hatte sich der Vorstand der Berliner Jüdischen Gemeinde mit schüchternen Anfragen nach einer Intervention seitens des preußischen Innenministeriums und mit einer Politik der ruhigen Anpassung begnügt. In den Kreisen des jüdischen Establishments wurde häufig die Ansicht vertreten, daß dieser Ausbruch des Antisemitismus lediglich das letzte Aufflackern einer Seuche sei, die den legalen Status der Juden nicht ernsthaft in Gefahr brächte.118 Weshalb dies also in die Öffentlichkeit tragen? Weshalb, so dachten die führenden Juden, die öffentliche Meinung durch provozierende Handlungen oder einen Konfrontationskurs reizen? Diese Politik des Stillhaltens und der Passivität, die von den jüdischen Führungspersönlichkeiten in Deutschland in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts vertreten wurde, hatte ihre Parallelen in Frankreich und Osterreich. In allen drei Ländern warteten die führenden Persönlichkeiten des jüdischen Establishments, daß der Sturm vorübergehe, gestützt auf ihr Vertrauen in die Ideologie der Emanzipation, auf die Stärke des politischen Liberalismus, auf ihren (nicht immer gerechtfertigten) Glauben an die Unterstützung der Behörden und auf die Uberzeugung, daß der Antisemitismus im wesentlichen ein vorübergehendes Phänomen sei. In Deutschland war besondere Vorsicht geboten, da die Nichtjuden jede Form einer eigenständigen jüdischen Aktivität - auf sozialem, kulturellem, bildungsmäßigem oder religiösem Gebiet - ablehnten.119 Auf die pluralistische, multinationale Umgebung des kaiserlichen Österreich traf diese versuchte Homogenisierung der Juden durch den preußisch-deutschen Staat und die politischen Parteien, die erwarteten, die Juden würden ihre Identität als Preis für die Emanzipation aufgeben, nicht in gleichem Maße zu. Auch gab es im Österreich des Fin de Siecle keine wirkliche Parallele zu der republikanischen Einheitlichkeit und den aus den jakobinischen und napoleonischen zentralistischen Traditionen stammenden politischen Reflexen, die dazu geführt hatten, daß die meisten französischen Juden während der Dreyfus-Affare ihr unerschütterliches Franzosentum und „ihre Treue zur Republik" beteuert hatten.120 Das Verhalten der Vorstände der jüdischen Gemeinden und der Konsistorien bzw.

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deren Pendants in Paris, Berlin und Wien angesichts des wachsenden Antisemitismus war indes nicht so unähnlich. Ihr vom Gesetz her apolitischer Status Schloß praktisch von vornherein aus, daß die Gemeindeführer in der Öffentlichkeit in der „Judenfrage" entschieden auftraten. Sie verhielten sich entweder bürokratisch, als ob es überhaupt keine Krise gäbe, oder sie fügten sich der Autorität des Staates und der etablierten Einrichtungen, oder aber sie unterstrichen noch deutlicher als zuvor den Patriotismus der Juden.121 Der Antisemitismus wurde stets als eine den historischen Traditionen des jeweiligen Landes oder Staates fremde Entwicklung dargestellt (die jüdischen Führer in Frankreich wie auch in Österreich bezeichneten den modernen Judenhaß gerne als einen „deutschen" Import); außerdem wurde der zerstörende, anarchische und subversive Charakter des Antisemitismus für den Staat und seine Feindseligkeit gegenüber der liberalen Kultur nicht weniger stark unterstrichen als seine Bedrohung für die Juden.122 Man hoffte scheinbar, die Antisemiten dadurch zu isolieren und die Unterstützung der Nichtjuden gegen dieses „fremde Phänomen" zu stärken. Die Juden sollten ihren Kampf gegen diese Feinde der Menschheit soweit wie möglich nicht als Juden austragen, vielmehr sollte in erster Linie die liberale Meinung der Nichtjuden mobilisiert werden. Auch wenn eine spezifisch jüdische Politik gegen den Antisemitismus als separatistisch und gegen den Geist der Emanzipation gerichtet galt, wurde die „jüdische Politik" - zumindest in Österreich - gleichzeitig allmählich mit den liberalen Prinzipien der religiösen Toleranz, der sozialen Harmonie, des Fortschritts, der Bildung und der freien Entwicklung des einzelnen gleichgesetzt.123 Noch zielführender war es, die „Ehre des Judentums" durch apologetische Schriften zu verteidigen, obwohl sich orthodoxe und Reformjuden nie einigen konnten, wie dies am besten bewerkstelligt werden sollte. Das liberale Judentum sah gerne in der sozialen Außenseiterposition der traditionellen Orthodoxen eine der Hauptursachen für die Vorurteile der breiten Masse.124 Daher befürworteten die Liberalen in Österreich und Deutschland sowohl eine interne als auch eine externe Reform des „Kultes", um der Gegnerschaft der Nichtjuden zu begegnen. Für die ungarische, die deutsche und die polnische Ultra-Orthodoxie andererseits stellten die Reformjuden, denen sie Aufklärung, Assimilierung und die fortschreitende Vernachlässigung des Thora-Judentums vorwarf, eine noch größere Bedrohung dar als der nichtjüdische Antisemitismus. Es ist daher nicht erstaunlich, daß die orthodoxen Juden dem Wert der Selbstverteidigung noch skeptischer gegenüberstanden als ihre reformerischen Gegner, vor allem wenn sie an der „theologischen" Erklärung des Judenhasses als einer göttlichen Züchtigung für Israels Sünden festhielten. Erst in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Neubewertung dieser traditionellen Haltungen in Frankreich und Deutschland, wo antisemitische Wahlerfolge die Juden aus der früheren Lethargie rissen und die Voraussetzungen

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der liberalen Ordnung in Frage zu stellen begannen. So wurde der Kampf gegen den Antisemitismus für den Centraiverein in Deutschland zu einer der wichtigsten Komponenten einer neuen Form des jüdischen Selbstbewußtseins; 125 seit seiner Gründung im Jahre 1895 forderte der Verein eine energische, systematische Selbstverteidigung statt der alten Taktik der Schutzjuden, die in einer Zeit bürgerlicher Gleichstellung als anachronistisch angesehen wurde. Obwohl die Zukunft der deutschen Juden immer noch an den Fortbestand des Rechtsstaates und der deutschen liberalen Kultur geknüpft und in diesem Zusammenhang die bedingungslose Treue zu Kaiser und Vaterland betont wurde, gab es doch eine neue Bereitschaft, für jüdische Interessen zu kämpfen und Juden in einer einzigen, geeinten Einrichtung zu organisieren.126 Auch wenn die „Judenfrage" als Rechtsfrage (und nicht als Parteifrage) angesehen wurde, auch wenn in Deutschland keine unabhängige politische Vertretung der Juden eingerichtet wurde, auch wenn in Deutschland - im Gegensatz zu Österreich - die eigene Wahrnehmung der Juden als eine nationale Minderheitengruppe eine inakzeptable Phantasie blieb, so war der Centraiverein dennoch ein neues postemanzipatorisches Phänomen.127 Er war, wie Ismar Schorsch sagte, eine Art ErsatzJudentum für jene Juden, die sich von der Thora abgewandt hatten und auch den Zionismus ablehnten, aber dennoch eine weltliche jüdische Identität beibehalten hatten, die durch den neuen rassischen Antisemitismus verletzt wurde. 128 In den 90er Jahren des 19. Jahrunderts glaubten sie nicht mehr, daß die jüdischen Interessen am besten durch rein deutsche Kanäle gewahrt blieben, sie waren auch nicht mehr bereit, weiterhin passiv die demütigende Selbstverleugnung beizubehalten, die von der Politik der Assimilierung verlangt wurde.129 Fast zehn Jahre vor der Gründung des Centraivereins durch die deutschen Juden hatten ihre Glaubensgenossen in Österreich mit einer öffentlichen Verteidigung spezifisch jüdischer Interessen begonnen, indem sie gegen die Feindseligkeit von außen und gegen die massive „Gleichgültigkeit" innerhalb der Gemeinde ankämpften und als Reaktion auf den Antisemitismus das religiöse und nationale Bewußtsein wiederzubeleben versuchten. Mitte der 80er Jahre kam es auch in Wien zum ersten konkreten Versuch der Gründung einer jüdischen Selbstverteidigungsorganisation, der mit Erfolg umgesetzt wurde. Dabei brachen die Juden erstmals in der mitteleuropäischen Geschichte als Kollektiv mit den heimlichen Methoden der Politik geachteter Führungspersönlichkeiten und des Schtadlanut, um einen gut organisierten Zweckverband auf religiöser und ethnischer Basis zu schaffen. Die Entstehung der Österreichisch-Israelitischen Union im Jahre 1886 war weder ein völliger Bruch mit der Tradition noch eine Revolution der jüdischen Politik.150 Durch die frühe Formulierung eines organisierten Programms jüdischer Selbsthilfe und durch ihren militanten, öffentlichen Kampf gegen den Antisemitismus war sie

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jedoch eindeutig ein Novum. Die Union schlug einen Mittelweg zwischen Assimilation und jüdischem Nationalismus vor, indem sie eine positive Definition des Jüdischseins bezüglich Religion, gemeinsamer Herkunft, geteiltem historischem Schicksal und der Realität ethnischer Bindungen neben einem treuen österreichischen Patriotismus suchte. Gleichzeitig wollte die Union die Juden in der Verteidigung ihrer bürgerlichen Rechte und Lebensinteressen gegen antisemitische Hetze von außen mobilisieren sowie Apostasie und religiöse „Gleichgültigkeit" einer neuen Generation emanzipierter Juden innerhalb der Gemeinde bekämpfen. Es war ihr Ziel, in einer Zeit allgemeiner Apathie und psychologischer Demoralisierung den Stolz und das Bewußtsein der Juden zu heben. In dieser Hinsicht war sich die Union mit dem Wiener jüdischen Establishment einig, das den Kampf gegen den jüdischen Antisemitismus ebenfalls als eines seiner Hauptziele ansah. Wie Die Neuzeit es am 30. Dezember 1881 ausdrückte: „Die jüdische Jugend beginnt, ihres Judenthums sich zu schämen, sie legt einen Werth darauf, sich als Juden - ,nicht zu erkennen zu geben'. Sie sieht die kleinen Fehler ihres Stammes durch das Vergrößerungsglas und hat kein Auge fiir die strahlenden Vorzüge. Juden sind die erbittertsten Judenfeinde geworden, und die unerbittlichsten Antisemiten sind die auserkorenen Sprößlinge des alten, frommen Stammvaters Sem, des Begründers vom Ebräervolke."151

Gemeindefiihrer und Rabbiner sahen die Phänomene der Apostasie, der religiösen Gleichgültigkeit und des Selbsthasses unter den Wiener jüdischen Jugendlichen als unmittelbare Folgen des „antisemitischen Gifts, das sich in die Gemüther eingeschlichen hat". 132 Sie waren daher bereit, das Programm zur Stärkung des jüdischen Bewußtseins zu unterstützen, das von Außenseitern wie dem aus Galizien stammenden Rabbiner Josef Samuel Bloch (1850-1923), der treibenden Kraft bei der Gründung der Union, befürwortet wurde. 133 Prinzipiell lehnten sie weder Blochs Kriegserklärung gegen „den sich rasch ausbreitenden semitischen Antisemitismus" noch sein Programm zur Verbesserung des Religionsunterrichts und der jüdischen Geschichtskenntnisse sowie zur Stärkung des gemeinsamen Stammesbewußtseins ab. Auch Blochs Festhalten daran, daß die Juden in Österreich, die auf allen Seiten mit fanatischem Antisemitismus und nationalem Chauvinismus konfrontiert wurden, „wieder Juden, österreichische Juden" werden sollten, war an sich kein Anlaß zur Sorge; 134 die Gemeindefiihrung war weniger durch Blochs übernationalen österreichischen Patriotismus beunruhigt (den sie schon viele Jahre befürwortet hatte), als vielmehr durch seine Unterstützung für Eduard Taaffes klerikal-konservative Regierung des Eisernen Rings und seine scharfe Ablehnung des deutsch-österreichischen Liberalismus. 135 Josef Bloch griff nicht nur das liberale jüdisch-deutsche Bündnis an, er gab auch

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seiner Kritik an der jüdischen Einmischung in die österreichischen Nationalitätenkämpfe eine eindeutig anti-assimilationistische Richtung. Immer wieder betonte er, daß die Juden es nicht zulassen dürften, in die deutschnationale Sache hineingezogen zu werden - oder auch in jene der Magyaren, Polen, Tschechen oder die anderer Nationalitäten. Die Juden seien „weder den Deutschen noch den Czechen stammesgleich", sondern „Österreicher sans phrase", der „Grundstock" einer noch zu bildenden österreichischen Nationalität. 156 Blochs 1884 gegründete Wochenzeitung Osterreichische Wochenschrift (ein Name, der als bewußte Antithese zu Heinrich Friedjungs pro-preußischer und assimilationistischer alldeutscher Deutschen Wochenschrift gewählt wurde) proponierte einen wahren Kult loyalen pro-habsburgischen Osterreichertums. 137 Diese Ideologie des übernationalen Osterreichertums ging jedoch Hand in Hand mit einem militanten, öffentlichen Widerstand gegenüber den antisemitischen Verleumdungen, der im Widerspruch zur damals von der Kultusgemeinde und den jüdischen Finanzmagnaten Wiens vertretenen Strategie der Vermeidung von Unannehmlichkeiten stand. Blochs Entschlossenheit, den Talmud öffentlich gegen antisemitische Demagogen wie August Rohling, Ernst Schneider und Franz Holubek zu verteidigen, ja, sogar so weit zu gehen, bei sozialdemokratischen Versammlungen im Wiener Industrievorort Floridsdorf (wo er Bezirksrabbiner war) zu sprechen, brachte die Gemeindefuhrer in Verlegenheit. 138 Blochs Versuch, die Lehren der alten Talmudisten zu modernisieren und zu humanisieren, diese als Verteidiger „sozialistischer" Theorien im alten Palästina darzustellen, wurde von der Neuzeit unmißverständlich abgelehnt. 139 Das Spektakel dieses militanten galizischen Rabbiners aus Dukla, der das talmudische Judentum als ein Modell sozialer Gerechtigkeit für die ausgebeuteten nichtjüdischen Arbeiterklassen Wiens verteidigte, war auch Josef Ritter von Wertheimer zu viel, der ihm bezeichnenderweise vorwarf, den Talmud allzu vehement zu verteidigen, obwohl er die breite Masse gar nicht interessiere.1'10 Dr. Blochs starkes jüdisches Selbstbewußtsein erregte den Widerstand der etablierten deutschsprachigen liberalen Juden Wiens. Mit Ausnahme der weitsichtigeren unter diesen, wie dem alternden Ignaz Kuranda, der sich des wiedererwachenden Antisemitismus in Osterreich nur allzu bewußt war und Bloch daher ermunterte, wurde dieser von den etablierten jüdischen Führern zunächst ignoriert. 141 Max Grunwald schrieb dazu: „Sie konnten ihr Judentum nur in kleinen Dosen zu sich nehmen. Sie fürchteten sogar, daß die Realisierung von seinen [Blochs] Ansichten zum Verlust des bürgerrechtlichen Status führen würde. Die jüdische Oberschicht und die Intellektuellen sahen das Judentum als etwas an, das während des Gottesdientes anläßlich von Feiertagen oder Familienfesten ausgeübt wird. Die jüdischen Lokalpolitiker erkannten nicht, auf welcher

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Seite der Feind stand ... Die Gemeindeführer lehnten sogar eine offene Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ab, mit der Begründung, daß dies den Widerstand nur verstärken würde. Im Wiener Stadtrat hatten die Juden einander das Versprechen abgenommen, selbst die schlimmsten Äußerungen der Antisemiten zu ignorieren. Der Jude sollte in der Öffentlichkeit als Mann und nicht als Jude auftreten."142 Rabbi Bloch gründete die Union 1886 in erster Linie als Reaktion auf diese Politik des Schweigens, die von der liberalen assimilationistischen Führung praktiziert wurde, und als Protest gegen den stetigen Terraingewinn des österreichischen Antisemitismus. 1910 zählte die Union 7.935 Mitglieder in 501 jüdischen Gemeinden in ganz Osterreich, und durch ihr Rechtsschutzbureau hatte sie sich als eine wirksame jüdische Selbstverteidigungsorganisation auf rechtlichem Gebiet etabliert. Trotz ihres intensiven Einsatzes für jüdische Rechte war die Union im Grunde genommen dennoch assimilationistisch ausgerichtet. Ursprünglich war Bloch fiir eine geeinte kulturell-religiöse und politische Organisation auf der Grundlage des Bewußtseins gemeinsamer Vorfahren und eines gemeinsamen Schicksals eingetreten, die die alte Spaltung zwischen Orthodoxie und Reform durch eine nationale Richtungsgebung überwinden würde.143 Er wies darauf hin, daß dem Judentum Wiens und Österreichs im Antisemitismus ein gemeinsamer gefahrlicher Feind entstanden sei, der nicht nur die Selbstverteidigung, sondern auch eine autonome politische Vertretung der Juden erfordere. Eine derart militante Verteidigung spezifisch jüdischer Interessen war für die meisten Gemeindeführer der Wiener Juden in den frühen 80er Jahren noch immer undenkbar. Sie lehnten Rabbi Blochs Kritik am Deutschtum und an der deutschliberalen Verfassungspartei ebenso ab, wie ihnen sein populistischer Appell an die jüdischen Massen und sein Bestehen auf einer direkten Konfrontation und Kontroverse mit den österreichischen Antisemiten mißfielen. Außerdem mißfiel ihnen die Tatsache, daß er seit 1884 als Abgeordneter für den vorwiegend jüdischen Wahlkreis des galizischen Kolomea Mitglied des Polenklubs im österreichischen Parlament geworden war. Dies schien ein konkreter Beweis für Blochs proslawische und konservativ „klerikale" Einstellung im Sinne Taaffes zu sein, die ihn in den Augen der Wiener jüdischen Führung disqualifizierte. Hinter diesen parteipolitischen Reibereien, die Rabbi Bloch in den 80er Jahren zum enfant terrible der religiösen Gemeinde machten, steckten tiefe kulturelle Unterschiede. Viele der jüdischen Notablen, der geschäftlichen und intellektuellen Eliten des Wiener Judentums standen ihren deutschen nichtjüdischen Nachbarn der Mittelklasse wahrscheinlich näher als den nicht assimilierten orthodoxen Juden aus Ungarn, Galizien oder der Bukowina, als den tschechischen Zuwanderern aus Böhmen oder den einfachen Arbeitern in Wien. Ihrer Meinimg nach überbetonte Rabbi

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Bloch die Bedeutung der rassischen Herkunft, des vergangenen Ruhms des Talmud und der Ausprägung eines jüdischen national-religiösen Bewußtseins. Als Ministerpräsident Graf Taaffe Bloch zum Professor fur Jüdisches Altertum ernennen wollte und dahingehend in der Kultusgemeinde vorfühlte, lehnte diese den Vorschlag daher mit den Worten ab: „Die geplante Ernennung Dr. Blochs [einem Mitglied des Polenclubs] zum Professor [für Hebräisches Altertum] an der Wiener Universität wäre nichts Geringeres als eine Provokation der Wiener Juden ." 144 Dennoch konnte der Groll des Zentrums gegen die Peripherie, des Schutzjuden gegen den Staatsbürger, des Westjuden gegen den Ostjuden, der Parvenüs gegen die Parias der Gesellschaft die durchschlagenden Erfolge der Antisemiten in den 90er Jahren nicht lange überdauern. Die Gründung der Union im Jahre 1886 und Blochs mutiges öffentliches Auftreten gegen den Antisemitismus legten den Keim für eine bedeutsame Neuorientierung der Politik der Wiener Juden im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die unwiderlegbare Tatsache, daß die breite Masse des Wiener nichtjüdischen Bürgertums und der unteren Mittelschicht für die Antisemiten stimmte und die deutschen Liberalen machtlos waren, diesen Abfall zu verhindern, konnte nicht einfach übergangen werden. Die Vision einer harmonischen sozialen Integration zerbrach langsam aber sicher im post-liberalen Klima des Nationalismus, des Klassenkampfs, der parlamentarischen Lähmung und der populistischen Demagogie. Im Februar 1891 hatte sogar Adolf Jellinek seinen Widerstand gegen Bloch soweit zurückgenommen, daß er sich für dessen Wiederwahl in den Reichsrat für den Wahlkreis von Kolomea-Buczacz-Sniatyn stark machte, weil dies für die Verteidigung des Status der österreichischen Juden äußerst wichtig sei.145 Die Enttäuschung über die Folgen einer einseitigen Bindung an das Deutschtum und die wachsende Notwendigkeit jüdischer Selbstverteidigung sowie einer unabhängigen politischen Vertretung gegen den Antisemitismus hatte sogar unter den deutsch-orientierten Gemeindeführern an Boden gewonnen.146 Vieles von der früheren Ablehnung des unabhängigen galizischen Rabbiners, Parlamentariers und Politikers war verschwunden, der es gewagt hatte, die jüdischen Angelegenheiten zu seinem Hauptanliegen zu machen. Die Bedeutung seiner Verteidigung des Judentums bei Ritualmordvorwürfen, die sich 1882 bei der Rohling-Affäre gezeigt hatte, wurde in den 90er Jahren ein weiteres Mal unterstrichen, als er einen Prozeß gegen neuerliche Ritualmord-Anschuldigungen seitens des katholischen Priesters Pater Deckert und des getauften Juden Paulus Mayer anstrengte.147 Während des Hilsner-Ritualmordprozesses setzte er sich wieder gemeinsam mit anderen Gemeindeführern - insbesondere Alfred Stern und den Leitern der Israelitischen Allianz - dafür ein, einen Fall zu revidieren, der mehr als jeder andere deutlich machte, welche Macht dem mittelalterlichen Aberglauben bei der Unterwanderung der Strukturen moderner zivilisierter Staaten zukam.148

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Die Hilsner-Affäre war tatsächlich eine gute Illustration der Änderung, die sich in der Haltung der jüdischen Gemeindefiihrung vollzogen hatte. Sechzehn Jahre zuvor, zur Zeit des Tisza-Eszlar-Ritualmordprozesses in Ungarn und der gleichzeitigen Hetze gegen den Talmud in Wien, hatte die Kultusgemeinde sich davor gefürchtet, ihre führenden Rabbiner Jellinek und Güdemann in den Kampf gegen die Anhänger Rohlings zu schicken.140 Eben diese übertriebene offizielle Vorsicht hatte es Bloch - damals ein unbekannter, furchtloser Bezirksrabbiner in Floridsdorf - ermöglicht, über Nacht zum Helden zu werden, weil er Professor Rohling intellektuell in die Knie zwang und bewies, daß er ein Schwindler, Lügner und Ignorant war. Im Falle Hilsner warteten der Gemeindevorstand, das Rabbinat und die Israelitische Allianz nicht auf Anstöße von außen, um bei der Regierung vorstellig zu werden. Der Rechtsanwalt Alfred Stern, ein Mitglied des IKG-Vorstandes und deren späterer Präsident (der schon vierzehn Jahre lang im Stadtrat als Mitglied der deutschen Fortschrittspartei aktiv gewesen war) ergriff die Initiative und organisierte eine IKG-Versammlung, an der am 7. Oktober 1899 Tausende teilnahmen, um ihren Protest gegen den Justizirrtum zu artikulieren.150 Stern führte einen unermüdlichen Kampf gegen die Ritualmordlüge und drängte jeden Juden Österreichs, seine Menschenrechte, seine bürgerliche Stellung, seine Ehre und Würde gegen antisemitische Diffamierung zu verteidigen - eine Vorgangsweise, die von Blochs Wochenschrift begrüßt wurde.151 Sogar die Neue Freie Presse, die bei jüdischen Angelegenheiten normalerweise zurückhaltend war, lobte diesen Aspekt von Sterns Tätigkeit in einem langen und höchst wohlwollenden Artikel zu seinem siebzigsten Geburtstag. Diese führende Zeitung Wiens unterstrich mit einiger Genugtuung, daß „Dr. Stern den Antisemiten oft recht weh gethan" habe und daß er zusätzlich zu seiner administrativen Kompetenz in den Angelegenheiten der religiösen Gemeinde auch bewiesen hätte, daß er einer der entschiedensten politischen Gegner des Antisemitismus im Wiener Stadtrat sei.152 Auch wenn dieses Kompliment nicht voll zutraf, ist allein die Tatsache, daß es gemacht wurde, an sich bedeutsam. Das öffentliche, wenn auch ergebnislose Eintreten Sterns und anderer jüdischer Vertreter während der Hilsner-Affare unterstrich ihre Sensibilität für den Schaden, der durch die wiederholten Vorwürfe des Ritualmordes in der erhitzten Atmosphäre der antisemitischen Agitation im Fin de Steele bereits entstanden war. Die Führer der Wiener Allianz waren über die Affäre ebenfalls besorgt und bereiteten mit der Ermutigung seitens der Kultusgemeinde und der Pariser Allianz Flugschriften und andere Literatur vor, um der Propaganda des Ritualmordes entgegenzuwirken.153 Dabei erfreuten sie sich der vollen und aufrichtigen Unterstützung von Rabbi Bloch und seiner Österreichischen Wochenschriß, die gegen Ende des Jahrhunderts Teil desselben jüdischen Establishments geworden war, dessen Selbstgefälligkeit er zwei Jahrzehnte zuvor so heftig erschüttert hatte.

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Seit ihren Anfangen im Jahr 1886 hatte die von Bloch gegründete ÖsterreichischIsraelitische Union (er selbst übernahm allerdings nie ein offizielles Amt in der Organisation) einen betonten Mittelschichtscharakter und war durch integrative Bestrebungen gekennzeichnet, die darauf hinwiesen, daß sie zukünftig leicht von der IKG-Führung kooptiert werden könnte.154 1900 war klar, daß die Gemeindeführung, sobald sich die Union in ihrer ethnischen Bejahung jüdischer Identität etwas weniger militant zeigte, als dies Bloch ursprünglich beabsichtigt hatte, in ihrem Ausdruck des jüdischen Stolzes, des Selbstbewußtseins und der Verteidigung gegen den Antisemitismus viel weniger kleinmütig geworden war. Die Tatsache, daß nach 1900 sowohl die IKG als auch die Union einen jüdischen politischen Nationalismus ablehnten und von den Zionisten gleichermaßen als verräterische „Assimilationisten" angegriffen wurden, war ein weiteres Anzeichen für das Uberschneiden des alten Zentrums mit der Peripherie; sie hatten sich nun unter dem bekannten Banner eines gemäßigten „österreichischen Patriotismus" und des Kampfes für die humanen und nicht so sehr die nationalen Rechte der Juden vereinigt.155 Die Verschärfung des Antisemitismus und die interne Herausforderung hatte das jüdische Establishment tatsächlich zu einer aktiveren Verteidigungshaltimg gezwungen, bei der die Union zum bevorzugten Instrument für die organisatorische und ideologische Einheit wurde.156 Ob bei Rechtsstreitigkeiten gegen antisemitischen Boykott, bei Pressediffamierungen oder Ritualmordverleumdungen - immer stand die Union in der vordersten Kampflinie, um die Rechte der Juden sicherzustellen.157 So wurde die Lehre des Selbstvertrauens, die Dr. Bloch und die frühen jüdischen Nationalisten gepredigt hatten und die der jüdischen Gemeindeführung in den 80er Jahren so provokant erschienen war, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weitestgehend akzeptiert. Diese Umwandlung von zuvor passiven, assimilierten Juden der Mittelund Oberschicht zu bewußten Verteidigern ihres Erbes und ihrer Rechte war eine direkte Folge des radikalen österreichischen Antisemitismus.158 Wie sich Sigmund Mayer, der Präsident der Union, nach 1905 in seinen Memoiren erinnert: „Ich hatte eigentlich schon ganz vergessen, daß ich ein Jude war. Jetzt brachten mich die Antisemiten auf diese unangenehme Entdeckung."159 Wie viele assimilationistische und patriotische jüdische Liberale hatte ihn der Antisemitismus als eine Trotzreaktion des verletzten Stolzes in die Gemeinde zurückgeführt. Die Verteidigung gegenüber dem Antisemitismus wurde daher zu einem wichtigen Element in der neuen weltlichen jüdischen Identität, die im habsburgischen Österreich zur Jahrhundertwende entstand.

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Kandidatenliste - "

ZENTRAL-WAHLKOMITEE ...

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für die Israel. KuUuswahlen in Wien 1906. M i t K c h i J B h r l g c r F a n k t i o n s d a a c r ( w e t w c r S t i m m z e t t e l ) i',

Dr. Alfred Berger, Hof- und Oerichtsadvokat, I., Judenplatz 8 Emanuel Hoffmann, Brauhauskassier, XVIII., Karl Ludwigstrasse 27 Dr. Oustav Kohn, Hof- und Qerichtsadvokat, IX., Hahngasse 25 Dr. Josef Pollak, Universitätsprofessor, L, Annagasse 1 Adolf Schramek, Kaufmann, 11., Novaragasse 21 Kommerziairat Leopold Simon, Kaufmann, I., Freisingergasse 1 Dr. Maxlmii. Steiner,·Oeneralrepräsentant, 1, Oraben 16 Dr. Alfred Stern, em. Hof- u. Qerichtsadvokat, II., Unt. Donaustr. 27 Mit TlcrJBlirige» F a n k t i o n i d a a e r ({rütter

Stimmzettel)!

Kais. Rat Leopold Langer, Bankier, I., Kärntnerring 1 Mit swc4|tturls*r F t u k U M M U e c r (blancr

Stimmzettel)·

Max Prank, Handelsgesellschafter, IX., Berggasse 19 Dr. Hermann Löwl, prakt. Arzt, II., Novaragasse 20 Samuel Steiner, Bauunternehmer, VII, Burggasse 72 Kandidatenliste für die Wahlen der jüdischen Gemeinde in Wien (1906)

π.

DIE SELBSTVERTEIDIGUNG GEGEN DEN ANTISEMITISMUS

7. Der neue österreichische Antisemitismus Die Waffen, die das Judentum zur Erreichung seines einzigen Zieles, zur Herrschaft über die christliche Welt gebraucht, sind sein Geld, sein Handel und seine Zeitungen. Mit seinem Gelde und seinem Handel hat das Judentum fast alle Fürsten und alle Völker in seiner Gewalt ... Immer mehr löst sich die soziale christliche Ordnung durch das Judentum auf. Das Vaterland (1871) DerEinfluß auf die Masse ist bei uns in den Händen der Juden, der größte Theil der Presse ist in ihren Händen, der weitaus größte Theil des Capitals und speciell des Großkapitals ist in Judenhänden und die Juden üben hier einen Terrorismus aus, wie er ärger nicht gedacht werden kann. Es handelt sich uns darum, in Österreich vor allem um die Befreiung des christlichen Volkes aus der Vorherrschaft des Judenthums. Karl Lueger (1890) Wir Deutschnationale betrachten den Antisemitismus als einen Grundpfeiler des nationalen Gedankens, als Hauptforderungsmittel echt volkstümlicher Gesinnung, somit als die größte nationale Errungenschaft dieses Jahrhunderts. Georg von Schönerer (1887) Mit philosophischen und humanitären Ausführungen ist nach meiner bescheidenen Ansicht da überhaupt nichts mehr auszurichten. Alf eine Bewegung antwortet mann, wenn mann nicht die Macht hat, sie zu unterdrücken, mit einer anderen Bewegung. Theodor Herzl (1893)

D A S HABSBURGISCHE VlELVÖLKERREICH WAR D I E W l E G E DER ERFOLGREICHSTEN,

auf d e m Antisemitismus basierenden politischen Bewegung, die im Europa des 19. Jahrhunderts entstehen sollte. Trotz der Parallelen, die zu Ereignissen im benachbarten Deutschland und Rußland gezogen werden können, waren die Hauptfaktoren des österreichischen Antisemitismus, d. h. sein multinationaler Charakter, sein agitatorisches Vorgehen und seine Wirkung auf die breite Masse, eindeutig etwas Neues. 1 Es war kein Zufall, daß es der Berliner Bewegung von Adolf Stöcker nicht gelang, Wahlerfolge oder eine Mobilisierung der Massen zu erreichen, die mit jenen der Christlichsozialen Partei von Karl Lueger in Wien verglichen werden konnten. 2 Auch erlangte die Unzahl völkischer Antisemiten im kaiserlichen Deutschland des Fin de Siecle nie jenen entscheidenden Einfluß mit den dazugehörenden Auswirkungen auf das öffentliche Leben, wie ihn der österreichischen Führer der

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Die Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus

Alldeutschen, Georg von Schönerer (1842-1821), eine Zeitlang auszuüben vermochte.3 Und so stieß die Bewegung insgesamt trotz der recht tiefgreifenden Spaltung, die sich zwischen der klerikalen und der alldeutschen Variante des Antisemitismus in Osterreich vollzog, auf erstaunlichen Widerhall. Vor 1914 war Ahnliches weder im benachbarten Deutschland noch in Ungarn zu beobachten. Vor der näheren Untersuchung der spezifisch wienerischen Variante der Judäophobie muß an den multinationalen Charakter des Antisemitismus in der Habsburgermonarchie erinnert werden. Schon während der Revolution von 1848 war die Verbindung zwischen der nationalen Frage und dem Antisemitismus offenkundig geworden. Es kam zu Pogromen in Preßburg (Bratislava), zu Ausschreitungen in Prag und zu Unruhen in anderen tschechischen Städten, welche die nationalistische Begeisterung, die wirtschaftliche Not und die Abneigung der Bevölkerung gegenüber den böhmischen Juden als deutschfreundlichem Element widerspiegelten.4 Der Germanozentrismus der österreichischen Juden aber war nur eine Seite des Problems. Als sich die Juden in Ungarn und Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an die Magyaren bzw. Polen und nicht an die Deutschen anzupassen begannen, verbesserte sich die Lage kaum. Die Hinwendung der Juden zu den Magyaren und den galizischen Polen provozierte fast unverzüglich den Antisemitismus der „geschichtslosen", von der ungarischen und polnischen Aristokratie unterdrückten Nationalitäten. So gab es ζ. B. einen slowakischen Antisemitismus, der zwar teilweise wirtschaftliche Gründe hatte, wahrscheinlich aber mehr durch die glühende Identifikation der ungarischen Juden mit dem magyarischen Nationalismus hervorgerufen wurde.5 Slowakische Nationalisten lehnten die ihrer Meinung nach „chauvinistische" Beteiligung der Juden am Journalismus, am Geschäftsleben und an der Politik an der Seite der Magyaren ab. Auf gleiche Weise reizte die übertriebene Genmanophilie der meisten Juden in Böhmen und Mähren die tschechischen Nationalisten, welche die Juden bald als „die ärgsten nationalen Gegner des böhmischen Volkes in politischer Hinsicht" ansahen.6 Der tschechische Antisemitismus erreichte Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts anläßlich der Hilsner-Afiare seinen Höhepunkt (Leopold Hilsner, ein jüdischer Schuhmachergehilfe, war fälschlicherweise des Ritualmordes an einer jungen Christin beschuldigt worden).7 Der Fall rief eine Flut antisemitischer Artikel im ganzen Reich hervor. Antijüdische Unruhen brachen aus, die durch den tschechischen Nationalkampf gegen die Deutschen und durch die industriellen Unruhen in den böhmischen Kronländern noch verschärft wurden.8 Auch in Galizien gab es einen nationalistischen und einen wirtschaftlichen Antisemitismus, der von der ukrainischen Seite herrührte. Dieser richtete sich hauptsächlich gegen die jüdische „Kollaboration" mit den herrschenden Polen. Größere Auswirkungen jedoch hatte jener Antisemitismus, der immer wieder von einigen

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polnischen Großgrundbesitzern, dem aufkommenden polnischen Bürgertum und Teilen der katholischen Kirche geschürt wurde. Dieser Antisemitismus fand einen starken Widerhall bei den galizischen Bauern, vor allem wenn er sich gegen die Rolle der Juden als Zwischenhändler in der Landwirtschaft richtete. Verstärkt durch die Demagogie der Christlichen Volkspartei und deren polnischen Anfuhrer, Pater Stojalowski, flammte er 1898 auf und hatte verheerende Pogrome zur Folge.9 Der polnische Antisemitismus hatte auch einen eindeutig nationalistischen (sowohl antideutschen als auch antirussischen) Aspekt, der in der Nationalen Demokratischen Partei von Roman Dmowski seinen Ausdruck fand.10 Der nationalistische Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa war vielleicht teilweise die Folge des Verhaltens der Juden, die sich in die herrschende Nationalität in ihrer Umgebung assimilierten. In Österreich-Ungarn neigten die Juden automatisch zu den „historischen" Nationen. Deutsche, Magyaren und Polen schienen größere politische Sicherheit und einen höheren Grad an Kultur, Bildung und bessere geschäftliche Möglichkeiten zu bieten. Eine Akkulturation in die vorwiegend bäuerlichen Völker, wie die Slowaken, die Ruthenen oder die Rumänen, wurde kaum in Erwägung gezogen. Auch die Überlegung einer Integration in den Kreis der kulturell und industriell höher entwickelten Tschechen war nicht sehr verlockend. Und zwar nicht nur, weil sie eine zahlenmäßig kleinere und weniger weit entwickelte Nation als die Deutschen des Reiches waren, sondern weil die Assimilation an die Tschechen die unverbrüchliche Treue zu den erklärten Zielen des tschechischen Nationalismus bedeutet hätte, die in offenem Gegensatz zu jenen der Deutschen standen. Außerdem gab es keinerlei Garantie, daß eine solche Bindung seitens der Juden von den Tschechen begrüßt oder auch nur akzeptiert worden wäre.11 Die jüdische Identifikation mit den defacto „Herrenrassen" des Reiches verstärkte zweifelsohne den Antagonismus der unterdrückten Nationalitäten. In ihren Augen waren die österreichischen Juden Gegner im doppelten Sinne. Sie waren „Assimilatoren" an die herrschende Nation (Deutsche, Ungarn, Polen) und kapitalistische Bündnispartner der mächtigen landbesitzenden Klassen, welche die slawische Bauernschaft ausbeuteten.12 Der Antisemitismus der dominanten „historischen" Nationen, insbesondere der Deutschen und Polen, war jedoch möglicherweise viel gefahrlicher. Nur in Ungarn wurde diese Reaktion durch die stillschweigende Allianz zwischen den Magnaten, dem niederen Adel und den jüdischen Geschäftsleuten abgeschwächt. Und dennoch gelang es dem Parlamentsabgeordneten Gyözö von Istoczy sogar im liberalen Ungarn nach 1875 erstmals in Europa, eine ausdrücklich antisemitische politische Bewegung zu organisieren. 1882 hatten die ungarischen Antisemiten fünf Vertreter im Parlament, bei den zwei Jahre später stattfindenden Wahlen erreichten sie mit 17 von 157 Abgeordneten ihren Höchststand.13 Die Tisza-Eszlar-Ritualmordgeschichte (1882) trug viel zur Verschärfung der anti-

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jüdischen Stimmung in Ungarn bei. Es kam zu Unruhen in Preßburg und anderen Städten, sogar in der Hauptstadt Budapest. Nur der erbitterte Widerstand gegen diese Hetzkampagne seitens des Ministerpräsidenten Tisza und seiner Regierung vermochte diese Entwicklung im Zaum zu halten. Dadurch verlor von Istoczy, der bei der Organisation des ersten internationalen antisemitischen Kongresses in Dresden (September 1882) eine wichtige Rolle gespielt hatte, langsam an Terrain.14 Der ungarische Judenhaß sollte nach einem raschen Start weniger Durchhaltevermögen beweisen als sein deutsches Gegenstück in der österreichischen Hälfte der Monarchie. Der neue österreichische alldeutsche Antisemitismus, der Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts aufkam, hatte einen eher paradoxen Charakter. Er war eindeutig nationalistisch, wobei er sich entschieden gegen die „antideutsche" Politik der herrschenden slawisch-klerikalen Regierungskoalition wandte, die 1879 ans Ruder kam. Gleichzeitig war das Alldeutschtum ausdrücklich illoyal und unpatriotisch, da es offen die Auflösung des habsburgischen dynastischen Staates forderte. 15 Sowohl die nationalistische als auch die anti-dynastische Komponente in seinem Programm trugen zu einer Verschärfung der Haltung der Alldeutschen gegenüber den Juden bei. Es war aber der revolutionäre, desintegrative Charakter der alldeutschen Bewegung, der dem Antisemitismus eine so extremistische Prägung verleihen sollte. In dieser Entwicklung lag eine tiefe und bittere Ironie, war das Alldeutschtum in Osterreich doch teilweise von liberal-nationalistischen Juden ins Leben gerufen worden. Von Ignaz Kuranda und Moritz Hartmann 1848 bis zu Heinrich Friedjung in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts gehörten österreichische Juden zu den führenden Förderern der großdeutschen Idee. Mit dem preußischen Sieg im Jahr 1866 kam die Wende. Nun nahm das Alldeutschtum ausdrücklich antihabsburgische, antiösterreichische Züge an. Anfangs hielt diese Verlagerung radikalere Juden der jüngeren Generation nicht davon ab, mit seinem Programm zu sympathisieren. Der vorwiegend jüdische Kreis um Victor Adler (dem künftigen Führer der österreichischen Sozialdemokratie) trat nach 1870 beispielsweise begeistert für Bismarck und gegen die Habsburger ein. Wie der Sozialist Karl Kautsky in seinen Erinnerungen anmerkt, gehörten die österreichischen Juden damals zu den glühendsten Verfechtern des Anschlußgedankens. 16 Im Wiener bürgerlichen Milieu jüdischer Anwälte, Arzte, Journalisten und Künstler sei der deutsche Nationalismus stark ausgeprägt gewesen. 17 Karl Kautsky beobachtete scharf, daß verglichen mit den loyalen Prager Deutschen, die Wiener Juden alle eindeutig oppositionell, antihabsburgisch, antiaristokratisch und sozialliberal gewesen seien. Sie seien begeisterte Nationalisten, viele von ihnen echte Chauvinisten gewesen. Allerdings würden sie nicht von einem jüdischen, sondern von einem alldeutschen Nationalismus inspiriert. 18 Das „jüdische" Alldeutschtum nahm in Österreich immer noch für sich in Anspruch, republikanisch und antiklerikal in der besten Tradition von 1848 zu sein. In

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diesem Geist taten sich 1882 Heinrich Friedjung und Victor Adler mit Georg von Schönerer zusammen, um das Linzer Programm der deutschnationalen Bewegung in Osterreich zu formulieren. 19 Dieses radikal nationalistische Programm sah ein Ende des österreichisch-ungarischen Dualismus vor und forderte die Angliederung Dalmatiens, Bosniens und der Herzegowina an Ungarn. Es verlangte die Autonomie fiir Galizien und die Bukowina. Und es sprach sich vor allem fiir die Integration aller deutschsprachigen Teile des Reiches in ein autonomes deutsches Gemeinwesen aus, dem eine Zollunion mit dem benachbarten Bismarckschen Reich folgen sollte. Der Anteil der slawischen Bevölkerung in diesem Gemeinwesen würde auf leichter lenkbare Proportionen verringert werden. Die Deutschösterreicher würden trotzdem in Böhmen und Mähren, in Schlesien, der Krain, Istrien, Tirol und Triest über erhebliche nichtdeutsche Bevölkerungsanteile herrschen. Das Linzer Programm entwikkelte auch eine Reihe radikaler sozialer Forderungen, wie ζ. B. die Ausweitung des Wahlrechts, eine Steuer auf Börsentransaktionen, die Nationalisierung der Eisenbahnen und Versicherungsgesellschaften, die Pflichtmitgliedschaft bei den Gewerkschaften, eine progressive Einkommensteuer, Erbschaftssteuer und den Arbeitsschutz durch Fabriksgesetze.20 Für säkularisierte, emanzipierte jüdische Intellektuelle wie Adler und Friedjung schien das demokratische Alldeutschtum anfangs eine attraktive politische Möglichkeit zu bieten.21 Diese neue Generation sah sich selbst schon als Deutsche in jedem Sinn des Wortes.22 Trotzdem kam es binnen eines Jahres nach Veröffentlichung des Linzer Programmes zum Bruch zwischen von Schönerer und seinen assimilierten jüdischen Mitarbeitern. Schon im Juli 1885 macht von Schönerer in der ersten Ausgabe seiner Unverfälschten Deutschen Worte klar: „Sollten sich einer oder der andere Jude freiwillig in unsere Reihen stellen, nun, so mag er in Gottes Namen mitthun, doch nur als einfacher Soldat, nicht aber in einer leitenden Stellung."23 Einige Jahre später erklärte er öffentlich: „Wir aber betrachten den Antisemitismus als die größte Errungenschaft unseres Jahrhunderts, weil er sich als Hauptmittel der nationalen Reinigung bewährt."24 1885 war der Antisemitismus offiziell in das Programm der österreichischen Alldeutschen aufgenommen worden, obwohl die Juden weiter den Deutschen Schulverein unterstützten und jüdische Schulen in Böhmen, Mähren, der Bukowina und Galizien wichtige Vorposten der deutschen Sprache blieben.25 Schönerers Forderung nach einer kompromißlosen Rassenpolitik (einschließlich der Juden) blieb im deutschnationalen Lager nicht unangefochten. 1886 wurde sie zu einer Streitfragen zwischen dem Deutschen Klub (50 Mitglieder im Parlament) und den gemäßigteren Nationalisten des Deutsch-Österreichischen Klubs mit 81 Abgeordneten. Die „Gemäßigteren" unter Führung des Schuldirektors Otto Steinwender stimmten mit Schönerer in der „Judenfrage" nicht überein. Sie lehnten aber auch Heinrich

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Friedjung als ihren Hauptsprecher und Herausgeber der Deutschen Zeitung ab, ein Posten, von dem er schließlich unter Druck zurücktrat.26 1891 war der glühende Nationalist Friedjung schon so desillusioniert, daß er Rabbi Josef Bloch berichtete, mit dem organisierten deutschen Nationalismus gebrochen zu haben, da er „mit den Antisemiten kokettirt".27 Der zentrale Streitpunkt zwischen Schönerer und dem Gros der Vertreter des deutschen Nationalismus in Österreich drehte sich nicht um den Antisemitismus, sondern um die Einstellung zur Habsburgermonarchie. Die österreichischen Alldeutschen lehnten die multinationale Struktur des Reiches völlig ab. Ihre Hauptloyalität gehörte dem deutschen Volk, nicht dem österreichischen Staat. Ihre Forderung nach einer Aufteilung der Monarchie trennte sie nicht nur von den gemäßigten deutschen Nationalisten, sondern auch von den klerikalen Antisemiten in Osterreich.28 Der Haß auf die übernationalen Habsburger stand in enger Verbindung zur ideologischen Weltsicht der alldeutschen Antisemiten. In ihren Augen erschienen die Juden als ein „Staatsvolk" in Österreich, als eine Gruppe, deren Geschick in enger Verbindung zur Zentralmacht, zum habsburgischen Kaiser und zum korrupten liberalen System stand.29 Gerade weil die Juden als das „übernationale Volk des Vielvölkerstaates" und daher als eines der zentripetalen Symbole der Monarchie angesehen werden konnten, waren sie fast prädestiniert, zur Zielscheibe der alldeutschen Sezessionisten zu werden. Carl Schorske trifft den Nagel auf den Kopf: „Wenn der Kaiser übernational war, so standen die Juden unter den Nationen, als allgegenwärtige Volksmasse des Kaiserreiches, deren Vertreter in allen nationalen und allen ideologischen Gruppierungen zu finden waren. In welcher Gruppe sie auch wirkten, nie strebten die Juden danach, das Reich zu zerstückeln."30 Sobald die Auflösung der Dynastie zu einem Hauptbestandteil von Schönerers politischen Ansichten wurde, war der Antisemitismus dessen unausweichliche Folge. Er war außerdem äußerst praktisch, die Alldeutschen konnten „zur gleichen Zeit gegen den Sozialismus, Kapitalismus, Katholizismus, Liberalismus und Habsburg" sein.31 Die kompromißlos oppositionelle Haltung von Schönerers gegenüber den Habsburgern sollte sich jedoch als politische Belastung für seine Bewegung erweisen. Die offene Illoyalität gegenüber der Dynastie und dem österreichischen Vaterland erschwerte es dem „Ritter von der Rosenau", seine frühere Position als Führer der demokratischen Opposition in Österreich zu halten. Insbesondere sein unpatriotischer Extremismus stieß die deutschsprachige Mittelklasse in den österreichischen Ländern ab, aus der sich seine Wählerschaft weiterhin großteils zusammensetzte. Von Schönerers autoritäre Persönlichkeit war in hohem Maße für die Entfremdung vormaliger Mitarbeiter wie Pattai, Lueger, Schneider, Vergani, Steinwender, Wolf, Friedjung, Adler und Pernerstorfer verantwortlich.32 Diese wandten sich schließlich dem Christlichen Sozialismus, der Sozialdemokratie oder dem gemäßigten deut-

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sehen Nationalismus zu. Jede dieser Bewegungen hatte klar erkannt, daß ein offener Krieg gegen die Habsburger keine Stimmen einbringt. Die Deutsche Volkspartei unter der Führung des Schuldirektors Otto Steinwender blieb dem Reich ergeben und begnügte sich mit vagen Allgemeinplätzen zur „Befreiung vom jüdischen Einfluß".33 Sie konnte durchwegs bessere Wahlerfolge erzielen als Schönerers Alldeutsche.54 Wie die Christlichsozialen und sogar die österreichischen Sozialisten fühlte sich Steinwender dennoch bemüßigt, sich der allgemeinen antisemitischen Rhetorik anzuschließen. Schon dies war ein indirekter Tribut an Schönerers Erfolg, die „Judenfrage" zu einem unvermeidbaren Politikum zu machen. Schönerers biologischer Antisemitismus war zweifelsohne die radikalste Form der vielen Varianten, die vor 1914 in Österreich existierten. Es handelte sich um eine uneingeschränkte Rassenideologie, die scharf zwischen „Ariern" und „Semiten" unterschied. Sogar die verhaßten Tschechen und Slowenen wurden als „Arier" angesehen. Der Konflikt mit ihnen war nur vorübergehend, ganz im Gegensatz zum „ewigen" biologischen Kampf gegen die Juden.35 In der ersten Ausgabe seiner neuen Zeitschrift Unverfälschte Deutsche Worte aus dem Jahr 1883 verkündete Schönerer,

daß die Vermischung von Juden und Deutschen von einem „brutalen Rassenstandpunkte her" unzulässig sei: „ Wir müssen vielmehr erklären, daß wir weit eher eine Vermischung ... mit den Slawen und Romanen für möglich halten als eine intime Verbindung mit den Juden. Sind doch die ersten als Arier mit uns stammverwandt, während die letzteren uns der Abstammung nach völlig ferne stehen .. ,"36 Schönerer betrachtete den Kampf gegen die Juden als „einen Grundpfeiler des nationalen Gedankens, als Hauptförderungsmittel echt nationaler Gesinnung, somit als die größte nationale Errungenschaft dieses Jahrhunderts. Wir betrachten jeden als Abtrünnigen von seinem Volke, von seiner Nation, der das Judentum und dessen Agenten und Genossen wissentlich unterstützt."37 Schönerer betonte: „Unser Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasseneigentümlichkeiten der Juden" und schlug vor, die Juden auf bestimmte Berufe zu beschränken und sie in Ghettos zusammenzufassen.38 Der Kampf gegen das „internationale Judentum" implizierte eindeutig einen Angriff innerhalb des deutschnationalen Lagers gegen den vermeintlich jüdisch unterwanderten Liberalismus und dessen Gehorsam gegenüber der internationalen Macht des Kapitals. Seit 1879 gehörte auch ein konventionellerer antikapitalistischer Antisemitismus, der sich gegen „die semitische Herrschaft über das Geld und die Phrase" richtete, zum national-sozialen Programm Schönerers.39 1882 hatte Schönerer anläßlich der ersten Versammlung des Osterreichischen Reformvereins (der von Wiener Handwerkern zur Linderung der wirtschaftlichen Not gegründet worden war) die Juden heftig angegriffen, als „den Vampyr der Aussaugung, der ... klopft an das schmalfenstrige Haus des deutschen Landwirtes und Gewerbmannes".40 Schönerer war

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zunächst ein häufiger Sprecher beim Reformverein, aufgrund dessen österreichischen, dynastischen Patriotismus kam es dann jedoch zum Bruch mit der neuen Organisation. 1884 war Schönerer immer noch der anerkannte Führer der radikalen Opposition in Osterreich gegen die klerikal-konservative Regierung Taaffe. Er führte den Kampf um die Nationalisierung der sich in Besitz der Rothschilds befindenden KaiserFerdinand-Nordbahn an, indem er die jüdischen Bankiers, den habsburgischen Hof und die Minister des Wuchers auf Kosten der Allgemeinheit anklagte. Die liberale Neue Freie Presse betrachtete seinen populistischen Feldzug, der in der Presse großen Niederschlag fand, als „kommunistisch".41 Erst im Mai 1885 fugte Schönerer dem Linzer Programm schließlich den berüchtigten Judenpunkt hinzu. Dieser machte die „Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens unerläßlich" zur Durchführung des angestrebten nationalen ud sozialen Reformprogrammes.42 Im Anschluß an seine Hinwendung zum Antisemitismus und die Ausweitung des Wahlrechts auf alle jene, die jährlich mindestens fünf Gulden Steuer entrichteten, konnte Schönerer seine Wählerbasis zunächst vergrößern. 1887 hatte er sieben Anhänger im österreichischen Reichsrat sitzen, alle wurden in die Dritte und Vierte Kurie der unteren Einkommensgruppen gewählt.45 Im gleichen Jahr brachte Schönerer ein antisemitisches Gesetz im österreichischen Parlament ein, das die Zuwanderung russischer Juden in das Reich verhindern sollte.44 Als klassisches Dokument des österreichischen Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts begann es: „In Anbetracht dessen, daß es hoch an der Zeit ist, ausreichende gesetzliche Maßnahmen zum Schutze der Interessen und Rechte der ehrlich arbeitenden Bevölkerung zu schaffen, - in Anbetracht dessen, daß auf dem Wege zu diesem großen Ziele das in unserm Vaterland bereits übermächtig werdende Judentum als wesentliches Hindernis zu betrachten ist..." Weiter hieß es: „In Anbetracht dessen, daß durch die stetige Vermehrung des jüdischen Einflusses die Monopolisierung wichtiger Geschäftszweige duch Juden fortwährend zunimmt, und das besonders auch die in Händen der Juden befindliche Presse in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise die Korruption fördert..,"45 „und in Anbetracht dessen, daß es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis die im Inlande befindlichen Juden unter eine besondere Gesetzgebung gestellt werden - stellen die Gefertigten den Antrag: ,Das hohe Haus wolle beschließen: Die Κ. K. Regierung wird aufgefordert, ein Antisemitengesetz mit strengen Bestimmungen gegen die Einwanderung und Niederlassung ausländischer Juden in Österreich zur verfassungsmäßigen Genehmigung vorzulegen.'" 46 Georg Ritter von Schönerer war nun am Höhepunkt seiner politischen Karriere angelangt. Seit den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts genoß er die glühende Unterstützung der deutschen Universitätsstudenten in Wien, Graz und

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Prag.47 Er war in den Augen der deutschen Turnvereine in Wien, Niederösterreich und in den Alpenländern eindeutig der anerkannte Führer des deutschen Nationalismus. Nach seinem Vorbild nahmen sie keine jüdischen Mitglieder mehr auf.48 Auch in den deutschnationalen Kreisen der beruflichen Mittelklasse (Arzte, Anwälte, Lehrer und Wirtschaftsprüfer), welche die jüdische Konkurrenz fürchteten, war er ein Held. Insbesondere in den ländlichen Alpenregionen und bei den Grenzdeutschen in Schlesien und Böhmen (wo die slawische Herausforderung stärker war) konnte Schönerer mit starker Unterstützung bei den Wahlen rechnen.49 Die Universitätsstudenten hatten von Anfang an von den Befürwortern des Alldeutschtums die schärfste rassistische und antisemitischste Ausrichtung.50 Seit 1878 begannen die Burschenschaften in Wien, Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen. Der Trend breitete sich rasch im ganzen Reich, bei Schulverbindungen, Turnvereinen und deutschen Gesellschaften aus.51 Wie Schönerer blickten die Universitätsstudenten nach Berlin. Unter den Studenten war die pro-preußische Stimmung schon seit der österreichischen Niederlage von 1866 stark gewesen. Nichts konnte den Niedergang der Habsburgermonarchie in den Augen der jüngeren Generation stärker unterstreichen als dieses Debakel. Seine unmittelbare Folge war der Ausschluß Österreichs vom neuen Deutschen Reich, das von Bismarck geschaffen worden war. Dies verstärkte die deutschen Gefühle der Isolation und des Slawenhasses in Osterreich in hohem Maße. Die Wacht am Rhein wurde nun zum Sammlungsruf für die deutschen Studenten an österreichischen Universitäten. Die Verehrung Bismarcks und der Stolz auf das benachbarte Reich der Hohenzollern wurde nun zu einem Glaubensgebot. In diesen Kreisen war es durchaus üblich, die österreichische Fahne zu beleidigen und sich über die Nationalhymne lustig zu machen. Es ist nicht weiter überraschend, daß Schönerers Feindschaft zu den Habsburgern und zum Slawentum sowie sein rassischer Antisemitismus hier unwiderstehlichen Anklang fanden. Der Antisemitismus in den österreichischen Studentenverbindungen wurde durch die weltlichen Ängste vor der jüdischen Konkurrenz nicht weniger angeheizt als durch ultranationalen Fanatismus. An der Wiener Universität waren 1880 22,3 Prozent der Jusstudenten und 38,6 Prozent der Medizinstudenten Juden. 1889-90 erreichte der Anteil von Juden am Lehrpersonal der medizinischen Fakultät 48 Prozent.52 Die Tatsache, daß viele arme jüdische Studenten aus Ungarn und Galizien an die medizinische Fakultät strömten, hatte schon 1876 zu Befürchtungen Anlaß gegeben. Der bekannte Wiener Chirurg Theodor Billroth (später führend im Osterreichischen Verein zur Abwehr des Antisemitismus) hatte in diesem Jahr besorgt angemerkt, daß „die Juden eine scharf ausgeprägte Nation sind und ein Jude ebenso wenig wie ein Perser, oder Franzose, oder Neuseeländer, oder Afrikaner je ein Deutscher werden kann; was man jüdische Dichter heißt, sind doch eben nur zufallig

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deutsch redende, zufallig in Deutschland erzogene Juden, selbst wenn sie schöner und besser in deutscher Sprache dichten und denken, als manche Germanen vom reinsten Wasser .. ." 53 Durch die Betonung des unausrottbar „fremden" Charakters der Juden versprach der Rassenantisemitismus, diese von den freien Berufen auszuschließen, wo sie zu einer ernsthaften Konkurrenz fur Söhne des deutsch-österreichischen Mittelstandes zu werden drohten. Der Zustrom von Juden wurde von dieser Schicht als eine gefahrliche Bedrohung ihrer künftigen Aussichten als Elitegruppe angesehen. Für deutsch-österreichische Studenten erhöhte die wirtschaftliche Konkurrenz zweifelsohne die Attraktion des „nicht-konfessionellen" völkischen Antisemitismus, dessen Vorreiter im Deutschland Bismarcks Richard Wagner, Wilhelm Marr, Eugen Dühring und Paul de Lagarde waren.54 Dieser Rassenideologie zufolge waren germanisierte Juden dem deutschen Geist nicht nur „fremd", sie waren auch dafür verantwortlich, daß die europäische Gesellschaft und Kultur dem Mammon nachjagte. In den Schriften Dührings und de Lagardes wurde ausdrücklich der Ruf nach Entjudung laut. Dies implizierte eindeutig die Abschaffung der jüdischen Emanzipation. Von nun an sollte die Ausrottung des jüdischen Geistes aus der Kultur der deutschen Völker zum unwiderstehlichen Wahlspruch für die nationalistischen Studentenverbindungen in Deutschland und Osterreich werden. Wenn dies überhaupt möglich war, so waren die österreichischen Studenten noch radikaler als ihre Kommilitonen im Deutschen Reich.55 Die „wehrhaften deutschen Verbindungen in Ostereich" formulierten die Ideologie des germanischen Rassismus bei ihrer Konferenz in Waidhofen (1896) in unnachahmlicher Prosa: „In vollster Würdigung der Thatsache, daß zwischen Ariern und Juden ein tiefer moralischer und psychologischer Unterschied besteht und ... in Anbetracht der vielen Beweise, die auch der jüdische Student von seiner Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit gegeben, ... trifft die heutige Versammlung deutscher wehrhafter Studentenverbindungen den Beschluß, den Juden auf keine Waffe mehr Genugthuung zu geben, da er nach unseren deutschen Begriffen deren unwürdig und der Ehre völlig bar ist."5®

Da die alldeutschen Verbindungen von der Aussicht alarmiert waren, ihre Privilegien als Elite zu verlieren, befürworteten sie den biologischen Rassismus leidenschaftlich. Zweifelsohne fürchteten sie sich auch vor Duellen mit nationalistischen jüdischen schlagenden Verbindungen wie der Kadimah, wie Heniy Wickham Steed bemerkte, die deren Herausforderung durchaus begegnen konnten: „Gegenwärtig erkannten die besten Fechter der schlagenden deutschen Korps, daß die zionistischen Studenten ebenso wirkungsvoll Wangen aufschlitzen konnten wie jeder leutone und daß die Juden auf dem besten Wege waren, die besten Fechter der Universität zu werden". 57

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In den letzten Jahrzehnten vor 1914 richteten die deutschnationalen Studenten verstärkt ihre gewalttätige und rassistische Agitation nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen katholische, sozialistische und italienische Studenten in Wien.58 Ihr Haß auf den sklerotischen habsburgischen Staat und dessen katholische Anhänger war besonders markant und spiegelte Schönerers vehemente Anklagen gegen Rom wider. Die Alldeutschen bezichtigten die katholischen Studenten der doppelten Loyalität. Begeistert übernahmen sie Schönerers Wahlspruch: „Ohne Judah, ohne Rom wird gebaut Gennaniens Dom". 59 Das Aufbegehren gegen den österreichischen Klerikalismus war bei den deutschnationalen Studenten nichts Neues. Es hatte vielmehr eine lange Tradition, die bis auf die Zeit des Vormärz zurückging. Vor 1848 war die katholische Kirche in studentischen Kreisen mit Absolutismus, Zensur und Metternichs repressiven Karlsbader Dekreten gleichgesetzt worden.60 Der romantische, revolutionäre und antiklerikale Geist von 1848 war in den deutsch-österreichischen Burschenschaften niemals ganz verschwunden. Erinnerungen an 1848, als die Akademische Legion der Studenten das absolutistische Habsburgerregime bekämpft hatte, wurden fünfzig Jahre später auf die alldeutsche Hetzkampagne gegen die Habsburger und Rom übertragen.61 Georg von Schönerer und seine Anhänger warben unermüdlich für die staatliche Erziehung und die standesamtliche Eheschließung. Sie organisierten sogar die Los-von-Rom-Bewegung, die auf eine Massenbekehrung aller Deutsch-Österreicher zum lutherischen Protestantismus abzielte, um den Anschluß an das preußisch-deutsche Reich zu erleichtern. Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts forderte Schönerer die Loslösung von Rom „in der Hoffnung auf den endgültigen Sieg des Germanentums über die undeutsche, streitbare römische Kirche".62 Die Kampagne zur totalen Ausrottung des jesuitischen „Geistes der Intrige" wurde gemeinsam mit dem Kampf gegen die übernationale Macht von „Judah" und die slawische Bedrohung zu einem der wichtigsten Punkte im österreichischen alldeutschen Programm nach 1900. Obwohl Schönerer nach außen hin dem Protestantismus anhing, stand er in Wirklichkeit dem teutonischen Heidentum mit seinem Kult zweitausendjähriger germanischer Stammesgeschichte näher. Nicht grundlos stellten die Alldeutschen einen neuen germanischen Kalender mit dem Jahr Eins (115 v. Chr.) im Angedenken an den Sieg der Kimbern und Teutonen über die Römer auf.63 Schönerer versuchte sogar, alte germanische Bezeichnungen für die Monate des Jahres wieder aufleben zu lassen. Viele Turnvereine, Radklubs und andere parapolitische Organisationen, die mit seiner Bewegung verbunden waren, gaben sich Namen, die an die germanische Stammesgeschichte erinnerten. Dieses neue Heidentum vergrößerte die Kluft zwischen dem österreichischen Alldeutschtum und der Christlichsozialen Partei, die ihre Zugkraft an der katholischen Tradition des Volkes festmachte, noch weiter.

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Obwohl 1901 nach einer Welle deutschnationaler Unruhen in Böhmen 21 seiner Anhänger in das kaiserliche Parlament gewählt wurden, gelang es Schönerer letztlich nicht, im habsburgischen Osterreich eine große Massenbewegung aufzubauen. Sein paranoider politischer Stil machte ihn selbst zu seinem ärgsten Feind. Den Überfall, den er 1888 auf die Redaktionsräume der liberalen Zeitung Neues Wiener Tageblatt (dessen Eigentümer Moritz Szeps war) anführte, sollte sich als der entscheidendste Fehler erweisen. Er führte zu seiner Verurteilung aufgrund einer Anklage wegen schwerer tätlicher Beleidigung, einem kurzen Gefängnisaufenthalt, dem Verlust des Adelstitels und einer fünfjährigen Aussetzung der politischen Rechte. 64 Durch sein eigenes zügelloses Benehmen hatte er den österreichischen Behörden den entsprechenden Vorwand geliefert, eine Bewegung in die Schranken zu weisen, deren Extremismus eindeutig als Gefahr für die öffentliche Ordnung und den habsburgischen Staat selbst angesehen wurde. Die Tatsache, daß Schönerer praktisch fünf wichtige Jahre von der politischen Bildfläche verschwunden war, ermöglichte es seinem Erzrivalen Karl Lueger (1844-1910), dessen Platz als Anführer der antiliberalen, antikapitalistischen, antisemitischen Bewegung in Deutsch-Österreich einzunehmen. Der in Wien geborene Lueger stammte im Gegensatz zu Schönerer nicht aus einem ländlichen Gebiet Österreichs. Er versuchte auch nicht, seine Heimat auf ein bloßes Anhängsel Großdeutschlands zu reduzieren. Lueger war niemals Alldeutscher gewesen, geschweige denn ein Feind der habsburgischen Dynastie, obwohl sich seine christlichsoziale Bewegung in den frühen 90er Jahren einer sozial-revolutionären Sprache bediente, welche die Kreise am Hof und die österreichische Staatskirche alarmierte. Luegers Antisemitismus fehlten jedoch immer die starr ideologische Ausrichtung und der rassische Fanatismus, die für die Alldeutschen Schönerers so charakteristisch waren. 65 Als Anführer einer „patriotischen" (schwarzgelben) Partei, deren Ziel es war, zur Stütze eines verjüngten österreichischen Staates zu werden, mußte Lueger mit den Alldeutschen kollidieren und sich von deren radikalem Antisemitismus distanzieren.66 Die Christlichsozialen hatten niemals so für Bismarck und das mächtige Hohenzollernreich geschwärmt wie die Alldeutschen. Und vor allem bedrohte Schönerers Los-von-Rom-Bewegung eines der Ziele, das ihnen am meisten am Herzen lag, nämlich die Rechristianisierung Österreichs durch eine populäre Massenbewegung, die mit der katholischen Kirche verbündet war. Diese Unterschiede traten stärker zutage, sobald die Christlichsozialen ihren Traum von der Eroberung Wiens verwirklicht hatten (dafür hatten sie kurz mit den Alldeutschen zusammengearbeitet) und in den ländlichen Gebieten Österreichs Fuß zu fassen begannen. Während der Aufbaujahre der Bewegung Luegers zwischen 1889 und 1897 waren die Parallelen zwischen dem Alldeutschtum und dem christlichen Sozialismus viel stärker aufgefallen. Carl Schorske hat bereits einige Ähnlich-

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keiten im politischen Stil zwischen Schönerer und Lueger, den beiden führenden österreichischen Verfechtern des Antisemitismus, aufgezeigt: „Beide Männer begannen als Liberale, beide kritisierten den Liberalismus zunächst von einem sozialen und demokratischen Standpunkt aus, und beide endeten als Abtrünnige, die fur ausgesprochen anitliberale Bekenntnisse eintraten. Beide benutzten den Antisemitismus, tun die gleichen labilen Elemente der Bevölkerung zu mobilisieren: Handwerker und Studenten. Und - was für unsere Zwecke entscheidend ist - beide entwickelten Tendenzen außerparlamentarischer Politik, der Politik der Schläger und des Pöbels."67 Bereits 1883, als Lueger noch radikaler Demokrat war, hatte er sich dennoch mit der Kampagne Schönerers zur Nationalisierung der sich im Besitz der Rothschilds befindlichen Nordbahn identifiziert. Er unterstützte den alldeutschen Führer im Wiener Stadtrat und bei der politischen Agitation bei der unteren Mittelschicht in der Hauptstadt.68 Wie Schönerer nahm auch er am antisemitischen Österreichischen Reformverein teil und trat mit ihm bei verschiedenen Versammlungen und öffentlichen Auftritten in den frühen 80er Jahren auf. Trotz eines gewissen Widerwillens, sich ganz dem Antisemitismus zu verschreiben, unterstützte Lueger im Mai 1887 das alldeutsche Gesetz zur Beendigung der Zuwanderung ausländischer Juden. Dies war der entscheidende Schritt, der auf seinen späteren, endgültigen Bruch mit dem radikalen Flügel des Austroliberalismus hindeutete. In den späten 80er Jahren sollte die „Judenfrage" eine gemeinsame Basis zwischen den Alldeutschen und den Vereinigten Christen herstellen, wie sie nun genannt wurden. Zehn Jahre später tolerierten die Christlichsozialen noch immer eine brutale Variante des Antisemitismus in ihren eigenen Reihen, wie sie von Volksdemagogen wie Ernst Schneider (18451913), Ernst Vergani (1848-1915) oder den katholischen Priestern Josef Deckert (1843-1901) und Pater Abel (1843-1926) vertreten wurde, die dem Antisemitismus Schönerers kaum nachstanden.69 Dies ist weit weniger erstaunlich, wenn man berücksichtigt, daß Schlüsselfiguren in der Christlichsozialen Partei wie Schneider, Vergani oder der Parlamentsabgeordnete Robert Pattai einmal nationalistische Antisemiten gewesen waren, die häufig gleiche politische Ansichten wie Schönerer vertraten. Sie hatten sich aus Opportunismus oder aus Ungeduld über seine persönliche Unnachgiebigkeit von ihm getrennt.70 Das von Ernst Vergani, einem einstmals engen Mitarbeiter von Schönerers, herausgegebene Deutsche Volksblatt war zweifelsohne eine völkische, rassistische Zeitung. Sie schlug sich auf die Seite der Christlichsozialen, als klar wurde, daß Karl Lueger zum führenden antisemitischen Politiker Wiens aufsteigen würde.71 Vergani war ein Beispiel jener Variante des christlichsozialen Geschäftsantisemitismus, der die Judenhetze ausnützte, um privaten Reichtum anzuhäufen und politischen Ein-

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fluß zu gewinnen.72 Sein halb-pornographisches Skandalblatt spiegelte die gleitenden Ubergänge zwischen dem „christlichen" und dem rassischen Antisemitismus wider, wie sie in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Welt der Wiener Schmutzpresse üblich waren. Die Bierkellermentalität, von der diese „christlichsoziale" Zeitung getragen wurde, machte kaum einen Unterschied zwischen Juden und Konvertiten. Dies war auch bei Pfarrer Josef Deckert der Fall, der von seiner Wiener Kanzel in den 90er Jahren unermüdlich predigte, daß die Juden christliche Kinder zu rituellen Zwecken ermordeten. Dieser beliebte katholische Prediger verbreitete ungeniert rassistischen Antisemitismus.73 Beim Mechaniker Ernst Schneider war es sogar noch schwieriger, eine Trennungslinie zwischen „christlichem" und rassischem Antisemitismus zu ziehen. Als gekonnter Organisator der Handwerksinnungen und als einer der Kämpen, denen Lueger am meisten vertraute, verfugte er verglichen mit seinen Parteikollegen wahrscheinlich über die besten Kenntnisse der Handwerksbedingungen in Wien. Immer wieder erging sich Schneider in blutrünstigen Drohungen gegen die österreichischen Juden. Während einer Reichsratsdebatte im Jahre 1898 tat Schneider den Ausspruch, „man möge ihm ein Schiff geben, auf dem sämtliche Juden zusammengepfercht werden könnten; er wolle es aufs offene Meer hinauslenken, dort versenken und, wenn er nur gewiß sei, daß der letzte Jude ertrinke, selbst mit untergehen, um so der Welt den denkbar größten Dienst zu erweisen".74 An dieser Stelle muß angeführt werden, daß Schneider bei Debatten im österreichischen Parlament 1898 und 1899 Reden hielt, in denen er allen Ernstes Schußgeld für das Abschießen von Juden forderte, als wären diese schädliche Raubvögel.75 Karl Lueger, der kultivierter und intelligenter war, vermied allgemein eine derartige Sprache. Dennoch waren seine antijüdischen Vorträge keineswegs frei von der blutrünstigen Sprache der Straßen Wiens. In einer Reichsratsdebatte am 15. Februar 1890 verwendete Lueger Ausdrücke, die an Schmähreden von Ernst Schneider erinnerten. „Wölfe, Panther, Leoparden und Tiger sind menschlich gegenüber diesen Raubtieren in Menschengestalt. Die Hauptzeugerin des Antisemitismus war die judenliberale Presse. Die Verworfenheit und der ungeheuerliche Terrorismus derselben mußte im Volk eine Bewegung dagegen erzeugen ... Wir rufen nicht Hep, Hep, aber wir wehren uns dagegen, dass wir unterdrückt werden und dass anstelle des alten christlichen Reiches Osterreich ein neues jüdisches Reich errichtet werde. Wir hassen nichts anderes als das erdrückende Großkapital, das sich in den Händen der Juden befindet."76

In den frühen 90er Jahren kam Lueger immer wieder auf das Thema zurück, daß die christlichen Bevölkerungsteile Wiens nicht mehr die „Herren in ihrem Haus" wären. Ausgebeutet von „antichristlichen" Juden, welche die Industrie, den Handel und das

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Bankenwesen monopolisierten, wurde der „kleine Mann" von einer wirtschaftlichen Katastrophe bedroht. Luegers Bewegung erinnerte auch in ihrer Sprache an eine österreichische klerikale Tradition der Judäophobie, die auf die volkstümliche Rhetorik von Abraham a Sancta Clara, den Prediger des 17. Jahrhunderts, zurückging.77 Mittelalterlicher Aberglaube und moderner sozialer Protest vereinigten sich in der neuen Bewegung, die ständig durch den Neid der Spießbürger auf das jüdische Kapital und die Hochfinanz neue Nahrung erhielt Rassische und religiöse Konflikte, die durch die langsame Industrialisierung der habsburgischen Länder, durch die wirtschaftliche Krise des Wiener Kleinbürgertums und durch die herausragende Rolle verursacht wurden, die Juden im österreichischen Kapitalismus spielten, nährten die konkreten sozialen Forderungen, für die sich die Partei Luegers einsetzte. Die tief verwurzelte religiöse Tradition eines volkstümlichen Antisemitismus war jedoch praktisch die Garantie, daß die Juden zur Zielscheibe der Massen des Wiener Kleinbürgertums wurden.78 Die im deutschen Osterreich, in Ungarn, Böhmen und Galizien vor 1914 immer wiederkehrenden Ritualmordanschuldigungen bezeugen die Macht katholischer Traditionen bei der modernen antisemitischen Hetze. Schon seit 1848 war die gegen die Juden gerichtete Propaganda in Osterreich von katholischen Kreisen ausgegangen. In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten Sebastian Brunner und sein Nachfolger als Herausgeber der Wiener Kirchenzeitung, Albert Wiesinger, eine ständige, wenn auch erfolglose Kampagne gegen die Uberale soziale Ordnung und die Emanzipation der Juden gefuhrt. Brunner argumentierte, daß die „Judenfrage" nicht nur eine religiöse, sondern auch eine nationale Frage sei, da die Juden „nach Sitten, Sprache und Gebräuchen eine besondere, von uns geschiedene orientalische Nation [bilden], welche uns selbst als Fremdlinge bezeichnet, damit aber ausdrücklich anerkennt, daß sie nicht zu uns gehört, noch gehören will."79 In Österreich war der konservative Brunner das Bindeglied zwischen dem traditionellen christlichen Antijudaismus und dessen moderner Transformation zu einer antikapitalistischen, antiliberalen und rassistischen Ideologie. Als geweihter Priester und Prediger stellte er die Juden ständig als die typischen Symbole einer destruktiven Modernität dar, die sich nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die österreichische Gesellschaft und Kultur insgesamt richtete. Sein Nachfolger, Albert Wiesinger, war radikaler, er wollte die ungebildeten Massen durch volksnahe Schriften beeinflussen, welche die ,,jüdische[n] Kapitalisten und Geldvergeuder" als Ausbeuter von „armen Christen und Hungerleidern" verunglimpften.80 Diese soziale Demagogie, die das jüdische Kapital der christlichen Arbeit gegenüberstellte, antizipierte ein zentrales Motiv christlichsozialer Propaganda. In einer Ära der Vorherrschaft liberal-rationalistischer Ideen war die Zeit für ihre Akzeptanz im Volk jedoch noch nicht reif.

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Auch das skandalöse Werk Der Talmudjude (1871), das von dem katholischen Professor für semitische Sprachen an der Universität Prag, August Rohling, geschrieben wurde, zeigte erst zu Beginn der 80er Jahre eine signifikante Wirkung auf die Monarchie.81 Diese Schmähschrift Rohlings gegen das talmudische Judentum war im wesentlichen eine vulgäre Wiederholung der früher erschienenen Arbeit von Andreas Eisenmenger, Entdecktes Judentum (1701). Durch die Tisza-Eszlar-Affäre in Ungarn (1882) und den antisemitischen Wahlkampf des ungarischen Politikers Gyözö von Istoczy gelangten Rohlings Gedanken erstmals in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit in der Monarchie.82 1882 nutzte der Wiener Journalist Franz Holubek Rohlings akademische Autorität für seine eigenen Tiraden gegen den Talmud. Holubek wurde verhaftet, in einem Sensationsprozeß in Wien wegen religiöser und rassischer Unruhestiftung aber ordnungsgemäß freigesprochen.83 Die Ritualmordanklage in Ungarn erwies sich als völlig haltlos, und Rohling wurde schließlich 1885 vor einem Wiener Gericht von dem unermüdlichen Rabbi Josef Bloch als Lügner und Fälscher entlarvt. Dennoch war ein beträchtlicher Schaden für das Judentum entstanden, der die österreichischen Antisemiten ermutigte, an ihren Behauptungen des Ritualmordes festzuhalten. Rohlings Behauptungen, der Talmud würde von den Juden fordern, die Christen erbarmungslos zu unterdrücken, fand viele willige Zuhörer unter den verarmten Wiener Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten. Wenn Rohling die vulgäre, niedrige Seite des katholischen Antisemitismus in Osterreich verkörperte, war Baron Karl von Vogelsang (1818-90) seine menschlichere Seite. Der Chefideologe des christlichen Sozialismus, dieser norddeutsche, zum Katholizismus konvertierte Protestant lebte von 1859 bis zu seinem Tod im Jahre 1890 in Wien. Seit 1875 hatte er das in Wien beheimatete Organ der klerikal-konservativen Kreise in Osterreich, Das Vaterland, herausgegeben, das er benützte, um seine romantische, neofeudalistische Vision eines auf christlichen moralischen Grundlagen beruhenden korporativen Staates zu verbreiten.84 In seiner Zeitung wurden der Liberalismus, die Juden, die kapitalistische Gesellschaft, der Materialismus, der Atheismus und der Nihilismus als die Hauptfeinde dargestellt. Für Vogelsang waren dies die schädlichen Folgen der Entchristianisierung des Staates und der Gesellschaft. Es bestand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Kritik Vogelsangs an der wirtschaftlichen Aktivität als Zweck an sich und jener von Karl Marx; dies traf auch auf ihre Ansichten über die „Judenfrage" zu. Vogelsang zitierte sogar aus Marx' Zur Judenfrage (1844), um seine Uberzeugung zu untermauern, daß der Sieg des Kapitalismus die Emanzipation der Juden bedeutet hatte, die keinen Gott, sondern nur den Mammon hatten.85 Er stimmte mit Marx überein, daß die modernen Christen „Juden" geworden waren; daß der Kapitalismus und der „jüdische Geist" im wesentlichen gleichzusetzen waren. Derartigen Begriffen verlieh Vogelsang eine besondere christliche Note, um so den ideologischen Unterschied zwischen christlichem

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Sozialismus und dem Marxismus hervorzuheben. Er lehnte auch die Behauptung des germanischen Rassismus ab, daß die Juden als Gruppe ein besonderes Monopol auf gottloses Verhalten, Materialismus oder auf kapitalistische Habgier hätten. 1875 schrieb Vogelsang im Vaterland·. „Wenn durch irgendein Wunder an irgendeinem gesegneten Tage alle unsere 1,400.000 Juden uns entzogen würden, es wäre wenig geholfen; denn uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er inkarniert, unsere ganze Lebensanschauimg, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen." 86 Erkenntnisse wie diese gewannen den Respekt des austromarxistischen Theoretikers Otto Bauer, eines jüdischen Intellektuellen, der Vogelsangs Kritik am /αissez^zre-Kapitalismus bewunderte, auch wenn er dessen christliches korporatives Universalmittel ablehnte.87 Unausgesetzt beklagte Das Vaterland die Auflösung der organischen, christlichfeudalen Werte als Folge des kommerziellen Kapitalismus und des Einflusses der Großstadtpresse. Auch wenn Vogelsang kein systematischer Antisemit war, so glaubte auch er, wie schon Brunner vor ihm, daß der kapitalistische „Geist" des Judentums die traditionelle soziale Ordnung unterminiert habe. Nur eine Wiederherstellung katholischer Ethik könnte Osterreich von der „jüdischen Tyrannei" befreien. 88 Vogelsang machte kein Hehl aus seiner Besorgnis über die „förjudungf, welche die europäische Gesellschaft seit der Aufklärung und der Französischen Revolution erfaßt habe. Seiner Meinung nach hatte diese Tendenz in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, in einer Zeit des triumphierenden „jüdischen" Materialismus und der liberalen Permissivität. Er meinte, nur ein wahrhaft christliches Volk wird „die Juden aufnehmen und absorbieren können, ohne zu verjuden; das vom Christentum in Glauben, Recht und Sitte abgefallene aber muß rettungslos unter dem caudinischen Joche der Knechtschaft hindurchkriechen, wird von den Juden ausgeplündert, beherrscht, zum Paria gemacht".89 Im Gegensatz zu den rassischen Antisemiten betonte Vogelsang, wie wichtig die Religion sei. Seiner Ansicht nach war die Rechristianisierung die einzige Lösimg gegen die „Verjudung" der österreichischen Gesellschaft und Kultur. Für die völkischen Rassenpropheten war der katholische Glaube an sich ein Ursprung für die „Verjudung", ein Symbol fur den „Feind von innen". Nach Vogelsang war er der Schlüssel zur Erlösimg. Dennoch trug das aristokratische Vaterland unter seiner Herausgeberschaft stark zur Verbreitung eines negativen, dualistischen, klischeehaften Menschenbildes des Juden in Wien und Niederösterreich bei: Jenes des reichen jüdischen Fabriksbesitzers, Bankiers und Kapitalisten, der die ehrbaren christlichen Handwerker und Händler ausbeutete,90 - und seines Gegenspielers, des antiklerikalen, subversiven jüdischen Revolutionärs, der die Grundlagen der traditionellen Gesellschaft zerstören will. Luegers populistische Bewegung übernahm diese durchschlagend negativen Klischees und verbreitete wirksam den Mythos einer „unglaub-

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lieh frechen Judenpresse", die Vogelsang als einen heimtückischen Feind der christlichen Massen ansah.91 Das wahrscheinlich bedeutendste politische Vermächtnis Vogelsangs war die Gründung des Christlich-sozialen Vereins im Jahre 1887, der von seinem Tiroler katholischen Schüler, Ludwig Psenner (1834-1917), gemeinsam mit Adam Latschka vollendet wurde. Dieser Verein sollte das Zentrum antiliberaler Agitation in Osterreich und der Kern der künftigen Christlichsozialen Partei werden.92 Zu seiner Führungsriege gehörten Aristokraten wie Prinz Liechtenstein, Wiener Handwerker wie Ernst Schneider, der nationalistische Anwalt Robert Pattai (1846-1920), der Theologe Franz Schindler und der „Demokrat" Karl Lueger. Dieses bunt gemischte Bündnis wurde 1889 zu den bekannten Vereinigten Christen zusammengefaßt. Diese Organisation, die später unter Luegers dynamischer Führung zur Christlichsozialen Partei umgebildet wurde, sollte die Bastionen liberaler Vorherrschaft im Wiener Stadtrat und im niederösterreichischen Landtag in den späten 90er Jahren zu Fall bringen. Das Manifest der Vereinigten Christen aus dem Jahr 1889 war eindeutig antisemitisch und gab so die wachsende Radikalisierung in der unteren Wiener Mittelschicht wieder. Es forderte den Ausschluß der Juden von den freien Berufen (Medizin, Recht usw.), vom Lehrberuf an christlichen Schulen, vom Staatsdienst lind vom Gerichtswesen sowie Einschränkungen bei der Zuwanderung von Juden.93 1889 war die „Judenfrage" zu einem zentralen politischen Thema in dem vereinigten christlichen Bündnis von klerikalen Konservativen, Deutschnationalen, rassischen Antisemiten, Sozialreformern, enttäuschten Ex-Liberalen und radikalen Demokraten geworden. Dieses eine Thema vermochte es, die heterogene Klassenzusammensetzung der neuen Bewegung zu überbrücken, während es gleichzeitig die äußerst wichtige Unterstützung der verarmten Wiener Handwerker garantierte. Der christliche Sozialismus als reine Wiener Bewegung sprach von Anfang an die wirtschaftlichen Ängste der eingesessenen Handwerker an. Eine seiner ersten Angriffspunkte war die nach 1859 erfolgte Institutionalisierung des Freihandelsprinzips in Osterreich.94 Fast zehn Jahre vor der Gründung der Christlichsozialen Partei war der Antisemitismus der Handwerker in Wien als Reaktion auf wirtschaftliche Schwierigkeiten bereits in Erscheinung getreten. Anfangs, tun 1880, hatte er sich gegen die ausländische Zuwanderung und gegen den „unfairen" Wettbewerb jüdischer Hausierer aus Polen, Ungarn und Rußland gerichtet. Die Handwerker forderten eine Rückkehr zu den für die österreichischen Juden vor 1848 geltenden Restriktionen. Sie verlangten ein System wirtschaftlicher Schutzmaßnahmen, wie ζ. B. die Wiederherstellung des Zunftwesens und die Ausstellung spezieller Befähigungsnachweise, die Handwerker vor dem unwillkommenen Sturm freien Wettbewerbs schützen sollten.

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Dem handwerklichen Antisemitismus fiel in Wien besonderes Gewicht zu, weil sich dort bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts der traditionelle Rahmen eines vorkapitalistischen Systems erhalten hatte. Wien blieb die Haupt- und Residenzstadt des habsburgischen Hofes, die von der Aristokratie, der Beamtenschaft und einem breiten Kleinbürgertum dominiert wurde, das in Kleinbetrieben verwurzelt war. Nach der Industriezählung von 1902 beschäftigten von 105.570 Industrie- und Handelsunternehmen 90.714 fünf Personen oder weniger. Im Industriesektor beschäftigten diese winzigen Werkstätten fast ein Drittel aller Lohnempfänger - 115.505 von insgesamt 573.424 Personen.95 Ein weiteres Drittel der Arbeitskräfte arbeitete in kleinen und mittelgroßen Fabriken. Dieses Ubergewicht an kleinen Produzenten, Geschäftsinhabern, Handwerkern und kleinen Händlern, die von den neuen kapitalistischen Produktionstechniken bedroht wurden, verstärkten die Wahrscheinlichkeit fur die Entstehung einer starken kleinbürgerlichen Bewegung in Wien. Ilsa Barea schilderte den verzweifelten Kampf dieser Klasse, der „Proletarisierung" zu entgehen: „Die Uberlebenden kämpften mit verstärkter Bitterkeit an zwei Fronten um ihre Existenz: politisch - durch die Partei Luegers - gegen die Liberalen als Befürworter des freien Unternehmertums und gegen die , Juden' als ihre Hauptkonkurrenten und/oder als von ihnen finanziell Abhängige; und wirtschaftlich gegen ihre eigenen Arbeiter. Sie waren eine mächtige Lobby und erreichten schrittweise Schutzmaßnahmen für das Kleinhandwerk gegen die Ubergriffe der modernen Industrie .. ."9e

Die wirtschaftliche Krise des Wiener Kleinbürgertums fiel mit dem rasanten gesellschaftlichen Aufstieg der zugewanderten Juden nach 1867 zusammen. Diese Koinzidenz bereitete einen fruchtbaren Boden für antisemitische Agitation. Dies traf auch auf die Ausweitung des Wahlrechts im Jahr 1882 zu, die das Ende des liberal-konservativen Monopols in der österreichischen Politik einläutete. Die Wahlreform bewirkte, daß die Macht in Wien künftig von den Stimmen der unzufriedenen unteren Mittelschicht abhing. Die neu zur Wahl zugelassenen Fünf-Gulden-Männer (die Zahlung einer Steuer von fünf Gulden jährlich war nun das Kriterium zur Stimmabgabe), die sich hauptsächlich aus kleinen Geschäftsinhabern, Handwerkern, niedrigen Beamten und Ladenbesitzern zusammensetzten, sollten zehn Jahre später die gesellschaftliche Basis für Luegers siegreiche christlichsoziale Bewegung bilden. Ihre Zulassung zur Wahl verstärkte jene Kräfte in Wien, die zunehmend durch die liberale Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not verbittert waren. Die antikapitalistische Stimmung in der gesellschaftlichen Mittelschicht der Wiener Bevölkerung machte auf Kosten der Liberalen den Weg frei für ein politisches Bündnis zwischen klerikalen Konservativen und den Vertretern des „kleinen Mannes".97 Das antiquierte österreichische Wahlsystem mit seiner Einteilung in verschiedene Kurien je nach Eigentum und Einkommen schloß noch in den 80er Jahren die Ar-

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beiterklasse von der Wahl aus. So spielte das mögliche Gegengewicht der Sozialdemokratie (die im deutschen Kaiserreich in Opposition zum Antisemitismus stand) bis zu den Wahlrechtsreformen der 90er Jahre keine Rolle. Erst bei den Reichsratswahlen von 1907 (die auf dem allgemeinen Wahlrecht für Männer basierten) sollte die österreichische Arbeiterbewegung der Christlichsozialen Partei gleichberechtigt entgegentreten können.98 Dieses Vakuum, das durch das Festhalten an einem veralteten Wahlsystem entstand, das Fehlen einer starken bürgerlich-demokratischen Tradition, der Verfall des Austroliberalismus und der Ausschluß der Sozialdemokraten förderte eindeutig eine kleinbürgerliche, katholische, soziale Protestbewegung in Wien. Wie John Boyer aufgezeigt hat, war das im späten kaiserlichen Wien herrschende Kuriensystem auf vielfaltige Weise ideal geeignet für die Ideologie und den Aufbau der Christlichsozialen Partei als eine antiliberale Protestbewegung des deutsch-österreichischen Bürgertums. Der Antisemitismus wurde zur integrativen Ideologie der Christlichsozialen Partei, zum Bindeglied, das die erfolgreiche Uberbrückung der Klassengegensätze innerhalb des Wiener Bürgertums ermöglichte." Lueger und seine Mannen versuchten die Juden in Wien als einen einzigen monolithischen Feind mit internationalen Verbindungen darzustellen, gegen den sich alle Christen verbünden müßten, wenn sie im Uberlebenskampf bestehen wollten.100 Sonst würde der Wirtschaftsliberalismus alle Klassen des „arbeitenden christlichen Volks" ruinieren, während die Juden davon profitierten, um ihre Fremdherrschaft in der kaiserlichen Hauptstadt zu festigen. 101 Der christliche Sozialismus nahm für sich in Anspruch, die Wiener von diesem erdrückenden Joch des „jüdischen" Kapitals und seiner Handlanger dem „Terrorismus der jüdisch-liberalen Presse" - zu retten.102 Gegen das Streben der Juden nach „Weltherrschaft" schlug er eine geeinte Front der einheimischen Bevölkerung vor, die auf einer Wiederbelebung christlicher Werte und einer Rückkehr der katholischen Kirche zu ihrem Ursprung im Volk basierte.103 Der christliche Sozialismus bot auch ein Bündnis zwischen dem deutschen und dem tschechischen Mittelstand in Wien gegen die „jüdische" Hauptstadt an. Er proklamierte sogar eine Versöhnung der österreichischen Nationalitäten im ganzen Reich auf Kosten des gemeinsamen jüdischen Feindes. Die christlichen Völker des Balkans könnten sich (so schien Lueger zu glauben) mit groß österreichischen kaiserlichen Ambitionen abfinden, wenn das Ungeheuer der „Judenherrschaft" beschworen werde.104 Der politische Einsatz des Antisemitismus wurde durch Luegers Angriffe auf die „Judäomagyaren" weiter unterstrichen, die geschickt die Wiener Vorbehalte gegen die Ungarn ausnützten. Sie waren ein praktischer Zusatz zum kaiserlichen österreichischen „Patriotismus" der Christlichsozialen Partei.105 Im Gegensatz zu Schönerer gelang es Lueger dadurch, die Loyalität zur habsburgischen Dynastie mit dem populistischen Antisemitismus zu verbinden. Mit Erfolg stellte er

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den „jüdischen Liberalismus" als den Feind aller Österreicher hin, unabhängig von Nationalität oder Klassenzugehörigkeit.106 Sobald die Liberalen in Wien einmal besiegt waren, bediente sich Lueger gegenüber den österreichischen Sozialdemokraten einer ähnlichen Taktik. Gegen Ende des Jahrhunderts waren sie zu den ernsthaftesten politischen Rivalen der Christlichsozialen Partei geworden.107 Lueger erkannte und artikulierte tiefsitzende Statusängste des Wiener Mittelstands, die durch den Aufstieg der Sozialdemokratie angefacht wurden. Seine antisemitische Rhetorik nach 1897 versuchte, sich die kleinbürgerlichen Ängste vor der „Proletarisierung" und der „roten Gefahr" zunutze zu machen. Sein sozialer Traditionalismus brachte klassische bürgerliche kulturelle Werte wie Ordnung, Hierarchie, Patemalismus und einen Komplex der Klassenüberlegenheit zum Ausdruck, welche das Proletariat ebenso verabscheute wie es das Großkapital fürchtete.108 Der konservative Stil des katholischen Bürgermeisters entschärfte jedoch teilweise den Rassenantisemitismus, wie er von einigen seiner Anhänger und Rivalen vertreten wurde. Durch seine Konzentration auf pragmatische Fragen wollte er die gesellschaftliche Unsicherheit seiner bürgerlichen Wähler beschwichtigen. Luegers sozioökonomischer Antisemitismus, den er geschickt hinter einer pseudoreligiösen Fassade versteckte, erlangte eine ideologische und kulturelle Respektabilität, die keiner seiner Gegner erreichte.109 Die christlichsoziale Religiosität vermittelte soziale Solidarität, ein Gefühl der Stabilität und Autorität, die den traditionellen Werten von Kleinbürgertum und Handwerk entsprachen. Religiöse Achtung war häufig die Kehrseite des handwerklichen Antisemitismus, der das Gefühl einer sozialen Gemeinschaft wiedererstehen ließ, mit dem die mittelalterlichen Zünfte einmal ihre Mitglieder erfüllt hatten. Es erstaunt nicht, daß katholische Kleriker bei der Verbreitung dieser Ideologie eine zentrale Rolle spielten, indem sie den Kult väterlicher Autorität und familiärer Solidarität mit den polternden Schmähreden gegen „jüdische" Beherrschung verbanden. Aktivistische Priester wie Josef Scheicher, der von armen Bauern abstammte, waren besonders wirkungsvoll bei der Verbreitung der christlichsozialen Botschaft unter der breiten Masse des Volkes. Als Schüler Sebastian Brunners entsprang Scheichers Antisemitismus konsequenterweise dessen Einsatz für die Vorherrschaft der katholischen Kultur in Österreich.110 Die traditionelle Abhängigkeit der österreichischen Kirche von der staatlichen Macht lehnte er ausdrücklich ab. Junge Kleriker wie Scheicher und Schindler träumten von einer religiösen Wiederbelebung durch die Demokratisierung der kirchlichen Führung. Einige schärfere klerikale Antisemiten stellten sogar eine Verbindung zwischen der Dekadenz der Kirche und den angeblich „verjudeten" Einflüssen des Liberalismus her. Nach Pater Josef Deckert beispielsweise hatte das Judentum das Wesen des österreichischen Staates und der Gesellschaft unterminiert, wo die christliche Kultur nicht mehr die Oberhand hatte.111

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Die zunehmende Beteiligung des Klerus an der politischen Agitation rief nicht nur bei den höheren Bischöfen, sondern auch in führenden Kreisen des Hofes Bestürzung hervor.112 Vergebens versuchte die österreichische Regierung durch Vermittlung des Prager Kardinals Schönborn, die päpstliche Verurteilung der Christlichsozialen Bewegung in Wien zu erreichen.113 Der Radikalismus der Anhänger Luegers schokkierte den Kaiser, die Konservativen und die alte Garde der katholischen Hierarchie. Die Neue Freie Presse und andere liberale Zeitungen stimmten in den Chor der Entrüstung ein, jedoch vergebens. Die Christlichsozialen konnten im Mai 1895 ihre Macht noch ausbauen und erreichten erstmals eine absolute Mehrheit bei Gemeinderatswahlen. Die unmittelbar bevorstehende Ernennung von Karl Lueger zum neuen Bürgermeister von Wien löste eine größere Verfassungskrise aus. Nur mehr ein kaiserliches Veto stand zwischen Lueger und der Verwirklichung seines ehrgeizigen Zieles. Am 30. Mai 1895 brachte die Neue Freie Presse die Gefühle der meisten Liberalen zum Ausdruck: „Ist es aber denkbar, daß sich ein österreichisches Ministerium findet, welches die Verwaltung der Hauptstadt einem Manne anvertraue, dessen politsche Grundsätze mit diesen niederträchtigen Excessen untrennbar zusammenhängen? Ist es mit der Ehre und mit den obersten Interessen von Wien, ja des Reiches vereinbar, daß eine so große Macht in Hände gelegt wird, welche von den wildesten Elementen unterstützt werden und sich noch niemals ausgestreckt haben, um den Janhagel in die Schranken zu weisen? Soll Wien vor der ganzen Welt bloßgestellt werden?"114 Die österreichische Regierung von Graf Badeni war für solche Einwände nicht unempfänglich. Dem Protest an den Kaiser von seiten Baron Bänffys, des ungarischen Ministerpräsidenten, der über die antimagyarischen Beleidigungen Luegers empört war, dürfte besonderes Gewicht zugekommen sein.115 Die immer wieder ausgesprochenen Vetos des Kaisers verstärkten jedoch nur die Unterstützung für Lueger im Volk. Infolgedessen nahm die Opposition zur Regierung, zu den Liberalen und zur jüdischen Gemeinde an Intensität zu. Wollten sie nicht durch unlautere Mittel die Bestätigung des Mandats des Volks verhindern? Der Mann von der Straße war sicherlich dieser Meinung. Lueger manipulierte die Situation geschickt, indem er den Patriotismus seiner Partei verkündete, während er gleichzeitig darauf beharrte, daß die Krone die Autonomie der Stadt und die Regeln des Verfassungssystems respektieren müsse.116 Bis 1896 hatte Lueger die kaiserliche Regierung und seine liberalen Gegner klar ausmanövriert. Es war ihm sogar gelungen, einen beträchtlichen Anteil der Hausherrenwähler der oberen Mittelklasse aus der ersten Kurie für sich zu gewinnen. Klug „hielten sich [die Christlichsozialen] zurück, starke antisemitische Rhetorik bei den Wahlern aus der ersten Kurie einzusetzen, stattdessen näherten sie sich diesen Männern mit dem Argument, daß sie die Partei unterstützen sollten, die dem Stadt-

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rat die Autonomie und die ihm zu stehende Macht zurückgeben würde."117 Lueger erkannte, daß es unwahrscheinlich war, daß die Wiener Hausherren auf eine antikapitalistische Rhetorik oder auf die marktschreierische Judenhetze Ernst Schneiders und seiner Wähler unter den Handwerkern reagieren würden. Wie John Boyer angeführt hat, zerstörte die Notwendigkeit, Großgrundbesitzer für sich zu gewinnen, „nicht den Antisemitismus in der Partei als funktionelles Element fur die politische Mobilisierung, sondern verminderte die Abhängigkeit der Elite vom Judenhaß als Streitfrage".118 Bei ihrem endgültigen Siegeszug präsentierten sich die Christlichsozialen daher weniger als „Antisemiten" denn als traditionalistische Mittelschichtpartei. Ihr unmittelbares Ziel war es, die Wähler aller drei Kurien gegen die aufkeimende Gefahr der Sozialdemokratie zu einem einheitlichen Bürgertum zu vereinigen. Lueger setzte sich nun offen fur eine gemeinsame Front der Großkapitalisten und des Bürgertums der unteren Mittelschicht gegen den gemeinsamen Feind in der gleichmacherischen Linken ein. Die Folgen waren nicht unbedeutend für die Zukunft der Wiener jüdischen Gemeinde. Karl Luegers Wahl kündete nicht deren Untergang an, sondern führte stattdessen zu einem modus vivendi, der wichtige jüdische Interessen unversehrt ließ. Um wieder John Boyer zu zitieren: „In Wien verschwand der politische Antisemitismus im formalen Sinn nie ganz, da die Christlichsozialen ihrem Wesen nach eine,antisemitische' Partei waren. Die tatsächliche Wirksamkeit der antisemitischen Frage aber nahm dennoch ab, was letztlich den Vorgängen in Deutschland glich. Antisemitismus wurde zu einem bloß ergänzenden Streitpunkt, der sich mehr gegen die Sozialdemokraten als gegen die jüdische Gemeinde an sich richtete."119

Nach 1897 sollten die Christlichsozialen ihr Hauptaugenmerk auf die wirksame Vertretung der Gruppeninteressen des Wiener Bürgertums richten. Ihr Antisemitismus wurde verwässert, obwohl er weiterhin eine wichtige Waffe im politischen Kampf gegen die Linke blieb. So hatte Luegers Bewegung innerhalb von zwei Jahren ihren sozialen Radikalismus aufgegeben. Sie hatte sich zu einem Damm der Mittelklasse gegen die steigende Flut sozialistischer Forderungen gewandelt. Ihr Programm und ihr Symbolismus waren bewußt staatserhaltend geworden.120 Die Sozialdemokraten erkannten rasch die Wandlung im Wesen des Wiener Antisemitismus und gingen unverzüglich zur Gegenoffensive über. Luegers Partei wurde vorgeworfen, daß sie kaum mehr repräsentierte als ein Schutzrecht für den kleinbürgerlichen Sozialismus, nur von niedrigen Trieben besessen war: „Es ist bei uns mit'n Antisemitismus wie mit'n Margarine: g'falscht. Aber der halt's Fälschen besser versteht, der macht's Geschäft.. ." 121 Die sozialistische Presse sollte Lueger nach 1897 regelmäßig als einen Verbünde-

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ten der Rothschilds anprangern. E s wurde erklärt, daß die Klasseninteressen des christlichen Sozialismus identisch mit jenen der jüdischen Bankenbourgeoisie seien. Der katholische Bürgermeister wurde lächerlich gemacht, weil er den Antisemitismus auf eine leere Phrase reduziere und weil er seine Partei vom Wohlwollen der jüdischen Geschäftsgemeinde abhängig mache. 1 2 2 Beim Kongreß der Sozialdemokratischen Partei im Jahr 1897 wies Adler auf die Doppelbödigkeit der neuen Herren Wiens hin: „Wenn Lueger, wenn die Antisemiten sich empfehlen wollen, sprechen sie da heute von Befreiung aus dem Joch des jüdischen Kapitales? Verdammt wenig ... Herr Dr. Lueger möchte gern die Arbeiterschaft Österreichs als Schulpferd vorreiten, er möchte zeigen, wie er es versteht, sie zu bändigen und sie in geordneten Trab zu bringen gegen den jüdischen Kapitalismus, aberfiir den christlichen, der auch so gut jüdisch ist wie der andere. (Heiterkeit und Zustimmung)"123 Die Sozialisten verspotteten Lueger - den sogenannten „Drachentöter" der jüdischen Hauptstadt weil er sein geliebtes „christliches Volk" den „Börsenjuden" ausliefere und mit den Bankjuden Geschäfte mache, gegen „die er in seiner radikalen Zeit heftige und so berechtigte Anklagen vorgebracht hätte". 1 2 4 Der Wiener Bürgermeister stand nach wie vor sogar auf herzlichem Fuß mit den jüdischen Pressemagnaten und mit Journalisten wie Moritz Szeps und Alexander Scharf. Wilhelm Ellenbogen, ein führender jüdischer Intellektueller in der Sozialistischen Partei, kam zu dem Schluß: „Die Partei, die jetzt Wien beherrscht, hat mit dem Antisemitismus an sich so wenig zu thun, dass sich ein Politiker einmal den Witz erlauben durfte, dass keine Partei, ausser den Liberalen, so viel Juden besitze, wie die antisemitische". 125 Die sozialistische Propaganda betonte ständig den Scheinantisemitismus der christlichsozialen Regierung und deren angebliche Unterwürfigkeit gegenüber dem „jüdischen Kapital". Die Arbeiterzeitung schrieb a m 6. April 1900: „Herr Lueger hat sein ganzes Leben unter Juden verbracht; wenn es einen Menschen gibt, auf den das Wort ,verjudet' passt wie angegossen, so ist es der Wiener Bürgermeister." 1 2 6 Die Bloßstellung der „verjudeten" christlichsozialen Anführer, die gesellschaftlichen Umgang mit reichen Juden, wie Rothschild, von Taussig oder Ritter von Gutmann, pflegten, war daher ein Thema für endlose Kritik in der Arbeiterpresse. D a die Linke schon über Luegers eigene Tiraden gegen die „jüdische Sozialdemokratie" empört war, konterte sie mit der Bemerkung, daß es der jüdischen Finanzwelt noch niemals so gut gegangen sei wie jetzt unter der christlichsozialen Rathausregierung. 127 Arme jüdische Hausierer und Zuwanderer aus Galizien wurden weiter belästigt. Aber der Einfluß reicher Juden im Wirtschaftsleben, in der Presse und an den Universitäten hatte zugenommen. Die jüdischen Bürgerrechte waren nicht angetastet worden. 1 2 8 Der Wiener Bürgermeister zeigte sich sogar auffallend besorgt

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um die religiösen Bedürfhisse der jüdischen Gemeinde, während er die klassenbewußten Arbeiter diskriminierte.129 Die Partei Luegers war weit davon entfernt, die wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums zu schädigen, sie hatte sich vielmehr von der Logik kapitalistischen Profits leiten lassen, sich mit jüdischen Unternehmern gegen streikende Bergarbeiter und Eisenbahner zu verbünden.130 Der marxistischen Linken zufolge wurden die klerikalen und jüdischen „Ausbeuter" durch eine gemeinsame Furcht vor der Sozialdemokratie getrieben.131 Aus den gleichen Beweggründen wandte sich die sozialistische Volkstribüne Luegers gegen den städtischen Vertrag mit Theodor Ritter von Taussig (dem jüdischen Leiter der Boden-Creditanstalt) als ein neues „Toleranzedikt für das jüdische Großkapital" - als eine endgültige Auslieferung an die Hochfinanz. „Nun ist Taussig (!!) ihr Mann, den Juden ist's in Wien noch nie so gut gegangen als unter Lueger und ,die Fremdherrschaft' ist da - Taussig als Geldgeber der christlichen Stadt Wien! - der Antisemitismus der Luegerei ist als Schwindel enthüllt. Oder wollen die Herren weiter über die Juden schimpfen, weil deren Geld nicht stinkt."132 Die sozialistische Kritik an Luegers Regierung lenkte das Augenmerk auf die scharfe Unterscheidung, die diese zwischen reichen und armen Juden zu machen schien. Während Lueger sich eifrig um Kredite bei reichen jüdischen Bankiers bemühte, zögerte er nicht, kleinere jüdische Beamte in den Ruhestand zu schicken, jüdische Hausierer ohne Arbeitsbewilligung zu schikanieren oder jüdische städtische Angestellte skrupellos zu entlassen. Aber jene konvertierten Juden, „welche der allein seligmachenden Kirche zugetan waren, ja gerade bedeutende Stellen wurden diesen anvertraut".133 Der Halbjude Dr. Julius Porzer (1847-1914) wurde 1904 sogar stellvertretender Bürgermeister Wiens, und einer der führenden Anwälte in der Christlichsozialen Partei war Max Anton Low, der Enkel eines Rabbiners. Dieser halbherzige Antisemitismus der Partei Luegers entging nicht der Aufmerksamkeit des jungen Adolf Hitler (1889-1945), als er 1907 nach Wien kam. Hitler erkannte bald, daß die christlichsozialen Grundsätze fur die Wiener Juden kein wirkliches Hindernis darstellten. In Mein Kampf enmi&tXe er sich: „Im schlimmsten Falle rettete ein Guß Taufwasser immer noch Geschäft und Judentum zugleich".154 Schönerers auf den alldeutschen Rassenprinzipien basierender Antisemitismus machte auf den jungen Hitler einen viel bleibenderen Eindruck. Das Alldeutschtum hatte aber in Wien nie wirklich Fuß gefaßt. In der habsburgischen Hauptstadt waren von Schönerers Anhänger meist entweder Universitätsstudenten, Volksschullehrer, Gymnasiallehrer, unzufriedene Journalisten oder manchmal kleine Geschäftsleute mit nationalistischen Neigungen. Der alldeutsche Stil war viel zu extrem für das leichtlebige Temperament der Wiener. Außerdem spielte der Nationalismus eine relativ geringe Rolle bei der wirtschaftlichen Not der Wiener Handwerker. Nachdem Schönerers Anhänger über keinerlei Kenntnisse verfugten, wie man eine politische Be-

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wegung unter den spezifischen lokalen Bedingungen Wiens aufbaute, blieben sie Außenseiter, „eine schlecht integrierte Gruppe fast sektiererischer Intellektueller".135 Lueger hingegen war immer ein typisch wienerischer Politiker gewesen. Er wußte genau, wie er seine geschickte Mischung katholischer Tradition und Modernität einer breiten Schicht der Wiener mittelständischen Bevölkerung nahebringen konnte. Instinktiv erfaßte er, daß der Rassismus in seiner reinsten Form in Wien unpraktikabel war, obwohl er an den Rändern der Partei weiter den extremistischen Antisemitismus duldete, auch nachdem er die liberale Vorherrschaft in der Stadt zerstört hatte. Dieses Gerede hatte jedoch wenig Einfluß auf seine praktische Politik, sobald er an die Macht gekommen war. Als fähiger Leiter der Stadt erkannte er schließlich nach 1897, daß er mit der jüdischen Geschäftselite in Wien zu einem Einverständnis kommen mußte. Und was viel wichtiger war, es war ihm klar, daß die Juden für das Alltagsleben einer Stadt unverzichtbar waren, in der sie in alle Aktivitäten beruflich eingebunden waren. Ohne jüdische Beteiligung konnte das Wiener Finanzwesen, die Geschäftswelt, die Industrie und die Ausbildung nicht wirkungsvoll in dem von ihm gewünschten Maße funktionieren. In einer aufschlußreichen Nebenbemerkung anerkannte er diese Realität gegenüber Sigmund Mayer, einem führenden Politiker der jüdischen Gemeinde: „Ich mag die ungarischen Juden noch weniger als die Ungarn, aber ich bin kein Feind unserer Wiener Juden; sie sind gar nicht so schlimm und wir können sie gar nicht entbehren. Meine Wiener haben fortwährend Lust, sich auszuruhen, die Juden sind die einzigen, die immer Lust haben, tätig zu sein."136 Ein solch zynischer Pragmatismus war typisch für einen Politiker, der die Judenhetze beschreiben konnte als „ein hervorragendes Mittel für die Propaganda und fiir das Weiterkommen in der Politik", aber als im Amt vollkommen nutzlos. Dieser Opportunismus entschuldigt keineswegs Luegers Bereitschaft, brutale antisemitische Verleumdungen gutzuheißen, um politische Ziele zu erreichen. Seine Anfangserfolge waren abhängig von dem Einsatz der primitivsten Instinkte der Masse.137 Sogar unter seiner relativ wohlwollenden Herrschaft konnten sich die Wiener Juden kaum sicher fühlen angesichts des dämonischen Bildes, das viele seiner Anhänger von ihren Tätigkeiten verbreiteten. Die Genialität des katholischen Bürgermeisters konnte auch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß er dazu beigetragen hatte, den Antisemitismus normal und respektabel erscheinen zu lassen. Trotz all seines fehlenden ideologischen Fanatismus hatte Lueger den hartnäckigsten populären Vorurteilen kulturelle und politische Legitimation verschafft.138 Luegers Partei hatte die niedrigsten Beweggründe, wie beruflichen Neid, Angst vor jüdischer Konkurrenz, Xenophobie, Antiintellektualismus und religiöse Intoleranz, hervorragend manipuliert, um in der Stadt an die Macht zu kommen. Sie hatte die „Judenfrage" zu einer Norm im öffentlichen Leben Österreichs gemacht, die den

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Stil einer Debatte im Reichsrat, im Wiener Stadtrat oder im Niederösterreichischen Landtag auf das Niveau eines Viehmarktes senkte. Trotz seiner Vulgarität hatte der christlichsoziale Antisemitismus nicht zu Pogromen in Wien geführt. Er blieb innerhalb des Rahmens eines versöhnlichen, übernationalen habsburgischen Staates mit einer politischen Kultur, die auf Gesetzestreue und auf dem gegenseitigen Entgegenkommen zwischen den Volksgruppen basierte. Sogar die dunkleren Seiten dieses populären Antisemitismus konnten noch vom österreichischen Rechtsstaat eingedämmt werden, solange Kaiser Franz Joseph lebte. Mit seinem Tod sollten die Schleusentore der Barbarei weit aufgestoßen werden.

8. Adolf Jellinek und die liberale Reaktion Dieser These, daß der Antisemitismus anti-österreichisch ist, muß man Eingang zu verschaffen suchen in die verschiedenartigsten Kreise der österreichischen Gesellschaft. Denn Repressiv-Maßregeln allein sind nicht im Stande, den Antisemitismus zu entwurzeln und alle Keime desselben zu vernichten. Es müssen die Geister zur Einsicht und zur Überzeugung gelangen, daß es sich hier nicht bloß um eine Beunruhigung derjüdischen Bevölkerung handelt, sondern mehr noch um die Machtstellung und die Zukunft Österreichs, welche von den friedfertigen Gesinnungen aller Stämme und Confessionen gegen einander abhängen. Dr. Adolf Jellinek (20. Oktober 1882) Was thaten wir aber gegen den Antisemitismus in seinem Entstehen? Ein Theil von uns trieb Vogel-Strauß-Politik und meinte, der Antisemitismus werde durch unser Todtschweigen von selbst verschwinden-, ein anderer Theil gefiel sich in der asketischen Demut h: seine Schmach zu hören und nicht zu antworten; und ein dritter Theil endlich machte sich gar nichts aus dem Antisemitismus, weil derselbe noch nicht direct an ihn selbst herangetreten war, weil er ihn noch nicht verspürte. Jetzt allerdings gibt es keinen Stand und keine Classe im Judenthume, wo man den Antisemitismus nicht empfindet. Der Gelehrte, der Beamte, der Gewerbemann, der Reiche wie der Arme, der Große wie der Kleine leidet durch ihn, der eine von seinen Hieben, der andere von seinen Nadelstichen, hier bedrohte er die Existenz, dort die Ehre und Würde. Aber das Wachsthum des latenten Antisemitismus muß aüe Unterschiede im Judenthume aufheben und uns Alle mitsammt der socialen Verkümmerung preisgeben, wenn wir nicht wenigstens jetzt wieder solidarisch zufühlen beginnen ... Dr. Josef Samuel Bloch, Österreichische Wochenschrift (8. Juni 1888) Die israelitische Allianz zu Wien " gewährt Hilfe und Unterstützung an Juden, welche als solche zu leiden haben, muß aber als nicht-politischer Verein sich jeder Thätigkeit enthalten, welche als auf politisches Gebiet übergreifend angesehen werden könnte. Gerade hievon ist aber der auf der Durchführung der Gesetze, insbesondere der Staatsgrundgesetze zu richtende Rechtsschutz, dessen wir ob der unausgesetzten schweren Angriffe gegen unsere Glaubensbrüder, gegen unsere Religionsgesellschaft, gegen das Judenthum bedürfen, in vielen Fällen nicht zu trennen. Eine Reihe hervorragender Mitglieder unserer Cultusgemeinde beabsichtigt nun, einen derartigen Rechtsschutzverein, wie ein solcher in Berlin bereits seit zwei Jahren besteht, ins Leben zu rufen. Dr. Alfred Stern (13. Februar 1885)

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Die Wiener Liberalen kennen nur mehr eine Frage, die Judenfrage, nur mehr ein Interesse, das Judeninteresse, nur mehr einen Feind, den Antisemitismus, nur mehr eine Politik, die Judenpotitik. Arbeiterzeitung (1895) Lange haben wir uns mit dem Gedanken getröstet, daß nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung, der nur durch den au fdringlichen Lärm der Führer auch numerisch stark erscheint, gegen uns ist - die letzten Wochen haben uns auch diesen Trost geraubt. Wien hat einen antisemitischen Gemeinderath, einen antisemitischen Bürgermeister!... Mitbürger! Wo ist denn jene vielgeschmähte Macht, die wir nach Aussage unserer Feinde aufallen Gebieten des öffentlichen Lebens besitzen und - mißbrauchen? Auch sie ist eine Fabel! Wir, die verschwindende Minorität, wir können nicht kämpfen, aber laßt uns wenigstens darin einig sein, unser Unglück mit Würde zu ertragen ... Bleiben wir nicht länger Mitglieder solcher Vereine, von denen wir nicht überzeugt sind, daß ihre Leitung und Verwaltung den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit vollkommen entsprechen ... Überall mögen wird dortfehlen, wo das mißgünstige Auge unserer Gegner gerade an uns, an unseren Frauen und Kindern immer neue Fehler entdecken will... Das Band, das unser gemeinsamer Glaube um uns schlingt, soll die Verfolgung seitens unserer Gegner enger und enger knüpfen, damit wenigstens ein Gutes aus dieser unseligen Bewegung für uns erspriesse. Beschlossen in der vom Präsidium des Vereines „Ostereichisch-Israelitische Union" einberufenen Vertrauensmänner-Versammlung am 5. November 1895

B i s IN DIE FRÜHEN 8OER JAHRE DES 1 9 . JAHRHUNDERTS TRATEN DIE LIBERALEN

Führer der Wiener Juden der organisierten antisemitischen Massenbewegung in Österreich nicht entgegen. Im Laufe ihres langen Ringens um die Emanzipation waren sie jedoch häufig verpflichtet gewesen, das Judentum und den Judaismus gegen Diffamierungen durch ihre Feinde zu verteidigen.1 Wichtige Gemeindefiihrer und Publizisten, wie Ignaz Kuranda, Josef von Wertheimer oder Heinrich Jaques, legten ihrer Verteidigung jüdischer Rechte die Prinzipien der liberalen Aufklärung zugrunde, wie freie Religionsausübung, Gleichheit vor dem Gesetz oder bürgerlichen Patriotismus der Juden.2 In den ersten Jahren der konstitutionellen Ära verleitete die Vorherrschaft liberaler Prinzipien die meisten österreichischen Juden zu der Annahme, daß der klerikale und konservative Antisemitismus wenig Chancen hätte, bei der breiten Masse des Volkes Unterstützimg zu finden. Andere Probleme - wie der Konflikt zwischen der Orthodoxie und der Reform, die Zuwanderung der Ostjuden nach Wien oder der „aufgeklärte" Kampf gegen den polnischen Chassidismus in Galizien - standen weiterhin im Vordergrund der Bemühungen der jüdischen Ge-

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meindeführer. Als Simon Szänto Herausgeber des Gemeindeorgans Die Neuzeit war, wurden diese Themen häufig in dieser Zeitung angesprochen. 5 Als er 1882 starb, hatte sich die Einstellung der Juden im ganzen habsburgischen Reich nach einer Reihe unerwarteter Ereignisse von internationaler Bedeutung jedoch stark verändert. Das dramatischste Ereignis waren die russischen Pogrome von 1881, die den Beginn einer massiven Wanderungsbewegung der Juden von Ost nach West auslösten. Diese Auswanderungswelle schwappte über die österreichische Grenze, und aufgrund ihres Ausmaßes mußten viele internationale philantropische Organisationen zusammenarbeiten. Die Pogrome, die den Massenexodus ausgelöst hatten, waren der Anlaß für die Entstehung der russischen Chibbat Zion-Bewegung (die sich für die Auswanderung nach Palästina einsetzte) und eines neuen jüdischen Nationalismus, der auch bald in Wien auf Echo stieß. Zeitgleich mit der brutalen Diskriminierung durch das russische Regime kam es zwischen 1880 und 1883 zu einer Welle von Judenhetze im benachbarten Deutschland und Ungarn sowie auch innerhalb der österreichischen Reichshälfte der Monarchie. Das Zusammentreffen dieser verschiedenen, aber doch miteinander in Beziehungen stehenden Phänomene war ein schlechtes Omen für die Zukunft. Außerdem traten sie zu einer Zeit auf, als die liberale deutsche Verfassungspartei in Österreich in eine erfolglose Oppositionsrolle gedrängt worden war. Dies war für die Wiener Juden ein harter Schlag, die im deutschen Liberalismus stets ihre natürliche politische Heimat gesehen hatten. Einer der ersten österreichischen Juden, welche die Gefahr erkannten, die von der neuen antisemitischen Bewegung ausging, war der Wiener Prediger Adolf Jellinek. 4 Schon fünfzehn Jahre zuvor hatte er die gefährlichen Implikationen der modernen Rassentheorien (wie sie von dem französischen Gelehrten Ernest Renan entwickelt worden waren) vorhergesehen, welche die inhärente Minderwertigkeit der „Semiten" gegenüber den „Ariern" postulierten. Jellinek erkannte, daß diese rassistische Weltsicht leicht zu brutalen nationalistischen Haßgefühlen führen und die physische Existenz der Juden bedrohen könnte. „Es wird der Jude wieder in ein Ghetto verwiesen, wo er im Namen der unerbittlichen und unabänderlich schaffenden Natur bleiben muss; es wird seine weltgeschichtliche Bedeutung ein für allemal verdunkelt. Hier, in dieser neuen Judenfrage handelt es sich nicht für den Juden um ein grösseres oder geringeres Mass von politischen Rechten, sondern um den ganzen Menschen, um sein innerstes Wesen, um seine weltgeschichtliche Ehre." 5 Jellineks Bindung an die humanistischen Prinzipien der deutsch-jüdischen Wissenschaft machte ihn nicht blind für die Gefahren des neuen Evangeliums des Antisemitismus, das in Berlin und Wien gepredigt wurde. Seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte er sich in wortgewaltigen Predigten gegen klerikale Intoleranz, die aristokratische Reaktion und das Wiedererstehen des mittelalterlichen Juden-

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hasses in der deutschsprachigen Welt ausgesprochen. 1880 hatte er eine Anthologie philosemitischer Erklärungen berühmter französischer Staatsmänner, Juristen, Gelehrten, Schriftsteller und Wissenschaftler publiziert.6 Er sah es eindeutig als seine Aufgabe an, sowohl die intellektuellen Waffen als auch eine politische Strategie zu entwickeln, um gegen die antisemitische Welle anzukämpfen, die sich über ganz Europa ausbreitete und nun auch rasch Nachahmer in Osterreich selbst fand. 7 Die Juden könnten die Verteidigung ihrer Ehre nicht nur in den Händen wohlmeinender Christen belassen. Es sei ihre persönliche Pflicht, die Verfälschungen jüdischer Quellen zu demaskieren und die angesammelten christlichen Vorurteile, die sich jahrhundertelang gegen das Judentum entwickelt hatten, zu korrigieren.8 Nach Jellineks Meinung müßte die jüdische Apologetik die Wahrheit über den erhabenen Glauben Israels verbreiten und den tiefen Universalismus des Talmud aufzeigen. Sie müßte die jüdischen Errungenschaften in der Naturwissenschaft, der Medizin, dem Rechtswesen, der Literatur, den Künsten, dem Handel, der Industrie, der Philanthropie und der Politik stärker bekannt machen. Und vor allem müßten die Rabbiner beim Kampf gegen den Antisemitismus standhaft in vorderster Linie stehen, um die Ehre des jüdischen Namens, die Größe des Judentums und den Adel seiner Lehren zu verteidigen.9 Jellinek war der Ansicht, daß es äußerst wichtig sei, den Vorwurf, das biblische Judentum sei ein exklusiver, national begrenzter Glaube, zu entkräften und aufzuzeigen, daß das Evangelium der universellen Liebe schon Jahrhunderte vor Christus vom Judentum gelehrt worden war.10 In einer lang anhaltenden Polemik mit der führenden konservativen Zeitung Wiens, Das Vaterland, betonte Jellinek, daß die Grundlagen der talmudischen Ethik der christlichen Moralphilosophie keineswegs unterlegen seien.11 Die Lehre des Talmud sei - im Gegensatz zu den Behauptungen seiner Verleumder - wirklich ein einzigartiges pädagogisches Mittel zur Erhaltung des hohen Niveaus jüdischer Moral. Jellinek stellte die jüdischen Tugenden der Gelehrsamkeit, des Mitleids und der Glaubenshingabe, die durch den Talmud genährt wurden, der herzlosen Grausamkeit ihrer antisemitischen Verleumder gegenüber. Judenhetze, mit der skrupellosen Freisetzung von Lynchinstinkten und mit ihrer Förderung blinder Leidenschaften, war eine schwere Krankheit der christlichen Zivilisation, der nun anscheinend kein Einhalt mehr geboten werden konnte.12 Die „christlichen" Tugenden der Demut, der Wohltätigkeit, des Armutsgelübdes und der Nächstenliebe seien zu selten in die Praxis umgesetzt worden. Dem traditionellen Christentum fehlte eine wirkliche Glaubensfreiheit, da es nach dem Prinzip extra ecclesiam nulla salus auf der Bekehrung der Juden und anderer Ungläubiger bestünde. Jahrhundertelang hätte das Christentum den Antisemitismus durch den Religionsunterricht, durch seine Gebete, Predigten und Feste und durch ein Volksbrauchtum genährt, das die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich machte.13 Die

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Emanzipation würde erst Wirklichkeit werden, wenn die christlichen Völker diese ererbten Vorurteile, die in ihrem kollektiven „Unbewußten" tief verwurzelt seien, aufgäben. Die bürgerliche Gleichberechtigung würde so lange eine Chimäre bleiben, bis das Judentum von den Christen wirklich als eine Religion anerkannt würde, die jene erzieht, die sich zu Gerechtigkeit und Nächstenliebe bekennen und durch das Beispiel ihrer Gläubigen tugendhafte Menschen und loyale Bürger sein wollten.14 Ohne die Anerkennung der Ganzheit des Judentums durch die christliche Welt könnte kein wirksamer Kampf gegen den Antisemitismus geführt werden.15 Für Jellinek, einen überzeugten Liberalen, war auch die Trennung von Religion und Staat äußerst wichtig, tun die Fortdauer glaubensbedingter Vorurteile zu überwinden. Seiner Ansicht nach war die Stellung der Juden davon abhängig, wie sehr es den revolutionären Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelang, den modernen Staat zu durchdringen. Es sei kein Zufall, daß die Antisemiten diese liberalen Grundsätze ablehnten und stattdessen eine Wiederherstellung der katholischen Gesellschaftsordnung forderten oder sich für eine homogene nationale Gemeinschaft aussprachen, welche die Juden vom Staat ausschließen würde. 16 Der moderne Antisemitismus zeige als Nachfolger mittelalterlicher Barbarei, daß Millionen europäischer Christen dieses Denken erst überwinden müßten. 17 Gegen die Last solcher ererbter Vorurteile sei es die Aufgabe der Juden, die christlichen Nationen auf die Durchsetzimg liberaler Ideen vorzubereiten, da sie über die besten Voraussetzungen dazu verfügten.18 Die liberalen Gedanken wurden hier als eine moderne Version des mosaischen Gesetzes und der prophetischen Lehren Israels dargestellt. Es wurde von den österreichischen Juden erwartet, diese „heilige" zivilisatorische Mission auf sich zu nehmen, ohne vor der Pseudoreligion, dem Neid oder dem blinden Fanatismus zurückzuschrecken, der von den Antisemiten zur Schau getragen wurde. Im April 1884 erklärte Jellinek, daß der Antisemitismus zu einer „Religion" von Feldzügen, Rassenhaß und Unmenschlichkeit geworden sei.19 Die Heftigkeit der neuen Judäophobie mache die Unreife der christlichen Völker Europas, nicht die Schuld der Juden deutlich. Angriffe auf den jüdischen Reichtum, die „Ausbeutung", die Zurschaustellung und andere angebliche Fehler seien nur ein Vorwand. Die Intoleranz der deutschen Studenten in Berlin und Wien, die barbarische Plünderung von jüdischen Häusern im zaristischen Rußland oder die gewaltsame Agitation in Ungarn hätten nichts mit jüdischem Verhalten zu tun.20 Der Antisemitismus sei im wesentlichen eine Frage der nationalen Pädagogik. Nicht die Juden, sondern einzelne Völker, wie die Deutschen und Slawen, seien noch nicht reif für die sogenannte Emanzipation, da sie zu keinem vorurteilslosen und gerechten Verhalten gegenüber den Juden fähig seien.21 In den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts spürte Jellinek deutlich, daß eine bürgerliche Gleichberechtigung ohne ein solides moralisches Fundament leicht

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den Angriffen einer neuen Generation von Antisemiten in Mittel- und Osteuropa ausgesetzt wäre. Das Problem bestand darin, daß weder die Deutschen noch die Slawen die Fähigkeit der Romanen oder Angelsachsen zeigten, fremde Völker zu assimilieren. Der Liberalismus war noch nicht zu einem integralen Bestandteil ihrer politischen Kultur geworden. Diese Anerkennung der Grenzen formaler Emanzipation brachte Jellinek dem jüdischen Nationalismus jedoch nicht näher. In einem faszinierenden Bericht über sein Zusammentreffen mit Leo Pinsker, dem russischen Begründer der Chibbat ZionBewegung, in Wien (im April 1882) wies Adolf Jellinek die pessimistischen Prognosen und Schlußfolgerungen seines besorgten Besuchers aus dem Osten zurück.22 Der Wiener Prediger war nicht bereit, auf die liberalen Ideen der Emanzipation zu verzichten, welche die österreichischen Juden über vierzig Jahre lang begleitet hatten. Er konnte auch Leo Pinskers Behauptung nicht akzeptieren, daß seine Glaubensgenossen nur „Wanderer" oder Fremde in ihren Heimatländern seien. „Wir sind heimisch in Europa und fühlen uns als Kinder des Landes, in welchem wir geboren und erzogen worden sind, dessen Sprachen wir reden und dessen Bildung unsere geistige Substanz ausmacht. Wir sind Deutsche, Franzosen, Engländer, Ungarn, Italiener usw. mit jeder Faser unseres Wesens. Wir haben längst aufgehört, echte VollblutSemiten zu sein, und das Gefühl einer hebräischen Nationalität ist uns längst abhanden gekommen." 23

Jellinek versicherte Leo Pinsker, daß sich die Mehrzahl der europäischen Juden, wenn sie sich entscheiden müßten, gegen den vorgeschlagenen Plan eines unabhängigen jüdischen Gebiets aussprechen würden. Bei der Konfrontation mit den Antisemiten sei Geduld lebenswichtig. Man könne nicht annehmen, daß die Vorurteile gegenüber den Juden innerhalb eines einzgen Jahrhunderts ausgeräumt würden.24 Jellinek konnte trotz seiner Vorhebe für die Vererbungslehre jedoch auch nicht mit Pinskers Behauptung übereinstimmen, daß die Judäophobie nicht mehr auszumerzen sei.25 Man könne sich vorstellen, daß Instinkte, Leidenschaften, Talente und sogar Vorlieben vererbt werden könnten, nicht aber so komplexe psychische Prozesse wie die Ablehnung einer bestimmten Religion oder Rasse.26 Außerdem warf Jellinek Pinsker vor, die Gefahr des deutschen und russischen Antisemitismus zu übertreiben. Dies bedeutete jedoch nicht, daß die Wiener Juden vom Los ihrer russischen Glaubensbrüder nicht zutiefst betroffen waren. Im Gegenteil, Jellinek bekannte, daß ihn kaum etwas so tief erschüttert habe, wie die Auswanderung der russischen Kinder nach Jaffa durch Wien.27 Aber das Leiden dieser wandernden Jimgen, die russische Trauerlieder für die Heimat sangen, die sie verlassen hatten, war kein Beweis für Pinskers Ansicht. Es bestand kein dringender Grund, außerhalb Europas einen

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Kleinstaat zu gründen, der doch nur zum Spielball der Großmächte werden würde und dessen Zukunft ungewiß sei.28 Jellinek bekräftigte seine Überzeugung, daß eine Aufrechterhaltung der grausamen Ignatiev-Dekrete von 1881 gegen das russische Judentum unvorstellbar sei. Die Probleme der russischen Juden seien hauptsächlich dadurch entstanden, daß sie sich im Grenzgebiet so stark konzentrierten. Die einzige vernünftige Lösung lag in einer Auswanderung in ein freies, demokratisches Land wie die Vereinigten Staaten. Obwohl die traumatischen Auswirkungen der russischen Pogrome nicht geleugnet werden sollten, gaben diese nicht Anlaß, in tiefe Verzweiflung zu verfallen. Die öffentliche Meinung im Westen und die neuen Kommunikationsmittel machten jede Wiederholung höchst unwahrscheinlich. Künftig würden Neuigkeiten in Rußland „mit der größten Schnelligkeit" verbreitet werden. Dies würde die russischen Behörden abschrecken, erneut derartige Vorkommnisse zuzulassen.29 Jellinek kritisierte ausdrücklich Pinskers zwanghafte Fixierung auf das Ausmaß und die Bedeutung der Katastrophe, die über die russischen Juden hereingebrochen war. Jellineks Meinung nach könnten Pinskers Ansichten wohlmeinend als „Symptome der pathologischen Zustände in Rußland" verstanden werden.30 Sie hatten keine universelle Bedeutung und waren keine Lehre für die westlichen Juden. Jellineks Reaktion auf die Pogrome war typisch für die meisten liberalen deutschen oder österreichischen Juden zu jener Zeit.31 Es war nicht so, daß sie dem neuen politischen Antisemitismus selbstgefällig gegenüberstanden. Vielmehr bestand in ihren Augen noch ein enormer Unterschied zwischen dem halb barbarischen, pogromistischen Rußland und dem deutschen Mitteleuropa. Die russischen Zionisten, wie Pinsker, waren nicht nur durch die Barbarei der bäuerlichen Massen erschüttert worden, sondern auch durch die kalte Feindseligkeit der zaristischen Regierung und die Gleichgültigkeit der russischen Revolutionsbewegung. Sie sahen Deutschland und Osterreich durch ein russisches Prisma und kamen zu dem Schluß, daß eine Emanzipation westlicher Art ihre Probleme nicht lösen würde.32 Die Beurteilung des Antisemitismus, wie sie von den frühen russischen Zionisten wie Pinsker getroffen wurde, betonte dessen endemischen, krankhaften Charakter. Der Antisemitismus wurde als die unausweichliche Folge des heimatlosen, extraterritorialen Status des jüdischen Volkes angesehen. Diese Auffassung des Antisemitismus, die ihren Widerstand gegen jede Vernunft, Logik oder Aufklärung betonte, war für die meisten emanzipierten westlichen Juden viel zu beunruhigend, um sie näher in Betracht zu ziehen. Als Angehörige eines „Geistervolkes", als Fremde oder bloße Gäste in den Ländern, in denen sie sich niedergelassen hatten (Pinsker), angesehen zu werden, schien dem emanzipierten Judentum den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Und dennoch gab es 1882 jüdische Studenten an der Wiener Universität, die von

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den russischen Pogromen tief verunsichert worden waren und sehr wohl versuchten, Pinskers Lehren auf ihre eigene Situation zu beziehen.33 Diese Studenten, die in Rußland, Rumänien oder Galizien geboren worden waren, wo sie in einem traditionellen jüdischen Volksmilieu aufgewachsen waren, fühlten sich von dem bestehenden gemeinschaftlichen Rahmen in Wien ausgegrenzt.34 Als Studenten an der Universität litten sie unmittelbar unter der antisemitischen Politik der alldeutschen nationalistischen Burschenschaften Österreichs in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dieser Rassismus hatte sich auf Schulverbindungen, Turnverbände und deutsche Kulturgesellschaften ausgedehnt. Indem die „rassische" Unterlegenheit der Juden an den Oberschulen und der Universität ständig vor Augen geführt wurde, konnte eine kleine Gruppe osteuropäischer jüdischer Studenten überzeugt werden, daß Assimilation eine Sackgasse sei.35 Pinskers Ausspruch, daß „gesetzliche Emanzipation nicht soziale Emanzipation" sei, entsprach ihrer eigenen Randsituation, die sie soziale Diskriminierung als eine Form nationaler Unterdrückung empfinden ließ. Daraus resultierte am 23. März 1885 die Gründung der ersten jüdischen nationalen Studentenverbindung in Europa, der Kadimah, an der Universität Wien.36 Die frühe zionistische Gedankenwelt der Selbstemanzipation, welche die Kadimah inspirierte, war eine unverkennbare Herausforderung für die politische Orientierung der etablierten Wiener Juden. So ist weiter nicht erstaunlich, daß die militante Reaktion der Kadimah auf den Antisemitismus, ihr ideologischer Angriff gegen die Assimilation und ihre klare nationalistische Orientierung von der Führung der Kultusgemeinde eindeutig distanziert aufgenommen wurde.37 Und dennoch konnten die führenden Persönlichkeiten der Gemeinde schwerlich negieren, daß der Anstieg eines aggressiven, rassistischen Volksdeutschtums in Österreich nach 1880 ihren liberalen Traum schwer überschattet hatte. Besonders traumatisch war die Erkenntnis, daß die neue Welle des Antisemitismus von deutschen Vorbildern aus Berlin angeregt worden war. Ihre anerkannten Propheten waren Richard Wagner, Wilhelm Marr, Adolf Stöcker, Heinrich von Treitschke und Eugen Dühring. In einer Schrift erinnert sich Theodor Herzl 1899 an den Eindruck, den der Berliner Antisemitismus auf ihn zu einer Zeit machte, als er noch ein liberaler national-deutscher Student an der Wiener Universität gewesen war: „Ich weiß noch, welchen einen Eindruck es auf mich machte, als ich im Jahre 1882 als zweiundzwanzigjähriger Mensch das Buch von Dühring über die Judenfrage [,Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage'] las, ein Buch, das ebenso voll von Haß wie von Geist ist. Ich glaube, ich wußte vorher gar nicht mehr, daß ich ein Jude war. Das Buch Dührings wirkte auf mich, wie wenn ich einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Und so ist es wohl manchem westlichen Juden ergangen, der sein Volkstum schon völlig vergessen hatte: die Antisemiten haben es in ihm wieder aufgeweckt."38

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Schon 1882 hatte der junge Jusstudent Theodor Herzl in seinem Tagebuch den Gedanken vermerkt, daß, wenn ein so ernstzunehmender deutscher Gelehrter wie Dühring auf der Rassentrennung von Juden und Nichtjuden bestand, man nichts Besseres von den ungebildeten Massen erwarten konnte. Es war neu und ungewohnt, daß die deutsche Wissenschaft jetzt einen gemeinen Angriff auf das Prinzip jüdischer Emanzipation zu organisieren schien. Der Schock saß tief, auch wenn er fast fünfzehn Jahre in Herzls Unbewußten unterdrückt werden sollte. Ernsthafte Fragen stellten sich die österreichische Juden auch bezüglich der distanzierten, neutralen Haltung, welche die preußischen Behörden gegenüber der antisemitischen Agitation einnahmen. 59 In einem privaten Gespräch mit Jellinek hatte Leo Pinsker schon 1882 auf die unheilvollen Auswirkungen hingewiesen, welche die fehlende Reaktion der Regierungsbehörden auf den Antisemitismus in der Hauptstadt des Deutschen Reichs hätten. 1886 ging der österreichische Ingenieur und Sozialphilosoph jüdischer Abstammimg, Josef Popper-Lynkeus (1858-1921), noch weiter, indem er Kanzler Bismarck offen der Komplizenschaft bei der Ausbreitung des deutschen Antisemitismus zieh.40 Er wies darauf hin, daß die deutschen Antisemiten Otto von Bismarck „als ihr stummes, aber hilfreichstes Oberhaupt" anerkannten.41 Trotz deren gesetzloser Agitation meinte Popper-Lynkeus: „Bisher verlautete unseres Wissens noch keine einzige authentische Äußerung des deutschen Reichskanzlers, daß er das alles tadle; eine öffentliche gewiß nicht."42 Die ambivalente Reaktion der deutschen Behörden auf den Anstieg des Antisemitismus überzeugte Popper-Lynkeus - zehn Jahre vor der Veröffentlichung von Herzls Judenstaat - , daß nur ein jüdischer Staat den Antisemitismus beseitigen könne. Dessen Hauptursache, schrieb er prophetisch 1886, sei der mangelnde Respekt, den die Nationen für eine Minorität empfanden, die von keiner bestehenden politischen Macht, militärischen Kraft oder staatlichen Institutionen geschützt werde.43 Uberall würden die Juden als wandernde Nomaden, Vagabunden oder sogar „Bastarde" unter den Völkern angesehen, weil sie kein Heimatland hätten. Ein unabhängiger, von der internationalen Gemeinschaft anerkannter Staat sei in der modernen Zeit das sine qua non nationaler Stärke und Legitimität geworden. „Man stelle sich aber vor, es existiere oder entstünde heute irgendwo ein jüdischer Staat. Sofort wäre eine Art völkerrechtlichen Respektes vor dieser,irgendwo' existierenden politischen Macht vorhanden."44 Obwohl die Mehrheit der österreichischen Juden über die Intensität des Antisemitismus in Rußland, Deutschland und Ungarn in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erschüttert war, konnte sie derart radikale Schlußfolgerungen nicht akzeptieren. Der Präsident der Kultusgemeinde, Ignaz Kuranda, äußerte in einer Rede im Jänner 1881 die Ansicht, für die Juden Österreichs sei „zwar im nächsten Augenblicke nichts zu fürchten", dank der „Gutmüthigkeit der Wiener Bevölkerung und

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der angesehenen Stellungen, welche Juden in diesem Staate einnehmen". Auch wenn sich Kuranda über die Zukunft Sorgen machte, hielt er dennoch daran fest, daß der Patriotismus und die gegenseitige Solidarität der österreichischen Juden solch „rohe Ausbrüche, wie sie in Berlin stattfinden", verhindern würden. 45 Josef Ritter von Wertheimer meinte 1882 ähnlich optimistisch, daß dem Wiener Judentum antisemitische Exzesse wie in Berlin erspart bleiben würden. Zustimmend bemerkte er, daß der ungarische Ministerpräsident, Koloman von Tisza (1850-1902), Istöczys antisemitische Bewegung aufs schärfste verurteilt hatte. Er sei zuversichtlich, daß die führenden Kreise im deutschen Osterreich niemals einer derartigen Agitation Vorschub leisten oder diese billigen würden. 46 Den langgedienten nationalen Führer der Tschechen, Rieger, hingegen wies Wertheimer wegen einer antisemitischen Bemerkung in der Budgetdebatte im Reichsrat scharf zurecht.47 Diese Sorge um den eher unbedeutenden tschechischen Antisemitismus in Wien scheint erstaunlich. Narödni listy, die Parteizeitung der Jungtschechen, wurde angegriffen, weil sie nach Wien eingewanderte tschechische Handwerker ermutigt hatte, bei den Wahlen 1884 für den nationalistischen deutschen Kandidaten im Bezirk Mariahilf zu stimmen. 48 Die Neuzeit warnte davor, daß die Juden der tschechischen Nation den Rücken kehren würden, wenn diese sich dem Antisemitismus anschlösse. Gleichzeitig machte sie sich über den „sprachlichen Chauvinismus" der Tschechen lustig. Die Glaubwürdigkeit des tschechischen Nationalismus und dessen „engstirniger", intoleranter Kampf gegen die Eingriffe deutscher Kultur in Böhmen wurden rückhaltlos kritisiert.40 So konnte, Jellineks Meinung nach, die tschechische Haltung gegenüber den Juden einem Vergleich mit derjenigen der Deutschen, Ungarn und Polen in Osterreich nicht standhalten. Er klagte den tschechischen nationalen „Assimilationismus" an, böhmische und mährische Juden angeblich ihres unveräußerlichen Rechts, Deutsche zu sein, zu berauben. 50 Er bediente sich hier der gleichen Sprache, die er in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts verwendet hatte, um die tschechische Nationalbewegung zu diskreditieren. Noch im November 1884 vertrat Die Neuzeit die Ansicht: „In Wien wird der Antisemitismus im Herzen des [deutschen] Bürgertums nie Wurzeln fasssen." 51 Mit einer gewissen Berechtigung wurde behauptet, daß die scharfe alldeutsche Propaganda von Schönerers dem Temperament des einfachen Wieners nicht entspräche. Viel weniger überzeugend war die Annahme, daß „Wien nicht der geeignete Boden für eine judenfeindliche Propaganda abgeben kann". Die Neuzeit glaubte: „Auch in den Kreisen der Bevölkerung gibt sich ein entschiedener Protest gegen den Import norddeutscher und südrussischer Barbarei kund." 52 Die jüdische Presse tröstete sich noch immer mit der Tatsache, daß die offizielle öffentliche Meinung in Wien, mit Ausnahme von Vogelsangs Das Vaterland;53 gegen den Antisemitismus eingestellt war. In den frühen 80er Jahren wurde Wien sogar als ein Hort der Versöhnung, des

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Friedens und der Toleranz dargestellt - der frei von den stürmischen Nationalitätenkonflikten war, welche die Monarchie insgesamt zerrissen. 54 Optimistisch wurde daraufhingewiesen, daß kein allseits bekannter Vertreter im öffentlichen Leben, wie der preußische Historiker Heinrich von Treitschke oder der Hofprediger Adolf Stöcker in Berlin, in Wien versucht hätte, die Judenhetze zu rechtfertigen.55 Für die meisten österreichischen Juden schien der Antisemitismus in diesem frühen Stadium eine spezifisch preußisch-deutsche Erscheinung zu sein. Es sei kein Zufall, merkte Jellinek in der Neuzeit (im Oktober 1882) an, daß die österreichischen Antisemiten Deutschland als ihr wahres Vaterland, Kanzler Bismarck als ihr Idol und Berlin als ihre geistige Hauptstadt sahen. „Sie fühlen sich nicht als Österreicher, sondern als Söhne Germaniens." 56 Von Berlin aus, dem Symbol preußischer Disziplin, strenger protestantischer Moral und militärischen Gehorsams, war die vergiftete Frucht der modernen Judäophobie hinaus in die Welt gegangen. Der lutherische Hofprediger Adolf Stöcker war maßgeblich daran beteiligt gewesen. 57 Mit Unterstützung der höchsten gesellschaftlichen Kreise hatte sich der neue rassische Antisemitismus von der preußischen Hauptstadt ausgebreitet und zu der Barbarei gefuhrt, die in Rußland und Ungarn ihren Höhepunkt erreicht hatte.58 Nach Jellinek sei jedoch der Antisemitismus vielmehr eine „spezifisch-germanische Nationalkrankheit, zu welcher die Teutonen immer disponirt sind, und welche stets ausbricht, so oft die Umstände sie begünstigen". 59 Im Gegensatz zu den primitiveren Varianten in Rußland und Ungarn, wurde der deutsche Antisemitismus wegen seiner „Wissenschaftlichkeit" als besonders bösartig angesehen. Leider, so merkte Jellinek an, seien sogar „unter den gebildeten und hochbegabten Männern die Lessinge Ausnahmen und die Richard Wagner die Regel" gewesen. 60 Trotz all seiner Verbitterung über die Berliner Bewegung gab Jellinek jedoch seinen Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur nicht auf. Im April 1881 schien ihn die Tatsache zu beruhigen, daß nur 255.000 Deutsche die antisemitische Petition an Kanzler Bismarck unterzeichnet hatten, die eine Widerrufimg der jüdischen Gleichstellung forderte! 61 Adolf Stöckers Niederlage bei den Reichstagswahlen von 1884 in Berlin zugunsten des berühmten liberalen Arztes Rudolf Virchow schien die deutsche Ehre in seinen Augen zu retten. 62 Ganz richtig bemerkte Jellinek, daß die Stimmen aus der Arbeiterklasse den Antisemitismus in Berlin besiegt hatten, während die Vertreter der guten Gesellschaft in aller Stille deren unheilvoller Verbreitung Vorschub geleistet hatten. In den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten sich die nicht wahlberechtigten Arbeiter nicht weniger spontan gegen Schönerers Rassismus gestellt. Zustimmend berichtete Die Neuzeit im April 1882 über die Resolutionen und Reden gegen den Antisemitismus, die anläßlich eines Volksauflaufs, an dem 600 Arbeiter teilnahmen, in Wien gemacht wurden. Die Reden zeigten, daß sich die österreichischen Arbeiter weigerten, sich als „Fußvolk des

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Antisemitismus" mißbrauchen zu lassen; daß sie nationale und konfessionelle Diskriminierung verabscheuten; daß sie bürgerliche Gleichheit unterstützten und die antisemitische Bewegung als „Skandal im Jahrhundert der Aufklärung" betrachteten. 65 Trotz der feindseligen Haltung des jüdischen Establishments gegenüber den sozialistischen Grundsätzen war es diesem unerwarteten Verbündeten nicht undankbar. Auch der österreichische jüdische Journalist Isidor Singer (1859-1939) schrieb zustimmende Kommentare über den Widerstand, den die Wiener Arbeiter gegen die Appelle alldeutscher Demagogen wie Georg von Schönerer und Robert Pattai leisteten. In einer 1882 veröffentlichten Flugschrift beschrieb Singer den Antisemitismus als einen deutschen Import aus Berlin, der keine Erfolgsaussichten im „toleranten", kosmopolitischen Wien hätte. Singer war überzeugt, daß er in der österreichischen Hauptstadt keine Wurzeln schlagen könne, denn „kein echter Wiener, kein echter Österreicher gab seine Hand dazu her, um die schmachvolle Bewegung zu schüren". 64 Diese Zuversicht stand in direktem Zusammenhang mit der „glänzenden Rolle ... die die Wiener Arbeiter in der bei uns in den jüngsten Tagen aufgetauchten Frage des Antisemitismus gespielt hatten. Die Arbeiter haben sich hierdurch Ansehen und Achtung bei der ganzen civilisirten Welt erworben, sie haben von nun an auch vollen Anspruch auf den wärmsten Dank der Juden." 65 Eine weitere Flugschrift, die 1885 von dem freien jüdischen Publizisten Dr. Friedrich Elbogen veröffentlicht wurde, pries ebenfalls die Opposition der österreichischen Arbeiterklasse gegenüber der antisemitischen Aufstachelung. Mit uneingeschränkter Bewunderung sprach sich die Flugschrift fur den Sozialismus aus: „Tausende und Hunderttausende meiner jüdischen Stammesgenossen jubeln in heller Begeisterungsfreude einer Bewegung zu, die berufen ist, die höchsten Aufgaben der Civilisation zu verwirklichen. Was haben die mit Rothschild zu schaffen?", schrieb Elbogen.66 Der österreichische Sozialismus konnte jedoch das Problem der jüdischen Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus nicht lösen. Die österreichischen Sozialdemokraten, wie Victor Adler es ausdrückte, „wollen weder,jüdische' noch ,christliche' Ausbeutung und werden sich weder für, noch gegen die Juden als Sturmböcke gebrauchen lassen".67 Mitte der 80er Jahre schien das Vertrauen in den „milden, sanften, versöhnenden und ausgleichenden" Charakter der Wiener Bevölkerung, die „ein Feind aller Extreme ist", ebenfalls keine sehr überzeugende Haltung mehr zu sein. Frühere Leitartikel in der jüdischen Presse, welche die Toleranz und Mäßigung des Wiener Bürgertums in Gegensatz zu dem preußisch-deutschen Fanatismus setzten, wirkten nun etwas überholt.68 Uberzeugender wirkte da schon die Behauptung von Jellinek, daß der Antisemitismus im Habsburgerreich „durch und durch antiösterreichisch" sei, weil er die Lebensfähigkeit eines auf dem Einvernehmen zwischen den Nationalitäten beruhen-

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den politischen Systems in Frage stellte.69 Als Beweis dieser Hypothese konnten Sprecher der jüdischen Gemeinde auf die alldeutschen Bemühungen hinweisen, die Habsburgermonarchie zu zerschlagen; auf Istöczys Kampagne, Ungarn von Österreich abzutrennen; und auf die sezessionistischen Bestrebungen in der jungtschechischen Bewegung, die den Antisemitismus „als Schreckbild" gebrauchen, „um die Juden zu zwingen, daß sie sich den Czechen anschließen und den czechischen Bestrebungen sich voll und ganz hingeben".70 Vor allem Jellinek war der Ansicht, daß solche Argumente, die an den dynastischen Patriotismus appellierten, die beste Strategie seien, um die nichtjüdische Bevölkerung zu erreichen. Der Neuzeit war jedoch klar, daß die Versuche, die Flut der antisemitischen Verleumdungen zu bekämpfen, noch immer über keine systematische Organisation, Planung oder Ernsthaftigkeit verfügten. „Die Flugschriften, welche von jüdischer Seite dagegen erschienen, sind in einer verschwindend geringen Anzahl im Vergleiche zu den Broschüren, Zeitungen und Reden, welche der Antisemitismus überall verbreitet hat. Dolcefar niente, nichtstun, nicht organisieren, nicht abwehren, nicht belehren, Alles dem Laufe der Zeit, der Polizei und dem Militär überlassen, das ist die Summe aller Weisheit unter einer großen Anzahl von Juden", bemerkte Jellinek, „besonders unter denen, welche vermöge ihrer socialen Stellung den Giftpfeilen des Antisemitismus weniger ausgesetzt sind." 71 Die Passivität und das Schweigen der wohlhabenden jüdischen Elite behinderte in hohem Maße tatkräftiges Handeln. Während deutsche, österreichische und ungarische Antisemiten sich auf die Organisation eines Internationalen Kongresses in Dresden (März 1885) vorbereiteten, hatten die Juden in Mitteleuropa noch nichts zu ihrem Schutz und ihrer Verteidigung beschlossen. 72 Ihre Feinde verfolgten ihre schmachvollen Ziele mit Fanatismus, Energie und Entschlußkraft. Leider wurde dies nicht durch eine ähnliche Motivation oder Entschlossenheit wettgemacht, die nötig gewesen wäre, wenn die Juden Mittel- und Osteuropas der antisemitischen Herausforderung erfolgreich begegnen wollten. Die Ereignisse in Ungarn wurden von der jüdischen Presse mit besonderem Interesse und großer Besorgnis verfolgt. Für Adolf Jellinek und seine Umgebung war das magyarische Königreich in den frühen 80er Jahren besonders anfallig für den Einfluß antisemitischer Agitation. Wie in Galizien „entfaltet die Orthodoxie eine sonst nirgends wahrnehmbare Thätigkeit und in Folge der dadurch retardirten Assimilation an die andersgläubigen Einwohner sind auch die Ausschreitungen des Antisemitismus nirgends zahlreicher und intensiver als zu beiden Seiten der Karpathen."73 Der Ritualmordprozeß von Tisza-Eszlar schien, ganz abgesehen von seinem Sensationscharakter, ein Beweis für diese Befürchtungen zu sein. Der Prozeß lieferte den Vorwand für eine alarmierende Ausbreitung antisemitischer Gewalt in Transleithanien.74 Jellinek hielt jedoch an seiner Uberzeugung fest, daß die von Istöczy

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und Simonyi angeführten fanatischen Banden ungarischer Antisemiten vor allem durch den Einfluß der aus Deutschland importierten Rassenlehren verfuhrt worden waren.75 Allgemein war man der Meinimg, daß der Antisemitismus in Ungarn 1883 einen bedrohlicheren Charakter angenommen hatte als in anderen Teilen der Habsburgermonarchie.76 Andererseits wurde er nirgendwo in Europa so rasch durch das Einschreiten von Regierungstruppen unterbunden. Die Anarchie, Rechtlosigkeit und Illoyalität des Antisemitismus wurde von den politisch Verantwortlichen entschieden abgelehnt.77 Daß der ungarische Ministerpräsident so entschlossen die Gendarmerie, das Heer und die Polizei einsetzte, um die antisemitische Agitation im Keim zu ersticken, wurde von den jüdischen Führungspersönlichkeiten in Osterreich hoch gelobt, da sie darin ein Lösungsmodell für ihre eigenen Probleme in Zisleithanien sahen. Reden und Deklarationen würden gegen eine Bewegung nicht ausreichen, die (wie Jellinek immer wieder anmerkte) gegen Vernunft und Argumentation immun war.78 In der österreichischen Reichshälfte schien die antisemitische Agitation keine unmittelbare, ernsthafte Bedrohung darzustellen. Die Neuzeit behauptete im September 1883, daß der österreichische Ministerpräsident Graf Taaffe „das demagogische und revolutionäre Treiben der Antisemiten verabscheut und den ihm untergebenen Behörden die strengte Weisving gegeben hat, keine antisemitische Volksversammlungen und Demonstrationen zu dulden".79 Sie merkte jedoch ebenfalls an, daß August Rohling trotz seiner empörenden Entstellungen und Verleumdungen gegen den Talmud weiter seine Stelle als Professor an der Prager Universität innehätte. Im Vergleich zu Preußen schnitt Osterreich aufgrund der Vernunft seiner Bürger und der Antipathie seiner Regierung gegen interkonfessionellen Haß immer noch gut ab.80 Ebenso wurde die österreichische „Toleranz" mit der Lage in Ungarn verglichen, wo die bösartige Agitation von Istoczy, Önody, Simonyi und Verhovay sogar die Berliner Bewegung entschieden gemäßigt erschienen ließ. Die Theorie, daß Osterreich gegen die heimtückische Verbreitung des deutschen Antisemitismus gefeit bleiben würde, konnte jedoch nur sehr schwer aufrechterhalten werden. Schon im Juli 1883 hatte Jellinek den wachsenden Einfluß des wirtschaftlichen Antisemitismus in der „sozialistischen" Propaganda von Dr. Karl Lueger gefühlt, die sich gegen das „jüdische Großkapital" richtete.81 Die Bedingungen für die Ausbreitung antikapitalistischer Judäophobie unter den Wiener Handwerkern wurden immer günstiger, wie Carl Löwy in Die Neuzeit (im Juni 1884) schrieb. Die Kandidatur des alldeutschen Rechtsanwalts Dr. Robert Pattai im 6. Wiener Gemeindebezirk (Mariahilf) im Jahr 1884 schien ein Beweis zu sein, daß „es in vielen Kreisen heute zum bon ton gehörig [ist], sich offen als Gegner des Grundgesetzes zu declariren".82 Anfängliche Hoffnungen, daß die Wiener Wahler bei der Reichsrats-

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wähl 1885 das „konfuse" Programm der Antisemiten und deren primitive Botschaft zurückweisen würden, erwiesen sich als voreilig. 83 Aufrufe alttschechischer Anfuhrer an die eingewanderten tschechischen Handwerker, Ernst Schneider in der Leopoldstadt nicht zu unterstützen, oder ähnliche Erklärungen deutsch-liberaler Politiker gaben Anlaß zu übertriebenem Optimismus, der bald zerschlagen werden sollte. Der unerwartete Wahlsieg von Dr. Robert Pattai im Bezirk Mariahilf mit 5.554 Stimmen und Schneiders knappe Niederlage in der Leopoldstadt (wo die jüdischen Bewohner massiv für seinen liberalen Gegner Professor Eduard Suess stimmten) im Jahr 1885 wurden von der jüdischen Presse als „ein Sieg der Barbarei über die Cultur, der blinden Leidenschaft über die überlegene Vernunft" beklagt. 84 Der versuchte Ausschluß der Juden aus dem Deutschen Schulverein und die Entscheidung Otto Steinwenders (des Vorsitzenden des deutschen Klubs im Reichsrat) für den gemäßigten Antisemitismus waren weitere Enttäuschungen. 85 Dennoch versuchte Die Neuzeit weiter den Ton eines eingeschränkten Optimismus beizubehalten. Sie behauptete, daß Schönerer, Pattai, Türk und andere alldeutsche Abgeordnete „in Oesterreich total überflüßig" wären; „da seine heilige Mission, das Deutschtum in Oesterreich zu retten, auf andere übergegangen ist, die nicht nach Berlin gravitiren, und nicht vor dem Götzen Bismarck in den Staub sinken". 86 In Jellineks Beurteilung Ende November 1885 nahm der Antisemitismus eindeutig als „organisierte Armee" oder sogar als wichtiger politischer Faktor an Bedeutung ab. 87 Das sogenannte „reine, unverfälschte Deutschtum" des Georg Ritter von Schönerer hatte lediglich die deutschnationale Sache in rivalisierende Lager gespalten. Nicht nur das österreichische Judentum, sondern auch die Alldeutschen hatten sich als „fremdes", zersetzendes Element in der österreichischen Monarchie erwiesen. 88 Schönerer hatte ständig seine Verachtung für das österreichische Vaterland und dessen habsburgisches Herrscherhaus gezeigt und damit in einer ganzen Generation deutsch-österreichischer Studenten die Saat der Untreue gesät. Er hatte sich jedoch genau zu jener Zeit einem „gewaltthätigen, blutrünstigen Judenhaß" zugewandt als dem „Motor, der ihn auf der Bahn der Popularität vorwärts bringen sollte", als die Welle des Rassismus in Deutschland und Ungarn abebbte.89 Jellinek bekräftigte, daß sich die österreichischen Juden prinzipiell gegen jede Form nationalen Chauvinismus wandten, der darauf abzielte, andere Nationalitäten herabzusetzen oder in Verruf zu bringen. Der lächerliche nationalistische Streit in Österreich-Ungarn über die Sprache, in der Speisekarten, Preislisten, Verkehrsschilder oder Bahnkarten abgedruckt werden sollten, war den Juden völlig fremd. Sie hatten keinerlei Interesse an den endemischen nationalistischen Kämpfen um Vorherrschaft und Privilegien im habsburgischen Staat. Wie Die Neuzeit immer wieder erklärte, waren die Juden Österreicher, „fühlen und denken österreichisch, wollen ein großes starkes und mächtiges Österreich,

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einen Gesammtstaat mit einem Herzen".90 In Jellineks eigenen Worten träumten die Juden einen kaiserlich-österreichischen Traum von einem „mächtigen Osterreich", das weder deutsch noch polnisch oder tschechisch war, sondern der starken Herrschaft eines Staatsoberhauptes unterstand, das „mit gleicher Gerechtigkeit regiert und alle seine Unterthanen mit gleicher väterlicher Liebe umfaßt". „Denn mehr denn alle übrigen österreichischen Staatsbürger sind die Juden in Österreich kaiserlich gesinnt", schrieb er 1890, „sie wissen und gedenken es in unbegrenzter Dankbarkeit, was der Kaiser von Osterreich ihnen gewährt hat." Nichts könnte diesem dynastischen Patriotismus ferner liegen als der alldeutsche Antisemitismus, dessen Rassengrundsätze den Bestand des habsburgischen Staates unterminierten. „Der Antisemit in Osterreich und spedell in Wien ist kein österreichischer Patriot und nicht dynastisch gesinnt", schrieb Jellinek im Mai 1888, „sondern ein Sohn der deutschen Race, die als solche ihren Schwer- und Mittelpunkt in Deutschland hat. Alle diese Erwägungen blieben den Männern, die berufen sind, die Ordnung im Staate aufrecht zu erhalten und über das Wohl desselben zu wachen, femd."91 Die österreichischen Behörden hatten erst spät erkannt, welch ernsthafte Bedrohung dies für die Staatsinteressen darstellte und Schönerer 1888 zu einer kurzen Gefängnisstrafe und zum Verlust seiner parlamentarischen Privilegien verurteilt. Die offizielle Haltung gegenüber dem Antisemitismus ließ jedoch noch viel zu wünschen übrig. Im Mai 1889 hatte Graf Taaffe versprochen, daß dort, wo Recht und Ordnung eindeutig verletzt würden (wie beim Straßenbahnerstreik), die österreichische Regierung entschiedene Maßnahmen zum Schutz des Eigentums ergreifen werde. Der Ministerpräsident schlug jedoch keine spezifischen Maßnahmen gegen antisemitische Störungen vor, obwohl dies nicht nur von der Kultusgemeinde, sondern auch von einer hochrangigen Delegation des Wiener Vereins für Stadt-Interessen und Fremdenverkehr gefordert worden war.92 Unter Führung seines Präsidenten, des Parlamentsabgeordneten Freiherrn von Pirquet, hatte die nichtjüdische Delegation auf den durch die Tätigkeit verschiedener antisemitischer Gruppen dem internationalen Ruf Wiens und seinen wirtschaftlichen Interessen erwachsenden Schaden hingewiesen. Die kühle Reaktion seitens der Regierung und die Erfolge des neuen klerikal-antisemitischen Bündnisses bei den Wahlen von 1889 waren für die jüdische Gemeinde kaum eine Beruhigung. Die Vereinigten Christen versprachen unter Luegers charismatischer Führung eine außerordentliche Bedrohimg sowohl für jüdische als auch für liberale Interessen zu werden. In den späten 80er Jahren spiegelte das von ihnen geschaffene Meinungsklima „den verlumpten und verrohten Antisemitismus" wider, „der in Wien und dessen Umgebung herrscht, Stadt und Land beschmutzt, die Schönheit der Kaiserstadt und die Lieblichkeit ihrer Umgebung befleckt".93 Der Nationalitätenkampf war gleichermaßen von den tschechischen Nationalisten vergiftet worden, die die

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Deutschen imitierten und offen nach der „Oberherrschaft der Slaven" in Österreich strebten. Nach Jellineks Meinung ließ sie der national-tschechische Egoismus alles ihren rassischen Interessen unterordnen.94 Das Wiederaufflammen des Klerikalismus und dessen Bündnis mit den Antisemiten zugunsten konfessioneller Schulen waren beunruhigende Symptome für den Rückzug des Liberalismus.95 Von den liberalen Wiener Juden wurde Antisemitismus in jedem Fall als Teil eines allgemeinen AngrifFs auf den modernen konstitutionellen Staat und dessen heiligste Grundsätze Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissensfreiheit und religiöse Toleranz - angesehen.96 Er hatte schon das Wiener Schulwesen unterwandert, wo häufig angenommen wurde, daß die Lehrer zu den stärksten Befürwortern der antisemitischen Bewegung gehörten.97 In Wien, Graz und anderen Bollwerken der deutschnationalen Bewegung gab es keinen „unverfälschten" Kern nationaler Identifikation ohne antisemitische Leidenschaften. „Der echte Deutschnationale wird in der Schule der Zoologie herangebildet und kennt nur zoologische Unterschiede in der Menschenwelt."98 Dessen zunehmende Bösartigkeit veranlaßte den erfahrenen Liberalen Adolf Fischhof, ihn in einem Brief vom 28. Februar 1891 an Gemeinderat Dr. Alfred Stern (eine der führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde) als Angriff auf die Aufklärung, die Vernunft und den österreichischen Patriotismus zu bezeichnen.99 Was würde aus einem Land, fragte Fischhof, in dem solche Lehrmeinungen täglich in den Schulen und Kirchen gepredigt werden? Was würde aus Wien, wenn die wichtigsten politischen Foren - das Parlament, der Niederösterreichische Landtag und der Gemeinderat - unablässig von dem geistlosen Gerede antisemitischer Vertreter besudelt würden?100 Keine andere Stadt in Europa war Zeuge derartig schmachvoller Szenen in ihren gesetzgebenden Organen, eines derart rohen Tons und ungehemmter verbaler Gewalt. Und dennoch ließen die scheinbar machtlosen Behörden diesen Skandal ungehindert geschehen. Ein Leitartikel in der Neuzeit vom. 28. August 1891 verurteilte unmißverständlich das zaghafte Vorgehen und Schweigen von Ministern und Regierungsbeamten in Osterreich. Im Gegensatz zu einer solchen Lethargie wurde die entschlossene Unterdrückung des ungarischen Staates hervorgehoben, die einige Jahre zuvor gegen ähnliche Angriffe auf seine Autorität unternommen wurde. Die magyarische Politik war rasch gegen diese Plage vorgegangen, gerade weil sie die bedeutende wirtschaftliche Rolle der Juden in der ungarischen Gesellschaft erkannte. Und was noch viel wichtiger war, sie erfaßte sofort den schädigenden Einfluß des Antisemitismus auf die multinationale Struktur des ungarischen Staates. Die führenden Politiker Österreichs hatten noch keine vergleichbare Voraussicht und Entschlossenheit walten lassen, als sie mit dem eindeutig subversiven Charakter des Pangermanismus konfrontiert wurden.101 Mit voller Absicht unterminierten die Antisemiten die Achtung vor

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der Autorität, dem Gesetz, der Ordnung und dem Eigentum. Sie stellten die Grundfesten zivilisierter Werte und der Moral in Frage.102 „Wie kann eine Regierung ruhig zuschauen", fragte Die Neuzeit im Mai 1893, „daß die sittliche Verwilderung immer mehr um sich greift?"103 Kein einziger Minister der Regierung Österreichs hatte sich energisch gegen die Monstrosität des Antisemitismus ausgesprochen, ganz im Gegensatz zu dem klaren Standpunkt, den die führenden magyarischen Politiker oder kürzlich der neue deutsche Kanzler, Graf Caprivi, vertreten hatten.104 Dieses offizielle österreichische Schweigen warf ein seltsames Licht auf den antisemitischen Verfolgungswahn gegen jüdischen Reichtum und Macht. Auch wenn die Antisemiten die „soziale Frage" demagogisch ausnützten, um ständig zu behaupten, daß die meisten Juden reich wären, war dies weit gefehlt. Die Mehrheit der österreichischen Juden, die in Galizien lebte, bewegte sich in einem Teufelskreis von Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung. Anderswo wurden die Juden noch immer vom Beamtentum, dem Lehrerberuf und von staatlichen Industrien ausgeschlossen.105 Trotz formaler Gleichheit vor dem Gesetz wurden, wie Jellinek hinwies, nicht getaufte Juden weiter im Behördenalltag diskriminiert. Außerdem wurden ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten durch eine reaktionäre Zunftgesetzgebung eingeschränkt, die den Forderungen der Handwerker entgegenkam.106 Diese Situation hatte sich trotz der Demission des Ministeriums Taaffe nicht verbessert, auch wenn dem Kabinett Windischgrätz zwei liberale Minister angehörten. In den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts nahm der Antisemitismus auch an der Wiener Universität alarmierende Ausmaße an, wo liberale christliche Professoren, wie Hermann Nothnagel, (die für ihre Ablehnung der Judenhetze bekannt waren) verbalen Diffamierungen durch deutschnationale Studenten ausgesetzt waren.107 Alldeutsche Lehrer an den österreichischen Universitäten und Oberschulen verleumdeten die Juden öffentlich als „asiatische Eindringlinge".108 Wiener katholische Priester, wie Pfarrer Josef Deckert, zogen gegen die „semitischen Ausbeuter" zu Felde und ergingen sich sogar in Ritualmordbeschuldigungen, ohne von ihrer Kirchenführung zurechtgewiesen zu werden.109 Die parlamentarische Immunität ermöglichte es Volksaufwieglern wie Ernst Schneider, öffentlich die Enteignung und Ausweisung der Juden „auf gesetzlichem Wege" zu fordern, ohne gerichtliche Verfolgung fürchten zu müssen.110 Ernst Schneiders Parteigänger versuchten unter der Führung von Lueger, Liechtenstein und Gessmann ihrerseits, die wenigen Politiker, die es wagten, ihre gemeinen Anschuldigungen in Frage zu stellen, als „Judenknechte" zu diskreditieren.111 Die Christlichsoziale Partei konnte sich unter dem wohlwollenden Schutz klerikal-konservativer Kreise, die mit der Zeitung Das Vaterland in Verbindimg standen, sogar heimlich am „Rassenantisemitismus" beteiligen. Der katholische Klerus blieb

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aber offiziell dabei, daß das Christentum und der antisemitische Rassismus miteinander unvereinbar wären. 112 Ihr Argument schien insofern plausibel, als das Christentum selbst auf dem Alten Testament beruhte. Jesus Christus und die Apostel entstammten ja schließlich dem Judentum. Außerdem hatten rassische Antisemiten aus ihrer feindseligen Haltung sowohl dem Alten als auch dem Neuen Testament gegenüber kein Hehl gemacht. Andererseits wurden die gefahrlichsten österreichischen Gegner des Judentums, wie Prinz Liechtenstein, Dr. Karl Lueger, Ernst Schneider, Pfarrer Deckert oder Josef Schneider, uneingeschränkt von der katholischen Kirche unterstützt. Auch der einflußreiche Staatssekretär des Vatikans, Kardinal Rampolla, war ihnen wohl gesonnen. Die Neuzeit blieb daher äußerst skeptisch gegenüber jeder päpstlichen Verurteilung der österreichischen Antisemiten, obwohl dies von einigen führenden Bischöfen der Monarchie gefordert worden war. 113 Bei den Wiener Gemeinderatswahlen Ende März und Anfang April 1895 für die zweite und dritte Kurie verbuchten die Antisemiten einen weiteren Erfolg, während die jüdischen Hoffnungen einen weiteren Rückschlag erlitten. Lueger hatte schon die dritte Kurie beherrscht, nun fügte er ein weiteres Mandat hinzu, diesmal im Bezirk Leopoldstadt, wo die jüdischen Handwerker einen liberalen Kandidaten boykottiert hatten, weil sie über die Gleichgültigkeit seiner Partei gegenüber der Judenfrage erbost waren. Dies hatte einige verärgerte Bemerkungen des liberalen Politikers Dr. Richter zur Folge. In einer Rede vor der Österreichisch-Israelitischen Union am 50. März 1895 wies er darauf hin, daß eine derartige Wahlabstinenz den politischen Selbstmord für die Wiener Juden bedeuten würde. 114 Ein antisemitischer Sieg in den kommenden Parlamentswahlen könnte die Grundlagen der wirtschaftlichen Existenz der Juden erschüttern. Eine viel größere Gefahr war jedoch Luegers Sieg in der zweiten Kurie am 1. April 1895 (24 Sitze gegenüber 22 der Liberalen) - eine auffallende Verschiebung zugunsten der katholischen Antisemiten seit 1894. Dieser Triumph in der Kurie der Lehrer, Beamten und Freiberufler bedeutete, daß die Liberalen ihre knappe Gesamtmehrheit von 72 Sitzen gegenüber einer soliden Phalanx von 66 Antisemiten nur durch ihre Beherrschung der (kapitalistischen) ersten Kurie behaupten konnten. Wien war schon unregierbar. Neuwahlen waren unvermeidbar, aber es war, wie die jüdische Presse erkannte, wenig wahrscheinlich, daß sie den christlichsozialen Aufstieg bremsen würden. 115 Im September 1895 kontrollierten Luegers Kohorten den Gemeinderat der österreichischen Hauptstadt mit einer Zweidrittelmehrheit (92 Antisemiten gegenüber 46 Liberalen), nachdem sie in Wien 45.776 Stimmen gegenüber 22.868 für die Liberalen erhalten hatten.116 Adolf Jellinek sollte weder diesen Erdrutschsieg der Antisemiten noch die darauf folgende Niedergeschlagenheit mehr erleben. 117 Er wurde auch nicht mehr Zeuge des Schweigens der meisten deutsch-österreichischen Liberalen angesichts der christlichsozialen Flut, obwohl die Liberalen in Wien zuvor stark von den Juden un-

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terstützt worden waren. Seine Nachfolger mußten mit dem deyäcfo-Zusammenbrach der deutschen liberalen Tradition in der österreichischen Poütik fertig werden. Sie mußten ab Mitte der 90er Jahre dem scheinbar dauerhaften Verlust Wiens an die Antisemiten ins Auge sehen.118 Als Kaiser Franz Joseph am 8. April 1897 widerwillig Karl Lueger als Bürgermeister von Wien bestätigte, waren sie mit einer neuen Realität konfrontiert, in der die Christlichsozialen die Stadt regierten und die Sozialdemokraten sich langsam als die führende Oppositionspartei herauskristallisierten. Durch die Umstände waren die Juden gezwungen, ihre politische Ausrichtung zu überdenken. Das Ergebnis war eine kritischere Haltung gegenüber der liberalen Partei, eine aktivere Selbstverteidigungspolitik und eine deutlichere Behauptung jüdischer Interessen. Schon vor den verheerenden Wahlniederlagen von 1895 wurde die künftige Entwicklung von „assimilationistischen" jüdischen Politikern wie Sigmund Mayer, Siegfried Fleischer und Heinrich Friedjung in Gesprächen in der Österreichisch-Israelitischen Union vorausgesehen.119 Nach April 1895 wurde die Kritik an der österreichischen Regierung und der Vereinigten Linken in der jüdischen Presse immer lauter.120 Es wurde nun argumentiert, daß nachdem „die liberale Partei den Antisemitismus mit unbegreiflicher, verwerflicher Indulgenz großwachsen ließ, er Wien, das Herz des Reiches, vergiftet [hat]. Und die liberale Presse! Diese hat ihr philosemtisches Herz auch dann erst entdeckt, als sie, verdrängt durch die antsemitischen Organe, an Abonnentenschwund zu leiden begann. Thatsache ist, daß die Juden in der liberalen Partei eben keinen Einfluß besitzen und aus falscher, unrichtig angewendeter Noblesse es gar nicht wagten, irgend welchen Einfluß anzuwenden." 121 Sie hätten sich nicht ernsthaft bemüht, jüdische Rechte zu schützen, oder es nicht einmal den Juden gestattet, einen politischen Einfluß auszuüben, welcher der Wahlunterstützung angemessen gewesen wäre, die diese der Partei zukommen ließen. Die Fehler, Schwächen und immer wiederkehrenden Spaltungen in den Reihen der „Vereinigten Linken" wurden nun zum Ziel häufiger kritischer jüdischer Kommentare.122 Es wurde zwischen aufgeklärten liberalen „Prinzipien", denen die Juden treu blieben, und der deutschliberalen Partei unterschieden, die sie nicht mehr ausreichend vertrat. Bei einer Generalversammlung der Union am 25. April 1896 schlug der Sekretär Josef Fuchs offen vor, daß die „Passivität" der Liberalen gegenüber der Verteidigung jüdischer Rechte eine Revision der traditionellen Allianz erforderte. Die Juden sollten sich der Gründung einer neuen sozialliberalen Partei zuwenden, die wirklich den „progressiven" Idealen verpflichtet wäre.125 In einer Rede an die Union am 23. Mai 1896 analysierte Sigmund Mayer die Bedeutung des antisemitischen Sieges in Wien und dessen schädliche Folgen für die österreichischen Juden. Er forderte eine Rückkehr zu den Traditionen von 1848 und zum liberal-demokratischen Programm von Adolf Fischhof. Mayer merkte an,

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„heute ist der Gedanke der Führung Österreichs durch die deutschliberale Partei illusorisch geworden". 1 2 4 Die Traditionen des deutschen Zentralismus, welche die österreichischen Juden lange aus kulturellen und politischen Gründen unterstützt hatten, besaßen nun keine Gültigkeit mehr. Sie widersprachen sowohl der multinationalen Struktur des habsburgischen Staates als auch dem Erwachen der nicht-deutschen Nationalitäten. Da es keine andere bürgerliche Partei gäbe, welche die Juden passenderweise unterstützen könnte, empfahl Mayer den Grundsatz der politischen Abstinenz. Die österreichischen Juden sollten nur für jene liberalen Kandidaten stimmen, „die liberal sind, die auch deutsch sind, aber nicht liberal weil - sondern trotzdem sie deutsch sind" und die das allgemeine Wahlrecht als gerechte Lösung der Nationalitätenkonflikte im Reich ünterstützten. Er führte an, daß Adolf Fischhof mit seiner Einschätzung recht behalten hatte, daß es eine Verbindung zwischen der Zuspitzung des Nationalitätenkonflikts und dem Anstieg des österreichischen Antisemitismus gäbe. Fischhof hatte gefordert: „Freiheit und Gleichheit allem voran. Jede Nationalität muß ihr Recht und ihre Entwicklung innerhalb des weiten Rahmens der Freiheit und Gleichheit suchen und finden."125 Mayers Vorschlag war die Rückkehr zu dem Programm Fischhofs. „Als dieser edle Mann dasselbe aufgestellt, waren wir Juden seine Hauptgegner. Das war ein schwerer Irrthum, den noch unsere Enkelkinder büßen werden ... und ein Fehler wird nicht besser, wenn man ihn fortsetzt." Die Juden zahlten jetzt einen hohen Preis dafür, daß sie in der Vergangenheit den Idolen des deutschnationalen Chauvinismus gedient hätten. Wenn das österreichische Judentum die Bemühungen des konservativen Grafen Taaffe zur Lösung des Nationalitätenkonflikts in den frühen 80er Jahren unterstützt hätte, dann wäre dem Antisemitismus in Osterreich niemals eine derartige Resonanz beschieden gewesen. Ein weiterer Sprecher, Dr. Schnabl, wiederholte Blochs Kritik an den Deutschliberalen. Er vertrat die Meinung, daß es unter den gegenwärtigen Umständen keine Partei gäbe, der sie sich anschließen könnten. Andere Sprecher warfen jedoch ein, daß es keine alternative politische Heimat für die Wiener Juden gäbe. Es wäre daher unklug, die Bande mit den Liberalen zu lösen. Die Antwort auf den Antisemitismus wäre es nicht, deutsche progressive Ideale aufzugeben, sondern die liberale Partei zu reformieren, auf mehr jüdischen Kandidaten zu bestehen und wirksam Wähler in Wahlkreisen zu mobilisieren, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil aufwiesen. Diese Haltung fand auch in der Neuzeit ihren Widerhall, die darauf hinzuweisen begann, daß sich die Juden organisieren, resoluter um ihre Rechte kämpfen und den Druck auf die „Vereinigte Linke" verstärken müßten, um der antisemitischen Diskriminierung zu begegnen. 126 Die geteilte Meinung der Wiener Juden in der Union zur politischen Taktik konnte jedoch nicht über die wenigen zur Verfügung stehenden Optionen hinwegtäuschen. Die Bildung einer eigenen jüdischen Partei wurde allgemein als imprak-

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tikabel angesehen. Sogar in jenen Bezirken Wiens, wo eine signifikante jüdische Konzentration vorlag, wie in der Inneren Stadt oder der Leopoldstadt, schien keinerlei Chance zu bestehen, daß die christlichsozialen Antisemiten bei den Wahlen geschlagen werden könnten. 127 Auch wenn die Demokratische Partei von Dr. Ferdinand Kronawetter liberale Juden wegen des klaren, mutigen Widerstands gegen den Antisemitismus ansprach, war diese viel zu klein, um ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu Lueger bilden zu können. Da sie auf Wien beschränkt war, konnte sie auch kaum eine Lösung für die Schwierigkeiten des österreichischen Judentums insgesamt anbieten. 128 Die Sozialdemokraten repräsentierten wohl eine wichtige Strömung innerhalb der österreichischen Politik, ihre Forderung nach Sozialisierung der Produktionsmittel sprach aber wohl die wenigsten bürgerlichen Juden vor 1914 an.129 Als marxistische Klassenpartei des industriellen Proletariats, die unnachgiebig gegen den freien Wettbewerb kämpfte, sahen die Sozialdemokraten die Rolle der Juden in der österreichischen Wirtschaft, im Finanzwesen und dem produzierenden Gewerbe eindeutig negativ. Dies war für die Führungspersönlichkeiten der Wiener jüdischen Gemeinde nicht sehr verlockend. 130 Die scharfe Gegnerschaft zum Austroliberalismus in der sozialdemokratischen Presse erinnerte unangenehm an gewisse Merkmale christlichsozialer Rhetorik. Obwohl der Antisemitismus kein zentrales Thema in der sozialistischen Kritik am kapitalistischen System war, war deren feindselige Haltung gegenüber der Mittelschicht in Wien nicht ohne antijüdischen Beigeschmack.131 Die jüdischen Intellektuellen in der österreichischen sozialistischen Führungsriege, die von der messianischen Vision einer auf wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Harmonie zwischen den Rassen basierenden klassenlosen Gesellschaft beseelt waren, verringerten diese Tendenz nicht wesentlich. Diese jüdischen Marxisten waren ausnahmslos dem Judentum entfremdet, kämpften gegen eine organisierte Religion und standen den spezifischen Interessen der jüdischen Gemeinde gleichgültig gegenüber. Manchmal griffen sie das wohlhabende jüdische Bürgertum Wiens mit einem Eifer an, der jenen ihrer christlichen Gesinnungsgenossen noch übertraf. Wenn sie mit Schmähungen gegen ihre eigene Herkunft konfrontiert wurden, reagierten einige der „jüdischen" Sozialistenfuhrer, indem sie unbewußt die Sprache der Antisemiten internalisierten. Der Führer der österreichischen Sozialdemokraten, Victor Adler - ein konvertierter Jude - , antwortete seinem christlichsozialen Widerpart in einer öffentlichen Debatte in Wien am 2. März 1897 mit der Behauptung: „Die Herren sprechen immer nur von den jüdischen Führern' (nebenbei gibt es unter den Antisemiten mehr Juden als unter uns), nie von der großen Masse der führenden arischen Genossen." 132 Derartig ambivalente Reaktionen und der im allgemeinen antikapitalistische Druck der österreichischen Arbeiterbewegung ließen

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die Sozialdemokraten den meisten Wiener Juden des Mittelstands nicht als verläßliches Bollwerk gegen den Antisemitismus erscheinen. Außerdem wurde erkannt, daß sich die Arbeiterklasse immer stärker über die dominierende Stellung der Juden in der sozialistischen Partei empörte. So bemerkte Die Neuzeit: Die offizielle Sozialdemokratie „züchtet durch das Vorgehen ihrer theilweise jüdischen Führer den Antisemitismus ebenso unter den Arbeitern wie die liberale Partei in bürgerlichen Kreisen und die Opposition [nimmt] erbittert über das despotische Treiben gewisser,Parteijuden' eine antismitische Färbung" an. 133 Die „jüdische" geistige Führung der Sozialdemokraten würde den Antisemitismus bei den Massen lediglich zuspitzen und nicht verringern. Auf jeden Fall konnte von der offiziellen jüdischen Gemeinde Wiens kaum erwartet werden, daß sie mit linksgerichteten Angriffen auf das Finanzkapital sympathisierte. Sie war stolz auf die herausragende Rolle, die jüdische Bankiers und Unternehmer, wie Arnstein, Eskeles, Rothschild, Wertheimstein, Todesco und Königswarter, bei der wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs gespielt hatten. Die sozialistische Agitation gegen das Bankenkapital und die Börse schienen daher kaum weniger bedrohlich als der Mittelstandsantisemitismus der Christlichsozialen Partei.134 Die Flut einengender Kräfte von rechts und links im Wien des Fin de Steele konfrontierte die jüdische Gemeinde mit einem unlösbaren Dilemma, das lediglich ihre eigene Machtlosigkeit unterstrich. Das Fehlen einer organisierten politischen Vertretung der Juden außerhalb Wiens verstärkte noch das Ausmaß des Problems. So lebten zum Beispiel in Galizien mehr als 800.000 Juden, die rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachten. Eine Reihe jüdischer Abgeordneter war in das österreichische Parlament gewählt worden, diese Abgeordneten blieben aber stets unter dem Einfluß des aristokratischen Polenklubs. 135 In der polnischen Provinz wurden weder entscheidende Schritte gegen das Elend der halbproletarischen Massen gesetzt, noch die sozio-ökonomische Diskriminierung gemildert, am allerwenigsten durch die Wahl einiger „Polen mosaischer Confession" im Polenklub.136 Noch schwerer wog nach Auffassung der Neuzeit, daß die Führung der orthodoxen jüdischen Gemeinden in Galizien antisemitischen Kandidaten zur Wahl verholfen hatte und dadurch deutlich machte, daß ihr jeglicher politische Scharfsinn fehlte und sie unfähig war, das Wahlrecht zur Verteidigung jüdischer Rechte zu nützen. 137 Der Würgegriff des Chassidismus war den Wiener Juden immer ein Dorn im Auge gewesen. Gerne machten sie den orthodoxen Fanatismus für den wirtschaftlichen Zerfall des galizischen Judentums in den späten 90er Jahren verantwortlich. Der polnische und ukrainische Wirtschaftsboykott gegen jüdische Händler und die Agitation von Pater Stojalowski verliehen dem jüdischen Elend in Galizien nun neue und alarmierendere Ausmaße. 138 Gewalttätige Pogrome in Westgalizien im Sommer 1898 erinnerten die Wiener jüdische Gemeinde besonders schmerzhaft an die prekäre Lage

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ihrer Glaubensbrüder in den rückständigeren Gebieten der Habsburgermonarchie.159 Auch in Böhmen und Mähren verdüsterte die Ausbreitung der Judenhetze vor dem bedrohlichen Hintergrund des tschechisch-deutschen Nationalitätenkonflikts die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts. Mit dem Anwachsen des rassistischen Alldeutschtums, des extremen tschechischen Nationalismus und der Sozialdemokratie schien der Zusammenbruch des deutschen Liberalismus in den tschechischen Ländern zum Greifen nahe. Gefangen im Kreuzfeuer dieser widersprüchlichen Kräfte, standen die böhmischen Juden vor unlösbaren Problemen, die nicht weniger quälend waren als jene ihrer Wiener Glaubensbrüder.140 Berichten in der Neuzeit zufolge hatten sich viele Juden in Böhmen in den späten 90er Jahren in ihrer Verzweiflung den Sozialdemokraten zugewandt. Die Zeitung stand diesem Trend skeptisch gegenüber, da die tschechischen Sozialdemokraten es ihrer Meinimg nach versäumt hätten, eine unmißverständliche Haltung gegen den Antisemitismus einzunehmen.141 Es wurde gewarnt, daß die jüdischen Wähler unausweichlich die gleiche Enttäuschimg erleben würden, die sie schon bei den deutschen Liberalen erfahren hatten. Die jüdischen Führer der Sozialdemokratie würden einfach als neuer Sündenbock für die tschechischen und deutschen antisemitischen Hetzredner dienen. Der Hilsner Ritualmord-Prozeß im Jahr 1899, der den tschechischen Antisemitismus zu einer fiebrigen Extase aufpeitschte, war besonders beunruhigend, weil er den Judenhassern in der gesamten Monarchie einen fruchtbaren Boden bereitete.142 Er unterstrich die exponierte Lage der tschechischen Juden, die in einem ethnischen Konflikt gefangen waren, der durch das abergläubische Festhalten am Ritualmordgedanken gefahrlich verstärkt wurde.145 Auch wenn die österreichischen Juden zunehmend in einem unentwirrbaren Knoten klerikalen, reaktionären und nationalistischen Hasses gefangen waren, glaubten viele von ihnen noch an den „Schutz", den der wohlwollende Despot am habsburgischen Thron gewährte.144 Die Vorsicht gebot jedoch, eine klare Identifikation mit politischen oder nationalen Gruppierungen zu vermeiden. Eine derartige Abstinenz implizierte jedoch keinesfalls ein abnehmendes Bedürfnis nach dem Schutz der rechtlichen Gleichstellung der Juden. 145 Die österreichischen Juden wurden vielmehr ermuntert, ihre Wahl nach Integrität und Charakter des einzelnen Kandidaten zu treffen und parteipolitischen Etiketten oder nationalen Zugehörigkeiten geringere Aufmerksamkeit zu schenken. 1 ^ Um die Jahrhundertwende kam man immer mehr überein, daß sich die Juden mit keiner bestehenden politischen Partei identifizieren konnten. Auch wenn nur eine Minderheit die Notwendigkeit einer unabhängigen jüdischen politischen Partei oder einer vereinheitlichten Selbstverteidigungsorganisation, die das gesamte österreichische Judentum vertrat, befürwortete, wurden diese Vorschläge nicht mehr rundweg abgelehnt.147 Schon diese

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Entwicklung zeigt, wie sehr der Grundsatz eines organisierten Kampfes gegen den Antisemitismus in den liberalen jüdischen Kreisen an Boden gewonnen hatte. Die Vorstellung, daß sich die Wiener Juden der antisemitischen Herrschaft passiv überließen, blind an „assimilationistischer" Politik oder traditioneller deutschliberaler Ergebenheit festhielten, muß daher etwas korrigiert werden. Die jüdischen Liberalen verzweifelten nicht einfach, nahmen auch ihr Schicksal nicht gleichmütig hin oder flohen vor der Wirklichkeit in ein idealisiertes Bild der Vergangenheit. Sie protestierten vielmehr heftig gegen die von der christlichsozialen Verwaltung in Wien praktizierte Diskriminierung jüdischer Lehrer, städtischer Angestellter, Hausierer oder anderer gesellschaftlicher Gruppen.148 Liberale Juden waren entrüstet über die bigotten, intoleranten Reden antisemitischer Abgeordneter in österreichischen gesetzgebenden Organen. Sie lehnten Vorschläge ab, die Schulen der kirchlichen Autorität zu unterwerfen oder eine Rassentrennung einzuführen. Sie wandten sich auch energisch gegen jeden Wirtschaftsboykott jüdischer Unternehmen.149 Die jüdische Presse ließ sich keineswegs von Luegers frommen Einwänden beirren, daß die Christlichsoziale Partei lediglich die reichen jüdischen Kapitalisten bekämpfte.150 Außerdem reagierte Die Neuzeit mit unverhohlener Verachtung auf die wirren Reden von Gregorig oder Schneider gegen jüdische Unternehmer, Rechtsanwälte und Intellektuelle. Sie legte unbarmherzig die Bösartigkeit der österreichischen Antisemiten bloß, die sich gegen alle zivilisierten Werte, wie Bildung, Fortschritt und die Grundachtung menschlichen Anstands, gewandt hatten.151 Lueger wurde scharf angegriffen, daß er die brutalen Hetzreden seiner stärker dem Pöbel verbundenen Parteigänger tolerierte und ihnen freie Bahn ließ, nicht nur die Juden, sondern auch politische Gegner in den Schmutz zu ziehen.152 Seine positiveren Eigenschaften durften den Zynismus und die Widerwärtigkeit seines politischen Opportunismus nicht beschönigen.153 Und dennoch anerkannte die jüdische Presse um 1900, daß Lueger verantwortungsbewußter als die meisten seiner Anhänger war. Die jüdische Führung war sich darin einig, daß der Bürgermeister keinen offenen Angriff auf die bürgerlichen und religiösen Rechte der Wiener Juden zulassen würde.154 Die dramatischen Ereignisse in Frankreich zur Zeit der Dreyfus-Affare schienen die optimistische Annahme zu verstärken, daß der antisemitische Sumpf des Fin de Siecle nur ein vorübergehendes Phänomen war. Die Neuzeit verfolgte die verschiedenen Phasen der Dreyfus-Affare mit großer Leidenschaft und machte dabei manchmal auf treffende Analogien zur politischen Situation in der Habsburgermonarchie aufmerksam. Die schamlose Diffamierung, die Lügen und Intrigen, in den sich die französischen Antisemiten ergingen, und die klerikal-militärischen Bestrebungen, die französische Republik zu Fall zu bringen, schienen Osterreich eindeutig einen Spiegel vorzuhalten. Der Dreyfus'sche Sieg über die reaktionären Gegner wurde als

Adolf Jellinek und die liberale Reaktion

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hoffnungsvolles Zeichen angesehen, daß der Liberalismus sich in Europa doch durchsetzen könnte. Zumindest in Frankreich schienen die Kräfte des klerikalen Obskurantismus besiegt worden zu sein.155 In Wien tauchten zugegebenermaßen keine Kämpfer für die Gerechtigkeit, wie Zola, Clemenceau, Bernard-Lazare, Picquart und Scheurer-Kestner, am Horizont auf. Das österreichische Volk machte keinerlei Anstalten, sich gegen das mittelalterliche Erbe des Jesuitentums und des klerikalen Antisemitismus zu erheben. Die Wiener Judenhetzer verleumdeten weiter ungestraft nicht nur die „Semiten", sondern auch den Thron, die Gerichtsbarkeit, die Arbeiterklasse und andere Gegner ihrer politischen Ziele.156 Nichtsdestoweniger empfanden die Wiener Juden die Dreyfuskampagne in Frankreich, den Beginn von Menschenrechten und emanzipatorischen Idealen, als flüchtigen Trost.157 Die Rehabilitierung des gemarterten Juden Alfred Dreyfus schien der Beweis zu sein, daß die progressiven Prinzipien in einem modernen, zivilisierten Staat schließlich den Sieg über die Kräfte von Verleumdung, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit davontragen könnten. Der Dreyfus'sche Sieg konnte jedoch nicht über die traurige Tatsache hinwegtäuschen, daß Österreich nicht Frankreich war. Der liberale, emanzipatorische Optimismus von 1848, auf den die Wiener Juden als ihr eigenes Geburtsrecht zurücksahen, schien fünf Jahrzehnte später stark angeschlagen zu sein. Am Vorabend des neuen Jahrhunderts erinnert ein Leitartikel in der Neuzeit: „Vor mehr als fünfzig Jahren trugen die Juden Fischhof und Goldmark das Banner der Freiheit voran und starben unsere edlen Glaubensbrüder Jellinek und Becher den Märtyrertod - heute dankt man uns dafür mit Dreyfus und Polna!"158 Das österreichische Judentum hatte einmal geglaubt, daß es der revolutionäre Sturm von 1848 von der Sklaverei in die Freiheit führen könnte. Seit damals leisteten die Juden bedeutende Beiträge zum Fortschritt der zivilisierten Menschheit auf allen Gebieten des menschlichen Geistes und der menschlichen Tatkraft. Sie hatten ihren Emanzipatoren ihre Schuld mehr als zurückgezahlt. Und dennoch wurden sie mit dem Wiederaufleben von Klerikalismus, Feudalismus und einem wiederaufkeimenden Judenhaß belohnt.159 Die Pessimisten sahen in diesem Rückfall „einen Beweis, daß man uns [die Juden] niemals verdauen wird". Für den Leitartikler der Neuzeit war ein solcher Schwermut ein „Dogma des Zionismus". Er wäre nur gerechtfertigt, wenn die „arische" Welt in die Judäophobie zurückgefallen wäre, während sie gleichzeitig in allen anderen Fragen an freiheitlichen Idealen festgehalten hätte. Die Reaktion auf den Liberaüsmus war jedoch ein allgemeines Phänomen. Der Antisemitismus sei lediglich eine vorübergehende Erscheinung, wenn sie auch in Wien „ein wirksamer Hebel" war, „dessen sich der Feudalismus und Clerikalismus virtuos bedienen".160 Dies gab wenig Anlaß, optimistisch zu sein. In den Augen der offiziellen jüdischen Führung war der Antisemitismus jedoch vor allem ein Vorwurf an „unsere christ-

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Die Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus

liehen Mitbürger", die, von billigen Schlagworten geblendet, ein Opfer des Klerikalismus - des gefahrlichsten Fortschrittsgegners - geworden waren. „Nicht der Judenhaß, sondern diese Erniedrigung des Bürgertums ist die Schmach des neunzehnten Jahrhunderts", Schloß Die Neuzeit, „und mit ihr beginnt auch das zwanzigste."161

9. Josef Bloch: Rabbiner, Parlamentarier und Publizist Dem Juden war der Liberalismus mehr als eine politische Doctrin [sie], ein bequemes Prinzip und eine populäre Tagesmeinung - er war sein geistiges Asyl, sein schützender Port nach tausendjähriger Heimatlosigkeit, die endliche Erfüllung der vergeblichen Sehnsucht seiner Ahnen, sein Freiheitsbriefnach einer Knechtschaft namenloser Härte und Schmach, seine Schutzzgöttin, seine Herzenskönigin, welcher er diente mit der ganzen Glutseiner Seele,für die er stritt auf den Barrikaden und in den Volksversammlungen, in dem Parlament, in der Literatur und in der Tagespresse; ihretwegen ertrug er willig den Zorn der Mächtigen! Dr. JosefS. Bloch, Österreichische Wochenschrift (2. Jänner 1885) Nein, nicht der Kampf gegen den Semitismus, sondern der für ihn würde von den wohltätigsten Folgen seinfiirdie arbeitende Bevölkerung,fiirdas Heil des Staates. Dr. Josef S. Bloch, Aus der Vergangenheitfür die Gegenwart (1886) Wir sind weder Germanen noch Slaven, sondern österreichische Juden, oder jüdische Österreicher!... Wenn eine speäfisch österreichische Nationalität construirt werden könnte, so würden die Juden ihren Grundstock bilden. Dr. Josef S. Bloch, Der nationale Zwist und die Juden in Österreich (1886) Das ist nicht mehr die Tugend der Passivität, wie sie unsere Väter besaßen. Sie haben den Muth zu leiden gehabt; heute entspringt dieses Erhalten den niedrigsten Motiven: der Gewinnsucht, dem Verlangen gut und bequem leben zu können. Und wir reden schon gar nicht vom Mangelan Selbstachtung und Ehrgefühl, selbst das savoir vivrefeht ihnen, und die Antisemiten halten daher die Juden nicht mirfür verächtlich, sondern auchfür lächerlich, ein Fluch, den das Judenthum bis jetzt noch nicht auf sich geladen hatte ...Wo soll der Muth zum Kampfe bei den hiesigen Juden herkommen, wenn sie sich dessen schämen, wofür sie kämpfen sollen? Österreichische Wochenschrift (7. September 1888)

S E I T DIE ÖSTERREICHISCHE REGIERUNG 1 8 5 2 DEN STATUTEN DER W I E N E R K U L -

tusgemeinde ihre erste, vorläufige Genehmigung erteilt hatte, hatte sich jene als religiöse Körperschaft und nicht als politische Vereinigung definiert.1 Ursprünglich sollte sie sich lediglich den religiösen Bedürfnissen, der Fürsorge und der religiösen Erziehung ihrer Mitglieder in Wien widmen. Im Gegensatz zu katholischen und

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protestantischen Verbänden erhielt sich die jüdische religiöse Gemeinde selbst und wandte sich nicht um finanzielle Unterstützung an die Regierung, nicht einmal für die Erhaltung ihrer reinen Wohlfahrtseinrichtungen. 2 Aufgrund der Statuten von 1890 (die den rechtlichen Status der jüdischen Gemeinden in Osterreich geregelt hatten) wurden alle Juden verpflichtet, Mitglieder der jüdischen Gemeinde an ihrem Wohnort zu sein.3 Sehr zum Mißfallen der Orthodoxen war nur eine religiöse Gemeinde an jedem Ort erlaubt. Ihre Bemühungen, sich loszulösen und eigene, autonome Gemeinden zu bilden, gaben während des 19. Jahrhunderts ständig Anlaß zu Spannungen innerhalb der Gemeinden. 4 Die Orthodoxen hatten zwar ihre eigenen Talmud-Thora-Schulen, die von den Behörden anerkannt wurden, Versuche einer vollkommenen Loslösung wurden jedoch durch den Gemeindevorstand erfolgreich abgeblockt. Die jüdische Orthodoxie fand sich aber nie wirklich mit der Führung der Gemeinde durch liberale „Reformer" ab. Sie warf ihnen ständig vor, die jüdische religiöse Erziehung und die hebräische Sprache zu vernachlässigen, sich nicht um die Bedürfnisse der armen Juden zu kümmern und bewußt die Assimilation zu unterstützen. 5 Die orthodoxe Kritik richtete sich meist dagegen, wie religiöse Themen und Bildungsfragen für die Allgemeinheit gehandhabt wurden (sowie gegen die Diskriminierung der Armen bei Begräbnissen). 6 Sie wollten die traditionelle Machtstruktur einer Gemeinde nicht in Frage stellen, die noch immer von einer kleinen Elitegruppe wohlhabender Juden geleitet wurde, die meist schon länger am Ort ansässig waren. Sie versuchten auch nicht die Masse der zuwandernden Neuankömmlinge durch die Forderung nach Demokratisierung des Gemeindewahlrechts zu mobilisieren. Im Gegensatz zu den Zionisten gehörten gemeindeinterne Machtkämpfe nicht zu ihren Hauptsorgen. Dies bedeutete jedoch nicht, daß ihnen politische Fragen oder „Reformeinflüsse" in der Gemeinde gleichgültig waren. Es gab orthodoxe Juden in Wien, die eine enge Verbindung zwischen ihrem Ziel der Stärkung des jüdischen reügiösen Bewußtseins im „rein konservativen Sinne" und umfassenderen politischen Fragen sahen, welche die Zukunft Österreichs insgesamt betrafen. 7 In bezug auf die politischen Interessen des österreichischen Judentums waren sich die Orthodoxen mit der liberalen Führung der Gemeinde zumindest in einem Punkt einig: Wie für ihre Rivalen war für sie die Person seiner Heiligen Majestät Franz Joseph „der ritterliche Monarch" und „eine Garantie unseres Schutzes". 8 Eine orthodoxe Zeitung wie das Jüdische Weltblatt glorifizierte den „edelsinnigen Monarchen" auf dem habsburgischen Thron als „ein glänzendes Vorbild" - nicht weniger überschwenglich als ihre liberalen Gegenspieler. „Kaiser Franz Joseph I. folgt seinem hohen und heiligen Berufe Schritt für Schritt, das justitia fundamentum regnorum bildet die feste Stütze seines Thrones." 9 Die Erklärung des Kaisers von 1882 wurde häufig zitiert: „Ich dulde keine Judenhetze in Meinem Reiche, jede Antisemiten-

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bewegang muß sofort in ihrem Keime erstickt werden." Franz Joseph äußerte diese Worte „in dem Augenblicke, wo in der Reichshauptstadt Symptome einer so schmählichen Bewegung sich zu zeigen begannen".10 Der gottesfiirchtige Jude hätte jeden Grund, „ein Patriot und treuer Untertan des Kaisers" zu sein, da Seine Hoheit nicht nur bewiesen hätte, daß er „allen Ländern und Völkern die gleiche Pflege geistiger Interessen zu Theil werden" lasse, „sondern gleiche Rechte für die Juden" auch in der Praxis aufrechterhalten würde".11 Die Orthodoxie war - nicht weniger als das liberale österreichische Judentum - der Auffassung, daß der dynastische Patriotismus, das loyale Osterreichertum und die Eintracht unter den Nationalitäten ihren Grundbedürfhissen entsprachen. Die österreichische Orthodoxie anerkannte auch die Notwendigkeit, den aufkommenden Antisemitismus mit einer anhaltenden Uberzeugungskampagne zu bekämpfen, die sich an die christlichen Mitbürger wandte. Ein derartiger Feldzug müßte die wahren Ziele des Judaismus erläutern, dessen Ehre verteidigen und die grundlosen Anschuldigungen gegen seine Lehren richtigstellen.12 Abgesehen von dieser minimalen Übereinstimmung sahen die orthodoxen Juden jedoch die neue politische Konstellation in Osterreich nach 1879 mit vollkommen anderen Augen als die Gemeindeführung in Wien. Die Führungspersönlichkeiten der Kultusgemeinde hielten bis Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts an ihrem traditionellen Bündnis mit dem deutschen Liberalismus fest. Sie widersetzten sich weiterhin vehement der Koalition von Slawen, Konservativen und Klerikalen, die von Graf Taaffe angeführt wurde. Weder die Bereitschaft des Deutschen Klubs unter Otto Steinwender, eine Vereinbarung mit Schönerer einzugehen, noch Taaffes eigene Angebote an die Juden vermochten die Loyalität der Wiener Gemeindeführung zur führenden deutschen Oppositionspartei abzuschwächen.13 Nach Meinung des orthodoxen Lagers hingegen war die konservative Regierung von Graf Taaffe höchst vorteilhaft für die langfristigen Interessen des österreichischen Judentums.14 Das Jüdische Weltblatt betonte ständig ein „entschiedenes Entgegentreten der von Schönerer inscenirten antisemitische [n] Bewegung" seitens des österreichischen Ministerpräsidenten und die breite Unterstützung, die er durch die Bevölkerung erfuhr.15 Es wies die liberale Kritik zurück, daß Graf Taaffe den Antisemitismus weniger energisch verurteilt hätte als die ungarische Seite. Die orthodoxe Zeitung behauptete, daß es unter dem Ministerium Taaffe weniger antijüdische „Exzesse" gegeben hätte als unter jeder früheren österreichischen Regierung.16 Es führte an, daß der neue Antisemitismus nicht konservativen Regierungskreisen entstammte, sondern aus der deutschnationalen Opposition herrührte.17 Graf Taaffe sei nichts vorzuwerfen: „Die Völker sind mit dem Regierungs-Systeme des Ministeriums Taaffe zufrieden, Graf Taaffe erklärte sich gegen den Antisemitismus, ja erklärte sich sogar, demselben energisch entgegenzutreten, wo er die öffentliche

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Ordnung stört, und so ist es denn natürlich, daß das Volk der Stimme des Mannes gehorcht, der an der Spitze einer ihnen sympathischen Regierung steht."18 Die orthodoxe Wochenzeitung pochte darauf, daß die Juden der Habsburgermonarchie jeden Grund hatten, der Regierung Taaffe dankbar zu sein, daß die antisemitische Bewegung in westlichen Österreich nicht Fuß fassen konnte. Daher wurden immer mehr Juden in Galizien „aus Gegnern des jetzigen Regierungs-Systems Freunde desselben". Dies war für die jüdischen Verteidiger von TaafFe umso erfreulicher, als sie der Meinung waren, daß es im Interesse des österreichischen Judentums sei, eine Regierung zu unterstützen, „die die Versöhnung der Nationalitäten sich zur Aufgabe gemacht". Nach Ansicht des Jüdischen Weltblattes sollte das liberale Judentum „etwas weniger sich vordrängen, um an der Spitze dieser oder jener politischen Partei zu marschiren, etwas weniger mit Reichtum, Wissen, selbst da zu prunken" zu suchen."19 Orthodoxe Kreise bemerkten, daß gerade jene liberalen Juden, die am lautesten gegen den österreichischen Antisemitismus protestierten, „in religiöser Beziehung ihren Freisinn so weit treiben, daß sie sich geradezu verletzt fühlten, wenn nicht etwa von Judenthum, sondern von Religion überhaupt gesprochen wird".20 Nach Meinung des Jüdischen Weltblattes war diese befremdliche Haltung für die „assimilationistischen" Illusionen der Reformjuden typisch. Liberale Juden führten den zunehmenden Antisemitismus stets auf die Laxheit der konservativen Regierung TaafFe, ja sogar auf das orthodoxe Judentum selbst zurück. Sie gingen immer von der falschen Annahme aus, daß die Befolgung der Thora oder das Festhalten an jüdischen Sitten und traditioneller Kleidung eine feindselige Haltung der Nichtjuden provozierte. Der Antisemitismus sei jedoch keine Reaktion auf die jüdische Orthodoxie, sondern eher auf die Irreligiosität und den selbstsüchtigen Materialismus Abtrünniger, die den traditionellen Glauben aufgegeben hatten.21 Liberale Reformjuden in Budapest oder Wien, die darauf bedacht waren, die Nichtjuden zu imitieren und auf diese Weise ihre einwandfreie Assimilation an das Magyarentum oder das Deutschtum zur Schau zu stellen, seien in Wirklichkeit schuld am österreichischen Antisemitismus. Andererseits sei es dem Antisemitismus nicht gelungen, „in den slavischen Provinzen auch nur eine halbwegs ernste Ruhestörung der Juden zu provoören, trotzdem gerade die slavischen Provinzen die von Juden zumeist bewohnten" waren.22 Insbesondere die galizischen Polen hätten in ihrer ganzen Geschichte eine bemerkenswerte Toleranz und Gastfreundschaft gegenüber den Juden bewiesen, obwohl Polen eine katholische Nation sei. Der jüngste Beweis für diese großzügige Geisteshaltung sei die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge, die vor den russischen Pogromen von 1881 flohen. Nicht die Mitglieder des Polenklubs, sondern Deutschnationale im österreichischen Reichsrat hätten versucht, die Emigration russischer Juden in die

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habsburgischen Gebiete zu unterbinden. Mehr noch, bestätigte das Jüdische Weltblatt: „Von allen Ländern der Welt ist Polen das einzige, das keine Judenverfolgung auszuweisen hat, was umso beachtenswerther erscheint, als die Polen eine streng katholische Nation sind ... wohl der beste Beweis, daß man erstens gut christlich und doch tolerant gegen die Juden" sein könne; es sei daher nicht weiter erstaunlich, daß sich die Juden begeistert an den polnischen Freiheitskämpfen seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts beteiligt hätten.23 Die pro-polnische Ausrichtung des orthodoxen Judentums ging mit Warnungen an die Wiener Gemeindeführer einher (insbesondere an die Israelitische Allianz), sich aus den galizischen Angelegenheiten herauszuhalten. Von Wien ausgehende Versuche, das galizische Judentum zu „germanisieren" oder vielmehr zu „entjudaisieren" würden nicht toleriert werden. Das galizische Judentum sei nicht bereit, seinen Glauben auf dem Altar einer deutschen Kultur zu opfern, die fiir die vergiftete Frucht des modernen Antisemitismus verantwortlich sei. Die galizischen Juden genossen schon volle bürgerliche Gleichberechtigung und identifizierten sich mit der polnischen Nation. Sie würden nur jene parlamentarischen Kandidaten politisch unterstützen, die die religiös-konservativen Interessen des Judentums garantierten, und keine, die von den „Reformern" und „Pseudojuden" in Wien empfohlen wurden.24 Religiöse und weltliche Wiener Führungspersönlichkeiten warfen der galizischen Orthodoxie gerne religiösen Obskurantismus und die Beschränkung des Judentums auf ein hinterwäldlerisches Ghetto vor. Die orthodoxen Juden weigerten sich jedoch stolz, ihren alten Glauben für die „falsche" Freiheit und Emanzipation von der Religion zu verraten, die letztlich von den Reformern befürwortet wurde. „Daß der gesetzestreue Jude mit solchem Liberalismus keine gemeinsame Sache machen kann, liegt auf der Hand, ebenso wie es sich von selbst versteht, daß er es vorzieht, mit der Partei zu gehen, die den Glauben nicht als Anachronismus ansieht, sondern die Stärkung des Glaubens zu einer ihrer Aufgaben macht, und diese Partei ist die gegenwärtige Regierungspartei."25 Aus der Perspektive des orthodoxen Judentums wurde das stillschweigende Bündnis mit der Regierung Taaffe und dem Polenklub als Verkörperung der wahren Interessen jener angesehen, die dem Thora-Judentum treu gebheben waren. Der Wiener Liberalismus der „Kuranda-Schule" widersprach diesen Interessen. Er basierte auf der Annahme, daß soziale Gleichberechtigung am besten durch religiöse Reform und die Abschaffung „unzeitgemäßer" Gebräuche erreicht werden könnte.26 Für die Orthodoxen stand aber fest, daß die Aufgabe von Cheder und Kaschrut, die vermehrte Einheirat in christliche Familien und die Bemühungen der Israelitischen Allianz, jüdische Handwerker bei Wiener Meistern in die Lehre zu schicken, den Antisemitismus bloß schürten.27 Wie orthodoxe Sprecher meinten, war die wachsende religiöse Gleichgültigkeit

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bei den Wiener Juden die logische Folge des „Reformprogramms".28 Aus ihrer Sicht bestand wenig Unterschied zwischen dem liberalen Judentum und einem vollkommen entjudaisierten Humanismus („Konfessionslosem Nurmenschenthum"). Laxheit in religiösen Angelegenheiten könnte nur die Solidarität und den Zusammenhalt der Juden untergraben. Es sei daher nicht überraschend, daß „die Zahl der Juden groß ist, die von einer Cultusgemeinde nichts wissen und auch die zur Erhaltung derselben nothwendigen Beiträge nicht zahlen wollen".29 Die orthodoxen Juden in Wien sahen diesen „Indifferentismus" als die unausweichliche Folge einer Gemeindestruktur an, deren geistige Führung die christliche Bezeichnung Prediger jener des Rabbi vorzog, da letztere als zu „jüdisch" angesehen wurde.30 Die polnische Orthodoxie hatte wenig Zeit fiir die universalistische Religion, wie sie Adolf Jellinek predigte, der in ihren Augen das Thora-Judentum in eine vage Lehre humanistischer Ethik aufgelöst hatte.31 Die langfristige Folge könnte nur die Förderung von Konfessionslosigkeit, von Bekehrung oder sogar von einem „selbsthassenden" deutschen Nationalismus bei jüdischen Jugendlichen sein. Die Logik von Jellineks integrativer Philosophie würde die Grundlagen des jüdischen Überlebens aufweichen.32 Das Jüdische Weltblatt nützte die Rohling-Bloch-Kontroverse, um Jellinek und die Wiener Gemeindefiihrung in ein ungünstiges Licht zu rücken. Es unterstützte rückhaltlos den Mut des jungen, aus Galizien stammenden Rabbiners und Talmud-Gelehrten Dr. Josef Samuel Bloch, der es gewagt hatte, den katholischen Professor August Rohling als Fälscher und Scharlatan bloßzustellen. Gleichzeitig warf es Jellinek unmißverständlich vor, Blochs Ernennung zum Professor für jüdisches Altertum an der Universität Wien (die Graf Taaffes wärmste Unterstützung erfuhr) zu verhindern. Der Gemeindevorstand in Wien hatte tatsächlich alles getan, um die Ernennimg abzublocken.33 Die orthodoxe Wochenzeitung warf Adolf Jellinek nicht nur Selbstsucht, Neid und Größenwahn vor, sondern auch, daß er Graf Taaffes pro-jüdische Politik absichtlich sabotierte. Denn die Ernennung von Rabbi Bloch zum Universitätsprofessor hätte unter Umständen Taaffes Beliebtheit bei den Juden verstärkt und „die an der Seitenstettengasse beliebte Identificirung der jetzigen Regierung mit dem Anti-Semitismus würde vor aller Welt als schamlose Lüge entlarvt werden". 34 Dr. Bloch (1850-1923), der Rabbiner, Publizist und österreichische Politiker, der durch die Entlarvung von Rohling eine so entscheidende Rolle spielte, war ein eher tinkonventioneller Vertreter der galizischen Orthodoxie. Er wurde als Sohn eines armen Bäckers in Dukla in Ostgalizien geboren, hatte die Jeschiwa in Lemberg und Eisenstadt besucht, wo er seine Meisterschaft im Talmud erlangte. Vervollständigt hatte er seine Ausbildung an den Universitäten von München und Zürich. Dies verlieh ihm ein breites Wissen europäischer Kultur und verbesserte seine Deutschkenntnisse, eine Sprache, die er später mit hervorragender Scharfzüngigkeit beherrschen sollte.35 Nach einiger Zeit in Provinzgemeinden wurde Dr. Bloch zum

Joseph Bloch: Rabbiner, Parlamentarier und Publizist

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Rabbiner im Wiener Industrievorort Floridsdorf ernannt. Gleichzeitig war er auch Lehrer an der Bet ha-Midrasch in Wien, wo er zwei Jahre lang neben so bedeutenden jüdischen Gelehrten wie Eisig Hirsch Weiss und Meier Friedmann lehrte.56 Während seiner frühen Floridsdorfer Zeit zeigte Bloch ungewöhnliche Sensibilität für die Frage der Arbeit und die sozialen Bedürfnisse der nichtjüdischen unteren Klassen. Als Reaktion auf die gegen den Talmud gerichtete Agitation von Franz Holubek bei Versammlungen christlicher Händler in Wien entschloß er sich, eine Gegenoffensive zu starten, und begann mit einer Reihe von Vorträgen über jüdische Sozialgeschichte vor Arbeitern in Floridsdorf und anderen Wiener Bezirken.37 So hielt der Rabbiner ζ. B. am 12. August 1882 vor einem begeisterten proletarischen Publikum im größten Saal von Floridsdorf einen Vortrag über das Thema „Die Arbeiter zur Zeit Jesu Christi".58 Er wollte die gängigen Behauptungen widerlegen, daß die im Talmud bewanderten Juden „Säulen des Kapitalismus" und Ausbeuter der arbeitenden Massen sein müßten. Gewitzt betonte er gegenüber seiner proletarischen Zuhörerschaft die von den Juden Palästinas im Altertum entwickelten „sozialistischen" humanistischen Werte. „Die kunstsinnigen, philosophisch geschulten Griechen, die rechtsklugen, ja rechtslistigen Römer brauchten keine Arbeiter, sie hatten Sklaven; die palästinensischen Hebräer, welche man Semiten nennt, wußten nichts von Sklaven und hatten bloß freie Arbeiter. Nur so ist es möglich, daß ich heute vor Ihnen stehe, um Sie von einem Arbeiterstand im Altertum zu unterhalten."39

Die Hebräer hätten „das Kastenwesen und das Sklaventum verbannt". In Palästina „waren es die Arbeiter selber, welche die politischen Parteien geführt, die Staatsangelegenheiten beraten und die Gesetze bestimmt haben". Die Arbeit sei im alten Palästina zum höchsten Ansehen erhoben worden als bester Ausdruck von Persönlichkeit und menschlicher Oberherrschaft. Sie sei „die größte Erzieherin, Bildnerin und Beglückerin des Menschen, die Mutter aller Kultur, die Schwester aller Sittlichkeit, die Freundin jedes Fortschrittes".'10 Das mosaische Gesetz habe der zivilisierten Menschheit den Sabbat als Tag der Ruhe gegeben. Dies bedeutet nichts anderes als „die gesetzliche Regulierung der Arbeitsdauer von Staats wegen" .Vor viertausend Jahren hätten die jüdischen Gesetzgeber Palästinas schon den Keim zum jetzigen Sozialismus gelegt, „ohne daß die bürgerliche Gesellschaft dessen Tragweite auch nur erkannt oder erkennen will".41 Es sei ein tragisches Mißgeschick für das heutige Proletariat, daß nicht die Juden, sondern „die klassischen Völker des Altertums, die Griechen und Römer, welche die Würde und den Wert der Arbeit so schmählich mißkannten, sie zur Sklaverei erniedrigten, der europäischen Menschheit ausschließliche Muster und Vorbilder geworden sind".42 Dr. Bloch deutete an, daß die damaligen Bismarckschen „nacheinander in wilder

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Disharmonie veranstalteten Katholikenhetzen, Sozialistenhetzen, Semitenhetzen" letztlich eine Fortsetzung dieser römischen Sklaventradition seien. Andererseits könnte der moderne Sozialismus von der alten mosaischen und talmudischen Gesetzgebung angeregt werden, die zum Schutz der Interessen der arbeitenden Klassen entworfen worden war. 43 Mit lebensnahen Beispielen veranschaulichte Bloch die menschlichen und weitsichtigen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, die im Talmud enthalten sind, und erinnerte geschickt an große Weise (wie Hillel und Akiba), die im Alltag einfache Holzfäller, Schmiede und Arbeiter gewesen waren: 44 „Im Talmud treten uns die Arbeiter entgegen als gelehrte Enzyklopädisten mit großer Weltund Völkerkenntnis und weitem Wissen." 45 In der alten jüdischen Gesellschaft hatten Standes- und Klassenunterschiede keinerlei Einfluß auf die gemeinschaftliche Demokratie des Lernens. In den Worten des Talmud: „Einem Bastard, welcher unterrichtet ist, gebührt der Vorrang und Vortritt vor dem Hohenpriester, wenn dieser unwissend sei." Andererseits: „Die moderne Ausbeutung der Arbeiter durch die glücklichen Besitzer ist nicht palästinensisch, sondern arisch: Tradition des sklavenüppigen Römerreiches." 46 Geschickt hatte Dr. Bloch die Behauptungen des modernen Antisemitismus auf den Kopf gestellt. Den Arbeitern von Wien erklärte er, „nicht der Kampf gegen den Semitismus, sondern der für ihn würde von den wohltätigsten Folgen sein für die arbeitende Bevölkerung, für das Heil des Staates". 47 Am 20. August 1882 wiederholte Bloch diese Argumente in dem Saal „Zum Grünen Jäger" in Wien, war aber schließlich gezwungen, Einladungen von anderen Arbeiterverbindungen abzulehnen, „weil das Polizeipräsidium mich inzwischen wissen ließ, es ,empfehle' mir, in Arbeiterkreisen keine weiteren Vorträge zu halten". 48 Seine Vorträge wurden dennoch tausendfach von der sozialistischen Presse nachgedruckt und verteilt und trugen dazu bei, daß die Wiener Arbeiter von der Manipulation durch antisemitische Agitatoren abgebracht wurden. Sie beeindruckten auch Zeitgenossen, wie seinen Mentor Adolf Fischhof, der Bloch unmittelbar nach Erhalt seines „hervorragenden Vortrage" wärmstens dankte. In einem Brief an seinen galizischen Schüler schrieb Fischhof begeistert: „Die Wertschätzung der Arbeit und die soziale Stellung der Arbeiter bei den Griechen, Römern und Palästinensern besprechend, eröffneten Sie einen neuen überraschenden Ausblick auf die hohe ethische Bedeutung des Mosaismus und seiner Bekenner. Die Arbeiter, die schon jetzt den Lockungen des Antisemitismus tapfer widerstehen, werden infolge Ihrer Aufklärungen sich mit Abscheu von denjenigen abwenden, welche den Haß gegen jene predigen, deren Religion wie keine andere die sittliche und kulturelle Bedeutung der Arbeit würdigt und wie keine anderefiirdie Arbeiter eine ehrenvolle soziale Stellung heischt."40

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Der Einfluß von Adolf Fischhof auf Dr. Blochs politische Ansichten war zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere recht bedeutsam. Beide Männer stellten auf unterschiedliche Weise die Auffassung in Frage, daß jüdische Interessen mit jenen des deutschen Zentralismus, des politischen Liberalismus oder des Äaisiez^zzre-Kapitalismus identisch seien. Beide hatten gleichermaßen Verständnis für die Forderungen der slawischen Nationalitäten, befürworteten eine konstruktive Lösung der sozialen Frage und bevorzugten die Umgestaltung Österreichs als föderalistischen Staat, der auf den Prinzipien einer national-kulturellen Autonomie basierte.50 Sowohl Fischhof als auch Bloch kritisierten furchtlos die chauvinistische Engstirnigkeit der deutschen Liberalen in der Monarchie (die von der mächtigen, in jüdischer Hand befindlichen Wiener Presse unterstützt wurden), die sich einer demokratischen Lösung der Forderungen der österreichischen Nationalitäten widersetzten. Ein enttäuschter Fischhof sagte Bloch 1882: „Die Wiener Juden ahnen kaum, welch bösartige Reaktion in Begleitung eines rasenden Antisemitismus hereinbrechen wird; mein Versuch zur Gründung der Volkspartei hätte das voraussichtlich vermieden. Nun haben Juden selber den Rettungsversuch verhindert." 51 Dr. Bloch, der galizische Ostjude und orthodoxe Rabbiner, fühlte sich stark zu Fischhofs autonomistischem Programm hingezogen, das den nationalen Egoismus in Osterreich zu überwinden suchte. Er selbst versuchte solche Gedanken auf die jüdische Situation innerhalb des habsburgischen Reiches anzuwenden. Wie andere orthodoxe Rabbiner auch, sah Bloch in der Förderung nationaler Harmonie einen äußerst wichtigen Beitrag für die Interessen des österreichischen Judentums. Für ihn stand diese Politik auch in Einklang mit den besten historischen Traditionen der Juden als „Vermittler" zwischen Nationen. Fischhofs eigenes Leben und seine Lehren waren ein gutes Beispiel für diese klassische Rolle.52 Mit Fischhofs stillem Einverständnis begann Bloch einen energischen Feldzug gegen Rohlings Der Talmudjude. Der katholische Professor hatte während des TiszaEszlar Ritualmordprozesses 1885 unter Eid ausgesagt, daß die Juden Ritualmorde begingen. Bloch stellte Rohlings Kompetenz als Gelehrter kühn in Frage (sein Gegner war damals Professor für Althebräisch in Prag, der ältesten deutschen Universität) und warf ihm vor, absichtlich jüdische Texte zu verfalschen. Bloch bot Rohling sogar den Betrag von 5.000 Gulden an, wenn er eine beliebige Seite des Talmud gut übersetzen könnte. Die außergewöhnliche Publizität, die dieser Angelegenheit zuteil wurde, veranlaßte Rohling, den jungen Floridsdoifer Rabbiner wegen Verleumdung zu klagen. Nach einem zwei Jahre dauernden Verfahren zog Rohling seine Klage im Oktober 1885, zwei Wochen vor dem angesetzten Prozeßbeginn, jedoch zurück. Blochs bissige Artikel gegen Rohling waren ursprünglich als Reihe von Theodor Hertzka, dem Herausgeber der Wiener Allgemeinen Zeitung, einem bekannten Pu-

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blizisten und politischen Verbündeten Adolf Fischhofs, publiziert worden. Sie lösten umgehend eine Sensation aus. Plötzlich wurde der Talmud zu einem Hauptgesprächsthema in den Kaffeehäusern, den Hotels, auf der Straße und in den Wirtshäusern Wiens.53 In seinem Vorwort zu den Artikeln griff Bloch die fuhrenden liberalen Zeitungen Wiens und die etablierten jüdischen Politiker wegen ihres Schweigens angesichts „der Hydra des Judenhasses" scharf an. Die Juden, erinnerte er, hätten nichts anderes getan, „als der Regierung" zu vertrauen, während die vergifteten Pfeile auf ihre Häupter gerichtet wurden und eine mächtige Volksbewegung Gestalt anzunehmen begann. „Unsere klugen Politiker und geübten Parlamentarier, welche die Rufer im Streite hätten sein sollen wider die aus dem mittelalterlichen Grabe emporgestiegenen Gespenster und Geister der Nacht; die mit feuriger Rede und zündendem Wort wider die immer mehr um sich greifende Roheit und Brutalität in offener Versammlung der Vertreter des Volkes das alte ruhmreiche Banner jüdischer Humanität hätten aufrollen müssen, sie haben, wie es scheint, andere Sorgen. Der leidige Nationalitätenhader hat ihre Augen geblendet, daß sie die Vorgänge nicht schauen, noch richtig zu beurteilen vermögen. Die Sache des Judentumes haben sie nicht geschützt, vielleicht eher geschädigt; sie haben ihr Judentum vergessen und träumen, daß auch die Feinde nicht daran denken. Anstatt in das VortrefFen sich zu stellen, die Fahne voranzutragen, haben sie mit übel angebrachter Vornehmheit hinter die Schlachtlinie sich zurückgezogen, anderen die schwerere und bittere Tagesarbeit überlassend. Noch weniger haben sich bewährt die Männer der Feder, die Berufsjournaüsten unseres Volkes und Stammes. Ich schweige von nicht wenigen jener Ehrvergessenen, welche heimlich im Solde der Gegner stehen und wirken, zum Teile offen in ihr Lager übergegangen. Allein selbst die vornehmen großen Tagesblätter, welche in jüdischen Händen und unter jüdischer Leitung stehen, pflegen aus ewiger Angst, den Namen „Judenblatt" sich zuzuziehen, zu wenig oder gar nichts zu tun."54

Nur Hertzka hatte mit seiner Wiener Allgemeinen Zeitung „seine gediegensten Redakteure in den Kampf gegen den Antisemitismus entsendet und öffnet bereitwillig jeder Enunziation seine Spalten, die gerichtet sind gegen diese Lügenbrut." Daher riet Bloch den Wiener Juden, Hertzkas Zeitung zu unterstützen. Es war nicht weiter erstaunlich, daß dieser Aufruf und der Ton von Blochs Vorwort gewisse Mitglieder des Kultusgemeindevorstands und der Israelitischen Allianz verärgerten. Auf jeden Fall war ihnen die Kritik eines unbekannten Emporkömmlings aus Galizien, der es sich anmaßte, sich in Gemeindeangelegenheiten einzumischen, wenig willkommen. Die Gemeindeführung war bemerkenswert zurückhaltend gewesen, ihre fuhrenden Rabbiner in den Ring zu schicken, obwohl diese am besten in der Lage

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gewesen wären, die Fälschungen von Rohling, die einem früheren Werk von Eisenmenger entnommen waren, zu entlarven. Angeblich meinte Jellinek zu Rabbi Bloch: „Ich kann unmöglich den ganzen Eisenmenger widerlegen."55 Sowohl Jellinek als auch Moritz Güdemann begnügten sich mit einer kategorischen Ablehnung der Ritualmordvorwürfe gegen den Judaismus. Rohling tat ihre Bemerkungen arrogant als „arge Schelmerei" ab. Die etablierten Rabbiner reagierten nicht nochmals, zumindest nicht öffentlich. Aus Furcht, die Situation weiter zu verschärfen, zögerten sie sichtlich, stärker in die Niederungen der antisemitischen Politik hineingezogen zu werden. Derartige Überlegungen kümmerten Dr. Bloch nicht. Drei Auflagen zu 100.000 Exemplaren seines ersten Artikels (der als Beilage zu Hertzkas Zeitung erschien) waren an einem einzigen Tag verkauft. Ignaz Kuranda, der alternde Präsident der Kultusgemeinde, der durch die anwachsende antisemitische Kampagne stark beunruhigt war, sollte sich als überraschende Hilfe erweisen.56 Josef Ritter von Wertheimer war gegenüber Blochs aggressivem Ton bei der Verteidigung des Talmud weitaus kritischer. Er warf ihm auch vor, daß er die Wiener Allgemeine Zeitung ds Forum für seinen Gegenangriff ausgewählt hätte, eine Zeitung, die von den Vorstandsmitgliedern wegen ihrer Opposition zur Deutschen Verfassungspartei nicht geschätzt wurde. Emmanuel Baumgarten, ein weiteres Vorstandsmitglied mit hervorragenden Verbindungen zu den großen jüdischen Bankiers, fiel auf der Straße verbal brutal über Bloch her und wurde in der Folge sein „tödlicher Hasser".57 Jellinek und Güdemann waren ihrerseits anfangs zurückhaltend, obwohl letzterer später bei der Gründung der Österreichisch-Israelitischen Union eng mit Rabbi Bloch zusammenarbeitete. In den Provinzgemeinden reagierte man mit unmißverständlicher Begeisterung, ganz im Gegensatz zur kühlen Reaktion in Wien. Uber Nacht war Dr. Bloch zu einem Helden der jüdischen Sache geworden, er erhielt Hunderte Dankestelegramme. Die österreichischen Provinzen verhielten sich nicht so zurückhaltend wie der Wiener Vorstand, der fürchtete, „so viel Lärm um den Fall Rohling zu machen", könnte die christlichen Gefühle verletzen.58 Sie wünschten offenkundig eine militantere jüdische Vertretung im Parlament. Nach dem Tod des Oberrabbiners von Krakau, Simon Schreiber, wurde Dr. Bloch auch prompt aufgefordert, für den galizischen Wahlbezirk von Kolomea, Buczacz und Sniatyn zu kandidieren. Obwohl polnisch-jüdische assimilationistische Kreise dagegen Druck ausübten, wurde Bloch 1884, 1885 und nochmals 1891 ordnungsgemäß in den österreichischen Reichsrat gewählt. In den folgenden zehn Jahren sollte er der einzige Parlamentarier in Osterreich sein, der sich das jüdische Problem zu seinem Hauptanliegen machte und im Forum des Reichsrates immer wieder die jüdischen Werte verteidigte. 1884 begründete Dr. Bloch die Osterreichische Wochemchriji, die sowohl den Antisemitismus als auch assimilationistische Tendenzen innerhalb des österreichischen

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Judentums bekämpfen sollte. Das militante jüdische Selbstbewußtsein, das er in dieser Wochenzeitung zum Ausdruck brachte, und seine vehemente Unterstützung des Kabinettes von Graf Taaffe (das die von den orthodoxen Juden in Galizien allgemein vertretene Meinung wiedergab) verstärkte die Spannungen zur Gemeindeführung in Wien.59 Dr. Bloch blieb den Vorstellungen von Adolf Fischhof treu und verband weiter den Kampf für jüdische Rechte im Reich mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung für alle Nationalitäten.60 Gleichzeitig glorizifierte er - wie das Gros der orthodoxen Juden im Reich - den dynastischen Patriotismus der Habsburger. In seinem Buch Der nationale Zwist und die Juden in Osterreich (1886) entwickelte er ihn zu einem wahren Kult. Diese Aufsatzsammlung wurde auf Kosten der Regierung Taaffe gedruckt.61 In dieser Kampfschrift appellierte Rabbi Bloch an seine Glaubensgenossen, im Nationalitätenkampf neutral zu bleiben. Sie sollten die Assimilation zu Deutschen, Tschechen, Polen oder Ungarn vermeiden und sich vielmehr allein als „österreichische Juden" oder „jüdische Österreicher" fühlen. Diese Haltung kam zweifelsohne beim orthodoxen Judentum in Galizien an, stand jedoch in krassem Gegensatz zur Meinung der meisten westösterreichischen Juden, die sich als Deutsche fühlten.62 „Die nationale Exklusivität schließt nun einmal den Juden aus seinem Kreise aus", argumentierte Dr. Bloch, eine Tatsache, die einfach nicht ignoriert werden könnte. „Sobald das Volk von der Uberzeugung durchdrungen ist, nur dem Stammesgenossen Geltung zu gewähren, dann wird der kühnste Toleranzprediger es nicht zuwege bringen, den Jeiteles oder den Kohn als ,Stammesgenossen' dem Volk zuzumuten. Ohne zur lächerlichen Karikatur herabzusinken, können wir weder deutschnational oder tschechischnational uns gebärden und als Logik der Tatsachen und als Gebot politischer Klugheit ergibt sich für uns - außerhalb aller nationalen Parteien Stellung zu nehmen müssen."65

Bloch machte kein Hehl aus seiner Ablehnung der Rolle, welche die verwestlichten Juden in Osterreich bei „der Verbreitung und Verstärkung des deutschnationalen Gefühls" spielten, obwohl dies jetzt gegen sie zurückschlug.64 Diese äußerst kritische Haltung, seine Mitgliedschaft im „Polenklub" im österreichischen Reichsrat und seine unablässige Unterstützung des Kabinetts Taaffe verärgerten die Wiener jüdische Führung aufs äußerste.65 Dies bewirkte, daß der Gemeindevorstand im Jahr 1884 ablehnend auf Graf Taaffes Vorschlag reagieren sollte, Dr. Bloch, „ein Mitglied des Polenklubs", zum Professor für Hebräisches Altertum an der Universität Wien zu ernennen. In den Worten der von Dr. Jellinek und Emmanuel Baumgarten verfaßten Antwort an den Unterrichtsminister wäre eine derartige Ernennung „nichts Geringeres als eine Provokation der Wiener Juden".66 Dr. Bloch verteidigte trotz der unverminderten Passivität der Regierung in den

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80er Jahren des 19. Jahrhunderts angesichts der zunehmenden antisemitischen Agitation weiterhin Graf Taaffes Nationalitätenpolitik. Für diese offizielle Gleichgültigkeit machte er die hartnäckige Opposition der Wiener Juden gegen die konservative Regierung verantwortlich, die zu einer Zeit erfolgte, als sogar die „klerikalen" Antisemiten die Männer an der Macht unterstützten. Nach Meinimg von Dr. Bloch war Graf Taaffes Neutralität unvermeidlich, „umso mehr als auch die Juden sich zu seinen schärfsten politischen Gegnern schlugen und jeden Versuch verurteilten, den slawischen Völkern irgendwelche Konzessionen zu gewähren, als eine Schädigung deutscher Interessen ausschrien und verurteilten".67 Er wies darauf hin, daß Taaffe keine Vorurteile gegenüber Juden als solche hegte und daß er „mit großem Wohlwollen zahlreiche jüdische Rekurse gegen ungerechte Statthaltereientscheidungen in Galizien oder Westösterreich aufgenommen" hätte. Angesichts der berechtigten Uberzeugung, daß „die Wiener Juden seine unversöhnlichen Gegner" wären und seinen politischen Sturz wünschten, konnte von Taaffe jedoch nicht erwartet werden, daß er die antisemitische Agitation gewaltsam unterdrücke. Die österreichische Regierung könnte sich höchstens informell verpflichten, gegen gewalttätige „Exzesse" Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten.68 Die wirkliche Antwort auf den Antisemitismus müßte eine organisierte Selbsthilfe der jüdischen Gemeinde sein. In der allerersten Ausgabe der Österreichischen Wochenschrift (am 15. Oktober 1884) hatte Dr. Bloch an die jüdische Öffentlichkeit appelliert, eine der Selbstverteidigung gewidmete politische Organisation zu gründen. Er wies auf die Machtlosigkeit der bestehenden jüdischen Führung angesichts des Antisemitismus hin. „Alle Parteien befehden uns, keine nimmt auf uns Rücksicht, unsere Bundesgenossenschaft ist lästig und kompromittierend geworden. In unseren eigenen Reihen reißt die Mutlosigkeit ein, täglich vennehren sich die feigen Uberläufer. Unsere Führer legen aber die Hände in den Schoß und überlassen das Weitere der Vorsehung."69 Rassenintoleranz war zur zerstörerischen Leidenschaft geworden, „die sich in schrecklicher Brutalität aller niedrigsten Instinkte offenbart" und das Leben, die Gedanken und die Religion des Judentums in den grellsten Farben ausmalt. Die meisten Juden erkannten die Gefahr nicht klar, da sie im allgemeinen die antisemitischen Reden und Flugschriften nicht lasen, die täglich das Meinungsklima in der österreichischen Bevölkerung vergifteten. Viel schlimmer wäre jedoch, daß die führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde eine schändliche Schwäche, politische Machtlosigkeit und mangelnde moralische Energie zeigten, wenn sie mit den explosiven Kräften von Rassen-, Religions- und Klassenhaß konfrontiert würden. Sie flehten die Regierung an, ihre Bürgerrechte zu schützen, während sie gleichzeitig gegen deren allgemeine Politik waren.70 Die österreichischen Juden, die desorganisiert, zersplittert und machtlos seien, müßten von ihren Feinden lernen. Es müßte ihre Aufgabe sein, sich zu „einem Schutzbündnis" zusammenzutun „und die Bildung

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eines israelitischen Bürgervereins in Angriff zu nehmen!" Rabbi Bloch rief alle österreichischen Juden auf, „mit stolzem Haupte, in dem Bewußtsein, daß wir auf unserem Rechte bestehen, wollen wir uns sammeln und mit den geistigen Waffen, die uns zu Gebote stehen, den Kampf aufnehmen".71 Der militante 34jährige Rabbiner schloß mit einem bewegenden Aufruf, einen jüdischen Bürgerverein „zur Verteidigung unserer arg bedrohten politischen und sozialen Rechte" zu bilden.72 Für seine neue Wochenzeitung („ein Kampforgan zur Abwehr aller feindlichen Angriffe gegen das Judentum") sah Dr. Bloch eine zentrale Rolle im Feldzug gegen „die fatalistische Untätigkeit" vor, die „selbst die besten Geister unseres Volkes umfangen hält".73 Die Österreichische Wochenschriß sollte „das geistige Waffenarsenal in dem Kampf um die Ehre des jüdischen Namens" liefern. Ihr Ziel war es, einen unablässigen Angriff gegen die Verbreitung deutschnationaler Gedanken unter der jüdischen Jugend zu fuhren, so daß sie nicht „zum Helotendienste in dem häßlichen Kampfe der nationalen Parteien erniedrigt" würden.74 Auf einen scharfen Vorwurf von Baron Moritz von Königswarter (einem wichtigen jüdischen Mitglied des Herrenhauses und Gegner des Kabinetts Taaffe) bemerkte Rabbi Bloch treffend, daß nicht die Patrizier, sondern „die kleinen jüdischen Geschäftsleute und die armen schutzlosen Hausierer im Prater dem antisemitischen Mob verfallen sind".75 Der betonte anti-assimilationistische Ton von Dr. Blochs Programm wurde von Widersachern, wie Emmanuel Baumgarten und Dr. Heinrich Friedjung, unweigerlich als „Flucht in ein politisches Ghetto" gesehen.76 Die starke jüdische Militanz des galizischen Rabbiners löste bei vielen liberalen deutschfreundlichen Juden Befremden aus, die das Gefühl hatten, er lege eine zu starke Betonung auf seine Rassenzugehörigkeit. In seinen Erinnerungen räumte Dr. Bloch selbst ein, daß er die Wochenschrift „in national-jüdischem Geiste" geführt hätte, auch wenn er niemals dem zionistischen „Parteidogma" verfallen gewesen sei. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, daß die Kadimah schon 1884 eine warme Sympathie zu diesem „Organ des wahren, selbstbewußten Judentums" bekundete, das „von Nichtjuden so sehr verhöhnt, von Juden selbst so oft verpönt" wurde.77 Bei der Makkabäer-Feier der jüdischen Studentenverbindung am 17. Dezember 1884, zu der er von Beginn an freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatte, war Rabbi Bloch ein willkommener Ehrengast.78 Seine Rede zu diesem Anlaß feierte die Geschichte der Makkabäer als einen Sieg der Schwachen über die Starken, der Freiheit über die Tyrannei und der Spiritualität über brutale Gewalt. Er erinnerte die Studenten der Kadimah auch daran, daß die Feier militärischer Siege eine zutiefst unjüdische Sitte wäre. Es wäre die Pflicht der jüdischen Studenten, sich „den großen kulturellen Aufgaben" zu widmen, „die auf die Menschheit zukommen, und nicht anderen Völkern in Feindschaft zu begegnen".79 Rabbi Blochs Ruf als furchtloser Kämpfer gegen den Antisemitismus, seine Ent-

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schlossenheit, den Juden „ihre unentrinnbare Schicksalsgemeinschaft" zu Bewußtsein zu bringen und ihren Stolz auf eine gemeinsame „einzigartige, viertausendjährige, wenn auch leidensschwere, jedoch ruhmumstrahlte Vergangenheit" zu wecken, verband ihn mit den Bestrebungen der Kadimah. Wie die jugendlichen Begründer der Kadimah, hatte er sich verpflichtet, das jüdische Selbstbewußtsein zu stärken und den Kampf „gegen Verrat und Apostasie" in den jüdischen Reihen aufzunehmen.80 Es war daher nur natürlich, daß das Organ der Kadimah seinen Wahlsieg gegen Dr. Emil Byk (den polnisch-jüdischen Anführer der Assimilationisten im österreichischen Galizien) im Juni 1885 als einen „Ehrentag für das ganze jüdische Volk" feierte.81 Für den Herausgeber der Zeitung, den 21jährigen Nathan Birnbaum, war Dr. Bloch „der erste nicht-assimilatorische Jude im österreichischen Parlamente, der erste jüdische Reichsrathsabgeordneten, der Erste, der dem jüdischen Nationalgedanken ungemein nahegekommen ist, von welchem er sich auch hoffentlich, nicht mehr entfernen wird".82 1885 war der 35jährige Bezirksrabbiner nicht mehr ein unbekannter Außenseiter, sondern eine ernstzunehmende Kraft für Veränderungen in der Wiener Gemeindepolitik. Seine Initiativen waren von österreichischen Provinzgemeinden, von dem jüdischen „Mann von der Straße" und von jüdischen nationalistischen Studenten in Wien begeistert aufgenommen worden. Auch wenn ihn die Floridsdorfer Gemeinde als ihren Bezirksrabbiner entlassen mußte, hatte sich Dr. Bloch in Galizien rasch eine solide Wählerbasis geschaffen. Er war bei den orthodoxen und national gesinnten jüdischen Wählern hoch angesehen, genoß aber auch das Vertrauen einiger einflußreicher Politiker Galiziens, die ihm bei der Gründung der Osterreichischen Wochenschrift zur Seite standen. Zu diesen pohlischen, christlichen Freunden gehörte Franz Smolka, der Präsident des österreichischen Reichsrats (ein Bewunderer von Adolf Fischhof), und Alfred Graf Potocki, ein führender Staatsmann der galizischen Aristokratie.83 Von der polnischen Basis und seinem Sitz im Wiener Reichsrat aus führte der kämpferische kleine Rabbi ganz allein einen erstaunlichen Guerillakrieg gegen die wachsende Streitmacht der österreichischen Antisemiten. Zwischen 1883 und 1895 etablierte er sich als der wichtigste öffentliche Verteidiger jüdischer Verfassungsrechte in Österreich. Er war der erste österreichische Jude, der eine kohärente Verteidigungsstrategie entwickelte, die auf einer politischen Organisation und auf der Erkenntnis basierte, daß die Juden eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Schicksal hatten. Blochs Vorschlag eines „Bürgervereins", den er erstmals im Oktober 1884 machte, blieb nicht unbeachtet. Nach eineinhalb Jahren dauernden Verhandlungen kam es am 24. April 1886 zur Gründung der Osterreichisch-Israelitischen Union, deren erklärtes Ziel es war, eine Front „gegen den rapid um sich greifenden semitischen Antisemitismus" zu bilden.84 Die Union setzte sich haupt-

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sächlich aus jüngeren jüdischen Geschäftsleuten der Mittelschicht, aus Akademikern und Freiberuflern zusammen und war sowohl ein politischer Klub als auch ein Forum zur Förderung jüdischer Religion und Kultur und sollte junge Juden wieder der jüdischen Gemeinschaft zuführen. Das Vereinsprogramm sollte „der Centraipunkt sein fur die idealen Aufgaben der Juden in Osterreich ... welche sie im Dienste des Vaterlandes zum Nutzen und Frommen der staatlichen Gesammtheit an sich selber als Juden zu Volbringen haben ... eine Abwehr der Agitation, welche gegen uns und gegen Toleranz und Humanität geführt wird ... die Hebung des Judenthums in fremden und in den eigenen Augen, der Kampf nach innen gegen die schmachvolle Selbstpreisgebung und Erniedrigung, die Wiedergewinnung der beinahe uns ganz entfremdeten jüngeren Generation für unsere ruhmreichen viel tausendjährigen Traditionen." 85 Die Verbesserung der jüdischen Bildung und des religiösen Unterrichts wurde in den Unionsstatuten als erste Verteidigungsmaßnahme gegen die Unzufriedenheit verankert. Der Kampf gegen „Selbsthaß" im jüdischen Lager wurde als ein notwendiges Vorspiel für die Verteidigung jüdischer Rechte gegen den Antisemitismus gesehen. Gleichzeitig organisierte die Union unter Dr. Blochs Führung Protestversammlungen gegen die vom Antisemitismus erzielten Wahlfortschritte. In den 90er Jahren richtete sie Rechtsbüros zur Verteidigung von Juden ein, deren politische Rechte beschnitten worden waren. An der vorbereitenden Sitzung am 4. April 1885 in einem Gasthaus in der Leopoldstadt nahmen Dr. Bloch, die Anwälte Dr. Friedrich Elbogen und Dr. Sigmund Zins, der Universitätsdozent Dr. Josef Grünfeld, der praktische Arzt Dr. Emil Pins, die Bankiers S. G. Fischel, Bernhard Kanitz und J. H. Singer, der Gerichtsadjunkt Dr. Jakob Kohn und andere teil.86 Es wurde von der Gründung eines jüdischen Vereins gesprochen, „dessen Aufgabe es sein sollte, ein gemeinsames, zielbewußtes politisches Handeln in allen das Judentum betreffende Fragen herbeizuführen". Dr. Zins wurde zum Obmann des vorläufigen Komitees, Fischel zum Stellvertreter und Dr. Jacob Kohn zum Schriftführer gewählt. Der neue Verein veröffentlichte im Mai 1885 einen Aufruf an die Öffentlichkeit, der sich an die „Stammesgenossen" und nicht an die „Glaubensgenossen" richtete und die Entfremdung der jüdischen Jugend von ihrer eigenen Geschichte beklagte. Es wurde auch die Unzulänglichkeit der Kultusgemeinden angeprangert, den äußeren Bedrohungen zu begegnen, insbesondere wurde die Notwendigkeit betont, gemeinsam hart gegen den Antisemitismus anzukämpfen. 87 Der Programmentwurf der Union wurde von der österreichischen Regierung anfangs aus unerfindlichen Gründen abgelehnt. Die Statuten mußten außerdem ziemlich verwässert werden, bis sie den gemäßigteren Teilen der jüdischen Gemeinde annehmbar erschienen, die im Hinblick auf den Antisemitismus noch immer „die Politik der stillen Mißachtung einer offenen Konfrontation vorzogen". 88 Zum Zeit-

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punkt der konstituierenden Generalversammlung der Union im Festsaal der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer im April 1886 konnte der Verein nicht mehr als echte Bürgerverbindung angesehen werden. Das Ziel, „alle jüdischen Sonderinteressen" in Osterreich zu schützen und eine militante politische Selbstverteidigungsorganisation zu schaffen, war eindeutig gestrichen worden.89 Die Gründungsversammlung war der Inbegriff an Respektabilität, es nahmen verschiedene jüdische Stadträte, der Präsident der Kultusgemeinde, Vertreter der Israelitischen Allianz und anderer anerkannter jüdischer Einrichtungen teil.90 In seiner Eröffnungsrede erteilte Dr. Zins allen Vermutungen eine klare Absage, daß „separatistische" Bestrebungen zur Schaffung der Union geführt hätten. Er betonte die „Pflichten der österreichischen Juden zu einem starken österreichischen Patriotismus", ob sie sich nun als Deutsche, Tschechen oder Polen sahen. Der Obmann spielte auch die Gefahren der Judäophobie mit dem Satz herunter: „Wenn der Antisemitismus bekämpft werden soll, muß beim jüdischen Antisemitismus begonnen werden. Unsere Aufgabe ist zunächst die Hebung des Judentums in fremden und in den eigenen Augen ..." 91 Außerdem betonte Dr. Zins, daß die Union nicht „für Judenrecht", sondern „für Menschenrechte der Juden" eintrete, für Werte nicht nur „des Judentums, sondern der Menschheit, für „Wahrheit, Freiheit und Recht".92 Die klare Verwässerung von Dr. Blochs kämpferischer Idee eines Bürgervereins spiegelte sich nicht nur in den Statuten, sondern auch in der mittelständischen Zusammensetzung der Vorstandsmitglieder wider. Nicht weniger bezeichnend ist die offizielle Aufforderung an den konservativen Rabbiner Moritz Güdemann, die Versammlung mit einem Vortrag über „Die Bedeutung der jüdischen Wissenschaft für das Judentum" abzuschließen.93 Jacob Touiys strenges Urteil, daß „ein neuer, kulturbeflissener, politisch liberaler, aber nicht überaktiver Klub gegründet worden war, der sich aus der neueren, nach oben strebenden Schicht der Wiener jüdischen Mittelklasse zusammensetzte" ist zwar unverhältnismäßig scharf, aber nicht ganz danebengegriffen.94 Es sollte nicht vergessen werden, daß die Union im jüdischen Gemeindeleben eine gewichtige Rolle spielen sollte und in der Praxis eine Schlüsselposition bei der allmählichen Politisierung gewisser Teile der Wiener jüdischen Mittelklasse ausübte.95 Diese Aufgabe konnte von der Kultusgemeinde nicht übernommen werden, da dieser in ihren offiziellen Statuten eindeutig das politisch-rechtliche Mandat fehlte, einen Gegenangriff gegen den Antisemitismus zu führen. Im Jahr 1885 gab es kein anderes österreichisches jüdisches Organ, das in der Lage war, die Verteidigung der gefährdeten jüdischen Rechte zu übernehmen. Die Union füllte dieses Vakuum aus. Sie versuchte jedoch nicht, außerhalb des in den Regierungsstatuten von 1890 festgelegten Rahmens jüdischer Selbstdefinition zu agieren. Wie der Gemeindevorstand vertrat auch die Union die Auffassung, daß die Juden in erster Linie eine

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religiöse und keine nationale Gemeinschaft in Österreich seien. Außerdem wurden die meisten Schlüsselpositionen in der Kultusgemeinde wenige Jahre nach ihrer Gründung unbestreitbar von Unionsmitgliedern besetzt. Diese Tatsache versinnbildlicht mehr als alles andere die friedliche Vereinigung mit dem älteren jüdischen Establishment. Und dennoch bedeutet das Entstehen der Union auch einen Bruch mit früheren Verhaltensmustern jüdischer Passivität angesichts von äußerem Druck, von Provokation und Aufwiegelung. Die Union bot nicht nur einen neuen organisatorischen Rahmen für die Wiener jüdische Mittelschicht; es konnte dort auch verstärkt jüdischer Stolz und jüdische Identität zum Ausdruck gebracht werden.96 Obwohl die Union deutlich weniger selbstbewußt auftrat und „assimilationistischer" war als Dr. Bloch ursprünglich beabsichtigt hatte, hinderte ihn dies nicht, bei den Plenarsitzungen regelmäßig als Sprecher in Erscheinung zu treten und den Vorstand zu beraten.97 Wie Dr. Bloch in seinen Erinnerungen bemerkte, wurde seit den frühen 90er Jahren außerdem „der Drang und das Bedürfnis nach politischer Betätigung immer stärker, der Judenhaß nahm in den unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung immer wildere Formen an, es galt der Abwehr feindlicher Angriffe stete Aufmerksamkeit zuzuwenden".98 Das passivere Verhalten des Vorstands der Kultusgemeinde, das früher durch solch einflußreiche Mitglieder wie Emmanuel Baumgarten symbolisiert wurde, wich langsam einer aktiveren Haltung, was in hohem Maße dem Wirken der Union zuzuschreiben war.99 Nach 1889 wurde Dr. Bloch vom jüdischen Establishment Wiens allmählich anerkannt, nachdem er seine früheren oppositionellen Neigungen etwas gemäßigt hatte. Nicht nur die orthodoxen Kreise in Galizien oder Wien, sondern auch die assimilationistischen Laienführer der Kultusgemeinde anerkannten Rabbi Bloch langsam als ihren wirksamsten Repräsentanten im Reichsrat. Seine kraftvolle, beißende Rede in der Parlamentssitzung vom 11. Februar 1890, in der er den Talmud gegen seine Verleumder verteidigte und die Arglist der österreichischen Antisemiten mit vernichtender Ironie bloßstellte, machte auf Juden und Nichtjuden einen überwältigenden Eindruck.100 Geistreich legte Dr. Bloch die Doppelbödigkeit bloß, auf welcher der Antisemitismus gedieh. „Meine Herren! Uns gegenüber werden alle Begriffe von Recht und Unrecht, von Tugend und Laster, in das Gegenteil gewandelt... Was für jeden anderen Tugend ist, bei den Juden gesehen, wird es zum ärgsten Laster. (Zuruf: Oho!) Sie sagen, ich übertreibe? Meine Herren, Bildungsstreben ist doch gewiß eine Tugend ... man preist die Familienväter, die ihr Letztes daran setzen, ihren Kindern höhere Bildung zu gewähren. Uns Juden aber klagt man an des Verbrechens, weil wir einen unverhältnismäßig höheren Prozentsatz in die Schulen senden. Der Abgeordnete Turck [sie!] zählt uns nach: So und soviele Judenkinder gehen in die Volksschule, in Gymnasien, auf die Universitä-

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ten. Also bei den Christen ist es eine Tugend, bei den Juden wird es ein Laster. Allein man sollte wenigstens dabei konsequent bleiben, daß Schulfreundlichkeit, daß Unterrichtnehmen ein Laster ist für den Juden. Aber nein, in Galizien besuchen die jüdischen Kinder - so sagen die Judenankläger - keine Schule. Das ist auch ein Laster! (Schallende Heiterkeit.) ... Dem Juden nützt eben gar nichts. Er kann es nie recht machen. Gibt er viel aus, so ist er protzig, ein Verschwender; gibt er wenig aus, so nennt man ihn schäbig, einen Geizhals. Zieht er sich von den politischen Parteien zurück, so ist er vaterlandslos; nimmt er teil am öffentlichen Leben, so ist er vordringlich, anmaßend (Heiterkeit); geht er mit der Regierung, heißt es: ja, der Jude geht immer mit den Mächtigen (lebhafte Heiterkeit), geht er mit der Opposition, ja, dann verhetzt er die poütischen Parteien. (Erneute Heiterkeit.) In einer Floridsdorfer Versammlung hat man gar entdeckt: Die Juden haben die tschechische Frage erfunden. (Schallende Heiterkeit.)"101 Zum Schluß seiner Rede beharrte Dr. Bloch: „Der nationale Antisemitismus ist ein Wahnwitz, denn er kehrt sich gegen das vornehmste nationale Interesse. Es gibt für das nationale Interesse der Deutschen absolut nichts so Heiliges, als das Gastrecht und die Deutschen sollten die Letzten sein, Europa das Beispiel zu geben, andere Volksstämme, weil sie fremd sind, zu bedrängen und zu bedrohen."102 Dr. Bloch Schloß dramatisch, indem er die Gastfreundschaft, wie sie im Altertum im jüdischen Staat in Palästina praktiziert wurde, dem modernen antisemitischen Gedanken der Ausrottung des Fremden gegenüberstellte. Diese Rede hatte eine außerordentliche Gesamtwirkung. Zum ersten Mal in der österreichischen Parlamentsgeschichte hatte ein jüdischer Abgeordneter die Antisemiten auf deren eigenem Boden besiegt.103 Als die Berichte der Parlamentsdebatten die Provinzen erreichten, erhielt Dr. Bloch mehr als tausend Danktelegramme von österreichischen und ungarischen Abordnungen, einige davon enthielten Unmengen von Unterschriften. Sein alter Rivale, Adolf Jellinek, fühlte sich bemüßigt, in der Neuzeit zu schreiben, daß es für jüdische Wähler im Bezirk Kolomea-Buczacz-Sniatyn „eine heilige Pflicht" wäre, Dr. Bloch bei den kommenden Parlamentswahlen wiederzuwählen. „Wie auch die neuen Wahlen ausfallen mögen, so viel ist sicher, daß Antisemiten der niedrigsten und gemeinsten Sorte im künftigen Reichsrate erscheinen werden, und da diese unverbesserlich sind, so werden sie wieder bei jeder passenden und impassenden Gelegenheit mitfrechemHohne und der Beredsamkeit des Wirtshauses über die Juden herfallen,..., deren Glauben, Moral und Lebensführung beschmutzen, das österreichische Parlament und den österreichischen Namen schänden. Da muß ein Repräsentant des Judentums auf der Warte stehen, kampfgerüstet sein, um unsere Feinde, ..., niederzuschmettern."104

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Nach einem harten, aber erfolgreichen Wahlkampf rechtfertigte Dr. Bloch weiterhin den Glauben seiner jüdischen Wahler in Galizien an seine polemischen Fähigkeiten. In einer stürmischen Parlamentsdebatte im Juni 1891 widerlegte er in einer Antwort an Prinz Alois Liechtenstein anhand von Fakten und Zahlen den Mythos, daß die Juden eine monopolistische Kontrolle über österreichische Banken, die Börse, den Großhandel oder das produzierende Gewerbe ausübten.105 Am 20. Oktober 1891 verteidigte er mit charakteristischer Derbheit jüdische Arzte gegen die Verleumdungen christlichsozialer Abgeordneter. „Reden wir einmal offen und ehrlich! Meine Herren! Wie ist es eigentlich? Die Herren Antisemiten schimpfen hier bei uns über die jüdischen Arzte und nicht hier allein, sie gehen auch in Volksversammlungen, reizen das Volk gegen die jüdischen Arzte auf, aber wenn sie selbst krank werden, dann rufen sie nicht den antisemitischen Bader, sondern den tüchtigen jüdischen Arzt. Ich glaube sogar, daß dort auf der äußersten Linken, in der nächsten Nähe des Herrn Dr. Lueger Leute sitzen, die sich von jüdischen Ärzten behandeln lassen".106 In einer Antwort auf Ernst Schneiders Behauptung, daß im Wiener Allgemeinen Krankenhaus „nur christliche Leichen seziert werden und jüdische Leichen nicht", erläuterte Dr. Bloch in aller Ruhe die humanitäre Rolle der Cheivra Kaddischah und jüdische religiöse Ansichten über das Begräbnis und die Unsterblichkeit der Seele. „Bei uns Juden existiert in jeder, auch in der kleinsten jüdischen Gemeinde eine Beerdigungs-Brüderschaft. Sie hat die obligatorische Pflicht, jede Leiche, auch des ärmsten Juden, der Beerdigung in einem besonderen Grabe zuzuführen. Wir haben in Wien auch einen solchen Verein, und dieser erachtet es als seine heilige Aufgabe, jede jüdische Leiche aus dem Krankenhause zu beerdigen. Sie sehen den Gemeinderat Gustav Simon bei jeder Beerdigung, auch bei der Leiche des Ärmsten der Armen, er ermüdet nie in Erfüllung seiner Pflicht. Diese Vereine sind bei uns älter als die Kultusgemeinden, so alt wie die jüdische Diaspora. Ja, Sie nennen sich eine,christlichsoziale' Partei; machen Sie es hier den Juden nach (Abg. Dr. Lueger: Wir haben kein Geld dazu), Sie haben ja reiche Leute genug in Ihrer Mitte, ζ. B. Seine Durchlaucht Fürsten [sie!] Liechtenstein; gründen Sie einen solchen Verein, üben Sie christliche Nächstenliebe! Anstatt das Geld zu antisemitischen Agitationszwecken auszugeben,,machen Sie es wie die Juden', tun Sie ein christliches Werk der Barmherzigkeit, gründen Sie einen solchen Verein."107 Während der Parlamentssitzung vom 25. November 1892 lieferte sich Dr. Bloch ein Rededuell mit einem weiteren Wiener antisemitischen Abgeordneten, Dr. Schlesinger (einem Professor an der Hochschule für Bodenkultur), über die jüdische Verantwortung für den weißen Sklavenhandel in Galizien. Während Rabbi Bloch „diesen

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schändlichen und unehrenhaften Handel" verurteilte, wies er jedoch gleichzeitig darauf hin, daß die Bordellbesitzer in jeder größeren Stadt in Ober- und Niederösterreich, in Schlesien, der Steiermark, Böhmen und Mähren „rassenreine Arier sind, Stammes- und Glaubesgenossen des Herrn Redners (Heiterkeit)". Und doch hätte sich Herr Schlesinger nicht der Mühe unterzogen nachzufragen, „wie viele solche arische Häuser in Wien existieren", noch hätte er erwähnt, daß „ein antisemitischer Obergötze", Georg Ritter von Schönerer, das väterliche Haus in Wien „in einen Venustempel" verwandelt hatte, „um seine Mutter und Schwester zu zwingen, das Haus zu verlassen". Dr. Bloch nahm sich kein Blatt vor den Mund und informierte das Haus: „Ich habe einmal einen deutschnationalen Studenten, einen Verehrer des Herrn von Schönerer, befragt, wie es kommt, daß Schönerer sein Haus in der Krugerstraße in ein Β ... verwandelt hat? Er antwortete mir: ,Das ist ein altgermanisches Institut.' Nim, es haben sich einige Juden germanisiert."108 Auf die gleiche kämpferische Weise verteidigte Rabbi Bloch jüdische Ansichten betreffend die Schechita (Tierschlachtung) gegenüber Schmähungen von Abgeordneten wie Dr. Pattai und machte damit die alldeutschen Bemühungen zunichte, Juden als ein kriminelles Element in der österreichischen Gesellschaft hinzustellen.109 Mit besonderem Vergnügen führte er eine öffentliche Kampagne gegen den Ritualmördermythos, wie er von Dr. Josef Deckert gepredigt wurde. Er reichte in Wien eine Klage ein, die sofort eine Sensation auslöste.110 Dr. Deckert hatte in der einflußreichen Wiener Zeitung Das Vaterland einen Artikel publiziert, der auf der falschen Aussage von Paulus Meyer, eines getauften russischen Juden (der ihm von Dr. Rohling empfohlen worden war), beruhte. In diesem Artikel behauptete Dekkert, „daß das Blutritual auf eine unter den Chassidim als Geheimlehre fortgepflanzte mündliche Uberlieferung begründet ist, die auch in der Kabbala sich findet".111 Nach Aussage des Pfarrers finden diese Morde bei den chassidischen Juden noch immer statt, Meyer erweckte sogar den Eindruck, selbst „Augenzeuge bei der Schächtung mehrerer christlicher Kinder" gewesen zu sein. Der Rechtsstreit wurde zu einer Zeit von Dr. Bloch angestrengt, als christlichsoziale Aufwiegler wie Ernst Schneider eifrig den Ritualmordmythos bei den einfacheren Leuten in Wien und in den deutschen Provinzen verbreiteten. Dr. Deckert wurde bei Gericht von führenden antisemitischen Abgeordneten, wie Dr. Pattai und Dr. Porzer (ein getaufter Jude), verteidigt. Nach Blochs eigener Schilderung hatte sich „der giftiggeschwollene Judenhaß wohl selten so nackt und hüllenlos wie bei diesem Prozesse" gezeigt.112 Die drei Angeklagten, Paulus Meyer, Dr. Josef Deckert und Franz Doli (der verantwortliche Herausgeber von Das Vaterland), wurden schließlich vom Wiener Landgericht „wegen des Vergehens gegen die Sicherheit der Ehre" schuldig gesprochen. Meyer wurde zu vier Monaten Gefängnis, Deckert zu einer Geldstrafe von 400

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Gulden und Franz Doli zur Zahlung von 200 Gulden verurteilt. In einem Leitartikel kommentierte Moritz Szeps' Wiener Tagblatt am 16. September 1895, daß der Prozeß „jenen die Augen öffnen" sollte, „welche in der Antisemitenfrage eine akademische Angelegenheit zu erblicken gewöhnt sind", insbesondere jene etablierten Kreise, die über die Bewegung „mit einer gewissen Schonung und Billigung" sprechen. Das Wiener Tagblatt schloß hoffnungsvoll, daß dieser Prozeß „für diese hohen Kreise eine Lehre [sein möge], nicht die bösen Instinkte der niederen Kreise aufzustacheln; denn die einmal entfesselte Leidenschaft fragt nicht nach der Abstammung des Opfers und sie bleibt gewiß nicht beim Juden stehen".113 Dr. Blochs Sieg im Deckert-Prozeß führte einmal mehr vor Augen, welch Stachel er im Fleisch der Wiener Judenhetzer geworden war. Sie bemühten sich nun verstärkt, ihn aus dem Reichsrat zu entfernen. Prinz Liechtenstein, Ernst Schneider und andere antisemitische Abgeordnete versuchten fieberhaft, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß Dr. Bloch unrechtmäßig gewählt worden war. Gleichzeitig verstärkten sie den Druck auf den Polenklub, ihn zur Niederlegung seines Mandats zu bewegen.114 Die galizischen Polen opferten Bloch schließlich für eine Koalitionsvereinbarung mit den Christlichsozialen. Nach 1895 hatte das österreichische Judentum daher seinen wichtigsten Vertreter im Parlament verloren.115 Von den zwölf jüdischen Abgeordneten, die nach den Wahlen von 1891 im österreichischen Reichsrat saßen, war Dr. Bloch der einzige gewesen, der in besonderer Weise die jüdischen Interessen verteidigt hatte. Die anderen Mitglieder des Polenklubs leisteten den Anordnungen ihrer aristokratischen Herren brav Folge, wobei Dr. Byk hier manchmal eine Ausnahme machte. Ebenso übten tschechische und deutsche Abgeordnete „mosaischen Glaubens" bei jüdischen Fragen Zurückhaltung.116 Sogar ein so gewandter Sprecher der Deutschradikalen wie Dr. Heinrich Jaques, der den Bezirk Innere Stadt (ein wichtiger jüdischer Wohnbezirk) vertrat, vermied im allgemeinen die Erwähnimg der „Judenfrage". Dr. Jaques gab in einer Rede vor der Union am 7. Februar 1891 über „die Pflichten eines Abgeordneten" zu verstehen, daß dieses Schweigen mehr als alle andere das Widerstreben seiner eigenen Partei widerspiegelte, sich diesem als peinlich angesehenen Problem zu stellen.117 Trotz seiner Niederlage bei den Reichsratswahlen von 1895 konnte Dr. Bloch seinen pädagogischen Feldzug gegen den Antisemitismus in der Österreichischen Wochenschrift fortsetzen. Seit ihrer Gründung im Jahre 1884 hatte diese Zeitschrift die Juden Österreichs gelehrt, ihr Judentum mit Stolz und Würde zu tragen. Jede Woche erreichte sie Leser in den entferntesten Winkeln der Habsburgermonarchie, sie fungierte als Leitfaden fur deren Gedanken über jüdische Fragen und als Forum fur alle wichtigen Themen des österreichischen Judentums.118 Wie die liberale Neuzeit betonte auch sie die Funktion des österreichischen Kaiserstaates, der auf nationaler und konfessioneller Gleichberechtigung basierte, dessen Wohlstand und Uberleben

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für die Juden äußerst wichtig war.119 In der Zeitschrift wurde von Kaiser Franz Joseph ein leuchtendes Bild als salomonischer Herrscher, als Fürst des Friedens und der Gerechtigkeit gezeichnet, der sich nur um Harmonie und Übereinstimmung seiner Untertanen sorgte.120 Schon in den ersten Ausgaben machte die Österreichische Wochenschrift systematisch deutlich, welche Gefahren vom rassischen Antisemitismus (der dem Boden des deutschen Nationalismus entsprungen war) nicht nur fur die Juden, sondern für das Überleben des österreichischen Staates selbst ausgingen. Diese beiden Fragen waren bei Dr. Bloch untrennbar miteinander verbunden.121 Wie die Osterreichische Wochenschriß betonte, waren die Alldeutschen in Osterreich auch die Partei des „Vaterlandsverraths".122 In letzter Konsequenz waren sie Handlanger preußischer Politik, die sich in erster Linie Berlin verantwortlich fühlten. Für sie war Osterreich lediglich die germanische „Ostmark". Die Wiener Universitätsjugend war vom nationalistischen Antisemitismus angesteckt worden, sie wandte sich gegen den habsburgischen Staat und nahm regelmäßig an antiösterreichischen Demonstrationen teil.123 Die neue Generation kehrte sich von den alten liberalen Idealen der akademischen Freiheit ab und war von den niedrigsten Leidenschaften der nationalen Intoleranz und des Rassenhasses infiziert. Universitätsprofessoren, Oberschullehrer und Studenten, sie alle waren hoffnungslos vom barbarischen Antisemitismus angesteckt worden.124 Durch seine brutale Gesetzlosigkeit hatte Schönerer den Staat zur Reaktion gezwungen, aber, wie Blochs Wochenzeitung betonte, sein kurzes Verschwinden 1888 war kein Grund zur Freude.125 Der Antisemitismus unter den Freiberuflern, in den aristokratischen Salons, den klerikalen Kreisen oder bei den habsburgischen Beamten war weitaus gefahrlicher, gerade weil er respektabler war. Es existierte noch immer ein versteckter, aber nicht weniger wirksamer Ausschluß von Juden aus dem Staatsdienst, den Universitäten, dem Militär, von Handelsvereinigungen und auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens. Im Mai 1888 wies die Wochenschrift auf die Gefahren des klerikal-patriotischen (schwarzgelben) Antisemitismus hin, wie er vom Vaterland und den Anhängern von Karl von Vogelsang verbreitet wurde.126 Dieser katholische Antisemitismus, der vom feudalen Adel getragen und von der Kirche unterstützt wurde, war den Interessen des Staates nicht weniger abträglich als dessen deutschnationale Gegenspieler. Die „Vereinigten Christen" nährten die mittelständische Ablehnung des Liberalismus, des Kapitalismus und des Judentums mit dem Ziel, eine Massenbewegung aufzubauen, die das jüdische Kapital enteignen würde. Geschickt verwendeten sie „christliche" Schlagworte, um für die Wähler an Attraktivität zu gewinnen.127 Dieser Zynismus wurde im Charakter ihres Anführers, Dr. Karl Lueger, perfekt verkörpert, der in demselben Sinne antisemitisch war, wie er fromm war. Nach Dr. Bloch „wußte er jede öffentliche Angelegenheit in irgend einer Art sofort auf den

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Judenpunkt umzubiegen und er war sicher, daß solche Töne an die Saiten der Seele seiner Zuhörer sofort rührten". 128 „In der Kunst, das Judenthema zu variieren, war Dr. Lueger ein unerreichter Meister und mit der Variierung dieses Themas erntete er rauschenden Erfolg." Bloch verharmloste keineswegs Luegers Antisemitismus, er erkannte jedoch dessen Ambivalenz. Dr. Bloch erinnert sich, daß Lueger als Student häufig mit jüdischen Kollegen verkehrt hatte. Sein politischer Mentor war ein radikaler Jude gewesen, Dr. Ignaz Mandl, mit dem er später aus Rücksicht auf seine Karriere nicht mehr verkehrte. Lueger war auch ein großer Bewunderer von Adolf Fischhof gewesen. Bloch stellte Überlegungen an, daß Lueger seinen liberalen Idealen möglicherweise sehr wohl treu geblieben wäre, wenn Fischhof die Gründung einer demokratischen deutschen Partei gelungen wäre. Sogar nachdem er an die Macht gekommen war, blieb der Wiener Bürgermeister mit den jüdischen Freunden aus früherer Zeit auf dem „Duzfuß". Aber, wie Rabbi Bloch bemerkte, Lueger hatte nie den Mut, öffentlich für das einzustehen, was er bereit war, privat und im stillen zu tun. Die Ambivalenz war im Charakter dieses Mannes, seiner Kultur und Gesellschaft zu stark verankert. „Lueger hat den Kampf gegen die Juden en masse wie einen Feldzug, ohne Schonung und Menschlichkeit, auch ohne Uberzeugung, bloß taktisch geführt, aber wenn er einem jüdischen Magistratsbeamten, der sich über seine Präterierung beklagte, sagen mußte, daß er keine Aussicht auf Avancement habe, so zeigte er ihm unverhohlen sein Mitleid und Bedauern." 129 Bloch anerkannte Luegers Führungstalent, seine persönliche Unbestechlichkeit und seine Leistungen als fähiger Stadtverwalter, der Wien modernisiert hatte. Er sah aber über die negative Bilanz nicht hinweg - Luegers Verantwortung „für die Leiden einer gehässig verfolgten und bedrückten Minderheit". 130 Die zentrale Frage für die Österreichische Wochenschrift blieb jedoch die adäquate jüdische Antwort auf den österreichischen Antisemitismus. In diesem Punkt unterschied sich Blochs Wochenzeitung vom liberalen Standpunkt. Sie verwarf vehement „das Resultat der beinahe zehnjährigen Unthätigkeit" im Kampf gegen den gesellschaftlichen Antisemitismus, die Isolierung und Zersplitterung der österreichischen Juden sowie die Reformtendenzen der Wiener Kultusgemeinde. Der Antisemitismus war keine Folge des Unvermögens der Juden sich zu assimilieren. Er spiegelte vielmehr die Unfähigkeit der mitteleuropäischen Nationen in der postemanzipatorischen Zeit wider, eine derart große Zahl von Neuankömmlingen zu verkraften. 151 Die Anstrengungen der österreichischen Juden, sich ihrer nationalen, kulturellen und religiösen Merkmale zu entledigen, um den Antisemitismus zu verringern, waren daher zum Scheitern verurteilt. Jede Beschleunigung dieser Bemühungen betonte lediglich die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden. Die Juden konnten noch so selbstlos und aufopfernd sein, weder die Deutschen noch die Slawen würden sie jemals als ihresgleichen ansehen, auch wenn sich die

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Juden der nationalen Sache in chauvinistischem Eifer verschrieben. Sie würden immer „Stiefkinder" bleiben, ein fremdes Element unter den Nationen der Monarchie. Aber wo soll „die Achtung des Christen vor einem solchen Juden herkommen", wenn ein so großer „Theil der Judenthums an der selbstmörderischen Verachtung seiner Religion und seines Stammes verloren geht?" Nur wenn die Wiener Juden wieder „sich selbst achten lernen", konnte man den Antisemitismus verdrängen.132 Die „selbstmörderische Verachtung seiner Religion und seines Stammes" seitens vieler Wiener Juden verstärkte lediglich das Mißtrauen der Nichtjuden. Die Wochenschrift lehnte die Bemühungen gewisser Glaubensgenossen ab, den leichtlebigen Hedonismus der Wiener nachzuahmen, sie verurteilte, daß jüdische Frauen ihren Schmuck zur Schau stellten, und machte sich über den gesellschaftlichen Aufstieg wohlhabender Juden lustig, die versuchten, zu den aristokratischen Salons Zugang zu erhalten. Ein derartiges Verhalten provozierte den Neid ihrer christlichen Mitbürger.133 Noch viel ärgerlicher war das Uberhandnehmen von „jüdischen Maulhelden des nationalen Chauvinisten, welche im Lager aller nationalen Parteien die dem Renegaten eigenthümliche fanatische Maßlosigkeit entfalten" und dadurch die geheiligsten jüdischen Traditionen aufgaben.134 Ihrem jüdischen Erbe entfremdet, mit keinerlei Sinn für jüdische Geschichte spielten sie in die Hände nationalistischer Antisemiten. Für Dr. Bloch war der große Historiker und Ideologe des österreichischen Pangermanismus, Heinrich Friedjung, das Symbol dieser politischen Pathologie, der in seiner Deutschen Wochenschrift behauptet hatte, das Judentum sei zum Aussterben verurteilt.135 Als Friedjung anläßlich einer politischen Diskussion am 14. März 1891 Rückhalt bei der Österreichisch-Israelitischen Union suchte, verweigerte Bloch dies kategorisch. Nach Blochs Meinung hatten Friedjung und andere germanisierte Juden Exzesse im politischen Nationalismus gefordert. Die von nationaler Exklusivität getragenen neurotischen Ängste, Leidenschaften und Haßgefuhle lagen dem zeitgenössischen europäischen Antisemitismus zugrunde. Die Ablehnung jüdischer „Fremder" in ihrer Mitte war in der Logik des nationalen Fanatismus begründet, wie Beispiele in Deutschland, Ungarn, Rußland und Rumänien zeigten. Der europäische Liberalismus, der eine Generation lang „das geistige Asyl" der Juden war, ihr „schützender Port nach tausendjähriger Heimatlosigkeit", ergab sich überall widerstandslos dem Sirenengeheul des Nationalismus.136 Juden, die unbedachterweise in den Nationalitätenkonflikten zwischen Tschechen und Deutschen, Polen und Ruthenen, Ungarn und Slawen Stellung bezogen, befanden sich bald in einer ausweglosen Situation. Die bitteren Nationalitätenkämpfe in der Monarchie, argumentierte Dr. Bloch überzeugend, „mußten gegen die unbequeme und unverdaute jüdische Minorität sich kehren ... gegen die ,Fremdlinge' im eigenen Lager".137 Die Juden hätten keine andere Wahl als wieder Juden zu werden, österreichische Juden.

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Die österreichischen Juden konnten sich jedoch nicht allein auf das Wohlwollen des Kaisers oder den gesetzlichen Schutz durch die Regierung verlassen. Der wachsende Antisemitismus auf allen Ebenen der österreichischen Gesellschaft, die zunehmende Hetzpropaganda und die sich verschlechternde Situation der armen Juden erforderten eine gemeinsame Reaktion, die sich auf die althergebrachten Grundsätze jüdischer Solidarität und Selbsthilfe stützte.138 Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mündete diese Forderung in dem Ruf nach besser organisierten, systematischen Abwehrreaktionen, um die Verletzung von grundlegenden Bürgerrechten zu verhindern.139 Die Tatsache, daß eine neue Koalitionsregierung diskriminierende gesetzliche Maßnahmen gegen jüdische Hausierer vorgeschlagen hatte, obwohl einige liberale Minister dem Kabinett angehörten, war eines der beunruhigenden Symptome des Zeitgeistes.140 Die Unfähigkeit der Behörden, aufwieglerischen antisemitischen Artikeln Einhalt zu gebieten oder Hetztiraden bei öffentlichen Versammlungen im Gemeinderat, im Niederösterreichischen Landtag oder im Reichsrat einzuschränken, war ein weiterer Grund zur wachsenden Beunruhigung.141 Der Hexensabbath in den gesetzgebenden Organen und der Presse wurde dieser beängstigenden Laxheit der österreichischen Regierung zugeschrieben. Wie die liberale Presse, beklagte auch Dr. Blochs Wochenzeitung die eindeutigen Verletzungen der Verfassung und die mangelnde Bestrafung öffentlicher Verleumdungen gegen jüdische Bürger.142 Die Behauptung der österreichischen Behörden, daß sie nur bei ausdrücklichen Verstößen gegen Recht und Ordnung einschreiten könnten, wurde als böse Absicht angesehen. Eine offizielle Neutralität ermutigte lediglich die Apostel des Rassenhasses, ihre Verleumdungen umso stärker fortzusetzen.143 Man hatte nun das Gefühl, daß die österreichischen Juden sowohl von der Regierung als auch von der liberalen Partei aus Furcht vor dem wachsenden Rückhalt der antisemitischen Parteien in der Bevölkerung im Stich gelassen worden waren.144 Es überrascht nicht, wenn jetzt Stimmen laut wurden, die eine organisierte Selbstverteidigung der Wiener Juden in Anlehnung an den deutschen Centraiverein befürworteten. Dies schien die beste Möglichkeit zu sein, den Gefühlen von Ohnmacht und Verzweiflung in der Gemeinde angesichts des Antisemitismus zu begegnen.145 Die Österreichisch-Israelitische Union war in den 90er Jahren das einzige zur Verfügung stehende Forum, das eine derartige gemeinsame Aktion durchführen konnte. Ihre internen Diskussionen vermitteln vielleicht am besten die Stimmung der Wiener mittelständischen Juden zur damaligen Zeit.146 Schon im April 1891 hatte die Union die Juden vor möglichen Konsequenzen einer antisemitischen Mehrheit im Wiener Gemeinderat gewarnt - vor unberechtigten Steuererhöhungen, Einschränkungen jüdischer Unternehmen, der Ablehnung, öffentliche Gelder jüdischen Einrichtungen zukommen zu lassen, und vor den schädlichen Auswirkungen des zu-

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nehmenden Antisemitismus unter katholischen Lehrern auf jüdische Kinder. Sie drängte daher die jüdischen Wähler, die von der Union unterstützten deutschliberalen Kandidaten bei der Wahl massiv zu unterstützen. Die Unionsführung wies darauf hin, daß dies „eine Existenzfrage nicht nur für unsere Glaubengenossenschaft, sondern für jede gesittette Gesellschaft" sei. Aus bürgerlichem Patriotismus und im Namen liberaler Werte wurden die Wiener Juden aufgefordert, einen antisemitischen Sieg zu verhindern.147 Die energische Verteidigung jüdischer Interessen, so wurde erklärt, „habe nie außer Acht gelassen ..., daß die jüdische Wählerschaft nicht als solche, sondern als freie Bürger eines freien Staates von den ihr... gewährleisteten Rechten den richtigen Gebrauch machen müsse".148 Die Union versuchte auch auf die Entwicklung eines Solidaritätsgefühls unter den jüdischen Parlamentsabgeordneten hinzuarbeiten, auch wenn dies wenig Widerhall fand. Wie ihr Vizepräsident Dr. Marcus Spitzer bemerkte, hatte die jüdische Solidarität bis dahin sehr zu wünschen übriggelassen, da es im allgemeinen Dr. Bloch überlassen blieb, allein gegen Ernst Schneider und dessen christlichsoziale Kollegen zu kämpfen.149 Die passive Haltung der jüdischen Parlamentarier und das geringe Interesse der liberalen Partei an „jüdischen Fragen" war Gegenstand wachsender Kritik innerhalb der aktiveren Kreise der Union. Andererseits wurden von der Unionsfuhrung jedoch Vorwürfe zurückgewiesen, daß der Kultusgemeindevorstand keine wirksamen Schritte gegen den Antisemitismus unternommen hätte.150 Vielleicht war die Zusammenarbeit und Überschneidung der beiden Gremien zu eng, um diesbezüglich eine strenge Selbstkontrolle ausüben zu können. Die zentrale Frage, welche die Union in den 90er Jahren beschäftigte, blieb jedoch, wie sehr sie noch die bedingungslose Unterstützung für die Deutschliberalen befürworten konnte. Die Rede des stellvertretenden Bürgermeisters und liberalen Anführers, Dr. Grübl, an die Union am 4. Februar 1895 berührte genau dieses Problem. Dr. Grübl, der sich der unüberhörbaren Unzufriedenheit unter den Wiener Juden bewußt war, betonte die politischen Schwierigkeiten, mit denen seine Partei konfrontiert war, und die Notwendigkeit, die Ränge angesichts der antisemitischen Herausforderungen zu schließen.151 Da er sich der Sympathie wohl bewußt war, die viele Juden für Dr. Kronawetters radikaldemokratische Partei empfanden, warnte er davor, daß eine Unterstützung für diesen Rivalen bei der Gemeinderatswahl entscheidend dazu beitragen könnte zu verhindern, daß die Liberalen wieder an die Macht gelangten. Auf diese Aussage entgegnete ein anderer Sprecher, daß die Deutschliberalen ihre Grundsätze anscheinend aufgegeben hätten. In einer kurz zuvor stattgefundenen Debatte hatten sie sich nicht einmal mehr energisch gegen christlichsoziale Vorschläge für „konfessionelle Schulen" gewandt. Eine derartige Kritik löste scharfe Entgegnungen der nachfolgenden Sprecher aus, wie Dr. Heinrich Friedjung, Dr. Alfred Stern und Stadtrat Konstantin Noske - ein wichtiges nicht-

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jüdisches Mitglied der liberalen Partei.152 Dr. Bloch seinerseits wandte sich gegen jeden Versuch, den liberalen oder den Demokraten Antisemitismus vorzuwerfen, und betonte, wie notwendig es sei, vereint gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen. In den späteren Debatten, die in der Österreichisch-Israelitischen Union in den 90er Jahren stattfanden, nahm Dr. Bloch eine versöhnliche Haltung ein. Das zentrale Problem war nicht, ob die Juden für die liberale Partei, für die Sozialpolitiker (eine radikalliberale Gruppierung) oder sogar für die Sozialdemokraten stimmen sollten. Die österreichischen Juden müßten alle zur Verfügung stehenden Kräfte gegen den Antisemitismus mobilisieren.155 Im allgemeinen betrachtete Dr. Bloch eine jüdische Ausrichtung in den drei „progressiven" Parteien der österreichischen Politik mit Skepsis, während er gleichzeitig anerkannte, daß den Juden nichts anderes übrigblieb, als diese in den Auseinandersetzungen mit den Antisemiten zu unterstützen. Er betonte jedoch, daß die unverhältnismäßig großen Opfer, welche die österreichischen Juden in der Vergangenheit zur Verteidigung der deutschen Kultur und Sprache in den slawischen Ländern erbracht hatten, von den Liberalen nur schlecht belohnt worden waren.154 Deren Verrat, die politische Schwäche der Sozialpolitiker und der latente Antisemitismus in der sozialdemokratischen Partei waren für Rabbi Bloch die Bestätigung, daß sich die österreichischen Juden keinerlei Illusionen über die Bedrohlichkeit ihrer Situation machen sollten.155 Der zionistischen Bewegung gegenüber war Bloch anfangs ambivalent eingestellt. In seiner eigenen politischen Gedankenwelt war immer eine starke nationale Komponente vorhanden gewesen, die er mit religiösen und traditionellen Elementen zu verbinden suchte. Mitte der 80er Jahre war er eine Zeitlang von den Begründern der Kadimah als ein jüdischer Nationalführer angesehen worden. Tatsächlich gab er seine Sympathie für den gemäßigten, praktischen Zionismus, wie er von Chovevei Zion vorgeschlagen wurde, nie ganz auf.156 1896 hatte er zunächst Herzls Bemühungen unterstützt, einen seiner Artikel veröffentlicht und ihn mit dem österreichischen Fmanzminister, Leon Ritter von Bitinski (1846-1923), einem fuhrenden Mitglied des Polenklubs, bekannt gemacht.157 So wie der polnische Aristokrat war auch Bloch von Herzls magnetischer Persönlichkeit, seiner Integrität, seinem Weitblick und politischem Verständnis beeindruckt, war aber skeptisch in bezug auf seine nationalistische Ideologie. Er fürchtete die langfristigen Auswirkungen des Zionismus auf das Judentum.158 Das erste Zusammentreffen zwischen Dr. Bloch und Herzl hatte anläßlich eines Treffens der Österreichisch-Israelitischen Union in einem Wiener Gasthaus am 5. November 1895 stattgefunden.159 Wie sich Bloch später erinnerte, war Herzl als vollendeter Mann von Welt und geistreicher Unterhalter bekannt, „dessen Feuilletons mit ihrem Gehabe ironischer Überlegenheit sehr selten das Schicksal der Juden berührten und wenn, dann nur um es mit feinsinnigem Spott zu überziehen".160

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Rabbi Bloch war zunächst freudig überrascht, daß sich ein solcher Mann überhaupt für jüdische Belange interessierte. Fünf Tage später, am 10. November 1895, war Bloch im Hause seines Freundes, des reichen Architekten Wilhelm Stiassny (einem fuhrenden Gemeindemitglied) eingeladen, um Herzls Lesung dessen beizuwohnen, was bald als Der Judenstaat bekannt werden sollte.161 Bloch war von Herzls literarischem Stil beeindruckt und erleichtert, daß Palästina während des Abends nicht erwähnt wurde. Bloch hielt Palästina aufgrund seiner geopolitischen Lage nicht fur eine Besiedlung geeignet. Einige Tage später machte Herzl einen überraschenden Besuch bei Dr. Bloch und setzte ihn davon in Kenntnis, daß er von Freunden überzeugt worden sei, daß die Juden einen historischen Anspruch auf Palästina hätten. Bloch warnte ihn sofort vor messianischen Ansprüchen (er erinnerte an die unheilvolle Episode der Sabbatai Zwi-Rückkehrbewegung im 17. Jahrhundert) und führte seinem Besucher die Geschichte des Heiügen Landes vor Augen, die gegen einen Versuch der Wiederbelebung eines unabhängigen jüdischen Staates sprach. Bloch lieh Herzl auch zwei Reden des kürzlich verstorbenen Adolf Jellinek über den Talmud, die fast drei Jahrzehnte zuvor in Wien veröffentlicht worden waren. Die Reden enthielten eine implizite Mißbilligung jedes Versuches, den Tempel wieder aufzubauen, und gingen auf den prophetischen Geist des übernationalen Judentums näher ein.162 Dr. Bloch beschrieb Herzl auch das historische Treffen zwischen Adolf Jellinek und Leo Pinsker, das vierzehn Jahre zuvor in Wien stattgefunden hatte. Als Dr. Bloch mit dem politischen Zionismus konfrontiert wurde, griff er schließlich viele Befürchtungen seines alten Widersachers Adolf Jellinek wieder auf, die sich auf die Gefahren einer Rückkehr nach Zion bezogen. Er wies Herzl darauf hin, daß dem Judentum eine Massenrückkehr nach Palästina und eine Wiedererrichtung des jüdischen Staates bis zum Kommen des Messias untersagt sei, auch wenn er einräumte, daß der Aufenthalt in diesem Land im Talmud als große Tugend angesehen würde. Dr. Bloch unterstützte vorsichtig einen religiösen und humanitären Zionismus, und nicht eine national-politische Variante desselben.163 Am 7. November 1869 hielt Herzl vor der Österreichisch-Israelitischen Union eine gewandte Rede vor einer begeisterten Zuhörerschaft, die Dr. Bloch in der Folge in seiner Wochenschnfi abdruckte.164 Das Thema dieser Rede war geschickt auf die Zuhörer zugeschnitten, utopische Ausschmückungen wurden soweit wie mögüch vermieden, während ein philanthropischer „Zionismus" beschrieben wurde, der erwartungsgemäß sogar von den Mitgliedern der Union befürwortet werden konnte. Die von Sir Moses Montefiori, Baron Hirsch und Edmund de Rothschild geförderten landwirtschaftlichen Siedlungen wurden als Vorläufer dessen angeführt, was Herzl vorschwebte; die Möglichkeiten der modernen Technik und Nachrichtenübermittlung wurden umrissen, ebenso wie die finanziellen Schwierigkeiten der

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osmanischen Türkei, das Wesen des neuen post-emanzipatorischen Antisemitismus und die Notwendigkeit, eine Lösung für das materielle Elend der russischen und rumänischen Juden zu finden. Nur in einem Punkt hätte Herzls Einstellung den Gleichmut der Unionsmitglieder aufrütteln können - nämlich sein Bestehen auf der Definition der Juden als eine weltliche Nation, als „eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehört und einen gemeinsamen Feind hat...11165 Dies war genau der Streitpunkt zwischen Rabbi Bloch und den Zionisten. Seiner Meinung nach waren die Juden keine Nation wie jede andere. Ihr Gemeinschaftssinn basierte auf dem mosaischen Glauben.166 Andererseits war Bloch seit den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bemüht gewesen, in der jüdischen Rasse ein Gefühl der Stammesverwandschaft zu wecken, um seinen Glaubensgenossen ihre gemeinsame Vergangenheit und ihr Schicksal stärker zu Bewußtsein zu bringen. Dies war sehr wohl ein Nationalgefühl, auf das der politische Zionismus wohlüberlegt aufzubauen versuchte. Sogar in ihrer Einstellung zum Antisemitismus und dessen Auswirkung auf die Juden gab es einige merkwürdige Parallelen zwischen Bloch und Herzl. In einem Vortrag am 18. Oktober 1890 vor der Österreichisch-Israelitischen Union hatte Bloch angeführt, daß der Antisemitismus dem Judentum viele entfremdete Juden wieder nahebrachte. Eine neuerliche Verfolgung war dabei, die aufgelösten Bande der Juden wieder zu stärken und dem zuvor um sich greifenden Prozeß der Konversion und Entjudaisierung Einhalt zu gebieten.167 „Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ist heute in jeder jüdischen Seele lebendig, und das Verdienst hiefür gebührt ausschließlich den Antisemiten; sie üben die Function jener Kraft, die das Böse will, ,aber stets das Gute schafft' (lebhafter Beifall)", teilte Dr. Bloch zuversichtlich seinen Zuhörern bei dieser Gelegenheit mit. Wie Herzl nach ihm, war auch Bloch entschieden der Meinung, daß der Antisemitismus die Juden vereinigte. In mancher Hinsicht hatte er eine erzieherische Funktion ausgeübt. Durch den Prozeß der natürlichen Auslese verbesserte er sogar die Qualitäten der Rasse.168 So war Rabbi Bloch zum Beispiel der Ansicht, daß die bemerkenswerten geistigen Fähigkeiten der Juden eine Folge der harten Schule der Diskriminierung waren, die der christliche Antisemitismus ihnen auferlegt hatte. Indem sie den Juden eine ständige moralische und intellektuelle Herausforderung waren, hatten die Gegner unbedachterweise selbst die Grundlagen für ihr Uberleben und für die Erhaltung ihrer Einzigartigkeit gelegt. In der Ära der Assimilation „hat uns [der Antisemitismus] zu uns selber zurückgeführt und zum Bewußtsein unserer Aufgabe". Der Antisemitismus hatte diese schicksalhafte Rolle in der ganzen Geschichte gespielt, indem er die Juden an ihre Aufgabe unter den Völkern erinnert hatte, sie dazu verpflichtete, der Verehrung der falschen Götter abzuschwören und sie zwang, die höchsten humanitären Ideale erneut zu bestätigen.

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Über vier Jahre später - Herzl war noch immer auf der Suche nach dem politischen Zionismus - war er in Paris ebenfalls der Ansicht, daß der Antisemitismus „eine dem Judencharakter nützliche Bewegung" sei. In seinen Tagebüchern schrieb er, daß äußerer Druck in hohem Maße den Fortbestand jüdischer Qualitäten bestimmt hatte. Herzl hatte jedoch wenig Interesse für Blochs Wochenschrift - „Er beißt sich mit den Antisemiten mittelalterlich theologisch herum, wie der Rabbiner mit dem Kapuziner". Seit den frühen 90er Jahren war er überzeugt von der inhärenten „Leere und Nutzlosigkeit der Bestrebungen ,zur Abwehr des Antisemitismus'".169 In seiner reifen zionistischen Phase hatte der Antisemitismus eine viel zweckmäßigere Funktion für Herzl. Wie er dem Oberrabbiner Güdemann von Wien schrieb, sein Plan war „die Verwendung einer in der Natur vorkommenden Treibkraft", der „Judennot" - eine Kraft stark genug, um eine große Maschine zu treiben und Menschen zu befördern"; wie die Dampfkraft, die den Kesseldeckel hebt, würden der Antisemitismus und die „Judennot" die zionistische Utopie in soziale Realität umwandeln.170 Dies war eine pragmatische Auffassimg, die Dr. Bloch nie akzeptieren konnte und die seine wachsenden Vorbehalte gegenüber dem politischen Zionismus verstärkten. Nach 1900 folgte er immer stärker der Gedankenwelt der Österreichisch-Israelitischen Union und identifizierte sich mit deren endemischem Antizionismus. Im Gegensatz zu den Zionisten oder den jüdischen Nationalisten Österreichs hatte Dr. Bloch die Juden nie als eine eigenständige politische Nation angesehen. Im innenpolitischen Zusammenhang des Habsburgerreiches waren die zionistischen Forderungen nach einer derartigen Anerkennung seiner Meinung nach schädlich. Als sich die österreichischen Zionisten nach Herzls Tod stärker in die Landespolitik einzumischen begannen, wurde die Rivalität zwischen ihnen, Dr. Bloch und den von der Union unterstützten Kandidaten bei lokalen und nationalen Wahlen schärfer. In der Endphase des Wahlkampfs zu den Reichsratswahlen von 1907 erreichten diese Spannungen im Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt ihren Höhepunkt, wo Dr. Bloch ursprünglich einer der vier jüdischen Kandidaten (ein Zionist war dabei) war, seine Kandidatur jedoch später zurückzog.171 Anfangs war Bloch gegen zionistisches Politisieren bei österreichischen Reichsratswahlen. Er war anscheinend der Meinung, daß sich die jüdische Nationalideologie stark von seiner eigenen Vision eines übernationalen österreichischen Judentums als vermittelndes Element im Vielvölkerstaat unterschied. Dennoch begrüßte Dr. Bloch die Wahl von vier nationaljüdischen Abgeordneten (Benno Straucher, Heinrich Gabel, Arthur Mahler und Adolf Stand) bei den Wahlen 1907, die den ersten unabhängigen jüdischen Klub im österreichischen Reichsrat bildeten. Der galizische Rabbi spielte deren zionistisches Programm herunter und konzentrierte sich statt dessen ganz auf die Neuigkeit, daß die österreichischen Juden endlich für eine Gruppe von Abgeordneten gestimmt hatten,

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die sich ganz der Verteidigung der jüdischen Ehre verpflichtet fühlten und sich gegen den „falschen" Weg der Assimilation wandten.172 Die stolze Behauptung der jüdischen Identität, die Dr. Bloch fünfundzwanzig Jahre zuvor während seines Kampfes mit August Rohling in die österreichische Politik eingeführt hatte, hatte bei den Wahlen von 1907 eine unerwartete Vollendung gefunden.

10. Die Österreichisch-Israelitische Union Wenn der Antisemitismus bekämpft werden soll, muß beim „Jüdischen Antisemitismus" begonnen werden. Wir wollen das Organ werden, welchesfiir das Judentum tätig ist... Unsere Aufgabe ist zunächst: Die Hebung des Judentums infremdenund den eigenen Augen .. .ßir die höchsten Güter nicht nur des Judentums, sondern der Menschheit überhabt, fiir Wahrheit, Freiheit und Recht... Dr. Sigmund Zins (24. April 1886) - Konstituierende Sitzung der Union Jetzt allerdings gibt es keinen Stand und keine Classe im Judenthume, wo man den Antisemitismus nicht empfindet. Der Gelehrte, der Beamte, der Gerwerbsmann, der Reiche wie der Arme, der Große wie der Kleine leidet durch ihn, der Eine von seinen Hieben, der Andere von seinen Nadelstichen, hier bedroht er die Existenz, dort die Ehre und Würde ... Unsere altväterische lactik, den Feind durch unsere Erscheinung und unsere Handlungsweise zu überzeugen, daß das Alles nicht wahr ist, dessen er uns zieht, hat uns noch niemals genützt, denn er will sich nicht überzeugen lassen. Ein ganzes Leben voll Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit und Wohlthätigkeit kann den Judenhaß nicht zurückdrängen. Nur den Kampf ihn zum Schweigen zu bringen. Dr. Josef Samuel Bloch, Österreichische Wochenschrift (8. Juni 1888) Der Antisemitismus ist... ein zweiter, modernisirter und darum in seiner rückläufigen Kraft geminderter Vorstoß der mittelalterlichen Gesellschaft, welcher erwarten läßt, daß wir auch in Zukunft noch manche derartigen Vorstöße zu verzeichnen haben werden. Deshalb brauchen wir nicht zufürchten, daß der Antisemitismus allzulange Zeit die moderne Bewegung hemmt; wir brauchen auch nicht ein neues Ghetto zufürchten. Vor uns steht vielmehr alsfestes Ziel, nach welchem unsere Zeit langsam und stetig zusteuert, einefreie Gesellschaft, in welcherjedes Mitglied dem anderen gleich ist, ohne Unterschied von Abstammung, Glaube und Stellung; und der Jude in ihr alsfreier, selbstbewußter, sich den Anderen und die Anderen sich gleich empfindender Staatsbürger. (Lebhafter, anhaltener Beifall). Dr. Julius Ofner, Vortrag gehalten vor der Österreichisch-Israelitischen Union am 29. April 1897 Unsere Deutschen wollen ein Österreich, nur wenn es deutsch, unsere Sloven, nur wenn es slavisch, die Feudalen, nur wenn esfeudal, die Clericalen, nur wenn es clerical ist. Wir Juden in Österreich sind die einzigen, die ein Österreich wollen sans phrase, ein Österreich ohne Bedingung... Ich glaube, daß wir Juden diesenfanatisch nationalen Kampf nicht mitmachen, nicht unterstützen, daß wir uns auf die Abwehr gegen unsere Feinde beschränken müssen; und daß wir in dieser Selbstbeschränkung verharren, insolange nicht

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die Staatskunst der österreichischen Staatsmänner das Mittel gefimden hat, die Völker Cisleithaniens zur Vernunft zurückzufiihren und aus den rein nationalen rein politsiche Parteien macht. Vizepräsident Sigmund Mayer, Vortrag über „Die Lage der österreichischen Judenschaft" an die Österreichisch-Israelitische Union am 14.November 1899

D I E G R Ü N D U N G D E R Ö S T E R R E I C H I S C H - I S R A E L I T I S C H E N U N I O N IM J A H R E

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war die Reaktion der jüngeren Wiener Juden der etablierten Mittelschicht auf die Bedrohung durch den Antisemitismus gewesen. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, die politischen Rechte der Juden zu verteidigen, das jüdische Bildungswesen zu verbessern und den Stolz der österreichischen Juden auf ihre eigene Identität zu fördern. Während sie fur den dynastischen habsburgischen Patriotismus Partei nahm und die Juden in den Vielvölkerstaat zu integrieren versuchte, arbeitete sie gleichzeitig bewußt gegen die Auflösung der jüdischen Gruppenidentität, indem sie die Betonung auf die gemeinsame Herkunft und das gemeinsame Schicksal der Juden als Stamm legte. Von ihrem Begründer Dr. Josef Bloch hatte die Union das Gespür für die Notwendigkeit einer politischen Repräsentation der Juden geerbt. Sie hoffte, jenes organisatorische Zentrum zu werden, von dem aus die Juden als ethnischreligiöse Interessengruppe ihre eigenen Bedürfnisse verteidigen konnten. 1 Seit ihrer Entstehung war die Union äußerst darum bemüht gewesen, dem Antisemitismus Paroli zu bieten, auch wenn sich die Mitglieder darüber uneins waren, wie dieses Ziel am besten erreicht werden könnte. In den Anfangsjahren ihres Bestehens hatte die Union die politische Seite ihrer Tätigkeit allerdings heruntergespielt. D a sie eine offene Konfrontation mit den Antisemiten lieber vermied, konzentrierte sie sich auf die Frage der jüdischen Bildung und auf die Bekämpfung des Selbsthasses bei der jüngeren Generation. Es war ihr auch ein Anliegen zu betonen, daß sie keine separatistischen Ziele verfolge. 2 Die anhaltenden Niederlagen der Deutschliberalen und die wachsende Gefahr einer Machtübernahme durch Luegers Christlichsoziale Partei in Wien zwangen die Union jedoch, ihren Standpunkt bei politischen Fragen, welche die jüdische Gemeinde betrafen, zu verdeutlichen. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gehörten dazu das Funktionieren des österreichischen politischen Systems insgesamt, das wachsende Verlangen nach einer Wahlrechtsreform, die Nationalitätenkonflikte, das Aufkommen der Massenbewegungen und die Zukunft des Liberalismus in Osterreich. Die von der Union in diesen Fragen vertretene Haltung hing eng mit ihrer Beurteilung des Antisemitismus und ihrer Position zur jüdischen Selbstverteidigung zusammen. Als die Koalition Taaffe zusammenbrach und die Vereinigte Deutsche Linke (die neue Bezeichnung der alten Liberalen Partei) im Oktober 1895 wieder die Regie-

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rungsverantwortung übernahm, wurden in der Wiener jüdischen Gemeinde für kurze Zeit die Hoffnungen aufbessere Zeiten wieder wach. Vierzehn Jahre lang waren die Liberalen in der Opposition gewesen. Nun teilten sie sich im Koalitionskabinett die Macht mit den Klerikalen und dem Polenklub. Ihr Anführer, Ernst von Plener, hatte das Finanzministerium inne und wollte ein fortschrittliches Programm von Steuer- und Handelsmaßnahmen sowie eine moderate Wahlrechtsreform durchsetzen, die sich auf die politischen Privilegien der Liberalen nicht nachteilig auswirken würde.3 Die Problematik der Wahlrechtsreform hatte die Koalition Taaffe schließlich zu Fall gebracht. Die Deutschliberalen waren entschlossen, ein weiteres Aufweichen der traditionellen Position zu verhindern, indem sie sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene hartnäckig an dem Junktim zwischen Höhe der Steuerleistung und politischen Rechten festhielten. Die Verfassung von 1867, historisch die herausragende Leistung der Liberalen, war absichtlich so abgewogen worden, um, wie von Plener sagte, „die historische und politische Stellung des deutschen Stammes, der in Österreich bekanntlich nicht die Mehrheit der Bevölkerung bildet, aber durch geschichtliche Arbeit, Bildung, Wohlstand und Steuerleistungen über allen anderen hervorragt, zu sichern".4 Die Liberalen hatten die Taaffeschen Wahlrechtsreformen von 1882 und 1885 kategorisch abgelehnt, die dem Kleinbürgertum (den sogenannten Fünf-Gulden-Männern) das Stimmrecht verliehen hatten und so das Anwachsen von nicht-liberalen bürgerlichen Parteien ermöglichten und ihr eigenes Wählerpotential schwächten. Da sie von den liberalen Großgrundbesitzern, den Industrie- und Handelskammern und dem privilegierten Kurienwahlsystem abhingen, hatte die liberale Partei keinerlei Interesse an einer Ausweitung des Wahlrechts.5 Dies würde nicht nur die Vorherrschaft der Deutschen in Osterreich weiter untergraben, sondern ihren Bestand als eine locker organisierte Partei von Notablen im Zeitalter der Massenpolitik insgesamt in Frage stellen. Seit ihrem Machtverlust 1879 hatten sie viel von ihrem Glorienschein als Regierungspartei verloren, die in engem Kontakt zur Verwaltung und zu den Traditionen des deutschen Zentralismus gestanden hatte. Immer stärker waren sie zu einer „konservativen" Partei geworden, die verbissen ihre nationalen Interessen und ihren Besitzstand verteidigte, der Armut der besitzlosen Massen jedoch keine Beachtung schenkte.6 Eine liberale Partei, die auf den enggefaßten kapitalistischen Interessen des Großbürgertums basierte, die Forderungen der nicht-deutschen Nationalitäten, der unteren Mittelschicht und des Proletariats jedoch ignorierte, mußte sich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts notgedrungen von den neuen Strömungen der öffentlichen Meinung abkapseln. Die Wahlrechtsreformen und die von der konservativen Regierung initiierte protektionistische Sozialpolitik schwächte die Liberalen weiter. Die

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Radikalisierung der österreichischen Politik in den 90er Jahren - wie im Aufstieg der Christlichsozialen, der Sozialdemokraten und der Jungtschechen zum Ausdruck kam - kündigte ihren bevorstehenden Untergang an. Als die liberale Partei 1895 der Koalition beitrat, befand sie sich eindeutig in der Defensive.7 Die Wiener jüdische Gemeinde, eine der loyalsten und einflußreichsten Stützen des Austroliberalismus, litt unter dem jähen Niedergang mehr als die meisten anderen. Auch wenn die mächtige Wiener Presse, die sich überwiegend in jüdischer Hand befand, die liberale Partei bis zum Ende der Monarchie weiter unterstützte, mußte sie dem Siegeszug des Antisemitismus in Wien machtlos zusehen. Die Juden der habsburgischen Hauptstadt wurden zu Sündenböcken eines Massenaufstandes des Wiener Bürgertums gegen die traditionelle liberale Vorherrschaft. Üblicherweise hatten die Juden in ihren Wiener Bastionen (dem 1. und 2. Bezirk) eine solide Wählerphalanx für die liberale Partei gestellt. Anfang der 90er Jahre hatten sie aber immer stärker den Eindruck, daß die Vereinigte Deutsche Linke ihre Interessen ignorierte und mit den klerikalen Antisemiten paktierte. Sogar einflußreiche Unionsmitglieder konnten sich des Gefühls nicht erwehren, daß die liberale Partei den Juden nur widerwillig den angemessenen Anteil von Sitzen in den verschiedenen legislativen Gremien zukommen ließ.8 Besonders ärgerlich war die unzulängliche Reaktion der Deutschliberalen auf den Antisemitismus, da die Juden oft der Wucht des christlichsozialen Angriffs auf den Liberalismus ausgesetzt waren. Die Enttäuschung in der Union über die Haltung ihrer Verbündeten wurde schon bei einer Vollversammlung deutlich, bei welcher der liberale Parlamentsabgeordnete Carl Wrabetz am 9. Dezember 1895 sprach.9 Einer der Sprecher kritisierte die Liberale Partei, daß sie der Arbeiterklasse keine Beachtung schenke. Ein anderer, Siegfried Fleischer, warnte vor deren Koalition mit den Klerikalen, „den ärgsten Feinden des Judenthums".10 Sehr zum Ärger von Wrabetz wurde angedeutet, daß er sein Mandat der Unterstützung durch Kronawetters kleine Demokratische Partei verdanke, die eine viel härtere Gangart bei der Verteidigung bürgerlicher Gleichberechtigung für die Juden vertreten hatte.11 Nach dem Tod des geachteten jüdischen Rechtsanwalts Heinrich Jaques, der die Liberalen viele Jahre lang in der Inneren Stadt vertreten hatte, kam es im Zuge der notwendigen Neubesetzimg zu neuerlichen Spannungen. Sollte Jaques durch einen anderen jüdischen Kandidaten ersetzt werden? Siegfried Fleischer argumentierte: „Die Juden können die Achtung ihrer Gegner nur dadurch erzwingen, wenn sie zeigen, daß sie eine Position, die sie bisher besessen haben, auch weiterhin behaupten wollen." Er bestand darauf: „Aus diesem Grunde müsse das erledigte Mandat wieder einem Juden zufallen".12 Diese Meinung wurde von Heinrich Friedjung (der nun ein Kandidat der Vereinigten Linken war) abgelehnt, für den nur die harte Opposition gegen die Antisemiten auf der Basis der Verfassimg erfolgversprechend war.

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Laut Friedjung war die deutschliberale Partei noch immer ihr bester Beschützer. Niemand hielt stärker an den Staatsgrundgesetzen fest, die sie selbst in die Wege geleitet hatte. Es ging hier nicht um die Frage der Religion, sondern um die Vereinigung aller freisinnigen Parteien um einen einzigen Kandidaten.13 Friedjungs Meinung stieß bei den meisten anderen Sprechern auf Widerhall. Sie waren der Ansicht, daß der Kandidat liberale politische Uberzeugungen vertreten müsse, zu denen auch die strikte Einhaltung jüdischer Verfassungsrechte gehören müßte, ob er Jude sei, wäre zweitrangig.14 Der Rücktritt Friedjungs von seiner Kandidatur zugunsten des nichtjüdischen liberalen Stadtrates und Landtagsabgeordneten Konstantin Noske (der vom zentralen Wahlausschuß der Deutschen Radikalen nominiert wurde) verschärfte die konfessionelle Frage. Noske wurde allgemein als Judenfreund angesehen. Er sagte den Unionsmigliedern, daß er die Nominierung erst nach Gesprächen mit dem Unionsvorstand angenommen hätte. Er habe gezögert, von allem Anfang an zu kandidieren, „weil gerade er, bei seiner Stellung zur Judenschaft, keinen Keil in die jüdische Wählerschaft treiben wollte", und erklärte sich bereit zu kandidieren, sobald ihm versichert würde, daß die Juden vor allem den Kandidaten unterstützen würden, der „das Interesse der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit fördern wird".15 Noske betonte, daß die Vereinigte Deutsche Linke allen Grund habe, die Treue jüdischer Wähler zu ihrer Sache dankbar anzuerkennen, und daraus die richtigen Schlüsse ziehen müsse. Er erinnerte, daß seine Partei (mit Unterstützung der Demokraten) allein dem Antisemitismus Widerstand leiste. Solange sie jedoch in Opposition gewesen waren, konnten die Liberalen wenig zur Verbesserung der Lage beitragen. Jetzt, da sie Minister in der Koalitionsregierung stellten, würden sie alles daran setzen, um die strikte Aufrechterhaltung bürgerlicher Gleichberechtigung sicherzustellen. Noske warnte seine Zuhörer, daß „es für die israelitische Wählerschaft ein politischer Selbstmord wäre, dieselbe [die Liberalen] zu verlassen".16 Die Befürworter von Konstantin Noske in der Union stimmten klar mit dessen abschließenden Bemerkungen überein. Sie wollten vor allem einen kontroversen und peinlichen Streit mit den Deutschliberalen über die Frage eines jüdischen oder nichtjüdischen Kandidaten vermeiden. Noske hätte, so wurde angeführt, schon in der Vergangenheit seine Bereitschaft bewiesen, sich energisch für jüdische Rechte einzusetzen. Er sei ein persönlich integerer und ehrenwerter Kandidat. Außerdem so führte Isidor Popper an - sei ein Christ einem Juden im herrschenden Klima der Feindseligkeit vielleicht vorzuziehen. Da hinter Noske eine mächtige Partei stünde, könnte er vielleicht auch mehr für seine jüdischen Wähler bewirken als ein unabhängiger Kandidat, auch wenn dieser Jude wäre.17 Noskes Gegenspieler war ein wirklich „unabhängiger", aus Böhmen stammender jüdischer Rechtsanwalt, Julius Ofner (1845-1924).18 Der Fischhof-Schüler war be-

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kannt als streitbarer Befürworter einer umfassenden Sozialgesetzgebung, von Frauenrechten und der Humanisierung des Strafrechts. Ofiier war im Jahre 1895 einer der Begründer der Wiener Fabier-Gesellschaft gewesen.19 Aus diesem intellektuellen Kreis ging der Kern der Sozialpolitiker hervor, eine eine nicht-marxistische, radikal-freisinnige Vereinigung, die sich für soziale Reformen einsetzte. Die Sozialpolitiker standen in enger Verbindung zur Wiener Demokratischen Partei (Kronawetter war 1896 mit ihrer Unterstützung in den Niederösterreichischen Landtag gewählt worden), ihnen fehlte jedoch leider ein starker Rückhalt in der alten Mittelschicht oder im Kleinbürgertum. Obwohl sie die Interessen der Arbeiterklasse verteidigten, machten die Sozialpolitiker auch in den Arbeiterbezirken Wiens wenig Eindruck, die von den Sozialdemokraten beherrscht wurden. Sie waren eine freisinnige Partei, die im Gegensatz zur Liberalen Partei „neo-liberales" Gedankengut vertrat, sich aber an eine ähnliche Wählerschaft wandte.20 Die Sozialpolitiker betonten, daß die „soziale Frage" von der bürgerlichen Gesellschaft in deren eigenem Interesse ernsthaft behandelt werden müsse. Sie versuchten, das Bürgertum aus seiner politischen Stagnation aufzurütteln und ein Bündnis des radikalen Bürgertums mit der Arbeiterklasse gegen das privilegierte Parlament und die Kräfte der klerikalen Reaktion zustandezubringen.21 Die Forderungen nach einem allgemeinem Wahlrecht (das Hauptanliegen des demokratischen Radikalismus in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts) und eine umfassende Sozialpolitik standen im Mittelpunkt ihres politischen Programms. Beständiger als jeder andere freisinnige Politiker brachte Ofher dieses liberal-sozialistische Programm der Sozialreform auf den Punkt. Er war ein aufgeklärter, humanitärer Freidenker, seine Abstammung gab die rein jüdische Zusammensetzimg dieser neuen Partei und deren Wählerschaft wieder, die sich auf die alten liberalen Bastionen im 1., 2. und 9. Bezirk konzentrierte. Bei seinem Auftritt vor der Union am 14. März 1894 verband Ofher seine Unterstützung der Wahlrechtsreform in Osterreich mit einem ausdrücklichen Appell an jüdische Werte: „Es hat mich stets, solange ich sorialwissenschaftliche Studien getrieben", erzählte er den Mitgliedern, „mit patriotischem Stolz erfüllt, daß die jüdische Gesetzgebimg hoch über allen Gesetzgebungen ihrer Zeit gestanden sei, daß sie keinen Unterschied kannte zwischen Adel und Gemeinen und zwischen Reich und Ami". 22 Aus einer radikalen Stellung heraus griff Ofher die Vereinigte Deutsche Linke an und beschrieb deren Koalition mit den Klerikalen als Verbrechen gegen liberale Grundsätze. Die „alten" österreichischen Liberalen hätten sich mit der ultramontanen, feudalen Reaktion verbündet. Um den neuen Partnern zu gefallen, hätten sie sogar Gesetze gegen wandernde Hausierer vorgeschlagen. Sie traten in die Fußstapfen der Nationalliberalen Deutschlands, wie diese kapitulierten auch sie und gaben ihre freisinnigen Grundsätze auf. Dies zeige sich auch in ihrer passiven Haltung dem Antisemitismus gegenüber.23

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In Verteidigung seiner radikalen sozialistischen Grundsätze, die zuvor in der Union kritisiert worden waren, protestierte Ofher auch gegen das unzeitgemäße Kuriensystem, das die Sozialdemokraten schwer benachteiligte.24 In einem deutlichen Appell an das jüdische Mitgefühl fragte Ofher seine Zuhörer, wie sie völlig gleichgültig die Ausbeutung und die demütigende Stellung der Arbeiter als Bürger zweiter Klasse mitansehen könnten.25 Die Themen, allgemeines Wahlrecht und die soziale Gerechtigkeit, sollten bei späteren Diskussionen mit der Union auf recht großes Echo stoßen. Immer mehr Wiener Juden befürworteten Ofners demokratische Grundsätze und seine Entschlossenheit, diese auf alle Gesellschaftsklassen anzuwenden. Für einige Mitglieder, wie Dr. Weiss und Siegfried Fleischer, war es aus jüdischer Sicht ein eindeutiger Vorteil, daß Ofher unabhängig und keiner Parteidisziplin unterworfen war. Andere, wie Dr. Eüas, unterstützten ihn nur, weil sie einen jüdischen Kandidaten in der Inneren Stadt wünschten und die Meinung vertraten, daß sich darin auch die jüdischen Wähler einig waren.26 In seinem Wahlkampf machte Dr. Ofher die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu einem Hauptthema. Trotz seines Radikalismus konnte er respektable 27 Prozent der Stimmen seiner wohlhabenden Wähler auf sich vereinigen, im Vergleich zu 58 Prozent für seinen siegreichen liberalen Gegenspieler Konstantin Noske und 14 Prozent für den christlichsozialen Kandidaten.27 Ungeachtet des Sieges von Noske nahm die Unzufriedenheit mit den Deutschliberalen bei den jüdischen Wählern oder den Unionsmitgliedern nicht ab. Sie wurde im Gegenteil stärker, je deutlicher wurde, daß es den Liberalen in der regierenden Koalition nicht gelang, den Hetzreden gegen die Juden in Schulen, Gerichtssälen, bei öffentlichen Versammlungen und in der antisemitischen Presse Einhalt zu gebieten oder diese auch nur einzudämmen. Der liberale Rechtsanwalt Dr. Heinrich Steger mußte in einer Rede an die Union im Februar 1895 zugeben, daß die Situation gefährlich außer Kontrolle geraten war. Das verdächtige Schweigen und die Gleichgültigkeit der deutschliberalen Partei zu der brutalen Schreckensherrschaft der Antisemiten war unerträglich geworden.28 Die schmachvollen Szenen im Landtag und im Gemeinderat, die öffentlichen Beleidigungen, denen eine Gemeinschaft von über einer Million loyaler österreichischer Juden täglich ausgesetzt waren, die Vergiftung der deutschen Jugend und die wachsende Verachtimg der Autorität - dies alles waren Symptome des gleichen politischen Verfalls.29 Liberale Abgeordnete hatten zu diesem Sperrfeuer geschwiegen, obwohl sie ihren jüdischen Wählern verpflichtet waren. Diese Zurückhaltung hatte die Schamlosigkeit christlichsozialer Demagogen wie Gregorig und Schneider begünstigt.50 Was konnte also getan werden? Ein Sondergesetz gegen den Antisemitismus wurde nicht verlangt, die Juden erwarteten aber, daß „die bestehenden Staats-

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grundgesetze beobachtet und strenge gewahrt werden (lebhafter Beifall)". Die Juden mußten insbesondere aus ihrer Lethargie erwachen und auf ihren unveräußerlichen Rechten als gleiche Staatsbürger bestehen. Sie konnten nicht länger mit der bloßen „Duldung" zufrieden sein wie vor der Emanzipation. Sie sollten nicht ergeben darauf warten, daß gute Worte für sie eingelegt würden. Die österreichischen Juden miißten ihre eigene Sache verteidigen und gleichzeitig Druck auf die deutschliberale Partei ausüben, entschlossener gegen die Antisemiten vorzugehen.31 In der darauffolgenden Debatte wurde das liberale Verhalten in der Koaltionsregierung fast einhellig verurteilt. Sigmund Mayer war entsetzt, daß liberale Abgeordnete im Niederösterreichischen Landtag „stumm wie die Fische" geblieben waren, als Ernst Schneider die Enteignung und Ausweisung der Juden forderte. Eine derartige Feigheit angesichts der physischen Bedrohungen der Sicherheit und Rechte der jüdischen Gemeinde waren unentschuldbar. Mayers Tadelsresolution wurde einstimmig angenommen.32 Dr. Alfred Könitz forderte alle jüdischen Gemeinden auf, eine ähnliche Resolution gegen den Landtag und den Klub der Vereinigten Deutschen Linken zu verabschieden. Siegfried Fleischer wies daraufhin, „wenn die liberale Partei sich mit dem Feudalismus verbunden habe, so seien ihr in dem Kampf gegen die Antisemiten die Hände gebunden". Sogar Dr. Heinrich Friedjung warf der Regierung vor, die öffentliche Meinung nicht anzuführen, und kritisierte seine Kollegen in der liberalen Partei, zu gemäßigt auf das antisemitische Sperrfeuer zu reagieren.53 Zwei Wochen später ging Sigmund Mayer ausführlicher auf die Vertrauenskrise zwischen der liberalen Parteiführung, der Union und den jüdischen Wählern ein. Antisemitische Großmannssucht und die Schwäche der Liberalen hätten ihn gezwungen, die politische Situation neu zu bewerten, „insbesondere aus Sicht eines jüdischen Wählers". Nicht nur die Gleichgültigkeit in bezug auf die „Judenfrage", sondern die Berechnung, die hinter diesem liberalen Schweigen stand, war beunruhigend. Die Juden hatten das Recht zu erwarten, daß die Liberalen, nachdem sie nach vierzehn Jahren der Opposition wieder das „Gelobte Land" der Regierungsverantwortung erreicht hatten, ihren Einfluß auch zur Sicherung der Verfassungsrechte für alle Staatsbürger geltend machten. Eine Regierung, der auch liberale Minister angehörten, hätte fest und entschlossen handeln müssen, um der Politik der offiziellen stillschweigenden Einwilligung ein Ende zu setzen, die es dem Antisemitismus ermöglicht hatte zu gedeihen.34 Mayer betonte, daß die jüdische Selbstverteidigung so lange keine Wirkung zeigen würde, als die Christen der Meinung waren, daß die antisemitische Bewegung stillschweigend von oben gutgeheißen würde oder daß deren Ziele timgesetzt werden könnten. Die Wiener Schneider, Schuster, Tischler, Schlosser, Tapezierer, Maurer, Kleinhändler und Lehrer, die für die Partei Luegers gestimmt hatten, hofften,

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die Juden aus der Industrie, dem Handel und den freien Berufen zu verjagen.33 Sie würden ihre Meinung nicht ändern, außer durch hartes Eingreifen der Regierung. Und doch, eröffnete Mayer, hatte die deutschliberale Führung Bitten der Union, einen derartigen Feldzug zu unternehmen, mit der Behauptung abgelehnt, daß ihnen die Macht zur Durchsetzung einer solchen Politik fehle. Mayer verurteilte diese Scheinheiligkeit aufs schärfste. Er erinnerte seine Zuhörer, daß die Deutschliberalen 1894 im Cilli-Sprachstreit in der Steiermark energisch gehandelt hatten. Sie hatten sich geweigert, im Gymnasium in Cilli slowenische Klassen zu genehmigen mit der Begründung, daß dies ein Verrat „an der deutschen Kultur im Süden" wäre. Tatsächlich hatten die Deutschen gedroht, die Koalitionsregierung wegen dieser relativ nebensächlichen Frage zu verlassen. In anderen Fällen, die kleinere Sprachstreitigkeiten betrafen, setzten sie ebenfalls ihren Einfluß für Parteikameraden ein. Wenn aber der Besitzstand der Juden auf dem Spiel stand, und damit gleichzeitig die staatliche Autorität und die Glaubwürdigkeit liberaler Grundsätze, beriefen sie sich auf ihre Machtlosigkeit. Dies war schlimmer als die ambivalente Politik von Graf Taaffe, insbesondere da der Ex-Ministerpräsident nie den Anspruch erhoben hatte, liberal zu sein. Der Anführer der Vereinigten Deutschen Linken, von Plener, hätte kein Recht, sich einen Liberalen zu nennen, wenn er in der Regierung bliebe. Er hätte als Parteimann gehandelt und aus diesem begrenzten Blickwinkel hätte er anscheinend beschlossen, die Juden trotz ihrer Loyalität in der Vergangenheit zu opfern.36 Mayer stellte fest, daß die Juden weiter die deutschen Kandidaten in Böhmen und Mähren unterstützten. Wegen der heftigen tschechischen Verstimmung und wirtschaftlicher Boykottmaßnahmen würden sie mit der Verteidigung der deutschen Sache ihre physische Existenz und ihren Lebensunterhalt aufs Spiel setzen. Auch in Wien hatten sie einen hohen Preis für ihre Treue zur Deutschliberalen Partei gezahlt. 1894 hatten sie bei den Parlamentswahlen für die Innere Stadt für den nichtjüdischen liberalen Christen Noske und nicht für den jüdischen Sozialpolitiker gestimmt, obwohl Julius Ofher für aufgeklärte Christen und Juden der attraktivere Kandidat war. Dies werde die letzte Wahl gewesen sein, bei der Juden die liberale Partei bedingungslos verteidigt hatten. Fünfzig Jahre Kampfgenossenschaft stünden jetzt auf dem Spiel.37 Die Juden verlangten eine klare Antwort von der liberalen Partei. Wenn diese dem klerikalen Ruf nach einer Rückkehr zu konfessionellen Schulen folgte, dann wäre der Liberalismus wirklich tot. Die jüdischen Forderungen dazu und zu anderen, damit in Zusammenhang stehenden Themen würden den Liberalen politischen Anführern in Kürze von der Union unterbreitet werden. Würden diese ignoriert, mache die Union den Vorschlag, die jüdische Unterstützung für die Sozialpolitiker in den Wiener Bezirken zu mobilisieren, wo die Juden ein signifikantes Wählerpotential stellten. Mayer deutete an, daß eine auf dem allgemeinen Wahl-

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recht basierende Regierung trotz aller damit verbundenen Risken aus jüdischer Sicht noch immer der bestehenden Situation vorzuziehen wäre.38 Nicht alle Unionsmitglieder teilten einhellig Mayers Standpunkt. Einige waren der Meinung, der Wiener Liberalismus hätte noch keineswegs seine Kraft verloren. Außerdem war Ofners sozialliberale Alternative mit ihrer radikalen Leidenschaftlichkeit bei den wohlhabenderen Teilen der jüdischen Bourgeoisie nicht allgemein behebt.39 Dennoch wurde die Enttäuschung vieler Wiener Juden mit der Liberalen Partei deutlich. Nachdem jüdische Wähler der Liberalen Partei untreu geworden waren, schlug der antisemitische Kandidat seinen liberalen Rivalen in der Leopoldstadt bei Nachwahlen zur Dritten Kurie Ende März 1895. Anfang April 1895 verhinderten die Liberalen nur knapp einen ähnlichen Treuebruch jüdischer Wähler in der Zweiten Kurie der Leopoldstadt.40 Genau in diesen Monaten gelang es Lueger, die Kapitalisten der Ersten Kurie für die antisemitischen Sache zu gewinnen. Geschickt profitierte die christlichsoziale Partei von den Fehlern der Liberalen und der Unbeliebtheit des Kabinetts Badeni, tun immer stärkeren Rückhalt in der breiten Masse der Bevölkerung zu gewinnen. In den Sommermonaten vor den für September 1895 geplanten Wahlen nahm die Feindseligkeit gegenüber den Juden in Wien immer mehr zu. Der Persönlichkeitskult um Lueger und die Versuche, ihn als Opfer kaiserlichen, ungarischen und jüdischen Drucks hinzustellen, schienen den Antisemitismus der breiten Massen zu verschärfen.41 Luegers haushoher Sieg im September 1895 war jedoch irreversibel. Ein weiteres kaiserliches Veto und die Unfähigkeit des neuen Ministerpräsidenten Graf Badeni spielten ihm in die Hände. Im November 1895 wurden sogar „christliche Frauen" auf die Straßen Wiens geschickt, um die überwältigende Unterstützimg, die Lueger beim Volk genoß, zu demonstrieren. Eine Hauptforderung bei christlichsozialen Zusammenkünften jener Zeit war der Boykott jüdischer Händler und Geschäfte, der als Rache für „jüdische" Versuche hingestellt wurde, die Bestätigung Luegers als Bürgermeister von Wien zu verhindern.42 Die Wahlen im Frühjahr 1896 verschafften der Christlichsozialen Partei eine entscheidende Mehrheit von 92 Sitzen im Gemeinderat gegenüber 42 liberalen Mandaten. Lueger wurde am 27. April 1896 vom Kaiser in Audienz empfangen und stimmte gnädig zu, ein Jahr zurückzustehen, so daß sein Stellvertreter Strobach am 19. Mai offiziell vereidigt werden konnte. Offiziell war sein Sieg vollendet, als er am 20. April 1897 auch in aller Form sein Amt antrat. In dieser angespannten Zeit gaben die Diskussionen innerhalb der Union eine Stimmung wieder, die zwischen grimmiger Entschlossenheit und Verzweiflung schwankte. Die unheilvollen Ergebnisse der Gemeinderatswahlen vom April 1895 wiesen darauf hin, daß eine zersplitterte österreichische Judenschaft in einem gemeinsamen Kraftakt vereint werden müßte, um jede Bedrohung ihrer legalen

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Rechte abzuwenden. Am 20. April 1895 hatte die Union aber erst 1.200 Mitglieder von den 130.000 Juden, die damals in Wien lebten. Mindestens drei oder vier derartige Vereine wären nötig, um einen wirklichen Gegendruck ausüben zu können.45 Wie der Verleger Dr. Max Breitenstein die Mitglieder am 7. Dezember 1895 erinnerte, war Dr. Blochs Wahlniederlage in Galizien ein weiterer Rückschlag. Dadurch wurde der wichtigste Sprecher der österreichischen Juden zu einem kritischen Zeitpunkt aus der parlamentarischen Arena entfernt.44 Dr. Bloch nahm jedoch weiter aktiv an den Debatten in der Union teil. Am 8. Februar 1896 warnte er davor, bei den kommenden Wahlen zu viel Hoffnung auf die Osterreichische Sozialdemokratische Partei als Gegengewicht zu den Antisemiten zu setzten. Unter allgemeinem Applaus bemerkte er, daß die Wiener Sozialdemokraten schon vom Antisemitismus vergiftet wären. Versuche, liberale Wähler zu ihren Gunsten zu mobilisieren, würden höchstwahrscheinlich den Christlichsozialen in die Hände spielen.45 Ein anderer Sprecher, der Industrielle Brod, kritisierte die feindselige Haltung der Sozialisten gegenüber der Liberalen Partei in dem laufenden Wahlkampf. Unter großem Beifall erklärte er, „wenn Sozialdemokraten behaupten, den Antisemitismus zu begrüßen, weil er geholfen, den Liberalismus zu bekämpfen, dann seien sie reif für's Irrenhaus . Sigmund Mayer griff auch die Entscheidung der Sozialpolitiker an, die sozialdemokratischen und nicht die liberalen Kandidaten zu unterstützen, dies würde nur den Antisemiten helfen - andere Sprecher stimmten dieser Aussage zu.47 Auch wenn die Union über die Liberalen nicht glücklich war, schienen die politischen Alternativen noch abschreckender, um einen klaren Bruch zu befürworten. Außerdem war noch nicht alle Hoffnung aufgegeben worden, daß die bestehende Liberale Partei für die freisinnigen Ideale, denen viele Wiener Juden anhingen, zurückgewonnen werden könnte. Der Liberalismus müßte jedoch für mehr stehen als die bloße Verteidigung des deutschen Besitzstandes und dessen traditionellen Privilegien. Ihre lange Geschichte schrieb vor, wie es der Unionssekretär Josef Fuchs ausdrückte, daß die Juden „überall für Freiheit und gleiches Recht eintreten".48 Die Deutschliberalen hatten einmal nach diesem Grundsatz gehandelt, dem die österreichische Judenschaft ihre bürgerlichen Freiheiten und konstitutionellen Rechte verdankte. Leider hatte die liberale Entschlossenheit in einer Zeit des Rassenhasses und der religiösen Intoleranz nachgelassen.10 Fuchs warnte, daß der Antisemitismus keine vorübergehende Verirrung der öffentlichen Meinung sei, sondern eine bewußte Bewegung, die von den Kräften der Reaktion gefördert werde, um die politischen Rechte der Juden abzubauen. Er sagte seinen Zuhörern, daß die bedrohlichen Perspektiven und die „in ihren Endzielen nicht zu berechnende Bewegung" eine energische Reaktion verlangten, welche die Liberalen bis jetzt noch nicht an den Tag gelegt hätten. Zu verschiedenen Anlässen

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hätte die Union die deutschliberale Führung darauf hingewiesen und sie gewarnt, daß eine fortdauernde Passivität in dieser Frage die Grundlage der jüdischen Zusammenarbeit mit der Partei zerstören werde. Das Ziel der politischen Tätigkeit der Union müsse es jetzt sein, die Einigung von Liberalen, Demokraten und Sozialpolitikern zu fordern und zu diesem Zweck die jüdischen Wähler mittels Wahlkomitees in jenen Bezirken, wo sie über Einfluß verfügten, zu mobilisieren.50 Vier Tage nach der Vereidigung des neuen Bürgermeisters hielt die Union ihre erste Nachbesprechung über den antisemitischen Triumph in Wien ab. In einer nüchternen Rede versuchte Vizepräsident Sigmund Mayer die Bedeutung von Luegers Erfolg auszuloten. Im wesentlichen war es ein Sieg des „kleinen Mannes". Die Dritte Kurie hatte über die Erste und Zweite triumphiert, das Kleinbürgertum über das Großbürgertum, die klerikale Reaktion über den intellektuellen und materiellen Fortschritt. Der Antisemitismus war eine besondere Form dieser sozialen Reaktion, weil dies die einfachste Art war, die Volksmassen zu mobilisieren. Mayer schien der Ansicht zu sein, daß Lueger vermutlich auch ohne die jüdische Präsenz in Wien den Sieg davongetragen hätte. Da der Bürgermeister und der antisemitische Gemeinderat der österreichischen Regierung und deren Ministern unterstanden, bestand wahrscheinlich keine unmittelbare Gefahr einer Umkehrung der rechtlichen Gleichstellung. Die wirkliche Bedrohung ging von der Möglichkeit aus, daß die neue Verwaltung versuchen könnte, die Grundlagen jüdischer wirtschaftlicher Existenz zu zerstören.51 Aber auch dies galt als unwahrscheinlich. Sollte die Regierung Konzessionen an antisemitische Forderungen machen, bestand noch immer die Möglichkeit, sich an die kaiserlichen Gerichte zum Schutz verfassungsmäßiger Rechte zu wenden.52 Die zentrale politische Frage blieb weiterhin die Beziehung der Union zur deutschliberalen Partei. Mayer erinnerte ausfuhrlich an die starken sprachlichen, kulturellen und politischen Bindungen, welche die Juden zum deutschen Liberalismus gehabt hatten. Die österreichischen Juden waren traditionell Zentralisten, die den Schutz eines starken Staates vor dem Wiederaufflammen der mittelalterlichen Verfolgung suchten. Nostalgisch erinnerten sie sich an die konstitutionellen Errungenschaften der Liberalen Partei in deren goldener Zeit.53 Aber schon seit den späten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts war klar geworden, daß der Traum einer ausschließlichen deutschen Vorherrschaft in Osterreich im Sterben lag. Schon der weitblickende Weise von Emmersdorf, Adolf Fischhof, „ein herausragender Jude", hatte dies vorausgesehen. Der fuhrende Politiker der Deutschliberalen, Ernst von Plener, hatte durch sein Handeln gezeigt, daß er ohne Zögern bereit war, 1,25 Millionen österreichische Juden zu opfern. Die provinziellen deutschen Interessen der Partei in Böhmen oder der Steiermark waren ihm viel wichtiger als die Not der Juden in den tschechischen

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Kleinstädten, welche die deutsche Sache treu ergeben verteidigt hatten. Gerade weil die Deutschliberalen eine engstirnige nationale Partei waren, hatten sie in Osterreich die Grundsätze von Gleichheit und Gerechtigkeit aufgegeben.54 Ihr Bankrott war sowohl ein moralischer als auch ein politischer. Nach Mayers Dafürhalten bestand bei ihnen keinerlei Chance auf Erneuerung. Die einzig mögliche Konsequenz war, daß die Juden nicht länger als Kanonenfutter im österreichischen Nationalitätenstreit dienen sollten. Sie müßten sogleich die bankrotte Liberale Partei verlassen und zum Programm von Fischhofs Volkspartei aus dem Jahr 1882 zurückkehren, gegen das sie sich irrtümlicherweise fünfzehn Jahre zuvor gewandt hatten.55 Sie müßten das allgemeine Wahlrecht trotz der Risken unterstützen, nicht nur weil dies politisch unvermeidlich war, sondern auch um die gefährliche Nationalitätenhetze zu entschärfen, die das Habsburgerreich zu zerstören drohte. Mayer betonte, daß das allgemeine Wahlrecht nicht „das Ende der Welt" bedeuten würde, wie viele Liberale und Deutschnationale behaupteten. Als wichtigste Auswirkimg würde dadurch die neue Klasse des industriellen städtischen Proletariats die politische Arena als gleichberechtigter Akteur betreten. Deren Anerkennung durch den österreichischen Staat und die Gesellschaft war sowohl notwendig als auch unumgänglich. Das allgemeine Wahlrecht und der größere proletarische Einfluß hätten auch für die Juden den Vorteil, daß eher sozioökonomische Probleme in den Mittelpunkt gerückt würden als die nationalistischen Streitereien innerhalb der bürgerlichen Klassen, die immer mit Antisemitismus einhergingen. Die österreichischen Juden sollten ihre eigene Zukunft nicht aus Rücksicht auf eben jenes deutsche Bürgertum untergraben, das sie schon verraten hatte. Das Bürgertum verdiene es nicht mehr, die politische Vormachtstellung in Osterreich innezuhaben. Infolgedessen könne es für die jüdischen Mittelschichtwähler keinen Einwand mehr mehr geben, die Radikalfreisinnigen oder die Sozialdemokratische Partei zu unterstützen. Die wirtschaftlichen Nachteile des Sozialismus seien langfristig unbedeutend im Vergleich zur immittelbaren Gefahr, die von einer siegreichen antisemitischen Bewegung ausgehe.56 In einer Rede vor der Union am 26. September 1896 führte Mayer diese Analyse näher aus. Die österreichischen Juden wurden als integrativer Bestandteil des Bürgertums beschrieben, der sich nur durch ihre Religionszugehörigkeit unterschied.57 Und dennoch seien sie ohne Gewissensbisse von der Liberalen Partei geopfert worden, die sich kürzlich in Mähren mit den deutschnationalistischen Antisemiten verbündet hätte. Die Verwaltung in Mähren befinde sich jedoch - ohne die jüdischen Stimmen - in tschechischer Hand.58 Daraus folge, daß die Juden nicht länger irgendeiner Form des nationalen Chauvinismus, weder in Wien noch in den Provinzen, ihre Unterstützung geben sollten.59 Nationalitätenkonflikte seien die Hauptursache für den Antisemitismus in Österreich gewesen. Sie hätten barbarischen Instinkten

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zum Gedeihen verholfen und die „allergefährlichste Atmosphäre" für Juden geschaffen.60 Sie dürften daher nur jene Kandidaten unterstützen, die für nationale und soziale Gerechtigkeit auf demokratischer Basis eintraten. Dies sei keine „jüdische" Politik, sie stünde vielmehr in Einklang mit den historischen jüdischen Traditionen des Mitgefühls für „enterbte" Klassen und Nationalitäten.61 Mayer führte aus, daß das allgemeine Wahlrecht und die Sozialreform der einzig gangbare Weg sei, um dem chronischen Zerfall des politischen Lebens in Osterreich entgegenzuwirken.62 Die endlosen Zwistigkeiten zwischen Deutschen und Slawen hätten zu einem übermäßigen Einfluß der Ungarn und Polen innerhalb des österreichischen Staates gefühlt. Der Sprachenstreit vereitle weiter den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt. Eine Ausweitung des Wahlrechts auf die Arbeiterklasse würde frischen Wind in das kommerzielle und industrielle Leben Österreichs bringen. Es würde ein wichtiges Gegengewicht zum Narrenhaus des bürgerlichen Nationalismus bilden und die Anziehungskraft antisemitischer Demagogie verringern. Gleichzeitig empfahl Mayer, daß die Juden die Schaffung einer radikalen Partei unterstützen sollten, die ihre freiheitlichen Bestrebungen besser zum Ausdruck brächte.63 Nicht alle Unionsmitglieder wollten Mayers Wendung hin zu mehr Demokratie bei allgemeinen österreichischen Themen mittragen. Einige Mitglieder wandten sich noch immer gegen einen Bruch mit den Liberalen und betonten, daß Wien eine vorwiegend deutsche Stadt und der Freisinn immer mit dem Deutschtum gleichzusetzen gewesen sei.64 Bedenken wurden laut, daß die Liberalen sechs sichere Gemeinderatssitze in der Inneren Stadt und zwei in der Leopoldstadt verlieren könnten, wenn die Juden nicht mehr die liberalen Kandidaten unterstützten.65 Anderen war einfach bange vor einem möglichen allgemeinen Wahlrecht. Dennoch konnte eine etwas radikalere Stimmung bei den internen Diskussionen bemerkt werden. In einer Unionsdebatte am 12. Dezember 1896 schlug Dr. Friedrich Elbogen einen fast sozialistischen Ton an, als er bemerkte, „die Juden haben den Fehler begangen, ein wirtschaftlich reactionäres Programm, nämlich das der liberalen Partei, anzuerkennen, statt daß sie kraft ihrer historischen Tradition an der Front des Fortschrittes marschirten".66 Am 20. Februar 1897 besprach Dr. Gustav Kohn nochmals die Frage, wie die Juden bei den nächsten Parlamentswahlen abstimmen sollten. Anknüpfend an Mayers Empfehlung eines demokratischen Programms der nationalen Versöhnimg räumte Dr. Kohn ein, daß die Sozialpolitiker dieser politischen Zielsetzung am nächsten stünden.67 Dr. Kohn gab jedoch zu, daß deren Eintritt in das politische Leben Österreichs die jüdischen Erwartungen nicht erfüllt hätte.68 Die Union hätte daher den Entschluß gefaßt, sich weder mit den Liberalen noch mit den Sozialpolitikern zu verbünden, sich jedoch stattdessen für eine Versöhnung der beiden freisinnigen Par-

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teien einzusetzen. Die Entscheidungen würden persönlich getroffen werden, wobei die Union alle acht freiheitlichen Kandidaten im 1. Bezirk (4 Liberale, 4 Sozialpolitiker) unterstütze, insbesondere Konstantin Noske und Ferdinand Kronawetter.69 In der Fünften Kurie schien die offizielle Haltung der Union auf eine passive Sympathie mit den Sozialdemokraten hinauszulaufen. In der darauffolgenden Debatte zeichnete sich eine Meinungsspaltung bezüglich der Haltung der Union zu den Sozialdemokraten ab. Dr. Bloch warnte strikt vor einem Wahlpakt mit den Sozialisten. Diese Renegaten, die aus einer spontanen Panik heraus zu den Sozialdemokraten geflüchtet waren, „erwartet dort kaum eine gastliche Aufnahme".70 Ein jüdisches Liebäugeln mit der Arbeiterbewegung müßte notgedrungen zu negativen Rückwirkungen auf beiden Seiten führen. Die Juden könnten versucht sein, für sozialdemokratische Kandidaten zu stimmen, aus dem gleichen Grund, wie sie das allgemeine Wahlrecht befürworteten - namentlich um den unterdrückten und unterprivilegierten Klassen zu helfen. Sie sollten sich jedoch auch der antisemitischen Strömungen innerhalb der sozialdemokratischen Partei bewußt sein, die „jeden jüdischen Patrioten zu hoher Vorsicht" mahnen muß.71 Andere Sprecher, wie Siegfried Fleischer, wiesen diese Warnungen mit der Begründung zurück, daß allein die Arbeiter der Fünften Kurie ein Gegengewicht zu den Kleinhändlern, Handwerkern und Geschäftsleuten bilden konnten, welche die Christlichsoziale Partei unterstützten. Der liberale Dr. Elias betonte auch, daß „die Antisemiten in dieser Curie am wirksamsten durch die Socialdemokraten bekämpft werden können".72 Dr. Schnabl, einer der größten Befürworter von Julius Ofner in der Union, ging mit seiner Forderung, daß die Juden der Arbeiterpartei beitreten müßten, sogar weiter. „Die Socialdemokratie ist berufen, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen", erklärte er kühn, „welche die anderen Parteien schmachvoll verleugnen."73 In einem Bericht an die Union am 29. April 1897 bezog sich der Sekretär Josef Fuchs auf dieses Thema, wobei er gleichzeitig wiederholte, wie wichtig es sei, daß die Juden in den österreichischen Nationalitätenkämpfen neutral blieben.74 Fuchs stellte fest, daß die Hoffnungen, die in die Sozialpolitiker als eine Kraft, die ein Gegengewicht zum Antisemitismus bilden könnte gesetzt worden waren, sich als hinfallig erwiesen hätten. Die Union arbeite jetzt mit einigem Erfolg an der Vereinigung des gesamten freisinnigen Lagers. Daher unterstütze sie die Sozialdemokraten als die einzige Kraft, die in der Lage sei, das Monopol der Antisemiten zu brechen, die eindeutig die unmittelbarste Gefahr für die Juden darstellten.75 Das Auftreten sozialistischer Abgeordneter im österreichischen Parlament sei ein hoffnungsvolles Zeichen. Der Unionssekretär war der Meinung, daß sie neue Ideen einbringen könnten, die das Reich von den beiden Übeln des Nationalitätenstreits und der politischen Irrationalität befreien könnten.76

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Ähnlich optimistisch äußerte sich Dr. Julius Ofner in einem Vortrag über Antisemitismus vor der Elften Generalversammlung der Union. Ofner führte an, daß der zeitgenössische Antisemitismus, im Gegensatz zu seinen feudalen und klerikalen Vorläufern im Mittelalter, „einen ausgesprochen demokratischen Zug" habe. 77 Die Christlichsoziale Partei sei die erste Partei in Osterreich gewesen, welche die Volksmassen in die Politik einbezogen habe. Ihr Erfolg sei im wesentlichen eine Folge der von Graf Taaffe Mitte der 80er Jahre begonnenen Wahlrechtsreformen. Deshalb, so meinte Ofner, könne es sich die antisemitische Bewegung weder leisten, ihre Versprechungen einer modernen Demokratiereform nicht einzulösen, noch vollkommen mit dem Klerikalismus identifiziert zu werden.78 Ofner interpretierte den Antisemitismus primär als ein Symptom des Ringens zwischen modernen und mittelalterlichen Kräften in der österreichischen Gesellschaft. Der Liberalismus und die Sozialdemokratie verkörperten die politische Modernität gegen ihre schärfsten Feinde - die etablierten Kräfte des Hofes, des feudalen Adels und des katholischen Klerus.79 Diese reaktionären Elemente hätten den Klassenegoismus der Liberalen Partei und deren Identifikation mit „plutokratischen" Interessen hervorgehoben, um die Unzufriedenheit in der unteren Mittelschicht zu mobilisieren. Der Antisemitismus hätte daher bei all jenen gesellschaftlichen Schichten Anklang gefunden, die von dem neuen industriellen System wirtschaftlich bedroht wurden. Weil sich der Antisemitismus auf alte religiöse Vorurteile stützte, hätte er eine größere Wirkung als politische Schlagworte wie „Antiliberalismus", „Klerikalismus" oder der Kampf gegen die kapitalistische Korruption.80 Ofner wies darauf hin, daß der Antisemitismus insbesondere von der großen jüdischen Zuwanderung nach Wien nach 1848 genährt worden war. Der wirtschaftliche Erfolg der Juden in einer sich erneuernden, kapitalistischen Gesellschaft und deren bedeutende Rolle in der Liberalen und Sozialdemokratischen Partei hätten diese blinde Reaktion verstärkt. Alles „Moderne" in Österreich würde als „jüdisch" gebrandmarkt. Der politischen Reaktion sei es zeitweilig gelungen, die Gegenströmung gegen die industrielle und politische Modernität „in einen Kampf gegen Juden und Anhänger von Juden zu verfälschen".81 Ofner Schloß mit den Worten, daß sich für die Juden in Zukunft ihr Verhältnis zur „sozialen Frage" und zu den Forderungen des Proletariats zur Kernfrage entwickeln werde. Es genüge für die Juden nicht, die österreichischen Arbeiter lediglich aus dem Blickwinkel des „Kampfes gegen den Antisemitismus" heraus zu sehen. Sie müßten ein positives Interesse am Schicksal der besitzlosen Klassen entwickeln. Ofner war der Ansicht, daß ein solches Vorgehen mit den großen ethischen Forderungen der mosaischen Gesetzgebung, mit der langen Geschichte der von den Juden erlittenen Verfolgung und Exilierung und mit ihren eigenen langfristigen Zielen im Einklang stehe. „Der Jude muß für eine Gesellschaftsordnung eintreten, in welcher Alle gleich und frei sind, ohne Unterschied", erklärte er unter begeistertem Beifall.82

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Juden, die diesem Grundsatz folgten, hätten vom Antisemitismus nichts zu befürchten, der trotz seines demokratischen Mäntelchens letztlich eine rückwärtsgewandte Reaktion auf die neue, heraufdämmernde Sozialordnung war. Der christliche Sozialismus könne nicht lange das Kommen einer „freien Gesellschaft" aufhalten, in der der Jude schließlich die volle Gleichheit mit seinen Mitbürgern genießen werde. Ofhers liberaler Sozialismus mit seinen stark humanitären und ethischen Komponenten sprach zweifelsohne in gewissem Maße die jüdischen Wähler in Wien an.83 Viele österreichische Juden waren von seiner persönlichen Integrität und seinem Idealismus beeindruckt, der mit seinem beharrlichen Kampf gegen den Klerikalismus und den Antisemitismus einherging. Leider hatte der aufgeklärte bürgerliche Radikalismus wenig Aussicht, im Strudel der österreichischen Politik des beginnenden 20. Jahrhunderts mitzumischen, die sich immer stärker zwischen nationalistischen Parteien, den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten aufteilte. Nach 1901 verschwanden die Sozialpolitiker praktisch als wählbare Größe. Ofner wurde daher mit seiner intensiven Arbeit als Parlamentsabgeordneter zu einem einsamen Außenseiter, auch wenn er zeitweilig mit den Sozialdemokraten zusammenarbeitete.84 Es ist zweifelhaft, ob Ofner ohne die Loyalität seines jüdischen Wahlkreises in Wien überhaupt immer wieder ins Parlament oder den Niederösterreichischen Landtag gewählt worden wäre. Vor 1914 war die jüdische Haltung zur Sozialdemokratischen Partei Österreichs allgemein viel zurückhaltender als zum linken bürgerlichen Radikalismus, auch wenn die Angst vor der Flutwelle des christlichsozialen Antisemitismus für einige Juden in den 90er Jahren die Arbeiterbewegung attraktiver hatte erscheinen lassen. Dies war eine Partei, in der jüdische Intellektuelle wie Victor Adler, Friedrich Austerlitz und Wilhelm Ellenbogen seit den frühen 90er Jahren eine wichtige Rolle gespielt hatten. Nach 1900 sollte die Partei für eine neue Generation von Theoretikern, Journalisten, Parteigängern und -kadern aus einem jüdischen Mittelklassemiheu an Attraktivität gewinnen.85 Viele dieser Intellektuellen - Otto Bauer, Friedrich Adler, Robert Danneberg, Julius Braunthal und Julius Deutsch - sollten im „Roten Wien" der Zwischenkriegszeit große Bedeutung erlangen.86 Osterreichische Sozialisten jüdischer Herkunft hielten selten den Kontakt zur organisierten jüdischen Gemeinde aufrecht, da sie sich meist als konfessionslos bezeichneten. Die marxistische Sozialdemokratie lieferte ihnen einen Ersatz für den verlorenen Glauben ihrer Väter. Sobald sie den neuen weltlichen Glauben angenommen hatten, rückten sie zumeist von allem „Jüdischen" ab, insbesondere im antisemitischen Klima im Wien des Fin de Siecle. Ihre häufigen Angriffe auf die liberale „jüdische" Presse in der habsburgischen Hauptstadt, auf die bürgerlichen „Geldjuden" der Union, auf die jüdische Religion oder die „verjudete" Börse ließen sie dem jüdischen Durchschnittswähler kaum attraktiv erscheinen.87

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Diese feindselige Haltung blieb nicht ohne Kommentar. Kurz vor den Parlamentswahlen von 1897 schrieb Jakob Brod, ein aus Mähren stammender jüdischer Gewerkschafter, an Karl Kautsky und beklagte sich, „in Wien, Niederösterreich und den gesammten Alpenländern und auch in ganz Mähren und Galizien sind lauter ,Christen' aufgestellt" worden. Außer dem Parteiführer Victor Adler (einem Konvertiten) und Wilhelm Ellenbogen, der fur einen entfernten schlesischen Wahlkreis kandidierte, gab es keine Juden in den sozialistischen Kandidatenlisten. Brod führte diese Politik auf Adlers zwiespältige Haltung in „Judenfragen" zurück.88 Beim Parteitag im Juni 1897 behauptete er, daß die sozialistische Propaganda „Juden" bereitwillig mit Kapitalisten identifizierte, obwohl „das jüdische Proletariat das bedrückteste, unglücklichste und am meisten zurückgebliebene ist".89 Ständig kritisierten die österreichischen Sozialisten den Liberalismus schärfer, als sie Vorwürfe gegen den Antisemitismus äußerten, dessen Wahlerfolge in der Arbeiterpresse sogar begrüßt worden waren. Tatsächlich war unverkennbar ein unterschwelliger Verdacht gegenüber den Juden in der Sozialdemokratischen Partei Österreichs festzustellen. Ein böhmischer Delegierter erklärte: „Die Juden drängen sich heute in die Sozialdemokratische Partei hinein, nicht um Sozialdemokraten zu werden, sondern weil sie glauben, dass die Sozialdemokratie ihre Interessen schützen werde. Ich habe dabei nur die bürgerlichen Juden im Auge. Wenn wir die Schwarzenberge angreifen, wird das gebilligt, wenn wir aber die jüdischen Ausbeuter beim Ohr nehmen, dann kommen diese bürgerüchen Auchsozialdemokraten und fangen an zu kritisieren, dass es doch nicht nothwendig gewesen wäre, diese Leute so scharf zu bekämpfen.(Heiterkeit und Zustimmung). Selbstverständlich ist, dass diese jüdischen Proletarier zu uns gehören, aber gegen diese bürgerlichen Juden, die sich jetzt als Sozialdemokraten aufspielen, müssen wir auftreten. Gehört es ja auch heute schon zum guten Ton, dass man sich wenigstens als Sozialpolitiker oder als Beschützer der Sozialdemokraten gerirt. Müssen wir uns jeden Bürgerlichen, der in unsere Partei kommt, genau einsehen, so müssen wir uns jeden bürgerüchen Juden, der in unsere Partei kommt, dreimal genau ansehen und dreimal genau prüfen." 90

Prominente sozialdemokratische Führer wie Engelbert Pernerstorfer, Franz Schuhmeier und Victor Adler selbst äußerten diesen Verdacht. Pernerstorfer beklagte sich deutlich über die Auffassung mancher Juden, „die sofort über Verletzung der Gleichberechtigung zetern, wenn sie nicht gleich Alles erreichen, was sie erreichen wollen. Die Partei hat prinzipiell den Juden nie Schwierigkeiten gemacht; so steht aber die Sache nicht, dass einer eine fuhrende Stellung haben muss, nur darum und schon deshalb, weil er Jude ist".91 Schuhmeier forderte, Juden rücksichtslos auszuschlie-

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ßen, die die Absicht haben, die Sozialdemokratische Partei „zu einer Judenschutztruppe zu machen". Zu Jakob Brod antwortete er: „Gen. Brod hat mich angegriffen, weil ich die Äusserung gethan hätte: Meinetwegen sollen alle Juden nach Palästina gehen. Wie ich mich kenne, und ich kenne mich besser als Genösse Brod (Heiterkeit), werde ich sicher darauf gesagt haben: Ich habe aber auch nichts dagegen, wenn alle Pfaffen den Juden irgendwohin nachfolgen." Victor Adler wies die Bemerkungen von Brod ebenfalls zurück. Er Schloß: „Die Judenfrage hat ihre spezifische Gestalt davon, dass die kapitalistische Bourgeoisie hier in Wien eine jüdische Färbung hat. Dass die Juden das tragen müssen, ist traurig, aber dass wir bei dieser Gelegenheit imer wieder den Juden in der Suppenschüssel finden, ist mir und Anderen auch zu langweilig."92 Wenn nun viele Juden sich der sozialistischen Bewegung anschlössen, dann sollte man nicht glauben, daß sie „von so idealen Motiven geleitet" sind. Adler betonte, „gerade so lächerlich und abgeschmackt wie die Judenfurcht ist die Antisemitenfurcht", und er bekräftigte seine Politik: „Wir gestatten keine Ablenkung der sozialdemokratischen Bewegung auf antisemitische Bahnen, aber abenso wenig eine Ablenkung auf philosemitische Bahnen. (Beifall)."93 Die Union hatte ihre eigenen Beweggründe, den österreichischen Sozialdemokraten zu mißtrauen, die ständig die bürgerlichen Juden als eine homogene Gruppe reicher „Ausbeuter" darstellten. In einem Vortrag an die Union am 14. November 1899 wies Vizepräsident Sigmund Mayer ärgerlich die Mythen vom jüdischen Reichtum, der Klassensolidarität und der „Ausbeutung" zurück, wie sie von einer Reihe sozialdemokratischer Delegierter propagiert wurden.94 So wie die Antisemiten griffen auch die österreichischen Sozialdemokraten Rothschild, Baron von Gutmann und andere große jüdische Magnaten an, als ob diese die Masse der Juden repräsentierten. Die jüdische Gesellschaft sei aber keine monolithische Einheit.95 In der jüdischen Welt bestünde vielmehr eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen dem Großbankentum (Ja haute banque), der Mittelschicht, den kleinen Händlern und den Arbeitern. Gerade die kleinen jüdischen Handwerker, Händler und Hausierer in Wien, Böhmen, Mähren oder Galizien litten am stärksten unter dem wirtschaftlichen Antisemitismus, der sich angeblich gegen die großen jüdischen Kapitalisten richtete.96 Es wäre die Aufgabe jüdischer Selbstverteidigung, der christlichen Bevölkerung diese Differenzierung klarzumachen. Die jüdischen und die christlichen unteren Klassen, so glaubte Mayer, hätten gemeinsame wirtschaftliche Interessen.97 Diese ausdrückliche Betonung der Klassensolidarität schien erstaunlich nah an der marxistischen Analyse der „Judenfrage" angesiedelt zu sein. Sie schien hauptsächlich dem Wunsch zu entspringen, antisemitische Angriffe auf eine „jüdische" Solidarität zurückzuweisen, die als Vorwand dienen könnte, die Gleichberechtigung aufzuheben.98 Während Mayer scharfe Kritik an den Sozialisten übte, daß sie die Existenz armer Juden ignorierten, warf er gleichzeitig den reichen Wiener Juden vor, die Ak-

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tivitäten der Union finanziell nicht zu unterstützen." Die Millionäre in der jüdischen Gemeinde hatten nur armselige Beträge für die Aufrechterhaltung ihrer wichtigsten Verteidigungsorganisation zur Verfugung gestellt. Nur dank der „Theilnahme unserer jüdischen Mittelklasse und dem gerne gezollten Tribut vieler unserer kleinen Leute in Wien wie auch in der Provinz" hatte das Rechtsschutzbureau seine normalen Auslagen begleichen können.100 Die Bemühungen der Union, zusätzliche Geldmittel für ihren „Guerilla-Krieg gegen die Antisemiten" zu erhalten, hatten gezeigt, daß die Judenschaft in zwei Klassen geteilt war: „Die kleine reiche, die nicht das geringste Interesse für die übrige Masse der Glaubensgenossen hegt und zeigt", und andererseits „die übergroße Masse der arbeitenden mittleren und der kleinen Leute und dann die ganz armen jüdischen Proletarier .. ," 101 Die Kosten für die Verteidigungsaktivitäten und die finanziellen Defizite, die der Union durch ihr Rechtsschutzbureau entstanden, waren ein permanenter Grund zur Sorge.102 Im Jahr 1900 waren von den 15.000 Steuer zahlenden Mitgliedern der Kultusgemeinde gerade ein Zehntel Mitglieder in der Union, die den jährlichen Mindestbetrag von zwei Gulden zahlten.103 Die Organisation wollte keine verpflichtende Erhöhung dieses Betrages in Erwägung ziehen - aus Sorge, damit ihre ärmeren Befürworter zu verlieren. Anfangliche Versuche, die Mitgliedschaft auszuweiten, waren jedoch nur von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen. Von 1896 bis 1899 traten nur dreihundert neue Mitglieder bei. Die Masse der Steuerzahler der Gemeinde, insbesondere die reichste Schicht in der Gemeinde, machte deutlich, daß sie kein Geld fur derartige Abwehr-Ziele hätte. Sogar die Israelitische Allianz, die das Rechtsbureau von Anfang an großzügig unterstützt hatte, war gezwungen, ihre Zuwendungen aus finanziellen Gründen zu kürzen.104 Das Rechtsschutz- und Abwehr-Bureau war offiziell am 15. Dezember 1897 gegründet worden. Den Vorsitz führte ein energischer Sekretär, Siegfried Fleischer, der zwei Jahre später auch Sekretär der Union werden sollte. Ihm standen einige treue, offiziell ernannte Männer zur Seite, die sich zur „Wahrung der politischen Rechte und wirtschaftlichen Interessen nicht nur unserer Glaubensgenossen in Wien, sondern auch jener in ganz Cisleithanien" verpflichtet hatten.105 Mit Josef Fuchs' Worten war das Rechtsschutzbureau ein „unausgesetzt wachsamer Hüter der persönlichen Ehre jedes einzelnen Juden, mag er auch im verlorensten Dorfe Galiziens ein kümmerliches und obscures Dasein führen". Das Bureau wurde „zu einem stets kampfgerüsteten Organ der Abwehr gegen antisemitische Lüge und Bosheit entwickelt".106 Es war die institutionelle Antwort der Union auf die altmodische Politik des Schweigens, der Resignation und der Abstinenz.107 Wenn die Juden nach der Machtergreifung der Christlichsozialen in Wien nicht zu Bürgern zweiter Klasse reduziert werden sollten, dann war „ein neues System der Abwehr" unentbehrlich.108 Fuchs argumentierte, daß es äußerst wichtig sei, „laut und entschieden zu re-

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den und alle gesetzlichen Mittel in Anwendung zu bringen, die uns zur Vertheidigung unserer Rechte zustehen".109 Das Rechtsschutzbureau legte seine Aufgabe nicht eng und formalistisch aus, auch beschränkte es sich nicht einfach auf die Abwehr antisemitischer Angriffe in Wien. Schon ganz früh war erkannt worden, daß die Verteidigung jüdischer Rechte auf die breite Masse der Juden in den österreichischen Provinzen ausgedehnt werden müßte, die physisch viel exponierter waren als ihre Glaubensgenossen in der kaiserlichen Hauptstadt. Schon im März 1897 erklärte das Bureau, daß es Vertrauensmänner in mehr als sechzig österreichischen Städten angeworben habe. Ihre Nachforschungen und ihr beratendes Netz erstreckten sich über die gesamte österreichische Reichshälfte, wobei sie wertvolle Hilfe durch ihre unterschiedlichsten Kontakte in Böhmen, Mähren und Galizien erhielten. Nach Fuchs war es eine der Hauptaufgaben des Bureaus, Beweismaterial zu sammeln und immer dann einzuschreiten, wenn das „Gesammtjudentum" in Österreich diffamiert wurde - sei es in der Presse, bei öffentlichen Versammlungen oder in repräsentativen Institutionen.110 Die wichtigste Einzelaufgabe bestand jedoch darin, „in allen Fällen, wo das Judenthum in seiner Gesammtheit angegriffen wurde und es sich um öffentlich rechtliche Fragen handelt, thätige Abwehr zu üben".111 Wie erfolgreich war nun das Bureau in seinen rechtlichen Schlachten gegen die scheinbar endlose Flut antisemitischer Aktivitäten in Österreich zwischen 1897 (dem Jahr seiner Gründung) und 1914? Wenn man den Behauptungen seines Sekretärs Glauben schenken darf (in einem Bericht von 1910 anläßlich des 25jährigen Bestehens der Union), wurden nicht weniger als 5.000 vom Bureau bearbeitete Fälle zu einem erfolgreichen Abschluß geführt.112 Diese Behauptung kann schwer überprüft werden, wahrscheinlich war jedoch die Definition einer „erfolgreichen" Verteidigungstätigkeit sehr weit gefaßt worden. Anscheinend war die Tatsache absichtlich verschleiert worden, daß viele vom Bureau bearbeitete Akten niemals eingehend behandelt, sie niemals Gerichten vorgelegt oder zum Gegenstand politischer Vermittlungen gemacht worden waren. Dennoch war es dem Bureau äußerst wichtig, jede Akte, die - auch nur für Informationszwecke - geöffnet wurde, als einen Beweis seines unverzichtbaren und erfolgreichen Einschreitens anzusehen. Aus einer genauen Untersuchung seiner eigenen internen Dokumentation geht jedoch ein bescheideneres und differenziertes Bild hervor. Von den zwischen 15. Dezember 1897 und April 1898 tatsächlich behandelten Akten standen nur weniger als die Hälfte der 82 Fälle in Zusammenhang mit Interventionen bei Regierungsstellen, Petitionen, Audienzen oder Rechstbeistand vor Gericht. Das wichtigste war jedoch nach Fuchs' Dafürhalten, daß in mehr als einem Viertel der Fälle die antisemitische Presse - sehr zu ihrer Verärgerung - Berichtigungen oder sogar demütigende Entschuldigungen für ihre Verleumdungen gegen Juden abdrucken mußte.113

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Daß die antisemitischen Gegner gezwungen wurden, in der Presse Behauptungen zurückzuziehen, erfüllte das Bureau zweifelsohne mit Befriedigung, vor allem wenn die Gerichte den Beklagten Geldbußen auferlegten. Es muß jedoch angezweifelt werden, ob dieser Teil seiner rechtlichen Arbeit (wie Sigmund Mayer überzeugt war) das Ausmaß antisemitischer Angriffe in Wien oder im übrigen Zisleithanien wesentlich reduzierte.114 Ein gewisser Abschreckungseffekt kann jedoch nicht von der Hand gewiesen werden, wenn in der Zeit zwischen April 1898 und März 1899 aufgrund der Statistik des Bureaus 54 der 114 bearbeiteten Akten (d. h. 47 Prozent) zu einem Widerruf in der antisemitischen Presse führten.115 Vorkommnisse bewiesen hingegen, daß es nicht schwer war, Gerichtsprozesse dadurch zu umgehen, daß vermieden wurde, jüdische Personen, Adressen oder Firmennamen genau zu nennen, während gleichzeitig weiterhin unverfroren antisemitische Sprüche publiziert wurden. Ein weiteres ernstzunehmendes Hindernis für erfolgreiche Rechtsschritte war die Immunität christlichsozialer Abgeordneter im Reichsrat oder im Niederösterreichischen Landtag, wie Schneider, Gregorig oder Schlesinger, deren anti-jüdische Hetzreden in der Parteipresse regelmäßig abgedruckt wurden. Nachdem diese ihre verleumderischen Beschuldigungen innerhalb der Sicherheit österreichischer Gesetzgebungsorgane vorgebracht hatten, wo ihre Partei schon in einer sehr starken Position war, konnten diese Abgeordneten nicht leicht zur Rechenschaft gezogen werden; noch konnte die Presse verklagt werden, daß sie deren Worte abgedruckt hatte. Als daher das Rechtsschutzbureau versuchte, nach einer berüchtigten Rede Gregorigs gegen die sexuellen Mißhandlungen jüdischer Arbeitgeber eine Petition an den Präsidenten des Niederösterreichischen Landtages zu richten, wurde sein Protest von der antisemitischen Mehrheit leicht abgewiesen.116 Eine erfolgreichere Intervention des Abwehrbureaus war das detaillierte Memorandum über die antisemitischen Ausschreitungen in Prag, das dem österreichischen Ministerpräsidenten Baron Paul von Gautsch am 6. Jänner 1898 überreicht wurde.117 Das Memorandum war von Siegfried Fleischer nach seinem Besuch in Prag vorbereitet worden, der in Zusammenhang mit der Judenhetze stand, die im Dezember 1897 ihren Anfang genommen hatte. Nach deutsch-tschechischen Zusammenstößen in Prag und anderen Teilen Böhmens hatte der tschechische Mob jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen angegriffen.118 Diese Kampagne, die ursprünglich durch die Badeni-Sprachverordnungen provoziert worden war, war gefahrlich genug, daß Gautsch sich bemüßigt fühlte, auf das Memorandum des Abwehibureaus zu reagieren. Am 7. Februar 1898 löste er die antisemitische Ndrodni odbrana (Nationale Verteidigung) wegen der Rolle auf, die sie bei der Aufstachelung der Unruhen gespielt hatte. Dieser Erfolg mag das Bureau dazu verleitet haben, bei den Behörden finanzielle Entschädigung wegen weiterer an jüdischem Eigentum ent-

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standender Schäden einzufordern, als im Frühling 1899 streikende Arbeiter in der böhmischen Stadt Nachod tobten.119 Von April 1898 bis März 1899 leistete das Rechtsschutzbureau Rechtshilfe in 35 von 114 Fallen, die es tatsächlich bearbeitete (29 Prozent), und setzte sich in weiteren 27 Fällen bei politischen Behörden „für die berechtigten Interessen einzelner Glaubensgenossen" ein.120 Manchmal wurden ihre Berichte über illegale Diskriminierung oder ihre Bereitschaft, rechtliche Schritte zu unternehmen, durch politische Erwägungen oder die Rücksichtnahme auf Familien- und Geschäftsinteressen einzelner Juden gehemmt. Welches auch immer die praktischen Einschränkungen waren, sowohl das Rechtschutzbureau als auch die Union waren überzeugt, daß die greifbare Verbesserung der jüdischen Stimmung in Wien und den Provinzen vor allem auf ihre neue Politik des positiven Selbstvertrauens und der energischen Vermittlung bei den Behörden zurückzufuhren sei.121 Die intensive Verteidigungstätigkeit hätte, so wurde behauptet, den Mut Wiederaufleben lassen und „zur Stärkung des staatsbürgerlichen Bewußtseins unserer Glaubensgenossen" beigetragen.122 Nach Auffassung der Union machten das Schweigen und die Apathie angesichts illegaler Diskriminierung und immer häufigerer Versuche, die Juden aus Handwerkszünften oder beruflichen und kommerziellen Verbänden auszuschließen, einem neuen Optimismus im Kampf um die Aufrechterhaltung bürgerlicher Gleichheit Platz. In bezug auf die gefährlicheren Erscheinungsformen des Antisemitismus - wie die Pogrome, die im Sommer 1898 West- und Zentralgalizien erfaßten - erlaubten sie einen Einblick in jene unlösbaren Probleme, denen jüdische Selbstverteidigungsorganisationen wie das Rechtsschutzbureau gegenüberstanden. In einer ersten Reaktion versuchte das Bureau jüdische Mitglieder des Polenklubs dazu zu bewegen, gemeinsam mit ihren christlichen Kollegen und dem polnischen Statthalter von Galizien einzuschreiten, jedoch mit wenig praktischem Erfolg.123 Erfolgreicher war die Bitte an den österreichischen Ministerpräsidenten, Graf Leo Thun, sofort militärische Verstärkung zu entsenden und in den betroffenen Gebieten das Kriegsrecht auszurufen. Zwei Vorstandsmitglieder der Union waren von Graf Thun im Juni 1898 empfangen worden, und er war auch der Empfanger einer Petition des Unionspräsidenten Wilhelm Anninger. Die Union beteiligte sich finanziell an einer wichtigen soziologischen Untersuchung über die Hintergründe dieser Unruhen, wo nicht nur Juden, sondern auch fuhrende polnische Politiker und Intellektuelle um ihre Meinimg befragt wurden.124 Siegfried Fleischer führte im Namen des Abwehrbureaus auch eine sehr umfangreiche Enquete über die wirtschaftlichen und politischen Ursachen der Pogrome durch.125 Parallel zu diesen Untersuchungen versuchte die Union, auch einen greifbaren Wandel innerhalb der polnischen Provinz zu fördern, insbesondere betreffend

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die industrielle Entwicklung und Bildungsreformen. Die erforderlichen Mittel von ausländischen jüdischen Organisationen trafen jedoch niemals ein, und „wissenschaftliche" Studien bewirkten keinen Stillstand der pogromistischen Propaganda in Galizien. Beeinflußt von Pogromen im benachbarten Zarenreich, lebte der Antisemitismus 1905 und erneut 1906 wieder auf; das Bureau war machtlos gegen die weitverbreiteten wirtschaftlichen Boykotte gegen Juden durch polnische Nationalisten. In Galizien wie auch in anderen Teilen der Monarchie hatten Bemühungen, die öffentliche Meinung gegen den Antisemitismus zu mobilisieren oder „konstruktive" Maßnahmen zur Hinfuhrung der Juden in produktive Berufe, wenig Aussicht auf Erfolg. Eine Selbstverteidigung, die sich auf Beschwerden bei höheren Regierungsstellen oder den Gerichten stützte, hatte als Strategie etwas mehr Erfolg und kurzzeitig vielleicht eine abschreckende Wirkung. Sie konnte jedoch kaum ein Heilmittel für ein derartig tief verwurzeltes Phänomen wie den volkstümlichen Antisemitismus in der späten Habsburgermonarchie sein. Allein in den Jahren zwischen 1898 und 1905 wurde von nicht weniger als dreißig Ritualmorden in verschiedenen Teilen des Reiches berichtet, vor allem in ländlichen, slawischen (und katholischen) Regionen Galiziens, Böhmens und Mährens. Das Rechtsschutzbureau untersuchte die meisten dieser Fälle äußerst genau, gelegentlich appellierte es an das Justiz- oder Unterrichtsministerium, ohne jedoch greifbare Ergebnisse zu erzielen. Die größten Bemühungen in einem Einzelfall, gegen die Flut von Diffamierungen anzugehen, die durch das Wiederaufleben der mittelalterlichen Ritualmordbeschuldigung gefordert wurden, fanden vielleicht im Fall Hilsner 1899 statt. Das Bureau gewährte Hilsner freien Rechtsbeistand und versuchte, sogar nach dessen Verurteilung, den Fall wieder aufzurollen. Gleichzeitig protestierte es vehement gegen tschechische oder deutsche Broschüren, die Ritualmordgeschichten zu verbreiten versuchten, und unterstützte finanziell eine Sammlung mit christlichen Widerlegungen des Ritualmordes.126 Die Gegenpropaganda des Bureaus und die spürbar größere Bereitschaft der österreichischen Gerichte nach 1905, Täter, die Ritualmordverleumdungen in die Welt gesetzt hatten, zu verurteilen, waren vielleicht der Grund für den Rückgang dieser Geißel in den letzten Jahren der Monarchie. Durch die Verurteilung Hilsners und die Propaganda, die dies für die Antisemiten in Prag, Wien und dem galizischen Hinterland des Reichs bedeutete, wurde dennoch die positive Auswirkung der Arbeit des Bureaus mehr als relativiert. Wenn das Rechtsschutzbureau wenig gegen rassischen, religiösen oder wirtschaftlichen Antisemitismus ausrichten konnte, der bei der breiten Masse des Volkes Unterstützung fand, so entstanden ihm nicht minder große Nachteile durch die anhaltende Voreingenommenheit gegen Juden in der oberen und mittleren Ebene des österreichischen Beamtentums. Mit einer scharfen Protestnote an das Innenministerium war auf den erschreckenden Aufruf von Professor Dr. Josef Sturm reagiert wor-

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den, der bei einer christlichsozialen Wahlveranstaltung in Wien „das einfache Erschießen der Juden" forderte.127 Das Bureau warnte das Ministerium: „Der Glaube gewisser Kreise, daß in Osterreich der jüdische Staatsbürger ein vogelfreies Wild sei, müsse durch die passive Haltung der staatlichen Organe stets neue Nahrung finden und es erwachse daraus die Gefahr, daß es auch in Wien zu Scenen kommen könnte, wie wir sie zur Schmach des Vaterlandes in Galizien erlebt haben."128 In einem eigenen Memorandum, das bezeichnenderweise vom Ministerium nicht beantwortet wurde, bemerkte die Union, daß es in keinem anderen modernen, zivilisierten Staat einem bezahlten Beamten gestattet wäre, solche markerschütternden Drohungen gegen eine Gruppe von Mitbürgern auszusprechen. Aber gerade dort, wo es sich um Antisemitismus von Beamten (oder Regierungsvertretern) handelte, bestand wenig Hoffnung auf Wiedergutmachung. Dem Bureau gelang es dennoch, den erneuten Vorstoß der Partei Luegers zu parieren, eine Trennung nach Religionszugehörigkeit von Juden und Christen in den Wiener städtischen Schulen einzuführen.129 Diese „klerikale" Forderung drohte die lange Tradition des Besuchs von Juden in allgemeinen Schulen zu Fall zu bringen, die auf die Zeit Josefs II. zurückging. Die Leidenschaften der Wiener Judenschaft wurden dadurch unweigerlich geweckt. Prompt reichte auch die IKG eine Petition beim Unterrichtsministerium ein, während das Rechtschutzbureau der Union bei der Organisation von Protestveranstaltungen und politischer Opposition gegen die vom Wiener Gemeinderat vorgeschlagenen Trennungsmaßnahmen mithalf. Das kombinierte Vorgehen, Druck auf das Untemditsministerium auszuüben (das verpflichtet war, den Grundsatz der Nicht-Trennung aufrechtzuerhalten) und gleichzeitig die Unterstützung von antiklerikalen politischen Parteien zu mobilisieren, konnte in diesem Fall einen gefahrlichen Präzedenzfall für die Aufweichung der bürgerlichen Gleichberechtigung für Juden erfolgreich verhindern. Endlich konnte die Union einmal einen eindeutigen Erfolg bei der Verteidigung jüdischer Rechte vorweisen. Es war dies ein seltenes Beispiel für den Einsatz der öffentlichen Meinung (in einer Gesellschaft, die noch nicht gänzlich demokratisiert war) mit einem gleichzeitigen Appell an die Behörden, um ein zentrales antisemitisches Ziel zu vereiteln. Zweifelsohne hatte die Tatsache, daß das Thema „Klerikalismus" mit ziemlicher Sicherheit die Leidenschaften liberaler, freisinniger und sozialdemokratischer Politiker weckte, der jüdischen Sache geholfen. Ebenso bedeutsam war die Fähigkeit und Bereitwilligkeit der Union (und des Bureaus), eine solche „demokratische" Koalition zusammenzubringen, um jüdische Rechte im Sinne der Allgemeinheit zu schützen. Bei internen jüdischen Angelegenheiten war die Union jedoch um einiges weniger liberal als in ihrer allgemeinen Einstellung zur österreichischen Politik. So bekämpfte sie nicht die Entscheidung des Wiener Gemeindevorstands, im Jahr 1900 ein Zwei-Klassensystem einzuführen, wodurch die reichsten Steuerzahler der Ge-

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meinde (jährlich über 200 Kronen) zusätzlich zwölf Mitglieder zum Vorstand wählen sollten.130 Diese reaktionäre Wahlreform gab den Antisemiten - wie es ein Kritiker ausdrückte - eine Waffe in die Hand, „während wir uns für das gleiche Recht mit Füßen treten und uns in Kasten eintheilen nach dem Maßstabe des Geldsackes", und dies schadet dem moralischen Ansehen der Juden. 151 Andere Kritiker, wie Kommerzialrat Wilhelm Stiassny, wandten sich gegen den oligarchischen Inhalt des neuen Systems, da er „gegen den Zeitgeist und den Geist des Judenthums" verstoße.132 Und dennoch zögerte die Union, formal den Gemeindevorstand zu bekämpfen. Nach 1900 verteidigte sie immer stärker die von den Zionisten verurteilte plutokratische Struktur der Gemeindewahlen.133 Einer der großen inneren Widersprüche der Union war es, daß sie seit der Jahrhundertwende das allgemeine Wahlrecht befürwortete, es aber gleichzeitig verabsäumte, die Demokratisierung der jüdischen Gemeinde voranzutreiben. Die Union hatte den politischen Zionismus seit seinem ersten Auftreten in Wien vehement abgelehnt, da sie überzeugt war, daß dieser den Antisemitismus lediglich verstärken und den Kampf der Juden um ihre bürgerlichen Rechte in ihren Siedlungsgebieten untergraben könnte. Sigmund Mayer (Unionspräsident nach 1905) sah den Zionismus als einen besonders perversen Versuch an, den Trend der sozialen Integration nach der Aufklärung umzukehren. Für Mayer schien der Gedanke, die österreichischen Juden in eine hebräisch sprechende „politische Nation", wie die Deutschen, Tschechen, Polen, Ukrainer, Slowenen oder Rumänen, umzuwandeln, der Gipfel der Torheit.154 Nicht weniger „phantastisch" war die Forderung nach einer „Judenkurie" auf nationaler Basis, wie sie Zionisten in Mähren 1905 vorschlugen.135 Dies würde den Antisemiten bei der Zerschlagung der gesetzlichen Rechte der Juden in die Hände spielen, ein selbstauferlegtes Pariatum fördern und verheerende wirtschaftliche Folgen für die jüdische Bevölkerung haben. Wie andere assimilationistische Kritiker des Zionismus sah auch Mayer das zionistische Programm als reine Utopie an. Er bestand darauf, daß die Juden keine Nationalität seien (da ihnen ein gemeinsames Territorium, ein gemeinsame Sprache oder Kultur fehle), auch wenn die zionistischen Erfolge bei der Mobilisierung dieser nicht-existenten „Nation" in Osterreich diese Behauptung Lügen zu strafen schienen.136 In der Tat stellten die Parlamentswahlen von 1907, bei denen die Zionisten eine lebhafte Wahlkampagne führten, die Union vor ein taktisches Problem, das nicht einfach beiseite geschoben werden konnte. Insbesondere mußte zu dem zionistischen Vorschlag Stellung bezogen werden, daß Juden im neuen Parlament eine unabhängige politische Gruppierung bilden sollten. Einige Unionsmitglieder, wie Siegfried Fleischer und Josef Bloch, befürworteten diese Option trotz ihrer Opposition gegen den Zionismus als Ideologie. Diese Gruppe favorisierte - in Wien oder in den Provinzen - Kandidaten, die spezifisch jüdische Interessen vertraten.137

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Zu ihren Kandidaten gehörten Dr. Gustav Kohn in der Leopoldstadt, dem nicht weniger als drei jüdische Gegenkandidaten gegenüberstanden, und Kamillo Kuranda in der Inneren Stadt.138 Die Versuche, diese Unionskandidaten als Vertreter eines ausgesprochenen „jüdischen Blickwinkels" darzustellen, war angesichts ihrer unbestreitbaren assimilationistischen Zielsetzung erstaunlich. Die Tatsache, daß die mächtige Mayer-Partei in der Union den Sozialreformer Julius Ofner gegenüber Dr. Kohn als den besten „jüdischen" Kandidaten für die Leopoldstadt vorzog, verstärkte die Verwirrung. Nicht weniger seltsam war die Tatsache, daß einige Unionsmitglieder, wie Dr. Bloch, den Sieg der vier „zionistischen" Kandidaten bei den Parlamentswahlen von 1907 so deuteten, daß dieser durchaus in Einklang mit ihrer lang gehegten Meinung zur politischen Vertretung der österreichischen Judenschaft stand.139 Trotz alledem blieb der Konflikt zwischen der Union und der zionistischen Bewegung im Kontext der jüdischen Gemeinde unversöhnlich. Die Unionsvertreter setzten die Zionisten häufig mit den Wiener Antisemiten gleich, insbesondere bei ihrer Verwendung von „pöbelhaften" Taktiken.140 Die Union und die Mitglieder ihres zentralen Wahlausschusses sahen ihre Hauptrivalen im Ringen um die Macht in der Gemeinde als ein radikales nationalistisches Element, das nichts vom Judaismus wußte und destruktiv darauf abzielte, die Grundlagen der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden zu untergraben. Die Union wandte sich weiter unerschütterlich gegen jede nationale Definition jüdischer Identität. Insbesondere entrüstete sie sich über die „antisemitische" Konzeption der Juden als Gastvolk in der Diaspora, wie sie provokativ von vielen Zionisten vertreten wurde. Diese Auffassung schien jeden Versuch der österreichischen Juden zu unterminieren, sich im Vielvölkerstaat Osterreich zu integrieren. Das Vorhandensein solch tiefsitzender Vorbehalte gegenüber dem Zionismus innerhalb der Union sollte jedoch den Blick vor der Tatsache nicht verstellen, daß parallel dazu ein Prozeß der Stärkung der jüdischen Identität innerhalb der rivalisierenden Organisationen stattfand. Etwas von dem Stolz und dem Selbstbewußtsein, die mit der jüdischen nationalen Wiedergeburt einhergingen, beeinflußte sehr wohl die führenden Persönlichkeiten der Union und prägte ihre Tätigkeit nach 1900.141

in. DER AUFSTIEG DES ZIONISMUS

11. Kadimah und der Nationalismus jüdischer Studenten AUein unter uns befand sich ja der gottbegnadete Schriftsteller Smolenskin ... Einen Moment nur dachte er nach, seine bleichen Lippen spitzten sich, und als ich ihm das Wort erteilte - meinte er, der Verein möge den Namen Kadimah tragen. Kadimah ist die Richtung unseres Werbens nach Osten, heißt aber auch Vorwärtsschreiten. Reuben Bierer - Brief an die Akademische Verbindung Kadimah (um 1898) Stammesgenossen.' Seit 18 Jahrhunderten, seitdem das jüdische Volk seine Selbständigheit verloren hat, ist es unaufhörlichen Verfolgungen ausgesetzt, deren Ziel der Untergang des Judentums ist. In diesem Bestreben werden unsere Feinde leider nur zu sehr von unseren Stammesgenossen selbst unterstützt. Der Indifferentismus im Innern des Judentums wetteifert mit den Feindseligkeiten von außen in der Bemühung, dieses Ziel zu erreichen. Unseren Feinden gegenüber können wir uns nur defensiv verhalten; dem Indifferentismus aber muß entgegengewirkt werden. Dieser Alf gäbe hat sich der in Wien neugebildete akademische Verein ,Jiadimahu unterzogen, der den Zweck hat, die geistigen Güter des Volkes zu erhalten und zu pflegen. Erste Proklamation der Kadimah in Wien (Frühling 1885) Die Karte, mit der Sie mich beehrten, war mir ein tröstliches Zeichen, daß die Idee unseres nationalen Selbstbewußtseins in der Wiener akademischen Jugend Wurzel gefaßt hat. Daß noch keine Blüten hervorgeschossen sind, ist kein Wunder und darf Euch nicht entmutigen. Das jetzige tonangebende Geschlecht, an dessen Stelle Ihr doch bald treten werdet, kann sich nicht von seinen durch Dezennien eingeimpften Prinzipien lossagen, und Euch fehlt der gesellschaftliche Einfluß. Dagegen ist für Euch die Zukunft. Diese können die vornehmen Herren euch nicht wegnehmen, und es kommt eine Zeit, wo der edle Traum Eurer Jugend durch Eure kräftigen Männerhände zur Tat werden wird... Leo Pinsker, Brief an den Präsidenten der Kadimah (11. Dezember 1884) Ende der Achtzigerjahre trat eine bedeutsame Änderung in der Arbeitsweise der „Kadimah" ein. Rekrutierte sich bisher die „Kadimah" aus dem großen östlichen Reservoir, aus Polen und Rußland, so waren es nun Studenten aus Wien, Mähren und der Bukowina, die mit ihrem Eintritt sofort neuen Methoden zustrebten. Als ich in die „Kadimah" kam, fand ich dort schon einige Wiener Studenten. Waren die ersten Kadimahner junge Juden, die in der „iiadimah" nicht erst das Judentum suchten, sondern bewußtes Judentum mitbrachten, so kamen wir neuen, frischgebackenen Kadimahner aus dem Assimilationsmilieu und suchten erst in der „Kadimah" das Judentum. Dr. Isidor Schallt („Erinnerungen, 1890 bis 1914", in der Festschrift der Kadimah)

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Da fandjene historisch-denkwürdige Versammlung der Kadimah im Ronachersaale statt die erste jüdische Versammlung, in der Herzl erschien. Eine spontane, nicht endenwollende Ovation empfing ihn. In tiefer Ergriffenheit bestieg er das Podium und erklärte, jetzt fiihle er sich gedrängt und berufen, die Leitung der zionistischen Bewegung zu übernehmen. So hat der Kongreßzionismus im Schöße der Kadimah seinen Vater und Meister erhalten und die besten Söhne der Kadimah, Dr. Kokesch, Dr. Schalit, Dr. Schnirer und Dr. Werner zählten zu seinen ersten, tatkräftigsten und treuesten Mitarbeitern.

Dr. Otto Abeles, Dreißig Jahre Kadimah (1912)

A L L G E M E I N BEKANNT IST DAS W I E N D E S Fin de Siecle

ALS DIE G E B U R T S S T Ä T T E

von Herzls politischem Zionismus. Weniger geläufig ist, daß Wien schon seit den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts das Zentrum des jüdischen Nationalismus in der deutschsprachigen Welt war. Der Träger dieses nationalen Gedankens war eine kleine Gruppe jüdischer Studenten der Wiener Universität, die 1882 den Akademischen Verein Kadimah gegründet hatten, die erste jüdisch-nationale Studentenverbindung in Westeuropa.1 In der Folge diente die Kadimah als Vorbild für die Gründung einer Reihe neuer jüdisch-nationalistischer Studentenorganisationen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. In den späten 90er Jahren hatte sie ihren Einfluß schon auf Deutschland und Teile Westeuropas ausgedehnt.2 In Wien selbst sollte sie Mitte der 90er Jahre das Rückgrat der Anhängerschaft Theodor Herzls bilden, da dies eine erprobte Gruppe treuer Kader war, mit der er die erste zentral organisierte zionistische Bewegung aufbauen konnte.5 Isidor Schalit, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des österreichischen Zionismus, führt in seinen Erinnerungen der 90er Jahre an, daß sich die Kadimah als „die Kraft und das Agitationszentrum der palästinischen Idee für Westeuropa [herausgebildet hatte] ... nicht allein die Träger der jüdisch-nationalen Idee, wir waren auch durch manche Jahre hindurch ihre einzigen Propagandisten, ihre Redner, Journalisten, Agitatoren, wir waren die Bewegung." 4 Die Ursprünge der Kadimah können auf die Begegnung zweier junger Studenten an der Wiener Universität, Moritz Schnirer (1861-1941) und Nathan Birnbaum (1864-1957), mit dem 46jährigen Reuben Bierer zurückgeführt werden, der kurz zuvor mit seiner Familie in die habsburgische Hauptstadt übersiedelt war.5 Der Lemberger Arzt Reuben Bierer (1855-1931) war einer der ersten gewesen, der sich in Galizien in der Chovevei Zion-Bewegung engagiert hatte.6 1882 war Bierer gemeinsam mit Rabbi Salomon Spitzer, dem geistlichen Anführer der Wiener Orthodoxie, an der Gründimg der Wiener Abteilung des Ahavat Zion-Vereins zur Kolonisierung von Eretz Israel beteiligt gewesen.7 Ein weiteres Gründungsmitglied des Wiener Ahavat Zion war der russische Mas-

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kil Perez Smolenskin (1842-1885), der in vielerlei Hinsicht der geistige Vater der Kadimah war. Sein anfänglicher Einfluß auf die Bewegung kann nicht hoch genug bewertet werden. Bei der Gründungsversammlung im Dezember 1882 im Hinterzimmer des Caf6 Gross in der Wiener Oberen Donaustraße war es Smolenskin, der den sinnreichen hebräischen Namen Kadimah für die neue Verbindimg prägte.8 Wie Isidor Schallt hervorhob: „Das Wort,Kadimah' hat zwei Bedeutungen: Kadimah ostwärts in die alte Heimat gegen die Assimilation und Kadimah vorwärts gegen Zelotismus in eine neue Freiheit."9 Perez Smolenskin war der Herausgeber der hebräischen Monatsschrift Ha-Schachar, die er 1868, fast unmittelbar nachdem er sich in Wien niedergelassen hatte, dort gründete. Die zwölf Bände, die er bis zu seinem Tod im Alleingang herausgab, sind eine äußerst wichtige dokumentarische Quelle für den Ubergang der osteuropäischen Haskala zum modernen jüdischen Nationalismus.10 Smolenskin wurde in dem (sich vom Baltikum zum Schwarzen Meer erstreckenden) der jüdischen Bevölkerung zugewiesenen Siedlungsgebiet des Russischen Reiches, im sogenannten Rayon, geboren und an der Jeschiwa von Schklov erzogen, hatte aber schon als Jugendlicher gegen die Orthodoxie aufbegehrt. Dann begann er ein Wanderleben, das ihn 1862 in die weltaufgeschlossenere Umgebung von Odessa führte, wo er die nächsten sechs Jahre verbringen und zu einer radikalen, aufgeklärten Weltsicht gelangen sollte.11 Schon 1867 entschloß er sich aus maskilischen Gründen, hebräisch zu schreiben, weil er hoffte, dadurch den Juden des Siedlungsgebietes europäische Kultur und Literatur zu vermitteln. Bevor sich Smolenskin endgültig in Wien niederließ, reiste er durch Böhmen und die deutschen Staaten. Seine Begegnung mit dem Reformjudentum Mitteleuropas erschütterte ihn zutiefst, vor allem dessen ausgeprägter deutscher Patriotismus und dessen Verachtung des Hebräischen, die in seinen Augen einem Verrat an der jüdischen Tradition gleichkam. In der österreichischen Hauptstadt war er durch seine Armut gezwungen, sein ursprüngliches Ziel eines Studiums an der Universität aufzugeben. Stattdessen nahm er eine Stelle als Korrektor (später als Geschäftsführer) in einer Druckerei an, gleichzeitig widmete er seine Energie jedoch vorwiegend dem Schreiben, Veröffentlichen, Herausgeben und Verteilen der HaSchachar. Diese Zeitschrift wurde bald zum führenden hebräischen Literaturblatt der Haskala, und war später das Sprachrohr des modernen jüdischen Nationalismus.12 Smolenskin war ein scharfer Kritiker der vielen Unzulänglichkeiten sowohl der rabbinischen Orthodoxie als auch des Chassidismus in Rußland und Polen, die er vom Standpunkt eines modernen Maskil beurteilte. Gleichzeitig ging er aber noch strenger mit den assimilationistischen Strömungen in der Mendelssohnschen Haskala ins Gericht, die von Berlin ausgingen. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hatte diese Aufklärungstendenz allmählich in Wien, den habsburgischen Ländern und Osteuropa Fuß gefaßt.15 Smolenskin warf Adolf Jellinek und den Kultusgemein-

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devorstehern in Wien besonders deren Vernachlässigung der hebräischen Sprache vor. Er mißbilligte die Versuche, die religiöse Erziehung vom nationalen Geist des Judentums abzuspalten, und beklagte die auffallende Feindseligkeit vieler Gemeindevorsteher gegenüber den Ostjuden.14 Smolenskin meinte, der Grund für diese Verirrungen liege in der Lehre der Berliner Haskala, die sich der Bande jüdischer Gruppensolidarität entledigt hatte. Das Reformjudentum gäbe ausdrücklich jede Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion auf und wollte „die hebräische Sprache vollkommen ausrotten, eine Sprache die uns einte und es uns ermöglichte, das Wehklagen bis zu den Grenzen der Diaspora zu hören".15 In der ersten Ausgabe von HaSchachar (1868) erzählt Smolenskin, wie er sich als Trauernder fühlte, als er sich im berühmten Wiener Prater beim Schützenfest unter die Bevölkerung (darunter auch viele Juden) mischte. „All diese Völker steigen auf, und die Tochter deines Volkes steigt ab. Die Nationen vereinen sich, und deine Brüder bleiben abseits. Seit sie im Exil wandern, haben sie ihr Land vergessen. Sie haben den brüderlichen Bund gebrochen und Frieden und Einheit vernachlässigt..." Die Reformer sind dafür verantwortlich, die Einheit und die Erinnerung an die Nation zu unterminieren. Durch ihr Bestreben, das Hebräische zu entwurzeln, legen sie Hand an das letzte Überbleibsel einer heiligen Kultur. Smolenskin tadelte die Bemühungen der deutschen Aufklärer als schlecht kaschierten Versuch, das nationale Erbe auf der Jagd nach falscher Hoffnung auf Assimilation abzulegen. Die Berliner Haskala ermutigte letztendlich die Juden, „in unseren Köpfen alle uns jemals von unseren Feinden zugeschriebenen Sünden hinzunehmen, unsere Verfolger zu rechtfertigen und, statt nach Möglichkeiten für unsere Rettung zu suchen, lediglich zu versuchen, ,11ns zu bessern' und Fehler, die wir nie begangen haben, wiedergutzumachen."16 Der Versuch, um die Gunst der Nichtjuden zu buhlen, sei ein Irrtum, der die Judenschaft lediglich in Sekten und Parteien aufspaltete; „alle Bande der Liebe und Solidarität", welche die Juden einten, entfernen zu wollen, eine solche Politik könnte nur dazu dienen, „unser Volk von seinem eigenen Geist zu entfremden".17 Und was noch schlimmer sei, die Berliner Haskala ermutige unwissentlich die Juden, „weiter elend zu sein und entwurzelte Wanderer auf alle Ewigkeit zu bleiben", statt zu versuchen, in ihr Land zurückzukehren und „dort in Würde zu leben, wie dies alle Völker tun".18 Unablässig kritisierte Smolenskin „aufgeklärte" Bemühungen, die Juden zu entnationalisieren, den jüdischen Patriotismus aufzugeben und prophetischen Hoffnungen auf Erlösung abzuschwören. Er hatte nichts als Verachtung übrig für eine Denkweise, die eine affenähnliche Nachahmung der Nichtjuden implizierte. Smolenskin lehnte jedoch die Werte der westlichen Zivilisation nicht in Bausch und Bogen ab.19 Sein Ziel war es, das jüdische Leben durch Selbstkritik zu modernisieren. In seinem Aufsatz Am Olam (Das Ewige Volk) äußerte sich Smolenskin nicht weni-

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ger scharf gegen die osteuropäische Orthodoxie als gegen die deutschen religiösen Reformer. Dennoch war die Ansicht radikaler Reformer wie Abraham Geiger, daß Israel aufgehört hatte, ein Volk zu sein, sobald es in Palästina seine Staatlichkeit verloren hatte, für Smolenskin ein Anathema. In dieser Beziehung blieb er dem Chatam Sofer und der Sichtweise des osteuropäischen orthodoxen Lagers näher. In Smolenskins Anschauung waren die Juden eine äußerst „spirituelle Nation", deren eigenständige Identität über die Jahrhunderte durch die Thora, durch ihre messianischen Hoffnungen und das Festhalten an der hebräischen Sprache aufrechterhalten wurde. Israel existierte vor allem durch die Macht der historischen Erinnerung.20 Aus dieser nationalistischen Perspektive, welche die Juden im Sinne von Brudergefiihlen und einer über viertausendjährigen gemeinsamen Geschichte definierte, beharrte Smolenskin darauf, daß jeder Jude zu seinem Volk gehöre, solange er es nicht verrate.21 Weder die Ablehnung religiöser Autorität noch eine fehlende Observanz der Thora könnten als Gründe für einen Ausschluß aus der Gemeinschaft in der postemanzipatorischen Zeit angesehen werden. Der schlimmste „Verrat" sei die Assimilation, da sie einer Form nationalen Selbstmords gleichkäme, der die Kontinuität von Generationen zerbreche.22 Wie eine Figur in Smolenskins Roman Gemul yescharim (wenn auch in einem religiösen Zusammenhang) es ausdrückt: „... wir wären dann für den Tod nicht nur von uns selbst, sondern von hunderten Generationen, von viertausend Jahren Existenz verantwortlich. Mit einem Streich würden wir uns aus den Blättern der Geschichte auslöschen, als ob wir nie gewesen wären."23 Durch die russischen Pogrome von 1881 kam der Smolenskinschen Deutung Israels als einer „spirituellen" Nation, deren Thora die historische Grundlage für die Eigenstaatlichkeit gebildet hatte, stärkeres Gewicht zu. Er war schon lange der Meinung gewesen, daß die Wurzeln des Antisemitismus im untergeordneten Nationalcharakter der Juden lagen; dem konnte nur durch eine konkrete Affirmation des jüdischen Nationalgedankens begegnet werden. Die schrecklichen Pogrome in Rußland waren ein Beweis, daß kultureller Nationalismus allein nicht mehr ausreichen würde.24 Die Plünderung jüdischer Häuser durch den russischen Bauernmob „mit einer seit dem Mittelalter nicht mehr dagewesenen Grausamkeit" war nicht nur eine vorübergehende Verirrung. Sie hatte nicht „ohne beträchtliche und lange Vorbereitung" stattfinden können.25 Diese Ausbrüche waren das Ergebnis „des antijüdischen Gifts, das die meisten russischen Zeitungen und Zeitschriften in den letzten zwanzig Jahren" erfüllt hatte, eine Schmähung, die ständig zu Raub, Plünderung und Mord aufforderte. Für die russischen Juden sei daher die Zeit gekommen, die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen und sich auf die Errichtung landwirtschaftlicher Siedlungen in Eretz Israel für die landlosen jüdischen Massen zu konzentrieren.26

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Smolenskin glaubte nie, daß alle Juden ins Heilige Land gehen könnten oder würden. Er war jedoch überzeugt, daß Eretz Israel gegenüber alternativen Auswanderungsländern in Nord- oder Südamerika beträchtliche Vorteile böte. Erstens „werden jene, die die Erinnerung an ihre Vorväter hochhalten, gerne dorthin gehen, wenn sie sicher sein können, daß sie dort ihren Lebensunterhalt verdienen können"; das Land sei „nicht zu weit von ihrem früheren Zuhause entfernt", und die Emigranten könnten dort nach ihren gewohnten Traditionen leben; Juden im Land würden neue Energien entwickeln, die sie vom Nichtstun zu einem Leben in produktiver Arbeit führen würden; schließlich würden sich Handel und Industrie sowie die Landwirtschaft entwickeln, da wissenschaftliche Studien das wirtschaftliche Potential Palästinas gezeigt hätten, wenn das Land „mit Geschick und Fleiß bearbeitet" würde.27 Smolenskins visionärer Nationalismus hatte eine elektrisierende Wirkimg auf Reuben Bierer, Moritz Schnirer und andere Gründer der Kadimah. Wie Smolenskin waren auch sie aus dem Osten - aus Rußland, Galizien oder Rumänien - gekommen, um in Wien ihren weltlichen Studien nachzugehen.28 Als Ostjuden fühlten sie sich von dem Kampfaufraf an zwei Fronten angesprochen - gegen die Assimilationssucht der westlichen Juden und gegen die Orthodoxie aus dem Osten.29 Ihr Nationalbewußtsein war durch die russischen Pogrome und den neuen, von Berlin ausgehenden deutschen Antisemitismus geweckt worden, der an der Wiener Universität auf ein so mächtiges Echo gestoßen war. Die Gründer der Kadimah reagierten begeistert auf Smolenskins Ruf nach einer auf dem Hebräischen basierenden nationalen Wiedergeburt und auf seine Warnungen, daß die Assimilation zur Selbstzerstörung der Juden fuhren würde. Sie teilten seinen starken jüdischen Stolz und den glühenden Glauben an das nahe bevorstehende Ende des Exils (Galut). Sein Programm zur Kolonisierung Palästinas, das durch die ersten Siedlungen russischer und rumänischer Biluim in Rischon Le Zion, Zichron Jakov und Rosch Pina, in greifbare Nähe gerückt war, bildete ein praktisches Ziel ihrer nationalen Sehnsüchte. Smolenskins nationalistische Ideologie entsprach bestens den Bedürfnissen dieses kleinen Kreises von Ostjuden, die ihr Leben am Rand der Wiener Gesellschaft fristeten. Als typische „Menschen des Ubergangs", die weder zur traditionellen noch zur modernen Gesellschaft gehörten, suchten sie nach einer neuen, säkularen Identität, um zu einer ideologischen Reintegration zu gelangen. 30 Da sie vom Gros der jüdischen wie auch der deutschen Gesellschaft in Wien ausgeschlossen waren, konnten sie ihre Existenz durch ihr Losgelöstsein in einem radikaleren Licht sehen. Die Versuche jüdischer Emporkömmlinge in Wien, den Lebensstil der Aristokratie oder der gebildeten deutschen Mittelschicht zu imitieren, riefen bei ihnen Spott und Abscheu hervor. Diese Reaktion auf die Assimilation trat besonders vehement in den Schriften des jungen Nathan Birnbaum zutage, des einzigen aus Wien stammenden Mitglieds un-

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ter den Gründervätern der Kadimah. Für ihn war die assimilationistische „Manie" der Wiener Juden ein untrügliches Zeichen fur moralische Unterlegenheit und für Charakterschwäche.31 Wie die intellektuelleren Antisemiten griff auch er das materialistische und hedonistische Ethos des modernen Judentums an, er beklagte dessen einzigartigen Mangel an Idealismus und dessen Aufgabe geistiger Werte. Diese kompromißlose Kritik an der „Assimilation" spiegelte - so paradox es klingen mag den Einfluß der deutschen Kultur und deren Hang zur Romantik und zum Antikapitalismus auf den jungen Birnbaum wider.32 Eine derart emotionsgeladene Gegenreaktion auf die blasierte Selbstgefälligkeit der jüdischen bürgerlichen Elite in Wien war bei anderen jüdischen nationalistischen Studenten durchaus üblich.33 Hinsichtlich seiner Eindrücke von den Wiener Juden in den frühen 80er Jahren sind Ludwig Rosenhek besonders die Eitelkeit, die Frivolität und die Unglaubwürdigkeit des assimilierten Milieus, dessen innere Unsicherheit und fehlenden moralischen Grundsätze in Erinnerung geblieben. Rosenhek zufolge forderte die Tatsache, daß die kürzlich emanzipierten Juden nicht in der Gesellschaft verwurzelt waren, eine übetriebene Identifikation mit fremden Nationalismen.34 Der aus Rumänien stammende Moritz Schnirer (der sein Medizinstudium in Wien 1880 im Alter von zwanzig Jahren begann) fühlte sich auch beschämt angesichts der „Aufdringlichkeit" der Wiener Juden und der unter dem Deckmantel von Liberalismus und Freiheit beginnenden Selbstzerstörung.35 Seine Bemerkungen erinnern an Max Nordaus berühmte Rede am Ersten Zionistischen Kongreß (1897), wo er den emanzipierten westlichen Juden mit äußerst negativen Attributen bedachte.36 Nach Nordau wurden die besten Kräfte des Juden vergeudet, weil er sich bemühte, sein wahres Wesen zu verschleiern. Die größte Angst des emanzipierten westlichen Juden sei es, als „jüdisch" erkannt zu werden, so daß er in der Folge im Umgang mit seiner Umgebung unsicher und mißtrauisch wurde.37 In Wien war dieses Problem der Assimilation und der jüdischen Identität durch die unerbittlichen Rassenkonflikte innerhalb des Vielvölkerreiches verstärkt worden. Das Aufeinanderprallen ethnischer und sozialer Gegensätze in der Monarchie kulminierte in der Agitation deutscher Studenten an der Wiener Universität.38 Die Intensität dieses deutschen Nationalismus sollte im Endeffekt die Aussichten auf eine gesellschaftliche Integration der Juden zerstören. Wie bereits aufgezeigt wurde, verstärkte dies schon in den 80er Jahren den Ruf nach einem eigenen jüdischen Nationalismus. Die zionistische Synthese erwuchs hier nicht nur als Reaktion auf einen deutschen Nationalismus mit Ausschließlichkeitsanspruch, sondern auch weil Wien eine natürliche Brücke zwischen den östlichen und den westlichen Juden war, die eine Achse zu einem neuen jüdischen Selbstbewußtsein ermöglichte. Ein russischer Jude, Leon Pinsker (1821-1894), spielte mit seiner deutschsprachigen Flugschrift Autoemancipation (1882) eine entscheidende Rolle bei der Heraus-

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bildung der ideologischen Basis für die Kadimah. Durch die Pogrome von 1881 war Pinsker von seiner früheren assimilationistischen Haltung abgerückt und zu der Uberzeugung gelangt, daß sich die Juden als Nation politisch emanzipieren müßten. 1882 reiste er durch Mittel- und Westeuropa, um seine zionistischen Gedanken zu verbreiten, wobei er anfangs aber auf wenig Unterstützung stieß. Wie schon erwähnt, ließ Adolf Jellinek durchblicken, daß er medizinische Hilfe brauche. Dennoch ließ sich Pinsker nicht beirren, seine Ansichten im September 1882 anonym als „Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden" zu publizieren. Der Flugschrift wurde ein Zitat von Hillel, dem großen palästinischen Weisen aus dem ersten Jahrhundert, vorangestellt, das zum Motto der Kadimah wurde: „Wenn ich selbst mir nicht helfe, wer dann? Und wenn nicht heute, wann dann?" Die Autoemancipation war eine uneingeschränkte und erbarmungslose klinische Untersuchung des jüdischen Zustande, wobei sowohl die fehlgeschlagene liberale Emanzipation als auch das unlösbare Problem der jüdischen Heimatlosigkeit im Galut (Exil) betont wurde.59 Die Flugschrift analysierte die Judäophobie als eine Art Angstneurose, Gespensterfurcht, eine Dämonopathie, die sich bei allen Völkern der Erde, die mit den Juden in Beziehung getreten waren, verwurzelt und eingebürgert hatte.40 Die Fremdheit der Juden, der Haß der Umwelt den Juden gegenüber komme daher, daß sie nach der Zerstörung ihres Staates geistig zwar als Nation weiterlebten, nicht mehr aber in der sichtbaren Wirklichkeit und staatlichen Formung „normaler" Völker. Die Welt erblickt deshalb im jüdischen Volke „die unheimliche Gestalt eines Toten, der unter den Lebenden wandelt".41 Er schloß daraus, daß alle Argumente, welche die Judenfeindlichkeit gegen die Juden vorbringe, nur Versuche einer rationalen Begründung dieser instinktiven Abneigung gegen den unheimlichen Fremden seien. „Die Judäophobie", diagnostiziert Pinsker, „ist eine Psychose, als Psychose ist sie hereditär, und als eine seit 2000 Jahren vererbte Krankheit ist sie unheilbar."42 Die wirkliche Lösung sei nicht die Emanzipation, nicht die Befreiung der Juden durch die anderen Völker, sondern Selbstbefreiung, Auto-Emanzipation! Aus den isolierten Juden ohne nationales Selbstgefühl müßte wieder eine selbständige Nation werden, auf einem geschlossenen Territorium, wo sie unter Zustimmung der Mächte ein eigenes Gemeinwesen errichten sollen.43 Nach Pinskers Dafürhalten könnte ein Kongreß von jüdischen Persönlichkeiten den Weg zu dieser nationalen Regeneration der Juden ebnen. Den östlichen Juden fehlten die organisatorische Erfahrung, der Handlungsspielraum oder die Männer mit dem erforderlichen politischen Kaliber; daher war Pinsker der Ansicht, daß die Kooperation westlicher Juden für das nationale Vorhaben äußerst wichtig wäre, und schrieb daher seine Flugschrift auf deutsch, um sich in besonderer Weise an diese zu wenden.44 Die Selbstemanzipation bedeutete in der Tat die vorweggenommene Rettung der Ostjuden durch den westlichen Teil der Nation.45 Das Gros der westli-

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chen Juden, das auf gesellschaftliche Integration erpicht war, reagierte jedoch nicht auf diesen Aufruf, am wenigsten im kosmopolitischen Wien. Lediglich die Studenten der Kadimah identifizierten sich mit Pinskers Forderung, die Juden sollten ihre vergeblichen Bemühungen um eine „Verschmelzung" aufgeben und die Gründung ihres eigenen Nationalstaates versuchen. Wie Pinsker waren sie durch ihre eigene Erfahrung überzeugt, daß die Juden „organisch" nicht zur Assimilation fähig seien. Die verzweifelten Bemühungen des jüdischen Bürgertums, sich zu germanisieren, zu magyarisieren oder zu slawisieren, seien zum Scheitern verurteilt.46 Wie der Arzt aus Odessa sahen die Studenten der Kadimah in der Schaffung einer jüdischen Nationalität, die auf eigenem Boden begründet war, die einzige Möglichkeit zur Beendigung des Antisemitismus. Im Herbst 1883 hatte Pinsker der Kadimah 150 Exemplare seiner Autoemancipation zur Verfügung gestellt. In einem Brief aus Odessa vom 11. Dezember 1884 lobte er das Engagement der Wiener Burschenschaft für die Hebung des jüdischen Nationalbewußtseins.47 Pinsker gab seiner festen Uberzeugung Ausdruck, daß die Zukunft einer jüdischen nationalistischen Jugend gehöre, die stolz auf ihre eigene Identität und dem neuen Evangelium der praktischen Selbsthilfe verpflichtet war.4® In diesen Anfangsjahren stand Pinsker den Gründungsvätern der Kadimah häufig mit Rat zur Seite und unterstützte ihr Vorhaben der Gründung einer „Wochenschrift für die Gesamtinteressen der jüdischen Nation".4® Besonders groß war sein Einfluß auf den jungen Nathan Birnbaum, und nicht zufällig nannte dieser später seine Zeitschrift Selbstemanzipation, in Anlehnung an Pinskers frühere Flugschrift.50 Ganz eindeutig war Birnbaums eigene Ansicht zur Assimilation in vielem von Pinskers soziologischen und politischen Analysen der „Judenfrage" beeinflußt.51 Einzig und allein der litauische Rabbiner Isaak Rülf von Memel, der Verfasser des Aruchas Bas-Ami: Israels Heilung (1885), übte auf die Kadimah einen Einfluß aus, der an jenen von Smolenskin und Pinsker heranreichte.52 Rülfs Synthese des Nationalbewußtseins und die Rückkehr zu traditionellen jüdischen Werten ergänzten die eher weltliche Annäherung der beiden russischen Juden. Diese unterschiedlichen Einflüsse, die ihrer eigenen Erfahrung einer gesellschaftlichen Randstellung in einer kohärenten Ideologie einen festen Rahmen gaben, motivierten die Studenten der Kadimah zur Gründung ihres nationalistischen Vereins. Obwohl die Mitglieder der Kadimah anfangs nur eine winzige Minderheit innerhalb der jüdischen Studentenschaft in Wien ausmachten, waren sie durch die gemeinsame Uberzeugung miteinander verbunden, daß sie nur durch eine bewußte Förderung des jüdischen Volkstums die Zerstörung des Judentums vermeiden könnten. Jedes neue Mitglied wurde geheim verpflichtet, diesen Grundsatz hochzuhalten und die Besiedlung von Eretz Israel als praktischen Schritt zu einer künftigen jüdischen Unabhängigkeit zu unterstützen.53

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Um Schwierigkeiten mit den polizeilichen Bestimmungen in Wien zu vermeiden, mußten die offiziellen Statuten der Kadimah frei von jeder politischen Tendenz sein. Als Aufgabe des Vereins wurde einfach die Gründung eines Zentrums angegeben, das „den Zweck hat, die geistigen Güter des Volkes zu erhalten und zu pflegen".54 Diese Statuten wurden den österreichischen Behörden vorgelegt und am 23. März 1885 endgültig genehmigt. Bei der ersten offiziellen Sitzung des neuen Vereins am 5. Mai 1883 wurde Moritz Schnirer zum Präsidenten und seine wichtigsten Vordenker, Smolenskin und Pinsker, zu Ehrenmitgliedern gewählt.53 Als erste öffentliche Handlung schlug die Kadimah Plakate an den Wanden der Wiener Universität an, in denen kühn die neue Botschaft einer jüdischen nationalen Einheit verkündet wurde. Diese Geste schockierte die offizielle jüdische Gemeinde und rief bei den meisten jüdischen Studenten Spott und Hohn hervor.56 Die auf deutsch und hebräisch abgefaßte Erklärung war von Schnirer und Birnbaum verfaßt worden. Sie begann damit, die Verfolgungen heraufzubeschwören, welche die Juden seit dem Verlust ihrer politischen Unabhängigkeit in Palästina zu erleiden hatten. Nachdem die Juden fast zweitausend Jahre lang einer Welt von Unterdrückern gegenübergestanden waren, blieb ihnen keine andere Wahl mehr, als sich zu verteidigen. Zuerst müsse aber der bestehende „Indifferentismus im Innern des Judentums" als Vorbedingung zur nationalen Wiederbelebung überwunden werden. Die neu gegründete Vereinigung Kadimah sollte den Weg dazu ebnen. „Denn aus den reichen Schätzen der jüdischen Literatur wird die Jugend Liebe zum jüdischen Volk lernen und nur aus den unerschöpflichen Quellen der Geschichte des Judentums wird sie nützliche und fruchtbringende Lehren für die Zukunft des jüdischen Volkes ziehen können. Zur Erlangung dieses erhabenen Zweckes bedarf der junge Verein der moralischen und materiellen Unterstützimg aller, in deren Brust noch ein jüdisches Herz schlägt. Stammesgenossen! Reicht uns eure hilfreiche Hand in der festen Überzeugung, daß ihr zu einem großen und erhabenen Zweck beigetragen habt, zur Regeneration der jüdischen Nation!" 57

Ein solch offener Aufruf zum jüdischen Nationalismus brachte jene Studenten und bürgerlichen Kreise der Wiener Kultusgemeinde in Verlegenheit, die Angst hatten, ihre deutsche Nationalität könnte irgendwie in Zweifel gezogen werden.58 Das jüdische religiöse Establishment war besonders aufgebracht über den patriotischen Kult der Makkabäer, der sich in der Kadimah entwickelte und im Dezember jeden Jahres den Höhepunkt ihres offiziellen Programms bildete. Das Heraufbeschwören des Makkabäer-Kampfes gegen die Tyrannei der syrischen Herrschaft vor fast 2000 Jahren sollte eindeutig als historisches Vorbild für eine jüdische nationale Wiederbelebung dienen. Anläßlich der ersten Makkabäer-Feiern der Kadimah am 22. Dezember 1885 sprach Nathan Birnbaum über „Jehuda Makkabi"; Gründungspräses

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Schnirer hielt die Festrede und erklärte: „Wir wollen in uns die bis nun erstickten Erinnerungen wachrufen, um neuen Mut, neue Hoffnung, neue Nahrung für das Nationalgefiihl zu gewinnen .. ." 59 Die Feier des makkabäischen Heldentums vereinte jene historischen Elemente, die dem Ethos der Kadimah Gestalt gaben: die Kritik an „Hellenisierungs"-Tendenzen, die einen „Auflösungsprozeß" und die Selbstverachtung innerhalb der Judenschaft vorantrieben; der Befreiungskampf gegen fremde Unterdrückung; der Kampf für eine freie, unabhängige Identität; und der Traum, in Eretz Israel wieder einen unabhängigen jüdischen Staat zu errichten.60 Die Makkabäer hatten gezeigt, wie die Freiheit durch Aufopferung des eigenen Blutes gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind erreicht werden kann. Sie hatten den Weg vorgezeichnet, wie die Ketten der Sklaverei durch eine kompromißlose Verteidigung des jüdischen Nationalbewußtseins zerbrochen werden konnten. Der im ländlichen Volkswiderstand verwurzelte Makkabäeraufstand war ein Sieg des Judentums über den Hellenismus, des selbstaufopfernden Idealismus über den Materialismus, des Nationalgedankens über die Assimilationssucht gewesen. Diese Umwandlung von Chanukka, dem alten religiösen Fest, in einen modernisierten nationalen Kult weckte, wie vorherzusehen war, den Zorn des Predigers Adolf Jellinek, der den unjüdischen Kult des militärischen Ruhms und des Sieges in einer Schlacht völlig ablehnte. Er hielt daran fest, daß das Judentum weder die Taten einzelner Helden feierte, noch kriegerische Tapferkeit verehrte. Die Kadimah hätte „ein heidnisches Element in das Judentum gebracht", etwas, das „durch und durch unjüdisch [war], ein Attentat auf den strengen monotheistischen Geist unserer Religion".61 Für Jellinek waren die Anhänger des Makkabäerfestes „Schwärmer ohne jedes politische Verständnis", welche die jüdische Geschichte für ihre eigenen Zwecke verzerrten.62 Die neue Heilsbotschaft eines Selbstvertrauens, das in einer säkularisierten, nationalistischen Sicht der Geschichte verankert war, schien die Grundlagen des traditionellen jüdischen Messianismus in Frage zu stellen. Für die Begründer der Kadimah war das Volk das wahre geschichtliche Subjekt, und sie sahen in der ruhmreichen jüdischen Vergangenheit ein Mittel für die Wiederherstellung der jüdischen Selbstachtung und Ehre in der Gegenwart. Nach dieser zionistischen Sichtweise waren die Juden dazu ausersehen, ihr eigenes Schicksal wieder selbständig in die Hände zu nehmen.63 Eine sprachgewaltige Rede, die der Präsident der Kadimah, Moritz Schnirer, am 20. Dezember 1885 bei der Eröffnung der Gedenkfeier für die Makkabäer in Wien hielt, brachte zum Ausdruck, welche große Vorbildfunktion der Verein den glorreichen Taten der biblischen Vergangenheit einräumte.64 Für Schnirer war die Geschichte keine trockene Aufzählung und Aneinanderreihung von Ereignissen und Fakten, sondern „die Ratgeberin, Lehrerin, die Führerin der Menschen und Völker". 65 Sie band die Generationen in einer einzigen Kette zusammen, beleuchtete

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ihre Taten und forderte die Nachahmung. Die Geschichte verkörperte den Geist der Völker, sie inspirierte den einzelnen zu kühnen Taten für das Vaterland; sie gab dem einzelnen den Mut zu glauben, daß Freiheit und nationale Unabhängigkeit möglich waren. Die Geschichte war „das fortwährende Selbstbewußtsein der Menschheit und der Völker". 66 Das Gedenken an die Makkabäer war für die Kadimah eine Feier der nationalen Geschichte; die Makkabäer waren „die Helden unseres eigenen Volkes, die ihr Leben für das teure Vaterland geopfert haben", ein Blatt „unserer eigenen Geschichte..." Ziel war es, das Nationalgefiihl wiederzubeleben, die Juden daran zu erinnern: „Unser geistiges Erbe hat niemals aufgehört zu leben, hat niemals aufgehört, in Millionen menschlicher Herzen zu pulsieren."67 Die messianischen Hoffhungen der Juden konnten nicht durch passive Gleichgültigkeit gegenüber den in einer Zeit der Assimilation wirkenden Zerfallstendenzen wiedeibelebt werden. Schnirer erinnerte an die klassischen Vorbilder Griechenlands und Roms, welche die Renaissance, die humanistischen Ideen der europäischen Aufklärung und den revolutionären Nationalismus in Frankreich inspiriert hatten. Er rief die jüdische Jugend auf, den ruhmreichen Geist der eigenen Vorfahren ebenso zu ehren und nachzuahmen. Schnirer schloß seine Rede mit einem Zitat aus der begeisterten Reaktion des deutsch-jüdischen Historikers Heinrich Graetz auf die Gründung der Kadimah: „Wenn Jünglinge mit akademischer Bildung solche Zwecke verfolgen, dann steht's wahrlich nicht schlecht um das Judentum." 68 Dieser Stolz und dieses Sendungsbewußtsein waren durch ein Gefühl stimuliert worden, das der jüdischen Geschichte vitale Bedeutung beimaß, und durch die Überzeugung, daß das reine Uberleben der Juden als Nation auf dem Spiel stand. Es veranlaßte die Kadimah, die Assimilation als feigen Akt des Verrats und als Hauptursache für den Antisemitismus anzuprangern.69 Auf ihrer idealistischen Suche nach Authentizität, Selbstbewußtsein und einem neuen Nationalcharakter hatten die ungestümen jungen Männer der Kadimah gegen die Bemühungen ihrer Vatergeneration revoltiert, als Deutsche, Polen oder Tschechen zu gelten.70 Obwohl sie gegen die Assimilation ankämpften, wurden dennoch viele Regeln und Bräuche der traditionellen deutschen Burschenschaften in Österreich in der Kadimah aufgenommen. Zu diesen Sitten gehörte, worauf auch Julius Schoeps hingewiesen hat, „das Kneipen, d. h. regelmäßige ritualisierte Biersaufereien, und seine gemessenere Variante, der Kommers, der festlichen Anlässen wie dem jährlichen Makkabäer-Fest vorbehalten war. Die Lieder, die bei diesen Zusammenkünften gesungen wurden, entstammten zumeist dem Kommersbuch, einer Sammlung traditioneller deutscher Studententrinklieder".71 So entlieh sich die Bewegung, die die Entnationalisierung der Juden aufhalten wollte, ihre Ausdrucksformen und Verhaltensmuster - so paradox dies klingen mag - der deutschen Kultur, gegen die sie reagierte.

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Dieser Trend wurde in den späten 80er Jahren weiter verstärkt, als Wiener Studenten aus assimilierten Familien der Kadimah beitraten. Innerhalb weniger Jahre hatten sie die Vereinigung von einer „akademischen Verbindung" in eine „farbentragende, schlagende Verbindung" umgewandelt. Der ursprüngliche Kern der Kadimah hingegen hatte vor allem aus Ostjuden aus Rußland, Rumänien und Galizien bestanden, mit einem minimalen Anteil von Wiener Studenten. Sie waren aus dem Kernland der jüdischen Massen gekommen, wo sie bereits ein starkes Gefühl für jüdisches Volksbewußtsein aufgesogen hatten. Die neueren Mitglieder, wie Siegmund und Julius Werner, Karl Pollak, Max Rosenthal oder Isidor Schallt, stammten aus dem assimilierten Milieu, sie waren von den Idealen des deutschliberalen Nationalismus und des utopischen Sozialismus beeinflußt.72 Aus Enttäuschung über den zügellosen Antisemitismus der deutsch-nationalen Studenten an der Wiener Universität hatten sie sich aus Trotz der Kadimah zugewandt.73 Nicht weniger verwestlicht waren die neuen Mitglieder aus Mähren, die schon im Kampf zwischen Deutschen und Tschechen erprobt waren. Am kämpferischsten aber waren die jüdischen Studenten aus der Bukowina.74 Dieses kleine Kronland, mit seinen Deutschen, Rumänen, Polen, Ruthenen, Armeniern und Juden ein Mikrokosmos der habsburgischen ethnischen Konflikte, versorgte die Kadimah mit einer mächtigen Verstärkung tatkräftiger junger Studenten. Ende der 80er Jahre hatte der jüdische studentische Nationalismus in Osterreich bereits begonnen, die Multiethnizität der Monarchie und ihre internen politischen Spaltungen widerzuspiegeln. Die Bedeutung der Neuzugänge für die Umformung der Kadimah läßt sich daraus ersehen, daß der Verein in seiner Friihphase einen überwiegend literarischen und sozialen Charakter hatte. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens hatte sich die Kadimah vor allem auf ein Bildungsangebot konzentriert, das zur Vertiefung des Wissens auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte, Kultur und Literatur unter den Jugendlichen Wiens beitragen sollte. Ende 1884 verfügte die Klubbibliothek über einen Bestand von 970 Bänden, von denen 700 deutsch und 150 hebräisch geschrieben waren.75 Es wurden 52 Zeitschriften abonniert, darunter vier auf hebräisch - Ha-Tzefirah, Ha-Ivri, Ha-Melitz und Ha-Maggid die Josef Bierer aus Czernowitz für die anderen Mitglieder übersetzte.76 Auch englische, spanische und italienische Zeitungen gab es, das deutschsprachige Angebot überwog aber natürlich. Beim Erwerb dieses Lesestoffs wurde dem Verein durch Spenden von ihren weit verstreuten Anhängern und Unterstützern unter die Arme gegriffen. Diejenigen, die einen Betrag von mindestens 50 Gulden beisteuerten, wurden „Stifter" genannt, während jene, die einen jährlichen Beitrag von mindestens 2 Gulden zahlten, den Titel „Förderer" erhielten. 1884 lebten lediglich 17 der 40 Förderer tatsächlich in Wien, 13 kamen aus Galizien, 5 aus der Ukraine, 5 aus Ungarn, einer aus Triest und einer war unbekannt.77 Die bekanntesten „korrespondierenden Mitglieder" der Kadimah zur damaligen

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Zeit waren Dr. Reuben Bierer, Dr. Josef Bloch und Rabbi Isaak Rülf. Neben den geistigen Ziehvätern des Vereins - Smolenskin, Pinsker und Rülf - wurde Sir Moses Montefiore die Sonderstellung eines Ehrenmitglieds gewährt. Ende 1884 gab es in der Kadimah 60 wirkliche Mitglieder, 25 von ihnen studierten Medizin, 15 Ingenieurwissenschaften, 14 Rechtswissenschaft, 5 Philosophie, 2 Chemie und einer Forstwissenschaft.78 Daß es mehr Medizin- als Jusstudenten und eine relativ große Zahl an Technikstudenten gab, war typisch für die sozialen Unterschiede zwischen dem habsburgischen Österreich und dem Deutschen Reich.79 Dennoch tendierte das allgemeine Interesse der Kadimah-Mitglieder zu den Geisteswissenschaften. Obwohl die Kadimah in ihrer Frühzeit ein vergleichsweise armer und kleiner Verein war, fanden ihre Makkabäer-Feste von Beginn an recht großen Widerhall in der Wiener jüdischen Öffentlichkeit. Einem Bericht in Dr. Blochs Österreichischer Wochenschrift zufolge, nahmen am 17. Dezember 1884 an die 500 Leute an den Makkabäer-Feiern teil.80 Im Laufe des folgenden Jahrzehnts nahm ihr Einfluß stetig zu, je mehr sich der nationale Gedanke in Wien ausbreitete und die Kadimah in der Lage war, sich selbst in die Kämpfe einzuschalten, die jüdische Studenten an der Universität direkt betrafen.81 Im Zuge der Radikalisierung der deutsch-nationalen Studentenschaft und deren systematischer antisemitischer Politik ging die Kadimah in den frühen 90er Jahren als Hauptverteidiger der jüdischen Ehre im universitären Umfeld hervor.82 Auch begann sie die Vorherrschaft der „liberalen" Oligarchie in der jüdischen Gemeinde herauszufordern, indem sie sich öffentlich gegen deren politische Orientierung wandte.83 So verurteilte die Kadimah zum Beispiel die passive Reaktion der Gemeindevorsteher und der Union zur Vertreibimg der Juden aus Moskau 1891. Sie stellte das Schweigen der Kultusgemeinde zur Unterdrückung der russischen Judenschaft den lautstarken Protesten von nichtjüdischer Seite in Großbritannien und Amerika gegenüber.84 Die offene zionistische Haltung der Kadimah mit ihrer Propaganda für ein jüdisches Palästina trug zu einer weiteren Verschärfung ihres Konflikts mit dem Vorstand der religiösen Gemeinde und der Union bei.85 Das Hauptproblem, mit dem die Kadimah in diesen Jahren konfrontiert war, blieb jedoch die Notwendigkeit, eine aktive Selbstverteidigungsposition gegen die anschwellende Flut des Antisemitismus an der Wiener Universität einzunehmen. Während die erste Kadimah um die Seele der Juden warb und an „die Macht des Geistes" glaubte, griff die Kadimah nach 1889 zum Säbel. Otto Abeles erinnert sich 30 Jahre später: „Was damals unseren Jungen den Säbel in die Hand drückte, war ein Aufbäumen gegen empörende Roheit, alkoholisierte Rüpelhaftigkeit, barbarische Herabdrückung der Juden zu minderwertigen Sklavenmenschen."86 Der neuen Generation von Kadimah-Mitgliedern aus dem assimilierten Milieu, die schon über den deutschen Spott gegen die jüdische „Feigheit" aufgebracht war, fiel es weni-

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ger schwer, auf die Taktik der geballten Fäuste und des Säbels überzugehen.87 Von diesen Studenten ging der Entschluß aus, die „unjüdische" Praxis einzuführen, sich zu schlagen, und die Kadimah in eine schlagende Verbindung nach deutsch-österreichischem Vorbild umzuformen.88 Schon 1890 war Siegmund Werner (der spätere Chefredakteur der Welt) an einem Duell an der Wiener Universität beteiligt. Ein Jahr später führte die Hasmonea-Burschenschaft in Czernowitz formell diese Praxis ein.89 Bei einer stürmischen Generalversammlung der Kadimah am 15. Mai 1893 entschloß sich die Verbindung, jedes Mitglied zu verpflichten, „Satisfaktion zu gewähren", wann immer eine Beleidigung nicht durch eine Ehrenerklärung beigelegt werden könnte.90 Sieben Mitglieder, die gute Fechter waren (Bierer, Schabt, Caleb, Pollak, Gach, Neuberger und Kreisling), wurden 1893 vom Vorstand ausgewählt, die „Ehre" der Burschenschaft zu verteidigen. Im Herbst 1893 wurden von der Kadimah sechs Duelle mit der Waidhofener deutsch-nationalen Burschenschaft Philadelphia geschlagen. Die Ergebnisse bedeuteten in Wien eine echte Sensation.91 Die Streitfrage des Schlagens rief beträchtliche Unstimmigkeiten nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinde insgesamt, sondern auch unter den nationalistischen Studenten hervor. Nathan Birnbaum beklagte die Praxis als eine Form der „nationalen Assimilation", eine Nachahmung der „reaktionärsten" feudalen Traditionen in der deutschen Studentenbewegung.92 Er merkte an, daß die Burschenschaftstradition des Schlagens dem Wesen des Judentums fremd sei, und die Studenten zur Gewalttätigkeit anstiftete, um lediglich ihre körperliche Kraft zur Schau zu stellen. Fechtstunden, Duellieren und das Tragen von Tellermützen und Bändern, überhaupt der Jargon der Burschenschaft werde nur dazu führen, „die natürliche Jugendlust in eine gemachte Tollheit [zu wandeln], daß der Wunsch nach Stärke und Gewandheit zum Händelsuchen und sinnlosen Schlägereien, daß der Solidaritätssinn zum beschränkten Kastengeiste werde".93 Dr. Bloch stand dem, was er als eine assimilationistische „Ubersetzimg des Schönerianischen in Nationaljüdische" ansah, ebenfalls äußerst kritisch gegenüber.94 Diese Kritik veranlaßte die Kadimah-Führung zu der Erwiderung, daß das Duellieren ein unverzichtbares „taktisches Mittel" sei, das notwendig sei, um sich in der allgemeinen Studentenschaft Respekt zu verschaffen.95 Es sei kein bloßer Akt der Selbstverteidigung, sondern eine eindeutige Widerlegung der antisemitischen Vorwürfe bezüglich der jüdischen „Feigheit".96 Außerdem könne ein Student, der sich weigere, eine Herausforderung einzunehmen, nicht österreichischer Reserveoffizier werden. Dieser Umstand könnte seinen künftigen Status und seine Karriere gefährden. Und noch viel wichtiger sei die Tatsache, daß die Kadimah-Mitglieder durch ihre Fechtkünste und ihre Bereitschaft, die jüdische Studentenschaft zu verteidigen, das Ansehen ihrer Burschenschaft sogar unter den Juden stark erhöhten, die sich anfangs der zionistischen Ideologie gegenüber gleichgültig verhalten hatten.

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Der bewußt provokative Entschluß der „wehrhaften" deutschen Verbindungen in Österreich bei ihrer Konferenz am 11. März 1896 in Waidhofen, in Zukunft den jüdischen Studenten keine Satisfaktion „auf Waffen" zu geben, „da [sie] deren unwürdig und der Ehre nach deutschen Begriffen völlig bar [sind]", unterstrich die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Themen.97 Theodor Herzl schreibt am 14. März 1896 in sein Tagebuch: „Große Aufregung an der Wiener Universität. Die ,wehrhaften',arischen' Verbindungen haben den Beschluß gefaßt, Juden auf keine Waffe mehr Satisfaktion zu geben, weil jeder Jude ehrlos und feig sei. Mein junger Freund Pollak und noch ein anderer Jude [Mitglieder der Kadimafi\ haben zwei Antisemiten, die Reserve-Offiziere sind, gefordert; und als diese sich zu schlagen ablehnten, haben die beiden Juden die Anzeige beim General-Kommando erstattet. Dieses hat sie an das Bezirkskommando gewiesen. An der Entscheidung hängt viel - nämlich die künftige Stellung der Juden in der österreichischen Armee." 98

Ganz eindeutig war diese Frage äußerst wichtig für die Wiener Juden insgesamt. Die Waidhofener Erklärung wurde sofort als eine ernsthafte Einschränkung der gesetzlichen und sozialen Gleichstellung der Juden angesehen. Wie sich Isidor Schallt erinnert, erschienen die Folgen zutiefst beunruhigend: „Diese deutsch-nationalen Studenten waren ja die kommenden Lehrer, Richter und Beamten des Staates. Welcher Zukunft sahen wir entgegen, wenn der Waidhofener Beschluß von der Ehrlosigkeit der Juden für die kommende Verwaltung des Staates bindend werden sollte?"99 Gemeinsam mit den Burschenschaften Unitas und Ivria verabschiedete die Kadimah daher einen einstimmigen Entschluß, in dem „die von egoistischen Rädelsführern ausgenützte nationale Überhebung der deutschen ,wehrhaften' Studentenschaft" mit Verachtung zurückgewiesen wurde. Die jüdische Studentenschaft erklärte, daß die Ehrenhaftigkeit „nicht von der Zugehörigkeit zum deutschen Volke oder zur arischen Rasse abhängig" sei.100 Die Kadimah konnte sogar auf die Unterstützung des Kultusgemeindevorstands zählen, der in seiner Plenarsitzung vom 15. März 1896 eine Resolution verabschiedete, in der er seine Befriedigung über das würdige Verhalten der jüdischen Studentenburschenschaften zum Ausdruck brachte.101 Die Protestbewegung gegen die Waidhofener Erklärung, die von der Kadimah und den mit ihr verbündeten Studentenverbindungen initiiert worden war, zwang nun den Rektor der Wiener Universität und später die Regierung selbst zur Intervention. Am 19. Mai 1896 löste die Niederösterreichische Statthalterei offiziell alle deutsch-nationalen schlagenden Verbindungen auf, die sich an der Waidhofener Erklärung beteiligt hatten.102 Die Ergebnisse dieses Verbots sollten sich jedoch als enttäuschend erweisen. Die aufgelösten Burschenschaften änderten einfach ihren Na-

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men oder schlossen sich mit anderen Studentenverbindungen zusammen. Jüdische Studenten wurden weiter von deutsch-nationalen Studenten ungestraft beleidigt und angegriffen. Ja, der Gewaltpegel an der Universität Wien stieg im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sogar weiter an.103 Die passive Haltung des Rektors und des Senats der Universität zu diesen Unruhen ließ eine latente deutsch-nationale Neigung hinter der akademischen Maske eines dynastischen Patriotismus vermuten.104 Bis Anfang der 90er Jahre hatte sich die Kadimah zweifelsohne in der jüdischen Studentenschaft als das verläßlichste Bollwerk gegen die Aggression der deutsch-nationalen Burschenschaften erwiesen. Nach ihrem Beispiel gründete Josef Bierer die Hasmonea in Czernowitz (1891). Frühere Kadimah-Mitglieder riefen 1894 drei neue Wiener Burschenschaften ins Leben: Unitas, deren Mitglieder hauptsächlich aus Mähren stammten; Libanonia, eine Verbindung jüdischer Tierärzte, und die sozialistische Gamalah.105 1895 änderte die Landsmannschaft Schlesischer Universitätsstudenten ihren Namen in Ivria. Auch ihr diente die Wiener Kadimah als Vorbild. Die Proklamationen der verschiedenen jüdischen nationalistischen Studentenverbindungen, die in der Folge in Prag, Brünn und den wichtigsten Städten Galiziens entstanden, zeigten ebenfalls denfruchtbarenEinfluß der Wiener Kadimah. Im Juni 1894 erklärte das Vertrauensmänner-Collegium der jüdisch-nationalen Studentenschaft in Prag, daß es eine scharfe Demarkationslinie zwischen jüdischen und nichtjüdischen Studenten in Prag wie an den deutschen Lehranstalten in Osterreich und Deutschland gäbe. Obwohl die Juden immer versucht haben, ganz in der deutschen und slawischen Lebensweise aufzugehen, wurden sie mit Verachtung zurückgewiesen. „Doch das Maß der Erniedrigung und Selbstpreisgebung war voll. Es wurden Stimmen laut, die sagten:,Sollen wir uns einer Gesellschaft aufdrängen, die uns in ihrer Mitte nicht dulden will? Sind wir denn wirklich so tief gesunken, daß wir uns nicht auf eigene Füße stellen können? Sind wir nicht deshalb so verachtet, weil wir uns als Juden nicht achten?' Der stetig anwachsende Antisemitismus macht die Beantwortung dieser Frage leicht. Und so entstanden in Wien, Czernowitz, Berlin, Heidelberg usw. jüdisch nationale Studentenvereine, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das jüdische Nationalbewußtsein zu heben, und so auch in Prag der jüdische Studentenverein ,Maccabäa'."106 Wie ihr Wiener Vorbild verkündete die Prager Verbindung, „die Juden waren und bleiben ein Volk für sich, vermöge ihrer Abstammung, ihrer Geschichte, ihres Denkens und ihres Empfindens. Genug der Erniedrigung und Selbstverleugnung! Genug der Zurücksetzung! Du Jude darfst kein Sklave sein, du hattest Maccabäer!" 107 Auch sie appellierte an die jüdische Nationalgeschichte und an den Freiheitskampf der Makkabäer als Grundlage ihres an die jüdische Jugend gerichteten Aufrufs zu den Waffen. Wie im Fall der Wiener Kadimah entsprang ihre zentrale Botschaft dem Bedürfnis, jüdische Selbsthilfe zu organisieren, die jüdische Ehre und

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Würde wiederherzustellen und im positiven Sinne den Stolz auf den jüdischen Charakter zu bekräftigen. Der Nationalismus dieser frühen österreichischen Zionisten bezweckte „die physische und geistige Erneuerung des Judentums" und war in ethischen, humanistischen und universellen Begriffen formuliert.108 Er versuchte, den durch die Bibel inspirierten latenten jüdischen Nationalismus mit den liberalen Idealen der Deutschen Akademischen Legion von 1848 zu verbinden. Nach den Vorstellungen der Kadimah waren Nationalismus, klassischer Humanismus und Weltbürgertum keineswegs einander widersprechende Konzepte. Die Kadimah hatte ihre Tätigkeit im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens vor allem auf die Universität und auf geeignete Reaktionen gegen die Provokationen der antisemitischen deutsch-nationalen Studenten konzentriert. Es war den jüdischen Nationalisten fast gelungen, die Jüdisch-Akademische Lesehalle, das wichtigste kulturelle Forum für jüdische Studenten an der Universität Wien, für ihre Sache zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt hoffte die Kadimah noch immer, die Mehrheit der jüdischen Studenten für einen militanten Kampf gegen den Antisemitismus, wenn nicht für eine echte nationalistische Politik zu gewinnen.109 Die Lesehalle verhielt sich jedoch in politischen Fragen lieber neutral. Auch wenn sie „jüdischer" wurde teilweise aufgrund der von der Kadimah eingeleiteten Kampagne - identifizierte sie sich weiter mit dem liberalen jüdischen Establishment.110 Theodor Herzl notierte im Mai 1896 nach einem Besuch von Schallt und Neuberger, zwei jungen Mitgliedern der Kadimah, in sein Tagebuch, daß die Assimilationisten an der Universität anscheinend wieder die Oberhand gewonnen hätten, und daß niemand mehr etwas vom Zionismus hören wolle. Nachdem die nationalistische Jugend von einer echten Mitsprache in der Kultusgemeinde, der Union und anderen etablierten jüdischen Institutionen ausgeschlossen war, mußte sie sich ihren eigenen unabhängigen Rahmen schaffen. Kadimahianer wie Moritz Schnirer, Oskar Kokesch und der Ingenieur Johann Kremenetzky sowie auch Reuben Brainin und Saul Raphael Landau waren stark engagiert im Palästina Kolonisationsverein Admath Jeschurun, der 1885 als Nachfolger von Reuben Bierers nicht mehr bestehender Ahavat Zion gegründet worden war.111 Im Juni 1892 reiste Nathan Birnbaum im Auftrag der Admath Jeschurun nach Galizien und in die Bukowina und versuchte, dort ähnliche Organisationen zu gründen.112 Da nach 1890 zionistische Vereine in galizischen Städten unabhängig voneinander stetig an Stärke zunahmen, hegten nun Birnbaum und seine Mitstreiter die Hoffnung, eine nationale Organisation zu gründen, die als ideologische Schaltstelle und Zentrum für die verstreuten zionistischen Klubs in der österreichischen Monarchie fungieren sollte. 1892 befürwortete Birnbaum sogar die Schaffung einer zionistischen Massenpartei, die aber aus Geldmangel und weil eine charismatische Persönlichkeit fehlte - wie dies später Theodor Herzl war - nicht zustande kam.113

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Nichtsdestoweniger organisierte die Kadimah in den frühen 90er Jahren in Wiener Bezirken wie der Leopoldstadt, der Brigittenau und Favoriten sowie in den westlichen Ländern Österreichs (Böhmen, Mähren und Schlesien) politische Versammlungen, um bei der Gründung von zionistischen Vereinen und Burschenschaften Hilfestellung zu geben.114 1892 organisierten Mitglieder der Kadimah und der Admath Jeschurun im Zuge dieser Tätigkeit eine Koalition der verschiedenen Chovevei Zion-Gruppen zum Zion: Verband der österreichischen Vereinefür die Colonisa-

tion Palästinas und Syriens.115 Im folgenden Jahr wurde die Wiener Abteilung dieser Schirmorganisation gegründet. Diese sollte für Theodor Herzl am Beginn seiner politischen Tätigkeit einen wichtigen Kern bilden, da es vor dem Basler Kongreß von 1897 die einzige ihm zur Verfugung stehende Organisation war.116 Nicht weniger bedeutsam war die Zahl prominenter Kadimahianer, die mit Herzl seit Mitte der 90er Jahre zusammenarbeiteten. Zu ihnen gehörten Reuben Bierer, Nathan Birnbaum, Moritz Schnirer, Reuben Brainin, Johann Kremenetzky, Abraham Salz, Oskar Kokesch, Siegmund Werner und Isidor Schallt. Diese erfahrene Truppe sollte den Kern des österreichischen Zionismus in seiner Entstehungszeit bilden.

Der Zionismus vor Herzl war in Österreich hauptsächlich auf das studentische Milieu beschränkt gewesen. Trotz all seiner rastlosen Militanz und seines Idealismus fehlte ihm eine bis ins letzte durchdachte politische Idee oder ein Sinn für Organisation. Die Veröffentlichung des Judenstaates im Februar 1896 steuerte den fehlenden Funken bei, der die Bewegung entfachte, die von der Kadimah und deren akademischen Ablegern in den österreichischen Ländern geduldig vorbereitet worden war. Nach der ersten Lektüre der Fahnen stürmte Dr. Isidor Schallt buchstäblich zu Herzls Haus in der Pelikangasse, um dem Autor mit dem für ihn typischen atemlosen Pathos seine Gefolgschaft zu schwören: „Herr Doktor, was Sie da geschrieben haben, ist unser Traum, der Traum vieler junger Menschen. Was wir durch alle Jahre hindurch gesucht, aber nicht gefunden haben, ist das Wort, das Sie jetzt aussprechen, der Judenstaat. Kommen Sie mit uns, und wir wollen schaffen, was Menschen nur schaffen können."117 Herzl war zweifelsohne von der überschwenglichen Reaktion bewegt, die er in den studentischen Burschenschaften ausgelöst hatte, er ließ sich die Begeisterung aber nicht zu Kopf steigen. Am 21. Februar 1896 schrieb er in sein Tagebuch: „Gestern Kommers der Kadimah. Die Studenten bereiteten mir große Ovationen. Ich mußte sprechen, sprach aber mit Mäßigung - und mittelmäßig. Ich wollte keine Bierbegeisterung erregen, mahnte zum Studium, warnte vor ungesunder Schwärmerei. Wir würden nach Zion vielleicht nicht kommen, so müssen wir ein inneres Zion erstreben."118

Einige Monate später notierte er nach einem Besuch von Isidor Schallt und Neuberger von der Kadimah in sein Tagebuch:

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Der Aufstieg des Zionismus

„Sie sagten mir auch, es sei der Vorschlag aufgetaucht, eine Freiwilligentruppe von tausend· oder zweitausend Mann zu werben und eine Landung in Jaffa zu versuchen. Wenn auch einige ihre Leben dabei ließen, würde doch Europa auf die Bestrebungen der Juden aufmerksam werden. Ich widerriet diesem schönen garibaldinischen Gedanken, weil diese Tausend noch nicht wie die von Marsala eine national vorbereitete Bevölkerung vorfinden würden. Die Landung wäre nach 24 Stunden wie ein Knabenstreich reprimiert."119

Herzls kühler Realismus, seine politische Intuition und Welterfahrung trennten ihn klar von der eher hitzköpfigen akademischen Jugend, die sich unter seinem Banner geschart hatte. Fünfzehn Jahre zuvor war auch er ein ungestümer Burschenschaftler gewesen, der seine spitze Kappe und seine Binde der Albia zurückgegeben hatte, nachdem dort erstmalig Antisemitismus öffentlich laut geworden war. Dies war eine der vielen Gemeinsamkeiten, die ihn mit der jüdischen akademischen Jugend in Wien verband. Die kollektive Reaktion der jüdischen nationalistischen Studenten auf seinen Aufruf macht deutlich, daß sie die Erfahrung verletzten Stolzes und die Entschlossenheit teilten, die ethnische Würde angesichts von antisemitischen Beleidigungen wiederherzustellen. Sie brachte aber auch eine brennende Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit zum Ausdruck, symbolisiert durch die Eigenstaatlichkeit. Auf Betreiben von Schnirer und Kokesch wandten sich alle zionistischen österreichischen Akademiker im Frühling Mai 1896 mit folgenden Worten an Herzl: „Hochverehrter Herr Doktor! Der Ruf, den Sie in Ihrem ,Judenstaate' an das jüdische Volk haben ergehen lassen, findet einen mächtigen Widerhall in den Herzen von Tausenden Ihrer Stammesgenossen. So alt wie unser Exil ist auch die Sehnsucht unseres Volkes nach Freiheit; nur vereinzelt waren die Stimmen, die diesem Wunsch lauten Ausdruck gegeben haben. Sie, hochverehrter Herr Doktor, haben den Mut gehabt, diese Gefühle in klarer und prägnanter Weise auszusprechen und den nationalen Bestrebungen unseres Volkes neue und für die Zukunft verheißungsvolle Bahnen zu weisen. Hierfür gebührt Ihnen der Dank der Nation, den die Gefertigten - geistige Arbeiter des Judentums - nicht besser dokumentieren können, als indem sie das wiederaufrollen unserer nationalen Fahne freudig begrüßen und sich in den Dienst der heiligen Sache des jüdischen Volkes hingebungsvoll stellen."120

Die Unterzeichner, die tausende Mitglieder aus ihren Reihen vertraten, waren Zion (Verband der österreichischen Vereine fur die Colonisation Palästinas und Syriens); die jüdische Studentenverbindung Kadimah (Wien); die Verbindung österreichischschlesischer Universitätsstudenten Unitas (Wien); die Studentenverbindung Ivria (Wien); die Verbindung jüdischer Studenten der Veterinärmedizin Gamalah (Wien); die Studentenverbindung Libanonia (Wien); die theologische Studentenverbindung

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an der Israelitischen Theologischen Lehranstalt Theologia (Wien); die Studentenverbindung Hasmonea (Czernowitz); und die Studentenverbindung Humanitas in Graz.121 Am 4. März 1896 erklärte die nicht schlagende Wiener Burschenschaft Gamalah ihre „lebhafte Zustimmung" und ihren „tiefempfundenen Dank an Dr. Theodor Herzl für den Muth und fur die Entschiedenheit, mit denen er für die zionistische Idee eingetreten ist".122 Die jüdischen Gamalah-Studenten verkündeten ihre Bereitschaft, dem Ruf von Dr. Herzl zu folgen und „an seiner Seite für die Verwirklichung der großen und erhabenen Idee zu kämpfen".123 Im Mai 1896 hielt Dr. Schnirer im Verband Zion ein Referat über den „Judenstaat", und der Verband erließ (gemeinsam mit den Studentenverbindungen der Universitäten Wien, Graz und Czernowitz) den oben genannten Aufruf zur Unterzeichnung einer Adresse an Herzl. Wie Adolf Friedemann bemerkte: „Ohne dieses studentische Pronunziamento wäre Herzl schwerlich schnell zu einer unbestrittenen führenden Stellung gelangt."124 Diese warmen Sympathie- und Unterstützungserklärungen stärkten zweifelsohne Herzls Entschluß zu einer Zeit, als er sich über seine künftige Vorgangsweise noch gar nicht sicher war. Mit Isidor Schalits Worten: „Wir umgaben ihn, bewachten ihn, ließen ihn keine Minute allein, stellten die Verbindung zu Zionisten anderer Ländern her, sammelten Tausende Unterschriften, führten Deputationen u. s. f. Erst nach vielen Jahren wurden wir uns bewußt, was wir damit geleistet hatten .. ," 125 Die Kadimah und andere Wiener zionistische Studentenverbindungen spielten als Herzls Vertreter bis zu dem in Basel abgehaltenen Ersten Zionistischen Kongreß von 1897 weiterhin eine äußerst wichtige Rolle.126 Schnirer, Kokesch und Schalit hatten einen zentralen Anteil an den Vorbereitungen zum Basler Kongreß, an dem zehn Mitglieder der Kadimah teilnahmen.127 Dies war eine beachtliche Zahl für eine Studentenverbindung, die rund 150 Mitglieder zählte. Die Energie, das rhetorische Talent und die Militanz dieser relativ kleinen Gruppe prädestinierte sie für die Verbreitung der zionistischen Idee. Die spezielle Beziehung, welche die Studenten zu Herzl hergestellt hatten, die persönliche Loyalität, die sie ihm gegenüber empfanden, und die Tatsache, daß Wien zur damaligen Zeit das Zentrum der zionistischen Weltbewegung war, rückte die Bedeutung der österreichischen Studententruppe noch weiter in den Vordergrund. Während des Ersten Zionistischen Kongresses war ζ. B. Abraham Salz aus dem österreichischen Galizien der Vizepräsident während der Sitzungen; Nathan Birnbaum wurde zum Generalsekretär der zionistischen Organisation gewählt; Siegmund Werner wurde als Nachfolger des in Krakau geborenen Saul Raphael Landau zum Chefredakteur der Welt (der führenden zionistischen Zeitung) ernannt. Ein weiteres Mitglied der Kadimah, Isidor Schalit, ein Wiener, der eng an der Welt mitgearbeitet hatte, war bereits einer von Herzls engsten persönlichen Assistenten.

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Der Aufstieg des Zionismus

Herzls Wiener Mitstreiter leiteten das engere Aktions-Komitee (EAC) der zionistischen Weltorganisation in den ersten Jahren ihres Bestehens. Kokesch, Kremenetzky, Marmorek, Schalit - vier seiner getreuesten Kollegen - waren regelmäßige Mitglieder des EAC, das für die alltägliche Geschäftsführung in der zionistischen Weltorganisation zuständig war. Dieses innere Allerheiligste sorgte für ständige Irritation bei den russischen Zionisten, die das Gefühl hatten, daß Wien ihre Belange manchmal nicht zu beachten schien. In der Beschreibung der ersten sieben Jahre von Herzls Aufstieg innerhalb der zionistischen Bewegung, schreibt der Historiker David Vital: „Herzl und seine Männer, die ,Wiener Diplomaten', über die sich Achad Ha'am und viele andere beklagten, beherrschten - wie wir bereits gesehen haben - einige Jahre lang die Bühne; und dadurch war ihr unmittelbarer Einfluß auf die Bewegung enorm und auf gewisse Weise - ζ. B. bei den technischen und organisatorischen Verfahrensweisen - dauerhaft. Diese Leitung von der Peripherie aus war jedoch außergewöhnlich, von relativ kurzer Dauer und immer etwas anormal."128

Solange Herzl lebte, behielt Wien seine Vorrangstellung in der zionistischen Weltorganisation, obwohl sich deren wahrer Schwerpunkt schon nach Rußland verlagert hatte. Nach Herzls unerwartet frühem Tod im Jahre 1904 und dem Untergang des politischen Zionismus bestand nie die Wahrscheinlichkeit, daß seine Wiener Vertreter das Kommando übernehmen könnten.129 Ihnen fehlte es an persönlicher Ausstrahlung und an der Unterstützung von der Basis her, um gegen den russischen Zionismus die Oberhand zu gewinnen. Dennoch war zumindest einer von Herzls Wiener Vertrauten, der wohlhabende Industrielle Johann Kremenetzky (1848-1934), in der Lage, eine Brücke zwischen Herzl und seinen russischen Anhängern zu schlagen.150 Kremenetzky hatte ein Ingenieurstudium absolviert und sich 1879 in Wien niedergelassen. Er baute die erste Fabrik für elektrische Glühbirnen in Österreich, wurde einer von Herzls engsten Freunden und blieb bis 1905 Mitglied der zionistischen Exekutive. Kremenetzkys Freundschaft mit Moritz Schnirer und dem Kadimah-Kreis hatten ihn zunächst zu der kleinen zionistischen Gruppe geführt, die sich in den frühen 90er Jahren in den Räumen des Cafe Louvre in der Wipplingerstraße traf. Dieser Wiener Kreis wurde in der Folge zum Kern von Herzls engerem Aktions-Komitee.151 Kremenetzkys Faszination von der Technik, der gesellschaftlichen Organisation und der praktischen Politik weckte sein Interesse an Herzl. Als erster Direktor des Jüdischen Nationalfonds gelang es dem russisch-stämmigen Ingenieur, das wichtigste Ziel der „praktischen Zionisten", die Errichtung einer echten wirtschaftlichen Infrastruktur für die jüdische Besiedlung in Eretz Israel, zu erfüllen. Für pragmatische Realisten wie Kremenetzky diente der Heraische Zionismus weniger als Doktrin, sondern als gut strukturierte Organisation und politischer Wille,

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der den Zionismus in eine konkrete Bewegung zur jüdischen Selbsthilfe uniformen konnte. Herzls Hauptverdienst war es gewesen, den verschiedensten, im ganzen österreichischen Reich verstreuten Aktivitäten der zionistischen Burschenschaften, Gesellschaften und philanthropischen Gruppierungen ein Gefühl für ethnischen Stolz, Stärke und politische Richtung zu geben. Seine charismatische Persönlichkeit schien für zeitgenössische Beobachter den ganzen im Verborgenen schlummernden Nationalstolz des jüdischen Volkes zu verkörpern. Wie der österreichisch-jüdische Dramatiker Richard Beer-Hofmann in einem begeisterten Brief an Herzl Mitte Februar 1896 schrieb: „Mehr noch als alles, was in Ihrem Buch, war mir das sympathisch, was dahinter stand. Endlich wieder ein Mensch, der sein Judentum nicht wie eine Last oder ein Unglück resigniert trägt, sondern stolz ist, mit der rechtmäßige Erbe uralter Kultur zu sein."132 Herzls kühne Verteidigung der jüdischen Ehre und Selbstsicherheit übte auf die zionistische Jugend in Wien und im ganzen Reich eine große Anziehungskraft aus.133 Sofort erkannten sie in Herzl eine Persönlichkeit mit einer Stellung in der Welt und einem sozialen Rang, dessen Führungsqualitäten dem Zionismus ein Prestige verliehen, das sie niemals hoffen konnten zu erlangen, wenn sie im wesentlichen eine Studentenbewegung am Rande des österreichischen öffentlichen Lebens geblieben wären. Mit Herzls Gründimg der zionistischen Organisation und dem Eintritt der Bewegung in den Lauf der Geschichte war die Pionieraufgabe der Studenten großteils erfüllt. Die Kadimah, der ursprüngliche Fackelträger des jüdischen Nationalgedankens, trat freiwillig wieder in den Hintergrund, auch wenn viele ihrer Mitglieder wichtige Positionen in der neuen Organisation innehatten.154 Auch wenn die schöpferische Phase der Kadimah vorüber war, spielte der jüdische studentische Nationalismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weiterhin eine wichtige Rolle an den österreichischen Universitäten.135 An der Universität Wien pochten die jüdischen Studenten auf das Recht der österreichischen Juden, als voll ausgebildete Nation innerhalb der Monarchie anerkannt zu werden. Nur durch eine derart offizielle Anerkennung würden die Juden des Reiches gänzlich als gleichberechtigte Bürger akzeptiert werden. Dem von der Kadimah seit den 80er Jahren vorgezeichneten Weg folgend, insistierte die neue Generation jüdischer nationaler Studenten, daß sie weder Deutsche noch Tschechen oder Polen seien, sondern Angehörige einer eigenständigen jüdischen Nation. Ende 1905 übernahmen sie die Forderung nach jüdischer nationaler Autonomie innerhalb Österreichs in ihr eigenes zionistisches Programm. Als Vorsitzender der österreichischen zionistischen Organisation befürwortete Isidor Schallt voll und ganz die Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes hin zur österreichischen Innenpolitik. Er war der Meinung, daß dies das effektivste Mittel gegen

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Der Aufstieg des Zionismus

die Assimilation und die beste Art sei, die Fortführung der jüdische nationale Wiedergeburt zu sichern.136 Auch andere führende österreichische Zionisten sprachen sich dafür aus, das Schlagwort „nationale Autonomie" als Teil ihrer breit angelegten Strategie zu übernehmen, die darauf abzielte, eine Vormachtstellung in der organisierten jüdischen Gemeinde und die Kontrolle über deren Geldmittel zu gewinnen.137 Mit der Demokratisierung der österreichischen Politik im Jahr 1906 hatte die nationale Autonomie eine neue Bedeutung erlangt. Die Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts für Männer hatte die Aussicht verstärkt, daß die Juden auf einer ethnischen Basis politisch mobilisiert werden und eine Vertretung als nationale Minderheit im österreichischen Parlament erreichen könnten. Diese Hoffnung hatte im Juli 1906 zu einem Zusammengehen von Zionisten und jüdischen nationalen Autonomisten in der Jüdischen Nationalpartei geführt. Deren Erfolg bei den Reichsratswahlen von 1907 - sie gewannen vier Sitze in Galizien und der Bukowina - schien die Strategie der österreichischen Zionisten zu rechtfertigen. Von den Zionisten wurde die Wahlkampagne eindeutig im Kontext ihres breiter angelegten Kampfes gesehen, der darauf abzielte, Anspruch auf die politischen Führung innerhalb der jüdischen „Nationalität" in Osterreich zu erheben.138 Die neue zionistische Politik wollte die österreichischen Behörden von der Notwendigkeit der Errichtung nationaler Kurien und einer proportionalen Vertretung der Minderheiten überzeugen - dies waren Forderungen, die vom jüdischen Establishment in Wien vehement abgelehnt wurden. Die Zionisten setzten sich für die Verteidigung der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Rechte der jüdischen „Nation" in Österreich ein, wobei sie sich selbst auf ein extra-tenitoriales Autonomieprogramm stützten. Sie achteten sorgfältig darauf, ihre Forderungen so darzustellen, daß sie voll in Einklang mit den Interessen des österreichischen Staates und den gerade laufenden Versuchen standen, die Doppelmonarchie durch eine breitere Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung und durch das allgemeine Wahlrecht zu verjüngen.139 Eine historische Gelegenheit wäre gekommen, so meinten die führenden österreichischen Zionisten 1907, mit der alten assimilationistischen Politik Schluß zu machen. Die Juden müßten die traditionelle Gewohnheit der Selbstverleugnung aufgeben, durch die sie sich selbst für die Interessen von Nationalitäten geopfert hätten, die sie auf jeden Fall als „fremde nationale Minderheit" zurückwiesen. In einem demokratisierten, föderalen österreichischen Staat, der auf nationaler Autonomie basierte, gäbe es Raum für eine unabhängige jüdische politische Organisation, für parteigebundene jüdische Parlamentsabgeordnete und für ein nationales Programm zur Verteidigung der Interessen der jüdischen Minderheit. Die neue Ausrichtung der österreichischen zionistischen Bewegung im Sinne einer Vertretung der österreichischen Judenschaft als selbständige nationale Größe stieß besonders an der Wiener Universität auf großen Widerhall, wo es 1910 mehr

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als zwanzig jüdische nationale Gruppierungen gab. Deren Kampagne (wie jene der Jüdischen Nationalpartei bei den österreichischen Wahlen von 1907) konzentrierte sich verstärkt auf die Anerkennung von Jiddisch als offizieller Sprache der jüdischen Nationalität, um sich dadurch von den Deutschen, Polen, Tschechen und anderen nationalen Gruppen abzugrenzen.140 Jiddisch wurde zur Schlüsselfrage für jüdische Studenten, die von der autonomistischen Ideologie beeinflußt waren - als Mittel zur Anerkennung ihrer „Nationalität" durch die Universitätsbehörden. Die jiddische Sprache wurde zu einem Prüfstein der jüdischen nationalen Solidarität und zu einem symbolischen Protest gegen die offizielle Politik der Assimilation jiddischsprechender Juden aus Galizien und der Bukowina als Angehörige anderer Nationalitäten. Marsha Rozenblit hat aufgezeigt, wie sich diese Kampagne der Bewußtseinsstärkung der jüdischen Studenten an der Wiener Universität nach dem Herbst 1902 langsam entwickelt hat, mit der aktiven Unterstützung von schlagenden zionistischen Verbindungen wie Kadimah, Ivria, Unitas, Libanonia und Makkabäa. 1907 verstärkte sich die Kampagne und führte zu Anfragen seitens jüdischer Abgeordneter im Reichsrat, die die Anerkennung des Bestehens einer jüdischen Nationalität in den höheren Bildungseinrichtungen in Osterreich forderten.141 Jüdische Studenten wurden aufgefordert, in ihren Immatrikulationsformularen in der Spalte „Muttersprache" als „Ehrensache" und als Sinnbild ihrer Identifikation mit ihrem eigenen Volk „Jüdisch" einzutragen. Dieser Aufforderung wurde immer stärker nachgekommen. Rozenblit hat darauf hingewiesen, daß die Tatsache, daß „die Hälfte der jüdischen Medizinstudenten und 35 % aller jüdischen Studenten an der Wiener Universität im Jahr 1910 sich selbst als Angehörige der jüdischen Nation ansahen, ein Hinweis darauf ist, wie weitverbreitet und wie tiefsitzend das jüdische Nationalbewußtsein und das Selbstbewußtsein in der jüngeren Generation der gebildeten österreichischen Judenschaft war".142 Die regionale Aufschlüsselung der Ursprungsländer dieser jüdischen nationalen Studenten zeigt, daß etwas mehr als ein Drittel aus Galizien (38 %) stammte. Das jüdische Nationalgefühl war auch bei Studenten aus der Bukowina und aus Rußland besonders stark. Bei Studenten aus Schlesien und Mähren war das jüdische Nationalbewußtsein ebenfalls ausgeprägt. Rozenblits statistischer Analyse zufolge, war es bei den Ungarn, Böhmen und jüdischen Studenten, die in Wien geboren waren, signifikant niedriger.143 Diese statistischen Indikatoren sind keine Überraschung. Sie spiegeln das allgemeine Muster der jüdischen Assimilation in der Habsburgermonarchie wider und bestätigen, daß die verwestlichten österreichischen Juden in der Studentenschaft weniger „zionistisch" waren als die Ostjuden. Diese regionalen Unterschiede sollten jedoch das beachtliche Ausmaß nicht verschleiern, in welchem am Vorabend des Ersten Weltkrieges jüdische Nationalgefühle das gesamte studentische Milieu in Osterreich durchdrungen hatten.

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Der Aufstieg des Zionismus

Der von der Kadimah Anfang der 80er Jahre gesäte Samen hatte dreißig Jahre später in der jüdischen Studentenschaft eindeutig Wurzeln geschlagen. Erklärt werden kann ihr Erfolg durch den starken rassischen Antisemitismus an den Universitäten, durch die endemischen Nationalitätenkonflikte im ganzen Reich, durch die wachsende Zahl zuwandernder Ostjuden in Wien und durch die allgemeine Auswirkung der österreichischen zionistischen Bewegung. Die besondere Aufgabe der Kadimah als erster Standartenträger des jüdischen Nationalgedankens mag vielleicht mit dem Auftreten Herzls und dem politischen Zionismus seinen Abschluß gefunden haben. Die sozialen Bedingungen, die ursprünglich zum jüdischen studentischen Nationalismus an der Wiener Universität gefuhrt hatten, dauerten jedoch fort lind sicherten ihr weiteres Wachstum.

12. Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum

Die Assimilationssucht istja die Ursache all'der leiden, die wir auszustehen haben, und durch eben diese Assimilationssucht soll dem Übel gesteuert werden. Merkwürdige Pfiffigkeit! Man will das kranke Volk heilen durch neue Krankheit, das moralisch gesunkene durch neue Demoralisation ... Nathan Birnbaum, Die Assimilationssucht. Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität (Wien 1884) Gegen die neuen Leiden des jüdischen Volkes erweisen sich die bisher angewendeten Mittel als ungenügend. In der bedingungslosen Anlehnung an die Völkerfand Israel nicht das geträumte Glück; dagegen genügten die bloßen Versuche, um es seiner Selbstachtung zu berauben. In sich selbst muß unser Stamm seine Rettungfinden!Daher muß ein wahrhaft jüdisches Geschlecht erzogen werden, welches seine Religion, Geschichte und Sprache kennend, zugleich mit dem Geiste des classisch-hebräischen Alterthums in sich aufgenommen hat [...] Daher müssen wir diesem Bauernstande Boden, den besitzlosen Stammesgenossen Grundbesitz, den Opfern europäischer Verfolgung eine Zufluchtstätte, dem zersprengten und durch seine Zersplitterung ohnmächtigen jüdischen Volke einen Mittel- und Einigungspunkt schaffen![...] So ist denn unser Programm: Solidarität des Gesammtjudenthums, Wiedergeburt altjüdischer Art und Sitte, Schaffung eines jüdischen Bauernstandes, d. i. Colonisation Palästina's. Nathan Birnbaum, Selbstemanzipation (2. Jänner 1892J Das kleinste politische Gemeinwesen hat Sitz und Stimme im Concerte der Völker; es kann protestiren, wenn seine Bürger oder die Connationalen seiner Bürger irgendwo in ihren Rechten gekränkt oder an ihrem Leben bedroht werden, kann Genugthuungfiir jede solche Unbilde verlangen. Ein Volk ohne völkerrechtliche Geltung ist vogelfrei. Je rascher und gründlicher die civüisirte Welt diese Vogelfreiheit bezüglich der Juden aufheben will, desto früher und radicaler wird sie von dem Judenhasse, welcher sich wie Mehlthau auf ihre schönsten Blülhen senkt, befreit werden. Nathan Birnbaum, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage (Wien 1893) Der Zionismus umfaßtfolgende Momente: 1. Die Anerkennung des jüdischen Volkes als eine Eigenart, welche kraft ihrer culturellen Begabung die natürliche Berechtigung und Verpflichtung hat, als Eigenart fortzubestehen und sich als solche zu bestätigen.

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Der Aufstieg des Zionismus

2. Die Erkenntnis, daß die Lage des jüdischen Volkes eine durchaus unglückliche und unwürdige ist. 3. Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer gründlichen Umgestaltung der völkerrechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des jüdischen Volkes dadurch, daß ein Territorium gefiinden werden, welches den vor Verfolgerwuthfliehenden Juden ein Asyl und Sammelpunkt, dem ganzen jüdischen Volk ein Rückhalt und Mittelpunkt sei. 4. Die Anschauung, daß zu diesem Asyle und Sammelpunkte, zu diesem Rückhalt und Mittelpunkte nur ein Land der Welt sich eignet, die alte Volksheimat der Juden - Palästina. Nathan Birnbaum, Vortrag bei dem Vereine „Admath Jeschurun" in Wien am 23. Jänner 1892 veranstaltete Discussions-Abende Die nationale Autonomie stellt die Gleichberechtigung der Juden auf unerschütterliche Grundlagen. Sie schafft zwischen Juden und Nichtjuden klare Verhaltnisse, die mit derZeit zufreundnachbarlichen Beziehungenführen müssen; sie ermöglicht überhaupt erst ein wahrheitsgetreues Bild vom Wesen desjüdischen Volkes, sie reiht es unter die Völker der zivilisierten Menschheit ein. Nathan Birnbaum, „Jüdische Autonomie", Ost und West (Jänner 1906)

N A T H A N B I R N B A U M ( 1 8 6 4 - 1 9 3 7 ) , DER G R Ü N D E R D E S Ö S T E R R E I C H I S C H E N

Zio-

nismus, wurde in Wien als Sohn aus dem westlichen Galizien stammender Eltern geboren, die über einen ungarischen religiösen Hintergrund verfugten. Sein Vater, der Sohn eines polnischen Chassiden, war mit der ersten Einwanderungswelle aus Galizien aus Krakau nach Wien gekommen. Mütterlicherseits stammte Nathan Birnbaum von einer alten, angesehenen nordungarischen Rabbinerfamilie ab, deren Wurzeln bis auf den mittelalterlichen Gelehrten Rashi zurückverfolgt werden können. 1 Nathan Birnbaum, der in Wien Volksschule und Gymnasium besuchte, wurde seinem gemäßigt orthodoxen familiären Hintergrund bald entfremdet, obwohl er nicht den für die meisten seiner jugendlichen Zeitgenossen typischen Weg der Assimilation einschlug. 2 Schon in der Mittelschule schockierte Birnbaum - trotz des enormen Einflusses der deutschen Kultur - seine Kameraden, indem er die Meinung vertrat, die österreichischen Juden wären nicht deutsch, sondern würden einer eigenen Nation angehören, der es vorherbestimmt war, das Land Palästina zurückzugewinnen. 3 Auf der frühen Unterweisung im jüdischen Studium aufbauend, die er zu Hause erhalten hatte, stürzte sich Birnbaum auf hebräische Zeitungen, vor allem Perez Smolenskins Ha-Schachar, und verschlang Literatur über die nationale jüdische Bewegung in Osteuropa. 4 Der feste Glaube, daß die Juden eine ethnische Einheit mit einer einzigartigen Geschichte und Kultur bildeten, die mit Eretz Israel verbunden war, veranlaßte den 18jährigen Jusstudenten (damals in seinem ersten

Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum

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Jahr an der Universität Wien), gemeinsam mit Reuben Bierer aus Ostgalizien und Moritz Schnirer aus Bukarest die Kadimah zu gründen.5 1884 veröffentlichte der 20jährige Birnbaum seine erste Publikation, eine Schrift mit dem provokanten Titel Die Assimilationssucht: Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Na-

tionalität. Es war dies der Beginn einer bemerkenswertflatterhaftenKarriere als Publizist, Herausgeber und Agitator, die in ihren verschiedenen Metamorphosen alle ideologischen Trends des Fin de Siecle im mitteleuropäischen jüdischen Leben durchlief. Nahezu 15 Jahre hindurch war Birnbaum der führende zionistische Ideologe Österreich-Ungarns, der Gründer und Herausgeber der ersten deutschsprachigen jüdisch-nationalistischen Zeitschrift Selbstemanzipation, in der er den Begriff „Zionismus" prägte.6 Nach Unstimmigkeiten mit Herzl, die ihn veranlaßten, die erst kürzlich gegründete zionistische Organisation zu verlassen, wurde er für einige Zeit zum Protagonisten des „kulturellen" gegenüber dem „politischen" Zionismus. Nach 1900 wandte er sich zunehmend einer autonomistischen Philosophie des „Diaspora Nationalismus" zu. Seine Befürwortung des Prinzips der nationalen Autonomie veranlaßte Birnbaum konsequenterweise, eine echte Ideologie des Judentums zu entwickeln. 1908 war er der Initiator und Veranstalter der ersten Jüdischen Sprachkonferenz in Czernowitz (Bukowina), wo er die nächsten drei Jahre leben sollte.7 In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schließlich kam Birnbaum der jüdischen religiösen Tradition näher, wurde sogar ein praktizierender orthodoxer Jude, und 1919 wurde er zum ersten Generalsekretär der Agudat Israel Weltorganisation bestellt.8 Die außergewöhnliche persönliche Odyssee, die durch ihre scharfen intellektuellen Wendungen verblüfft, unterschied Birnbaum von seinen Wiener Zeitgenossen. Wie der andere zeitgenössische ideologische Nomade, der jüdisch-russische Revolutionär Chaim Zhitlovsky, schien er aufgrund dieser politischen Inkonsistenz geradezu prädestiniert, in Vergessenheit zu geraten.9 Seine plötzlichen Kehrtwendungen, Zweifel, sein Zögern und seine Widersprüche waren jedoch in vieler Hinsicht ein getreuliches Spiegelbild des kulturellen Dilemmas, in dem sich das österreichische Judentum befand. Birnbaums Individualismus, die Originalität und Breite seiner intellektuellen Interessen, der prophetische Zug in seinen Schriften und die Intensität seiner Hingabe an das jüdische Leben ließen ihn in den Augen seiner Zeitgenossen eine Sonderstellung einnehmen; eine Sonderstellung, die nicht einmal sein empfindliches und schwieriges Temperament sowie das Fehlen eines politischen savoirfaire beeinträchtigen konnten. Birnbaum bleibt daher ein äußerst sensibles Barometer für die Ubergangszeit, in der er lebte. Seine diversen Mutationen scheinen viele der zentralen Probleme der nationalen jüdischen Renaissance in Mittel- und Osteuropa zu verkörpern. Zumindest in einem Punkt blieb Birnbaum seinen Grundsätzen treu, die er als

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Der Aufstieg des Zionismus

24jähriger Student 1884 erstmals aufstellte. Von Beginn seiner Karriere als junger Zionist an bis zu deren Abschluß als Ba'al Tschuva, war er stets ein unerbittlicher Gegner der Assimilation der Juden in die sie umgebende Gesellschaft und deren Anpassung an die Praktiken jener Leute, die er für kulturell unterlegen hielt. 10 In Die Assimilationssucht verurteilte Birnbaum lautstark die demoralisierende Politik der jüdischen Germanisierung, Magyarisierung und Slawisierung, die seiner Meinung nach auf Selbsttäuschung, Selbstverleugnung und einem unnatürlichen Wunsch nach Selbstauflösung beruhte.11 Diese „Manie zur Verschmelzung" mit den umgebenden Völkern mißachtete bewußt den nationalen Charakter und die speziellen Charakteristika einer 4000jährigen jüdischen Geschichte;12 sie sei eine moderne Form der „Hellenisierung", bei der die servile Nachahmung fremder Kulturen pathologische Ausmaße angenommen habe, die in direkter Folge das Aufkommen des politischen Antisemitismus in Mitteleuropa hervorrufen würden. 13 Birnbaum zufolge sahen die Antisemiten in diesem jüdischen „Nachäffen" und in der Selbstauflösung berechtigterweise ein deutliches Zeichen der moralischen Unterlegenheit und einen Ausdruck der Schwäche und nicht der Gleichrangigkeit. Das einzige Gegenmittel des post-emanzipatorischen Judentums gegen den antisemitischen Virus liege, so Birnbaum, in der Wiedererweckung des Nationalbewußtseins und der Ermutigung der zionistischen Kolonisierung in Eretz Israel. Die Juden müßten als Gruppe die nationale Gleichstellung suchen, um ihr inneres Gleichgewicht und die Achtung der anderen Nation wiederzugewinnen. 14 Statt der Selbsterniedrigung, die implizit mit einer Politik der Assimilation in jene Nationen, die sie ablehnten, verbunden war, sollten die Juden erkennen, daß sie nie eine bloße „Religions-Genossenschaft" oder eine „zusammenhanglose Masse von Individuen" waren. Sie waren historisch gesehen eine Nation mit einer heldenhaften Vergangenheit, in deren Namen überragende intellektuelle Werke geschaffen wurden. Sie waren Eretz Israel physisch und geistig zutiefst verbunden, und die Rückkehr dorthin stand seit 1800 Jahren im Mittelpunkt ihrer Gebete und Sehnsüchte. Die Liebe zum Heiligen Land aber mußte einen aktiveren und bewußt nationalen Charakter annehmen. Für die Juden bedeutete es die einzige Rettung als „einen Zufluchtsort für die Exilsmüden und eine Stütze im moralischen und materiellen Sinne für die im Exil Verbleibenden".15 Hätten die Juden erst einmal ihr Vaterland wieder zurückgewonnen, würde „der jetzige Judenhaß in seiner spezifischen Gestalt vom Erdboden verschwinden, die ganze Judenheit würde nach langen und bangen Jahrtausenden schweren Alpdrucks wieder aufatmen".16 Um dieses Argument zu unterstreichen, verwies der junge Birnbaum auf die Errichtung neuer jüdischer Siedlungen in Palästina, die wachsende Zahl jüdischer nationaler Vereine, Clubs und Zeitschriften in der Diaspora und die Wiederbelebung der hebräischen Sprache in Osteuropa.17 Was immer noch fehle,

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sei der gemeinsame nationale Wille zu einer jüdischen territorialen Konzentration und landwirtschaftlichen Ansiedlung im Heiligen Land. Die nächsten eineinhalb Jahrzehnte seiner doktrinären und propagandistischen Aktivitäten in Mittel- und Osteuropa widmete Birnbaum der Verbreitung dieses auf Palästina konzentrierten Credos. Nur ein territoriales Zentrum in Eretz Israel würde die Juden von der Krankheit des Exils und der Zerstreuung heilen, da dieses den in Europa „überflüssigen" Juden ein sicheres Heim bieten und die Seuche des Antisemitismus ausrotten würde. Diese territoriale Zentrum würde den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Interessen des Diaspora-Judentums keineswegs entgegenwirken; im Gegenteil, durch die Erhöhung ihrer Sicherheit und ihres Selbstvertrauens würde die Loyalität jener gestärkt, die in den Ländern verbleiben, in denen sie ihren Wohnsitz haben. In einer Rede anläßlich eines von der Admath Jeschurun am 23. Jänner 1892 in Wien veranstalteten Diskussionsabends erklärte Birnbaum in Erläuterung der „Prinzipien des Zionismus": „Wir sind ein Volk ohne Land, eine Nation ohne Boden, und das ist unser Unglück. Unsere besten Freunde können uns nicht helfen, wenn man uns irgendwo prügelt, denn es gibt ja keine Einmengung in die inneren Verhältnisse eines anderen Staates. Wir selbst sind noch ohnmächtiger und können uns höchstens an der Grenze des betreffenden Staates aufstellen, um unsere verfolgten und vertriebenen Brüder mit alten und neuen Kleidern, mit Suppe und Kaffee und mit Fahrkarten nach Amerika zu erwarten. Das kann nicht für alle Zeiten genügen. Eis muß ein Territorium, welches, wenn auch unter dem bescheidensten völkerrechtlichen Titel, unser ist, gefunden werden. Dieses Land soll der Mittelpunkt unseres über das ganze Erdenrund zerstreuten Volkes werden, Mittelpunkt und Rückhalt. Wer unter unseren Stammesgenossen dieses Land aufsucht und wer es auch nicht aufsucht, beide sollen sich seines Schutzes erfreuen, der eine des materiellen Gewinnes einer Heimat für sich selbst, der andere des moralischen Gewinnes einer Heimat für das Volk als solches. Durch ein jüdisches Vaterland würde die Stellung Israels unter den Völkern mit einem Schlage eine normale, eine auf dem Prinzipe der Gegenseitigkeit beruhende, und daher eine geachtete werden."18

In seiner Schlußbemerkung betonte Birnbaum, daß die neue Bewegung weder „unpatriotisch" noch „reaktionär", „antireligiös", „gefahrlich" oder „undurchführbar" sei. Die Zionisten seien keine nationale Partei im landläufigen Sinne des Wortes, „keine Partei der Redensarten, der Engherzigkeit, der Renommage ... Die Zionisten sind insoferne national, als sie ihrem Volke helfen wollen, mit den übrigen Völkern gleich gerüstet in culturellen Wettbewerb zu treten. In diesem nicht aggressiven Sinne national, kann ein Zionist in wirtschaftlicher Beziehung sogar socialistischen Grundsätzen huldigen.. ,"19

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Der Aufstieg des Zionismus

Birnbaums Zionismus fand in diesen Jahren seinen Ausdruck in der jüdischnationalistischen Studentenverbindung Kadimah und vor allem in seiner Herausgeberschaft der Selbstemanzipation (der ersten zionistischen Zeitschrift in einer westeuropäischen Sprache), die sich in den Dienst der „nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes" stellte.20 Die Zeitung, der es stets an Geld mangelte und die nur eine sehr begrenzte Verbreitung fand, wurde nach nur 15 Monaten wieder eingestellt; 1890 wieder neu aufgenommen, bestand sie vier weitere Jahre lang in Wien, übersiedelte dann aus verlegerischen Gründen nach Berlin, wo sie unter einem neuen Namen (Jüdische Volkszeitung) erschien. Sie wurde weiterhin von Birnbaum herausgegeben, der in der österreichischen Hauptstadt blieb. Die Selbstemanzipation nahm nahezu Birnbaums gesamte Zeit in Anspruch, war er doch nicht nur Herausgeber, sondern auch Verleger, Chefredakteur, Buchhalter, Sekretär und Laufbursche in einem. In den ersten Jahren brachte er die Zeitung auf eigene Kosten heraus, und schließlich verkaufte seine Mutter sogar ihr Hausratsgeschäft, um ihm bei der Bestreitung der Kosten zu helfen. Mehrmals stand Birnbaum unmittelbar vor dem Konkurs, und Studienkollegen brachten ihm Brot, damit er nicht verhungere.21 Armut sollte auch weiterhin der Fluch seines Lebens bleiben. Obwohl er 1885 sein Jusstudium an der Universität Wien abschloß, wurde er nie zu einem erfolgreichen Anwalt, was zum Teil darauf zurückzuführen war, daß sein betont „semitisches" Aussehen zu einer Zeit zunehmend antijüdischer Stimmung in der habsburgischen Metropole Klienten abschreckte. So hängte Birnbaum seine juristische Karriere an den Nagel und beschloß in den frühen 90er Jahren, sich ganz dem Journalismus und den zionistischen Angelegenheiten zu widmen. Er nahm das Pseudonym Mathias Acher an, um seinen radikalen Bruch mit der religiösen Tradition und sein Eintreten für eine neue Synthese zwischen der europäischen Moderne, dem jüdischen Nationalismus und einem gemäßigten Sozialismus zu symbolisieren.22 Während der gesamten bewegten Zeit ihres Bestehens widmete sich die Selbstemanzipation der didaktischen Verbreitung der Idee einer jüdischen Wiedergeburt. Die frühen Ausgaben konzentrierten sich auf die Herausforderung des Antisemitismus und den Kampf gegen alle Formen des Assimilationismus innerhalb des jüdischen Lagers.23 Birnbaum vertrat die Ansicht, die Bemühungen des Liberalismus, die „Judenfrage" zu neutralisieren und den nationalen, sozialen und religiösen Gegensatz zwischen Juden und Europäern zu verwischen, seien nur vorübergehend.24 Er behauptete, daß nicht nur die tausendjährige jüdische Geschichte, sondern auch die Naturwissenschaften und die politische Ökonomie seine Hypothese tief verwurzelter rassischer Unterschiede untermauere. „In den Rassenunterschieden ist die nationale Mannigfaltigkeit begründet."25 Birnbaum glaubte zweifellos an die jüdische Rasse. In diesen frühen Jahren war für ihn die Rasse tatsächlich der zentrale Begriff der menschlichen Existenz, der für das Entstehen des Volksgeistes mit all seinen

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Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum

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Leitartikel aus Selbstemanzipation

(2. Jänner 1892)

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Der Aufstieg des Zionismus

nationalen Besonderheiten verantwortlich war. Wie beispielsweise der „nichtjüdische" Volksgeist das Nibelungenlied hervorgebracht hatte, so hatte nach Birnbaums Ansicht der alte jüdische Volksgeist die Bibel hervorgebracht.26 Dieses frühzionistische Rasse-Denken lag in biologischen Vorstellungen begründet, die im Zeitalter des Positivismus in Mode gekommen waren und natürlich Ideologien bevorzugten, die auf den Naturwissenschaften basierten. Es versuchte, die jüdische Identität auf weltliche und „wissenschaftliche" Begriffe zu stützen, die wenig mit dem religiösen Erbe zu tun hatten, oder auf das abstrakte, liberale Judentum der post-emanzipatorischen Zeit. Daß die modernen Antisemiten ebenfalls rassische Argumente anführten, hielt zionistische Ideologen wie Birnbaum nicht davon ab, ähnliche Begriffe zu verwenden, um deren Behauptungen zu widerlegen. Unvermeidbar war, daß sie von liberalen Juden beschuldigt wurden, den Antisemitismus zu fordern. Birnbaum vertrat indes die Ansicht, daß die assimilationistische jüdische Verweigerung der Anerkennung einer ursprünglichen nationalen Individualität den völkischen Antisemitismus hervorgebracht habe.27 Das unwürdige Bemühen um eine Entjudung des Judentums, um dadurch um jeden Preis soziale Akzeptanz zu erlangen, hätte die unlösbare nationale Antipathie lediglich verschärft.28 Der vergebliche Versuch, die jüdisch-messianischen Hoffnungen zu unterdrücken, die jüdische Selbstkritik zu ersticken und den Antisemitismus kurzerhand abzulehnen, ohne dabei zu bedenken, daß dieser (wenn auch in vulgärer, verzerrter Form) gewisse Realitäten des jüdischen Lebens in Europa widerspiegeln könnte, sei schädlich.29 Als Birnbaum sich 1902 an seine früheren Ansichten hinsichtlich des Antisemitismus erinnerte, legte er eine äußerst aufschlußreiche Beichte ab: „Es gab eine Zeit, wo ich dem Judenhaß mit einem gewissen Wohlwollen gegenüberstand. Mit einer Art Behagen sah ich seinem Treiben zu, fast freute ich mich seiner Erfolge und Fortschritte. Wenn ich diese Empfindungen nicht immer rund heraussagte, so war es nur aus einer Art taktischer Zurückhaltung, die ich mir auferlegten zu müssen glaubte, um nicht zu sehr bei denjenigen anzustoßen, die ich für nationaljüdische Bestrebungen zu gewinnen hatte. Wie gern hätte ich sie aber mit der vollen Wahrheit geärgert und ihnen zugerufen: Die bösen Buben haben ja ganz recht, ihre Beleidigungen mögen sich ja nicht lieblich anhören und sind in ihrer absoluten Form sicherlich unzutreffend, aber es sind doch auch nur die stammelnden Ausdrücke der sehr richtigen Empfindung, daß zwischen Juden und Nichtjuden eine unüberbrückbare Kluft gähnt, daß beide gegensätzliche Schönheits- und Sittlichkeitsideale haben. Sie haben recht und wir haben recht und es ist gut, daß sie so wettern. Wir wissen jetzt wenigstens, woran wir sind."30

Vom zionistischen Standpunkt aus sah Birnbaum offenkundig eine gewisse Rechtfertigung für den mitteleuropäischen Antisemitismus. Dies erstaunt nicht, bedenkt man, daß der klassische Zionismus auf die physische und moralische Regeneration

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des dekadenten „Golusjuden" abzielte. Von Beginn an enthielten die zionistischen Polemiken ein starkes Element jüdischer Selbstkritik, das eine gewisse Nähe zur antisemitischen Argumentation aufwies. Angriffe auf den jüdischen „Mammonismus", also gewisse Merkmale der Emporkömmlinge, wie Schnorrertum und „gewöhnliches" Gehabe waren sowohl Zionisten als auch Antisemiten gemeinsam. Gleiches gilt für die Kritik an der Assimilation ganz allgemein. Der Zionismus war jedoch in erster Linie bemüht, diese negativen Merkmale durch die Schaffung eines neuen, harmonischeren Umfelds zu ändern. In ihrem eigenen Heimatland würden die Juden zur Produktivität angehalten werden und sowohl ihr moralisches als auch ihr physisches Gleichgewicht wiederfinden. Im Unterschied zu den Antisemiten glaubten Birnbaum und andere frühe zionistische Denker sicherlich nicht an die „Ewigkeit" der rassischen Merkmale oder an eine Hierarchie ober- und untergeordneter Rassen, geschweige denn an eine permanente Degeneration der Juden. Im Gegenteil, sie waren der Ansicht, daß der Zionismus als Lehre der nationalen Selbsthilfe zu einer grundsätzlichen Umformung des Lebensstils und des unter den DiasporaJuden verbreiteten Denkmusters führten müßte. Er sei daher eine Radikalkur für die Krankheit des Galut (Exil). Nathan Birnbaum war überzeugt, der Antisemitismus würde so lange ein unauslöschliches, weder durch Revolution noch durch Reform oder Aufklärung auszumerzendes historisches Phänomen bleiben, als es nicht zu dieser nationalen Erlösung kam. 31 Birnbaum unterstrich, daß der Judenhaß trotz seiner offenkundigen sozio-ökonomischen Komponenten nicht in erster Linie ein wirtschaftliches, sondern ein nationales Phänomen sei. Er sei im wesentlichen eine Form der nationalen Spaltung, ja der ausschließlich rassischen Antipathie, die durch die Zerstreuung der Juden und deren eigentliche Machtlosigkeit verschärft würde. 32 Daher seien die Abwehrbemühungen seitens der Führer der jüdischen Gemeinden („Sozialkonservative", wie Birnbaum sie gerne nannte) in Wien und andernorts in der Diaspora so absurd. Vergebens würden sie versuchen, die emotionalen Vorurteile der breiten Masse durch rationale Argumente abzubauen und deren angeborenem „Bedürfnis nach Haß" mit einer aufgeklärten Propaganda zu begegnen. Die jüdische Selbstverteidigung war im Grunde eine totgeborene Idee: „Die ,Abwehr' konnte nur in rationalistischen Gehirnen auftauchen, nur bei Menschen, die bloß mit Logik bewaffnet, die Geschichte erklären wollen und die Fülle der Einflüsse aus dem Instinktsund Gemütsleben übersehen ... Eine Bewegung, die auf dermaßen vorsintflutlicher philosophischer Grundlage fußt, kann nicht reüssieren, und so ist es denn begreiflich, daß die,Abwehr 4 , trotzdem sie seit Jahren mit einem großen Aufwande von Kapital, Wissen und zum Teile Charakter arbeitet, Schlappe auf Schlappe erleidet." 33 Birnbaums Herabwürdigung und offene Verspottung der jüdischen Selbstverteidigung gegenüber dem Antisemitismus war charakteristisch für die frühen zionisti-

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sehen Denker, die sich mit Fragen der nationalen Wiedergeburt, der Emigration und der territorialen Konzentration beschäftigen. Bereits im Februar 1885 hatte Leo Pinsker Birnbaum in einem Brief geraten, sich weniger mit den Antisemiten zu beschäftigen und sich mehr auf moralische Werte, die Zuwendung zu produktiven Berufen und die nationale Gesundheit des jüdischen Volkes zu konzentrieren.34 Bezeichnenderweise war ein Teil der dritten Ausgabe der Selbstemanzipation Eretz Israel gewidmet, seinem Klima, den Bedingungen und der Entwicklung der landwirtschaftlichen Siedlungen während der ersten Alija.35 Allmählich begann die Zeitschrift den Tugenden der manuellen Arbeit, dem Bedürfnis nach einer Regeneration der jüdischen Massen und der Rückkehr zur Scholle als zentralen Ideen des Zionismus breiteren Raum einzuräumen. In einem vor der Admath Jeschurun 1892 gehaltenen Vortrag führte Birnbaum aus: „Boden ist das Zaubermittel, welches in den Völkern das Gefühl stolzer Kraft wachruft, sie vor Unnatur und gänzlicher Verwahrlosung behütet, ihnen körperliche und sittliche Gesundheit verleiht. Israel wird seinen Boden wieder bebauen müssen; ein Bauernstand wird ihm erstehen, froh seines Berufes und Lebens. Aus dem Marke dieses Standes wird sich der ganze jüdische Volkskörper verjüngen, die Nervosität und Zerfahrenheit, welche sich so oft bei gebildten Juden finden, werden abnehmen, der Baalsdienst des Geldes an Andacht verlieren."56

Sowohl die Selbstemanzipation als auch deren Nachfolgezeitung, die Jüdische Volkszeitung, bekannten, daß Zionisten die Ansiedlung in Palästina aktiv unterstützen sollten; sie priesen die Fruchtbarkeit des Landes und lieferten ausführliche Informationen über den Fortschritt der dortigen jüdischen Kolonien.37 Birnbaum selbst trat im Mai 1892 eine Vortragsreise durch Galizien und die Bukowina an, deren Ziel es war, ein energischeres Siedlungsprogramm voranzutreiben.38 Teil dieser Kampagne war auch, daß die Selbstemanzipation strikt gegen die alternativen Kolonisierungspläne ankämpfte, wie sie von Baron Hirsch und von anderen Philantropen entwickelt wurden, um die Neuansiedlung von Juden in Argentinien und in den Vereinigten Staaten zu fordern.39 In seiner Propaganda für den Zionismus als Programm der nationalen Erlösung unterstrich Nathan Birnbaum, daß „die Gefühle eines ganzen Volkes eine Macht sind", die genützt werden sollte, um die breite Masse der Juden zu mobilisieren. „Der Ruf ,Zion' erweckt eine Welt solcher Gefühle in den Herzen unserer Stammesgenossen; er lockt Scharen begeisterter Kämpfer hervor, dagegen läßt der Ruf Amerika zum Beispiel - wenn man nämlich dort die neue Heimat Israels begründen wollte^ - die jüdische Volksseele kalt... Es ist auch nicht leicht, aus einem Handelsvolk ein Ackerbauvolk zu machen. Nur Begeisterung kann diese Herkulesarbeit bewältigen, mit ge-

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schäftsmäßiger Trockenheit wird sich dieser Schritt nicht thun lassen. Aus dem Boden seiner Ahnen wird der jüdische Bauer diese Begeisterung schöpfen, vonfremdemund ihm gleichgültigem Boden wird ihn der kleinste Mißerfolg scheuchen."40 Zu dieser quasi-mystischen Sicht der Verbindung zwischen Land und Volk, mit einem leichten Anstrich von Romantik des Landlebens, fügte Birnbaum eine weitere Überlegung hinzu. Palästina war schließlich ein „semitisches Land" im Orient. „Dort, wo Israel heimisch ist, wo Land und Leute der jüdischen Eigenart entsprechen, kann diese erhalten bleiben und sich voll ausleben, nur dort kann das jüdische Volk seine große rassenversöhnende Aufgabe übernehmen." 41 Birnbaum war überzeugt, daß die kreativen Energien der jüdischen Nation sich erst dann voll entfalten würden, wenn diese erst einmal wieder in ihre „natürliche" Umgebung im Orient eingebettet werden würde. Sie würden dann auf das „semitische" Asien ausstrahlen und dazu beitragen, dessen rückständige Völker in den Einflußbereich Europas zu bringen. Die „kulturelle Mission" der Juden bestehe jedoch nicht ausschließlich darin, zu einem Werkzeug des Europäertums zu werden. Israel sollte vielmehr zu einem wahrhaften Vermittler zwischen Ost und West werden.42 Als beständiger scharfer Kritiker der materialistischen Kultur Europas (der er den Idealismus des „jüdischen Geistes" gegenüberstellte) sagte Birnbaum deren künftige Regeneration durch die Rückkehr der Juden nach Palästina voraus. Die Juden würden zur Avantgarde einer erneuerten europäischen Kultur in ihrer modernsten Form werden. Der Zionismus sei die ideale Ost-West-Synthese, die auf den Exodus der idealistischen Juden aus Europa folgen würde. Durch seine neuerliche Begegnung mit dem „semitischen" Orient würde das Judentum das Beste in der modernen Kultur auffrischen und läutern.45 Um dieses visionäre Ziel zu erreichen, so räumte Birnbaum ein, müßte die zionistische Bewegung allerdings das Vertrauen der türkischen Regierung gewinnen. In den 90er Jahren wies nichts daraufhin, daß die Hohe Pforte eine jüdische Siedlung in großem Umfang zulassen, geschweige denn eine politische Unabhängigkeit in Palästina-Syrien akzeptieren könnte. Die osmanischen Türken mußten daher davon überzeugt werden, daß es für sie sowohl kulturelle als auch materielle und politische Vorteile brächte, würden sie die jüdische Kolonisierung innerhalb ihres Reiches fördern. Birnbaum argumentierte, daß die einwandernden jüdischen Siedler die Segnungen des Fleißes, des Wohlstands und der Bildung mit sich brächten. Sie würden dem Orient helfen, den ständigen Erniedrigungen durch die Westmächte entgegenzutreten.44 Die osmanische Türkei würde dadurch einen eifrigen Verteidiger ihrer Führungsrolle im Orient sowie ein Bollwerk gegen die europäischen Verletzungen ihrer Souveränität gewinnen.45 Die europäischen Mächte ihrerseits fänden in den Juden ideale Vermittler zwischen ihnen selbst und dem Orient.46

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Birnbaums nationalistische Philosophie, die er in den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien entwickelte, nahm viele Gedanken von Herzls zionistischem Programm vorweg, wie er es nur wenige Jahre später in seinem Judenstaat dargelegte. Wie Herzl war auch Birnbaum der Meinung, daß ein allmählicher Prozeß der jüdischen Emigration aus Europa den Druck des Antisemitismus von den verbleibenden Juden nehmen und den anhaltenden wirtschaftlichen Existenzkampf mildern würde. 47 Abgesehen vom demographischen Faktor würde die Errichtung einer jüdischen Heimat in Palästina „auch die Juden der Diaspora veredeln und versittlichen, stärken und stählen", mit einem Wort ihre Position normalisieren. Auf lange Sicht gesehen würde dies deutlich wirkungsvollere Proteste des verfolgten Judentums ermöglichen.48 Sobald die Juden einmal über ein eigenes nationales Zentrum verfügten, würde dieses automatisch zum Anwalt und Verteidiger bei internationalen Angelegenheiten. Die Juden wären nicht mehr länger verachtet und vogelfrei, und ihre Machtlosigkeit würde nicht mehr zu antisemitischer Verfolgung geradezu einladen.'10 Wie Herzl nach ihm, betonte auch Birnbaum, daß der Zionismus in Einklang mit der universalistischen Tradition der Aufklärung stehe. Die Lauterkeit ihrer nationalen Idee würde die Juden in die Lage versetzen, einen umfassenderen Beitrag zur menschlichen Zivilisation zu leisten, sobald sie einmal vom bitteren Joch des Antisemitismus befreit waren. 50 Der jüdische Nationalismus stehe in keinerlei Widerspruch zum Konzept der Menschheit, war er doch frei vom aggressiven Geist früherer europäischer Epochen. Er stehe vielmehr in Einklang mit den fortschrittlichsten Strömungen der sozialen Entwicklung. 51 In einem unabhängigen jüdischen Vaterland wären die Juden zum höheren Wohl und zur Erlösung des Menschengeschlechtes frei, ihren eigenen sozialen und ethischen Genius zu entwickeln.52 Im Unterschied zu Herzl und den meisten anderen führenden Zionisten Mitteleuropas war Birnbaum in seiner Jugend stark von den sozialistischen Lehren geprägt worden. Daher schenkte er den Herausforderungen der Sozialdemokratie auch beträchtliche Aufmerksamkeit, sah er doch in dieser den ernsthaftesten Konkurrenten um die Herzen und Gemüter der jüdischen Jugendlichen. 53 Bereits in seinem zukunftsweisenden Vortrag über „Die Principien des Zionismus" vom 23. Jänner 1892 hatte Birnbaum gegen jene Sozialdemokraten polemisiert, die den Zionismus als engstirnige, reaktionäre Form des Nationalismus ansahen: „In diesem nicht aggressiven Sinne national, kann ein Zionist in wirthschaftlicher Beziehung sogar socialistischen Grundsätzen huldigen, wird sich aber nie und nimmer dem officiellen Socialismus fiigen können, welcher befiehlt, die bestehenden Stammesund daraus folgenden Gesittungs- und Temperaments-Verschiedenheiten außer Acht zu lassen und so die sociale Frage schablonenhaft zu lösen. Besonders scharf tritt dieser Fehler des officiellen Socialismus bei der Judenfrage hervor."54

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Die optimistische Behauptung des fuhrenden deutschen Sozialdemokraten August Bebel, daß der Sieg des Sozialismus unmittelbar bevorstehe, lehnte Birnbaum entschieden ab. Der marxistische Glaube, der Antisemitismus resultiere lediglich aus einer Krise des kapitalistischen Systems und würde sich unter dem Sozialismus in nichts auflösen, entbehre jeder Grundlage. „... es ist nicht wahr, daß die eventuell socialistisch gewordene Gesellschaft den Juden ohne weiters definitive Hilfe bringen wird. Es ist dies nicht wahr, weil die Eigenarten, Schwächen, Launen, Sympathien und Antipathien der Völker natürlicherweise auch in der socialistischen Gesellschaft fortdauern werden, also auch der Judenhaß nicht begraben sein wird, welcher tief in der Seele der Völker sitzt. Ja, mehr noch, die Juden werden es in der socialistischen Gesellschaft noch schlechter haben, wenn ihre specielle Vorfrage nicht früher gelöst sein wird. Nur die nationale Wiedergeburt des jüdischen Stammes kann es verhüten, daß der Antisemitismus in die sociale Aera hinübergeschleppt werde, wo er wegen der Allmacht des durch Beamte repräsentirten Volkswillens gefahrlicher wäre."53

In seinem Vortrag Die jüdische Moderne, den er 1896 vor Studenten der Kadimah in Wien hielt, behandelte er dieses Thema ausführlich. Während Birnbaum die Bedeutung von Karl Marx' historischem Materialismus für das Verständnis der Gesellschaft, der Wirtschaft und der menschlichen Entwicklung allgemein anerkannte, war er der Ansicht, dieser würde „die Geschichte des Menschen als Rassewesen" vernachlässigen.56 Nationalität und Rasse seien nicht weniger mächtige historische Faktoren als die Sozial- und Klassenkonflikte. Birnbaum unterstrich: „Die feste Grundlage der Nationalität ist immer und überall die Rasse, einheitliche oder Mischrasse."57 Im Laufe der Entwicklung werden die Rassen „veredelt" und erreichten das Niveau einer „Nationalität" - was nichts „mit dem Staate und nichts mit der Stellung der Sprache zu thun habe".58 Daher entbehrten die sozialistischen Leugnungen der jüdischen Nationalität, die sie damit begründeten, daß die Juden über keinen Staat, kein Territorium und keine einheitliche nationale Sprache verfügten, jeder Grundlage. Der Beweis für die jüdische nationale Existenz läge ja gerade in jener „Rassequalität".59 Birnbaum behauptete sogar, der jüdische Stamm habe „das kräftigste Nationalgefuhl unter allen Völkern, was ja vom materialistischen Standpunkt ganz natürlich ist, da er die rassemäßig ausgeprägte Nationalität ist".60 Da er sich selbst auf diese völkischen Prämissen berief, hielt Birnbaum daran fest, daß der Antisemitismus in einer neuen sozialistischen Ordnung nicht verschwinden würde, wurzelten doch die ihm zugrundeliegenden Ursachen in nationalen Spannungen, rassischen Antipathien und der weiten Streuung der Juden. Die Sozialdemokratie könne keine praktische Lösung für die „Judenfrage" bieten, außer auf die versprochene Revolution zu warten. Die Juden aber forderten in aller Deutlichkeit eine unmittelbare Abhilfe für ihre Not.

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In den 90er Jahren sah sich Birnbaum selbst als Quasi-Sozialisten in der zionistischen Bewegung, dem es in erster Linie um die wirtschaftliche und soziale Regeneration des jüdischen Volkes ging. Er identifizierte sich mit der feindseligen Haltung der meisten Sozialisten Mitteleuropas gegenüber den feudalen Werten, dem Klerikalismus, dem Freihandelsliberalismus und dem materialistischen Ethos der bürgerlichen Gesellschaft. Für Birnbaum war es klar, daß es bei der Besiedlung von Eretz Israel keinen Platz für Börsenjuden, private Unternehmen oder „Profitstreben" geben könne.61 Er adaptierte die Ansichten der auf die Agrarwirtschaft konzentrierten Radikalen des 19. Jahrhunderts, wie Fourier, Louis Blanc, Henry George, ja selbst der deutschen „Kathedersozialisten", und sah in Palästina nicht nur einen Zufluchtsort vor dem Antisemitismus, sondern auch den Keim für den Aufbau einer neuen Klasse freier und unabhängiger jüdischer Bauern. Die Schaffung eines gesunden Kernstocks an Bauern wurde von Birnbaum und vielen anderen frühen Zionisten als unerläßlich für die organische nationale Entwicklung angesehen, die das Judentum vom Fluch des „Mammonismus" und des kommerziellen, spekulativen Geistes befreien würde.62 Birnbaums moralische Kritik an den assimilationistischen jüdischen höheren Schichten wegen ihres vulgären Materialismus und des für Emporkömmlinge typischen Fehlens jeglichen Taktes leitete sich weitgehend von den vorherrschenden antikapitalistischen und antistädtischen Werten der mitteleuropäischen Intelligenz ab.63 Es gab aber immer noch eine tiefe Kluft zwischen diesem populistischen Anti-Mammonismus mit „sozialistischem" Anstrich und den Lehren des Klassenkampfes, wie sie von der marxistischen Arbeiterbewegung vertreten wurden.64 Noch größer war die Kluft zwischen dem sozialdemokratischen Internationalismus und Birnbaums unerschütterlicher Überzeugung, daß ethnische Unterschiede naturgegeben seien. Sein „Sozialismus" beruhte fest auf dem Primat der nationalen Befreiung. Daher sah er in der Sozialdemokratie einen besonders gefahrlichen Widersacher der zionistischen Bewegung. Birnbaum war sich bewußt, welch charismatische Anziehungskraft von diesem revolutionären Radikalismus auf die jüdische Jugend in Osteuropa ausging, und versuchte daher, deren rationalere Elemente wie die Notwendigkeit einer sozialen Reform und einer umfassenderen wirtschaftlichen Gleichstellung zu übernehmen. Gleichzeitig lehnte er ihren „Kosmopolitismus" und ihre Vorliebe für die gewaltsame Zerschlagung des kapitialistischen Systems entschieden ab.65 Die „Zukunftsmusik" der Sozialdemokraten, vor allem aber ihre Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden universalistischen Erlösung, fand in den Herzen der Juden, die durch Jahrhunderte des Leids auf messianische Töne eingestimmt waren, offenkundigen Widerhall. Und gerade aus diesem Grund fürchtete Birnbaum, der sozialistische Traum könnte sich für das Judentum noch verheerender auswirken als das liberale Trugbild der Assimilation.66

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Die Erfolge der sozialdemokratischen Propaganda unter den verarmten jüdischen Arbeitern in Galizien schienen die „assimilationistische" Gefahr für die junge zionistische Bewegung zu bestätigen, die von dieser Seite drohte. Die polnischen Sozialisten unter der Führung von Ignacy Daszynski versuchten unter dem galizischen jüdischen Proletariat als einen Schritt in Richtung eines möglichen Aufgehens in der polnischen Nation ein Klassenbewußtsein aufzubauen. Sowohl für Birnbaum als auch für den in Krakau geborenen sozialistischen Zionisten Saul Raphael Landau lief diese Kampagne den nationalen Interessen der galizischen Juden diametral entgegen.67 Lange genug hatten die Juden ihr Blut in den sozialen und nationalen Befreiungskämpfen anderer Völker vergossen. Es war eine Illusion zu glauben, diese Teilnahme würde zur Eliminierung des Antisemitismus fuhren oder könnte die Isolation der Juden unter den Nationen Osteuropas beenden; gleichermaßen naiv war die Annahme, die Abschaffung von Staaten, Nationen oder Religionsgemeinschaften würde soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Ausbeutung oder Massenarmut abschaffen.68 Der Zionismus auf der anderen Seite strebte nach der Synthese jüdischer patriotischer und religiöser Traditionen mit den fortschrittlichen demokratischen Idealen, die „die materialistische und egoistische Denkweise der europäischen Gesellschaft" zu überwinden suchten.69 Er war auf der Suche nach der nationalen Erlösung aller Klassen des Judentums in einem unabhängigen Heimatland, ein Ideal, für das die internationalistischen Sozialdemokraten nur wenig übrig hatten. In verarmten Gebieten wie Galizien standen die Ideologien der proletarischen und der jüdischen Solidarität in den frühen 90er Jahren des 19. Jahrunderts tatsächlich in eklatanter Antithese zueinander.70 Der Streik der Tallisweber in Galizien im Sommer 1892 war ein typisches Beispiel. Die Causa der Streikenden, die unter furchtbaren Bedingungen und zu einem Lohn von 1 bis 5 Gulden pro Woche täglich 15 Stunden arbeiteten, wurden von den österreichischen und polnischen Sozialisten begierig aufgegriffen, die Sammlungen zu deren Gunsten organisierten.71 Die Selbstemanzipation anerkannte zwar die sozialistischen Bemühungen um eine Verbesserung der Bedingungen für das galizische Proletariat, wies aber auf die Gefahr hin, daß die Sozialdemokratie unter ihren Glaubensbrüdern stärker Fuß fassen könnte, sollten die Zionisten sich nicht verstärkt der Lösung des sozialen Problems widmen.72 Gleichzeitig warnte sie ihre Leser vor der Chimäre des Klassenkampfes und betonte, daß die Juden so lange „eine abhängige und schutzlose Minorität" bleiben würden, solange sie im Galut (Exil) lebten.73 Weiterhin skeptisch stand Birnbaum damals den Bemühungen einiger jüdischer Nationalisten gegenüber, die Juden in Galizien als eine unabhängige politische Kraft zu organisieren.74 Als Zionist glaubte er immer noch, daß nur ein unabhängiges territoriales Zentrum für das gesamte jüdische Volk langfristig eine Lösimg für das Problem der jüdischen Armut bieten würde. Lokale jüdische politische Aktivitäten in

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einem nationalen Kontext wären bestenfalls eine nützliche Draufgabe zur Kolonisierung Palästinas.75 Die beeindruckende Zunahme des galizischen Zionismus als Folge günstiger lokaler Bedingungen in der polnischen Provinz veranlaßte ihn jedoch, seinen Standpunkt zu ändern. Bereits 1891 hatten die Lemberger Zionisten ein detailliertes Programm ausgearbeitet und begannen mit der Veröffentlichung einer eigenen zionistischen Zeitung Przyszlocs („Zukunft") auf polnisch. Diese Zeitung sollte einen beträchtlichen Einfluß auf die öffentlich-jüdische Meinung in Galizien ausüben. Im Sommer 1892 reiste Birnbaum selbst durch viele Städte in Galizien und der Bukowina, um die Gründung neuer zionistischer Clubs zu unterstützen und die Idee voranzutreiben, die Chovevei Zion-Gruppen zu einer einzigen nationalen Organisation zusammenzuschließen. Und so bemühte er sich, weitere Spannungen mit den Galiziern zu vermeiden.76 Gemeinsam mit Dr. Abraham Salz, dem Obmann des Exekutiv-Komitees der jüdisch-nationalen Partei Galiziens, berief Dr. Birnbaum für den 1. November 1895 in Krakau eine Besprechung zionistischer Vertrauensmänner ein.77 Die Konferenz einigte sich über die Grundsätze, die Informationsmittel und die Propagandamethoden, die von der „Organisation der Osterreichischen Zionisten" angewandt werden sollten.78 Die Osterreichische Zionistische Partei erklärte das Streben „nach der Wiedergeburt der jüdischen Nation mit dem Endziel der Wiederherstellung des jüdischen Gemeinwesens in Palästina" zu ihrem obersten Grundprinzip. Gleichzeitig anerkannte sie auch „ihre Pflicht, die politischen, socialen und ökonomischen Interessen der Juden in Österreich zu wahren". Darüber hinaus wurden Resolutionen verabschiedet, die „Abschaffung des jetzt in Österreich herrschenden Zunftwesens", die Widerrufung des numerus clausus und die Abschaffung des Sonntags als obligatorischen Ruhetag für Juden zu fordern. Die Konferenz verlangte auch die Zulassung der Zionisten zu Wahlen, die Veröffentlichung (auf Jiddisch) einer Flugschrift, um die breite Masse über die Wahlreformen aufzuklären, und die Vorlage einer Petition bei den Behörden bezüglich der Anerkennung „jener, die hebräisch lesen und schreiben konnten", als Alphabeten.79 Birnbaum hatte inzwischen bereits ein Programm des politischen Zionismus ausgearbeitet, das die gesetzlichen Garantien für ein jüdisches Heimatland in Palästina mit der Teilnahme an der österreichischen Politik zu verbinden suchte, um die zionistische Bewegung zu stärken.80 Die zionistische Idee sollte auf die internationale Tagesordnung gesetzt werden, um jene Hindernisse zu überwinden, die einer jüdischen Ansiedlung in Palästina seitens der türkischen Regierung in den Weg gelegt winden. Weiters sollte der Zionismus - eine nicht minder wichtige Aufgabe - Werbung unter der breiten Masse der Bevölkerung betreiben und sich als politische Bewegung organisieren; der Zionismus sollte auch stärker in die österreichischen Wahlaktivitäten eingebunden werden, ohne dabei das „Endziel" aus den Augen zu verlieren.

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Der Kampf der österreichischen Juden um ihre nationalen Rechte und ihre Befreiung von der Illusion, der Antisemitismus könnte endgültig ausgemerzt werden, waren Ziele, die durch eine politische Tätigkeit erreichbar schienen; 81 weiter gesteckte kulturelle Ziele wie die Entwicklung der hebräischen Sprache, die Kenntnis der jüdischen Geschichte und die Ermunterung zur Ansiedlung in Palästina waren eine Frage der Erziehung und der Aufklärung. Für die Verfolgung dieser Ziele sah Birnbaum in Wien das ideale Zentrum der zionistischen Bewegung: „Wien liegt an der Grenze zwischen dem europäischen Osten und Westen. Es liegt in der Mitte einer nach Millionen zählenden jüdischen Bevölkerung; es ist der Punkt, wo deutsches und russisch-polnisches, aschkenasisches und sephardisches Judenthum zusammentreffen und am besten zu gemeinsamer Arbeit vereinigt werden; es ist wie geschaffen zum Centrum einer nationaljüdischen Agitation - diese aber wird wohl für lange Zeit die Hauptsorge unserer Partei zu sein haben. - Wien ist ferner eine deutsche Stadt, was für die Gewinnung des so wichtigen deutschjüdischen Elements in Osterreich und Deutschland von größter Bedeutung ist, Wien ist schließlich die Hauptstadt eines Nationalitätenstaates, daher für unsere Bewegung ungleich geeigneter, wie ζ. B. Berlin."82

Wien war tatsächlich günstiger gelegen als Paris, Berlin, London oder New York, um als Brücke zwischen dem russischen und dem westlichen Judentum zu fungieren, rückte seine geopolitische Lage es doch in nächste Nähe zum Kernland der breiten Masse der Juden. Es sei nicht von Belang, so meinte Birnbaum, daß der Großteil der Wiener Juden die Bewegung nicht unterstützte. Der Zionismus dürfe keinerlei Sympathien seitens der millionenschweren Börsenjuden, der liberalen Seelsorger oder der Journalisten der Neuen Freien Presse erwarten, die „jede nationale Bewegung eines gedrückten Volkes [hassen] und erst vor dem Erfolge [strecken] sie zähneknirschend die Waffen". 83 Es spiele auch keine Rolle, daß Wien nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik stand und es hier keine Tradition bei der Unterstützung von Bewegungen zur nationalen Selbstbestimmung gab wie in London oder Paris. Der Zionismus müsse sich in diesem frühen Stadium auf die Erziehung, die Konsolidierung und die Zentralisierung seiner dürftigen Ressourcen konzentrieren und sich nicht so sehr um diplomatische Erfolge bemühen. 84 Birnbaum war sich durchaus bewußt, daß die assimilationistischen Führungspersönlichkeiten der Wiener Juden und die Eigentümer der großen liberalen Zeitungen den Zionismus als „Gefahr" für ihre Stellung fast ebenso fürchteten wie den Sozialismus oder den Anarchismus. Obwohl die Zionisten in Wien immer noch nur eine „Privatpartei" waren, die sich auf einen relativ kleinen Kreis beschränkte, wetterten die maßgebenden jüdischen Kreise gegen sie als eine „Gefahr", welche „die süße Ruhe und das behagüche Glück des Wiener Judentums stören wollen". 85 Sie

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wurden als rebellische Unruhestifter angesehen, deren Ziele, Argumente und Methoden jene der Antisemiten zu verstärken schienen. Ihre Ideologie und ihre Agitation drohten den hart erworbenen Status der „mosaischen Deutschen" zu untergraben.86 Dieser Herausforderung wollten die jüdischen Notablen und Pressebarone mit der altehrwürdigen Wiener Taktik des „Todtschweigens" begegnen. Dennoch blieb Birnbaum zuversichtlich, daß diese Strategie keinen Erfolg haben würde. In den österreichischen Provinzen, vor allem in Galizien, sei die zionistische Bewegung bereits auf offene Ohren gestoßen, was für die Zukunft einiges erhoffen lasse.87 Wien bleibe aber auch weiterhin „der Schlüssel zu der Judenheit Österreichs", denn selbst im entfernt gelegenen Galizien übe der Zauber der Kaiserstadt eine beachtliche Faszination auf die provinziellen Juden aus. Daher wäre es für die zionistische Bewegung von so entscheidender Bedeutung, in der Hauptstadt stärker zu werden.88 Die Wiener Zionisten müßten ihre Attraktivität über die studentischen Kreise hinaus erweitern und alle Klassen österreichischer Juden ansprechen. Sie sollten dem „Mangel an Idealismus unter den österreichischen Juden" und der Indifferenz der Assimilationisten gegenüber der jüdischen Geschichte und Literatur durch die energische Förderung von Vereinen zur Pflege „der jüdischen Wissenschaft und des jüdischen Bewußtseins" entgegenwirken.89 Neben der Gründung von „Colonisationsvereinen", die zu einer Ansiedlung in Palästina ermutigten, wären solche jüdisch-kulturellen Vereine eine potentiell höchst wichtige Schiene zur Verbreitung eines jüdischen Nationalgefühls unter einer breiteren Schicht der Bevölkerung. Gleiches gelte für die religiösen Organisationen der jüdischen Gemeinde. Als „nationale Partei" innerhalb des Judentums könnten die Zionisten Schlüsselinstitutionen gegenüber wie etwa der Wiener Kultusgemeinde nicht gleichgültig bleiben, bildeten diese doch immer noch - wenn vielleicht auch aufgrund des „Märchens von der entnationalisirten,mosaischen Confession'" - einen Nukleus für die Bewahrung des nationalen Charakters und der traditionellen Solidarität unter den Juden. Daher müßte es Aufgabe des Zionismus sein, diese „israelitischen Cultusgemeinden" in autonome Zentren des nationalen jüdischen Lebens, der Kultur und der Wissenschaft, in eine „Arbeitsstätte für die Zukunft; unseres Volkes" umzuwandeln.90 Es bedurfte also einer neuen Strategie auf einem allgemeineren österreichischen Niveau, wo die Zuspitzung nationaler Konflikte, mehrere Vorschläge für eine Wahlreform und die Krise des parlamentarischen Systems die Zionisten zwangen, ihre Indifferenz gegenüber der Tagespolitik zu überdenken.91 Bereits im Februar 1891 vertrat Birnbaum die Ansicht, die Zionisten düften dem Ausgang der Reichsratswahlen weder als patriotische österreichische Bürger noch als Juden neutral gegenüberstehen. Obwohl das Endziel der Bewegung jenseits der Doppelmonarchie lag, sollten die Zionisten als österreichische Bürger die Interessen des habsburgischen Staates über jene des „blinden Parteifanatismus" stellen.92 Es lag in ihrem In-

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teresse, politische Parteien zu unterstützen, die fur die Gleichheit der bürgerlichen Rechte eintraten und den Antisemitismus verurteilten. In den Wiener Bezirken bevorzugten die Zionisten eindeutig liberale gegenüber antisemitischen Kandidaten. Grundsätzlich befürworteten sie in der Hauptstadt und in den Provinzen die „demokratische" Ausrichtung. In Gebieten mit gemischter Nationalität entschieden sich die Juden entsprechend ihren eigenen nationalen Interessen entweder für die Unterstützung der Deutschen oder der Tschechen, der Polen oder der Ruthenen, der Italiener oder der Slawen. Birnbaum wurde klar, daß die zionistische Bewegung immer noch zu wenig organisiert und zu schlecht darauf vorbereitet war, sich selbst direkt in der österreichischen Wahlpolitik zu engagieren. Außerdem betonte er wiederholt, daß die Wahlpolitik kein Patenzrezept gegen die Krankheit der Diaspora sei, die nur durch eine territoriale Konzentration in einem jüdischen Heimatland geheilt werden könnte.93 Die Beteiligung an der Wahl wäre bestenfalls ein „Linderungsmittel", um die Leiden des Galut zu erleichtern und das Nationalbewußtsein der breiten Masse der Juden zu wecken.94 Birnbaum lehnte weiterhin unerbittlich jede „jüdische Politik" ab, die ausschließlich auf der Selbstverteidigung gegenüber dem Antisemitismus beruhte. Diese von der Gemeindeführung zunehmend verfolgte Strategie war ihnen durch den Zusammenbruch des deutschen Liberalismus aufgezwungen worden. Den kollektiven Bestrebungen der jüdischen Nation als ganzes aber stand die Gemeindeführung weiterhin ebenso feindselig gegenüber wie eh und je.95 Um die Mitte der 90er Jahre hatte Birnbaum in Wien, Berlin und Galizien einen kleinen Kreis von Schülern aufgebaut und Kontakte zu den Anfuhrern von Chovevei Zion in vielen europäischen Ländern geknüpft. Als hervorragender Redner und unermüdlicher Kämpfer für die zionistische Sache während nahezu 15 Jahren, war er zum eindeutig bekanntesten Intellektuellen unter den jüdischen Nationalisten Österreichs und Deutschlands geworden. Sein Vortrag über „Die jüdische Moderne" am 7. Mai 1896 vor der Kadimah in Wien wurde in weiten Kreisen als hervorragende Darstellung der zionistischen Causa angesehen. Von der auf deutsch üblichen Unterscheidung zwischen dem Partikularismus und den allgemein gültigen Kennzeichen der Kultur ausgehend, entwickelte Birnbaum seine These, wonach die Emanzipation keine echte jüdische Assimilation in die spezifischen nationalen Kulturen Europas zur Folge gehabt habe: „Wir finden nämlich, wenn wir die sozusagen assimiliertesten Juden mit ihrer Umgebung vergleichen, daß sich Ähnlichkeit der Anschauung und des Gemüthiebens nur in jenem später noch genauer zu kennzeichnenden Kreise von Ideen und Empfindungen zeigt, der allen europäischen Culturvölkern gemeinsam ist, daß sie aber fast ganz dort mangelt, wo es sich um nationale Specifica der einzelnen Nation handelt. Der assimi-

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lierte Jude hat mehr oder weniger die ausgedehnten Bedürfiiisse, das sociale Gewissen, die politische Reife, die kühne Wissenschaftlichkeit, die veredelte Genußlust, den geläuterten Kunstgeschmack, die Großangelegenheit der Pläne des europäischen Culturmenschen - aber er hat ζ. B. nicht oder nur in sehr geringem Maße den stämmigen Trotz und die zopfige Pedanterie des Deutschen, den Elan und Leichtsinn des Franzosen, die elementare Natürlichkeit und die Schwermuth des Slawen."96 Die universalistische Europäisierung der Juden hätte zu keiner echten „nationalen Assimilation" geführt, sondern stattdessen nur den Antisemitismus geschürt und die jüdische Unsicherheit verstärkt. Nur durch den Zionismus, so versicherte Birnbaum den ihm zuhörenden Studenten, könnten die Juden zu vollkommenen und authentischen „Culturmenschen" werden. Um die Mitte der 90er Jahre beschäftigte sich Birnbaum dann zunehmend mit den kulturellen und geistigen Dimensionen des jüdischen Problems und nicht mehr so sehr mit dem Kolonisierungsprogramm in Palästina oder dem parteipolitischen Zionismus.97 Dennoch begrüßte er die Veröffentlichung von Theodor Herzls Der Judenstaat, befürwortete doch auch er dessen Ruf nach einer jüdischen Souveränität und bewunderte er den beherzten organisatorischen Plan zur Verwirklichung dieses Zieles. Birnbaum und Herzl teilten 1896 dieselbe Vision über die internationale Dimension der „Judenfrage". Beide glaubten leidenschaftlich an die Notwendigkeit einer umfassenden gesetzlich-politischen Lösung, die schließlich den Paria-Status der Juden beenden und ihre Stellung normalisieren würde. 98 Herzls Schlagwort von der jüdischen politischen Unabhängigkeit in einem eigenständigen souveränen Staat schien all das zu ergänzen und zu bestätigen, was Birnbaum Jahrzehnte hindurch gepredigt hatte. Daher war es nur natürlich, daß Birnbaum von Herzl eingeladen wurde, beim Ersten Zionistenkongreß in Basel (1897) ein Referat über den „Zionismus als Culturbewegung" zu halten. In seiner Rede führte Birnbaum die Kritik des „abstrakten Europäismus" weiter aus, die er schon früher in Die jüdische Moderne zum Ausdruck gebracht hatte. 99 Er sah den Zionismus als synthetische Bewegung der nationalen Wiedergeburt, die dem Ghetto-Judentum Osteuropas den Geist des westlichen Fortschritts einhauchen würde, während er gleichzeitig das „abstrakte Europäertum" des westlichen Judentums neu beleben würde. 100 Nur durch den Besitz ihres eigenen Landes würde der „Europäismus" der westlichen Juden Früchte tragen und die nationale Kultur der Ostjuden aus ihrer Stagnation erwachen;101 nur in Eretz Israel würden die westlichen Juden vom Fluch des „rücksichtslosen Mammonismus" und die Ostjuden vom Fluch der endemischen Armut befreit werden. Die Ghetto-Kultur des Ostens würde mit Hilfe der westlichen Juden in eine fortschrittliche nationale Kultur umgewandelt werden. Sie würde die größten politischen, technischen und ästheti-

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sehen Errungenschaften Europas mit den prophetischen Lehren der sozialen Gerechtigkeit verbinden, die das einzigartige historische Erbe Israels darstellten.102 Kein Volk sei besser dafür geeignet als die Juden mit ihrem ererbten „orientalischen" Charakter und der europäischen Erziehung, um als Vermittler zwischen Ost und West zu fungieren; kein Land sei besser für diese Rolle prädestiniert als Palästina am Schnittpunkt dreier Kontinente und in unmittelbarer Nähe zum Suezkanal.103 Am ersten Kongreß im Jahre 1897 wurde Birnbaum zum Generalsekretär der Zionistischen Organisation gewählt, doch bereits ein Jahr später verließ er die Bewegung, da Herzl sich seiner Wiederwahl entgegenstellte. Die Spannungen zwischen den beiden Männern, die eine zukünftige Zusammenarbeit unmöglich machten, waren sowohl persönlicher als politischer Natur und wurzelten in Unterschieden im sozialen Hintergrund, in den materiellen Gegebenheiten, im Temperament und in der Einstellung.104 Birnbaum fühlte sich zweifellos verraten, als Mitglieder der Kadimah und anderer zionistischer Gruppen in Wien Herzl, einem völligen Neuling in der Bewegung und in vieler Hinsicht einem Fremden in bezug auf das jüdische Leben, uneingeschränkte Loyalität entgegenbrachten. Bald sah er in Herzl einen machthungrigen Tyrannen und Usurpator, der nach der „Zionskrone" trachtete, wobei er Ideen propagierte, die Birnbaum selbst schon seit Jahren predigte.105 Birnbaum wollte in der Bewegung, zu deren Entstehen er so viel beigetragen hatte, eindeutig nicht die Rolle des Leutnants statt jener des Generals spielen. In Fragen des persönlichen Prestiges ebenso empfindlich und sensibel wie Herzl, erweckte die rasante Geschwindigkeit, mit der es seinem Widersacher gelang, die Begeisterung der jüdischen Massen und der zionistischen Jugend in Mittel- und Osteuropa für sich zu wecken, seinen Neid. Birnbaums 15 Jahre hindurch unternommenen gewissenhaften Bemühungen um die Sache des jüdischen Nationalismus schienen vergessen.106 Zu impulsiv, widersprüchlich und selbstkritisch, um die Rolle einer Führungspersönlichkeit zu spielen, wurde Birnbaum durch Herzls kometenhaften Aufstieg kurzerhand in den Hintergrund gedrängt. Zu sehr ein Wanderer im Reich der Ideen, um sich selbst in seinen eigenen geistigen Kategorien zu Hause zu fühlen, kehrte er dem Zionismus allmählich den Rücken - einer Bewegung, zu deren Gründung in Österreich er so viel beigetragen hatte. Einen wertvollen Einblick in die Animosität, die seine Beziehungen zu Herzl am Vorabend ihres Bruchs kennzeichnete, bietet Birnbaums Briefwechsel mit Dr. Siegmund Werner (1867-1928). Als erstes Mitglied der Kadimah, das in ein Duell verwickelt wurde, gründete Werner in der Folge im Jahre 1894 die nicht-schlagende jüdische Burschenschaft Gamalah. Birnbaum sah in Werner einen natürlichen Verbündeten bei seinen Bemühungen um die Etablierung eines radikalen Zionismus links von Herzl und tat alles, um ihn für sich zu gewinnen. Aber alle bedeutenden jüdischen nationalen Burschenschaften (Kadimah, Ivria, Gamalah, Libanonia) hat-

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ten bereits - fasziniert von Herzls Persönlichkeit und seinen Ideen - ihre Unterstützung fur dessen Art des politischen Zionismus erklärt. In einem Brief an Werner vom 21. Juli 1897 gab Birnbaum freimütig zu, daß es unmöglich sei, Herzls Einfluß durch „offenen Widerstand" zu begegnen. Um Unterstützung für seine linke Tendenz zu finden, bedurfte es einer besonnenen und geduldigen Arbeit in den Reihen des österreichischen Zionismus. 107 Zur selben Zeit gab Birnbaum seine Befürwortung für die Abhaltung des Ersten Zionistenkongresses bekannt. Dies sollte ein wichtiger Schritt sein, um die Juden zu einer nationalen Einheit zusammenzuschmieden, mit einem eigenen organisierten Willen. 108 1897 identifizierte sich Birnbaum noch immer stärker mit Herzls diplomatischer Ausrichtung als mit den „praktischen Zionisten" wie Hirsch Hildesheimer und Willy Bambus in Berlin, die eine allmähliche „Infiltration" als beste Methode zur Förderung einer jüdischen Ansiedlung in Palästina ansahen. Dessen ungeachtet hoffte Birnbaum weiterhin auf eine gemeinsame „links orientierte" Front gegen Herzl am Ersten Kongreß. Am 8. Juli 1897 informierte ihn Werner in einem Brief aus Wien (Birnbaum war inzwischen aus finanziellen Gründen nach Berlin übersiedelt), daß die Kadimahianer solidarisch hinter Herzl stünden. Von den Wiener Zionisten würde niemand außer Saul Raphael Landau (1869-1946), dem ersten Chefredakteur der Welt, eine stärker links orientierte Position befürworten.109 In einem anderen Brief aus Wien vom 5. August 1897 spricht Dr. Werner ausdrücklich von Landaus Plan, innerhalb der Bewegung eine „sozial-zionistische Gruppe" zu gründen, die sich um Birnbaum und den Schweizer Soziaüsten und Zionisten Dr. David Farbstein bilden sollte.110 Wie Birnbaum hoffte auch Landau auf die Unterstützung der galizischen Zionisten für seine radikalen Ansichten.111 Jegliche Hoffnung, daß es Werner gelingen könnte, in Osterreich doch eine Unterstützung für den „linksgerichteten sozialen Zionismus" auf die Beine zu stellen, wurde bald zerschlagen, als die Bewegung unter Herzls Einfluß kam. 112 In seiner Antwort an Werner vom 15. August 1897 beschrieb Birnbaum Herzl als bürgerlichen Opportunisten, der trotz seiner radikalen Neigungen bald weiter nach rechts rücken würde. Das werde die Linksorientierten in die Opposition treiben, wo sie chancenlos wären. Fortschritte könnten nur dann erzielt werden, wenn sie in den Augen der Öffentlichkeit Seite an Seite mit Herzl kämpften. 113 In demselben Brief forderte Birnbaum, daß Zionisten am politischen Leben teilnehmen sollten - möglichlichst im Rahmen einer sozialen Jüdischen Volkspartei,114 auch wenn der Zionismus unmittelbar nichts mit der österreichischen Innenpolitik zu tun habe. Wie Landau erkannte auch er die Bedeutung der „sozialen Frage" für den Zionismus und die Notwendigkeit, das jüdische Proletariat aus den für das Galut endemischen schrecklichen Bedingungen zu befreien. Birnbaum war immer noch überzeugt, daß der Sozialismus, sollte er triumphieren, auch in einem jüdischen

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Staat übernommen werden würde. Er war jedoch noch nicht darauf vorbereitet, sich am Ersten Zionistenkongreß in offenem Gegensatz zu Herzl an die Spitze einer sozial-politischen Fraktion zu stellen. Ahnlich zögernd zeigten sich auch Saul Raphael Landau, Isidor Schallt, David Farbstein und Nachman Syrkin, trotz ihres Widerstandes gegenüber dem „bürgerlichen Zionismus". Birnbaums äußerst beengte materielle Verhältnisse waren zweifellos ein Hemmschuh für seine immer geringer werdenden Hoffnungen, Herzl die Führung in der zionistischen Bewegung doch noch streitig zu machen. Theodor Herzl konnte die Zeitschrift Die Welt, den Zionistenkongreß, die Löhne seiner Mitarbeiter und den Großteil seiner politischen Arbeit weitgehend aus der eigenen Tasche finanzieren. Birnbaum hingegen war oft nicht einmal in der Lage, Brot und Medikamente für seine Kinder zu besorgen.115 Diese materielle Diskrepanz verschärfte Birnbaums Ressentiments gegenüber Herzl noch weiter. Bitter beklagte er sich Dr. Werner gegenüber, daß Herzl sicher andere Töne anschlagen würde, müßte er auch nur einen Tag so verbringen, wie er (Birnbaum) in den vergangenen Jahren gelebt habe.116 Unbewußt schien Birnbaum Herzl und „die Herren in Wien" für seine eigene Notlage verantwortlich zu machen. Er äußerte die Vermutung, daß er nie in diese finanzielle Notlage geschüttert wäre, hätte er seine Fähigkeiten nicht in den Dienst des Zionismus gestellt.117 Der einzige Ausweg aus seiner finanziellen Misere wäre ein entsprechend remunerierter Posten in der zionistischen Bewegung gewesen. Birnbaum wandte sich daher privat an Dr. Werner und seine galizischen Kollegen, um sie um eine diesbezügliche Intervention am Basler Kongreß zu ersuchen.118 Mit 33 Jahren bereits ein „Veteran" der nationalen jüdischen Sache, hatte Birnbaum noch nicht alle Hofthungen begraben, die zionistische Politik zu kontrollieren. In einem Brief aus Wien vom 23. August 1897 bemühte sich Dr. Werner, seine Erwartungen etwas herunterzuschrauben und Birnbaum davor zu bewahren, seine Hoffnungen auf eine sichere finanzielle Existenz auf die Aussicht zu gründen, einen bezahlten Posten innerhalb der zionistischen Organisation zu übernehmen.119 Er riet Birnbaum eindringlich, sich lieber die Gunst einflußreicher Persönlichkeiten in der Bewegung zu sichern, als sich auf die Wiener Führung zu verlassen. Sie verfügen über keinerlei Ressourcen, die sie ausgeben konnten, und hätten wichtigere Angelegenheiten im Sinn. Als enger Mitarbeiter Herzls wußte Dr. Werner zweifellos um das tiefe Mißtrauen des Zionistenführers gegenüber der Person Birnbaums und dessen politischen Motiven. Herzls Tagebücher zeugen von der gegenseitigen Feindseligkeit und Ablehnung. Bereits am 10. März 1897 schrieb er: „Birnbaum, selbstbewußter und innerlich mir feindseliger als je. Er wollte mein Geld - und moralische Unterstützung für seine in letzter Stunde geplante Kandidatur in dem auch mir angebotenen und von mir refüsierten Wahlkreise Sereth-Suczawa-Radautz."120 Herzl lehnte dies ab und bemerkte über Birnbaum: „Er wird mir dieses Nein nie verzeihen."121

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Mit dem Antrag von Isidor Schallt, daß der Generalsekretär (Birnbaum) vom Kongreß gewählt und Sitz und Stimme in den Aktionskomitees haben sollte, spitzte sich die Krise am Ersten Zionistenkongreß in Basel zu.122 Der Antrag implizierte, daß der Generalsekretär als Vertrauensmann des Kongresses - um mit Herzl zu sprechen - „den übrigen 22 Mitgliedern des Actionscomites gegenüberstehen sollte". Der Antrag wurde abgelehnt.123 Birnbaum wurde tatsächlich (gemeinsam mit Herzl, Schnirer, Kokesch und Johann Kremenetzky) in das Wiener Aktionskomitee gewählt, konnte aber diese Führungsposition gemäß den Vorschriften des Kongresses nicht behalten und gleichzeitig Generalsekretär bleiben. Sein unvermeidlicher Rücktritt vom Aktionskomitee rief jedoch eine Demonstration seiner Freunde hervor. Dr. Malz erklärte öffentlich, daß Birnbaum das Mandat behalten müsse und seine Demission nicht angenommen werden sollte. Ohne ihn gäbe es keinen Herzl, keine zionistische Bewegung in Osterreich.124 Malz erinnerte daran, daß Birnbaum aufgrund seiner für die zionistische Sache gebrachten Opfer über keinerlei finanzielle Unterstützung verfüge. Diese Feststellung führte zu stürmischen, tumultartigen Reaktionen, die Malz zwangen, das Rednerpult zu verlassen. Herzl selbst hegte keinen Zweifel, daß Birnbaum selbst die ganze Geschichte inszeniert hatte. Am 5. September 1897 schrieb er verächtlich in sein Tagebuch: „Ein anderer kritischer Moment, als der Scandal Birnbaum kam. Dieser Birnbaum, der schon drei Jahre lang vom Zionismus zum Socialismus abgefallen war, als ich auftrat, spielt sich aufdringlich als mein ,Vorgänger' auf. In seinen dreisten Bettelbriefen, die er mir u. Anderen schrieb, stellt er sich als den Entdecker u. Begründer des Zionismus auf, weil er eine Broschüre wie viele andere seit Pinsker (den ich ja auch nicht gekannt hatte) geschrieben hat. Er ließ nun durch einige junge Leute den Antrag lanciren, daß der Generalsecretär des Actionscomites vom Congress hier gewählt und dotirt werden solle. Und dieser Mensch, der in der ersten Nationalversammlung der Juden keinen anderen Gedanken hat, als sich eine Pfründe aussetzen zu lassen, wagt es sich mit mir zu vergleichen. Und wie in seinen Schnorrbriefen auch hier neben dem Bettel die Dreistigkeit."125

Man konnte von Herzl nicht erwarten, daß er lange mit einem solcherart von Ressentiments erfüllten Widersacher als Generalsekretär zusammenarbeiten würde. Innerhalb eines Jahres hatte Birnbaum die Bewegung verlassen. Er nahm an keinen Zionistenkongressen mehr teil und schrieb unter seinem eigenen Namen auch keine Beiträge mehr für die in Wien von Herzl gegründete neue zionistische Zeitung Die Welt. Nathan Birnbaum sah sich auch zu diesem Zeitpunkt noch als jüdischen Nationalisten. Wie Achad Ha'am, einer der führenden ideologischen Kontrahenten Herzls innerhalb des russischen Zionismus, verurteilte Birnbaum die „Charter-Diplomatie"

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als Sackgasse für die Bewegung. Er betonte nun, daß es das Ziel einer jüdischen nationalen Wiedergeburt sei, eine Lösung für das „Problem des Judaismus" und nicht für das „Problem des Judentums" zu finden. 126 Birnbaum begann die zionistische „Verneinung der Diaspora" scharf zu kritisieren und prägte stattdessen das Schlagwort Israel geht vor Zion. Die Bedürfnisse des jüdischen Volkes sollten der Schaffung eines nationalen Zentrums in Palästina übergeordnet sein. Das Galut dürfe nicht mehr länger „einfach zu einem wertvollen kulturellen Dünger für lediglich eine mögliche Kultur auf einem Boden, der noch nicht uns gehört", herabgewürdigt werden.127 Der jüdische Nationalismus müsse sich mehr um das Hier und Heute kümmern. Er sollte ein neues Verständnis und eine neue Wertschätzung für das Kernstück der Diaspora-Existenz entwickeln - das tägliche Leben der breiten Masse der osteuropäischen Juden. Bereits am Ersten Zionistenkongreß im Jahre 1897 hatte Birnbaum die „nationale Individualität" und die „einzigartige Kultur dieses Ostjudentums" (drei Viertel der jüdischen Weltbevölkerung) anerkannt, die „sich in Tracht und Sprache, in Literatur und Kunst, in Sitte und Brauch, im religiösen, sozialen und Rechtsleben ausdrückt".128 In seiner früheren zionistischen Phase war er dieser in sich geschlossenen Ghetto-Kultur sehr kritisch gegenübergestanden und hatte sich äußerst pessimistisch über deren Zukunft gezeigt. Nachdem er der zionistischen Bewegung den Rücken gekehrt hatte, änderte er seine Meinung über die Ostjuden und bewegte sich allmählich auf eine Ideologie des Go/ui-Nationalismus zu, in dessen Zentrum deren Sprache, Kultur und Geschichte stand. In einem Vortrag, den er am 8. Juli 1905 in der akademischen Verbindung „Zephirah" in Czernowitz hielt, verteidigte Birnbaum die jüdische Sprache mit leidenschaftlicher Vehemenz als „eine gesprochene Sprache von acht Millionen". „Man darf es ohne Ubertreibung sagen: Die neue Sprache [Jiddisch] stellt das ostjüdische und mit ihm das ganze jüdische Volk an einen Wendepunkt seiner nationalen Geschicke. Nur im Zeichen dieses verachteten Golus[= Galut]dialektes, mit ihm zur vollen Selbständigkeit heranreifend, kann sich das jüdische Volk seine zweite, höhere, seine nationale Emanzipation ersiegen. Im Zeichen des sogenannten Jargons wird sich, so paradox dies für überraschte Ohren und zage Gemüter auch klingen mag, vollziehen, was sich bisher immer als Unmöglichkeit erwies: Die Aufnahme des Juden als einen gleichberechtigten nationalen Kulturfaktor in die europäische Völkerfamilie."129 Birnbaum nannte seine Theorie eines nicht-zionistischen Nationalismus, die er zwischen 1902 und 1905 entwickelte, Alljudentum, sollte sie doch das jüdische kulturelle Leben der gesamten Diaspora umfassen und die Anerkennung des Weltjudentums als „Nationalität" durch die Großmächte erreichen. In Umkehr seiner früheren Ansichten über die Unvermeidbarkeit der Assimilation außerhalb Palästinas, vertrat Birnbaum nun die Meinung, daß die demographischen, sozioökonomi-

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sehen, kulturellen und politischen Faktoren, die zum Zerfall der jüdischen Identität im Westen geführt hatten, für die Ostjuden nicht galten. Diese lebten immer noch auf sehr engem Raum zusammen, verfügten über ein starkes Nationalbewußtsein und waren in der jüdischen Volkstradition verwurzelt. Ihre Kultur erlebte eine bemerkenswerte Wiedergeburt, deren Symbol die kreative Blüte der jiddischen Literatur war.130 Birnbaum war überzeugt, daß die Aussichten der Ostjuden auf die Erlangung der kulturell-nationalen Autonomie infolge der politischen Krisen, welche die Vielvölkerreiche Rußland und das habsburgische Osterreich erschütterten, gestiegen waren. Nach 1900 schienen diese Reiche ihre Legitimität als zentralisierte Staaten zu verlieren. Immer häufiger wurde der Föderalismus als Lösung für deren anhaltende Nationalitätenprobleme genannt. Birnbaums Eintreten für den Diaspora-Nationalismus und seine Parteinahme für den Autonomismus als realistisches politisches Programm für die breite Masse der österreichischen Juden fugte sich damit in einen weitreichenderen Trend sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen Welt. Es war kein Zufall, daß das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zur Blütezeit von Theorien über die nationale Autonomie wurde, die von so unterschiedlichen Denkern wie den Austromarxisten Karl Renner oder Otto Bauer, dem russisch-jüdischen Historiker Simon Dubnow oder dem populistischen Revolutionär Chaim Zhitlovsky entwickelt wurden. Noch signifikanter war, daß sie von jüdischen politischen Parteien und verschiedenen nationalen Minderheiten sowohl in Rußland als auch in Österreich-Ungarn zu deren Wahlprogramm erhoben wurden. 131 Nathan Birnbaum war sich durchaus bewußt, welch günstiges Klima für einen kulturell-nationalen Autonomismus sich quer durch das gesamte politische Spektrum des habsburgischen Osterreich entwickelt hatte. In einem am 9. August 1907 in der Neuen Zeitung veröffentlichten Leitartikel meinte Birnbaum, die Zeit für die nationale Autonomie sei gekommen. Dieses Konzept fände in allen politischen Lagern Österreichs Befürworter, unter Jung und Alt, Konservativen und Revolutionären, Bürgerlichen und Arbeitern, Deutschen und Slawen. 132 Das alte dualistische System in Österreich-Ungarn und die zentralistische Verfassung seien beide bankrott. Die Habsburgermonarchie könne nur dann überleben, wenn sie ihre anachronistischen nationalen und konfessionellen Strukturen zugunsten gesellschaftlich fortschrittlicher, demokratischer und autonomistischer Prinzipien peisgab. Österreich würde sich dadurch in eine Föderation von Nationen verwandeln, die durch gemeinsame wirtschaftliche und kulturelle Interessen miteinander verbunden waren. 133 Birnbaum forderte, daß die Neugestaltung der Monarchie auf der demokratischen Grundlage einer kulturell-nationalen Autonomie die offizielle Anerkennimg der Juden als Nationalität beinhalten sollte. Als ersten Schritt in diese Richtung schlug er eine Neuorientierung der österreichischen jüdischen Politik vor, indem

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Bündnisse mit anderen ethnischen Gruppen gesucht werden sollten, die bereit waren, die jüdischen Ansprüche zu unterstützen.154 In der Hitze der Wahlkampfes des Jahres 1906 schien diese ethnische Strategie eine vielversprechende Option. Im österreichischen Reichsrat trat der ruthenische Führer Julian Romancuk sogar (um der polnischen „Assimilation" der jüdischen Minderheit zu begegnen) für eine öffentliche Anerkennung der Juden als unabhängige Nationalität ein.135 Wie andere jüdische Nationalisten befürwortete Birnbaum das von Romanöuk vorgeschlagene ruthenische Bündnis gegen die polnische landbesitzende Aristokratie.136 Bei den allgemeinen Wahlen des Jahres 1907 wurden die drei in Galizien erfolgreichen zionistischen Kandidaten dank des Wahlabkommens mit den Ruthenen gewählt.137 Birnbaum selbst war bei denselben Wahlen in seinem persönlichen Wahlkampf in einem ostgalizischen Wahlkreis jedoch kein Erfolg beschieden. 158 Diese bittere Enttäuschung war vielleicht für seine zunehmende Ernüchterung über die Wahlpolitik und seine Hinwendimg zur jiddischen Sprache und Kultur als Quelle authentischer jüdischer Werte verantwortlich. In der multinationalen Umgebung von Czernowitz (wo 1907 Benno Straucher als Abgeordneter der Jüdischen Nationalpartei in den Reichsrat gewählt worden war) entdeckte Birnbaum eine jiddischsprachige Kultur, die sich lebendig erhalten hatte.139 Während der drei Jahre zwischen 1908 und 1911, die Birnbaum in Czernowitz verbrachte, begann er tatkräftig für die jiddische Sprache, Literatur und das Drama zu werben. Er organisierte „jiddische Abende" in Wien, gründete die „Jiddische Kultur" (eine Studentenvereinigung zur Förderung der jiddischen Kultur) und übersetzte Werke herausragender jiddischer Schriftsteller wie Scholom Aleichem, Scholem Asch und I. L. Peretz ins Deutsche.140 Er war nicht nur rastlos bemüht, das Ansehen des Jiddischen unter Juden und Nichtjuden zu erhöhen, sondern arbeitete auch hart daran, die Sprache selbst so zu beherrschen, daß er zu einem wirkungsvolleren Propagandisten dieser neuen Bewegung werden konnte. Jiddisch wurde zum Werkzeug seines Go/ws-Nationalismus, zum Symbol des alljüdischen Bewußtseins, das er der breiten Masse der Juden in der gesamten Diaspora zu vermitteln suchte. Birnbaum lehnte sowohl den Überlegenheitskomplex der assimilierten deutschen Juden gegenüber dem „Jargon" als auch die zionistische Verachtung für die kriecherische Sprache des Galut entschieden ab. Voller Begeisterung bezeichnete er das Jiddische als Spiegel einer stolzen, schöpferischen Tradition. Als Sprache von nicht weniger als neun Millionen in der ganzen Welt zerstreute Juden, mußte es als wesentlicher Fakter für den nationalen Zusammenhalt angesehen werden. Ohne Jiddisch als ihre lebendige Umgangssprache würden die osteuropäischen Juden bald auf das Niveau ihrer westlichen Glaubensbrüder absinken. In der Folge würde die organische Einheit des jüdischen Volkstums in der östlichen Welt rasch zerfallen.141

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Während seiner Czernowitzer Jahre begann Nathan Birnbaum mit der Entwicklung einer umfassenden Theorie des „Jiddischen", um dessen Unerläßlichkeit für das nationale jüdische Leben und Bewußtsein aufzuzeigen. Jiddisch, so meinte er, sei der Vermittler einzigartiger jüdischer kultureller Werte. Seine Vertrautheit, seine Gewandtheit und sein Charakter als Mischsprache würden Zeugnis ablegen von der Gabe zur Anpassungsfähigkeit, welche die in der Diaspora lebenden Juden ihr ganzes langes Exil hindurch unter Beweis gestellt hätten. Jüdische Intellektuelle, die Jiddisch als halbbarbarischen „Jargon" bezeichneten, würden nur ihre völlige Entfremdung vom jüdischen Leben und der Seele des jüdischen Volkes zeigen. Birnbaums radikaler Bruch mit den stereotypen Vorstellungen über das Jiddische aus der Zeit der Aufklärung muß als Teil seiner allgemeinen Revision der konventionellen westlichen Begriffe über die Ostjuden gesehen werden. Letztere wurden für ihn zum kulturellen Maßstab der jüdischen Integrität, die in ihrer Gesamtheit und Authentizität um jeden Preis gegen die Einfalle aus dem Westen verteidigt werden mußte. Um 1909 forderte Birnbaum in aller Offenheit die Emanzipation der Ostjuden vom Joch des westlichen Judentums, selbst wenn dies die Zerschlagung der - wie er nun meinte - fiktiven Einheit des jüdischen Volkes zur Folge haben würde.142 Der Ruf nach einer Trennung war weniger durch den Haß auf den Westen begründet als durch ein Gefühl der Verpflichtung zur Verteidigung, konnten die Ostjuden ihre charakteristische Eigenart und ihre kulturelle Originalität doch nur durch eine solche Isolation vor zerstörerischen Kräften bewahren.143 Birnbaums Eintreten für den Autonomismus und das Jiddische brachten ihn in Opposition zu den beiden wichtigsten, einander bekämpfenden Lagern innerhalb des österreichischen Judentums um die Jahrhundertwende - den Zionisten und den Assimilationisten. Aber obwohl Birnbaum selbst dem Zionismus den Rücken gekehrt hatte, stand er dessen Lager immer noch näher als jenem des jüdischen Establishments. Die Zionisten und die Diaspora-Nationalisten sahen die Möglichkeit, bei einer Reihe von Punkten zusammenzuarbeiten. Beide waren sich darüber einig, daß die breite Masse der Juden ihre eigenen autonomen Institutionen errichten sollte; daß sie in der Diaspora ein unabhängiges nationales Leben und eine Sozialpolitik entwickeln sollten (was die Zionisten nach 1905 als „Gegenwartsarbeit" bezeichneten); daß sie sich in aller Freiheit ihrer eigenen nationalen Sprachen bedienen (ζ. B. des Jiddischen) und die offizielle Anerkennung als Volksstamm innerhalb des Reiches anstreben sollten.144 Der Kampf um die offizielle Anerkennung des Jiddischen als Minderheitensprache, die in Schulen, Amtern und im öffentlichen Leben verwendet werden durfte, war ein weiterer gemeinsamer Nenner zwischen den Zionisten und den Autonomisten. Diese Verfolgung einer nationalen jüdischen Politik, vor allem in Galizien - wo sie auf den erbitterten Widerstand der polnischen Aristokratie und der assimilatio-

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nistischen „Polen mosaischen Bekenntnisses" stieß - stärkte die Bande innerhalb des nationalen Lagers.145 Auf der anderen Seite hob sich der Autonomismus insofern klar vom Zionismus ab, als er den nationalen Kampf ausschließlich in der Diaspora führte. Die Autonomisten unterschieden zwischen Nationalität und Staatlichkeit, wobei sie erstere durch Sprache und Kultur definierten. Die nationale Zugehörigkeit sollte in persönlichen und nicht in territorialen Begriffen zum Ausdruck gebracht werden. Der Autonomismus bemühte sich also um eine extraterritoriale Lösung des Problems der in der Vielvölkermonarchie verstreuten jüdischen Minderheit.1'16 Die kulturelle Autonomie, für die Nathan Birnbaum eintrat, wollte die Juden wie auch andere österreichische Minderheiten als eigene nationale Einheit in den föderativen Staatsorganismus integrieren. Birnbaum glaubte, daß dies schließlich zu einer Gleichstellung der Juden fuhren und damit dem Antisemitismus die Grundlage entziehen würde. 1905 vertrat Birnbaum sogar die Ansicht, der Antisemitismus könnte nur dann ausgerottet werden, wenn die österreichischen Juden in eigenen Wahlkurien für eigene Listen stimmen dürften.147 Erst wenn sie bei Wahlen nicht mehr als Kanonenfutter für die nationalistischen bürgerlichen Parteien (Deutsche, Polen, Tschechen, Ungarn usw.) oder für die Sozialdemokraten dienen würden, wäre der Weg in ÖsterreichUngarn frei für eine völlige Normalisierung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. In diesen Jahren gelangte Birnbaum zu der Uberzeugung, daß die größte Hoffnung für die Zukunft der acht Millionen in Rußland, Österreich-Ungarn und auf dem Balkan lebenden Juden in der nationalen Autonomie lag.148 1907 hielt er die volle Entwicklung der jüdischen Nation und ihrer kulturellen Schöpfungskraft im Rahmen eines föderalistischen österreichischen Staates auf Basis eines allgemeinen Wahlrechtes für durchaus möglich. Eine solche demokratische Regelung würde auch zur Lösung eines Grundproblems beitragen, dem sich das zeitgenössische Judentum gegenübersah - der Erreichung des Gleichheitsstatus, ohne die nationale Individualität aufgeben zu müssen. Birnbaum war der festen Uberzeugung, daß die nationale Autonomie innerhalb Österreichs auf der Grundlage einer Verbreiterung und Blüte der jiddischen Kultur die größten Chancen in sich barg, die charakteristische Identität der Ostjuden zu stärken und die Kräfte der Assimilation hintanzuhalten.149 Birnbaums fast zwanghafte Uberzeugung, die authentische jüdische Identität würde unerbittlich von der „Manie der Assimilation" untergraben, hatte seine Einstellung zu jüdischen Fragen seit der Zeit seiner frühesten Tätigkeit für den Zionismus gekennzeichnet. Um die Jahrhundertwende glaubte er nicht mehr daran, daß den verheerenden Auswirkungen der Assimilation durch eine Kolonisierung Palästinas und die Aufgabe des Golus Einhalt geboten werden könnten. Er wollte nichts mehr wissen vom Aufbau einer modernistischen Kultur im Orient, wenn dieser die

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Preisgabe einer existenten, pulsierende osteuropäischen jüdischen Nationalkultur zur Folge hatte. Nach 1900 war er überzeugt, die wahren „Kulturjuden" in den Ghettos Osteuropas zu finden. Bald aber befielen ihn Zweifel, ob diese Welt der säkularen „Jiddischkeit" den Angriffen der westlichen Moderne würde standhalten können. Die nationale Autonomie, die 1907 als eine so vielversprechende Option erschienen war, wurde mit dem fortschreitenden Niedergang des habsburgischen Reiches und dessen Auflösung während des Ersten Weltkrieges zunehmend bedeutungslos. Die Bestätigung des osteuropäischen Golus verlor ihre Glaubwürdigkeit, konnte man dieses nicht in irgendeiner Form an die älteste aller heiligen jüdischen Missionen anknüpfen - die Bewahrung des monotheistischen Glaubens Israels.150 Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum vom politischen zum kulturellen Zionisten, vom Vertreter eines Alljudentums und Jiddischtums zu einem Repräsentanten von Agudas Israel sind Ausdruck seiner lebenslangen Suche nach den Wurzeln der jüdischen Existenz.151 Birnbaum war stets um das „Wesentliche des Judentums" bemüht und ließ trotz aller offenkundigen Widersprüche und Paradoxa nie von seiner hartnäckigen Suche nach der authentischen Identität. Der liberalen assimilationistischen Bindungslosigkeit und dem hedonistischen Materialismus des Wiener Judentums entfremdet, entflammte die jüdische Nationalidee erstmals seine prophetische Leidenschaft. Fast 20 Jahre lang hielt er deren Fackel in Mitteleuropa hoch. Der österreichische Zionismus war weitgehend das Werk Nathan Birnbaums. Theodor Herzls kometenhafter Aufstieg zur Berühmtheit drängte Birnbaum unerwartet in den Hintergrund. Sein Selbstausschluß führte ihn dann zunächst zur Wiederentdeckung des nationalen Lebens und der einzigartigen Kultur der Ostjuden aus erster Hand. Durch diese Begegnung wurde Nathan Birnbaum zum ersten deutschsprachigen Intellektuellen, der das Bild der verachteten „Schacherjuden" und „Schnorrer" zum Gegenmythos einer pulsierenden volkstümlichen Schöpferkraft wandelte. Wie Martin Buber (ein anderer in Wien geborener Intellektueller mit galizischen Wurzeln) setzte Birnbaum größte Hoffnungen auf die Ostjuden hinsichtlich einer Regeneration der jüdischen Nation. In seinen Werken wurden sie zur Inkarnation des wahren Geistes und der wahren Kultur. Ihre vielgelästerte jiddische Sprache war die Verkörperung und der Schrein der jüdischen Traditionen und geistigen Werte. Birnbaums Wiederentdeckung der Größe der jüdischen Diaspora, ihres Märtyrertums und ihrer Kreativität enthüllte ihm den tieferen Sinn des Mysteriums jüdischen Uberlebens. Die Suche des entfremdeten Intellektuellen nach den Wurzeln seines eigenen Volkes und der Definition seines spezifischen Genius ließen ihn eine neue Wertschätzung für die besondere spirituelle Einzigartigkeit der Juden empfinden. Birnbaum wandte sich von den heidnischen Idolen Land und Volk ab und kehrte den neuerwachenden Verführungen des modernen weltlichen Nationalismus

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den Rücken. Seine letzte Metamorphose führte ihn zu den religiösen Quellen der jüdischen Erfahrung - zur Offenbarung am Berg Sinai, zum Gott Israels und zum „inneren Glauben" des ewigen Volkes.152 Mit seltener Intensität erlebte Birnbaum die Wechselschlüsse und Spanntingen aller großen Ideologien, die das ihre dazu beitrugen, die moderne jüdische Geschichte in Mittel- und Osteuropa zu prägen. Zionismus, Sozialismus und Autonomismus, das Jiddische und die Orthodoxie waren nur die äußeren Stationen dieser Odyssee, die sowohl die ruhelose persönliche Suche als auch die sozio-kulturelle Dynamik hinter der nationalen jüdischen Wiedergeburt widerspiegelt. Birnbaums Odyssee mit ihrer Vielzahl ideologischer Collagen „aus Bruchstücken der Moderne, Flimmer der Zukunft und wiederauferweckten Uberresten einer halbvergessenen Vergangenheit" (um mich Schorskes eindrucksvollen Bildes zu bedienen, das er in einem anderen Zusammenhang zeichnet) war typisch für das intellektuelle Abenteuer des Fin de Stiele.155 In bester romantischer Tradition hatte Birnbaum einst in der Seele des Volkes nach den Geheimnissen der jüdischen Existenz gesucht. Im Bemühen des jüdischen Messianismus um die Verwirklichung des „Königreiches Gottes" sollte er nach der Abkehr von den materialistischen und positivistischen Lehren über die Rasse, die er in seiner Jugend aufgesogen hatte, schließlich den Schlüssel zu dessen „Volksgeist" finden. Im Rückblick auf seine „Bekehrung" vom weltlichen, materialistischen Nationalismus zu einem ideosynkratischen orthodoxen Judentum verurteilte Birnbaum selbst seine eigene Vergangenheit als Hingabe an den Götzendienst. Die gesamte nationalistische und sozialistische „freidenkerische Moderne" versinke in Irrtum und Illusion.154 Das Mysterium und das Uberleben des jüdischen Volkes seien durch die „Naturgesetze" der Wirtschaft, Soziologie oder Geschichte nicht ergriindbar.155 Säkulare Ideologien wie der Zionismus oder Marxismus seien dem Wesentlichen der jüdischen Nation als heiligem Volk fremd. 156 Allein die Offenbarung, das Gesetz und die Tradition seien authentisch. Die falschen Götter des europäischen Fortschritts und der „emanzipierten Menschheit" stellten bloß „die Verkleidung des niedrigen Volkes" dar, das selbst dann noch mit Gott spielt, wenn es im Schlamm versinkt. 157 Der Wiener Jude Nathan Birnbaum war schließlich „heimgekehrt" in die Welt der Thora, der Propheten und des traditionellen Judentums.

15. Theodor Herzl: Das Werden eines politischen Messias Es ist ziemlich einleuchtend, daß ich, behaftet mit dem Hinderniß des Semitismus (zur Zeit meines Einsprungs war das Wort noch unbekannt), heute nicht um Aufnahme in die B[urschenschaft] A[lbia] ansuchen aus dem angegebenen Grund auch verweigert würde - und daß ich dort nicht bleiben will, wo ich dies voraussetze, das istjedem anständigen Menschen klar. Theodor Herzl (Märe 1885) Wiefinden Sie es z.B., wenn ich dem Antisemitismus nicht alles Gute abspreche? Wenn ich sage, daß er die Juden erziehen wird und wenn wir infünfzig Jahren noch die jetzige Gesellschaftsordnung haben eine Generation hervorgerufen haben wird, die sich sehen lassen kann, die ein delicates, krankhaft feines Gefühlfür Ehre und dgl. besitzt. Theodor Herzl (Jänner 1895) Mein Judenthum war mir gleichgiltig, sagen wir: es lag unter der Schwelle meines Bewußtseins. Aber wie der Antisemitismus dieflauenfeigen und streberischen Juden zum Christenthum hinüberdrückt, so hat er aus mir mein Judenthum gewaltig hervorgepreßt. Theodor Herzl (Juni 1895) Man gebe uns die Souveränität einesfür unsere gerechten Volksbedüifhisse genügenden Stückes der Erdobeifläche, alles andere werden wir selbst besorgen. Theodor Herzl, Der Judenstaat (1896) Die Sache, der wir dienen, ist groß und schön, ein Werk des Friedens, die versöhnende Lösung der Judenfrage. Ein Gedanke, wohl geeignet, edlere Menschen - sie seien Christen, Mohammedaner oder Israeliten - zu begeistern. Wir möchten, um es mit den unseren Freunden schon vertrauten Worten zu sagen: eine völkerrechtlich gesicherte Heimstätte schaffenfür diejenigen Juden, die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimilieren können oder wollen. Theodor Herzl (Juni 1897) Ich bin ganz fest überzeugt, daß sich außerhalb der alten Stadtmauern ein prachtvolles Neu-Jerusalem errichten ließe. Das alte Jerusalem wäre und bliebe Lourdes und Mekka und Jeruscholajim. Eine sehr hübsche elegante Stadt wäre daneben ganz, möglich. Theodor Herzl (51. Oktober 1898) Herzls adelige, ja königliche Persönlichkeit, nicht in erster Linie seine Zielsetzung war es, die ihm ermöglichte, aus den Juden ein Volk, d. h eine politische Nation zu bilden. Deshalb ist es kein Wunder, daß sich mit seiner Person Erinnerung, Phantasie, ja Mythenbildung des Volkes immer auß neue befaßt... Adolf Böhm (1929)

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IM KULTURELLEN HINTERGRUND THEODOR H E R Z L S ( 1 8 6 0 - 1 9 0 4 ) , DES B E G R Ü N -

ders des politischen Zionismus und ersten jüdischen Staatsmannes der modernen Zeit, spiegelte sich vieles von dem schillernden Vielvölkerstaat der österreichischungarischen Monarchie wider. Als Sohn einer Händlerfamilie der Mittelschicht in Budapest geboren, wuchs er in einem sozialen Umfeld auf, das ihm eine tiefe Liebe zur deutschen Sprache und Literatur einprägte, wobei er gleichzeitig aber auch an traditionellen jüdischen Werten festhielt. Herzls ungarischer Hintergrund war nicht unwichtig für seine zukünftige Entwicklung, obwohl er diesen nur selten erwähnte, und auch dann nur in einer beiläufigen, flüchtigen Bemerkung. In einer kurzen, im Jänner 1898 verfaßten Autobiographie für die Londoner Jewish Chronicle, erinnert er sich: „Ich wurde 1860 in Budapest in einem Haus nahe der Synagoge geboren, von deren Pult aus mich der Rabbiner kürzlich mit scharfen Worten beschuldigte, daß ich versuchen würde, für die Juden höhere Ehren und eine größere Freiheit zu erlangen als sie sich derzeit erfreuten. Uber dem Eingangstor des Hauses in der Tabakgasse, wo ich das Licht der Welt erblickte, wird nach 20 Jahren eine ,Ankündigung' mit der Aufschrift ,Dieses Haus ist zu vermieten' angebracht werden."1

Zwischen 1866 und 1870 besuchte Herzl die Volksschule der jüdischen Gemeinde, wo er vier Jahre hindurch neben den üblichen säkularen und religiösen Gegenständen auch Hebräisch lernte.2 Ausgezeichnet in Ungarisch, Deutsch, Arithmetik und den wissenschaftlichen Gegenständen, wurden seine Bemühungen in der Laschon ha-Kadesch (der heiligen Sprache) nur mit „gut" beurteilt. In seinem autobiographischen Abriß merkt der Zionistenfuhrer ironisch an: „Meine früheste Erinnerung ein diese Schule besteht in den Prügeln, welche ich erhielt, weil ich die Einzelheiten des Auszugs der Juden aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zu viel an jenen Auszug aus Ägypten erinnere."5

Im Herbst 1870 trat Herzl in die Realschule ein, ein Schultyp, in dem den Naturwissenschaften und modernen Sprachen der Vorrang gegenüber den klassischen Studien eingeräumt wurde. Seine Noten in Mathematik und den technischen Gegenständen waren enttäuschend und beendeten seinen Traum, wie der Held seiner Jugendtage, Ferdinand von Lesseps, einmal selbst Ingenieur zu werden. Herzls Ergebnisse in den religiösen Studien lagen unter dem Durchschnitt, war ihm doch das mechanische Auswendiglernen der Schriften zuwider. Angeregt wurde seine jugendliche Vorstellungskraft jedoch durch ein Buch jüdischer Geschichten, das er im Mai 1875 als Bar Mitzwa-Geschenk bekommen hatte. Kurz vor seinem Tod gestand Herzl Reuben Brainin gegenüber ein, daß die Ge-

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schichte des Messias ihn damals am meisten gefesselt hätte - „das Kommen des Messias, dessen Ankunft auch in dieser Generation täglich von vielen Juden erwartete wird".4 Als Dreizehnjähriger träumte er davon, daß der „königliche Messias" ihn in seinen Armen in den Himmel mitgenommen hätte, wo sie Moses trafen.5 In diesem Traum wiederholte der Messias an Moses gerichtet die Worte der biblischen Hannah an ihren Sohn Samuel: „Um dieses Kind habe ich gebetet." Dem jungen Herzl erklärte der „königliche Messias": „Geh, verkünde den Juden, ich werde bald kommen und Wunder und Großtaten vollführen für mein Volk und die ganze Welt."6 Da Herzl diesen Traum bis kurz vor seinem Tod für sich behielt, ist es nicht möglich, dessen genaue Auswirkung auf seine zukünftigen politischen Schritte auszuloten. Die Möglichkeit einer unbewußten frühen Identifikation mit einer Mosesähnlichen Figur, welche die Juden aus der Sklaverei in die Freiheit führte, kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Von seinem 13. Lebensjahr an wandte sich die Aufmerksamkeit des zunehmend ehrgeizigen Jugendlichen jedoch der Literatur zu. Damals gründete der adoleszente Herzl in Budapest einen literarischen Schülerkreis namens Wir - „um unser Wissen zu erweitern, Fortschritte im Gebrauch der Sprache zu machen und unseren Stil zu perfektionieren" -, dessen Präsident und auch produktivster Autor er selbst war. Er konnte sowohl auf ungarisch als auch auf deutsch fließend über so unterschiedliche Themen wie Napoleon, Savonarola, Mohammed, ungarische Patrioten und Dichter, griechische Mythologie, Religion und Heldentum schreiben.7 Zu Herzls Aufsätzen aus seiner Jugendzeit zählten wohlwollende Kritiken von Arbeiten ungarischer Dichter wie Janos Arany (1817-1882), der das große Nationalepos Toldi verfaßte, sowie Mihaly Vörösmarty (1800-1855), dem Verfasser der ungarischen Nationalhymne.8 Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß Herzl je ein magyarischer Chauvinist war. Selbst im Ungarn zur Zeit nach der Emanzipation war die Diskriminierung keineswegs verschwunden, und es war für Juden immer noch schwierig, einen Posten in Regierungsdiensten zu erlangen.9 1875 (in diesem Jahr trat er auch in die evangelische Schule ein, die der größten protestantischen Kirche Budapests angeschlossen war) zeigte sich der Antisemitismus in Gyözö von Istoczys Rede im Parlament erstmals auch auf der politischen Bühne. Von Istöczy behauptete, die Juden seien eine aggressive, gesellschaftlich exklusive, kosmopolitische Kaste, die sich nahezu 4500 Jahre lang beharrlich einer Assimilation widersetzt hätte. Ihr „Liberalismus" sei nur eine geschickte Täuschung der Arier. Das wahre Ziel dieser fremden, nomadischen Einwanderer sei die wirtschaftliche Beherrschimg des Erdkreises.10 Herzl hat keinerlei Kommentar zu Istöczys leidenschaftlicher Rede gegen die ungarische Judenschaft hinterlassen, eine Gemeinde, deren Mitgliederzahl sich von 75.000 im Jahre 1785 auf 552.000 im Jahre 1870 verachtfacht hatte. Wir wissen daher nicht, ob er Istoczys außerordentliche Erklärung am 24. Juni 1878 im ungari-

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sehen Landtag zugunsten der Neuerrichtung eines jüdischen Staates in Palästina verfolgte. Diese Rede wurde zur gleichen Zeit gehalten, als der 18jährige Herzl in Budapest bei seiner Abschlußpriifung saß. Es gibt indes einige auffallige Parallelen zwischen Herzls späteren Argumenten für den Zionismus und jenen, die der ungarische Antisemit zwei Jahrzehnte zuvor vorgebracht hatte. Als Ausgangspunkt nahm Istoczy in seiner „zionistischen" Rede die Existenz eines nationalen Notstands in Ungarn, der in seinen Augen durch die jüdische „Beherrschung" des Landes hervorgerufen wurde. „Es mag durchaus sein, daß die Judenfrage in keinem anderen Land Europas einer so dringenden und radikalen Lösimg bedarf wie in unserer Monarchie (d. h. Reich), und insbesondere in Ungarn."11 Istöczy zufolge würde die Lösung dieser Frage einen gesamteuropäischen diplomatischen Prozeß in Gang setzen, der die Juden wieder mit Palästina in Verbindung brächte, wo diese dazu beitragen würden, die finanzielle Stabilität des geschwächten Osmanischen Reiches wiederherzustellen. Vor allem aber würden sie im Heiligen Land ein konstruktives Betätigungsfeld für ihre Mobilität, ihre rastlose Energie, ihren Fleiß und ihre frustrierten nationalen Ambitionen finden. Im Mittleren Osten, so meinte Istoczy, wären die politischen Bedingungen nun reif für eine Rückkehr der Juden nach Palästina und für die Wiederherstellung des Staates, „aus dem sie 1800 Jahre lang vertrieben gewesen waren". Istoczy erwartete von europäischen Staatsmännern wie Disraeli, Gambetta, Lasker, Glaser und Unger (letztere waren die Säulen des österreichischen Kabinetts) - die er von „der Rasse" her als Juden bezeichnete -, daß sie die Initiative ergreifen, indem sie die Vorschläge im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt in die Tat umsetzten.12 Dieser mystische, rassistische Aufruf an die „jüdischen Patrioten", mit dem Aufbau der Heimstatt ihrer Vorfahren zu beginnen, ging mit der antisemitischen Forderung einher, ihre „kosmopolitischen" Brüder sollten davon ablassen, einen „Staat im Staat" zu bilden. Sie sollten sich voll in die nichtjüdische Umgebimg assimilieren und einen „dauerhaften Frieden mit der christlichen Kultur" schließen. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Herzl Istöczys Rede gelesen oder diese seinen eigenen Weg in Richtung Zionismus beeinflußt hätte.15 Er war sich aber zweifellos der Schlüsselrolle bewußt, die der Abgeordnete beim Tisza-Eszlär-Ritualmordprozeß von 1882 spielte. Die Frage, inwieweit der aufkommende allgemeine Antisemitismus in seinem Heimatland Herzl geprägt hat, läßt sich nicht beantworten. Der junge Herzl hatte Budapest 1878 verlassen und war mit seinen Eltern nach Wien übersiedelt, noch bevor der ungarische Antisemitismus sich voll entwickelt oder auf andere Teile der österreichischen Monarchie übergegriffen hatte. Seine Ablehnung der magyarischen Kultur und seine nur sehr seltenen Hinweise auf Ungarn erstaunen, obwohl sie für einen der Mittelschicht angehörenden germanisierten Juden seiner Generation nicht unüblich waren. Sein ursprünglich zweisprachiger und

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zweifacher kultureller Hintergrund wurde sicherlich bald überdeckt, sobald er sich in Wien eingelebt hatte, wo die Ungarn nicht besonders beliebt waren. Dieses Mißtrauen trat vor allem im deutschnationalen Studentenmilieu an der Wiener Universität zutage, zu dem Herzl Zugang suchte. Herzl dürfte sich in doppelter Hinsicht, sowohl als Ungar als auch als Jude, als Außenseiter gefühlt haben, was zu einer Überkompensation führte, indem er in seinen Studentenjahren einen ausgeprägten Deutschnationalismus vertrat. Sein leidenschaftliches Interesse an der deutschen Literatur, Geschichte und Politik - das er in Budapest bekundet hatte - erleichterte ihm zweifellos diesen Übergang, was andernfalls nicht der Fall gewesen wäre. Schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte er von seiner germanophilen Mutter eine glühende Bewunderung für die deutsche Kultur übernommen, die so charakteristisch für viele Budapester Juden der Mittelschicht war.14 Wie andere Glaubensbrüder in Prag sahen sich diese verwestlichten Juden als Minderheit innerhalb einer Minderheit, welche die Avantgarde der deutschen Sprache und Kultur in Ungarn repräsentierte. Insgesamt gesehen ist es daher nicht überraschend, daß der junge Jusstudent Theodor Herzl sich zum Deutschnationalismus hingezogen fühlte. Seine gesellschaftliche Ausgegrenztheit in Wien ermutigte ihn zur Annahme des preußischen Modells des Deutschtums, das unter der Generation der Universitätsstudenten, die sich gegen die traditionellen liberalen Werte auflehnten, immer mehr in Mode kam.15 Dennoch scheint sich Herzl selbst in seiner alldeutschen Phase studentischer Militanz einen gewissen kosmopolitischen Humanismus bewahrt zu haben, der auch auf den jüdischen Hintergrund zurückzuführen war. In dieser Hinsicht ähnelte Herzl anderen bekannten germanisierten Juden aus Budapest wie Adolf Fischhof, Theodor Hertzka und Max Nordau. Es ist vielleicht bezeichnend, daß diese Gruppe in Ungarn geborener jüdischer Intellektueller ihrem Temperament nach politisch viel aktiver war als ihre in Wien geborenen Gegenparts.16 Herzls moralische Leidenschaftlichkeit, seine Begabung für Improvisation und seine Bereitschaft zu spielen, die ihm eigene Mischung von diplomatischem Flair und von Vorstellungskraft geprägtem Utopismus sind ebenfalls eher ungarische als österreichische Eigenschaften. Auch die Betonung der nationalen Identität und des patriotischen Bewußtseins war in Ungarn stärker entwickelt als in der Habsburgermonarchie mit ihren übernationalen Traditionen eines Universalreiches. Trotz dieser Einflüsse lieferte aber eindeutig der deutsche und nicht der ungarische Nationalismus das wichtigste Paradigma für Herzls politischen Zionismus.17 Herzls jüdische Identität ist in gewisser Hinsicht um nichts weniger kompliziert als die möglichen magyarischen Einflüsse auf seine spätere Entwicklung. Nur eine Generation trennte ihn von der religiösen Orthodoxie Ost- und Südosteuropas. Sein Großvater väterlicherseits, Simon Löb Herzl (1805-1879), der in Semlin, einer kleinen österreichisch-ungarischen Grenzstadt in der Nähe von Belgrad, lebte, blieb bis

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zum Ende seines Lebens ein frommer, streng orthodoxer Jude. 18 Als Sohn eines Rabbiners leitete er bisweilen die Gottesdienste in der kleinen Gemeinde seiner Heimatstadt. Aufschlußreich ist auch, daß er ein Anhänger eines der Pioniere des religiösen Zionismus war, des Rabbiners von Semlin, Jehuda Alkalai (1798-1878). Bereits 1834 hatte Alkalai als Vorspiel für die kommende Erlösung die Errichtung jüdischer Kolonien in Eretz Israel vorgeschlagen.19 Simon Löb Herzl, der alljährlich seine Familie in Budapest besuchte, sprach immer voll Begeisterung von Alkalais Ideen. Es ist daher mehr als wahrscheinlich, daß Theodor Herzl aus seinem Munde erstmals von der Idee hörte, die Juden im Heiligen Land anzusiedeln. Theodors Vater, Jacob Herzl (1835-1902), ein erfolgreicher Bankdirektor und Holzhändler, war in Semlin aufgewachsen, wo er ebenfalls Schüler von Rabbi Jehuda Alkalai gewesen war. Später unterstützte er den ungarischen proto-zionistischen Rabbiner Josef Natonek (1813-1892).20 So mag nicht nur väterliche Zuneigung, sondern auch ideologische Uberzeugung bestimmend für Jacob Herzls starke moralische und großzügige finanzielle Unterstützung der Bemühungen seines Sohnes gewesen sein, den Kampf der zionistischen Bewegung nach 1897 weiter in Gang zu halten.21 Theodor Herzl wurde zu seinem zionistischen Projekt auch von seiner willensstarken, dominanten Mutter Jeanette ermutigt, deren Liebe zur deutschen Klassik und deren Engagement für die Werte der Mittelschichtsbildung keineswegs das Bekenntnis zu den nationalen jüdischen Traditionen ausschloß.22 Von dieser hübschen, eigensinnigen Frau erbte Theodor Herzl seinen ausgeprägten Sinn für die ästhetische Form, für die Eleganz der Kleidung, die gesellschaftliche Etikette und gutes Benehmen. Seine außerordentlich enge Bindung an sie sollte einen gewaltigen Einfluß auf seine gesamte Persönlichkeit ausüben.23 Sie zeigte eindeutig auch Auswirkungen auf seine ohnedies etwas fragile Ehe mit Julie Naschauer und prägte vermutlich seine erstaunlich asketische Sicht der Frauen. Der mögliche Einfluß Jeanette Herzls auf die Hinwendung ihres Sohnes zur Idee der Rückgewinnung eines verlorenen Vaterlandes sei aber wohl eher den Spekulationen der Psychologie überlassen.24 Während seiner frühen Jahre in Wien studierte Herzl Jus und beteiligte sich mit seinen eigenen Worten - „an allen dummen Studentenpossen; dazu gehörte auch das Tragen der Kappe einer Verbindung, bis eben diese Verbindung eines schönen Tages eine Resolution verabschiedete, daß ihr in Hinkunft keine Juden mehr angehören sollten".25 Dieser erniedrigende Vorfall einer sozialen Ablehnung verwundete Herzls Sinn für persönlichen und ethnischen Stolz zutiefst. Seine Treue gegenüber den halb-feudalen Werten und dem Deutschnationalismus der österreichischen Burschenschaften war bis ins Mark erschüttert.26 Zweifellos gefielen ihm das romantische Ritual der teutonischen Burschenschaften, das Tragen eines glänzenden Säbels und die bunten Kappen und Schärpen. In Auflehnung gegen die

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dekadente Schlamperei der alten österreichischen Monarchie hatte er sich bedingungslos mit dem glühenden pro-preußischen und germanozentrischen Nationalismus seiner Mitstudenten identifiziert. 27 Arthur Schnitzler schreibt in seinen Erinnerungen: „Einer von den jüdischen Studenten, die, ehe die Dinge die oben geschilderte Wendung genommen, einer deutschnationalen Burschenschaft angehört hatten, war Theodor Herzl gewesen; den ich selbst noch mit der blauen Albenkappe und dem schwarzen Stock mit Elfenbeingriff, darauf das F. V. C. (Floriat Vivat Crescat) eingraviert war, in Reih und Glied mit seinen Couleurbrüdern umherspazieren sah; - daß diese ihn als Juden aus ihrer Mitte stießen, oder, wie das beleidigende Studentenwort hieß, ,schaßten', war zweifellos der erste Anlaß, der den deutschnationalen Studenten und Wortführer in der Akademischen Redehalle (wo wir einander, ohne uns noch persönlich zu kennen, an einem Versammlungsabend spöttisch fixiert hatten) zu dem vielleicht mehr begeisterten als überzeugten Zionisten wandelte, als der er im Gedächtnis der Nachwelt weiterlebt."28 Der etwas schüchterne Schnitzler war in den frühen 80er Jahren unangenehm berührt von dem, was er als Herzls snobistische Herablassung und mühelose Überheblichkeit ansah. Bei seiner Erwähnung von Herzls altklugem savoir-faire, seiner Eleganz, seiner Selbstbeherrschung und seiner Fähigkeiten als Sprecher, die er in der Akademischen Lesehalle unter Beweis stellte, schwingt gleichzeitig Bewunderung und Neid mit. 29 In Wirklichkeit versteckte Herzls aristokratische Pose der selbstsicheren Nonchalance innere Selbstzweifel, Unsicherheit und die Neigung zu akuten Depressionsanfallen. Herzl war 1881 der schlagenden nationalistischen Burschenschaft Albia beigetreten. Nur vier Jahre zuvor hatte die Burschenschaft das schwarz-rot-goldene Emblem des Deutschnationalismus in Opposition zu den schwarz-gelben Fahnen Österreichs angenommen. 50 Theodors nom de combat in der Burschenschaft lautete Tancred, in Erinnerung an den jungen adeligen Helden eines Romans des britischen Premierministers Benjamin Disraeli, der 1847 erstmals veröffentlicht wurde. Im Tancred hatte der Konvertit Disraeli einen visionären, romantischen Toiyismus zum Ausdruck gebracht, der darauf abzielte, die Harmonie in der englischen Gesellschaft wiederherzustellen und die Kirche als moralische und religiöse Macht durch die Festigung ihrer jüdischen Grundlagen neu zu beleben. Tancred war auch ein Werkzeug für Disraelis Proto-Zionismus. In einigen Abschnitten dieses Romans spricht sich der Autor vehement für die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit der Juden aus und kritisiert die jüdisch-assimilationistische Angst vor einem Einbekenntnis ihrer Rasse aufs schärfste.51 Wurde bereits der junge Herzl unbewußt zu dieser jüdisch-christlichen Strömung des Messianismus hingezogen? Es gibt keinen

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direkten Beweis für eine Bestätigung dieser Hypothese, doch die schillernde Persönlichkeit Disraelis übte eindeutig eine Faszination auf den jungen Herzl aus.52 Am 11. Mai 1881 focht Herzl sein verpflichtendes Studentenduell. Er scheint rasch den aristokratischen Ehrenkodex angenommen zu haben, auf dem das Ethos der österreichisch-deutschen Studentenverbindungen beruhte. Aber mit dem Aufkommen des rassischen Antisemitismus in den österreichischen Burschenschaften wurde die Position des 22jährigen Herzl zunehmend unhaltbar. Der Tod Richard Wagners am 13. Februar 1883 und die vom Verein deutscher Studenten in Wien abgehaltene Gedenkfeier zu Ehren des Komponisten wurden bald zu einer pro-Bismarckschen, alldeutschen und antisemitischen Demonstration. Herzl schrieb einen entrüsteten Brief der Mißbilligung an die Führung der Albia-Burschenschaft, in dem er seinen Rücktritt anbot. Als freiheitsliebender Mensch und als Jude sei er empört über die neue Wendung der Ereignisse. Sein Protestbrief wurde kühl angenommen und beendete seine Beziehung zur Albia.33 Die Demonstration der Wagnerianer war nicht Herzls erste Begegnung mit der „Judenfrage". Kommentare in seiner Tagebucheintragung vom 8. Februar 1882 über den Roman Die Juden von Cölln des populären und produktiven deutschen Schriftstellers Wilhelm Jensen deuten darauf hin, daß der junge Herzl keineswegs frei von jedem jüdischen Selbsthaß war. Er war tief betroffen und abgestoßen von den physischen und moralischen Auswirkungen des Ghettos auf die Juden. Seiner Ansicht nach waren ihr verachtetes Außeres und ihr verspotteter Geist im wesentlichen das Ergebnis einer fehlenden Mischung mit anderen Rassen. Das „düstere Ghetto", dessen Einfluß immer noch anhalte, auch noch „lange nachdem seine physischen Mauern schon gefallen waren", habe das Aussehen vieler gebildeter Juden verkrampft. Das Ghetto sei in direkter Folge für die „häßliche" historische Entwicklung des Judentums verantwortlich. Es habe als enger Ring gedient, der die Finger gequält und gelähmt und damit jede kreative Tätigkeit, jede Initiative und jede freie Bewegung des jüdischen Lebens unterbunden habe.54 Die Lektüre von Eugen Dührings Die Juden/rage als Racen, Sitten und Cultuifrage forderte eine freimütigere Antwort heraus.55 „Die Judenfrage. - ein infames Buch. Und leider so gut geschrieben, als hätte es nicht gemeiner Neid mit der giftgetauchten Feder der persönlichen Rachsucht geschrieben. - Wie hätte sich eine solche niedrige, talentlose Race so lange erhalten können, durch anderthalb Jahrtausende immenschlichen Druckes, wenn gar nichts Gutes an ihr wäre. Und dieser Scheinliberale Faselhans von Dühring ... Gewisse ekelhafte und niederträchtige Eigenschaften der Juden und Jobber haben in ihm einen grausamen, aber genauen Beobachter gefunden .. ,"56 Dührings sogenannte „Lösimg" der Judenfrage war aber eine Kombination aus der Wiederherstellung des Ghettos und einer modernen systematischen „Entjudung der Presse und des Wuchers ...", der Rechtswissenschaft, der Medizin

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und anderer freier Berufe.57 Zornig notierte er am 9. Februar 1882 in sein Tagebuch: „Wenn man aber weiter liest, so sieht man allmälig ein, dass zu einigem Wahren sehr viel Falsches und absichtlich, infam Gefälschtes hinzugemischt wird, und Dühring wird läppisch, nachdem er gefahrlich war."58 Herzls Wut machte ihn nicht blind für die Qualität von Dührings deutscher Prosa. Er meinte sogar, die Juden könnten aus dieser erbarmungslosen Aufdeckung ihrer Fehler, wie sie in dem Buch vollzogen wurde, etwas lernen.59 Aber Herzl hegte keinerlei Zweifel, daß Dühring letztlich ein Feind war, ein grausamer und rachsüchtiger Verleumder der Juden. Rassische Vorurteile hatten den deutschen Antisemiten dazu veranlaßt, zu übertreiben und auch die historische Bedingtheit der jüdischen Eigenschaften zu übersehen.'10 1882 war der junge Herzl immer noch zuversichtlich, daß schließlich die aufgeklärte Toleranz siegen würde. Er distanzierte sich von Dührings antisemitischer Rassenlehre und „denundatorischen Niedertracht", aber er fragte sich immer: „Wenn so viel geschulter und durchdringender Verstand, wie Dühring unleugbar besitzt, in Gemeinschaft mit gelehrter und wirklich universeller Bildung also schreiben kann - was ist dann vom bildungsfessellosen Haufen zu erwarten?"41 Selbst der Schock durch Dührings rassistischen Angriff auf das Judentum und seine eigene traumatische Erfahrung mit der Albia-Burschenschaft machten aus Herzl noch keinen Zionisten. Der neue teutonische Rassismus, der von Berlin seinen Ausgang nahm und in Wien weiter ausgefeilt wurde, beunruhigte ihn, verletzte seinen Stolz und führte ihm mit aller Macht vor Augen, daß er ein Jude war, ohne ihn zu einem Nationalisten zu machen. Die gesamten 80er Jahre hindurch wußte er nichts von der zionistischen Kritik der Assimilation, wie sie von Moses Hess, Perez Smolenskin, Leon Pinsker und Nathan Birnbaum vorgebracht wurde. Er hatte keine Ahnung von Pinskers Autoemancipation, ja nicht einmal von der Studentenvereinigung Kadimah, die 1885 an der Wiener Universität gegründet wurde. Es macht beinahe den Eindruck, als wäre Herzl der „Judenfrage" gerade zu jener Zeit, da sie in Österreich zu einem Hauptstreitpunkt wurde, bewußt aus dem Wege gegangen.42 In seinen Schriften aus den 80er Jahren gibt es keine weiteren Hinweise auf die bemerkenswerte Zunahme des politischen Antisemitismus in Rußland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Polen und den tschechischen Ländern. Nach Abschluß seines Jusstudiums an der Universität Wien im Jahre 1884 mit dem Doktorat, reiste Herzl kreuz und quer durch Europa. Er schieb etwa 50 Theaterstücke bzw. Entwürfe für solche, zahlreiche Artikel, Reiseberichte und Kurzgeschichten. Zeitungen in Wien und Berlin druckten seine geistreichen Feuilletons, eine fragile und vergängliche Kunstform, in der Herzl es zu vollendeter Meisterschaft brachte. 43 1887 wurde er kurzfristig zum literarischen Herausgeber von Hertzkas Wiener Allgemeinen Zeitung. Vier Jahre später sollte er eingeladen werden, den höchst prestigereichen Posten eines Korrespondenten der Neuen Freien Presse in

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Paris zu übernehmen. In diesen Entwicklungsjahren, in denen er seinen Ruf als bekannter Dramatiker, Journalist und Literat begründete, vermied Herzl in der Öffentlichkeit die „Judenfrage". Dies darf aber nicht als Beweis dafür gelten, daß diese ihn nicht auch weiterhin beschäftigte. In seinem „Der Judensache erstes Buch", das er um Pfingsten des Jahres 1895 in Paris begann, schreibt Herzl: „Die Frage hat" in den Jahren nach seinen ersten Bemerkungen über Dühring, „an mir gebohrt und genagt, mich gequält und sehr unglücklich gemacht. Tatsächlich bin ich immer wieder zu ihr zurückgekehrt, wenn mich die Erlebnisse, Leiden und Freuden meiner eigenen Person ins allgemeine aufsteigen ließen."44 Wie Herzl selbst eingesteht, gab es „vielleicht eine Zeit, wo ich ihr gern entwischt wäre, hinüber ins Christentum, irgendwohin". Als jedoch der Historiker Dr. Heinrich Friedjung, Herausgeber der nationalistischen Deutschen Wochenschrift, ihm riet, sich „einen weniger jüdischen Namen als Federnamen zu wählen", lehnte er dies rundweg ab.45 Anfang 1891, vor seiner Ankunft in Paris, hatte Herzl sogar daran gedacht, einen „jüdischen" Roman über seinen engen Freund Heinrich Kana zu schreiben, der im Februar desselben Jahres in Berlin Selbstmord begangen hatte. Er wollte das Leid der armen Juden der bequemen Selbstzufriedenheit ihrer reicheren Glaubensbrüder gegenüberstellen. Die vier Jahre, die Herzl in Paris zubrachte (1891-1895), sollten alles ändern, eröffneten sie ihm doch eine neue Sichtweise der Welt und der Gründe fur den modernen Antisemitismus. „In Paris geriet ich - wenigstens als Beobachter - in die Politik. Ich sah, womit die Welt regiert wird. Ich starrte auch das Phänomen der Menge an; lange Zeit, ohne es zu begreifen. Ich keim auch hier in ein freieres und höheres Verhältnis zum Antisemitismus, von dem ich wenigstens nicht unmittelbar zu leiden hatte. In Osterreich oder Deutschland muß ich immer befürchten, daß mir hepp-hepp nachgerufen wird. Hier gehe ich doch ,unerkannt' durch die Menge."4®

Herzl war sich sein ganzes Leben hindurch des Antisemtismus bewußt gewesen, ob als Schulkind, als Student an der Universität oder als junger Erwachsener. Er war ihm in Ungarn, in Deutschland und vor allem auf seinem „heimatlichen" Boden in Osterreich begegnet. Aber erst in Paris begann er darin ein universelles Phänomen zu sehen, ihn „historisch zu verstehen und zu entschuldigen". Am 31. August 1892 veröffentlichte er seinen Artikel „Französische Antisemiten" für die Neue Freie Presse. Es handelt sich um eine Deutung des Duells zwischen dem Antisemiten Marquis de Morfes und dem jüdischen Hauptmann und Professor an der ficole Polytechnique Armand Mayer. Bei dem Duell wurde Mayer nach wenigen Augenblicken getötet. Herzls Bericht hat einen unverkennbar ironischen Unterton:

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„Die Juden eignen sich von altersher vortrefflich dazu, für Fehler und Mißbräuche der Regierungen, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Mißwuchs, Hungersnot, öffentliche Korruption und Verarmung verantwortlich gemacht zu werden. Darum wird jeder wahrhaft konservative Staatsmann ihnen immer einen mäßigen Schutz angedeihen lassen, um sie zu erhalten."47 Eine ironische Distanz war typisch für Herzls Skizzen aus dem öffentlichen Leben in Frankreich - ob es nun u m Parlamentspolitik, Finanzkorruption, Klassenkämpfe, anarchistischen Terror oder den Aufstieg des Antisemitismus ging. Aber allmählich begann sich ein identifizierbares Muster herauszukristallisieren, das die Parallelen zwischen den Krisen der Französischen Republik und dem Zusammenbruch der Liberalen in seiner österreichischen Heimat aufzeigte. Das Aufkommen der Massenpolitik sowohl auf Seiten der Rechten als auch auf seiten der Linken, der Verlust an Glauben an das parlamentarische System, die Herausforderungen an den liberalen Rationalismus in der Kunst und in der Philosophie - all das waren Symptome jener Krise, die das bürgerliche Europa erschütterte. Nirgendwo sonst war der neue Irrationalismus deutlicher sichtbar als in der zunehmenden Bedeutung der „Judenfrage". 48 1893 meinte Herzl vorübergehend, der Antisemitismus könnte durch eine noch größere Massenbewegung wie etwa die Sozialdemokratie im Zaum gehalten werden. In einem langen Brief über die „Judenfrage", schrieb Herzl am 26. Jänner 1893 aus Paris an den führenden Wiener Industriellen Baron Friedrich Leitenberger: „Auf eine Bewegung antwortet man, wenn man nicht die Macht hat, sie zu unterdrücken, mit einer anderen Bewegung ... Es ist meine Uberzeugung, daß die in die Enge getriebenen Juden schließlich keinen anderen Ausweg mehr haben werden, als nach dem Sozialismus." 49 Herzl war bereits 1892 von der „Leere und Nutzlosigkeit der Bestrebungen ,zur Abwehr des Antisemitismus'" überzeugt und antwortete dies auch beiläufig Baron Leitenberger in Wien. 50 Der dramatische Erfolg der Bewegung Luegers in Wien und die zunehmend sichtbare antisemitische Agitation in Paris, Berlin und anderen europäischen Städten sollten ihn überzeugen, daß universalistische Lösungen der „Judenfrage" - welcher Art auch immer - einfach nicht gangbar waren. Einen kurzen Augenblick lang liebäugelte Herzl 1893 mit der Idee, das jüdische Problem durch einen persönlichen Kampf zu lösen. In seiner Phantasie forderte er selbst einen der führenden österreichischen Antisemiten - Schönerer, Lueger oder Prinz Liechtenstein - zu einem Duell. Sollte er sein Leben verlieren, würde er zu einem Opfer der „ungerechtesten Bewegung der Welt". Sollte er jedoch gewinnen, „so wollte ich vor dem Schwurgericht eine großartige Rede halten, worin ich zuerst den Tod eines Ehrenmannes bedauerte ... Dann wäre ich auf die Judenfrage eingegangen, hätte eine gewaltige Lasallesche Rede gehalten, die Geschworenen erschüttert, gerührt,

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dem Gerichtssaal Achtung abgezwungen und wäre freigesprochen worden. Darauf wäre mir von den Juden ein Abgeordnetenmandat angeboten worden. Ich hätte es aber ablehnen müssen, weil ich nicht über die Leiche eines Menschen in die Volksvertretung gelangen wollte."3'

Von dieser „Ehrenangelegenheit" gelangte Herzl zu einer noch archaischeren Lösung. Er faßte nichts Geringeres ins Auge, als eine Massenkonversion der österreichischen Juden zum Katholizismus, die gemäß eines bizarren Ehrenkodex (Ritterlichkeitskodex) stattfinden sollte. Die Taufe sollte frei und ehrenhalber erfolgen; „frei und anständig dadurch, daß die Führer dieser Bewegung - ich vor allem Juden bleiben und als Juden den Ubertritt zur Mehrheitsreligion propagieren. Am heilichten Tage, an Sonntagen um 12 Uhr, sollte in feierlichen Aufzügen unter Glockengeläute der Übertritt stattfinden in der Stefanskirche."52 So wollte Herzl die Judenfrage mit Hilfe der katholischen Kirche wenigstens in Osterreich lösen. Der assimilationistische Herausgeber der Neuen Freien Presse, Moriz Benedikt, sprach sich gegen den phantastischen Plan Herzls aus, der sich über die österreichischen Kirchenfiirsten an den Papst in Rom wenden wollte. Sein Einwand war sowohl moralischer als auch praktischer Natur: „Hunderte Generationen hindurch hat Ihr Geschlecht sich im Judentum erhalten. Sie wollen jetzt sich selbst als die Grenze dieser Entwicklung setzen. Das können und dürfen sie nicht. Übrigens wird Sie der Papst nicht empfangen."53 Indem er von diesen kindlichen Phantasien abließ, begann Herzl als Folge von Gesprächen mit dem österreichisch-jüdischen Journalisten und Kunstkritiker Ludwig Speidel (1830-1906) in Baden einen neuen, philosophischen Ansatz des Antisemitismus auszuarbeiten. Die Juden waren aufgrund der antisozialen Eigenschaften, die sie im Ghetto entwickelt hatten, ein Fremdkörper unter den Nationen geblieben, so räsonierte er mit seinem österreichischen Freund. Die von der katholischen Kirche praktizierte Unterdrückimg und Dikriminierung hatte sie gezwungen, Wucher zu treiben, und so ihrem Charakter geschadet. Auch nach der Emanzipation waren sie immer noch „Ghetto-Juden" geblieben. Auf die freien Berufe konzentriert, brachten sie einen „fürchterlichen Druck in die Erwerbsverhältnisse der Mittelstände; einen Druck, unter dem freilich sie selber vor allem leiden".54 Herzl aber glaubte immer noch, daß der Antisemitismus, „der in der großen Menge etwas Starkes und Unbewußtes ist", den Juden nicht schaden würde. „Ich halte ihn für eine dem Judencharakter nützliche Bewegung. Er ist die Erziehung einer Gruppe durch die Massen und wird vielleicht zu ihrer Aufsaugung führen. Erzogen wird man nur durch Härten. Es wird die Darwinsche Mimikry eintreten. Die Juden werden sich anpassen."35

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Einige Monate später, als er dem in Mähren geborenen jüdischen Bildhauer Friedrich Beer (1846-1912) in dessen Atelier für seine Büste Modell saß, entwarf er seinen letzten nicht-politischen Versuch zur Uberwindung des Antisemitismus. Sein Stück Das neue Ghetto (1894), das er mit fieberhaftem Eifer in lediglich 17 Tagen verfaßt hatte, schilderte das familiäre Milieu der assimilierten jüdischen Bourgeoisie in Wien. Der Protagonist, Dr. Jacob Samuel, ein jüdischer Anwalt mit hehrer Gesinnung, ist mit Hermine, der verwöhnten, oberflächlichen Tochter eines reichen Geschäftsmannes, verheiratet.56 Das Stück beginnt mit der Hochzeit und endet mit Jacobs tragischem Tod in einem Duell, bei dem er von dem antisemitischen Aristokraten und Kavalleriehauptmann i. R., Graf von Schramm, erschossen wird; nicht ohne jedoch zuvor von der Bühne im Sterben sein Vermächtnis zu verkünden: „Juden, meine Brüder, man wird Euch erst wieder leben lassen - wenn Ihr ... Warum haltet Ihr mich - so fest? ... Murmelt. Ich will - hinaus! ... Sehr stark. Hinaus - aus dem - Ghetto!" 57 In dem Stück bekennt Dr. Samuel ohne jede Scham seine Ehrenschuld gegenüber seinem nichtjüdischen Freund aus Kindheitstagen, Dr. Franz Wurzlechner, ein: „Ich hab' auch viel von Dir gelernt... Und Anfangs, ohne es recht zu wissen Kleines und Grosses. Betonungen, Mienen, Gebärden. Wie man sich ohne Kriecherei verbeugt und wie man sich ohne Trotz aufrichtet - und was Alles."58 Aber Wurzlechner, der seinen jüdischen Freund den Kodex eines ehrenwerten Verhaltens gelehrt hatte, beschließt, in die Politik zu gehen, und erkennt unverzüglich, daß er doch nicht seinen Gegnern „diese Waffe in die Hand geben [will], daß ich so viel mit Juden verkehre, mit Börsianern. Da heißt's gleich: der Judenknecht!".59 Dr. Samuels bürgerliches Milieu - der millionenschwere Börsenjude Rheinberg, der kleine Börsenmakler Wasserstein, der abtrünnige Arzt Dr. Bichler und Rabbi Friedheimer - wird von Herzl schonungslos als oberflächlich, materialistisch und unheilbar von seinen „Ghetto"-Zügen verzerrt geschildert. Dem an der Börse spekulierenden Rabbi Friedheimer ist es aber dennoch erlaubt, das Ghetto zu verteidigen, weil es die patriarchalischen Familienweite bewahrt habe. Er warnt Jacob: „Als das wirkliche Ghetto noch bestand, durften wir es ohne Erlaubnis nicht verlassen - bei schwerer Leibesgefahr. Jetzt sind die Mauern und Schranken unsichtbar, wie Sie sagen. Aber auch dieses moralische Ghetto ist unser vorgeschriebener Aufenthaltsort. Wehe dem, der hinaus will!"60 Jacob Samuel, der den Rabbiner zur Tür begleitet, scheint die Ansicht des Autors zum Ausdruck zu bringen, wenn er sagt: „Herr Doktor, diese Schranken müssen wir nur anders brechen, als jene alten. Die äußeren Schranken mußten von außen hinweggeräumt werden - die inneren müssen wir abtragen. Wir selbst. Aus uns heraus."61 Die Flucht aus dem Ghetto sei viel mehr als der einfache Kampf gegen nichtjüdische Antisemiten. Sie sei vor allem eine Selbstemanzipation von den negativen

Oberrabbiner Moritz Güdemann (1835-1918)

II

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Dr. Josef Samuel Bloch (1850-1923)

Bildtafel

III

Dr. Nathan Birnbaum (1864-1937), der den Ausdruck Zionismus prägte

Vier Studenten der Wiener Verbindung Kadimah um 1895

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Baron Moritz von Hirsch (1831-1896)

Dr. Theodor Herzl (1860-1904) um 1897

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Dr. Julius Ofner (1845-1924)

Dr. Viktor Adler (1852-1918), Führer der Osterreichischen Sozialdemokratischen Partei

Bildtafel

VII

VIII

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Arthur Schnitzler (1862-1931)

Der junge Philosoph Otto Weininger (1880-1903)

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jüdischen Eigenschaften. Im Dezember 1894 schrieb Herzl an Arthur Schnitzler: „Ich will durchaus keine Verteidigung oder .Rettung' der Juden machen, ich will die Frage nur mit aller Macht zur Diskussion stellen! ... Ich will gar kein sympathischer Dichter sein. Aussprechen will ich mich - von der Leber und vom Herzen weg."62 Das neue Ghetto, das Herzls Lieblingsstück bleiben sollte, wurde erst am 5. Jänner 1898 im Wiener Carl-Theater aufgeführt, wo es 25mal gespielt wurde. Es stellt einen wichtigen Meilenstein in Herzls Hinwendung zu einer neuen Wahrnehmung der „Judenfrage" dar.65 Wie in früheren Stücken gab es ein deutliches Element der Sozialkritik, das sich besonders gegen die Verehrung des Geldes und die moralische Dekadenz der jüdischen und nichtjüdischen Mittelschicht wandte. Jacob Samuel verspricht an einer Stelle, einem Bergwerksbesitzer zu helfen, um Arbeiterposten zu sichern und eine Katastrophe in der Mine zu verhindern, deren Gelder von ihrem geadelten Besitzer, Hauptmann von Schramm, in unverantwortlicher Weise verpraßt worden waren. „Sie tragen selbst die Schuld", sagt Samuel dem Besitzer (nachdem die Mine überflutet worden war, was auf sinnlose Weise Menschenleben gekostet hatte), denn „während Sie Ihren noblen Passionen nachjagten, ließen Sie Ihre Sklaven für sich unter der Erde roboten ... für elende Hungerlöhne."64 Hier wie an anderer Stelle brachte Herzl seine Abneigung gegenüber dem tyrannischen Einfluß des Geldes auf die Gesellschaft zum Ausdruck, der ihn immer deutlicher erkennen ließ, daß es notwendig war, einen neuen Typus des Juden zu schaffen, der frei von jeglicher Spur eines egoistischen Materialismus war.65 1894 sagte er Ludwig Speidel: „Ich begreife den Antisemitismus. Wir Juden haben uns, wenn auch nicht durch unsere Schuld, als Fremdkörper inmitten verschiedener Nationen erhalten. Wir haben im Ghetto eine Anzahl gesellschaftswidriger Eigenschaften angenommen. Unser Charakter ist durch den Druck verdorben, und das muß nun durch einen anderen Druck wieder hergestellt werden. Tatsächlich ist der Antisemitismus die Folge der Judenemanzipation."66 Der Zionismus wurde für Herzl schließlich zu dem Weg, auf dem die Korruption überwunden werden konnte, die eine Folge der in erster Linie am Geld orientierten Werte im jüdischen Leben der Mittelschicht war. In einem Brief an Baron Hirsch hatte er am 5. Juli 1895 geschrieben: „Sie sind der große Geldjude, ich bin der Geistesjude. Daher kommen die Verschiedenheiten unserer Mittel und Wege."67 Herzl wollte die verderbliche Beschäftigung mit dem Mammon gemeinsam mit anderen „Ghetto"-Ziigen wie der übertriebenen Einschränkung, Schüchternheit und Angst ausrotten, die der Bildung einer unabhängigen Nation im Wege standen. Für ihn bedeutete der Zionismus eine radikale Verlagerung der Werte im Sinne Nietzsches, das Schmieden des „edlen Ideals eines neuen Juden, eines Menschen, der durch den Mythos der Ritterlichkeit lebte" und die Antithese zur alten Ghettokultur darstellen würde.68 Eine Tagebucheintragung vom 8. Juni 1895, die er nach einem Abendessen

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mit einigen jüdischen Freunden der Mittelschicht niederschrieb, zeigt, wie sehr er sich der gähnenden Kluft zwischen seinem eigenen Ego-Ideal und jenem seiner Wiener Umgebung bewußt war. „Wohlhabende, gebildete, gedrückte Menschen. Sie stöhnen leise über den Antisemitismus, auf den ich fortwährend das Gespräch brachte. Der Mann erwartet eine neue Bartholomäusnacht. Die Frau meint, daß es nicht mehr schlechter werden könne. Sie stritten, ob es gut oder schlecht sei, daß Luegers Wahl zum Bürgermeister von Wien nicht bestätigt werde. Sie haben mich mit ihrer Mattigkeit ganz verzagt gemacht. Sie ahnen es nicht, aber sie sind Ghettonaturen, stille, brave, furchtsame. So sind die meisten. Werden sie den Ruf zur Freiheit und Menschwerdung verstehen?"69 In Herzls Gespräch mit Baron Hirsch im Juni 1895 wurde deutlich, daß er den Zionismus als Mittel sah, um die Rasse emporzuheben, sie für den Krieg zu stärken, tugendhaft zu machen und in der Liebe zur Arbeit zu erziehen.70 Die Ermutigung zu Taten von „großer moralischer Schönheit", zu actions d'eclat, gehörte zur Vorbereitung auf das „wahre Menschsein", das die Juden vom Erbe des Ghettos und ihren ärmlichen Tätigkeiten befreien würde. 71 Daß Herzl so sehr die Bedeutung einer Fahne („mit einer Fahne führt man die Menschen, wohin man will"), der Phantasie, von Visionen und Imponderabilien bei der Organisation der breiten Masse betonte, war Teil desselben instinktiven Wissens um die psychologische Dynamik hinter nationalistischen Bewegungen. 72 Die Dimension der Ästhetik, die Vorhebe für theatralische Gesten und das Gespür für die Bedeutung von Liturgie, Mythos und Symbolismus waren vielleicht das am deutlichsten Wienerische an Herzls Politik.73 In seiner Sammlung fragmentarischer Gedanken für den Judenstaat bekannte Herzl: „Und eigentlich bin ich darin noch immer der Dramatiker. Ich nehme arme, verlumpte Leute von der Straße, stecke sie in herrliche Gewänder und lasse sie vor der Welt ein wunderbares, von mir ersonnenes Schauspiel aufführen."74 Diese Kunst der dramatischen Orchestration, mit der er die Phantasie der breiten Masse der Juden fesselte und der Außenwelt den Zionismus als politische Bewegung ins Bewußtsein rückte, perfektionierte er im Wien des Fin de Steele. Die Fähigkeit, die Illusion der Macht zu erwecken und in einem demoralisierten und zerstreuten Volk zunächst eine entsprechende Stimmung zu schüren und dann den festen Willen zu schmieden, nach dem Status einer Nation zu streben, war vor allem der theatralischen Begabung zu verdanken, die sich Herzl in seiner vorzionistischen Zeit angeeignet hatte.75 „Die Politik eines ganzen Volkes - besonders, wenn es so in aller Welt zerstreut ist", sagte er einmal, „macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bän-

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dem - und in kurzer Zeit." 76 Dasselbe theatralische Flair prägte auch den von ihm als elegantes, eindrucksvolles und festliches Spektakel veranstalteten Ersten Zionistischen Kongreß, wobei er unerbittlich daran festhielt, daß die Delegierten feierlich gekleidet erscheinen sollten.77 Peter Loewenberg beschrieb diese Begabung treffend: „Herzl war ein Mann des Theaters, der das Theater in die Politik brachte, indem er aus der Politik ein Schauspiel machte. Er verfugte über die Fähigkeit, vom Irrealen zum Realen überzugehen, die Bereiche des Schauspiels und der Politik zu vermischen, die Verzauberung der Scheininszenierung in die Welt der Diplomatie und der politischen Macht zu übertragen."78 Herzls Hinwendung zum Zionismus ging Hand in Hand mit dem unbewußten Wunsch, die Politik in ein erfolgreiches Schauspiel zu verwandeln, bei dem er selbst Regisseur, Direktor und Hauptdarsteller war.79 Das Thema des neuen Stückes, das er aufzufuhren gedachte, sollte „die ergreifende Rettung eines Volkes [sein], die Handlung waren die Vision und das Opfer eines Mannes, die alle Verschiedenartigkeit überwinden würden, das Ensemble waren die Herrscher der Nationen der Welt, und der Hintergrund war das grausame Märchen des Antisemitismus und der Rassenverfolgung in der europäischen Geschichte".80 Herzls Bekehrung zum Zionismus hatte eindeutig ein Scheitern des liberalen Projekts der Assimilation in Mitteleuropa zur Voraussetzung.81 In Der Judenstaat (1896) schrieb er: „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft; unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns, den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wie ja schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen; oft von solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine Machtfrage, wie alles im Völkerverkehre. " 8 2

Die radikal-zionistische Ansicht, der Antisemitismus hätte die liberalen assimilationistischen Ziele unmöglich gemacht, wurde oft dem Einfluß der Affäre Dreyfus auf Herzl zugeschrieben. Natürlich war er Zeuge der Degradierung von Hauptmann Alfred Dreyfus (einem französisch-jüdischen Offizier, der für schuldig befunden wurde, militärische Geheimisse an die Deutschen verkauft zu haben) in Paris am 22. Dezember 1894. Seine Korrespondentenberichte zeigen, daß er vom Schrei des Pariser Pöbels in der icole Militaire schockiert war: „Ä mort! Ä mort les juifs!" 83 Herzls Kommentare zum Dreyfus-Prozeß legen indes keine direkte Verbindimg zu

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seiner Bekehrung zum Zionismus nahe.84 Erst nach der Verkündigung des zweiten Schuldspruches gegen den jüdischen Offizier im September 1899 kam Herzl öffentlich zu dem Schluß, daß das Schicksal Dreyfus' fur das Schicksal aller Juden in der modernen Gesellschaft stand: „Er ist der Jude in der modernen Gesellschaft, der versucht hat, sich der Umgebung anzupassen, ihre Sprache redet, ihre Gedanken denkt, ihre Schnüre an seinen Rock näht - und dem die Schnüre mit Gewalt abgerissen werden."85 Fast fünf Jahre nach dem ersten Prozeß schrieb Herzl in einem Artikel für die North American Review (1899) erstmals, die Affäre Dreyfus hätte aus ihm einen Zionisten gemacht.86 Es hätte sich nicht einfach um einen Justizirrtum gehandelt, sondern „er erhält den Wunsch der ungeheuren Mehrheit in Frankreich, einen Juden und in diesem einen alle Juden zu verdammen".87 Herzl folgerte nun daraus, „das Volk, wenigstens ein sehr großer Teil davon, will nicht mehr die Menschenrechte für die Juden. Das Edikt der großen Revolution wird widerrufen."88 Selbst wenn wir davon ausgehen, daß Herzl die Gewalttätgkeit des französischen Antisemitismus im Zuge der Dreyfus-Affare schockierte, untermauern die vorliegenden Beweise nicht die weitverbreitete Ansicht, letztere wäre dafür entscheidend gewesen, ihn zu einem echten Zionisten zu machen.89 Kein einziges Wort über Hauptmann Dreyfus im frühen Teil von Herzls Zionistischen Tagebüchern, die nur vier Monate nach der Degradierungsszene begonnen wurden, deren Zeuge er in der icole Militaire gewesen war. Auch in den Tagebüchern wird das Thema kaum behandelt. Im Judenstaat wird der Fall völlig beiseite gelassen, und der französische Antisemitismus ist für ihn kaum mehr als ein gesellschaftliches Ärgernis.90 Dieses Schweigen steht in einem krassen Gegensatz zu Herzls ständiger Beschäftigung mit Wien und dem Anwachsen des österreichischen Antisemitismus in seinen Tagebüchern, was angesichts der überwältigenden Wahlsiege Luegers in der Heimat nicht überrascht.91 Der Judenstaat sollte daher nicht auf einen bestimmten Anlaß, sondern vielmehr auf eine Folge von politischen Ereignissen in Frankreich und Osterreich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und deren Beziehung zu Herzls komplexer Persönlichkeit zurückgeführt werden. Diese Broschüre wurde tatsächlich in einem halb-mystischen Zustand der Ekstase und der Besessenheit geschrieben.92 Herzl war sich völlig darüber im klaren, daß man seinen zionistischen Plan als extravagante Gedankenspielerei eines Spinners abtun könnte und daß es (wie er an Bismarck schrieb) „der erste Gedanke jedes vernünftigen Menschen sein muß, mich auf eine Beobachtungsstation zu schicken - Abteilung für Erfinder steuerbarer Ballone".93 Trotz Herzls zeitweiser Selbstzweifel war sein Judenstaat im wesentlichen eine nüchterne und rationale Analyse der „Judenfrage" mit einem detailliert ausgearbeiteten praktischen Operationsplan. Im Gegensatz zu früheren liberalen Ansichten, de-

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nen zufolge der Antisemitismus ein rudimentäres Relikt des Mittelalters sei, sah Herzl in diesem ein Ergebnis der Emanzipation - ja, eine Folge von deren äußerem Erfolg. Die Juden, so meinte er, seien bereits im Ghetto zu einem bürgerliche Volk geworden. Durch die Emanzipation seien sie zu besonders gefahrlichen wirtschaftlichen Konkurrenten für die nichtjüdische Mittelschicht geworden. Eine immer raschere Assimilation in die breitere Gesellschaft und der zunehmende christliche Neid auf den jüdischen Reichtum hätten den Antisemitismus verschärft; gleiches gilt für die gutgemeinten Antworten der Juden wie etwa die Emigration - die den Antisemitismus nur in jene Länder getragen hätte, in welche die Juden auswanderten oder den Sozialismus, der die exponierte Stellung der Juden an den wichtigen Schaltstellen der kapitalistischen Gesellschaft nur unterstrichen hätte.94 Die Ursachen für den Antisemitismus könnten nicht einfach weggewischt werden und seien in der Struktur des Lebens der Juden in der Diaspora verwurzelt: „Wir sind, wozu man uns in den Ghetti gemacht hat. Wir haben zweifellos eine Überlegenheit im Geldgeschäfte erlangt, weil man uns im Mittelalter darauf geworfen hat. Jetzt wiederholt sich der gleiche Vorgang. Man drängt uns wieder ins Geldgeschäft, das jetzt Börse heißt, indem man uns alle anderen Erwerbszweige abbindet. Sind wir aber in der Börse, so wird das wieder zur neuen Quelle unserer Verächtlichkeit. Dabei produzieren wir rastlos mittlere Intelligenzen, die keinen Abfluß haben und dadurch eine ebensolche Gesellschaftsgefahr sind, wie die wachsenden Vermögen. Die gebildeten und besitzlosen Juden fallen jetzt alle dem Sozialismus zu." 95

Herzl sah im Antisemitismus eine äußerst komplexe Bewegung. Er glaubte zu erkennen, was im Antisemitismus „roher Scherz, gemeiner Brotneid, angeerbtes Vorurteil, religiöse Unduldsamkeit - aber auch, was darin vermeintliche Notwehr ist".96 Er unterstrich, daß die Judenfrage vor allem „eine nationale Frage" sei, „und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird".97 Diese Vorurteile könnten in der Theorie durch eine völlige Assimilation (ζ. B. Heirat untereinander) überwunden werden. Dieser sozio-historische Prozeß war aber in der nichtjüdischen Mittelschicht, auf die sich die „Judenfrage" konzentrierte, abgeblockt worden.98 Herzl jedenfalls glaubte nicht mehr daran, daß die Juden sich als Volk assimilieren könnten oder sollten, ja nicht einmal es wünschten. „Die Volkspersönlichkeit der Juden kann, will und muß aber nicht untergehen. Sie kann nicht, das hat sie in zwei Jahrtausenden unter ungeheuren Leiden bewiesen. Sie muß nicht, das versuche ich in dieser Schrift nach vielen anderen Juden, welche die Hoffnung nicht aufgaben, darzutun. Ganze Aste des Judentums können absterben, abfallen; der Baum lebt." 99

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Herzl machte kein Hehl daraus, daß er die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse, sondern in erster Linie für eine nationale Frage hielt.100 Da man vernünftigerweise nicht hoffen durfte, der Antisemitismus würde verschwinden, sollte möglichst rasch gemeinsam mit den Großmächten ein geordneter Exodus der Juden in ihre eigene Heimat und die dortige Gründung eines souveränen jüdischen Staates besprochen werden. Der freiwillige Abzug der Juden würde von keinerlei wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, Krisen oder Verfolgungen begleitet werden, sondern im Gegenteil das Ziel und damit auch die Motivation des Antisemitismus aus dem Wege räumen. Die Verantwortung für diesen Exodus würde eine Gesellschaft mit dem Namen Society of Jews übernehmen, die in London gegründet werden sollte. Die Neubesiedlung sollte von der Jewish Company organisiert werden, der das längste Kapitel in Herzls Broschüre gewidmet ist.101 Was die Schlüsselfrage des Siedlungsgebietes betraf, schwankte Herzl 1896 noch zwischen Palästina und Argentinien, obwohl er eindeutig zu „unserer unvergeßlichen historischen Heimat" tendierte. Der Judenstaat konfrontierte die internationale Politik mit dem Zionismus und erzwang, wie Herzl gehofft hatte, eine Diskussion der „Judenfrage". Er war der Startschuß für Herzls über sieben Jahre dauernde Beschäftigung mit der Organisation und der Diplomatie an der Spitze der weltweiten Zionistischen Bewegung, die am Ersten Kongreß in Basel (29.-31. August 1897) ins Leben gerufen wurde.102 Darüber wurde aber schon andernorts viel geschrieben, und wir wollen uns nicht länger bei diesem Thema aufhalten, außer wenn es um die Geschichte der Wiener Juden geht - eine Gemeinde, mit deren Führung Herzl bald in Konflikt geraten sollte. Wie groß auch immer die persönliche Achtung, ja Bewunderung war, die man Herzl entgegenbrachte, die Bewegung, für die er stand, blieb für die Kultusgemeinde ein Greuel.103 Um die Verbitterung eines Großteils der bürgerlichen Wiener Juden über Herzl besser verstehen zu können, müssen wir uns vor Augen halten, welch begeisterte Zuneigung und Wertschätzung dem präzionistischen Feuilletonisten der Neuen Freien Presse und dem Literaten von Jung Wien einst von eben denselben Kreisen entgegengebracht wurde. Vor 1896 waren sie fasziniert von seinen geistreichen, sprühenden Aufsätzen mit ihrem Pathos, ihrer Klarheit und ihrem Charme, von der Eleganz seiner Aphorismen und der Raffinesse seines ironischen Skeptizismus; auch Stefan Zweig zählte dazu.104 Die entscheidendste persönliche Konsequenz dieser Verärgerung, dieses Spotts, ja dieser Feindseligkeit, die Herzl in Hinkunft über sich ergehen lassen mußte, war die Auswirkung auf seine Stellung bei der Neuen Freien Presse. Die Zeitung, für die er seit seiner Rückkehr aus Paris im Jahre 1895 als Literaturredakteur gearbeitet hatte, blieb wie eh und je eine Hochburg des deutsch orientierten Liberalismus und des kosmopolitischen jüdischen Intellektualismus in seiner klassischen assimilatio-

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nistischen Vielfalt. Ihr Eigentümer und Herausgeber Moriz Benedikt (1849-1920) meinte einmal Raoul Auernheimer (1876-1948), einem Cousin Herzls und bekannten Mitglied des Literaturkreises Jung Wien gegenüber: „Ich bin nicht pro-jüdisch; ich bin nicht απίτ-jüdisch, ich bin α-jüdisch."105 Die Neue Freie Presse verfolgte den radikalen, antiliberalen Bewegungen gegenüber (einschließlich des Antisemitismus) traditionell eine Politik der Passivität, des Schweigens und des Abwartens, eine Strategie, mit der Herzl eindeutig gebrochen hatte. Schon vor seiner Hinwendung zum Zionismus wurde Herzls kühner Rat an Eduard Bacher (1846-1908), den Mitherausgeber und Eigentümer der Zeitung, die österreichischen Liberalen sollten für das allgemeine Wahlrecht eintreten, rundweg abgelehnt. Bei wichtigen politischen Angelegenheiten sahen Herzls Vorgesetzte in ihm immer noch einen Plauderer und Feuilletonisten.106 Dennoch hatte er gehofft, seine im Judenstaat zu Papier gebrachten Ideen würden bei Bacher auf ein offenes Ohr stoßen. Nach ihrem ersten Gespräch über dieses Thema im September 1895 aber war klar, daß „er [Bacher] sie vielmehr aufs entschiedenste bekämpfen würde". 107 Bacher hielt die antisemitische Bewegung „für eine vorübergehende, allerdings unangenehme Bewegung.108 Als Herzl kurz darauf in einem Gespräch mit Moriz Benedikt das Thema anschnitt, lehnte es der Herausgeber entschieden ab, die Kolumnen der Neuen Freien Presse für eine Diskussion des Zionismus zu öffnen, wobei er argumentierte: „Ihr Gedanke ist eine fürchterliche Mitrailleuse, die aber auch nach hinten losgehen kann."109 Herzl erkannte, daß seine Entschlossenheit, am Zionismus festzuhalten, unweigerlich zu einem Konflikt mit seinen Wiener Arbeitgebern führen mußte, wobei möglicherweise seine Zukunft bei der Zeitung auf dem Spiel stand.110 In einem Gespräch am 3. Februar 1896 warnte Bacher Herzl, die Antisemiten könnten seine Behauptung über die Unfähigkeit der Juden zur Assimilation aufgreifen und würden dabei seinem Text entnehmen, was ihren Zwecken dienlich war und es „dauernd" zitieren.111 Am nächsten Tag legte Benedikt Herzl mit allem Nachdruck nahe, von der Veröffentlichung seines Judenstaates abzusehen, mit der Begründung, er würde damit sein etabliertes literarisches Prestige riskieren und der Zeitung schaden. Der Zionismus, so meinte er, widerspreche den liberalen Grundsätzen der Neuen Freien Presse. Benedikt hielt es für falsch, daß Herzl die „ungeheure moralische Verantwortung" auf sich nahm, „diese Lawine ins Rollen zu bringen, so viele Interessen zu gefährden. Wir werden das jetzige Vaterland nicht mehr und den Judenstaat noch nicht haben."112 Herzl, der in der Londoner Jewish Chronicle bereits eine Synopsis seines Judenstaates veröffentlicht hatte, wollte sich diesem Druck nicht beugen.113 Benedikt auf der anderen Seite drohte ihm, redete ihm gut zu, schmeichelte ihm, indem er ihn als einen „unserer hervorragendsten Mitarbeiter, ein Stück der Neuen Freien Presse" bezeichnete - alles vergebens.114

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Die ständigen Streitigkeiten mit seinen Arbeitgebern wurden noch heftiger, als Herzl 1897 die zionistische Wochenzeitschrift Die Welt gründete und es durchsickerte, daß eine Reihe ihrer führenden Autoren auch zum Stab der Neuen Freien Presse gehörten. Am 18. Juni 1897 ließ der autoritäre Benedikt Herzl wissen, daß Die Welt entweder eingestellt werden oder er andernfalls alle Verbindungen zu dieser Zeitung abbrechen müsse. Herzl schildert die Auseinandersetzimg wie folgt: „Benedikt sucht mir meinen ,Trotz' freundschaftlich auszureden. Dann eine Drohung: ich dürfe nicht auf Urlaub gehen, bevor ich ihm nicht eine definitive Antwort gegeben, das heißt, das Erscheinen der ,Welt' eingestellt habe. Dann ein Versprechen: er bürge mir dafür, daß ich es nicht bereuen werde, wenn ich seinen Wunsch erfülle ... Ich dürfe auch auf dem Kongreß keine hervorragende Rolle spielen, ich dürfe nicht hervortreten."115

Nachdem er zuerst „mit allem Druck seiner Stellungsmacht auf mich zu wirken versucht hatte", bestritt Benedikt anschließend jeglichen Versuch einer Einschüchterung seinen Literaturredakteurs: „Ich will ja keinen Gewissensdruck auf Sie ausüben nur insoweit es der N. Fr. Presse abträglich sein kann, dürfen Sie nichts machen."116 Bacher war freundlicher und väterlicher zu Herzl, auch wenn er Benedikts Drohung gegen Die Welt wiederholte und ihn nachdrücklich davor warnte, ein zionistischer „Wanderprediger" zu werden.117 Am 19. März 1897 gestand ihm Bacher sogar ein, daß er gerne Palästina besuchen würde. Er erzählte ihm eine alte jüdische Legende von der Entstehung der Altneuschul in Prag (der berühmten Altneusynagoge) und sprach von der Kontinuität des nationalen jüdischen Bewußtseins über die Jahrhunderte hinweg.118 Herzls Vorgesetzte blieben aber dennoch unerbittlich, was ihre Weigerung anbelangte, in ihrer mächtigen Zeitung für die Sache des Zionismus Werbung zu machen, ja über diesen auch nur zu diskutieren. Privat hielten sie Herzls Engagement in der Zionistischen Bewegung für töricht und unverständlich, ja geradezu für verrückt. Andererseits wollten sie nicht auf seine wertvollen Dienste als Literaturredakteur verzichten. Herzl wiederum war aufgrund seiner hohen Ausgaben für den Zionismus mehr denn je von seinem Einkommen bei der Neuen Freien Presse abhängig. Am 24. August 1899 schrieb er: „Ich muß vor der Entlassung zittern, kann nicht wagen, mir den Gesundheitsurlaub zu nehmen, nachdem ich sechs Wochen fort war, allerdings nur im Zionismus tätig. So komme ich heute wieder einmal in die Redaktion, nachdem ich in Basel ein freier und großer Herr war, und muß demütig wie ein Kommis beim Herrn Prinzipal Bacher eintreten."119

Als wandernder jüdischer Staatsmann ohne Staat war Herzl daher gezwungen, nach

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1897 in Wien ein schizophrenes Leben zu fuhren. Er war gleichzeitig der gefeierte Führer einer internationalen Bewegung und der „flir einen Hungerlohn" arbeitende Angestellte der mächtigen Neuen Freien Presse, über dem ständig das Damoklesschwert schwebte, die Vernachlässigung seiner Pflichten könnte ihn eine unerläßliche Einkommensquelle kosten. Außerdem war es für den Fortschritt der zionistischen Bewegung in Osterreich äußerst hinderlich, daß er Benedikt nicht zu überzeugen vermochte, die Existenz dieser Bewegung anzuerkennen. In einem Gespräch mit dem in Polen geborenen österreichisch-ungarischen Außenminister Graf Agenor von Goluchowski am 30. April 1904 kommentierte Herzl diese Enttäuschung voller Ironie: „Hier in Osterreich", sagte Herzl, „sei die Sache wegen des Schweigens der N. Fr. Pr. wenig bekannt. Erklärung: Benedikt gebe die Existenz eines jüdischen Volkes nicht zu, die ich behaupte. ,La preuve c'est que j'en suis. - ,Et lui', fragte Goluchowski, ,qu'estce qu'il est? Protestant?' - ,Νοη, il appartient ä une espece que je n'ai jamais vue: il est Autrichien. Je connais des Allemands, des Polonais, des Tcheques - je n'ai jamais vu un Autrichien.' - Der österreichische Minister des Auswärtigen lächelte zustimmend."120

Eine weitere Enttäuschimg für Herzl in seiner Wahlheimatstadt Wien war die Familie Rothschild. Der Judenstaat wax ursprünglich als 20.000 Worte umfassende „Rede an die Rothschilds" gedacht gewesen, und Herzl hatte sich nachdrücklich darum bemüht, diese für sein Projekt zu gewinnen.121 Er war überzeugt, daß mit deren Hilfe eine Lösimg der Judenfrage wesentlich einfacher wäre, ohne sich an die breite Masse wenden zu müssen.122 In der „Rede" versuchte er zu beweisen, daß die Juden, und vor allem das Haus Rothschild, durch den Antisemitismus ernsthaft bedroht waren. In Rußland würde das Eigentum der Juden eingezogen werden, in Deutschland würde es eine anti-jüdische Gesetzgebung geben, und in Osterreich würde ein Welle von Pogromen einsetzen. Die Juden würden aus all diesen Ländern ausgewiesen und einige auf der Flucht getötet werden. Um diese Gefahr zu verhindern, mußte daher ein jüdischer Staat geschaffen werden, und die Rothschilds sollten ihr Kapital in dieses Unternehmen investieren.123 Für Herzl stand es außer Frage, daß die Familie Rothschild die von ihm geplante „Society of Jews" und die „Jewish Company" leiten sowie die politische Arbeit für die Errichtung eines neuen Staates in die Hand nehmen sollte. Weder sein Vater Jacob (der von Beginn an nicht an die Möglichkeit einer Mitarbeit der Familie Rothschild glaubte) noch Rabbi Güdemann, ja nicht einmal sein engster Mitarbeiter Max Nordau vermochten Herzl von seinem Vorhaben abzubringen.124 Über Moritz Güdemann hoffte Herzl, ein Treffen mit Albert von Rothschild (1844-1911), dem Chef des Wiener Zweiges der Familie, arrangieren zu können, um ihm die „Rede" vorzulegen. Ungeduldig angesichts der Verzögerungen, schrieb

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Herzl am 28. Juni 1895 einen langen persönlichen Brief an Albert Rothschild, in dem er sich bereit erklärt, aus Paris nach Wien zu reisen, um ihm seine Ideen zu unterbreiten. Herzl schrieb dem Wiener Rothschild: „Ich versuche nur, dem Antisemitismus dort beizukommen, wo er entstanden ist und wo er noch seinen Hauptsitz hat: in Deutschland. Ich halte die Judenfrage für äußerst ernst. Wer da glaubt, daß die Judenhetze eine vorübergehende Mode sei, irrt schwer. Es muß aus tiefen Gründen immer ärger werden, bis zur unvermeidlichen Revolution."123

Albert Rothschild würdigte diesen Brief keiner Antwort und zeigte keinerlei Interesse an der „Rede", eine äußerst verletzende Abfuhr, die Herzl schließlich veranlaßte, seinen Entwurf als Der Judenstaat zu veröffentlichen, nachdem er zuvor einige direkt an die Familie Rothschild gerichteten Abschnitte gestrichen hatte. Zu seinem Leidwesen mußte er erkennen, daß es leichter war, eine Einladung vom türkischen Sultan, dem deutschen Kaiser, von Staatsmännern des Russischen Reiches, Ministern des britischen Kabinetts, ja selbst von seiner Heiligkeit dem Papst zu bekommen als von der Familie Rothschild. Herzl bemühte sich aber weiterhin darum, die englischen und französischen Rothschilds für seine Sache zu gewinnen, auch wenn Albert Rothschild in Hinkunft tabu war. In seinem Roman Altneuland (1902) sollte Herzl ihn auf wenig schmeichelhafte Weise zum Vorbild für seinen Baron von Goldstein nehmen. Herzls Umgang mit reichen, einflußreichen Juden wie den Rothschilds und Baron Hirsch ist von einer gewissen Mehrdeutigkeit seiner Einstellung zur Hochfinanz gekennzeichnet. Er glaubte offensichtlich an die große historische Mission, die den Rotschilds und Hirsch anvertraut war - die Organisation des jüdischen Exodus aus Europa.126 Ihre finanziellen Ressourcen waren ein wesentlicher Teil seiner Strategie, mit der er die Unterstützung des türkischen Sultans und der europäischen Großmächte für die Ansiedlung der Juden in Palästina zu gewinnen suchte. Als Herzl von ihnen keine Antwort erhielt, drohte er unverzüglich mit der Mobilisierung der breiten Masse der Juden gegen die Plutokratie. 127 Seine Warnungen an die reichen Juden klangen gewissermaßen einschüchternd und demagogisch. Trotzdem war Herzl kein sozialistischer Wolf im Schafspelz. Er anerkannte beispielsweise die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Börse. Er tendierte aber auch dazu, die „Börsenjuden" für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich zu machen. 128 Wie sein bekannter Wiener Zeitgenosse Theodor Hertzka suchte auch Herzl nach einem Mittelweg zwischen Liberaüsmus und Marxismus, wo private Unternehmen möglich waren, die Wohlfahrt der Annen aber gleichzeitig durch eine aufgeklärte Sozialpolitik gesichert war. Schon vor seiner Bekehrung zum Zionismus zeigte Herzl eine ausgeprägte Sensibilität für das menschliche Leid und die wirtschaftlichen Ungleichheiten der bürgerlichen Gesellschaft. 1893 schlug er der österreichischen Regierung einen Plan zur

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assistance par travail (Hilfe durch Arbeit) nach westeuropäischem Vorbild vor, um die Arbeitslosen wieder einer produktiven Arbeit zuzuführen.129 In Wien unterstützte er den Streik der ausgebeuteten Straßenbahner für eine Verkürzung ihres Arbeitstages, obwohl Juden zu den Aktionären der Straßenbahngesellschaft gehörten.130 In seinen Anmerkungen und Notizen zum Judenstaat schrieb er im Juni 1895: „Frauen und Kinderarbeit in Fabriken gibt's nicht. Wir brauchen rüstige Geschlechter. Für bedürftige Frauen und Kinder sorgt der Staat."131 Am 12. Juni 1895 kam Herzl der Gedanke, daß er vielleicht viel mehr als die Judenfrage löste, nämlich „tout bonnement die soziale Frage!" Der Schlüssel lag in der Schaffung „neuer Verhältnisse" auf jungfräulichem Boden, die zeigen würden, wie die Menschheit von „alten Mißständen, langen Versumpfungen, ererbtem und erworbenem Unrecht befreit werden könnte".132 Der Vorwurf, mit dem Staatssozialismus zu hebäugeln, störte Herzl nicht, „es wäre vorausgesetzt, daß der Staat das Rechte will" und nicht den Vorteil einer Gruppe oder Kaste, sondern „das mähliche Aufsteigen aller zu den fernen hohen Zielen der Menschheit".133 Der Judenstaat war von modernen weltlichen Ideen und nicht von einem messianischen Traum der Wiederherstellung des alten Königreiches Davids und dessen sakralem Glanz inspiriert. Er hatte eine offene, pluralistische, von allem nationalistischen oder kirchlichen Druck freie Gesellschaft vor Augen. Gleichzeitig brach Herzl mit dem klassischen Liberalismus einer Zazssez^zzre-Wirtschaft. Er skizzierte bis in Einzelheiten die Rolle des Staates bei der Organisation von Arbeitsbattaillons für die Arbeitslosen, bei der Abschaffung der städtischen Slums sowie bei der Übernahme der Verantwortung für die Pensionsversicherung, das Gesundheitswesen und die Integrität der Familie.134 Wie andere österreichische Denker auch, war Herzl von der mitteleuropäischen etatistischen Tradition des politischen Denkens beeinflußt, was seinen legalistischen Liberalismus etwas modifizierte und einigen seiner Schriften sogar einen anti-demokratischen Anstrich verlieh.135 Es gab auch einen gegen eine Planwirtschaft gerichteten Aspekt in Herzls sozialem Denken, der in seinem utopischen Roman Altneuland mit seiner Vision einer „mutualistischen", kooperativen Gesellschaft zum Ausdruck kommt, die ohne staatliche Kontrolle oder die Herrschaft professioneller Politiker funktioniert.156 In Herzls Idealstaat ist der Staat im wahrsten Sinne „entschwunden";137 es gibt keine Regierung, sondern einen Verwaltungsrat; es gibt kein Verteidigungsministerium, keine „hohe Politik" oder Grenzen, die Menschen voneinander trennen. Wirtschaftliche und technologische Überlegungen treten in bester Saint-Simonscher Tradition an die Stelle von militärischen und politischen Belangen. In Altneuland geht die neue Gesellschaft voll darin auf, sich mit der Entwicklung von Industrie, Handel, Erziehung, Wohnbau, Sozialhilfe und technischen Erfindungen zu beschäftigen. Seine Pioniere haben die utopischen sozialistischen Ideale von Fourier, Cabet, Proudhon, Louis

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Blanc, Bellamy und Theodor Hertzka übernommen und verwirklicht;138 sie haben die genossenschaftlichen Experimente der Rochdale Equitable Pioneers des 19. Jahrhunderts in die Praxis umgesetzt und die Lehren und das Vorbild des irischen Dorfes Rahaline aufgegriffen.139 In Herzls neuer Gesellschaft war das gesamte Land öffentliches Eigentum. Industrien, Banken und Zeitungen gehörten Arbeitern und Konsumenten gemeinsam, die in sauberen, wohldurchdachten Städten lebten.140 Die neue Gesellschaft war weltlich, kosmopolitisch und pluralistisch. Der Arbeitstag betrug sieben Stunden, die Frauen verfügten über das Wahlrecht, und auf die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden wurde sorgfaltigst geachtet.141 Reshid Bey, der moslemische arabische Protagonist, beispielsweise ist ein volles Mitglied dieser „Neuen Gesellschaft" und erklärt seinem ungläubigen preußischen Gegenüber Kingscourt: „Für uns alle war es [die jüdische Einwanderung] ein Segen. Selbstverständlich in erster Reihe fur die Besitzenden, die ihre Landstücke zu hohen Preisen an die jüdische Gesellschaft verkaufen konnten oder auch weiter behielten, wenn sie noch höhere Preise abwarten wollten. Ich für meinen Teil habe die Grundstücke unserer neuen Gesellschaft verkauft, weil ich dabei meine Rechnung besser fand." 142 Die arabischen Fellachen profitieren in Herzls Idealstaat ebenso von dem durch die neue Gesellschaft geschaffenen allgemeinen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt wie die Landbesitzer. Mit der Trockenlegung von Sümpfen, der Errichtung von Kanälen und der Pflanzung von Eukalyptusbäumen entlang der Straßen und Plätze vollzieht sich eine grundlegende Änderung der Lebensbedingungen. „Diese armen Menschen [arabische Mohammedaner] sind viel glücklicher geworden, sie können sich ordentlich ernähren, ihre Kinder sind gesünder und lernen etwas. Nichts von ihrem Glauben und ihren alten Gebräuchen ist ihnen verstört worden - nur mehr Wohlfahrt ist ihnen zuteil geworden." 143 Die genossenschaftliche Vision von Zion in Herzls Altneidand ist eine Verbindung der besten Traditionen des humanistischen Universalismus - beschrieben wird eine tolerante, fortschrittliche Gesellschaft, die „überall existieren [könnte], in jedem Lande". 144 Obzwar literarisch gesehen sehr hölzern, ist Altneuland auch ein sehr aufschlußreiches persönliches Dokument. Die zentrale Figur, der junge jüdische Wiener Rechtsanwalt Friedrich Löwenberg (offensichtlich ein Selbstportrait) kehrt Europa nach einer enttäuschten Liebe den Rücken. Gemeinsam mit Kingscourt, dem preußischen Junker, der seine Militärkarriere aufgegeben hat und Weltreisender geworden ist, macht er sich auf den Weg in die Südsee und besucht unterwegs das sich im Niedergang befindliche osmanische Palästina, wie dies Herzl 1898 getan hatte. Als er zwanzig Jahre später in eine blühende Modellgesellschaft zurückkehrt, begegnet Löwenberg der Familie des armen Bäckerbuben aus der Brigittenau, David Litwak, den er in Wien vor dem Hungertod gerettet hatte. Die unternehmungslustigen, hart

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arbeitenden Litwaks - Herzls Ideal einer jüdischen Familie - waren in Palästina wiedergeboren worden. David Litwak steht kurz davor, zum Präsidenten der Pioniergesellschaft ernannt zu werden. Als Gegenstück zu ihrer Ehrenhaftigkeit und Schlichtheit schildert Herzl typisch Wienerische bürgerliche jüdische Familien wie die Löfflers und die Laschners mit ihrem protzigen Reichtum und ihrem leeren Leben, Prototypen jenes selbstsüchtigen Materialismus, den er verabscheute; Zyniker wie Grün und Blau, „die zwei geistreichsten Menschen von Wien", die sich zu Beginn des Romans über den Zionismus lustig gemacht hatten; und verwöhnte, herausgeputzte, kokette Frauen wie Ernestine Löffler, die in Wien Friedrich Löwenbergs Herz gebrochen hatte. „In diesem Kreise, wo man nur für Vergnügungen und Vorteil Sinn hatte, war Geld alles. Und doch war er auf diesen Kreis der jüdischen Bourgeoisie angewiesen. Mit diesen Leuten und leider auch von diesen Leuten mußte er leben, denn sie stellten die Klientel einer zukünftigen Advokatenpraxis vor. Wenn es hoch kam, wurde man Rechtsbeistand eines Mannes wie Laschner - von dem phantastischen Glücksfalle, daß man einen Kunden wie Baron Goldstein bekam, gar nicht zu träumen. Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel gehörten zum Unzugänglichsten in der Welt. Also was? Entweder sich dem Löfflerschen Kreise einfügen, dessen niederes Lebensideal teilen, die Interessen zweifelhafter Geldmenschen vertreten ... Oder, wenn einem das alles zu ekelhaft war, die Einsamkeit und Armut." 145

Friedrich Löwenbergs Flucht aus dieser zerrütteten Mittelklassewelt versetzt ihn schließlich in den Traum einer utopischen Zukunft in Palästina. Den Ton geben nun nicht mehr jüdische Emporkömmlinge wie die Löfflers, die Laschners, die Schiffmanns und deren Freunde an. Natürlich leben auch sie im neuen Palästina, immer noch die gleichen Zyniker und Materialisten wie immer, aber sie spielen keine Rolle mehr. Ihren Platz nehmen nun ideale Menschen wie David und Miriam Litwak ein, die bescheiden, anspruchslos und würdig eine neue Art von Juden verkörpern. Sie sind für Herzl die Antithese zur Wiener jüdischen Bourgoisie seiner eigenen Zeit und Umgebimg. In der „Neuen Gesellschaft" ist kein Platz mehr für arrangierte Hochzeiten, krumme Geschäfte, Börsenspekulationen und Bettelarmut, auch nicht für jene karrieresüchtigen Politiker, die Herzl in seinen Wiener Stücken und als Journalist aufs Korn genommen hatte. Die in Eretz Israel wiedergeborene jüdische Nation war mehr als eine bloße Verlagerung des Austro-Liberalismus nach Zion. Sie beruhte auch auf einer radikalen Änderung der Wert- und Verhaltensmuster der jüdischen Mittelklassegesellschaft, die Herzl in Wien gekannt hatte. Dieser dramatische Wechsel im Ethos spiegelt etwas von Herzls eigener Persönlichkeit wider, die ein hoheitsvolles und ritterliches Verhalten, die Gabe zur politi-

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sehen Führung und einen Idealismus in sich vereinigte, der die breite Masse der Juden in Osteuropa so tief beeindruckt hatte. Letztlich waren es ihre verzweifelte Not und ihre Sehnsucht nach einem Retter gewesen, die Herzl zu jenem König-Messias werden ließen, von der er in seinen eigenen kindlichen Phantasien geträumt hatte. Seine erste Begegnung mit der breiten Masse der Juden zeugte von einem feinsinnigen Gespür für diesen dialektischen Prozeß zwischen dem Führer und den Geführten. Nach einer Versammlung im Londoner East End im Juli 1896 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich hatte auf dem Podium der Arbeiterbühne am Sonntag eigentümlichste Stimmungen. Ich sah und hörte zu, wie meine Legende entstand. Das Volk ist sentimental; die Massen sehen nicht klar. Ich glaube, sie haben schon jetzt keine klaren Vorstellungen mehr von mir. Es beginnnt ein leichter Dunst um mich herum aufzuwallen, der vielleicht zur Wolke werden wird, in der ich schreite. Wenn sie aber auch meine Züge nicht mehr deutlich sehen, so erraten sie doch, daß ich es sehr gut mit ihnen meine und daß ich der Mann der armen Leute bin."146

Im eleganten, kosmopolitischen, jüdischen Wien war der Widerstand gegen den litischen Messias um vieles stärker. Eine ironische Karikatur von Theo Zasche, 1897 in der Concordia erschien, zeigt ihn nachdenklich und Tränen vergießend einer gestürzten Säule mit der Inschrift „Jerusalem" sitzend. Darunter stehen Verse des Humoristen Julius Bauer:

podie auf die

Von Sudermann hat er den Bart, die Ironie von Heine. Doch sein Talent von starker Art gehört ihm ganz alleine. Er sieht ein Ziel, ein Ziel so weit, im Träumen wie im Wachen: Er denkt daran, in dieser Zeit mit Juden Staat zu machen.147

Eine beißende Kritik kam von dem Satiriker Karl Kraus, und der ihm von diesem gegebene Beiname „König von Zion" blieb an Herzl wie ein Kainszeichen haften und rief den Spott, die Belustigung und auch das Unbehagen jener hervor, die sich nicht erklären konnten, was „in den sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller" gefahren war.148 Für die breite Masse der armen Juden in Osteuropa und in der ganzen Welt aber hatte der unerwartete Tod Herzls am 5. Juli 1904 im Alter von nur 44 Jahren eine gänzlich andere Bedeutung. Niemand vermochte die Szene kunstvoller zu schildern als Herzls jugendlicher Protege, der Wiener Dichter Stefan Zweig:

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Ε. M. Lilien, Illustration für den 5. Zionistischen Kongreß, 1902

„Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus allen Reichen und Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche, rassische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, daß es der Führer einer großen Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, daß hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarge, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen. Und aus diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stoßhaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen."149

14. Der Zionismus und seine jüdischen Kritiker Schließlich haben die Juden seit den Tagen Moses Mendelssohns und besonders seit der großen weltgeschichtlichen Umwälzung in Frankreich deswegen ihre besten Männer ausgesandt, um ihre Anerkennung und Gleichberechtigung in den europäischen Staaten zu erkämpfen, in zahlreichen Flugschriften, auf der Tribüne wie auf der Kanzel ihre geistigen Kräftefür das hohe Ziel der Emanzipation in Bewegung gesetzt, um im Jahre 1882 alles Errungene preiszugeben, alles Erkämpfte aufzugeben, sich selbst als Fremde, Heimat- und Vaterlandlose oder, wie Sie sagen, als Vagabunden zu bekennen und, den Wanderstab in der Hand, ein problematisches Vaterland aufzusuchen?Nein. Adolf Jellinek an Leon Pinsker, Wien (1882) Der Mann der graziösen, zum Ausdruck von Stimmungen und allerlei niedlichen Sentiments, aber auch zur Manie hinneigenden Schreibeweise geht mit messianischer Erlösermine an seinfeuilletonistisches Tagewerk. Von den Gründungsplänenfür das Königreich Zion wird er in das Carltheater abberufen, wo er als Referent der „Neuen Freien Presse" über Operettenpremieren zurichtenhat und erst, wenn das Stück zu Ende, die Erhebung des jüdischen Volkes mit ansehen darf. Karl Kraus (1899) Die Zionisten werben um Stimmen, sie, die die Juden wieder ins Ghetto sperren wollen. Sie beuten den geheimen Kummer der Juden aus, daß man sie nicht als gleichberechtigt nimmt, und leiten ihren geheimen Stolz auf einfalsches Ziel. Arbeiterzeitung (Wien, März 1907) Als maralisches Prinzip und als Wohlfahrtaktion wollte er den Zionismus gelten lassen, wenn er aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee der Errichtung eines Judenstaates aufreligiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie eine unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung. Heinrich Bermann in Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie (1907) Wie sagt doch Grillparzer? „ Von Humanität - durch Nationalität - zur Bestialität." Diesen Entwicklungsgang können die Juden durch ihre Erfahrungen während der letzten Jahrzehnte am besten bestätigen, und sie sind davor gewarnt ihn selber mitzumachen. Oberrabbiner Morilz Güdemann, Nationaljudenthum (1897)

DER

WIDERSTAND

GEGEN

DEN

ZIONISMUS

INNERHALB

DER

JÜDISCHEN

Gemeinde Wiens kam aus vielen Richtungen, von religiöser und atheistischer, von

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assimilationistischer und autonomistischer Seite, von Konservativen, Liberalen und Sozialisten. Einige Juden sahen den Zionismus als reine Illusion, die nicht zu verwirklichen war, für andere war er grundsätzlich unerwünscht, und wieder anderen erschien er als schädlich, ja gefährlich.1 Religiöse Kritiker, ob Orthodoxe oder Reformer, sahen im Zionismus eine weitgehend weltliche Bewegung, die dem Wesentlichen der jüdischen Religion zuwiderlief. Sie waren der Ansicht, er widerspreche den messianischen Hoffungen auf eine göttliche Erlösung und der traditionellen Treue der Juden gegenüber ihren Wahlheimatländern in der Diaspora.2 Der Zionismus leugnete nicht nur die anerkannte Selbstdefinition des Judentums als religiöse Gemeinschaft, sein Eintreten für radikale Veränderungen im Wesen und in der Struktur des jüdischen Lebens bedeutete auch eine offene Herausforderung für die Autorität der Thora, das jüdische Establishment und seine Rabbiner.5 Für die Ultraorthodoxen stellte der Zionismus eine Profanisierung und eine Blasphemie des Thora-Judentums dar; in den Augen der Reformer war er ein engstirniger Rückzug von der universalistischen jüdischen „Mission" des Weltbürgertums auf eine anachronistische Art des Stammesnationalismus.4 Liberale Kritiker in Wien und andernorts behaupteten, der Zionismus stünde im Widerspruch zum gesamten Trend der historischen Entwicklung, die zur Assimilation und zur Verschmelzung der jüdischen Minderheit mit den sie umgebenden Nationen tendiere. Die Liberalen leugneten nicht unbedingt die Existenz einer „Judenfrage" in Wien, in der Doppelmonarchie oder in ganz Europa. Aber sie waren generell der Ansicht, der Zionismus würde den Antisemitismus nur verstärken statt ein Heilmittel dagegen zu sein. Außerdem fürchteten viele der weltlichen Juden, eine militante Betonung des jüdischen Nationalismus könnte ihre bürgerliche Stellung und ihren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen. Martin Freud sah diesen assimilationistischen Reflex folgendermaßen: „Auswandern? Wer träumte schon davon, das wunderschöne Osterreich zu verlassen, wo sie unter dem Schutz eines gütigen und mächtigen Kaisers blühten? Ihre Positionen als Bankpräsidenten, Führungspersönlichkeiten von Handels- und Industriekonzernen aufgeben? Nein! Sie wollten ihren Reichtum bewahren und ihren Kindern vermachen."5 Der „utopische" Charakter des zionistischen Projekts forderte vor 1914 derart praktische Einwände. Die Aussichten auf eine Auswanderung nach Palästina - damals ein im Niedergang begriffenes Notstandsgebiet des Türkischen Reiches - waren alles andere als reizvoll, außer für eine Handvoll verarmter Idealisten, meist junge Rebellen aus Osteuropa. Die Undurchführbarkeit des Zionismus war auch ein nützliches Zusatzargument im sozialistischen Arsenal, das gewichtigere ideologische Überlegungen unterstrich. Die meisten sozialistischen Juden in Osterreich hielten den jüdischen Nationalismus für ein überholtes Relikt aus der Ghetto-Vergangenheit. Gemäß den marxistischen Vorhersagen würde die klassenlose Gesellschaft der Zu-

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kunft den Antisemitismus endgültig ausrotten. In ihrem Sog würde die „Judenfrage" dann endgültig verschwinden.6 Die antizionistische Kritik der Linken wie der liberalen Assimilationisten leugnete entweder die Existenz einer eigenen „jüdischen Nation" oder vertrat die Ansicht, diese wäre zur raschen Auflösung verurteilt. Aus einer solchen Sichtweise konnte der Zionismus nur als marginal, unbedeutend oder als nachteilige Ablenkung vom sozialen und politischen Kampf der Arbeiterklasse in Mitteleuropa erscheinen.7 Die ersten öffentlichen Reaktionen auf den Zionismus in Wien wurden durch das Trauma der russischen Pogrome im Jahre 1881 ausgelöst. Tausende mittellose Juden strömten aus den Städten Südrußlands und der Ukraine nach Brody, Lemberg oder Tarnopol, und die überfüllten Ghettos im österreichischen Galizien machten deutlich, daß diese jüdische Auswanderung in geordneter Weise geregelt und gelenkt werden mußte. In der habsburgischen Hauptstadt und den anderen Städten Westeuropas sprossen jüdische Notkomitees aus dem Boden, um die Hilfe zu organisieren, wobei die Wiener Israelitische Allianz eine wichtige Rolle spielte. Ihr Präsident, Josef Ritter von Wertheimer, betonte aber bald, daß Palästina unter den derzeit herschenden sozialen und politischen Umständen am allerwenigsten dafür geeignet sei, mittellosen jüdischen Auswanderern einen Lebensunterhalt zu bieten. Er lobte die Bemühungen von Charles Netter und der Alliance Israelite Universelle in Paris, die Landwirtschaft und das Handwerk unter der einheimischen palästinensischen jüdischen Jugend zu fordern, hielt es aber gleichzeitig für unangebracht, das Heilige Land als Zufluchtstätte fur die russischen und rumänischen Flüchtlinge vorzuschlagen.8 Palästina sei nicht nur rückständig hinsichtlich der Industrie, des Handels und der Wissenschaft, sondern die Mehrheit der Juden lebe auch auf eine erniedrigende Weise, die der Bettelei gleichkam, von der Chaluka (Wohltätigkeit); die „chimärische" Idee, europäische Juden in diese elende osmanische Provinz zu schicken, um „ein neues großes Ghetto zu gründen," könne nur von Antisemiten oder blinden Zeloten aus den Reihen der Juden ausgedacht worden sein.9 Wertheimer schlug stattdessen eine Koordinierung der Bemühungen der Alliance Israelite und verwandter Organisationen in London, Paris, Berlin und Wien vor, um die jüdische Emigration nach Texas, Kanada und Australien zu lenken. In diesen Gebieten mit ihrer unendlichen Weite würden sie über ausreichende Möglichkeiten verfugen, ihre Fertigkeiten nutzbringend einzusetzen.10 Vorschläge für eine jüdische Kolonisierung Palästinas wurden in der Neuzeit sogar noch heftiger verurteilt als eine antisemitische Verschwörung, die darauf abzielte, das Bild der Juden als „fremde" Außenseiter in der europäischen Gesellschaft zu verstärken.11 Bereits 1882 wurde daraufhingewiesen, daß der ungarische antisemitische Führer Gyözö von Istöczy zu den glühendsten Befürwortern einer jüdischen Kolonisierung Palästinas zählte.12 Es wurde als Gipfel der Dummheit hingestellt,

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wenn reiche jüdische Philanthropen oder die Allianz Geld für eine Ansiedlung in Palästina zur Verfügung stellten, die den Kampf gegen den Antisemitismus in Europa nur noch schwieriger machen würde.13 Der Chor der osteuropäischen „Hebräisten", Neuromantiker und neuorthodoxen Besserwisser, die sich nach den russischen Verfolgungen lautstark für eine Rückkehr nach Zion einsetzten, spiele schlicht den schlimmsten Feinden des Judentums in die Hand.14 Der vielleicht scharfsinnigste Kritiker der Chovevei-Zion-Bewegung in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war der Wiener Prediger Adolf Jellinek. Bei seinem historischen Treffen mit Jellinek in Wien im März 1882 hatte Pinsker eloquent den Wunsch der verfolgten russischen Juden vorgebracht, sich als freie Menschen auf „unserer eigenen nationalen Erde" niederzulassen, um „ein communales und politisches Gemeinwesen [zu] gründen, den Nationen [zu] zeigen, daß wir nicht verkommen, daß wir vielmehr ein unverwüstlich lebenskräftiger Stamm sind, befähigt und begabt, einen wenn auch noch so kleinen Staat zu gründen". Obwohl von Pinskers Verzweiflung zutiefst bewegt, wies Jellinek dessen Behauptung entschieden zurück, die Juden würden durch die Welle des Antisemitismus, die Europa ergriffen habe, zu Vagabunden. Einen neuen Exodus zu vollziehen hieße, „unseren unversöhnlichen Gegnern, die uns jedes wahre patriotische Gefühl in Europa absprechen, recht geben".15 Jellinek versicherte Pinsker, die Wiener Juden und die aufgeklärteren Herrscher Europas, auf deren moralische Unterstützung sie zählen könnten, würden alles in ihrer Macht Stehende für ihre russischen Glaubensbrüder tun. Nach Ansicht Jellineks lag der Grund für die russischen Pogrome nicht in einem erblichen Judenhaß, sondern in der Tatsache der allzu dichten Besiedlung. „Es ist nicht gut, daß die Juden auf einzelnen Punkten in großen Massen sich ansammeln, indem ihre Expansionskraft dadurch geschwächt wird und Vorurtheil, Neid, Mißgunst und confessionelle Voreingenommenheit gegen sie mächtiger sich regen. England, Frankreich, Italien, Belgien, wo unsere Brüder am freiesten sich bewegen, zählen verhältnismäßig nur wenig Juden in ihrer Mitte, so wenig, daß Warschau und Wien allein mindestens eine ebenso große Anzahl, wie sie in den genannten Staaten sich findet, in sich bergen ... Dieser Umstand hat nach meiner Ansicht viel dazu beigetragen, daß die Lage unserer russischen Brüder eine so trübselige und traurige geworden ist. Hier muß Hilfe geschafft werden und das ist nur durch eine starke, besonnen geplante und wohlgeordnete Emigration möglich. Nach einem freien Lande und nicht etwa nach Asien, nach einem orientalischen Halbrußland, wo die offenen Hände der Pascha's nach russischen Juden riechen, der Besitz durch gewaltthätige Horden unsicher und religiöser Fanatismus unter den Strahlen des Orients ein glühender ist, sollen Ihre Landsleute auswandern und dort Colonien in großartigem Style bilden - und damit sind die ange-

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sehensten Juden Europe's und Amerika's in diesem Momente beschäftigt. Die russische Regierung hat, ohne daß sie es beabsichtigte, das Gefühl der Solidarität, der Zusammengehörigkeit, der Stammes- und Glaubensverwandtschaft in den europäischen und amerikanischen Juden in einer Weise geweckt, wie es bisher in der Geschichte noch nie geschehen ist."16 Daß Jellinek das osmanische Palästina als Emigrationsland ablehnte, wie er dies im Leitartikel der Neuzeit am 9. Jänner 1885 darlegte, hatte seinen Grund vorwiegend in der Tatsache, daß es dort weder Freiheit noch physische Sicherheit gab und die grundlegendste Infrastruktur der modernen Zivilisation fehlte.17 Es blieb ein Land, das den willkürlichen Launen der türkischen Paschas und plündernden beduinischen Räubern ausgliefert war, die von einem barbarischen Aberglauben und einem Fanatismus besessen waren. Vor allem die ultraorthodoxen Juden, die Jellinek als „culturfeindliche, dämonische Gewalt" anprangerte, stellten das größte Hindernis für eine blühende und erfolgreiche Kolonisierung dar.18 Die Sonderstellung Palästinas in der jüdischen religiösen Geschichte und seine unleugbare emotionale Anziehungskraft für die russischen Juden waren, zugegebenermaßen, positive Faktoren für eine Rückkehr in das Land der Väter. Die auf die Landwirtschaft konzentrierte Besiedlung Palästinas könnte vielleicht auch dazu beitragen, den Willen zu einer erlösenden Arbeit und zur Eingliederung in einen produktiven Arbeitsprozeß der Juden neu zu erwecken. Dennoch hielt Jellinek an seiner Ansicht fest, daß eine Kolonisierung Palästinas realistischerweise nur auf der Grundlage rein humanitärer und wirtschaftlicher Überlegungen in Betracht gezogen werden könne. Jeder Versuch, dieser Rückkehr nach Zion eine nationale oder messianische Dimension zu verleihen, sei es seitens der russischen Juden oder seitens der jüdischen nationalistischen Studenten in Wien, sollte kategorisch abgelehnt werden.19 Die „romantischen Schwärmer für Neujudäa" mit ihren „gedankenlosen Phrasen von einer jüdischen Nationalität" würden den Antisemiten lediglich einen weiteren Vorwand liefern, die westlichen Juden in ihren eigenen Heimatländern als „Fremde" zu brandmarken.20 Die Juden aber waren offenkundig keine politische Nation, und die Zukunft Zions war „eine offene Frage der großen Politik", deren Antwort eine Handvoll russischer jüdischer Zeloten nicht hoffen durfte, beeinflussen zu können.21 Die makkabäischen Feierlichkeiten der Kadimah, die im Dezember 1891 in Wien abgehalten wurden, veranlaßten Jellinek, seine ideologische Position hinsichtlich der Assimilation und des jüdischen Nationalismus genauer zu definieren. „Wo gibt es denn eine jüdische Nationalität in unserer Zeit? Wo sind denn die Bedingungen einer Nationalität? Die Juden sind ein eigener Stamm und dann eine besondere Religionsgemeinschaft. Sie sollen die hebräische Sprache, die Sprache ihrer Literatur seit Jahrtausenden pflegen, ihr reiches Schrifttum studieren, ihre Geschichte kennen-

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lernen, ihr Glaubenbekenntnis hoch halten und demselben die größten Opfer bringen, auf die Weisheit der göttlichen Vorsehung, die Verheißungen ihrer Propheten und den Entwicklungsgang der Menschheit vertrauen und hoffen, daß die erhabenen Ideen und Wahrheiten des Judentums den Sieg davontragen werden, im Übrigen aber sich den Nationen anschließen, deren Mitbürger sie sind, deren Schlachten mitschlagen und deren Institutionen zum Wohle der Gesammtheit mitfördem."22 Auch Jellinek sah in der Ehrenrettung Zions ein erhabenes jüdisches Ideal. In der Sprache der hebräischen Propheten aber oblag diese dem „yichrith Hajamim" (Ende der Tage), dem Königreich Gottes, dessen Kommen weder ein neuheidnischer Kult des makkabäischen Heldentums noch glorreiche Taten im Kampf beschleunigen konnten.23 Er hatte nichts dagegen einzuwenden, daß es Juden erlaubt werden solle, sich in Zion niederzulassen, Land zu erwerben und sich in der Landwirtschaft oder im Handel zu betätigen. Das endgültige Schicksal Jerusalems und Palästinas aber müsse der Ankunft des messianischen Zeitalters eines weltweiten Friedens überlassen bleiben. Diese anitzionistische Einstellung führte zu einer scharfen Erwiderung Nathan Birnbaums in der Selbstemanzipation. Entrüstet wies er Jellineks Kritik am „unjüdischen" Charakter des Makkabäerkultes zurück, den die Kadimah förderte.24 Birnbaum zufolge sei es nicht das Ziel des Zionismus, kriegerische Erfolge oder einzelne Helden zu verherrlichen, sondern „das Princip der thätigen Liebe zur eigenen Nation und ihren Idealen" hochzuhalten.25 Die Makkabäer seien ein Vorbild für nationale Selbsthilfe gewesen, keine säbelrasselnden Militaristen; der zeitgenössische jüdische Nationalismus sorge sich nicht so sehr um die „messianische Zeit", sondern darum, die Juden durch die Sicherstellung eines unveräußerlichen Heimatlandes vor dem materiellen und moralischen Verfall zu retten.26 Nur so würden sie in die Lage versetzt, eine unabhängige Kultur zu entwickeln und authentisch jüdische Ideale zu vertreten. Die Kontinuität des jüdischen Volkes könne nicht durch die Verschmelzung mit „arischen" Völkern gesichert werden, deren Denkweise grundsätzlich anders sei. 27 Birnbaum wies Jellineks Vorwurf entrüstet zurück, die jüdischen Nationalisten seien jugendliche „Schwärmer ohne jedes politische Verständnis". Er erinnerte den Wiener Rabbiner daran, daß es allein unter den russischen Zionisten hunderte fähige und erfahrene Männer gäbe, die in ihrem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rang Jellinek selbst nicht nachstünden.28 Seiner Ansicht nach war die Sehnsucht nach Zion ein unbändiges Gefühl, das Millionen osteuropäischer Juden und ein beträchtlicher Teil der mitteleuropäischen Juden empfanden; 29 „sie glimmt unter der Asche, welche von dem Autodafe, das die Assimilation hier mit dem Judenthum angestellt hat" und das der Zionismus entschieden zu verhindern suchte.

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Außerdem habe die Gründung einer jüdischen Heimat (Patria), wie Birnbaum bereits gegenüber dem Christlichen Verein zur Abwehr des Antisemitismus in Wien erklärt habe, nichts mit den antisemitischen Aufrufen zu „Repatriierung" der Juden nach Palästina zu tun. Dies verhindere jedoch nicht, daß dieses Argument von jüdischen Antizionisten immer wieder vorgebracht werde.30 Die Neuzeit polemisierte in den frühen 90er Jahren weiter gegen die Idee einer „jüdischen Nationalität", ob nun Juden oder Christen für sie warben.31 Jellinek hielt an seiner Meinung fest, daß ein verstreutes Volk wie die Juden, das über kein Territorium für einen souveränen eigenen Staat, geschweige denn über eine gemeinsame Geschichte, Sprache oder Kultur verfuge, bestenfalls eine Rasse oder ein Stamm sei. „Ein König ohne Land ist kein Herrscher, ein Stamm ohne selbständiges politisches und culturelles Leben kann nimmermehr als eine Nation erscheinen."32 Der von den Zionisten proklamierte ethnische Zusammenhalt der Juden sei daher künstlich. Er lasse die einzige historische Einheit außer acht, auf die das Judentum wirklich Anspruch erheben könne - jene des Bekenntnisses eines echten monotheistischen Glaubens, der den Verfolgungen der Jahrhunderte standgehalten habe.33 Jellineks Berufung auf die Kiddusch ha-Schem (Heiligung des Namens) zur theologischen Untermauerung seines Antizionismus veranlaßte Nathan Birnbaum zu einer neuerlichen polemischen Antwort. Der Gründer des österreichischen Zionismus meinte, diese mittelalterliche Bereitschaft, sein Leben für den Glauben aufs Spiel zu setzen, sei unter der jüngeren Generation der europäischen Juden kaum anzutreffen. Der hebräische Monotheismus hätte für die jüdischen Bürgerlichen, die die Wiener Ballsäle und Rennbahnen frequentierten, für die konfessionslosen Arbeiter in die Leopoldstadt und die jüdischen Studenten, die Karriere machen wollten, seine Bedeutung verloren.54 Frömmigkeit und Märtyrertum seien nicht wirklich dietypischenCharakteristika des zeitgenössischen europäischen Judentums. Die traditionellen Bande der Gruppensolidarität seien im Laufe der Jahre zerfallen. Auch könne der religiöse Glaube nicht wiederherstellen, was die Kräfte des modernen Materialismus und der gesellschaftlichen Assimilation zerrissen hätten. Da die moderne jüdische Jugend ihren religiösen Glauben verloren habe, sei „religiöse Sentimentalität" kein zugkräftiges Argument mehr gegen den weltlichen jüdischen Nationalismus.35 Nur der Zionismus hätte immer noch die Macht, eine moralische Wiedergeburt Israels zu bewirken, dessen nationale Einheit wiederherzustellen und den Geist des patriotischen Opfers für ein visionäres Ideal neu zu beleben.36 Mit dem Tod Adolf Jellineks im Jahre 1895 schwächte sich die feindselige Haltung der Neuzeit etwas ab. Herzls Judenstaat beispielsweise wurde dort ausfuhrlich und keineswegs ablehnend besprochen. Besondere Aufmerksamkeit erregten die nüchterne Betrachtungsweise und der Sinn für das Praktische dieser Broschüre.37

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Der Rezensent schien positiv überrascht von der professionellen Formulierung von Herzls Projekt. Mit einigem Erstaunen vermerkte er das Fehlen jeglicher messianischer Begeisterung für das Heilige Land der Vorväter oder die Heilige Stadt Jerusalem im Judenstaat. Die biblischen Prophezeiungen einer Rückkehr spielten für den neuen politischen Zionismus, wie er von Theodor Herzl vertreten wurde, keine erkennbare Rolle. Im großen und ganzen schien Die Neuzeit gewissermaßen erleichtert, daß Herzl sorgfaltig jede Anspielung vermied, er selbst könnte ein zweiter Moses oder der „verheißene Messias" sein.38 In einem Leitartikel vom 25. Juni 1897 wurde öffentlich begrüßt, daß die zionistische Bewegung das jüdische Stammesbewußtsein in den Herzen der akademischen Jugend zu neuem Leben erweckt habe. Dieses erneuerte Interesse an der jüdischen Geschichte und den literarischen Schätzen des Judentums wurde als positive Entwicklung angesehen, die dem Einfluß des Zionismus in Wien zugeschrieben wurde.39 Anerkennend erwähnt wurden die zionistischen Bemühungen, eine neue Hoffnung zu eröffnen, das Elend Millionen verarmter Stammesgenossen in Osteuropa durch die geplante Kolonisierung Palästinas lindern zu können. Mit lobenden Worten war in demselben Leitartikel auch von den weltlichen zionistischen Führern wie Herzl und Nordau die Rede - Männer, deren Bildimg, Intelligenz und öffentliche Stellung nicht in Frage gestellt wurden.40 Erstmals wurde in der Neuzeit darauf hingewiesen, daß der Zionismus ein jahrhundertealtes jüdisches Anliegen sei, das in der modernen Zeit zu neuem Leben erweckt worden sei, um eine konkrete Lösimg für das Problem der Massenverarmung der breiten Masse der Juden in Osteuropa anzubieten.41 Die Zeitung veröffentlichte Beiträge von Herzls engem Mitarbeiter in Sofia, dem Arzt Reuben Bierer, und dem französischen Oberrabbiner Zadoc Kahn mit positiven Stellungnahmen zum national-religiösen Zionismus;42 sogar Befürwortungen der Synthese von Thora und Zionismus seitens orthodoxer polnischer Rabbiner wurden in ihren Kolumnen abgedruckt.43 Bald erschienen in der Neuzeit auch Berichte über die Reden am Zionistenkongreß, Informationen über den Fortschritt der palästinensischen Kolonien und über neue Entwicklungen innerhalb der Bewegung, die in einem Ton gehalten waren, der an eine wohlwollende Neutralität grenzte.44 Trotz dieser Veränderungen hatte sich Die Neuzeit keineswegs zur zionistischen Idee bekehrt. Ihre Herausgeber mißbilligten weiterhin wie das Wiener jüdische Establishment, dessen Ansichten sie häufig wiedergaben, scharf den zionistischen Vorschlag, die Juden sollten eine „politische Nation" bilden. Nicht weniger entschieden verwarf Die Neuzeit die Auffassung, der Zionismus könnte eine globale Lösung für die „Judenfrage" liefern oder schließlich dazu beitragen, den Antisemitismus auszurotten. Wie der Wiener Gemeindevorstand hielt auch Die Neuzeit es fur wenig realistisch, daß die Juden Palästina in absehbarer Zukunft erwerben könnten.45 Dennoch war man nun eindeutig geneigter, den erzieherischen Wert der zionistischen

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Bewegung und deren Beitrag zur Organisation der jüdischen Selbsthilfe anzuerkennen. Die Wochenzeitung sympathisierte insbesondere mit jedem Programm, das auf eine materielle Hilfestellung für die russischen und rumänischen Juden abzielte. Der philanthropische Zionismus stand in keinerlei Widerspruch zum bürgerlichen Status der westlichen Juden. Ein interessanter Hinweis auf die allmähliche Abschwächung des Antizionismus in der Neuzeit in den späten 90er Jahren ist die kritische Rezension von Oberrabbiner Güdemanns Nationaljudenthum. Diese kompromißlose Polemik gegen Herzls politischen Zionismus war von einem orthodox-konservativen religiösen Standpunkt aus geschrieben worden.^ Der Rezensent begann mit einer sorgfältigen Darstellung der Argumente von Oberrabbiner Güdemann und begrüßte, daß dieser - wenn auch verspätet - an die Öffentlichkeit trat; danach aber stellte er dessen Kernansatz in Frage, die nationale jüdische Unabhängigkeit würde dem Geiste des Judentums und dessen kosmopolitischer „Mission" widersprechen. Die Juden hätten nahezu 2000 Jahre lang in der Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion gebetet und gelitten. Dieser Traum könne nicht auf ein bloßes „Symbol" reduziert werden, das sich auf eine ferne messianische Zukunft bezog, die schließlich die gesamte Menschheit umfassen würde. Die physische Zusammenführung der Verbannten im Land Israel sei ebenso Teil der hebräischen prophetischen Lehre wie die universalistische Vision von sozialer Gerechtigkeit oder der Brüderlichkeit unter den Menschen. Die jüdische „Mission" habe weder mit der Diaspora begonnen, noch würde sie mit dieser enden. In gleicher Weise würde die Gründung eines jüdischen Staates nicht notwendigerweise auch das Ende der Zerstreuung mit sich bringen.47 Rabbi Güdemanns Beziehungen zu Herzl waren indes weitaus mehrdeutiger und komplexer als seine antizionistische Schrift aus dem Jahre 1897 vermuten ließe. Trotz ihres apologetischen Tones gewähren seine 1899 (im Alter von 64 Jahren) begonnenen und erst 1913 abgeschlossenen Erinnerungen einen interessanten Einblick in seine Stellung zum Zionismus.48 Nicht weniger aufschlußreich sind die von Güdemann zwischen Juni 1895 und Februar 1896 an Herzl geschriebenen Briefe. Der Kontakt zwischen den beiden Männern war ursprünglich auf Herzls Wunsch hin begonnen worden, der sich der Zusammenarbeit Güdemanns bei einer jüdischen Kampagne versichern wollte. In einem Brief aus Paris hatte Herzl vorgeschlagen, Güdemann solle bei der Verfassung einer Erklärung mitarbeiten, die sich mit der Situation der Juden in der Welt, ihrer Verteilung auf die verschiedenen Berufe und mit dem Problem des Antisemitismus befassen sollte.49 Rabbi Güdemann zeigte sich überrascht, war es doch relativ unüblich, daß ein bekannter und gewandter Wiener Journalist sich solcherart um seine Glaubensbrüder sorgte.50 In seiner Antwort wies er daraufhin, daß Dr. Bloch wesentlich besser dafür geeignet sei als er selbst, einen Uberblick über den Antisemitismus im zeitgenössischen Europa zu geben.51

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Am 16. Juni 1895 schrieb Herzl einen zweiten Brief an den Oberrabbiner, in dem er ihm unumwunden mitteilte, er hätte „die Lösung [der Judenfrage] gefunden, und sie gehört nicht mehr uns. Sie gehört der Welt".52 Herzl bat Güdemann, Kontakt zu Albert Rothschild in Wien aufzunehmen. Er ersuchte den Oberrabbiner, dem Oberhaupt des Wiener Zweiges der Familie die „Rede an die Rothschilds" vorzulesen, was letztlich allerdings leider nichts bringen sollte. Am 17. Juli 1895 beteuerte Güdemann in seiner Antwort auf einen weiteren Brief Herzls voller Begeisterung, daß er „ein solches Interesse" an jüdischen Angelegenheiten „von Ihrer Seite nicht erwartete hätte" und fuhr dann fort, sich bitter über die laufenden jüdischen Sorgen in Wien zu beklagen. „Es ist wirklich ein Jammer. Ich kann mir gar nicht helfen. Ich kann die Zeitung nicht mehr lesen, diese Parlamentsberichte und die Tagesneuigkeiten über die antisemitischen Excesse. Ich empfinde jedes Mal einen Drang, etwas zu zerschlagen. Ich lebe seit fast 30 Jahren in Wien und bin, wie jeder Renegat, ein Feind meines früheren Vaterlandes, nämlich Deutschlands, wegen des darin entstandenen Antisemitismus geworden und war in mein Adoptionsland Österreich, speziell in Wien, verliebt und immer, wenn ich nach meiner Heimat kam, im Jahr 2-5 Mal, schwärmte ich von Wien ... Nun aber muß ich Ihnen sagen, daß dies kein Volk und keine Stadt ist. Staat und Stadt sind eine Schweinerei, ein Misthaufen. Sehen Sie sich Ungarn an! ... es ist eine Freude, dies miterlebt zu haben, wie Ungarn diese materia peccans des Antisemitismus aus sich ausgeschieden hat, und auch Deutschland ist stark. Es sind doch Männer im Reichstage, an denen man sich erbauen kann, und schließlich vermag doch der Liberalismus Kerlen wie Hammerstein den Kragen zu brechen. Auch die Juden in Berlin sind danach ... Hier aber ist doch gar nichts, im Reichstag doch nicht ein Mann, vor dem man nicht ausspucken möchte. Wieviel Enkomien hat die N. Fr. Pr. an Plener verschwendet, der doch nie ein herzliches Wort für die Juden gefunden, wie süßlich ist dieser Suess und tutti quanti! Und so sind auch die Juden hier. Es ist wirklich nicht Einer hier, mit dem man die Wache aufziehen könnte."33

Güdemann überlegte sogar, ob diese allgemeine Passivität nicht eine göttliche Strafe fiir die Abhängigkeit der Kultusgemeinde von den reichen bürgerlichen Juden sein könnte, die sich nicht mehr in jüdischen Kreisen bewegten. Er bat Herzl inständig, sich bei seinen Plänen nicht auf die Unterstützimg reicher Juden zu verlassen. In seinem Brief befürwortete Güdemann eine militantere Haltung und meinte, daß lediglich ein mutiges persönliches Beispiel etwas Licht in die sich durch den Antisemitismus zunehmend verdüsternde Atmosphäre bringen könnte. „Man spuckt uns offen ins Gesicht, warum nicht offen wiederspucken. Leider sind die

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Zeitungen, die ja wirklich Judenzeitungen sind, auch so mattherzig. Lauter Anständigkeit und Objektivität, als wenn es um sie ginge, sie mischen ihre Tinte mit Rosenwasser. Vielleicht daß aus den jetzigen jüdischen und schlagenden Studentenverbindungen einmal ein paar rechte Kerle hervorgehen .,."54 Güdemann wies Herzl darauf hin, daß dieser militante Geist in Österreich durch den Reichstagsabgeordneten Rabbi Josef Bloch verkörpert würde. Aber „der Terrorismus eines Schneider und Consorten bringt den Polenklub dazu, ihn aufzugeben", imd Dr. Bloch würde sein Mandat wohl niederlegen müssen. Sollte es, so schrieb Güdemann an Herzl, nicht gelingen, die Wiederwahl seines Freundes Bloch durchzusetzen, so würde dies einen „großen Sieg der Antisemiten und für uns eine große Blamage" bedeuten. Die Dienste Rabbi Blochs würden von den reichen Wiener Juden unglückseligerweise nicht gewürdigt. Bei den Juden, „besonders den ,anständigen', will sagen reichen, findet Dr. Bloch keine Würdigung. Sie meinen, er mache den Antisemitismus. Von den Feinden muß man lernen. Thatsächlich ist er der einzige ernstgenommene und gefurchtete Jude. Er muß unter allen Umständen wieder hinein, aber die Juden seines Wahlbezirkes, obwohl die Majorität, taugen so wenig wie die anderen anderswo und wollen Geld, das Bloch nicht hat ... er sei der einzige, der den Waffen der Wissenschaft entgegentreten könnte und entgegengetreten sei." 55 Für Güdemann hatte das österreichische Judentum die Wahl: Entweder war man bereit, die anhaltende Flut antisemitischer Schmähungen widerspruchslos über sich ergehen zu lassen, oder man war bereit, für den Glauben und die Ehre zu kämpfen. Der Oberrabbiner hoffte zutiefst, die Neue Freie Presse könnte diese Entscheidung beeinflussen. Würde diese Blochs Wahlkampf unterstützen, würden vielleicht auch die reichen Juden auf seine Seite umschwenken. Güdemanns nächster Brief, datiert mit 23. Juli 1895, unterstreicht den Eindruck, daß er in Herzl in erster Linie einen unerwarteten Verbündeten im unmittelbaren Kampf gegen den österreichischen Antisemitismus sah. Er legte Herzl nahe: „Durch Ihre Beziehimg zur N. Fr. Pr. haben Sie die Möglichkeiten, Verbindungen, in denen Sie den Juden auf unvorhergesehene Art nützen können". 56 Vor allem wollte der Oberrabbiner sichergehen, einen übereilten Schritt Herzls zu verhindern, der seine Beziehungen zu den Eigentümern und den Redakteuren der großen liberalen Zeitung gefährden könnte. Diese Befürchtung wurde nicht nur durch Güdemanns Sorge um Herzls Frau und Kinder hervorgerufen, sondern durch das Interesse an der jüdischen Sache, wie er sie verstand. Der Oberrabbiner schreibt weiter: „Sie sagen, daß Sie fähig wären, Ihr Leben an die Judensache zu setzen. Ja, dabei sollten Sie aber leben, rechtschaffen, Großes leisten und Edles und mit Ihren höheren Zwecken wachsen ... Wollen Sie nun Ihr jü-

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disches Herz bewahren - ich habe noch von keinem Journalisten solche Sprache gehört, außer von Kuranda - Sie werden schon unserer Sache nützen!" Eine so leidenschaftliche Hingabe sei erfrischend in der zynischen Welt des Wiener jüdischen Journalismus und in seinen Augen, wie er in einem Brief vom 3. August 1895 schrieb, um vieles wichtiger als die Beschaffenheit von Herzls persönlichen religiösen Uberzeugungen. Güdemann selbst sah sich damals in der Rolle eines politischen Ratgebers. Er warnte Herzl vor einem vorzeitigen Herantreten an den deutschen Kaiser Wilhelm II., was das Mißtrauen der Antisemiten und Anspielungen auf die Intrigen des „internationalen Judentums" heraufbeschwören könnte. Er riet auch vor jedem übereilten Schritt ab, der nicht mit Benedikt und Bacher von der Neuen Freien Presse abgesprochen war.

Der Oberrabbiner ahnte damals noch nicht, wie weitreichend Herzls Pläne waren. Er bezog Herzls Hinweis, die „Lösung" für das „Judenproblem" gefunden zu haben, im wesentlichen auf die lokalen Bedingungen in Wien und den Kampf gegen den Antisemitismus.57 In dem darauffolgenden Briefwechsel geht es um die Organisation eines Treffens zwischen dem in Paris lebenden Herzl, Güdemann (dessen rabbinische Pflichten in an Wien banden) und dem reichen Berliner Bankier Heinrich Meyer-Cohn - einem persönlichen Freund des Oberrabbiners - auf neutralem Boden. Es wurde schließlich entschieden, daß die drei Männer einander in München treffen sollten, wo Herzl ihnen seinen Plan im Detail auseinandersetzen würde. Am 17. August 1895 schließlich verlas Herzl seinen beiden erstaunten Zuhörern in einem kleinen jüdischen Gasthaus in München die „Rede an die Rothschilds". Der ältere Güdemann war von Herzls charismatischer Persönlichkeit zweifellos beeindruckt, offen bleibt allerdings, ob er tatsächlich überzeugt wurde. Er riet Herzl damals, ein Buch in der Art von Theodor Hertzkas Freiland zu schreiben. Dies würde zeigen, „ob seine Idee praktische Ergebnisse nach sich ziehen würde könne."58 Herzl glaubte in seinem Optimismus, den zuvor „antizionistischen" Oberrabbiner, dessen moralische Unterstützung er für unerläßlich hielt, wollte er das Vertrauen der reichen Juden in Wien und anderen Orten Westeuropas gewinnen, auf seine Seite gezogen zu haben. Herzl zufolge sagte ihm Güdemann: „Wenn Sie recht haben, bricht meine ganze bisherige Anschauung zusammen. Aber dennoch wünschte ich, daß Sie recht hätten. Ich glaubte bisher, wir seien ein Volk, das heißt: mehr als ein Volk. Ich glaubte, wir hätten die historische Sendung, Träger des Menschheitsgedankens unter den Völkern zu sein, und daß wir dann mehr als ein territoriales Volk seien."59 Als sie sich am selben Abend in München fertig machten, um zum Abendessen auszugehen, soll Güdemann angeblich gesagt haben: „Sie kommen mir vor wie Mo-

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ses" - ein Vergleich, den Herzl (gemäß seiner Tagebucheintragung) „lachend ablehnte". Eine messianische Anspielung machte Giidemann, als Herzl ihn zum Münchner Bahnhof begleitete. Laut Herzl habe ihm Giidemann in ernster Begeisterung gesagt: „Bleiben Sie, wie Sie sind, vielleicht sind Sie der von Gott Berufene!"60 In seinen eigenen Erinnerungen leugnet Giidemann diese Episode kategorisch und zitiert einen Brief, den er im August 1895 aus München an seine Frau geschrieben hat, in dem er Herzl „als Dichter", seine Pläne aber als „undurchführbar" bezeichnete.61 Die Diskrepanz zwischen den beiden Versionen ist angesichts der unterschiedlichen Erwartungen und Voraussetzungen der Protagonisten nicht überraschend. Herzl war offenkundig betroffen von der in München geäußerten Kritik, sein zionistisches Projekt wäre „utopisch". In einem weiteren Brief an Rabbi Güdemann vom 22. August 1895 vergleicht er seinen Plan mit Theodor Hertzkas utopischer Abhandlung Freiland, dessen Lektüre der Rabbiner ihm empfohlen hatte: „,Freiland' ist eine komplizierte Maschinerie mit vielen Zähnen und Rädern; aber nichts beweist mir, daß sie in Betrieb gesetzt werden könne. Hingegen ist mein Plan die Verwendung einer in der Natur vorkommenden Triebkraft. Was ist diese Kraft? Die Judennot! Wer wagt zu leugnen, daß diese Kraft vorhanden sei? Man kannte auch die Dampfkraft, die im Teekessel durch Erhitzung entstand und den Deckel hob. Diese Teekesselerscheinung sind die Zionsversuche und hundert andere Formen der Vereinigung ,zur Abwehr des Antisemitismus'. Nun sage ich, daß diese Kraft groß genug ist, eine große Maschine zu treiben und Menschen zu befördern." 62

Zurück in seiner gewohnten Umgebung in Wien, zeigte sich Güdemann jedoch skeptischer. Schon am 50. August 1895 hatte er Herzl geschrieben: „Da ich jetzt nicht wie in München unter dem unmittelbaren Eindrucke Ihrer Persönlichkeit stehe, so wird es mir immer klarer, daß die Zeit noch nicht reif ist und daß viele und gute Juden noch kein Verständnis für ihre Absichten haben. Der Gedanke der Auswanderung wird in Mitteleuropa von den besten und frommesten Juden abgewiesen werden ... mit dem praktischen Vorschlag in eigener Person anfangen dürfen Sie nicht.. ,"63 Er riet Herzl daher zu einer Verschiebimg jeglicher persönlicher Initiative hinsichtlich einer Umsetzung seiner Pläne in die Praxis. Er wies einmal mehr auf Theodor Hertzka hin, der „seinen Plan durch voreiliges Praktizieren vernichtet hat". Güdemann hielt daran fest, daß die Unterstützung seitens Eduard Bachers und der Neuen Freien Presse unerläßlich sei, um den Boden zu bereiten und Herzls Ideen einem weiteren Publikum zugänglich zu machen. Sollte es Herzl nicht gelingen, sich dieser Unterstützimg zu versichern, so riet ihm der Oberrabbiner, einen Roman zu schreiben, in dem er das zionistische Konzept in künstlerischer Form darlegte.

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Herzls Tagebücher zeichnen ein ähnliches Bild des Wiener Oberrabbiners, der seine Schmeicheleien sehr selektiv austeilte.64 Erst am 26. Dezember 1895 hatte Güdemann Herzl wärmstens beglückwünscht. Er habe den ersten Entwurf des Judenstaates „mit großer Gelassenheit" gelesen, der einen „wirklich erhebenden Eindruck" auf ihn gemacht habe. Güdemann prophezeite, wenn auch an mancher Stelle „der Spott der Juden und der nachspürende Haß unserer Feinde rege werden wird, so entwaffnet der begeisterte Schluß Alle". Dieser Aufsatz, so glaubte er, „wird vielleicht den allerlauesten Juden dazu fuhren, an sich selbst die Bemerkung zu machen, daß im tiefsten Winkel seines Herzens ein Echo von dem erklingt, was Sie sagen." Güdemann schien intuitiv die gesamte Gefühlsskala vorauszuahnen - verblüffte Überraschung, ironisches Lachen und einen Hauch von Sympathie -, die Herzls Broschüre unter den Juden hervorrufen würde. Mit bemerkenswertem Gleichmut unterstützte er Herzls Argumentation und schlug nur geringfügige Änderungen im Text vor. So lehnte er beispielsweise Herzls Formulierung ab, die Juden seien nicht mehr „assimilierbar". Güdemann schlug auch vor, eine Bemerkung wegzulassen, die als Beleidigung der Rabbiner aufgefaßt werden könnte. In seinen Kommentaren deutet aber nichts auf einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem Judentum und dem jüdischen Nationalismus hin. Selbst die wahrhaft dramatische Möglichkeit, daß Herzls Abhandlung das Ende der jahrtausendelangen Diaspora einläuten könnte, machte keinen übermäßigen Eindruck auf Güdemann. Er war immer noch auf Herzls Beziehungen zur Neuen Freien Presse fixiert: „Möglich, ein ernster Mensch wird ja immer zweifeln, aber, wie dem auch sei, das Wort wird wie eine Bombe einschlagen, oder wie ein Blitz, dem der Donner vielleicht nicht sogleich aber dann in heftigen Pulsen folgt. Das wichtigsten ist allerdings, daß Sie es sagen, ein Journalist der N. Fr. Pr., ein Dichter, kurz einer von jenen, welche das Judenthum am meisten bespöttelt haben. Daß einer von dieser Gilde, und ein namhafter, vom , Glauben der Väter' spricht und diesen Traum verwirklichen will, wird allen Juden selbst geträumt erscheinen, Wenn Sie auch den Juden vielleicht nicht nützen, Ihrer Gilde nützen Sie ungeheuer. Die können Ihnen dankbar sein, wenn Sie wissen wie die Juden über sie denken."65

Güdemanns Äußerungen, er hoffe auf eine positive Auswirkung vor allem auf den „jüdischen" Journalismus (besonders jenen der un-jüdischen Juden der Neuen Freie Presst), ließen kaum ahnen, daß es ein Jahr später zum Bruch kommen sollte. Am 27. Jänner 1896 versicherte er Herzl noch mit offenkundiger Genugtuung, die Sache „wird wie eine Bombe einschlagen ... die Überzeugtheit, die aus der Schrift hervorleuchtet, die rückhaltlose Confession der Stammesangehörigkeit wird, was auch aus dem Plane wird, Wunder wirken. Man wird sich die Augen reiben, daß Sie das Alles sagen". 66 Noch am 2. Februar 1896, als er Herzl die letzten Korrekturen schickte,

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schrieb er, daß er den Judenstaat bis zu Ende durchgelesen und „finde nichts zu monieren". Am selben Tag beteuerte er bei einer Begegnung mit Herzl im Prater erneut seine Begeisterung.67 Güdemann bestärkte Herzl sogar, sich dem Druck seiner Arbeitgeber bei der Neuen Freien Presse, die Veröffentlichung des Werkes zu verschieben, nicht zu beugen.68 Trotz der von Güdemann bekundeten Unterstützung zweifelte Herzl immer mehr daran, ob dieser in der Lage sein würde, dem Druck der Gemeinde standzuhalten, gegen den Zionismus Stellung zu beziehen.69 Im Jänner 1897 bezeichnete er den Oberrabbiner bereits verbittert als einen „Salbungsvollen" ohne jedes Rückgrad, über den es sich nicht lohne, weitere Worte zu verlieren. Nach einer zufalligen Begegnung mit Güdemann am Schottenring schrieb er am 18. März 1897 in sein Tagebuch: „Er hatte einige groteske Einfalle: er würde sich lieber vor dem Tempel in der Seitenstettengasse totschlagen lassen, ehe der den Antisemiten nachgäbe. Er ,will nicht die Flucht ergreifen', und was der bekannten Scherze mehr sind. Er sprach auch von der ,Mission des Judentums', welche darin bestehe, in aller Welt zerstreut zu leben. Von dieser,Mission' sprechen alle, denen es am jetzigen Wohnorte gut geht - aber auch nur die."70

Eine Tagebucheintragung vom 17. April 1897, also nach Güdemanns „tückischer Gegenbroschüre" gegen den Zionismus, ließ eine endgültige Regelung der Angelegenheit erwarten.71 „Er hält sich in in vagen, feigen Unbestimmtheiten, hat aber die ersichtliche Absicht, Munition für kühnere Streiter zu liefern. Ich antworte ihm. Und zwar, nach dem Macchiavellischen Rezept, vernichtend."72 Sechs Tage später schickte er sich an, Güdemanns Nationaljudenthum in einer ausführlichen Widerlegung, die in Dr. Blochs Österreichischer Wochenschrift erschien, förmlich zu zerreißen. Bevor wir uns Herzls Antwort zuwenden, wollen wir einen Blick auf Güdemanns eigene Version dieser Ereignisse und seine Gründe werfen, im April 1897 öffentlich eine antizionistische Position zu vertreten. In seinen Erinnerungen schreibt Rabbi Güdemann, er sei Ende Dezember in Herzls Wohnung in die Pelikangasse gekommen. Zu seiner großen Überraschung und Bestürzung fand der Oberrabbiner dort einen riesigen Christbaum im Salon. Hierzu bemerkte Güdemann. „Die Unterhaltung - in Gegenwart des Christbaums - war schleppend und ich empfahl mich bald. Weitere häusliche Zusammenkünfte habe ich meines Wissens mit Herzl nicht mehr gehabt."75 Trotz der Abkühlung ihrer Beziehung gab Güdemann in seinen Erinnerungen zu, Herzl bei Erscheinen seines Judenstaates gratuliert zu haben. Gleichzeitig behauptete er etwas naiv, nicht geglaubt zu haben, daß Herzl allen Ernstes daran dachte, sein zionistisches Programm in die Tat umzusetzen. Güdemann gestand auch ein, 1896 keinerlei Einwendungen gegen den im Judenstaat vertretenen säkularen, frei-

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denkerischen Standpunkt vorgebracht zu haben. Aber wer konnte ernsthaft glauben, daß er diesen als orthodoxer Rabbiner gutheißen würde?74 Diese Änderung seiner anfänglich durchaus wohlwollenden Sicht des Zionismus wurde bei Rabbi Güdemann durch die begeisterte Aufnahme bewirkt, die Herzls Ideen in den jüdischen Studentenkreisen fanden, sowie durch deren lautstarke, provokante Werbung in Wien, mit der er nichts zu tun haben wollte. Güdemann konnte nie verstehen, daß ein assimilierter Jude wie Herzl mit seinem hohen Niveau an deutscher Bildung plötzlich den Wunsch empfinden konnte, „sich aus diesem Mutterboden selbst auszuroden" - und die jüdische Jugend aufforderte, ihm dabei zu folgen.75 Auch fühlte er sich von Herzl unter Druck gesetzt, in seinem Tempel für den Zionismus zu predigen. Laut Güdemann habe Herzl ihm bei ihrer letzten Begegnung im März 1897 am Wiener Schottenring halb im Scherz gesagt, er würde in jedem Falle zu einer Zusammenarbeit mit den Zionisten gezwungen werden. Güdemann habe verärgert geantwortet, daß er keineswegs daran denke, nach Palästina zu gehen, um den Feinden kampflos das Feld zu überlassen.76 In dieser trotzigen Stimmung hätte er sein Nationaljudenthum verfaßt und nicht, wie Herzl so spöttisch vermutete, auf Geheiß des Gemeindevorstands. Güdemann zufolge hätte kein einziges Mitglied des Vorstands der Kultusgemeinde seine Schrift vor der Veröffentlichung gelesen oder versucht, ihn gegen den Zionismus zu beeinflussen.77 Güdemanns Abhandlung stellte den modernen jüdischen Nationalismus im wesentlichen als eine unwürdige, trotzige Antwort auf den Antisemitismus und dessen Mißachtung der Juden als „Fremde" dar.78 Die Zionisten hielten daran fest, die Juden würden eine „Nationalität" bilden, auch wenn sie über kein eigenes Land mehr verfügten. Die nationalistische Bewegung würde versuchen, einen jahrhundertealten religiösen Anspruch in ein politisches Programm umzuwandeln. Sie mißachteten jedoch die Lehren des Judentums, die in Güdemanns Augen allein den entscheidenden Ausschlag geben konnten.79 Wirtschaftliche und politische Überlegungen des Augenblicks seien allesamt zweitrangig. Der zentrale Punkt sei, ob der zeitgenössische Zionismus den ewigen Wahrheiten des Judentums und seiner Geschichte gerecht würde. Güdemann argumentierte, daß die biblischen Israeliten bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels tatsächlich ein Volk gewesen seien, wenn auch nicht im heidnischen Sinne. Anders als die Völker der Antike hätten die Israeliten nicht die Eroberungskriege verherrlicht und ihre militärischen Helden als göttliche Persönlichkeiten gezeichnet.80 Die Siegeshymnen des alten Israel hätten Gott allein gepriesen und verherrlicht. Das Volk Israel sei daher untrennbar mit seiner monotheistischen Auffassung von Gott verbunden.81 Die biblischen Israeliten hätten den heidnischen Na-

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tionalismus der Nichtjuden von Beginn ihrer Geschichte an abgelehnt. Sie hätten dem herrschenden Kult von Blut und Eisen zugunsten eines göttlichen Herrn über Himmel und Erde abgeschworen. Daher sei Israel nicht an ein bestimmtes Land gebunden und sein spirituelles Ziel unabhängig von der Verwurzelung in ihrem eigenen Fleckchen Erde. Die mosaische Lehre hätte das Aufkommen einer Ideologie des „Nativismus" verhindert und ausdrücklich vor einer xenophobischen Ablehnung des „Fremden" innerhalb der eigenen Grenzen gewarnt. „Hochmuth des Einheimischen gegen den Fremden gab es in Israel nicht aus dem in ihm immer lebendig erhaltenen Bewusstsein, selbst ein Fremder zu sein, heraus."82 Die Individualität Israels käme in seiner Sehnsucht nach Transzendenz, seiner Unabhängigkeit von territorialen und nationalen Grenzen sowie seiner universalen Mission zum Ausdruck, den Nichtjuden ein Licht zu sein. „Dadurch wußte es sich von den Völkern unterschieden und über sie erhoben, dadurch fühlte es sich aber auch zum Lehrer der Völker berufen." 85 Nach dem Babylonischen Exil sei Juda in das Diaspora-Judentum transformiert worden. Der Staat sei in einer „Kirche" aufgegangen und die Nation in einer religiösen Gemeinde. Israels „Auserwähltheit" bestehe in der hingebungsvollen Erfüllung seiner einzigartigen spirituellen Aufgabe. Die Lehren der Propheten, die in den Jahrhunderten der Zerstreuung die Einzigartigkeit des jüdischen Volkes bewahrt hätten, stünden unwiderruflich im Gegensatz zu jeder Form eines „schroffen, ausschließenden nativistischen Nationalbewusstseins".84 Güdemann zufolge seien daher jüdische Nationalität und Judentum grundsätzlich widersprüchliche Konzepte.85 Die Diaspora sei daher nicht „das Abfallsprodukt der Volkes Israel, nicht der verworfene Zweig des alten Stammes, sondern die Testamentsvollstreckerin des Prophetenthums, das ,Volk Gottes' erblicken, das zerstreut und vaterlandslos, wie es war, eben dadurch erst die Blicke der heidnischen Welt auf ein ideales, allen Menschen gemeinsames Vaterland, auf das ,Reich Gottes' hinzulenken vermochte".86 Der moderne jüdische Nationalismus stehe im Widerspruch zu dieser hehren historischen Mission. Er trete für die Abkehr von einem zukunftsorientierten Messianismus ein, und sein kosmopolitisches Ideal solle zugunsten der flüchtigen Bedürfnisse des Augenblicks aufgegeben werden. Der zeitgenössische Zionismus reite blinde Attacken gegen die „assimilationistischen Bemühungen" der Juden. Damit würde er vergessen, daß die „Bannerträger des Judenthums" - Philosophen wie Philo, Maimonides und Mendelssohn - ein wesentlicher Bestandteil der Kulturgeschichte ihrer Zeit waren.87 Die Juden hätten sich während der gesamten Geschichte ihrer Diaspora an die sie umgebenden jeweiligen Kulturen angepaßt, akklimatisiert und assimiliert. Im 19. Jahrhundert hätten sie diese verdienstvolle Tradition fortgesetzt. Berechtigterweise könne nur ein übertriebener Assimilationismus verurteilt werden, der für die „Selbstaufgebung" des Judentums eintrete.

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Rabbi Güdemann vertrat die Ansicht, der Zionismus selbst strebe insofern nach einer weitreichenden kollektiven Assimilation, als er „den nationalen Chauvinismus der Gegenwart auf das Judentum überträgt". In diesem Sinne würden die jüdischen Nationalisten und nicht deren Kritiker das biblische Verbot der Verehrung falscher Götter verletzen. „Denn mit welchen Mitteln selbst mächtige Staaten sich behaupten, lehren die alle Steuerkraft erschöpfenden Militärbudgets. Ein Judenthum aber mit Kanonen und Bajonetten wurde die Rolle David's mit der Goliath's vertauschen und eine Travestie seiner selbst sein."88 Es würde nur das Urteil jener bestätigen, welche die 2000jährige Geschichte der Zerstreuung als „ein Zeichen unserer Verwerfung" betrachten. Andererseits stelle die Diaspora „eine der ruhmreichsten Partien der Geschichte des Judenthums" dar, dessen Unzerstörbarkeit ein Zeichen sei, daß die Zukunft einem universalistischen Judentum gehöre. Wie Jellinek vor ihm hatte auch Rabbi Güdemann keine Einwände gegen die Kolonisierung des Heiligen Landes, wenn dadurch die schreckliche Not der verarmten russischen Juden gelindert werden konnte. Solche Siedlungen sollten aber strikt von nationalistischen Zielen getrennt werden.89 „Die Besiedlung des heiligen Landes wird immer für eine verdienstliche, fromme, durch die Geschichte gerechtfertigte Uebung gelten, worin die Juden den anderen Bekenntnissen nicht nachstehen werden. Aber niemals ist von irgend einer berufenen Seite an die Gesammtheit der Juden der Aufruf zu einem sozusagen unblutigen Kreuzzug, zur Wiedergewinnung ihrer nationalen Selbständigkeit ergangen."90 Die versuchte Eroberung Palästinas sei nichts anderes als „ein Eingriff in die Führung Gottes", eine Verzerrung der Lehren der Thora, der Propheten, der Psalmen und der Lektionen der jüdischen Geschichte. Dieser profane Zionismus sei für die Gefährdung der bürgerlichen Rechte der Juden in ihren europäischen Vaterländern verantwortlich. Güdemann hielt an seiner Auffassung fest, daß es für die Juden keinen Grund gäbe aufzuhören, sich als Deutsche, Magyaren oder Franzosen zu sehen, nur weil die Antisemiten ihnen dieses Recht absprachen. Das Judentum wäre schon lange untergegangen, würde sein Überleben von der Definition anderer abhängen oder hätte es den Nationalismus der Nichtjuden nachgeahmt. Die Juden müßten das Prinzip der „Nationalität" daher als ihren fundamentalen Interessen und ihrem gesamten geistigen Erbe widersprechend ablehnen. Mit einem Zitat des österreichischen Dichters Franz Grillparzer („Von Humanität - durch Nationalität - zur Bestialität") Schloß der Wiener Oberrabbiner sein antizionistisches Traktat, indem er forderte, die Juden müßten an ihrem Glauben festhalten und für ihre Rechte kämpfen anstatt diesen Kampf aufzugeben.91 Herzls Antwort war eine kluge, elegante und schlagkräftige Polemik, bei der er allerdings kaum auf die von Rabbi Güdemann angeschnittenen tiefsinnigen philosophischen Punkte einging. Herzl hielt daran fest, daß die zionistische Bewegung

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„durch und durch politisch" sei und religiöse Einwände daher unangebracht seien. Er verwies aber auch auf eine kürzlich verfaßte Schrift des chassidischen Gelehrten Ahron Marcus aus Podgorze-Krakau und die darin geäußerten Ansichten dieses höchst geachteten Rabbiners, um zu zeigen, daß der Zionismus selbst von einem religiösen Standpunkt aus mit entsprechenden Zitaten aus den Heiligen Schriften leicht verteidigt werden könne.92 Die echte Stärke des Zionismus liege darin, daß er alle mit einschloß, in seiner Fähigkeit, Freidenker und orthodoxe Juden zusammenzufuhren, ja alle Angehörigen des jüdischen Volkes zu vereinen. Der Zionismus räume seinen Anhängern „völlige Gewissensfreiheit" ein. Herzl lehnte Güdemanns Definition ab, derzufolge sich das Nationalbewußtsein auf ein gemeinsames Vaterland, eine gemeinsame Sprache und Rechtsprechung sowie gemeinsame Sitten gründe. Er argumentierte, „alle Völker leben heute gewissermaßen in der Diaspora" - das besondere privilegium odiosum der Juden liege in der tragischen Tatsache, daß „wir überall Kolonisten ohne Mutterland sind"; und diese Besonderheit versuche nun der Zionismus zu korrigieren. In Herzls Verständnis waren die Juden ohne jeden Zweifel eine Nation, entsprachen sie doch seiner grundlegenden Definition, „eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehören und durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten werden". 93 Diese simple Wahrheit im Namen einer sogenannten jüdischen „Mission" zu leugnen, sei ein Luxus, den sich nur übersättigte bequeme Philister leisten könnten. Besonders scharf kritisierte Herzl Güdemanns Interpretation, „Zion galt und gilt den Juden als das Symbol ihres eigenen, aber auch der die ganze Menschheit umfassenden Zukunft". Für Herzl war es unsinnig „in diesem nichts weniger als nationalem Sinne ... die Bitte um Rückkehr nach Zion in unseren Gebeten" zu verstehen.94 „Also, wenn man um die Rückkehr nach Zion betet, so ist darunter das Gegenteil zu verstehen? Die Worte des Gebetes haben also nicht den Sinn, den die Gemeinde, treu am Worte hängend, mit ihnen verbindet? Und in dem Augenblicke, in dem die Beschaffenheit der Weltverhältnisse, der nach der Emanzipation eingetretene, also endgültige Antisemitismus, das wiedererwachende Nationaljudentum, die Lage im Orient und die technischen Errungenschaften zusammenwirken, um die Rückkehr nach Zion zu einer nahen Möglichkeit zu machen - in diesem Augenblick sagt ein Oberrabbiner:,Macht euch nichts daraus - es war nur ein Symbol!'"95 Für Herzl war klar, daß Güdemann „sich gutmütig [habe] mißbrauchen lassen von Hintermännern.". Der Oberrabbiner wurde von den reichen Juden manipuliert, die „geschickt genug [sind], sich persönlich vom Antisemitismus loszukaufen: durch Gefälligkeiten, Geld und Opfer an Uberzeugung."96 Entgegen den Behauptungen Güdemanns bestünde keinerlei Widerspruch zwischen dem Zionismus „mit seinen

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sozialen Reformen [Siebenstundentag usw.], mit seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zu den Ärmsten unter den Verstoßenen" und der Zukunft der Menschheit, wie sie das prophetische Judentum sah. Die zionistische Vision, von der Herzl träumte, würde „die befruchteten Menschenströme" nutzbar machen, die den alten Boden Palästinas düngen sollten, wodurch die jüdische Nation wieder zu neuem Leben erweckt würde. Dieses Utopia einer angewandten Sozialforschung würde, dies lag auf der Hand, zum „ Zion der Armen, der Jungen und auch der Frommen" werden.97 In seinen Erinnerungen erwähnte Güdemann Herzls Erwiderung mit keinem Wort. Er fühlte sich zutiefst verletzt durch einen viel derberen Angriff auf seine Auffassung von der kosmopolitischen „Mission" der Juden, den Max Nordau in der Welt (11. Juli 1897) veröffentlicht hatte.98 Herzl hielt er für viel zu kultiviert, um sich auf diese Ebene zu begeben. Im Rückblick schien er den öffentlichen Konflikt, der ihn in Opposition zu Herzl gebracht hatte, zutiefst zu bedauern.99 Moritz Güdemann anerkannte beispielsweise ein wichtiges Verdienst des Herzischen Zionismus im Wiener Kontext: Durch ihn erlebten die traditionellen Gebete für Zion selbst in den Herzen jener plötzlich eine Wiedergeburt, die dreißig Jahre zuvor versucht hatten, sie aus den Gebetbüchern zu streichen. „Welch ein Segen hätte der Zionismus sein können", meinte Güdemann in seinen Erinnerungen, „wenn er auf natürliche und organische Weise gewachsen wäre und sich nicht so extrem nationalistisch gebärdet hätte. Aber die Zionisten hätten sowohl Juden wie Freidenker sein wollen - was eine Contradictio in adjecto gewesen sei." 100 Güdemanns Antizionismus war nicht ausschließlich durch religiöse Überlegungen begründet. Ein wichtiger Faktor war seine beharrliche Weigerung, den Antisemiten zuzugestehen, ihm sein „unveräußerliches Recht" auf die deutsche Nationalität abzusprechen. In einem Brief vom 19. Dezember 1907 an die Schriftstellerin Camilla Theimer machte er seiner Empörung über die seiner Meinung nach unzutreffende Unterscheidung zwischen Deutschen und Juden Luft, wie sie Demagogen in Berlin und Wien verwendeten. Nach einigen gegen Bismarck, seinen Mentor Adolf Stöcker und den österreichischen Antisemiten Ernst Schneider gerichteten Spitzen zeigte Güdemann den inneren Widerspruch im Christentum auf, der dem Judenhaß zugrundelag und den er darauf zurückführte, daß die Christen einen Juden als Gott verehren müßten.101 Anders als die Zionisten glaubte Güdemann allen Ernstes, das „arische" Volk würde sich schließlich seines Antisemitismus schämen, auch wenn er die Möglichkeit periodischer Rückfalle einräumte. Angesichts dieser Tatsache zu verzweifeln, würde für die Juden die Aufgabe des positiven kulturellen Einflusses bedeuten, den sie Jahrhunderte hindurch auf die Menschheit ausgeübt hatten. Und Güdemann sah im Zionismus einen derartigen Rückzug in den nationalen Separatismus.102

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Die meisten führenden Persönlichkeiten der Wiener Kultusgemeinde sowie anderer großer jüdischer Organisationen wie der Allianz oder der Österreichisch Israelitischen Union vertraten zweifellos ähnliche Ansichten. Der Präsident der Union, Sigmund Mayer, ein langjähriger Assimilationist, hatte unmißverständlich klargemacht, daß die Juden keine Nation seien, da ihnen ein gemeinsames Land sowie eine gemeinsame Sprache oder eigene Kultur fehlte. Seiner Ansicht nach war die jiddische Kultur ein leeres Wort. Noch phantastischer erschien ihm die Vorstellung, in Palästina oder im Habsburgerreich eine hebräischsprachige „Nationalität" zu gründen. Mayer kritisierte verärgert das Hauptziel der jüdischen Nationalpartei in Osterreich, „die Juden zu einer politischen Nation, gleich den Czechen und Deutschen, den Polen und Ruthenen, Slovenen, Rumänen usw. zu konstituiren".103 Dieses autonomistische Ziel sei eine unter den österreichischen Verhältnissen ebensowenig praktikable Utopie wie das noch umfassendere Ziel einer jüdischen nationalen Restauration in Palästina. Der Zionismus würde dem Antisemitismus nicht entgegenwirken, sondern der jüdische nationale Autonomismus lediglich den Haß der umgebenden österreichischen Nationalitäten auf das jüdische Volk lenken.104 Für Mayer bedeutete der jüdische Nationalismus ebenso wie für das liberale jüdische Establishment und die Osterreichische Sozialdemokratische Partei eine Rückkehr ins Ghetto. Er stand in krassem Widerspruch zu den allgemeinen historischen Trends, zum wirtschaftlichen Interesse der Juden an der Einheit der Doppelmonarchie und zur gesetzlich-politischen Grundlage der Emanzipation. Wie Rabbi Güdemann hielt auch Sigmund Mayer es - obzwar aus etwas anderen Gründen - für eine jüdische Mission, sich den Kräften des Nationalismus entgegenzustellen. Wenn die Juden dies täten, würden sie zu den wahren Vorboten einer kosmopolitischen Zukunft Österreichs und der gesamten Menschheit.105 Mayers klassische liberale Kritik des jüdischen Nationalismus verband eine glühende Loyalität gegenüber der deutschen Kultur mit dem Glauben an ein starkes, übernationales Österreich. Dieselbe integrationistische Ideologie vertraten auch die Austromarxisten, deren Antizionismus die weitverbreiteten liberal-assimilationistischen Ansichten zur „ Judenfrage" wiederholte. So verfochten Austromarxisten wie Karl Renner und Otto Bauer das Programm einer kulturell-nationalen Autonomie innerhalb eines föderalistischen österreichischen Staates, von dem sie die Juden ausdrücklich ausschlossen. Jüdische Marxisten zählten häufig zu den heftigsten Kritikern des Zionismus und des aufkeimenden jüdischen Autonomismus im Habsburgerreich.106 Sowohl österreichische Liberale als auch Sozialdemokraten jüdischer Herkunft sahen in der Assimilation einen unvermeidbaren und positiven sozialen Prozeß. Im allgemeinen waren ihnen das Jiddische und das Hebräische, die Ghettokultur und die soziale Rückständigkeit derbreiten Masse der galizischen Juden gleichermaßen zuwider. Alle im Namen der Ostjuden Galiziens und der Bukowina vorgebrachten natio-

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nalen Forderungen wurden daher ausnahmslos als klerikal, Uneinigkeit stiftend und reaktionär abqualifiziert. Das Schreckgespenst eines jüdischen Volkstums im Hinterland der Monarchie und an deren östlichen Grenzen schien insbesondere die Marxisten zu stören, vielleicht weil dadurch ihre eigene Position als germanisierte Intellektuelle und Führer der Arbeiterbewegung in Frage gestellt wurde.107 Die bekanntesten Juden der österreichischen Sozialdemokratie - Victor Adler, Wilhelm Ellenbogen, Friedrich Austerlitz, Otto Bauer, Robert Danneberg und Max Adler - empfanden eine tiefe Zuneigung für die deutsche Kultur. Ihre Zuneigung zum multinationalen Rahmen des österreichischen Reiches und ihr Glaube an die Überlegenheit der sozialistischen Ideale verstärkten ihre Ablehnung des jüdischen Nationalismus noch weiter.108 Die gleiche Einstellung vertraten auch so hervorragende jüdische Führer der polnischen Sozialdemokratischen Partei (PPSD) in Galizien wie Hermann Diamand und Hermann Liebermann, die beide 1907 ins österreichische Parlament gewählt wurden.109 Ihre Kritik am Zionismus wurde möglicherweise dadurch verschärft, daß dieser zweifellos eine starke Anziehung auf die galizisch-jüdischen Wähler ausübte.110 Es war kein Zufall, daß einige der heftigsten Angriffe auf den Zionismus, die im Fin de Siech in marxistischen Zeitungen erschienen, aus der Feder jüdischer Sozialdemokraten in Galizien und anderen Teilen Osteuropas stammten. 1896 beispielsweise verurteilte Max Zetterbaum, einer der führenden Stimmungsmacher für die PPSD, Herzls Judenstaat als einen schamlosen Schwindel des erfahrenen, eleganten und weltgewandten Feuilletonisten der Neuen Freien Presse. Es handle sich hier ganz offenkundig um das Werk eines Mannes, der keine Ahnung von der jüdischen religiösen Tradition habe. Bar jeder Poesie und Mystik des authentischen Judentums, sei in Herzls Abhandlung alles „modern" im künstlichsten Sinne des Wortes. Der politische Zionismus sei ein typisch ausdrucksloses Produkt des Wiener Judentums des Fin de Sidcle, das vor allem durch einen frustrierten Ehrgeiz motiviert war und in einem rein imitativen Nationalismus zum Ausdruck kam.111 Andere sozialistische Kritiker jüdischer Herkunft zogen infame Vergleiche zwischen der zionistischen studentischen Agitation an der Universität Wien und den grölenden Eskapaden der biersaufenden, selbstherrlichen alldeutschen Burschenschaften.112 Ein austromarxistischer Intellektueller wie Gustav Eckstein war der Meinung: „Die Vertreter des Nationalitätsprinzips im Judenthum sahen sich daher geradezu genötigt, sich bei Geltendmachung ihrer Ansprüche auf dasselbe Rassenprinzip zu berufen, das die erbittertsten Gegner der Juden, die Alldeutschen, als Waffe gegen sie gebrauchten."113 Die liberale Hypothese, Antisemitismus und Zionismus seien zwei Seiten derselben Medaille, wurde von jüdischen Marxisten bereitwillig aufgegriffen. Brandmarkten nicht beide Ideologien die Juden als eine fremde „Nationalität" (oder Gastvolk) und versuchten sie daher nicht beharrlich, sie nach Palästina zurückzuschicken?114

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Wie ihre liberalen Vorläufer tendierten die jüdischen Führer dazu, im Zionismus einen reaktionären und künstlichen Versuch zu sehen, die Juden durch die Behauptung einer nichtexistenten jüdischen „Nationalität" von den anderen Völkern zu trennen. Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der Wiener Arbeiterzeitung, trat bei den Wahlen des Jahres 1907 als sozialistischer Kandidat der Leopoldstadt an; er soll gesagt haben: „Die Zionisten werben um Stimmen, sie, die die Juden wieder ins Ghetto sperren wollen. Sie beuten den geheimen Kummer der Juden aus, daß man sie nicht als gleichberechtigt nimmt, und leiten ihren geheimen Stolz auf ein falsches Ziel."115 Anläßlich der Eröffnung des 11. Zionistenkongresses in Wien am 5. September 1913 widmete die Arbeiterzeitung der Darstellung der Absichten der zionistischen Führer einen langen Artikel. Der Zionismus, so wurde erklärt, wurzle in der Selbsttäuschung Herzls und seiner Anhänger, der Antisemitismus könnte durch einen Exodus der Ostjuden aus Europa in das „Land, wo Milch und Honig fließt", ausgerottet werden. „Diese armen Juden will man nun nach Palästina führen - die Juden, denen es gut geht, die sollen auch weiter hier bleiben." Trotz aller „freigeistigen" Ansprüche sei er doch „nichts anderes als die mit modernem Klimbim aufgeputzte alte jüdische Orthodoxie".116 Es liege etwas Pathetisches an dem zionistischen Stolz auf die nationalen Eigenschaften. „Sie haben dann die Freude, daß sie das, was anderen Leuten als jüdische Seltsamkeit erscheint und nicht immer angenehm empfunden wird, für ihre ,Nationale Eigenart' ausgeben, die Respekt erheische."117 Nicht weniger lächerlich waren die zionistischen Anstrengungen, das Hebräische auferstehen zu lassen, „...trotzdem dies niemals, auch vor zweitausend Jahren nicht, die Umgangssprache der Juden war ..." Vor allem scheine der Zionismus völlig utopisch und nicht praktikabel. Im türkischen Palästina gäbe er nicht mehr als 100.000 Juden, von denen die meisten sich dort schon lange vor der zionistischen Kolonisierung niedergelassen hätten. Es bestünde kaum die Aussicht, daß reiche Juden in diese verlorene Angelegenheit investieren würden, verfügten sie doch über eine bessere Verwendung für ihre Millionen, als ihre verarmten Brüder im Heiligen Land anzusiedeln. 118 Das gesamte Projekt sei daher ein „nicht realisierbarer Traum", der in krassem Widerspruch zu den wirtschaftlichen, politischen und geographischen Gegebenheiten stehe. „Wer könnte glauben, die Türkei werde in einem Landesteü, von dessen etwa 700.000 Einwohnern vier Fünftel Mohammedaner sind, ihre Souveränität aufgeben, nur weil Juden in ihr ,gelobtes Land' zurückkehren wollen? Wer könnte glauben, die ,christlichen Staaten' werden sich bemühen, einen jüdischen Staat aufzurichten ... wer kann noch so naiv sein, zu glauben, es ließen sich aus Städtern Kleinbauern in einem entfernten, heute fast kulturlosen Land machen?"119

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Ähnliche Einwände gegenüber dem Zionismus erhoben die konservativen und liberalen jüdischen Assimilationisten in Wien. Was die marxistische Ablehnung eines jüdischen Nationalismus von ihren Gegnern insbesondere unterschied, war der Versuch, den politischen Zionismus als Klassenideologie der jüdischen Bourgeoisie und des sich wirtschaftlich im Niedergang befindlichen Mittelstandes in den österreichischen Provinzen darzustellen. Dieses Kleinbürgertum wurde durch die Verarmung dazu gedrängt, irgendein Mittel gegen ihre verzweifelte Not zu finden. Nicht weniger typisch für die marxistische Kritik war die Behauptung, der moderne Industrialismus hätte mit aller Entschiedenheit begonnen, die jüdischen „nationalen" Merkmale auszulöschen. Der Kapitalismus, so glaubte man, würde die ethnischen und religiösen Schranken niederreißen und dadurch den Weg für eine klassenlose sozialistische Gesellschaft ebnen, in der das Judentum schließlich aufhören würde, als eigene Einheit zu bestehen. Das war die zentrale Prämisse, wie sie der Austromarxist Otto Bauer (1881-1938) in einem monumentalen Werk aus dem Jahre 1907 über die österreichische Nationalitätenfrage gegen eine jüdische kulturell-nationale Autonomie darlegte. Otto Bauer polemisierte nicht direkt gegen den Zionismus. Aber er lieferte die theoretische Untermauerung für die sozialistischen Theorien der Assimilation, die jegliche nationale Zukunft des jüdischen Volkes leugneten. Otto Bauer zufolge würden die Juden ohne territoriales Zentrum nicht in der Lage sein, als Nation zu überleben. Die kapitalistische Gesellschaft verwische erbarmungslos ihre ethnischen Eigenschaften, da sie ihre spezifische wirtschaftliche Funktion als Vermittler und Geldverleiher abschaffe. Bauer Schloß: „Man sagt heute selbst in West- und Mitteleuropa vielleicht zuviel, wenn man behauptet, dass die Juden keine Nation sind. Aber man darf gewiss behaupten, dass sie aufhören, eine Nation zu sein."120 Selbst in Rußland und Osteuropa, wo die nicht assimilierte breite Masse der Juden den Kern der jüdischen Nation bildete, beginne der moderne Kapitalismus die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Schranken zwischen Juden und Nichtjuden niederzureißen. Ziel der Sozialdemokraten müsse es sein, diese natürliche Entwicklung zu fordern. Sie wollten die östlichen jüdischen Proletarier gemeinsam mit den deutschen und slawischen Arbeitern in einen allgemeinen Klassenkampf hineinziehen. Daher widersetzten sich die Sozialisten vehement jeglicher Beibehaltung der traditionellen Ghettogewohnheiten, „die Kultur von Menschen, die ausserhalb der Gesittung der europäischen Völker standen, sie eine ganze Welt längst erstorbener Gedanken, Wünsche, Sitten von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten".121 Otto Bauer sah in der kulturellen Assimilation ein sine qua non für die Vorbereitung der jüdischen Arbeiter für die Teilnahme am allgemeinen Klassenkampf: „Dann erst schwindet die besondere jüdische Noth, und es bleibt ihm nichts als die gemeinsame proletarische Noth, die er im gemeinsamen Kampfe Schulter an Schulter mit dem arischen [sie!] Kollegen bekämpfen und besiegen wird."122

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In dieser marxistischen Sichtweise wurden sowohl der Zionismus als auch die jüdische nationale Autonomie allgemein als unwillkommen und als reaktionäre Abweichungen vom internationalistischen Charakter der proletarischen Sache bezeichnet. Um die Jahrhundertwende begann eine Handvoll sozialistischer Zionisten, diese ideologischen Prämissen in Frage zu stellen. Ihrem führenden Theoretiker, dem radikalen russischen Emigranten Nachman Syrkin (1867-1924) zufolge, ahmten die jüdischen assimilationistischen Führer in der internationalen Arbeiterbewegung die jüdische Bourgeoisie nach, indem sie ihr Judentum als ungewollte Last abschüttelten.123 1898 behauptete Syrkin, es gäbe keine andere Nation, deren revolutionäre Avantgarde so weit gegangen sei, „die Assimilation in die herrschende Nationalität zu predigen". Ein solcher sozialistischer Kosmopolitismus basiere auf falschen Voraussetzungen. In Wiederholung früherer österreichischer zionistischer Denker und Publizisten wie Nathan Birnbaum und Saul Raphael Landau blieb Syrkin bei seiner Meinung, die internationale Sozialdemokratie sollte den nationalen Charakter keines Volkes unterdrücken. Im Gegenteil, sie sollte jeden Kampf für eine nationale Befreiung fördern, und so auch den des jüdischen Volkes. Der Sozialismus hätte aufgrund ihrer unterdrückten wirtschaftlichen Situation und ihrer messianischen Tradition, die menschliche Freiheit und die soziale Gerechtigkeit zu verteidigen, eine solche Anziehungskraft auf die Juden ausgeübt. Sie brauchten aber auch den Zionismus, da ihre einzigartige gesellschaftliche Stellung unter den gegenwärtigen Bedingungen einen echten Kampf ausschließe. Außerdem könne der Sozialismus „das jüdische Problem erst in ferner Zukunft lösen".124 Wie Pinsker, Birnbaum und Herzl sah auch Syrkin im Erwerb eines nationalen Territoriums die einzig unmittelbare Abhilfe für diese Misere. Der Zionismus sei daher eine Bewegung, die notwendigerweise alle Klassen von Juden betreffe und als zentrale schöpferische Aufgabe der nationalen Regeneration über dem Klassenkampf stehe. Solche Argumente machten nur geringen oder gar keinen Eindruck auf die jüdischen Intellektuellen in der österreichischen Arbeiterbewegung vor 1914. Auch unter den führenden Schriftstellern und Künstlern des Wiener Fin de Siecle fand der Zionismus nur wenige Anhänger, selbst unter jenen, die unmittelbarer als andere von dem Problem betroffen waren, das sich durch die jüdische Identität stellte.125 Zu den militantesten antizionistischen Kritikern zählte der Satiriker Karl Kraus (1874-1936), der 1898 ein boshaftes Pamphlet gegen Herzl und den Zionismus veröffentlichte, das den sarkastischen Titel Eine Krone fiirZion trug. Kraus war ein junger, in Böhmen geborener Jude aus dem Mittelstand, der in seinem ersten bedeutenden Werk, Die demolierte Literatur, bereits seine Verachtung für das modische literarische Establishment in Wien zum Ausdruck gebracht hatte. Nicht weniger heftig reagierte er auf die zionistische Bewegung.126 Es gab viele Gründe für Kraus' Feindseligkeit, einige rein ästhetischer Natur; so

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machte er sich über die Zionisten wegen ihrer altmodischen „assyrischen" Bärte und ihrer Haartracht lustig. In mancher Hinsicht erinnerte seine antizionistische Haltung an eben jene jüdischen Liberalen, die er in seinem satirischen Journalismus stets an den Pranger gestellt hatte. Wie die Liberalen war auch er ein bedingungsloser Verfechter der Assimilation und sah den Zionismus als vorübergehende Reaktion auf den Antisemitismus an - eine Reaktion, die diese Krankheit wohl eher verschlimmern als heilen würde. Gleichzeitig enthielt seine Attacke gegen das dekadente Wiener Bürgertum und die mondänen Jung Wien-hiteraten, einschließlich Theodor Herzls (den er in erster Linie als Feuilletonisten der Neuen Freien Presse angriff), aber einen radikaleren Anstrich. Seine Einstellung ähnelte 1898 jener der Sozialdemokraten. Karl Kraus behauptete auch tatsächlich in seinem Pamphlet, daß eher der Sozialismus als der westliche, bürgerliche Zionismus die breite Masse der Juden in Osteuropa retten würde.127 Eines der störenderen Merkmale der Kraus'schen Polemik war das zwanghafte Herumreiten auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Wiener Antisemiten und der Zionisten. Er beschuldigte beide des Versuches, die „Judenfrage" immer wieder zu schüren und im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu halten. Herzl und die nationalistischen jüdischen Studenten waren in seinen Augen nichts anderes als „jüdische Antisemiten".128 Für den Ruf „Hinaus mit den Juden!" machte er zum Teil die unverantwortliche zionistische Werbung für ihre „verwerflichen Ziele" in Wien verantwortlich. Zum Glück bestünde keinerlei Chance auf eine Realisierung derselben.129 In Westeuropa, wo die assimilierten Juden ein saturiertes Leben führten, sei das zionistische Schlagwort vom „jahrtausendelangen Schmerz der Juden" eine völlig künstliche Fiktion, die - so war Kraus überzeugt - wohl kaum Widerhall finden würde. In Osteuropa, wo eine obskurantistische Orthodoxe die armen Juden davon abhielt, sich ihren proletarischen Klassengenossen anzuschließen, hätte der Zionismus zugegebenermaßen Fortschritte erzielt und versuche, sie in ein neues nationales Ghetto einzuschließen.130 Statt der immer schwächer werdenden religiösen Bande der Solidarität hoffte die zionistische Organisation, eine Verbindung zwischen den jüdischen Webern aus Lodz und den reichen Israeliten der Ringstraße herzustellen. Dies war nur eine von vielen Illusionen, die Kraus mit aller Entschiedenheit zerstören wollte. Mit besonderem Genuß karikierte Kraus den Zionistenkongreß in Basel. Der Anblick von Abgeordneten „des auserwählten Volkes", die sich begeistert über die jüdische Flagge beugten und von einem Heimatland an den Ufern des Jordan träumten, mußte seinen höhnischen Spott hervorrufen.151 Mit imbarmherziger Ironie kritisierte er die selbstgefällige Werbung der Zionisten, die sich freuten, daß öffentlich keine Stimme gegen ihre Versammlung in einer Schweizer Stadt laut geworden war. Christen hatten sogar ihre Sympathie für die neue Bewegung zum Ausdruck gebracht. Und Kraus zufolge war diese Brüderlichkeit auch wohlbegründet:

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„Bekanntlich registriren die Zionisten jenen Judenkrawall mit einer gewissen Genugt u u n g , und sie haben sich über die galizischen Plünderungen gefreut, als ob diese ausschließlich ihr Erfolg gewesen wären, während doch auch dem Polenklub ein gewisses Verdienst um die Sache nicht abzusprechen ist. Daß im Zionistenprogramm die confessionelle Schule nicht fehlt, bedarf keiner besonderen Erwähnung; an der Förderung des neuen Bezirksschulratherlasses, der die Theilung der Volksschulclassen verfügt, haben jüdischnationale Journalisten und der Wiener Gemeinderath gleichen Antheil."152 Noch nicht zufrieden mit dieser boshaften falschen Symmetrie, ging Kraus so weit zu behaupten, daß sich die „angeborene Sensitivität der Jung-fFi'erz-Dichter als ein fur die neue Lehre ungemein empfänglicher Boden bewährt". 153 Kraus fuhr fort: „Erst der kleingeistige Zionismus, dessen politische Linie mühelos bis zum nahen Endpunkte der realen Unmöglichkeit zu verfolgen ist, hat es diesen Herren, die bisher ausschließlich mit ihren Nerven beschäftigt waren, ermöglicht, sich auch als Zeitgenossen zu fühlen. Erstaunlich rasch haben sie den Schmerz des Judenthums, den tausendjährigen, bewältigt, der ihnen jetzt zu tausend ungeahnten neuen Posen verhilft." 134 Durch den Zionismus hätten diese Kaffeehausliteraten (die Kraus von Herzen verabscheute) sich eine Weltanschauung angeeignet, die über lackierte Fingernägel und den aufgeblasenen Schwulst der bürgerlichen Salons hinausging; statt des ausgelaugten und weltverdrossenen Asthetizismus hätten diese Ringstraßengecken (Hermann Bahr, Schnitzler, Beer-Hofmann, Herzl, Saiten) ein neues Ziel gefunden - die Umwandlung der Juden in eine landwirtschaftlich produktive Nation. Die Neubelebung von Jung Wien sei aber nur ein Aspekt der durch den Zionismus bewirkten „Metamorphose". „Robustere Naturen erhalten durch das zionistische Glaubensbekenntnis die Prägung des fanatisirten Judenbewußtseins. Ich denke an die studentischen Losgeher gen Osten, an die Kerntruppen eines möglichen Religionskrieges. Ihnen ist es gelungen, Christen, die dem Antisemitismus bisher keinerlei Geschmack abzugewinnen vermochten, allmählich von der Heilsamkeit der Absonderungsidee zu überzeugen."155 Jüdische nationalistische Studenten, entschlossen, ihre Überheblichkeit in all ihrer „grotesken Aufdringlichkeit" zur Schau zu stellen, schlugen vor, die wenig reizvollen äußerlichen physischen Züge, die durch den pöbelhaften Antisemitismus stigmatisiert wurden, in eine Quelle des Stolzes zu verwandeln. Sie würden nicht zulassen, daß die Alldeutschen sich ausschließlich dem Kampf gegen den Klerikalismus und die Slawen widmeten. Der Zionismus würde nicht erlauben, daß die „Judenfrage" ganz still und heimlich verschwand. Aber Kraus vermochte keinen Wert in einer Philosophie zu sehen, die seiner Ansicht nach darin bestand, „ein Verdienst daraus zu machen, keine geradlinige Nase zu besitzen".

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Nachdem er solcherart das dumme Geschwätz der zionistischen Studenten mit ihrem demonstrativ provokanten Benehmen aufgezeigt hatte, ging Kraus zu einer kurzen Kritik des utopischen Romanüzismus über, den das wirtschaftliche zionistische Programm enthielt. Die Entwicklung Palästinas interessierte ihn jedoch weit weniger als das linguistische Babel am Basler Kongreß, das nicht einmal die literarischen Talente des Dr. Herzl zu überwinden vermochten. Diskussionen in Basel über die Möglichkeiten einer neuen „nationalen" jüdischen Kultur auf Basis der hebräischen Sprache klangen für Kraus nicht weniger phantastisch als der Vorschlag, aus den unterschiedlichen Interessen der deutschen, englischen, französischen, slawischen oder türkischen Juden könnte ein jüdischer Staat geschmiedet werden. 156 Trotz seines Antizionismus wollte Kraus nicht als Advokat der „Assimilationslehre" gesehen werden, obwohl er ihren Glauben an die außerordentliche Anpassungsfähigkeit der Juden teilte.137 Er war sich bewußt, daß das Zentrum der zionistischen Agitation in Osterreich sich unausweichlich auf Galizien konzentrieren mußte, wo das wirtschaftliche Elend die breite Masse der Juden empfänglicher gemacht hatte. Aber das in Galizien für zionistische Ziele gesammelte Geld sollte - so meinte Kraus - besser für den Aufbau eines Netzes geeigneter Erziehungseinrichtungen ausgegeben werden. Wie die Liberalen, so wollte auch Kraus den orthodoxen Einfluß zurückdrängen und die galizischen Juden davon überzeugen, ihre anachronistische Haartracht (Payot), ihre überholte Kleidung und die jiddische Sprache aufzugeben. Eine Kolonisierung in Galizien selbst würde, so meinte er ironisch, sicherlich wesentlich weniger teuer und utopisch sein als „die geplante Radicalkur des Exodus". 158 Kraus war offensichtlich überzeugt, der Zionismus würde sich als nichts anderes als eine vorübergehende Laune des Fin de Siecle erweisen. Seiner Ansicht nach setzte er sich sowohl über die Vernunft als auch über die Realität hinweg. Die Aussichten auf eine gesellschaftliche Veränderung und Verbesserung innerhalb der europäischen Kultur - einschließlich des allmählichen Rückgangs des Antisemitismus - schienen entschieden günstiger und wahrscheinlicher als die Rückkehr der Juden nach Palästina. 159 Humanitäres Gerede könne den reaktionären Ghetto-Charakter des zionistischen Unternehmens nicht verhehlen. „Sieht man jedoch von allen Möglichkeiten einer politischen Gefahr ab, dann hat noch immer der gute Geschmack ein Recht, dagegen zu protestiren, daß die Gedankenfülle, aus der der betrunkene Greisler in Hernais sein,Hinaus mit Euch, Juden!' ruft, im Zionismus ihre einfache Wiederholung erfahrt, und daß die Antwort,Jawohl, hinaus mit uns Juden!' bis auf den feierlicheren Ton gar zu wenig Abwechslung bietet ..." ,40 Kraus' Argumentation schien jener der reichen assimilierten Wiener Juden bemerkenswert ähnlich, die er um nichts weniger verabscheute als die Zionisten. Während er den Snobismus dieser „feudalen Juden" und der großen jüdischen Finanzdyna-

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Der Aufstieg des Zionismus

stien ablehnte, sympathisierte er dennoch eindeutig mit ihrer Weigerung, den „zionistischen Schwindel" anzunehmen. Die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen diesen Patriziern und dem galizischen Plebs war zu groß, um durch laut schallende Proklamationen der „jüdische Solidarität" überbrückt zu werden. Kraus folgerte: „Die Besitzenden, Feudaljuden wie Bürger, werden die zionistische Aufforderung mit einem breiten Lächeln beantworten. In dem ermatteten Herzen der galizischen Proleten wird sie verderbliche Gluten entzünden. Die Sehnsucht wärmt nur so lange, als die Unkenntnis realer Tatsachen vorhält. Das Erzeugen einer fata morgana ist noch keine Socialreform, sondern falsche Vorspielung, und dem Wanderer in der Wüste muss jedes Trugbild den Leidensweg verlängern. Es ist kaum anzunehmen, dass die Juden diesmal trockenenn Fusses in das gelobte Land einziehen; ein anderes rothes Meer, die Socialdemokratie, wird ihnen den Weg dahin versperren."141 Kraus' Haarspaltereien richteten sich gegen Max Nordau und Theodor Herzl - den „König von Zion", wie er ihn sarkastisch nannte. „Um die Entwicklung des Herrn Dr. Theodor Herzl, dieses begabten Wiener Prosaisten, mag man sich schon bekümmern. Aber dass auch aus dem einzigen Grunde, weil er einen Übergang vom Feuilletonfach zum Leitartikel brauchte, Hunderttausende, von einem Schimmer eitlen Glanzes genarrt, doppelt elend in ihr altes Los zurücksinken müssen - war gewiß nicht der in der Weltordnung vorgezeichete Lauf der Dinge."142 Dem Herzischen Credo „Wir sind ein Volk" setzte Kraus die Uberzeugung entgegen, die Juden seien ein verfallendes Volk. Am Zionismus könne nicht viel dran sein, wenn seine Verfechter nur eine ausgefranste Weltanschauung mit den Antisemiten teilten. Wie Harry Zohn bemerkte, sprach Kraus „Dr. Herzl das Talent ab, staatenbildend zu wirken", aber Herzl, „der in seinen voluminösen Tagebüchern manche geringere Anfeindungen verzeichnete", machte „von diesem unausgegorenen, aber durchaus ernstzunehmenden Werk öffentlicht keine Notiz".143 Obwohl Kraus als eine Art literarischer Außenseiter bezeichnet werden kann, waren seine Schmähreden in Wien nicht ohne Einfluß. Der Beiname „König von Zion", mit dem er sich über Herzl lustig zu machen pflegte, fand weite Verbreitung. Stefan Zweig erinnert sich: „Wenn er [Herzl] das Theater betrat, ein stattlicher Mann mit Bart, von ernstem und unwiderstehlich aristokratischem Auftreten, erhob sich ein Gemurmel: Der König von Zion oder ,Seine Majestät ist gekommen'. Jedes Gespräch, jeder Blick schien auf diesen ironischen Titel anzuspielen. Die Zeitungen wetteiferten miteinander, die neue Idee ins Lächerliche zu ziehen - d. h. all jene, in denen es nicht überhaupt verboten war, wie in Herzls eigener Neuen Freien Presse, das Wort Zionismus zu erwähnen."144

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Das Wien des Fin de Siecle war nicht wirklich freundlich zu seinen kreativsten Söhnen, ob sie nun Juden oder Nichtjuden waren - am wenigsten zu denen, die in sich eine prophetische Berufung fühlten. Herzls Bekenntnis gegenüber Stefan Zweig im Jahre 1904 ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich: „Im Ausland war es, wo ich alles lernte, was ich weiß. Nur dort lernen wir in großen Perspektiven zu denken. Ich bin sicher, daß ich hier [in Wien] nie den Mut zu dieser ersten Idee gehabt hätte; sie hätten sie mit ihrer Ironie zerstört, bevor sie überhaupt noch voll entwickelt war. Aber, Gott sei Dank, war sie gereift, bevor ich sie hierher brachte, so konnten sie ihr nichts anhaben."145

IV.

KULTUR UND IDENTITÄT

15. Propheten des Untergangs: Karl Kraus und Otto Weininger Es gibt zwei schöne Dinge aufder Welt: Der Jfeuen Freien Presse" anzugehören oder sie zu verachten. Ich habe nicht einen Augenblick geschwankt, wie ich zu wählen hätte. Karl Kraus, Die Fackel (1899) Männer, die kuppeln, haben immer Judentum in sich: und damit ist der Punkt der stärksten Übereinstimmung zwischen Weiblichkeit und Judentum erreicht. Der Jude ist stets lüsterner, geiler, wenn auch merkwürdigerweise, vielleicht im Zusammenhang mit seiner nicht eigentlich amoralischen Natur, sexuell weniger potent und sicherlich allergroßen Lust wenigerfiihig als der arische Mann. Kuppelei ist schlirf3üch Gremverwischung: und der Jude ist der Grenzverwischer Katexochen. Er ist der Gegenpol des Aristokraten. Der Jude ist geborener Kommunist. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter (1905) Zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unwert und Wert, zwischen irdischem und höherem lieben, zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter (1903) Die Juden müssten erst das Judentum überwunden haben, ehe sie fiir den Zionismus reif würden. Zu diesem Beruf wäre vor allem geboten, daß die Juden sich selbst verstehen, daß sie sich kennenlernen und gegen sich kämpfen, innerlich das Judentum in sich besiegen wollten. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter (1903) Ich weiss nicht, was heute jüdische Eigenschaften sind. Wenn es nur eine gibt f...] den singenden Tonfall, in dem sie ihre Geschäfte besorgen und besprechen, so sage ich, daß ihn die anderen auch treffen, denn es ist der Tonfall, der das Rollen des Geldes wohlgefällig begleitet. Es ist die Sprache der Welt, es ist ihre Sehnsucht und wir dürfen sie, müssen sie darum als einen jüdischen Zug ansprechen. Karl Kraus, „Er ist doch ä Jud" (1913) Ich glaube von mir sagen zu dürfen, daß ich mit der Entwicklung des Judentums bis zum Exodus noch mitgehe, aber den Tanz um das goldene Kalb nicht mehr mitmache und von da nur jener Eigenschaften mich teilhaftig weiß, die auch den Verteidigern Gottes und Rächern an einem verirrten Volk angehaftet haben. Karl Kraus, Die Fackel, Oktober 1913

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Kultur und Identität

WIEN

D E S Fin

de Siecle

ZEIGTE

VIELLEICHT

MEHR

ALS J E D E S

ANDERE

geistige und kulturelle Zentrum der europäischen Zivilisation das Janusgesicht der Moderne: die Kombination einer zutiefst befreienden und emanzipatorischen Botschaft mit einer quälenden Erforschung ihrer dunklen, dämonischen Aspekte und der durch seine kulturelle Elite zur Schau gestellten Unsicherheit angesichts des politischen Niedergangs, der raschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderung und der heftigen ethnischen Konflikte, die Wien seinen ganz eigenen Charakter und eine Originalität verliehen: diese rastlose Identitätssuche und intellektuell-ästhetische Innovationsfreudigkeit, die mit altehrwürdigen Konventionen und Tabus der westlichen, christlichen Kultur brach. Innerhalb dieses schöpferischen Gärungsprozesses waren Juden überproportional stark vertreten, was den meisten zeitgenössischen Beobachtern - und nicht nur den Verfechtern antisemtitischer Mythologien - ins Auge sprang. Namen wie Freud, Adler, Schnitzler, Mahler, Schönberg, Altenberg, Kraus, Weininger, Broch und Stefan Zweig - ganz zu schweigen von jenen jüdischer Herkunft wie Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Wittgenstein - erinnern an den bedeutenden Anteil, den Juden unter den führenden Neuerern innerhalb der Wiener kulturellen Elite hatten. In dieser Stadt, die für ihre oberflächliche Fröhlichkeit und die Straußwalzer berühmt war, verschmolzen persönliche Traumata und kollektive Ängste zu so unterschiedlichen Bewegungen wie der Psychoanalyse, dem Austromarxismus, dem Zionismus, den antisemitischen Massenparteien, dem logischen Positivismus und der Wiener Secession, die das Antlitz des 20. Jahrhunderts verändern sollten. Dank ihrer Sonderstellung innerhalb der städtischen intellektuellen Elite standen die Juden unausweichlich im Vordergrund dieses Gärungsprozesses und des Wandels. Da sie in zweifacher Hinsicht - sowohl als Intellektuelle als auch als Juden - von anderen Teilen der herrschenden Elite entfremdet waren, spielten sie eine häufig entscheidende Vorreiterrolle bei der Entwicklung radikal neuer Paradigmen, Mythen und kultureller Werte. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß die Krise des liberalen Rationalismus und die Politikverdrossenheit, die das österreichische Fin de Siecle ganz allgemein prägte, von den jüdischen Intellektuellen besonders stark empfunden wurden; denn die Niederlage des politischen Liberalismus war mit dem Aufstieg eines triumphierenden Massenantisemitismus zusammengetroffen, der ihr geistiges Gleichgewicht, ja die Grundlage der jüdischen Existenz bedrohte. Die moderne kulturelle Krise, die Osterreich überrollte, verband sich auf diese Weise unentwirrbar mit grundsätzlichen Fragen, welche die jüdische Identität im persönlichen wie kollektiven Sinn betrafen. Diese intellektuelle Krise konnte manchmal extreme Formen annehmen (wie ζ. B. im Fall von Karl Kraus und Otto Weininger), was zur Folge hatte, daß sowohl die wienerischen als auch die jüdischen Bestandteile in einer einzelnen Identität

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radikal negiert wurden. In beiden Fallen gehörte die Selbstverneinung zu einer breiteren, weiterreichenden Kritik an der Moderne per se. Angst- und Unsicherheitsgefühle, die Neigung zur Selbstkritik und das damit in Zusammenhang stehende Streben nach einem moralischen Absolutheitsanspruch förderten eine apokalyptische Stimmung mit Kulturpessimismus und Verzweiflung. Bei Karl Kraus äußerte sich diese Rebellion in einer bitteren, satirischen Denunziation der herrschenden ästhetischen und kulturellen Normen in der Wiener Gesellschaft; für den stärker introvertierten und introspektiven Weininger führte die ethische Abrechnung mit den Lastern der Zeit zu einem selbstzerstörerischen Kampf mit den Dämonen des Ich, und letztlich zum Selbstmord. Zum Angriff auf die Oberflächlichkeit und Dekadenz des Fin de Siecle in all ihren literarischen und künstlerischen Erscheinungsformen gehörte für Kraus wie für Weininger eine scharfe Reaktion gegen das jüdische Milieu, aus dem sie ursprünglich stammten und dessen Werte sie letztlich ablehnten. In ihrer umfassenderen Ablehnung der Wiener Moderne und der Welt der Kaffeehausliteraten, in der sie sich bewegten, in ihrem Kampf gegen den Asthetizismus und den ethischen Relativismus oder gegen das Philistertum der Großstadtpresse und gegen die Heuchelei der herrschenden Sexualmoral waren sowohl Kraus als auch Weininger Propheten, die gegen den Strom schwammen. Die Kulturkritik von Kraus und Weininger, die eigentlich ebenso unpolitisch war wie das Ethos der Wiener Intellektuellen, gegen das sie ankämpfte, griff auf ältere und zutiefst individualistische Werte wie Integrität, Authentizität und moralische Reinheit zurück. Diese beiden antijüdischen Juden verkörperten in ihrer für sie charakteristischen und spezifischen Art die zentralen Konflikte der Zeit und kämpften zugleich gegen diese an; jeder der beiden offenbarte in seiner persönlichen Biographie eine wichtige Facette der jüdischen Identitätskrise im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Karl Kraus, einer der großen Stilisten der modernen deutschen Literatur und Wiens Meistersatiriker, wurde am 28. April 1874 als zweitjüngstes von zehn Kindern in der böhmischen Kleinstadt Jicin geboren. Als der Bub drei Jahre alt war, zog sein Vater, ein wohlhabender jüdischer Papierhersteller, mit seiner Familie nach Wien, wo Kraus die Schule besuchte und danach eine Zeitlang an der Universität studierte. Nach einem kurzen und erfolglosen Versuch, eine Schauspiellaufbahn einzuschlagen, wandte er sich dem Journalismus zu, und trotz seiner Jugend wurde ihm eine führende Position bei der Neuen Freien Presse als möglicher Nachfolger des verstorbenen Feuilletonredakteurs Daniel Spitzer angeboten. Nachdem er dieses verlokkende Angebot ausgeschlagen hatte, gründete er am 1. April 1899 seine eigene Zeitschrift, Die Fackel, die er bis zu seinem Tod durch Herzversagen im Jahr 1936 mit insgesamt 922 Nummern herausgeben sollte. Bis 1911 wurden in der Fackel noch Beiträge von so berühmten Zeitgenossen wie

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August Strindberg, Frank Wedekind, H. S. Chamberlain, Georg Brandes, Else Lasker-Schüler und von Österreichern wie dem Komponisten Arnold Schönberg, dem Schriftsteller Franz Werfel und dem Dichter Georg Trakl abgedruckt. Danach wurde Die Fackel zur Gänze von Karl Kraus selbst verfaßt. Das Debüt dieses kleinen roten Büchleins, in dem Kraus 57 Jahre lang einen einsamen Guerillakrieg gegen die österreichische Presse und das literarische Establishment fuhren sollte, wurde von einem Wiener zeitgenössischen Autor mit folgenden Worten beschrieben: „Eines Tages, soweit das Auge reichte, alles - rot. Einen solchen Tag hat Wien nicht wieder erlebt. War das ein Geraune, ein Geflüster, ein Hautrieseln! Auf den Straßen, auf der Tramway, im Stadtpark, alle Menschen lesend aus einem roten Heft... Es war narrenhaft... Und dieses ganze Heft, mit Pointen so dicht besät, daß man ... behutsam lesen mußte, um keine der blitzenden Perlen zu verlieren, war von einem Menschen geschrieben."1

Die meisten literarischen Arbeiten von Karl Kraus wurden für Die Fackel geschrieben, in der Essays, dramatische Werke, Dichtungen und Kulturkritik mit beißenden Angriffen auf die Moral der Wiener Gesellschaft zu finden waren. Die Hauptzielscheiben ihrer häufig brillanten und stechenden Polemik waren die Verlogenheit, der Pomp und die Heuchelei der österreichischen Presse, wie dies insbesondere in der Neuen Freien Presse exemplarisch zum Ausdruck kam.2 Die Fackel war jedoch weit mehr als eine Übung in alternativem Journalismus, die nur für Wien Bedeutung hatte. Auf ihren Seiten erfolgte eine weitreichende Neubewertimg des Verhältnisses zwischen Texten und Fakten, zwischen Sprache und der Welt, zwischen den Worten und Taten - eine Neubewertung, die über die unmittelbaren Zielsetzungen seiner satirischen Belange hinausging.5 In ihren Kolumnen sprach sich Kraus so deutlich wie keiner seiner Zeitgenossen für eine zutiefst existentielle Sicht der Literatur aus, ihrer Moral und ihrer politischen Funktion sowie ihrer ungeheuer wichtigen Aufgabe als Seismograph der Zeiten. Für Kraus führte die Korruption der Sprache zur Korruption des Denkens und daher der Taten, im öffentlichen wie im privaten Bereich.4 In der Tat war Kraus sein Leben lang von der Sprache als Quelle der Wahrheit besessen.5 Er sah sie nicht nur aus Ausdrucksmittel an, sondern als eine Art geoffenbartes innerstes Wesen der Welt.6 Als echter Sprachmystiker sah Kraus in der Sprache „die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet".7 Die Sprache sei die Mutter des Gedankens, die Quelle, aus der er seine Gedanken schöpfe.8 Gerade diese heilige Inspirationsquelle würde durch den neuen Journalismus rasch im Interesse von Massenauflagen und Profit verdorben.9 Karl Kraus' Verbitterung über die Wiener Presse war nicht nur eine Reaktion auf deren Bestechlichkeit und Unterwürfigkeit gegenüber kommerziellen Interessen. Er

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verachtete insbesondere die ständige Vermischung von Meinung und Fakten, von subjektiven Reaktionen und objektiver Information, wie sie im Feuilleton besonders kraß zum Ausdruck kam - einem Genre, das im kulturellen Leben Wiens im Fin de Stiele eine herausragende Rolle spielte. Für Kraus symbolisierte das Feuilleton diese Vermischung von literarischen Stilrichtungen, die die moralische und künstlerische Integrität des Verfassers unterminierte, wobei Fakten nach subjektiven Kriterien verzerrt wurden, während gleichzeitig die schöpferische Phantasie auf das Niveau von Wortmanipulationen reduziert wurde, denen jeglicher ethischer Inhalt genommen worden war. 10 Bei seinem Kreuzzug für eine purifizierte Kultur erklärte Kraus nicht nur der Presse den Krieg, sondern auch der Korruption von Ausdruck und Geschmack, die alle Ebenen der Wiener Gesellschaft infiziert habe. Mit besonderer Schärfe wandte er sich gegen die Ästheten von Jung Wien. Nach Kraus' Meinung priesen sie einen kultivierten Lebensstil und den Sinn für alles Schöne, während sie gleichzeitig das ignorierten, was ein Kritiker „die männlichen Tugenden der Vernunft, Ethik und die in der gewöhnlichen Sprache enthaltenen ehrlichen Wahrheiten, ob in Worten oder Dingen" nannte.11 Für diesen puritanischen Standpunkt fand Kraus einen wichtigen Verbündeten in seinem Architektenfreund Adolf Loos (1870-1933). Dessen Pioniertat, das funktionelle Gebäude am Michaelerplatz gegenüber der Hofburg, war 1910 als Bedrohung für die traditionellen ästhetischen Werte der Doppelmonarchie abgelehnt worden. Kraus verteidigte Loos und faßte ihre gemeinsame Rebellion gegen die ornamentale, dekorative Kultur Wiens mit der berühmten Bemerkung zusammen: „Adolf Loos und ich, er wörtlich, ich sprachlich, haben nichts weiter getan als gezeigt, daß zwischen einer Urne und einem Nachttopf ein Unterschied ist und daß in diesem Unterschied erst die Kultur Spielraum hat. Die andern aber, die Positiven, teilen sich in solche, die die Urnen als Nachttöpfe, und die den Nachttopf als Urne behandeln." 12 Carl Schorske hat Karl Kraus als „eine Art anti-bourgeoisen Bürgerlichen [beschrieben], der die traditionellen moralischen Werte seiner Klasse gegenüber deren Praktiken hochhält - besonders auf den wichtigsten Gebieten der liberalen Kultur Wiens: der Presse und dem Theater". 13 An dieser Bemerkung ist viel Wahres. Im Gegensatz zu der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Dekadenz schlug Kraus eine Rückkehr zu älteren, mehr privaten Tugenden vor, wie der Wahrhaftigkeit und der Integrität des einzelnen; gleichzeitig sollten sittliche Werte wieder Anspruch auf Absolutheit haben. Charakteristisch für diesen Versuch, die moralische Kraft und Sprachwahrheit zu retten, war sein Theater der Dichtung. Diese berühmten EinMann-Lesungen seiner eigenen Werke (aber auch von Shakespeare, Hauptmann und österreichischen Dramatikern des frühen 19. Jahrhunderts wie Raimund oder Nestroy) verzichteten auf szenische Unterstützung, technische Spielereien und

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Schauspielerkult, die seiner Meinung nach den Geschmack des Wiener Theaterpublikums verdorben hätten.14 Seit den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts spielte die Gesellschaftskritik eine wichtige Rolle im streitbaren Journalismus von Karl Kraus. Mit beißendem Spott griff er die Korruption der habsburgischen Beamten, die Mißbräuche eines antiquierten Rechtssystems, Hofintrigen, die ätzende Pathologie der österreichischen Politik, die sexuelle Doppelmoral und die Kaffeehausdekadenz der Wiener literarischen Moderne an.15 In diesen Lehrjahren entwickelte der junge Kraus eine kompromißlose Verachtung der „amoralischen", hedonistischen Kultur Wiens, des Provinzialismus und der Heuchelei seines politischen und literarischen Establishments.16 In seinem Essay Sittlichkeit und Kriminalität (1902) machte er sich besonders über die falsche Moral und die Doppelbödigkeit des Rechts, der Gerichte und der Gesellschaft insgesamt in Fragen der Sexualität lustig. Zutiefst verachtete Kraus die schweinische Haltung einer männlichen chauvinistischen Kultur, die den Frauen die Sinnlichkeit verwehrte, gleichzeitig aber eine verachtenswerte Zügellosigkeit bei Männern guthieß.17 Während Kraus die häßliche Seite des Lebens und der Kultur Österreichs gnadenlos bloßstellte und satirisch überzeichnete, war er jedoch weit davon entfernt, sich selbst ganz mit der sozialdemokratischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu identifizieren. Trotz seiner niedrigen Meinung von den Habsburgern (auch vom alternden Kaiser Franz Joseph) und deren wichtigsten Stützpfeilern - der Armee, dem Klerus und den kaiserlichen Beamten blieb er ein kultureller Konservativer, der allen Ideologien, politischen Bewegungen und kollektiven Lösungen mißtraute.18 Kraus hatte in der Satire nie ein Mittel zur Weltveränderung gesehen; ihre wichtigste Aufgabe war es seiner Ansicht nach, durch die Bloßstellung des sprachlichen Mißbrauchs sowie der Verbrechen und Perversionen einer Zeit, die sich durch ihre eigenen Aussprüche verdammte, zu demaskieren. Kraus' Autopsie dessen, was ihm als eine schon sterbende Kultur erschien - die Kultur Österreich-Ungarns - war eine höchst persönliche Geschichte, die jeden kleinsten Hinweis auf eine gesellschaftliche oder politische Gruppe vermied. Seine hochsensiblen Antennen fühlten nur zu klar die Erschöpfung und den Bankrott der überholten politischen Struktur, in die er hineingeboren worden war, und die übertriebene Raffinesse deren Kultur, auf die er mit der Wut eines Propheten reagierte.19 Kraus sah schließlich in diesem untergehenden Reich eine „Versuchsstation fur den Weltuntergang", das die Saat für den katastrophalen Zerfall Europas im Ersten Weltkrieg schon in sich trug. Diese Tragödie sollte er in seinem apokalyptischen Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit mit durchdringender Intensität einfangen. Keinem anderen Werk der mitteleuropäischen Literatur ist es gelungen, die Schrecken und Qualen des modernen Krieges auf diese Weise zu dokumentieren und den Visionen des Untergangs eine künstlerische Form solch gigantischen Aus-

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maßes zu verleihen.20 Kraus' Meisterwerk über den Krieg ist eine alptraumartige Fotomontage aller Klischees, Platitüden und Lügen, über die berichtet wurde, die redaktionell bearbeitet, konsumiert und in Taten von Staatsmännern, Generälen und anderen Handlangern des mechanisierten Todes umgemünzt wurden.21 Abgesehen von der Schuld der Militaristen, Geschäftemacher, Demagogen, Kirchenmänner und Kriegstreiber waren in seinen Augen die Damen und Herren der Presse die schlimmsten Bösewichte - diejenigen, die die Humanität entweihten, die durch „die schwarze Magie" der Druckerschwärze diesen Mangel an Phantasiereichtum produziert hätten, der es der Menschheit erlaubt habe, sich selbst blind auszulöschen.22 Karl Kraus' Anklage der Wiener Presse als beispiellosen Vergifter des menschlichen Geistes und als Werkzeug der Auflösung und des Verfalls enthielt einen durchaus antisemitischen Anstrich. Viele der literarischen „Sprachverderber", die er gnadenlos kritiserte, waren Juden, dies traf auch auf einen beträchtlichen Anteil der Kriegsgewinnler, Redakteure und Journalisten zu, die er angriff. Viele seiner schlimmsten Fehden trag er mit Wiener jüdischen Zeitungsmagnaten aus wie Moriz Benedikt und Imre Bekessy, mit prominenten Berliner Publizisten und Kritikern jüdischer Abstimmung wie Maximilian Harden und Alfred Kerr oder mit der österreichischen Kriegsberichterstatterin Alice Schalek. Schon in seiner ersten wichtigen Arbeit, Die demolierte Literatur (1897), hatte Kraus eine entfesselte Satire gegen den Literaturzirkel Jung Wien geschrieben, der sich auf das legendäre Cafe Griensteidl konzentrierte. Dieser Gruppe gehörten jene Personen an, gegen die sich seine kritische Feder in erster Linie richtete - Schriftsteller jüdischer Abstammung wie Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Felix Saiten und Theodor Herzl, dem er verantwortungslosen literarischen Dilettantismus, träge Oberflächlichkeit und Begünstigung modernistischer Klischees vorwarf.23 Andererseits war Kraus in seiner selbsternannten Rolle als Zerstörer aufgeblasener Reputationen bei seiner Kritik der Christen bisweilen nicht weniger heftig und deutlich, als er es in seiner Kritik der Juden war. Führende „katholische" Vertreter von Jung Wien wie Hermann Bahr, Leopold von Andrian und der herausragende Dichter und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal (der zugab, jüdischer Abstammung zu sein) wurden mit gleicher Strenge abgekanzelt und lächerlich gemacht. Der österreichische Landadel mußte sich eine ebenso scharfe Kritik gefallen lassen wie der jüdische Finanzadel; das deutsche „arische" Bürgertum wurde genauso kritisch durchleuchtet wie die jüdische Bourgeoisie; Kraus schrieb fast gleichermaßen beißende Satiren gegen den Wiener Dialekt wie gegen den Wiener jüdischen Jargon, den er sein ganzes Leben lang verhöhnt hat.24 So kann man sich teilweise Werner Krafts Meinung anschließen: „Er [Kraus] war gegen die Juden und Christen seiner Zeit, wie er für die Juden und Christen seiner Zeit war, er war fur die Welt und für die Rettung der Welt."25

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Krafts Argumentation ist jedoch eher kontrovers, wenn er meint, daß Kraus immer im Namen des Judentums sprach, auch wenn er sich äußerst kritisch über die Juden seiner Zeit äußerte. 26 Wie andere jüdische Kraus-Bewunderer sah auch Werner Kraft in dem Wiener Satiriker einen Nachfahren der hebräischen Propheten, der das dekadente Judentum seiner Zeit verurteilte. In dieser Perspektive wird Karl Kraus zum Prototyp des idealistischen, nonkonformistischen Juden - zu einem „Hohepriester der Wahrheit", der gegen Dogma und Vorurteil rebelliert.27 Kraus' fanatisches Festhalten an absoluten moralischen Prinzipien und an der künstlerischen Wahrheit veranlaßte auch andere Bewunderer, wie den Dichter Berthold Viertel, ihr Idol als einen Erzjuden in der Tradition des Alten Testaments zu sehen, dessen „Häresie" darin bestanden habe, die profanen Ambitionen und den Kult des materiellen Erfolgs seiner Glaubensbriider als Sünde wider den „Geist" zu geißeln.28 Mutig hatte Kraus die Verantwortung des Judentums für die Dekadenz der Zeit auf seine eigenen Schultern genommen und dadurch in seinem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und Mitleid für den Nächsten - um mit den Worten eines weiteren Anhängers zu sprechen - „die Haltung von Jeremia und Jesaja" angenommen. 29 Und dennoch störten die deutlichen Ubertreibungen im Tonfall und in der Argumentation bei Kraus' Kritik an den Juden und am Judentum sowie seine Neigung, einzelne Vergehen zu verallgemeinern, sogar jene Kritker, die ihm äußerst wohlgesonnen waren. 50 Die Alternative dazu, nämlich Karl Kraus als einen jüdischen Selbsthasser zu klassifizieren, ist keineswegs neu. Schriftsteller wie Max Brod hatten ihn schon vor langer Zeit als hervorragendes Beispiel des ewig unzufriedenen, antisemitischen Juden gesehen, der jüdische Elemente aus seiner Persönlichkeit verbannt habe und diese dann unbewußt in scharfer und ungerechter Kritik gegen seine Glaubensbrüder richtete. 31 In seiner widersprüchlichen Studie Der jüdische Selbsthaß (1950) zeichnet Theodor Lessing Karl Kraus als ein besonders tragisches Beispiel moralistischen, puritanischen Selbsthasses, ja als den „schlimmsten" und kompromißlosesten der deutschen Judenhasser seiner Zeit.32 Mit dem Hinweis auf Kraus' Besessenheit von der Heiligkeit der Sprache und der Spiritualität des „Wortes" - die von einigen Bewunderern als jüdischer mystischer Charakterzug angesehen wurde - bemerkte Lessing voll Ironie: „Aber er haßt den Frevel des Worts und verbraucht Millionen Wörter, um den keuschen Segen des heiligen Schweigens zu preisen." 33 Andere Kritiker haben Kraus' Entfremdung von seiner jüdischen Herkunft und seine angebliche Unfähigkeit, „Wurzeln im nichtjüdischen Boden" zu schlagen, als Hauptursache für seine antisemitischen Neigungen betont. 34 Der österreichisch-jüdische Historiker Hans Tietze brachte diese Entfremdung und diesen „Selbsthaß" mit der Entwurzelung in der Diaspora in Verbindung, die im Wien des Fin de Siecle unter dem Einfluß einer nachlassenden jüdischen Tradition, der Stärke assimilato-

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rischer Einflüsse und des Drucks einer antisemitischen Umgebung auf besonders fruchtbaren Boden gefallen war.55 Für Tietze war der Selbsthaß jedoch eine legitime Form des jüdischen Selbstbewußtseins, der nicht zufallig neben dem Zionismus, der Psychoanalyse und anderen jüdischen Reaktionen auf die Moderne in einer Epoche gespaltener Identität entstanden war.36 Kraus wollte für seine apokalyptische Verzweiflung in den Niederungen des modernen Journalismus ein konkretes Ziel finden, schließlich konzentrierte er seinen Zorn jedoch auf spezifisch jüdische Verantwortlichkeiten, weil diese ihm am nächsten standen und einen kompromißlosen Moralisten wie ihn am meisten schmerzten. Daher war das tragikomische Schauspiel eines gegen die österreichische Presse geführten Krieges letztlich Ausdruck einer höchst dramatischen Form der Selbstgeißelung.37 Eine heutige Beurteilung von Kraus' Haltung gegenüber dem Jüdischen - ob nun im positiven oder negativen Sinn - kann jedoch nicht vom Kontext der Zeit und des Ortes losgelöst werden.38 Karl Kraus hat die Judenfrage nicht erfunden, ja nicht einmal die weitverbreitete Meinung, daß in Wien das öffentliche Leben von Juden beherrscht werde.39 Man muß sich vor Augen halten, daß sogar Soziaüsten jüdischer Abstammung, wie der Herausgeber der Wiener Arbeiterzeitung, Friedrich Austerlitz, 1900 ungehindert behaupten konnten: „Von den Machtmitteln des modernen Staates besaßen die Juden so ziemlich alle: die Banken, in dem ewig mit Geldverlegenheiten kämpfenden Österreich von größerer Bedeutung als überall, waren von ihnen ebenso besetzt, wie die Lehrkanzeln der Universitäten; in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Politik herrschte der Klüngel, regierten jüdische Koterien. Nichts hat den Wiener Antisemitismus so gefordert als die Thatsache, daß eine lange Zeit hindurch die Wiener Presse von Juden beherrscht wurde." 40

Obwohl Austerlitz kein rassischer oder klerikaler Antisemit im Sinne Schönerers oder Luegers war, fiel es ihm dennoch leicht, diese Bewegungen mit einer Terminologie zu erklären und zu rechtfertigen, die sich eindeutig an jene seiner politischen Gegner anlehnte. „Es war eine Verschwörung zu Gunsten der Juden; die Legende der Solidarität aller Glieder des Volkes Israel war damals wirklich Wahrheit. Wie viele österreichische Politiker haben später bekannt, daß sie zu Antisemiten nur die freche Unduldsamkeit der Wiener Presse gemacht hatte, die jedes Wort, das gegen die Juden gewagt würde, mit dem eifersüchtigen Hasse ihres Gottes Jahve bis ins vierte Geschlecht verfolgte." 41

Diese Worte, denen Karl Kraus höchstwahrscheinlich beigepflichtet hätte, können nur im Kontext der österreichischen Zustände im späten 19. Jahrhundert richtig verstanden werden. Sie verwendeten eine vom Antisemitismus beeinflußte Sprache, obwohl

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sie die Ansichten einer führenden Persönlichkeit in der Arbeiterbewegung wiedergaben, die in der Praxis der standhafteste Gegner von rassistischen Strömlingen und offener antijüdischer Diskriminierung im Habsburgerreich war.42 Die verstörende Doppelbödigkeit dieses Artikels legt nahe, daß zwischen antijüdischen Vorurteilen auf persönlicher und kultureller Ebene (einschließlich jenen, die von den Juden selbst internalisiert wurden) und der Bereitschaft unterschieden werden muß, konkrete politische Forderungen zum Ausschluß der Juden auszusprechen, was zum offiziellen Programm der antisemitischen Parteien gehörte. Trotz ihrer unerfreulichen verbalen Attacken gegen die „jüdische Finanzwelt" und die „Herrschaft der jüdischen Presse" zogen weder Karl Kraus noch die österreichischen Sozialisten jemals in Betracht, ihre diffusen Vorurteile gegenüber den Juden als Individuen oder sogar als Gruppe in eine politische Tat umzumünzen, die gegen die bürgerlichen Rechte der jüdischen Minderheit gerichtet wäre. Dennoch führte die Feindseligkeit gegenüber dem liberal-kapitalistischen Establishment und der sogenannten „jüdischen" Presse bei derartigen Problemfällen manchmal zu einer überraschenden Bereitschaft, die ernste Gefahr des Antisemitismus herunterzuspielen und sogar mit dessen Terminologie zu liebäugeln. Die ersten Reaktionen von Karl Kraus auf den Wiener Antisemitismus waren tatsächlich sehr kritisch, um nicht zu sagen verächtlich. Die Erfolge der klerikalen Antisemiten bei den Wahlen des Jahres 1897 bestätigten seine schon zuvor niedrige Meinung von den geistigen Fähigkeiten des einfachen Wieners und die pathologische Rückständigkeit der österreichischen Politik. Die antisemitischen Abgeordneten, die „dieser niedrigsten aller politischen Ideen populären Ausdruck" verliehen, spiegelten zweifelsohne den wahren Willen des Volkes wider.43 Da sich Kraus durchaus des Zaubers bewußt war, den Lueger auf die Wiener ausübte, sah er voraus, daß die „leichtfaßliche Abneigung gegen die Juden", die bis dahin den Kern seiner Rhetorik gebildet hatte, nun unweigerlich einer demokratischeren Strömimg Platz machen müßte, die kaum erbaulicher sein würde.44 Der junge Kraus verniedlichte nicht die persönliche Korruption von Luegers Untergebenen wie Ernst Vergani, dem Herausgeber des antisemitischen Skandalblattes Deutsches Volksblatt, der öffentlich wegen Veruntreuung verurteilt wurde;45 er verabsäumte es auch nicht, die dümmliche Grobheit der neuen christlichsozialen Abgeordneten wie Gregorig, Schneider, Axmann und Bielohlawek oder die verheerenden Folgen anzuprangern, die er von der antisemitischen MißWirtschaft der Stadt erwartete. Lueger war seiner Meinung nach von einer elenden Ansammlung von Fälschern, Taschendieben und Lügnern umgeben, denen es rasch gelungen war, das schon niedrige Niveau des österreichischen Parlamentarismus in neue Tiefen abgleiten zu lassen. Es schien für Kraus undenkbar zu sein, daß die Christlichsozialen noch lange ein „Geschäft" mit dem PseudoAntisemitismus machen könnten, mit dem sie kurzfristig ihre politische Inkompetenz maskiert hatten.^

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Kraus' unverhüllte Verachtung für den Antisemitismus, „diesen irregeleiteten Sozialismus der Beschränkten, dessen höchste geistige Quintessenz in dem Ausruf ,Jud!' gegeben ist", veranlaßte ihn jedoch, dessen Standvermögen und langfristige, zersetzende Auswirkungen auf die öffentliche Meinung gefährlich zu unterschätzen. Seiner Ansicht nach - vor allem nach Gründung der Fackel im Jahre 1899 - stellen die „jüdische" liberale Presse und insbesondere die Neue Freie Presse viel schrecklichere und spitzfindigere Feinde dar, gegen die er unablässig seine geifernden Angriffe richten sollte. Die Neue Freie Presse verkörperte im Laufe der Zeit fur Kraus alles Übel der österreichischen Gesellschaft und der ihm verhaßten bürgerlich-materialistischen Zivilisation. Ohne Unterlaß warf er ihr vor, die Kultur dem Profit unterzuordnen und einen Kotau vor finanziellen Interessen zu machen; außerdem beschuldigte er sie des groben Sensationsjournalismus, der fehlenden Grundsatztreue, des Chauvinismus und der Kriegstreiberei.47 Für ihn war das liberal-fortschrittliche Gehabe dieser Zeitung lediglich eine Maske für die Selbstsucht der Kapitalisten.48 Seine feindselige Haltung gegenüber Moriz Benedikt, dem mächtigen Herausgeber der Neuen Freien Presse, und sein Haß auf den Kultursnobismus und die Überheblichkeit des Austroliberalismus brachten Karl Kraus einige seltsame Gefährten. Zu ihnen gehörte Jörg Lanz von Liebenfels, der mystische Prophet des österreichischen Rassismus, der den jungen Hitler beeinflußte und Kraus öffentlich als einen „blonden Juden" bewunderte: Lanz abonnierte Die Fackel, und sein Lob für deren Autor wurde sogar auf deren Seiten abgedruckt.49 Kraus publizierte auch eine Reihe von Artikeln des Hohepriesters der „Überlegenheit" der deutschen Rasse, Houston S. Chamberlain, der damals in Wien lebte, mit dessen antisemitischen Anspielungen Kraus allem Anschein nach sympathisierte.50 Obwohl selbst kein rassischer Ideologe, teilte Kraus doch mit diesen Propheten des teutonischen „Ariertums" die allgemeine Antipathie gegen den Liberalismus und erklärte offen, daß die „jüdische" Korruption an der Börse und in der Presse die wahre Ursache für den Wiener Antisemitismus sei. Kraus' Antiliberalismus brachte ihn kurzfristig in die Nähe Karl Luegers, des antisemitischen katholischen Bürgermeisters von Wien, von dem er hoffte, er könnte die „jüdischen" sozialen Mißbräuche des Kapitalismus abstellen und die bestechliche Presse hinwegfegen. Dieser kurzen Kaprice folgte jedoch wie allen seinen politischen Flirts eine rasche Ernüchterung. 1900 hatte Lueger seinen früheren Konfrontationskurs gegenüber den Wiener Juden stark abgeschwächt und versuchte nun zu einem Einverständnis mit deren wohlhabenden Geschäftskreisen zu gelangen.51 Dieser Waffenstillstand war für Karl Kraus die Bestätigung, daß die Wiener Antisemiten keineswegs das meinten, was sie zur „Judenfrage" sagten, und daß sie ebensowenig die Absicht hatten, die kapitalistische Korruption ganz allgemein auszumerzen. 52 Im Februar 1900 schrieb er sarkastisch:

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„Einige obscure Juden werden geprügelt, einige Lehrer nicht befördert - aber Rothschilds Gewinne aus communalen Geschäften wachsen. Und da Herr Benedikt den Wiener Juden schon seit zwanzig Jahren mit Glück einredet, daß sie kein anderes reales Interesse hätten, als die Bilanz von Wittkowitz [die Eisenhütten im Besitz der Rothschild], so erscheint es nicht als Wunder, wenn sich die Leser der Neuen Freien Presse unter Luegers Regime sehr wohl fühlen. Schließlich findet der Unparteiische heraus, daß es nur eine einzige antisemitische Tendenzlüge gibt: Die, daß alle Juden gescheite Leute seien ,.." 55 Gleichermaßen enttäuscht war Kraus von den Wiener Sozialdemokraten, fur deren Politik er Ende der 90er Jahre eine gewisse Sympathie empfunden hatte. Nach 1900 sah er in ihnen bereits unzuverlässige Verbündete in seinem kompromißlosen Kampf gegen die Neue Freie Presse und die „egoistische" liberale Presse, deren Verderbtheit sie in der Folge von Luegers großem Triumph schließlich unterschätzten. 54 Für Kraus wurde die sozialdemokratische „Verbürgerlichung" in charakteristischer Weise durch die Tatsache symbolisiert, daß die Wiener Arbeiterzeitung seit Beginn ihrer Angriffe auf den klerikalen Antisemitismus Eingang in die Häuser der jüdischen Mittelschicht gefunden habe. 5 5 Kraus' Haltung zur Affäre Dreyfus war großteils durch seine alles beherrschende Verachtung für die Neue Freie Presse und die „jüdische" liberale Presse Wiens geprägt, deren Feldzug fur Dreyfus ihn veranlaßte, einen Schmähangriff gegen die Voreingenommenheit der jüdischen Journalisten in Osterreich zu starten. Er warf den „Schmocks" des Wiener Journalismus vor, das Märchen von einer jesuitisch-militärischen Verschwörung in Frankreich gegen Hauptmann Dreyfus erfunden zu haben, tun ihre eigenen betrügerischen Interessen an der Börse zu verteidigen. 56 Sie waren nichts anderes als Heuchler, die Schreiberlinge anheuerten, die wissentlich die Barbareien der herrschenden Klasse Österreich-Ungarns weißwuschen, während sie gleichzeitig die Meinung der Wiener gegen die französische Armee mobiliserten. 57 E s war kein Zufall, daß Die Fackel die einzige europäische Zeitschrift war, die die Artikel des deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht veröffentlichte, in denen dieser sich gegen Dreyfus stellte. Wie Kraus war auch er überzeugt, daß die Dreyfus'sche Hetzkampagne eine kalkulierte Verschwörung dubioser Finanzkreise und der liberalen Presse war, u m einen schuldigen Offizier zu retten. Die wahrscheinlichste Folge dieser Kampagne wäre eine weitere Zunahme des Antisemitismus. 5 8 Karl Kraus' Haltung an sich war nicht antijüdisch, da er die Unterstellung der Wiener klerikalen und nationalistischen Antisemiten nicht teilte, derzufolge Dreyfus' Schuld ihm schon in seinem Blut mitgegeben war. Er behauptete auch nicht, daß zugunsten von Dreyfus ausdrücklich eine „jüdische internationale Verschwörung" nach rassischen Grundsätzen in die Wege geleitet worden sei. 59 Kraus war auch mei-

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lenweit davon entfernt zu befürworten, daß die Juden aus den Rängen der französischen Armee und der zivilen Verwaltung ausgeschlossen werden sollten.60 Seine polemische Haltung, die nicht nur implizierte, daß Dreyfus schuldig war, sondern daß jede Kampagne zu seinen Gunsten von selbstsüchtigen jüdischen Finanzinteressen motiviert und durch diese befleckt sein müsse, kam der allgemeinen antisemitischen Meinung jedoch sehr nahe. Mit kaum verhohlener Freude bemerkte Kraus, daß Theodor Herzl von dem Zionistischen Kongreß in Basel zu sehr in Anspruch genommen war, um über die erneute Verurteilung von Dreyfus durch ein Militärgericht in Rennes im Herbst 1899 zu berichten. In der Fackel schrieb er ironisch: „Zwischen Basel und Rennes wogt der tausendjährige Schmerz des Judenthums, und hier wie dort lauern Propheten, die das Pathos dieser Welt auf die Zeile berechnen."61 Seine These lautet, der Zionismus habe sich das Programm des Antisemitismus zu eigen gemacht, die Wiener Juden in ein „neues Ghetto" zu verjagen. Im Juli 1899 machte er sich in der Fackel lustig über „das unerfreuliche Schauspiel, wie täppische Hände an dem 2000jährigen Grab eines entschlafenen Volksthums kratzen".62 Auch Theodor Herzl, diese zionistische Leitfigur, die so eifrig bemüht war, diesen „Leichnam" wiederzubeleben, entging nicht Kraus' satirischer Aufmerksamkeit in der Fackel: „Der König der Juden", wie er spöttisch bezeichnet wurde, fand sich dort wieder als ein parfümierter Ringstraßen-Dandy und als pathetische Karikatur eines jüdischen Heilsverkünders: „Es ist gewiss interessant", schreibt Kraus in der KronefiirZion, „einen Dichter, der einst, wenn er sprach, das Rathausviertel aufhorchen machte, nunmehr plötzlich alle gesellschaftlichen Zusammenhänge von sich abstreifen zu sehen. Er trennt sich von seiner exotischen Cravatte, die das Ensemble der sonderbaren Schwermuth' stören könnte, bestellt beim vornehmsten Tailleur ein Gewand a la Sack und Asche und gibt auf die Frage, was ihm denn fehle, immer nur zur Antwort: Die Heimat... I"63 Kraus erschien es selbstverständlich, daß nicht der Zionismus, sondern nur eine bewußte, entschlossene Kraftanstrengung der Juden, ihre unerwünschten Ghettomerkmale abzustreifen, die „Judenfrage" lösen könnte. Trotz gelegentlicher Mitleidsbekundungen für die armen galizischen Juden hatte Kraus, wie die meisten assimilierten deutschen Juden in Wien, wenig Zeit für das, was er geringschätzig als den Ghettomenschen ablehnte. Mit diesem wenig reizvollen Ausdruck meinte er jene traditionellen Juden, die hartnäckig an ihrer Religion, ihren Bräuchen und der jiddischen Sprache festhielten und sich weigerten, in der katholisch-germanischen Kultur aufzugehen, zum Schutz von deren Werten er sich als selbsternannter Wächter berufen fühlte. Im Juli 1899 faßte er seine Haltung zu den Ostjuden folgendermaßen zusammen: „Denn bei aller Achtung für die Gleichberechtigung jedes Glaubens: Orientalische Enclaven in europäischer Cultur sind ein Unding."64

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Karl Kraus' Antipathie gegenüber den Ostjuden stand in engem Zusammenhang mit seinem ästhetischen Widerwillen gegen das Jiddische. Jedwede Spur eines „jüdischen" Sprachgebrauchs in einem deutschen Satz erweckte unweigerlich seinen Zorn, da dies das Eindringen eines fremden Elements in die Reinheit der Sprache bedeutete. Wie die meisten Assimilationisten war auch Kraus überzeugt, der Fortbestand solch unmittelbar erkennbarer sprachlicher Charakteristika und die aufdringliche, im allgemeinen damit einhergehende jüdische Manieriertheit seien eine der Hauptursachen für den Antisemitismus. 65 Als 1899 antisemitische Unruhen in Böhmen ausbrachen, gab er rasch dem Ghetto und den Börsenjuden die Schuld, den Volkszorn provoziert zu haben. Seine Lösimg war die klassische Politik der extremen Assimilation, insbesondere die schnelle Selbstauflösimg der Juden als eigenständige Gruppe. „Nur mutiges Säubern in den eigenen Reihen, nur das Ablegen der Eigenthümlichkeiten einer Rasse, die durch die vielhundertjährige Zerstreuimg längst aufgehört hat, eine Nation zu sein, kann der Qual ein Ende machen ... Durch Auflösung zur Erlösung!" 66 Der ethnische Todeswunsch des 24jährigen Kraus war ein Jahr zuvor (1898) von ihm persönlich in die Tat umgesetzt worden, als er die jüdische Gemeinde verließ und sich selbst für konfessionslos erklärte. 1911 konvertierte er insgeheim zum Katholizismus, auch wenn er zwölf Jahre später ostentativ aus der Kirche austrat, ohne zum Judentum zurückzukehren. Dieser „Erzjude" stand daher sogar jenseits der Peripherie des jüdischen Gemeindelebens. Und dennoch leugnete er nie seine Herkunft, was in der Atmosphäre Wiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch durchaus schwierig und letztlich zwecklos gewesen wäre. Da Kraus durch soziale und politische Umstände zu einer rein negativen Identifikation gezwungen wurde, reagierte er darauf, indem er den „jüdischen Geist" einseitig mit dem seichten Materialismus und dem kulturellen Spießbürgertum seiner Zeit identifizierte. Dies erklärt weitgehend seine positive Haltung gegenüber Karl Lueger, den Kraus weiter respektvoll als eine bedeutende und wichtige Persönlichkeit ansah, auch wenn er in seiner Anfangszeit den geistlosen Antisemitismus der plebejischeren Anhänger des katholischen Bürgermeisters zum Gegenstand seiner Satiren gemacht hatte. Tatsächlich warf Kraus Lueger weiterhin in erster Linie vor, den christlichsozialen Kampf gegen die Börse und die „jüdische liberale Presse" nicht energischer betrieben zu haben. 67 Die tiefgehende Ambivalenz von Karl Kraus gegenüber dem Antisemitismus und seine Neigung, dessen Auswirkungen zu trivialisieren, trat nicht nur in seiner Sympathie für Lueger zutage, sondern auch in seiner Haltung zu dramatischen Ereignissen wie der Hilsner-Affäre in Böhmen. 68 Wie im Falle Dreyfus rührte Kraus das Schicksal eines einzelnen Opfers einer Ungerechtigkeit allem Anschein nach nicht, insbesondere wenn dieses Opfer zufallig ein Jude war. Er ließ sich auch nicht über

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Gebühr dadurch beunruhigen, daß die Hetzkampagne gegen Hilsner - einen jüdischen Schuhmachergehilfen, der 1899 wegen eines angeblichen „Ritualmords" an einem kleinen christlichen Mädchen ungerechtfertigterweise zum Tode verurteilt worden war (später wurde dieses Urteil in lebenslange Haft umgewandelt) - eine gefahrliche, pogromähnliche Stimmung in den tschechischen Gebieten hervorgerufen hatte. Was jedoch seine moralische Entrüstung hervorrief, war die Kampagne der liberalen Presse, die Lüge über den Ritualmord aufzuzeigen und Hilsner zu befreien. Als Reaktion warf Kraus der Neuen Freien Presse bösartig vor, den Eindruck erweckt zu haben, jeder von einem österreichischen Gericht verurteilte Jude müsse automatisch unschuldig sein!69 Kraus war Benedikts Zeitung so feindselig gesonnen, daß sie für ihn zum Sündenbock für eine Reihe sozialer Mißstände wurde, über die die Zeitung lediglich berichtet hatte, und daß er systematisch gegen alles opponierte, wofür sich die Zeitung einsetzte. Trotz der erbarmungslosen Aufdeckung der literarischen, sozialen und politischen Bestechlichkeit eines im Niedergang befindlichen Reiches und trotz der geistreichen Demaskierung typischer Klischees und Tabus, litt Kraus' „Reinigungsaktion" an der monomanen Einseitigkeit seiner eigenen persönlichen Besessenheiten. Richtig ist zugegebenermaßen, daß dieser Wiener Prophet des Untergangs keiner Institution, keiner politischen Partei oder privilegierten Personengruppe die spitzen Pfeile seiner kompromißlosen Kritik ersparte. Das emotionelle Ungleichgewicht, das letztlich auf seiner scheinbar uneingeschränkten Fähigkeit zu moralischer Entrüstung und einem ausgesprochen sadistischen Zug in seinem Wesen basierte, führte jedoch zu häufigen Verzerrungen, für die seine Haltung zur „Judenfrage" lediglich nur ein Beispiel war. Wie bei seinem jüngeren, tragischeren Zeitgenossen Otto Weininger wurde der Kraus'sche Krieg gegen den „jüdischen Geist", der angeblich die Reinheit der deutschen Sprache, ihrer Kultur und ihrer gesellschaftlichen Werte korrumpiert hatte, nur allzu bereitwillig in antisemitische Kanäle umgeleitet.70 Diese Verschiebung war nicht nur eine Frage der persönlichen Psychologie, sie reflektierte auch die Zwänge einer antisemitischen Gesellschaft und die Tendenzen einer mitteleuropäischen antimodernistischen Tradition der Kulturkritik, die Kraus aufgegriffen hatte und deren herausragendster Vertreter er wurde. Kraus' konservative Identifikation mit der Politik, der Philosophie und den ästhetischen Werten Österreichs vor 1848 kann vielleicht gemeinsam mit seiner pessimistischen Meinung über den modernen Menschen und die neue technische Zivilisation am besten seinen Kreuzzug gegen das liberal-kapitalistische Judentum erklären.71 In Osterreich, wie auch anderswo in Europa, ging der Widerstand gegen Emanzipationsbewegungen, gegen den Liberalismus und gegen die weltliche Moderne häufig mit einer Abneigung gegenüber den Juden einher; Karl Kraus war - wie Otto Weininger - ein gutes Beispiel

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für dieses intellektuelle Syndrom in seiner eigenen, spezifisch „jüdischen" Variante des Kulturantisemitismus.72 Karl Kraus' lebhafte Verteidigung von Otto Weininger (1880-1903), dem hochbegabten Wiener jüdischen Philosophen, der am 4. Oktober 1905 in Beethovens Sterbehaus Selbstmord beging, war ein weiterer Aspekt dieses Syndroms und wirft ein interessantes Licht auf die Haltung beider zur „Judenfrage". Neun Monate nach Weiningers tragischem Tod schrieb Kraus in seiner Zeitschrift: „Wahr ist dagegen, daß ich mich in der,Fackel', deren Bekämpfung der Korruption man schwerlich ,jüdisch' nennen wird, den Philosophen Weininger, der aus Uberzeugung Christ wurde und den deutschen Idealismus vertrat, für ,deutscher' erklärte als viele Deutsche mit jüdischer Gesinnung ... Man weiß ja manchmal im Leben nicht, wo die Dummheit aufhört und die Bosheit anfangt, und umgekehrt. Daß man das Judentum eines Disraeli und Konsorten vernichtend geißeln, dagegen die echt-deutsche Kultur eines Heine und Ferdinand Lassalle bewundern kann, daß man die schroffste Abkehnung des Judentums (wissnschaftlicher und geistig ideeller Antisemitismus) nicht mit dem Maul- und Radauantisemitismus verwechseln will, der oft nur gemeinen materiellen Neid oder reaktionär-klerikale Tendenzen austönt, das geht natürlich über das Verständnis bornierter Parteiverbohrung. Die Parteijuden freilich sehen schärfer: Sie furchten nicht den Pöbelantisemitismus ... sondern den vornehmen Geistesantisemitismus, gegen den man verlogene Freiheits- und Humanitätsphrasen nicht ausspielen darf... ein geistig veijudeter Germane ist wahrlich jüdischer als ein von germanischer Kultur getränkter Jude." 73

Für Kraus scheint Houston Stewart Chamberlain als Vertreter des „vornehmen Geistesantisemitismus" eine besonders bedeutsame Rolle gespielt zu haben. Kraus veröffentlichte 1901 und 1902 zwei Artikel und zwei Briefe Chamberlains in der Fackel. Zwischen den beiden Autoren gab es eine bestürzende Konvergenz hinsichtlich der Kritik am Liberalismus, an der liberalen Presse- und Wirtschaftskorruption und der von „Jerusalem" (d. h. den Juden und dem Judentum) ausgehenden Gefahr. Kraus' positive Erwähnung von Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) in Zusammenhang mit der Verteidigung Weiningers ist durchaus angebracht. Denn die Saat der feindseligen Behandlung der Juden und des Judentums in Weiningers berühmten Buch Geschlecht und Charakter (1905) war von dem aus England stammenden Propheten des teutonischen Rassismus gesät worden. Weininger, der teilweise von Chamberlains Theorien beeinflußt war, die er auch häufig als Quelle und Inspiration zitierte, war zu der Erkenntnis gelangt, daß das Judentum hassenswert und minderwertig sei, worin er eine wichtige „wissenschaftliche" Untermauerung seiner Meinung sah. Es sei daran erinnert, daß Chamberlains Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts mit seinen pseudo-philosophischen und enzyklopädischen An-

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sprächen, seiner Behauptung, eine neue Weltanschauung geschaffen zu haben, seinem metaphysischen Stil und lyrischen Irrationalismus eine hypnotische Wirkung auf viele Zeitgenossen Weiningers hatte.74 Außerdem gab es eine viel direktere Parallele. Chamberlain war, wie Weininger nach ihm, vom biologistischen Positivismus zu einer quasi-mystischen Weltsicht gelangt, welche die Rassentheorien von Richard Wagner mit der Ethik von Immanuel Kant verbinden wollte.75 Dennoch gab es wichtige Unterschiede zwischen einer Verurteilung der jüdischen Existenz als wurzellos und „amoralisch", wie sie von Kraus oder Weininger ausgesprochen wurde, und den antisemitischen Äußerungen germanischer Rassisten, auch wenn beide sich häufig einer ähnlichen Terminologie bedienten.76 Das Ziel auch der radikalsten selbstkritischen Juden war es letztlich, negative jüdische Merkmale auszumerzen, um die Assimilation in die beherrschende deutsche Kultur zu beschleunigen und nicht zu verhindern. Außerdem ließen Kraus und Weininger, wenn sie die „falsche" Sittlichkeit des zeitgenössischen Judentums angriffen, immer die wenn auch noch unwahrscheinliche - Möglichkeit einer Selbstverbesserung, Transzendenz und ultimativen Erlösung aus dieser Negativität durch eine erbarmungslose Selbstkritik offen. Im Falle Otto Weiningers wandelte sich dieser Selbstvorwurf zugegebenermaßen zu einer radikalen Form des jüdischen Antisemitismus, der unentwirrbar mit seinem extremen Antifeminismus zusammenhing.77 Aber sogar Weininger betonte, daß trotz seiner geringen Wertschätzung des Juden nichts seiner Absicht ferner liegen könnte, als jeder praktischen oder theoretischen Verfolgung von Juden auch nur die geringste Unterstützung zuteil werden zu lassen.78 „Losungen wie ,Kauft nur bei Christen' sind jüdisch, denn sie betrachten und werten das Individuum nur als Gattungsangehörigen; ähnlich wie der jüdische Begriff des ,Goy' jeden Christen einfach als solchen bezeichnet und auch schon subsumiert. Nicht also der Boykott, und nicht etwa die Austreibung der Juden oder ihre Fernhaltung von Amt und Würde ist hier befürwortet. Durch solche Mittel ist die Judenfrage nicht lösbar, denn sie liegen nicht auf dem Wege der Sittlichkeit."79 Otto Weiningers jüdischer Selbsthaß hatte tatsächlich unmittelbar nichts mit dem alldeutschen Antisemitismus zu tun, der den deutschen Volksstamm überhöhte, oder mit der wirtschaftlichen und religiösen Verachtung, die hinter der christlichsozialen Hetzkampagne gegen die Juden steckte.80 Seine ätzende Kritik des Judentums und der Juden stand tatsächlich in einem viel engeren Zusammenhang mit zutiefst persönlichen Identitätsproblemen und einer sexuellen Angst als mit den sozialen oder politischen Problemen der Zeit.81 In dieser Hinsicht sind die biographischen Hinweise, die wir über sein kurzes Leben besitzen, wichtige Indikatoren.82 Otto Weininger wurde am 5. April 1880 in Wien in eine gebildete und liberal gesinnte Familie assimilierter Wiener Juden geboren. Sein Vater Leopold, zu dem Otto

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ein enges Verhältnis hatte, war ein begabter Goldschmied mit einer Leidenschaft für die Kunst (besonders für die Musik Richard Wagners) und einer selbsterlernten meisterhaften Beherrschung von Sprachen. Leopold Weiningers Statuetten und verzierte Schalen aus Gold, Platin und Email wurden von Museen in ganz Europa heiß begehrt; Emil Lucka, ein Freund seines Sohnes, beschrieb ihn als einen der letzten Meister dieser Kunst in Osterreich.83 Er hat seinen Sohn, als dieser noch sehr jung war, in die Musik von Wagner eingeführt und besuchte einige Male Bayreuth, um den Opern des deutschen Komponisten voller Verehrung zu lauschen.84 Der romantische Wagnerkult im Hause Weininger sollte einen großen Einfluß auf Ottos Weltsicht haben, vor allem in bezug auf Frauen und Juden. Trotz all seiner ästhetischen Sensibilität war Leopold Weininger eine nüchterne, strenge und puritanische Persönlichkeit, er überwachte persönlich die Erziehung seiner Kinder und schaute auf eine strenge Disziplin in seinem Hause. In seinem Temperament gab es etwas ausgeprägt Düsteres und Geheimnisvolles, das auf seinen Sohn übergegangen sein dürfte. Emil Lucka schrieb diesbezüglich: „Ich glaube, daß Otto Weininger viel von seinem Vater mitbekommen hat, er hat ihn mehr geliebt als die Mutter. Das Dunkle, tief in sich Verehrte ist beiden gemeinsam." 85 Otto Weininger scheint von seinem patriarchalischen Vater nicht nur dessen strenges und einfühlsames Temperament, dessen Liebe zur Musik und dessen außergewöhnliches Sprachentalent, sondern auch dessen starke, obzwar ambivalente Abneigung gegenüber den Juden übernommen zu haben.86 Ottos Schwester Rosa Weininger weist in einem Brief vom 27. August 1958 an den Psychiater David Abrahamsen auf die jüdische Abstammung ihrer Eltern hin und darauf, daß ihr Vater gleichzeitig auch antisemitisch eingestellt war. Dennoch habe er es stets heftig abgelehnt, daß ihr Bruder sich kritisch zum Judentum äußerte.87 Otto Weininger stand seiner Mutter Adelheid viel weniger nahe, die von Rosa als eine herzensgute, einfache Frau beschrieben wurde, die stets im Schatten der dominierenden Persönlichkeit ihres Mannes gestanden hatte.88 Seine Verachtung und vielleicht sogar der Haß auf seine Mutter mögen wohl zu seiner stark voreingenommenen Sicht von Frauen wie Juden beigetragen haben.89 Am Gymnasium in Wien erwies sich Weininger als frühreifer und herausragender Schüler, auch wenn er bei seinen Lehrern nicht sonderlich beliebt war.90 Von 1898 bis 1902 studierte er an der Wiener Universität unter Professor Friedrich Jodl (1849-1914) und arbeitete an einer Dissertation, die ursprünglich „Eros und Psyche" betitelt war und später die Grundlage für sein sensationelles Buch Geschlecht und Charakter bildete. An der Universität war er anfangs ein anti-metaphysischer Positivist; er stand unter dem Einfluß von Richard Avenarius' Kritik der reinen Erfahrung, der Philosophie Kants und Nietzsches und auch der experimentellen Wissenschaften. 91 Um 1900 begann sich der begabte junge Student entgegen der in Wien vor-

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herrschenden Dominanz von Biologie, Physiologie und empirischen Methoden bei Laboruntersuchungen auf eine philosophische Ausrichtung in der Psychologie zuzubewegen.92 Uber seinen Freund Hermann Swoboda (einen Patienten von Sigmund Freud) hörte Weininger im Oktober 1900 zum ersten Mal vom Begriff der Bisexualität.93 Die Theorie, die damals von Freuds Berliner Mitarbeiter Wilhelm Fließ entwickelt wurde, veränderte die ganze Ausrichtung seiner Forschung und führte ihn zur Überzeugung, daß alle Unterschiede zwischen Mann und Frau auf ein einziges Prinzip, auf den Geschlechtsunterschied, zurückgeführt werden können. Wie Weininger später die Theorie darlegte, waren Mann und Frau nicht eindeutig voneinander getrennt. Vielmehr gab es in jedem Individuum eine Mischung maskuliner und femininer Substanz. Von Herbst 1900 bis zum Sommer 1901 sammelte Weininger fieberhaft Material zum Thema Bisexualität für seine Doktorarbeit. Mit wenig Interesse an sozialen Problemen und Gleichgültigkeit gegenüber der Politik widmete er seine geistige Energie voll und ganz der Welt der Philosophie, Psychologie und der Musik, hier vor allem dem Werk Richard Wagners, der für ihn die Quintessenz eines künstlerischen Genies war. Im Herbst 1901 ging er mit einem Entwurf seiner Doktorarbeit, die noch frei von jeglicher Kritik an den Juden und an den Frauen war, zu Sigmund Freud (dessen Arbeiten über Hysterie er bewunderte).94 Freud kritisierte Weiningers kühn spekulative und deduktive Methode scharf und warf ihm Eklektizismus vor.95 Weininger war jedoch nicht über Gebühr enttäuscht. Er hatte ein für allemal mit der experimentellen Psychologie von Mach und Avenarius gebrochen und sich nun verstärkt ethisch-philosophischen Themen zugewandt. Am 21. Februar 1902 schrieb er Hermann Swoboda, daß er gerade dabei sei, den Schlüssel zur universellen Geschichte zu entdecken, und in einem anderen Brief im März forderte er: Laß uns zu Kant zurückkehren! Er scheibt: „Auch in der Judenfrage und in der Ethik bin ich vorwärts gelangt."96 Weiningers Doktorarbeit wurde im Juni 1902 vorgelegt, und kurz nach ihrer erfolgreicher Verteidigung konvertierte er zum Protestantismus, jener christlichen Konfession, die in Österreich in der Minderheit war. Diese Wahl bedeutete im Fall Weininger ganz eindeutig nicht nur einen Bruch mit der von ihm verabscheuten jüdischen Herkunft und mit den katholischen, barocken Traditionen der Wiener Kultur, sondern auch eine klare Identifikation mit dem nüchternen protestantischen Glauben seines deutschen Lieblingsphilosophen Immanuel Kant.97 Weiningers Rückkehr zu Kant und den Traditionen des deutschen Idealismus war ein wesentlicher Bestandteil seiner neuen, intensiven Beschäftigung mit der Metaphysik, mit der Verteidigung eines extremen Rationalismus und einer asketischen, individualistischen Moral.98 Kants kategorischer Imperativ diente ihm zweifelsohne als Maßstab, an dem die sinnliche, plastische Kultur Wiens und deren frivole sexu-

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eile Sitten gemessen und abgelehnt wurden. Moderne Vorstellungen von der Sexualität und der moralischen Beziehung zwischen Mann und Frau wurden nun von Weininger anhand des die Kantische Philosophie durchziehenden Humanitätskonzepts überprüft und als katastrophal mangelhaft erkannt. Die Frau müsse aufhören - so erklärte der junge Philosoph großspurig - , für den Mann ein sexuelles Objekt zu sein und ganz auf ihre Weiblichkeit verzichten, wenn sie wahrhaft menschlich werden wolle. Keuschheit wurde für Weininger zum einzig möglichen Weg zur inneren weiblichen Emanzipation." Weiningers Verzerrung des Kantischen Sittengesetzes zu einem Instrument zur Rationalisierung seiner gnostisch-manichäischen Meinung über das weibliche Geschlecht war eindeutig eine Reflexion seiner eigenen, zunehmend verzweifelten Bemühungen, mit einer gestörten Sexualität zurechtzukommen.100 Bereits im philosophischen Teil seiner Dissertation hatte Weininger Männlichkeit und Weiblichkeit als gegensätzliche - positive und negative - Pole postuliert. Das Prinzip des Männlichen (als platonischer Gedanke verstanden) stellte das Sein dar, die Weiblichkeit war das Nicht-Sein. Die Frau war nichts anderes als der Ausdruck des Mannes und die Projektion seiner eigenen Sexualität. Ihre Eigenschaften hingen von ihrem grundsätzlichen Mangel an Charakter und Individualität ab, ihrer Nicht-Existenz als menschliches Wesen. Die Frau repräsentierte die Schuld, die Verneinung, war die Verkörperung des niedrigen Selbst des Mannes: Und dennoch war sie genauso ewig wie die Existenz selbst. „Der Mann hat das Weib geschaffen und schaffte es immer wieder neu, so lange er noch sexuell ist. Wie er der Frau das Bewußtsein gab, so gibt er ihr das Sein. Das Weib ist die Schuld des Mannes." 101 In seinem Buch Geschlecht und Charakter fährte Weininger diese bitter-tragische, dualistische Auffassung des Universums ad absurdum, wobei er wahllos auf den Platonismus und die selbsthassenden Traditionen des Christentums von Augustinus, Origines und Tertullian über Pascal bis zu solch modernen Misogynen, wie den großen deutschen Philosophen Kant, Schopenhauer und Nietzsche zurückgriff. Biologische und physiologische Angaben aus seiner Doktorarbeit wurden in neue ethisch-philosophische Kapitel eingearbeitet, um die düstere, kämpferische These zu veranschaulichen, daß die Frau, als die Inkarnation des Geschlechtlichen, das Prinzip des Nichts im Kosmos symbolisierte. „Der bejahte Phallus ist das Antimoralische", sie verbeugte sich vor ihm als ihrem „höchsten Herrn und unumschränkten Gebieter" und verewigte so durch den Geschlechtsakt ein Universum der Verneinung. 102 Für diesen Fluch, der auf der Frau lag, war der Mann, dessen böser Wille ihr aufgezwungen worden war und dessen Schuld sie verkörperte, jedoch letztlich selbst verantwortlich.105 Weiningers Faustische Ethik der Selbstüberwindung postulierte ausdrücklich, daß der Mann den „negativen" weiblichen Teil seiner selbst dadurch besiegen müsse,

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daß er gegen seine eigenen sexuellen Triebe ankämpfte. Er war sich nur allzu sehr bewußt, daß diese Forderung einem tiefen und unerbittlichen Selbsthaß entsprang. 1902 hatte er in einem glänzenden Essay über seinen Lieblingsdramatiker, den Norweger Henrik Ibsen, die Menschheit sogar in zwei Gruppen eingeteilt - jene, die sich selbst heben, und jene, die sich selbst hassen.104 Die Selbsthasser verfuhren nach dem Pascalschen Prinzip „le moi est hai'ssable" und waren daher nicht in der Lage, jemanden anderen zu heben oder mit denjenigen zu kommunizieren, die sie hebten. Bei Philosophen wie Pascal, Schopenhauer und vor allem Friedrich Nietzsche diagnostizierte Weininger erstklassige Fallstudien zur Autophobie.105 Es konnte aber aufgezeigt werden, daß Selbsthaß die beste Grundlage für eine Selbstuntersuchung und für einen tiefen Einbück in die menschliche Verfassimg sei. In einem Text vom 3. April 1902 analysierte Otto Weininger seine eigene Krise des Selbsthasses und brachte sie in Beziehung zum eigentlichen Charakter der Philosophie.106 Weiningers morbide Gedanken wurden im letzten Absatz dieses Textes deutlich, in dem er seinen Geisteszustand mit dem eines Hauses vergleicht, dessen Läden für immer geschlossen seien. Innerhalb dieses Hauses sei alles düster, bedrohlich, bitter.107 Weiningers unbarmherzige Selbstuntersuchung führte ihn zu der Einsicht „der Haß ist ein Projektionsphänomen", einschließlich seiner persönlichen Feindseligkeit gegenüber Frauen - das Geständnis einer Unfähigkeit, seine eigene Sexualität zu überwinden.108 Ahnliches trifft auf den Haß gegen die Juden zu: „Wer immer das jüdische Wesen haßt, der haßt es zunächst in sich; daß er es in andern verfolgt, ist nur sein Versuch, vom Jüdischen auf diese Weise sich zu sondern; er trachtet sich von ihm zu scheiden dadurch, daß er es gänzlich im Nebenmenschen lokalisiert, und so für den Augenblick von ihm frei zu sein wähnen kann".109 In den letzten Kapiteln von Geschlecht und Charakter versucht Weininger seine Theorien über die Männlichkeit und die Weiblichkeit auf das jüdische Problem anzuwenden, wobei er in diesem Zusammenhang erkannte: „Und es läßt sich nicht behaupten, daß der Wert, welcher auf eine offene Erklärung in dieser Frage allgemein gelegt wird, ihrem Ernst und ihrer Bedeutung nicht angemessen sei, und ihre Wichtigkeit übertreibe. Daß man auf sie überall stößt, ob man nun von kulturellen oder materiellen, von religiösen oder politischen, von künstlerischen oder wissenschaftlichen, biologischen oder historischen ... Dingen herkommt, das muß einen tiefen, tiefsten Grund im Wesen des Judentumes selbst haben."110 Weiningers Definition des Judentums war weder rassisch-anthropologisch noch national oder religiös.111 „Es handelt sich mir nicht um eine Rasse und nicht tun ein Volk, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis. Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat."112

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Zunächst veranschaulichte Weininger seine Meinung durch eine Charakteranalyse des Antisemiten. Er führte an, daß die reinsten Arier der Herkunft nach im allgemeinen „Philosemiten" waren, obwohl sie sich vielleicht „von auffallend jüdischen Zügen unangenehm berührt fühlen". Aggressive Antisemiten zeigten andererseits fast immer „gewisse jüdische Eigenschaften", und ihr Haß entsprang dieser Wiedererkennung von unerwünschten Eigenschaften bei sich selbst, von denen sie sich befreien wollten. Die einfacheren Naturen unter den Ariern waren aktiv antisemitisch, gerade weil sie nie über sich selbst urteilten.113 Diese Psychologie der Projektion erklärte auch, warum „die allerschärfsten Antisemiten unter den Juden zu finden sind". 114 „Der Mensch haßt nur durch wen er sich unangenehm an sich selbst erinnert fühlt." Sogar Richard Wagner, dessen Musik nach Weiningers Dafürhalten „die gewaltigste der Welt" war und der mehr als jeder andere Künstler das Wesen der germanischen Rasse eingefangen hatte, veranschaulichte die Wahrheit seines psychologischen Gesetzes. Wagners Siegfried mag „das Unjüdischste" sein, „was erdacht werden konnte" und die Musik des Parzifalfür den „völligen Juden" auf immer unzugänglich sein, und dennoch konnte der Komponist diese künstlerischen Höhen nur dadurch erreichen, daß er zunächst das Jüdische in ihm selbst überwand. Es war also kein Zufall, daß Wagners „sowohl auf den jüdischen Antisemiten, welcher vom Judentum nie gänzlich loskommen kann, als auch den antisemitischen Indogermanen" den stärksten Eindruck ausübte. 115 Wagners Leistung sei das Ergebnis eines großen inneren Ringens um Selbst-Transzendenz, und es sei in der Tat „das ungeheuere Verdienst des Judentums kein anderes, als den Arier immerfort zum Bewußtsein seines Selbst zu bringen und ihn an sich zu mahnen". 116 Weiningers Analyse der Religionsstifter als der „genialsten Menschen" erfolgte nach ähnlichen Kriterien. Ihr Drang, den Menschen neu zu erschaffen, entsprang einem mächtigen Kampf, das Böse, die Schuld und die Erbsünde in ihnen selbst zu überwinden. Dies traf insbesondere auf Jesus Christus zu, „er ist der Mensch, der die stärkste Negation, das Judentum, in sich überwindet, und so die stärkste Position, das Christentum, als das dem Judentum Entgegengesetzteste schafft." 117 Im Gegensatz zu Houston Stewart Chamberlain war Weininger nicht der Ansicht, die Geburt Christi in Palästina sei ein Zufall gewesen; auch die rassistische Theorie eines „arischen" Jesus akzeptierte er nicht. „Christus war ein Jude, aber nur, um das Judentum in sich am vollständigsten zu überwinden; denn wer über den mächtigsten Zweifel gesiegt hat, der ist der gläubigste, wer über die ödeste Negation sich erhoben hat, der positivste Bejahrer. Christus ist der größte Mensch, weil er am größten Gegner sich gemessen hat. Vielleicht ist er der einzige Jude und wird es bleiben, dem dieser Sieg über das Judentum gelungen ist: der erste Jude wäre der letzte, der ganz und gar Christ geworden ist."118

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Weininger stellte die Betrachtung an, daß die Möglichkeit, einen weiteren Christus hervorzubringen, in der Judenschaft angelegt und daß dies vielleicht die historische Bedeutung des Judentums sei. In der Tat müsse das Uberleben des jüdischen Volkes in irgendeinem Zusammenhang mit dem Messiasgedanken stehen, „von einem, der sie vom Judentum erretten wird". Auch wenn er dies nicht explizit aussprach, dürfte Weininger seine eigene Mission in diesem messianischen Licht gesehen haben, nachdem er zum Christentum konvertiert war.119 Er sei dazu bestimmt, der Befreier des anbrechenden 20. Jahrhunderts zu sein, der die Menschheit vom Joch einer dämonischen Welt der Weiblichkeit und des Judentums befreien würde; er würde der neue Heiland sein, der gekommen war, um die hedonistische, frivole und sinnliche Welt des Wien im Fin de Siecle von den Teufeln der weltlichen Korruption zu erlösen. Weiningers apokalyptische Vision einer verlorenen Zivilisation war der Gegenpol zu seiner eigenen Idealvorstellung von einem gereinigten, männlichen Intellekt, einem neuen, immanenten Gottes-Ich, einer bizarren Art dionysischen Neo-Kantianismus, wie er seinem eigenen geistigen Ringen inhärent war. Weininger fällte ein noch umfassenderes Urteil gegen die Zeit und deren Dekadenz als Karl Kraus: „Unsere Zeit, die nicht nur die jüdischeste, sondern auch die weibischeste aller Zeiten ist; die Zeit, für welche die Kunst nur ein Schweißtuch ihrer Stimmungen abgibt, die den künstlerischen Drang aus den Spielen der Tiere abgeleitet hat; die Zeit des leichtgläubigsten Anarchismus, die Zeit ohne Sinn fiir Staat und Recht, die Zeit der GattungsEthik, die Zeit der seichtesten unter allen denkbaren Geschichtsauffassungen (des historischen Materialismus), die Zeit des Kapitalismus und des Marxismus, die Zeit, der Geschichte, Leben, Wissenschaft, alles nur mehr Ökonomie und Technik ist; die Zeit, die das Genie für eine Form des Irrsinns erklärt hat, die aber auch keinen einzigen großen Künstler, keinen einzigen großen Philosophen mehr besitzt, die Zeit der geringsten Originatlität und der größten Originalitätshascherei; die Zeit, die an die Stelle des Ideals der Jungfräulichkeit den Kultus der Demi-Vierge gesetzt hat: diese Zeit hat auch den Ruhm, die erste zu sein, welche den Koitus bejaht und angebetet hat." 120

Weininger war überzeugt, die Menschheit würde wie im Jahr Eins ungeduldig auf einen neuen Religionsstifter warten, der wohl auch aus der „minderwertigen" Welt des Judentums kommen könnte. Daher sei die Jahrhundertwende eine Zeit der Entscheidung zwischen den beiden Menschheitsgegensätzen: „Zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unweit und Wert, zwischen irdischem und höherem Leben, zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl. Das sind die beiden Pole: es gibt kein drittes Reich." 121

Weiningers Antithesen mit ihrer Kritik der Dekadenz, ihrer Polarisierung von Kul-

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tur und Zivilisation, von Geist und Geld, Seele und Intellekt, Genie und Talent, Männlichkeit und Weiblichkeit, Christentum und Judentum, spiegeln die Allgemeinplätze eines mitteleuropäischen post-Nietzscheschen Dilettantismus wider. Gemeinsam mit den Schriften von Chamberlain, Klages, Theodor Lessing und Walter Rathenau bilden sie ein wichtiges Verbindungsglied in jener Kette, die von Nietzsche zur Vision des Untergangs eines Spengler führte.122 Diese neo-romantische, regressive, antikapitalistische und antimarxistische Kulturkritik Weiningers verschmolz die Kantische Aufklärung mit einem Irrationalismus, der über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Chamberlain auf ihn kam. Angesichts einer homoerotischen Welt, die den Klassenkampf durch den Kampf der Geschlechter ersetzte und die Männlichkeit idealistischer deutscher Philosophie auf Kosten der „weiblichen" Psychologie glorifizierte, können Weiningers Konzeptionen durchaus als „präfaschistisch" beschrieben werden.123 Daher überrascht es nicht weiter, daß sowohl deutsche Nationalsozialisten als auch italienische Faschisten von den Ansichten dieses abtrünnigen Juden angetan waren.124 Denn in der Philosophie Weiningers konnte man in embryonaler Form viele Schlüsselthemen des faschistischen Gedankenguts des 20. Jahrhunderts finden: Antisemitismus, Antifeminismus, Anglophobie, Antiliberalismus und Antikommunismus neben einem Kult der disziplinierten Männlichkeit, dem Heldentum des einzelnen, der sittlichen Strenge und einer romantischen Uberhöhung des Genies.125 Wie reaktionär Weiningers Ansichten waren, trat bei seiner negativen Assoziation von Juden mit dem Kommunismus und dem Anarchismus besonders deutlich hervor. Wie die Ideologen der konservativen Rechten in Europa pochte auch Weininger darauf, daß die Juden keine innere Verbindung zur Freiheit des einzelnen, zu Landbesitz oder dem Staat besaßen. Während der genossenschaftliche Sozialismus angeblich „arisch" war (Owen, Carlyle, Ruskin, Fichte), war der Kommunismus durch und durch „jüdisch" (Marx). Die moderne Sozialdemokratie habe sich so weit vom früheren Sozialismus entfernt, „weil die Juden in ihr eine so große Rolle spielen".126 Wie die Frauen seien auch die Juden zu einem echten ethischen Staatsbegriff unfähig: „In der Staatsidee liegt eine Position, die Hypostasierung der interindividuellen Zwecke, der Entschluß, einer selbst gegebenen Rechtsordnung, deren Symbol (und nichts anderes) das Staatsoberhaupt ist, aus freier Wahl beizutreten." Nachdem den Juden jeglicher Begriff eines „freien, verständlichen Ego" im Kantischen Sinne fehlte und sie sogar unfähig waren, die Individualität des anderen untereinander zu akzeptieren, könnten sie den Staat nur als etwas unwiderruflich Fremdes ansehen. Wie Herzl bückte also auch Weininger für eine „ideale" Staatsform eher auf das preußisch-deutsche als auf das österreichische Beispiel, mit Kant und nicht Bismarck als geistiger Leitfigur.127 Im Gegensatz zum Begründer des politischen Zionismus war er jedoch an den sozio-ökonomischen oder politischen Aspekten des jüdischen

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Problems nicht interessiert. Was Herzl als Machtfrage ansah, die auf kollektivem Wege durch die Wiederherstellung der jüdischen Ehre und Neuschaffung einer territorialen Grundlage fur die Ausübung der Souveränität gelöst werden mußte, blieb fiir Weininger im wesentlichen eine metaphysische Frage. Seiner Meinung nach bestimmten vor allem Ideen und nicht Macht den Lauf der Geschichte. Politiker und Staatsmänner waren per se unfähig, echte kulturelle Werte zu schaffen. Am ehesten waren sie noch große Verbrecher, sie waren auf einer viel niedrigeren Stufe einzuordnen als Künstler, Philosophen oder Religionsstifter. Abgesehen von dieser wenig schmeichelhaften Meinung über Politiker, gab es jedoch noch einen wichtigeren Grund, der zu Weiningers Ablehnung von Herzls zionistischer Lösung der Judenfrage führte. Trotz der Tatsache, daß der Zionismus „die edelsten Regungen unter den Juden gesammelt hat", war er seiner Meinung nach jedoch „aussichtslos", weil er das diasporische Wesen des Judentums außer acht ließ.128 Unter Verwendung eines Zitats von Houston Chamberlain argumentierte Weininger: „Er will die Juden sammeln, die, wie Houston Stewart Chamberlain nachweist, längst vor der Zerstörung des jerusalemitischen Tempels zum Teile die Diaspora als ihr natürüches Leben, das Leben des über die ganze Erde fortkriechenden, die Individuation ewig hintertreibenden Wurzelstockes gewählt hatten, er will etwas Unjüdisches: Die Juden müßten erst das Judentum überwunden haben, ehe sie für den Zionismus reif würden." 129 Da der Jude ewig an sein seelenloses „kommunistisches" Wesen gebunden sei und dem Diasporakonzept einer weltweiten Verbreitung der Juden verhaftet bleibe, könne er kaum für den Zionismus gewonnen werden. Diese implizit antisemitische Theorie, die Nazi-Vordenker wie Dietrich Eckart und Alfred Rosenberg von Weininger mit einigen Änderungen übernommen haben und die sich Adolf Hitler selbst zunutze machte, führte zu der besonders schädlichen Annahme, daß den Juden von Natur aus jegliches Merkmal zur Staatenbildung fehle. Da das Judentum α priori als ein Wucher treibendes Gebilde der Diaspora definiert wurde, das zu schöpferischer Arbeit auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik unfähig war, sollten die Nazis später behaupten, daß alle Bemühungen der Zionisten, diese Nation produktiv zu machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt seien.130 Nach der Ablehung des Zionismus zeichnete Weininger nun ein Bild des Juden, das schonungslos negativ war und in Einklang mit seiner unterschwelligen Gleichsetzung von Judentum und Weiblichkeit stand. So fehlte dem Juden eine angeborene gute Erziehung und Vornehmheit. Er verfüge über „eine weibische Titelsucht", im Gegensatz zu den Ariern aber über kein individuelles Gefühl für Abstammimg. Ihm fehlte jede Vorstellung eines Höchsten Gottes und des Bösen, ihn betrafen weder Gott noch Teufel, Himmel oder Hölle waren ihm gleichgültig.131 Wie die Frau

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hatte er überhaupt kein Gefühl für die Größe der Sittlichkeit oder „das RadikalBöse", wie dies in der Philosophie Kants dargelegt wird. Außerdem besaß die Familie in der jüdischen Weltsicht (wie bei Frauen) einen größeren Stellenwert als der Staat oder die Gesellschaft, die Erhaltung der Rasse war wichtiger als die des einzelnen. Wie Frauen beschäftigten sich auch die Juden ständig mit sexuellen Fragen und waren „echte Heiratsvermittler", von Natur aus unfähig, die Askese zu verstehen. Daher seien vor allem sie für den unheilvollen Sieg der „Kuppelei" im modernen Leben verantwortlich: „Männer, die kuppeln, haben immer Judentum in sich; und damit ist der Punkt der stärksten Ubereinstimmung zwischen Weiblichkeit und Judentum erreicht. Der Jude ist stets lüsterner, geiler, wenn auch merkwürdigerweise, vielleicht im Zusammenhange mit seiner nicht eigentlich antimoralischen Natur, sexuell weniger potent und sicherlich aller großen Lust weniger fähig als der arische Mann ... Kuppelei ist schließlich Grenzverwischung: und der Jude ist der Grenzverwischer katexochen. Er ist der Gegenpol des Aristokraten ... Der Jude ist geborener Kommunist." 132

Die Minderwertigkeit der Juden stand in engem Zusammenhang mit der Inferiorität ihrer Religion. So ließen sich die „jüdische" Arroganz und Bigotterie nach Weininger von der sklavischen Disposition herleiten, wie sie im Dekalog enthalten war, dem „immoralischste [n] Gesetzbuch der Welt, welches für die gehorsame Befolgung eines mächtigen fremden Willens das Wohlergehen auf Erden in Aussicht stellt und die Eroberung der Welt verheißt".133 Mit Kant und Schopenhauer erklärte Weininger feierlich, daß der Jude keine Seele besitze, daß ihm jeglicher Sinn für das Göttliche im Menschen oder der Glaube an die Unsterblichkeit fehle.134 Unfähig zum wahren Mystizismus, fehle ihm daher ein wahrer Glauben an Gott. In der Tat sei der Jude das Urbild aller Ungläubigen, Materialisten und Freidenker. In der Naturwissenschaft würden sich seine Bemühungen typischerweise auf die Abschaffung allen Transzendentalismus oder jeglicher Hinweise auf „die Dinge als Symbole eines Ήβferen" konzentrieren; der Kosmos müsse so flach und gewöhnlich wie möglich gemacht werden.135 Ganz charakteristisch sei es, daß die Juden vom Darwinismus und mechanischen, materialistischen Lebenstheorien fasziniert seien. Für Weininger war es daher kein Zufall, daß so viele Juden sich der medizinischen Wissenschaft zugewandt hatten und auf dem Gebiet der Chemie, das die Medizin auf eine bloße Angelegenheit von Arzneien reduzierte, besonders hervorragende Leistungen erzielten. Diese seelenlose „jüdische" Wissenschaft war die Antithese der vornehmen „arischen" Konzepte eines Kopernikus, Galilei, Kepler, Euler, Newton, Linnaeus, Lamarck und Faraday.136 Auch in der Philosophie seien die jüdischen Beiträge oberflächlich, sklavisch und selbstverständlich deterministisch gewesen. Sogar Spinoza („der hervorragendste Jude der letzten neunzehnhundert

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Jahre") fehle es an Tiefe, und nur Goethes Hochachtung fur ihn könne die übertriebene Wertschätzung erklären, die ihm zuteil werde.137 Gerade Spinozas Oberflächlichkeit belegte zur Zufriedenheit Weiningers die Bewahrheitung seiner These, daß Juden wie Frauen von Natur aus unfähig zu „arischem" Genie oder zur Suche nach der transzendenten Wahrheit seien.138 Von allen germanischen Rassen seien die Engländer den Juden am ähnlichsten. Richard Wagner folgend, hob der junge Wiener Philosoph besonders kritisch die „seelenlose Psychologie" der Engländer hervor, deren religiöse Orthodoxie und Einhaltung des Sabbat sowie deren mangelnde Begabung auf den Gebieten der Architektur, der Musik und der Philosophie. Die beiden größten Engländer, Shakespeare und Shelley, bezeichneten noch lange nicht „die Gipfel der Menschheit" und seien Michelangelo und Beethoven eindeutig unterlegen. Lediglich die Schotten und Iren wurden von dieser harschen Kritik ausgenommen.159 Die bleibende Sünde der Engländer sei deren notorische Empirie; und dennoch seien sie noch eher zur Transzendenz fähig als die Juden, und wenigstens besäßen sie einen besseren Sinn für Humor.1''0 Obwohl Weininger den Juden jede geniale oder individuelle Eigenschaft absprach, anerkannte er dennoch deren äußerste Anpassungsfähigkeit, die Flexibilität ihres Denkens und ihr unbestreitbares Schauspielertalent. Im Gegensatz zu den Frauen verfügten die Juden über eine aggressive Rezeptionsfahigkeit: „... sondern er paßt sich den verschiedenen Umständen und Erfordernissen, jeder Umgebung und jeder Rasse selbsttätig an; wie der Parasit, der in jedem Wirte ein anderer wird, und so völlig ein verschiedenes Aussehen gewinnt, daß man ein neues Tier vor sich zu haben glaubt, während er doch immer derselbe geblieben ist. Er assimiliert sich edlem und assimiliert es so sich; und er wird hierbei nicht vom anderen unterworfen, sondern unterwirft sich so ihn. Das Weib ist ferner gar nicht, der Jude eminent begrifflich veranlagt, womit auch seine Neigung fur die Jurisprudenz zusammenhängt, welcher die Frau nie Geschmack abgewinnen wird; und auch in dieser begrifflichen Natur des Juden kommt seine Aktivität zum Ausdruck, eine Aktivität freilich von ganz eigentümlicher Art, keine Aktivität der selbstschöpferischen Freiheit des höheren Lebens." 141

Weininger führte die Anpassungsfähigkeit der Juden auf die Tatsache zurück, daß ihnen jegücher Glaube fehlte: „Der Jude hält nie wirklich etwas für echt und unumstößlich, für heilig und unverletzbar. Darum ist er überall frivol und alles bewitzelnd."142 Da den Juden Ernsthaftigkeit, Ehrerbietung und Frömmigkeit fehlten, und damit die Grundlagen jeder wahren Kultur, seien die Juden immer doppelte oder mehrfache Persönlichkeiten, ohne jede Endgültigkeit. Der Grundgedanke des Judentums bestehe tatsächlich in dieser Multiplizität, die einem Realitätsmangel ent-

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springe, einer fehlenden grundsätzlichen Beziehung zum Kantischen „An- und Fürsich-Sein".143 Der Jude stehe daher außerhalb jeder Realität, könne sich nie zu etwas durchringen und gehe keine echten Beziehungen ein. Als Eiferer ohne Eifer hätte er keinen Anteil am Unendlichen, am Absoluten, am Transzendenten: „Es ist die Einfalt des Glaubens, die ihm abgeht, und weil er diese Einfalt nicht hat, und keine wie immer geartete letzte Position bedeutet, darum scheint er gescheiter als der Arier, und entwindet sich elastisch jeder Unterdrückung. Innerliche Vieldeutigkeit, ich möchte es wiederholen, ist das absolut Jüdische, Einfalt das absolut Unjüdische."144 Da ihm der wahre Glaube und die innere Identität fehlten, sei der Jude natürlich ein hervorragender Geldverdiener, darin allein findet er seinen Wertmaßstab; da er an nichts glaube, suche er Zuflucht bei materiellen Dingen, der Antithese jeder wahren Kultur und jedes Idealismus.145 Das Rätsel seines Charakters, das durch seine Ambiguität und Duplizität gekenntzeichnet sei, hege in der geistigen Mittelmäßigkeit und dem Nichts, das all seine Taten bestimme. Weininger sah jedoch nicht alle Wege aus dem Judentum verschlossen, sollte seine eigene Bekehrung doch aufzeigen, daß der Jude durch tiefes, inneres Ringen nicht nur Christ, sondern auch „Arier" werden konnte: „Der Jude freilich, der überwunden hätte, der Jude, der Christ geworden wäre, besäße dann allerdings auch das volle Recht, vom Arier als einzelner genommen, und nicht nach einer Rassenangehörigkeit mehr beurteilt zu werden, über die ihn sein moralisches Streben längst hinausgehoben hätte. Er mag unbesorgt sein: seinem gegründeten Anspruch wird niemand sich widersetzen wollen."146

Weininger war der Ansicht, die Lösung der „Judenfrage" hege in dieser „seelischen Taufe des Geistes", in der bewußten Selbstüberwindung und Metamorphose des Juden in einen Nichtjuden. Doch nur wenige Monate nach Veröffentlichung seiner überraschenden Seelenbeichte schoß er sich eine Kugel in die Brust, eine Tat, die sein Buch zu einem Bestseller und ihn selbst, einen praktisch Unbekannten, zu einer Berühmtheit machen sollte.147 Für einen bedeutenden Teil der Generation österreichischer Intellektueller und Künstler des Fin de SiScle, die gegen ihre Gesellschaft und deren Laster rebellierte, wurde der Märtyrer Weininger nun zu einer Kultfigur, dessen philosophische Extravaganz und Extremismus sie nicht hinderte, seine Kühnheit zu bewundern.148 Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Hermann Broch, Robert Musil, Arnold Schönberg, Georg Trakl, Heimito von Doderer und der Brenner-Kreis in Innsbruck, sie alle priesen Weiningers intellektuelle Aufrichtigkeit und wurden in gewissem Maße von seinem Werk beeinflußt. Wie Carl Dallago, ein führendes Mitglied des Brenner-Kreises, in einer Monographie über Weininger 1912 schrieb, sahen sie in ihm „einen

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nietzscheanischen Charakter, dessen Philosophie nicht aus angelesener Gelehrtheit, sondern aus den inneren Tiefen eigener Lebenserfahrung entstand". 149 Eine besonders wichtige Rolle bei der Verteidigung Weiningers spielte Karl Kraus; er beklagte die kritische Haltung der Neuen Freien Presse und die Oberflächlichkeit der liberalen Presse bei der Diskussion seiner Sexualtheorien. Kraus verteidigte Weiningers Andenken auch gegen Vorwürfe von Plagiatentum und Versuche, sowohl sein Buch als auch seinen Selbstmord als Taten eines megalomanen oder kranken Geistes darzustellen. 150 In der Fackel erschien außerdem zum ersten Mal August Strindbergs begeisterter Tribut an diesen „tapferen männlichen Denker", der es gewagt hatte, das Feuer der Götter zu stehlen und erstmals öffentlich die „angeborene Minderwertigkeit" des weiblichen Geschlechts offenzulegen. 151 Weiningers Überhöhung der rationalen gegenüber den sinnlichen Elementen im Menschen teilte Kraus jedoch nicht, und auch die totale Abwertung des weiblichen Prinzips, wie sie in Geschlecht und Charakter dargelegt wird, konnte er nicht akzeptieren. Die „weiblichen" Elemente zärtlicher Phantasie, die Kraus als den emotionalen Kern der Frau ansah, waren seinem Denken entsprechend ein zivilisatorischer Faktor und Quelle künstlerischer Kreativität. Andererseits fühlte sich Kraus von Weiningers „heroischem" Moralismus und seiner Rebellion gegen die Wiener Trivialität sowie von seiner ausführlichen Erörterung der Sexualität angesprochen.152 Kraus akzeptierte weitgehend auch Weiningers Charakterisierung der Frau als reines Sexualobjekt, als unlogisches und oberflächliches Geschöpf. 153 Wie Weininger lehnte auch er die Frauenbewegung aufs schärfste ab. Außerdem sympathisierte Kraus eindeutig mit Weiningers beißender Kritik am Judentum, wenn er auch weder dessen Besessenheit mit religiösen Fragen von Schuld und Erlösung noch dessen morbid-pessimistische Lebenssicht wirklich teilte. 154 D a Karl Kraus weder ein Kantianer noch ein romantischer Wagnerianer war, fand er keinen Geschmack an metaphysischer Spekulation oder Faustischen Versuchen, die Schlüssel zum Universum zu finden. Als Quintessenz eines österreichischen Satirikers konnte er auch Weiningers Kult der deutsch-preußischen Überlegenheit nicht teilen, auch wenn er sich mit der Abscheu des jungen Philosophen vor dem Wiener Kaffeehaus-Ästhetizismus identifizierte.155 Durch seine konkretere Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme konzentrierte Kraus seinen Zorn - im Gegensatz zu Weininger - auf die empirischen, feststellbaren Laster einer pharisäischen österreichischen Gesellschaft, er sah in der Entwürdigung der Sprache das zentrale Symptom für den kulturellen Niedergang Europas. Aus all diesen Gründen war Kraus viel stärker an seine Wiener Umgebung und an die Geschehnisse des Augenblicks gebunden, auch wenn seine Fähigkeit zu moralischen Ausbrüchen in vieler Hinsicht nicht weniger einseitig und extrem war wie jene Otto Weiningers. Auch bei Kraus verband sich der Fanatismus des Propheten mit der

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Forderung nach absoluter Integrität und strengsten sittlichen Maßstäben. Seine apokalyptische Ethik schloß jedoch die Verschmelzung von geistigen und sinnlichen, von „männlichen" und „weiblichen" Eigenschaften, um in Weiningers Sprache zu sprechen, nicht aus. Auch der Selbsthaß spielte in seiner Persönlichkeit, die von der Eitelkeit des Künstlers und dem überheblichen Vertrauen eines selbsternannten Censor Germaniae geprägt war, eine viel geringere Rolle. Karl Kraus' unbarmherziger Feldzug gegen jüdische Manierismen, literarische Cliquen, finanzielle Korruption und egoistischen Materialismus entsprang nicht wie im Falle Weiningers - einem tiefen Gefühl der sexuellen Schuld oder der Selbstverleugnung, obwohl unbewußte Gefühle von Haß und Rachsucht zweifelsohne ihren Anteil daran hatten. Seine Ablehnung des Judentums veranlaßte Kraus auch nicht, seine Hoffnungen auf ein neues Christentum oder einen Messias-Erlöser zu setzen, der den Weg zu menschlicher Selbst-Transzendenz aufzeigen könnte. In diesem Sinne war Kraus viel weniger als Weininger von dem „Wesen" des Judentums als Religion oder dem Bedürfnis, die Juden von diesem Joch zu befreien, besessen. 156 Seine emotionelle Aggression war gegen einen ganz bestimmten Teil der Juden gerichtet, gegen irritierende Manierismen und sprachliche Eigenheiten, und nicht gegen den „jüdischen Charakter" perse. Im Falle von Karl Kraus war der Ausdruck der Feindseligkeit mit so vielen anderen Motiven verquickt, daß eigentlich schwer festzustellen ist, ob überhaupt Selbsthaß beteiligt war.157 Weininger hingegen drückte seinen philosophischen Selbsthaß bewußt als Akt der Aggression gegen seine eigene jüdische Identität und gegen die minderen Werte der Juden als Gruppe aus. Zugegebenermaßen zielte er auf einen platonischen Idealtypus ab - auf „den Juden", der die Negativität des Kosmos begrifflich verkörperte und nicht das Judentum als ethnische oder religiöse Minderheit. So konnte Weininger sogar behaupten, daß der „Arier" die moralische Verpflichtung habe, den Juden nicht zu verfolgen, genauso wie vom Mann erwartet werde, daß er vermeide, die Frau zu mißhandeln. Diese Forderung wurde jedoch häufig von denen ignoriert oder übersehen, die Weininger lasen, vor allem von den Antisemiten, die aus seinen Ansichten Trost und Nahrung zogen.158 Außerdem war Weiningers zutiefst persönlicher Antisemitismus, ebenso wie seine Furcht und sein Haß gegenüber Frauen, viel zu unbarmherzig, als daß er einfach als philosophische Kaprice klassifiziert werden könnte.159 Noch in der letzten Nacht seines Lebens waren seine Aphorismen erfüllt von einer erstaunlichen Wut und Feindseligkeit gegenüber den Juden und dem Judentum: „Jüdisch ist es, anderem (dem Christentum) die Schuld zu geben; (gar keine Demut!) Schuldabwälzung heißt Judentum. Der Teufel ist der Mensch, der dem Gläubigen (Gott) die Schuld gibt. Insofern ist das Judentum das radikal Böse. Der Dumme ist der,

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der über die Frage überlegen lächelt, der kein Programm anerkennt: Parsifalsage. Der Jude übernimmt gar keine Schuld: ,Was kann ich dafür?',Nebbich.' Der Christ übernimmt alle."160 Die Versuchimg liegt nahe, einen derart irrationalen Antisemitismus als bloßen Ausdruck einer persönlichen Psychopathologie abzulehnen. Eine solche Interpretation läßt aber die lange kulturelle Konditionierung, die Weiningers antisemitische Paroxysmen ermöglichte, und den sozio-politischen Zusammenhang Wiens im Fin de Siecle außer acht, der diese fast zum Gemeinplatz werden ließ. Dennoch ist es sicherlich angebracht, das differenzierte Urteil des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, des großen Wiener Zeitgenossen von Weininger, der ihn auch flüchtig kannte (und dessen Talent schätzte, seine Theorien aber ablehnte) zu zitieren: „Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, daß dem Judenthum etwas am Penis - er meint, ein Stück des Penis - abgeschnitten werde, und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten. Auch die Überhebung über das Weib hat keine stärkere unbewußte Wurzel. Weininger, jener hochbegabte und sexuell gestörte junge Philosoph, der nach seinem merkwürdigen Buch Geschlecht und Charakterseva. Leben durch Selbstmord beendigte, hat in einem vielbemerkten Kapitel den Juden und das Weib mit dergleichen Feindschaft bedacht und mit den nähmlichen Schmähungen überhäuft. Weininger stand als Neurotiker völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe; die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe gemeinsame." 161

16. Die jüdische Identität Sigmund Freuds Der Jude ...ist.. .fiir den Genuß geschaffen. Er verachtetjeden, der nicht genießen könne ... Das Gesetz schreibt den Juden vor, sich jedes kleinen Genusses zufreuen, über jede Frucht die Brache zu sprechen, die an den Zuammenhang mit der schönen Welt, in der sie gewachsen ist, erinnert. Der Jude ist fiir die Freude und die Freude ist fiir den Juden. Sigmund Freud an Martha Bernays (25. Juli 1882) So erzählte er [der Vater] mir einmal, um mir zu zeigen, in wieviel bessere Zeiten ich gekommen sei als er: Als ich ein junger Mensch war, bin ich in deinem. Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelzmütze auf dem Kopf. Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot, und ruft dabei: Jud, herunter vom Trottoir!, Und was hast du getan?' Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben, war die gelassene Antwort. Sigmund Freud, Traumdeutung (1900) Seien Sie tolerant und vergessen Sie nicht, daß Sie es eigentlich leichter als Jung haben, meinen Gedanken zufolgen, denn erstens sind Sie völlig unabhängig, und dann stehen Sie meiner intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher, während er als Christ und Pastorsohn nur gegen große innere Widerstände den Weg zu mir findet. Um so wertvoller ist dann sein Anschluß. Ich hätte beinahe gesagt, daß erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, einejüdisch nationale Angelegenheit zu werden. Sigmund Freud an Karl Abraham (5. Mai 1908) Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörigfuhlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichte ich ohne viel Bedauern. Ich meine, daß sich fiir einen eifrigen Mitarbeiter ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschtums auch ohne solche Einreihung finden müsse. Sigmund Freud, Selbstdarstellung (1925) Er [Freud] erzählte, wie ihm einmal Theodor Herzl im Traum erschien, eine majestätische Gestalt mit bleichem, dunkelgetöntem Gesicht, das ein schöner, rabenschwarzer Bart umrahmte, mit unendlich traurigen Augen. Die Erscheinung bemüht sich, ihm, Freud, die Notwendigkeit sofortigen Handelns auseinanderzusetzen, sollte das jüdische Volk gerettet werden; die Worte überraschen durch die strenge Logik und das in ihnen mitklingende Gefühl. Leo Goldhammer (1957)

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A N L Ä S S L I C H SEINES 7 0 . GEBURTSTAGES IM JAHR 1 9 2 6 SCHRIEB SIGMUND FREUD

an seine Freundin und Schülerin Marie Bonaparte mit dem für ihn typischen ironischen Anklang: „Die jüdischen Vereine in Wien und draußen, die Universität in Jerusalem (zu deren Kuratorium ich gehöre), kurz, die Juden überhaupt haben mich wie einen Nationalheros gefeiert, obwohl mein Verdienst um die jüdische Sache sich auf den einen Punkt beschränkt, daß ich mein Judentum nie verleugnet habe."1 Im gleichen Brief hob Freud die Feier in der jüdischen Loge hervor, „der ich seit neunundwanzig Jahren angehöre", und die dort ihm zu Ehren gehaltene Rede seines Hausarztes, Professor Ludwig Braun (1867-1956), „die alle Zuhörer, meine Familie darunter, bezauberte".2 Professor Braun, der der Wiener B'nai B'rith Loge im Jahr 1900 (drei Jahre nach Freud) beigetreten war und den Begründer der Psychoanalyse fast zwanzig Jahre lang kannte, bezeichnete ihn in seiner Festansprache als einen Ganzjuden? Freuds ganzheitlicher Charakter, seine Fähigkeit, die Einheit von Natur und Geist hinter widersprüchlichen, oberflächlichen Erscheinungen zu erkennen, seine Unabhängigkeit von religiösen Dogmen oder konventionellen Tabus und vor allem sein Mut, sich gegen die übrige Gesellschaft zu stellen, hatten ihn als echten Juden gekennzeichnet. Durch seinen geistigen „Optimismus", sein hartnäckiges Durchhaltevermögen, seine Würde und seine Beherrschtheit angesichts gesellschaftlicher Ablehnung hatte er genau jene Charakterzüge gezeigt, die erklären, warum die Juden sich immer besonders für den Freiheitskampf eingesetzt haben.4 Eben diese Eigenschaften, meinte Professor Braun, hätten Freud ganz selbstverständlich zur B'nai B'rith und deren humanitären Idealen hingezogen. Sie seien auch in seinem geistigen Werk, der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse, zum Ausdruck gekommen, die Braun als „echt jüdische Lebensanschauung" bezeichnete, eine, die sich dem Studium der allgemeinen Naturgesetze und der furchtlosen Erforschung der Tiefen des Geistes widmete.5 Freuds eigene Rede an die B'nai B'rith am 6. Mai 1926, in der er seine „jüdische Natur", die humanitären Ziele der Wiener Loge und deren Bedeutung als Forum für unabhängig denkende, prinzipienfeste Menschen betonte, unterstrich Brauns Anmerkungen und war ein Beweis dafür, wie sehr er die ethische Bruderschaft schätzte. Außerdem war sie auch ein wichtiges Zeugnis fur seine persönliche Entwicklung, seine Uberzeugungen und gewährte Einblick in seine jüdische Identifikation. Freud erinnerte sich, daß sein positives Interesse an der Loge in den Jahren nach 1895 langsam erwachte, als er sich in Wien praktisch als Paria fühlte. „Einerseits hatte ich die ersten Einblicke in die Tiefen des menschlichen Trieblebens gewonnen, manches gesehen, was ernüchtern, zunächst sogar erschrecken konnte, an-

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deinerseits hatte die Mitteilung meiner unliebsamen Funde den Erfolg, daß ich den größten Teil meiner damaligen menschlichen Beziehungen einbüßte. Ich kam mir vor wie geächtet, von allen gemieden. In dieser Vereinsamung erwachte in mir die Sehnsucht nach einem Kreis von auserlesenen hochgestimmten Männern, die mich ungeachtet meiner Verwegenheit freundschaftlich aufnehmen sollten. Ihre Vereinigung wurde mir als der Ort bezeichnet, wo solche Männer zu finden seien. Daß Sie Juden sind, konnte mir nur erwünscht sein, denn ich war selbst Jude, und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen. Was mich ans Judentum band, war - ich bin schuldig, es zu bekennen - nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den ,ethisch' genannten Forderungen der menschlichen Kultur. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefuhlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen Hessen, ebenso wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion. Und dazu kam bald die Einsicht, daß ich nur meiner jüdischen Natur die zwei Eigenschaften verdanke, die mir auf meinem schwierigen Lebensweg unerlässlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ,kompakten Majorität' zu verzichten."6 Freud zufolge hatte dieses „unheimliche", lirzeitliche Solidaritätsgefiihl mit seinem speziellen ethnischen Nexus und dem gemeinsamen psychischen Aufbau nichts mit einer jüdischen religiösen Identität zu tun. Auch wenn er dies nicht genau definieren konnte, basierten diese „dunklen Gefuhlsmächte" eigentlich tief im galizisch-jüdischen Hintergrund, dem er entstammte und dem er sich sein ganzes Leben lang auf eine charakteristisch ambivalente Weise verbunden fühlen sollte. 7 In der Tat war seine Persönlichkeit in einem osteuropäischen, jüdischen Haus geprägt und dann in dem halbproletarischen Wiener Bezirk Leopoldstadt genährt worden, wohin Freuds Eltern 1859 aus seiner mährischen Geburtsstadt Pribor (Freiberg) übersiedelt waren. 8 Freuds Vater Jakob, der 1815 in d e m galizischen Schtetl Tsymenitz geboren wurde, war als Sohn eines chassidischen Rabbiners ursprünglich ein praktizierender Jude gewesen. Voll jüdischer Gelehrsamkeit u n d durchtränkt mit den dazugehörigen Riten, war er bis zum Alter von zwanzig Jahren streng orthodox geblieben, bis er nach Freiberg zog. In diesem Zusammenhang schrieb Sigmund Freud 1930 in einem Brief:

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„Es wird Sie interessieren zu hören, daß mein Vater tatsächlich aus chassidischem Milieu stammte. Er war einundvierzig Jahre alt, als ich geboren wurde und seinen heimatlichen Beziehungen seit fast zwanzig Jahren entfremdet. Ich wurde so unjüdisch erzogen, daß ich heute nicht einmal imstande bin, Ihre offenbar in jüdischer Schrift gehaltene Widmung zu lesen. In späteren Jahren habe ich dieses Stück meiner Unbildung oft bedauert." 9

Diese Erinnerung stimmt mit der Tatsache überein, daß Jakob Freud, als die Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Wien gezogen war, viele seiner früheren religiösen Praktiken aufgegeben hatte. Er blieb jedoch durch und durch jüdisch - in seiner Erscheinung (er trug einen langen Bart und hatte einen würdigen Gesichtsausdruck), in seiner Fähigkeit, den Pessach-Seder Gottesdienst auswendig zu rezitieren, in seinem eifrigen Studium des Talmud und seiner Kenntnis der hebräischen Literatur.10 Am 55. Geburtstag seines Sohnes schenkte der Vater ihm stolz eine neu gebundene Ausgabe der Bibel, die Sigmund als Knabe gelesen hatte, mit einer besonderen hebräischen Widmung, die im Geist der jüdischen religiösen Tradition geschrieben war: „Mein geliebter Sohn Salomon (Freuds hebräischer Name war Salomon in Erinnerung ein seinen Großvater väterlicherseits) Es war in deinem siebenten Lebensjahr, daß der Geist des Allmächtigen dich überkam und dich drängte zu lernen. Der Geist des Allmächtigen spricht zu dir und sagt: ,Lies in meinem Buch; wenn du so tust, eröffnen sich dir die Quellen des Wissens und Verstehens. Es ist das Buch der Bücher; es ist der Brunnen, den die Weisen gegraben haben, aus dem die Gesetzgeber das Weisser ihrer Weisheit schöpfen.' Du hast in diesem Buch den ersten Blick auf das Bild des Allmächtigen geworfen. Du hast seine Lehre willig angehört und hast dein bestes getan, dich auf den Flügeln seines Geistes in die Höhe tragen zu lassen. Heute, an deinem 35. Geburtstag, hole ich diese Bibel wieder ans Licht und schicke sie dir als einen Beweis der Liebes von deinem alten Vater."11

Ganz eindeutig sollte das Geschenk, ein Beweis der „unsterblichen Liebe" seines Vaters, Sigmund vor Augen führen, daß die religiöse Tradition, in der er aufgewachsen war, weiter Bedeutung hatte.12 Doch Jakob Freud war sich sicherlich im klaren, daß die religiösen Riten des Judentums in den Augen seines Sohnes schon lange leer und bedeutungslos schienen. Tatsächlich stand Sigmund Freuds Antipathie gegenüber dem Judentum als Religion fast sicher in Zusammenhang mit seiner symbolischen Ablehnung des Vaters, der die traditionelle jüdische Lebensweise nicht mehr richtig einhalten oder ihm vollständig vermitteln konnte. Wie so viele andere jüdische Väter dieser Ubergangsgeneration hatte der Textilhändler Jakob Freud nur Bruchstücke der lebendigen Tradition seiner Ghettogemeinde am Land nach Wien

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gebracht. Diese Restloyalität gegenüber dem Judentum genügte der neuen Generation jedoch nicht mehr, die gezwungen war, zwischen zwei Welten und zwei Kulturen zu leben.13 Diese inhärente Duplizität ihrer Lebenslage führte für eine ganze Generation gesellschaftlich und geistig entwurzelter junger Wiener Juden zu einem Gefühl des inneren Zwiespalts, des Betrogenwordenseins und der Verzweiflung jene Art lokalisierter Neurosen, aus denen Sigmund Freud schließlich seine universalistische psychoanalytische Typologie entwickeln sollte. In diesem Sinne kann - um mit Marthe Robert zu sprechen - der Ödipuskomplex tatsächlich als das Konterfei des urzeitlichen „erschlagenen Vaters", Jakob Freud, eines abgefallenen galizischen Chassiden, gesehen werden. 14 Freuds Vaterkomplex, dessen er sich erst während seiner eigenen Selbstanalyse nach Jakobs Tod am 25. Oktober 1896 vollständig bewußt wurde, stand in engem Zusammenhang mit einem frühen Kindheitserlebnis, das mit dem Antisemitismus verbunden war. Während einer ihrer Wiener Spaziergänge, als Sigmund elf oder zwölf Jahre alt war, hatte Jakob Freud seinem Sohn eine Begebenheit erzählt, die sich viele Jahre zuvor in seiner eigenen Jugend in Freiberg zugetragen hatte. Ein ortsansässiger Nichtjude war auf ihn zugekommen, hatte ihm seinen Streimel (Pelzmütze) in den Schmutz geworfen und ihn vom Gehsteig verwiesen. Statt sich gegen dieses unverschämte Verhalten zu wehren, hatte Jakob Freud ruhig seine Mütze von der Straße aufgehoben. Jakob hatte diese Anekdote erzählt um aufzuzeigen, wie sehr sich die Lebensbedingungen der Juden seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts verbessert hatten. Sigmund hatte dieses „unheldenhafte" Verhalten seines Vaters jedoch tief schockiert und in ihm ein unauslöschliches Trauma zurückgelassen. „Ich stellte dieser Situation, die mich nicht befriedigte, eine andere gegenüber, die meinem Empfinden besser entsprach, die Szene, in welcher Hannibals Vater, Hamilkar Barkas, seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören läßt, an den Römern Rache zu nehmen. Seitdem hatte Hannibal einen Platz in meinen Phantasien." 15 Freud erinnert sich an diesen Vorfall in der Traumdeutung (1900), hatte jedoch zunächst nicht bemerkt, daß er in der ersten Auflage versehentlich den Namen „Hasdrubal" (Hannibals Bruder) anstelle des echten Vaters des karthagischen Generals, Hamilkar Barkas, angegeben hatte. In dem Werk Zur Psychopathologie des Alltagslebens erklärte er dann, daß er den fehlenden Mut seines eigenen Vaters, Jakob Freud, „gegen die Feinde unseres Volkes", nicht hatte verzeihen können. Gerade diese schmerzhafte Erinnerung an die väterliche Feigheit hatte Sigmunds „erstaunlichen" Fehler in bezug auf Hasdrubal verursacht. 16 Es ist unwahrscheinlich, daß Sigmund Freud eine ähnliche Scham bezügüch seiner Mutter, der wichtigsten Quelle seines unerschütterlichen Mutes und Selbstvertrauens, empfunden haben könnte. Diese jugendliche und dominante Frau, die als Amalia Nathanson (1855-1950) geboren wurde und ursprünglich aus Brody im

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Nordosten Galiziens stammte, war noch im Kindesalter nach Wien gekommen (sie hatte hier die Revolution des Jahres 1848 miterlebt). Sie war eine typische polnische Jüdin - „ungeduldig, selbstwillig, scharfsinnig und höchst intelligent".17 Amalia Freud war der Mittelpunkt der Familie, voll zärtlicher Besorgnis und Hingabe zu ihrem ältesten Sohn, sie hatte sich jedoch niemals vollständig akkulturiert. Nach den Erinnerungen ihres Enkels Martin Freud hatte Amalia die Sprache, das Verhalten und die Uberzeugungen ihrer heimatlichen Umgebung beibehalten. Sie gehörte zu einer „eigenen Rasse", die sich nicht nur von den Nichtjuden unterschied: „... sondern auch von den Juden, die seit einigen Generationen im Westen lebten ... Diese galizischen Juden hatten wenig Anmut und keine Manieren; und ihre Frauen waren sicherlich nicht das, was wir ,Damen' nennen würden. Sie waren in höchstem Maße emotional und ließen sich von ihren Gefühlen leicht mitreißen ... Es war nicht leicht, mit ihnen zusammenzuleben, und Großmutter (Amalia), eine echte Vertreterin ihrer Rasse, war keine Ausnahme. Sie war voll Lebenskraft und Ungeduld."18

Eine ähnlich liebevolle Ambivalenz gegenüber den Ostjuden, von denen er abstammte, zeigte Martins Vater, Sigmund Freud. Jahrelang sammelte er begeistert jüdische Anekdoten und Witze aus Galizien, die für ihn eine „tiefe Bedeutung" hatten. Einige von ihnen verwendete er in seinem Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). Sie handelten zumeist von der Abneigung galizischer Juden gegenüber Bädern, den Ränkespielen jüdischer Heiratsvermittler, der Unverschämtheit von Schnorrern und dem Aberglauben der Wunderrebbes.19 Freud selbst merkte an, daß bei diesen Witzen, die „auf dem Boden des jüdischen Volkslebens erwachsen sind", die Selbstkritik überwiege. Im Gegensatz zu Witzen von Fremden über Juden, die selten über das Niveau brutalen Spotts hinausgingen, beruhten die von den Juden selbst erzählten Anekdoten auf dem Wissen um „ihre wirklichen Fehler wie deren Zusammenhang mit ihren Vorzügen".20 Ob dieser Humor nun zynisch, bloß skeptisch, tendenziös oder absurd war, immer gab er nach Freuds Dafürhalten das vielfache und hoffnungslose Elend der Juden, die ambivalente Beziehimg zwischen arm und reich, die „demokratische Denkungsart der Juden" und ihre Fähigkeit, über ihre eigenen Eigenheiten zu lachen, wieder.21 Ein galizischer Witz sagt besonders viel über die Verhaltensmuster von Ostjuden in einer modernen, zivilisierten Gesellschaft aus, auch wenn dessen eindeutig soziologische Dimension von Freud niemals besprochen wurde: „Ein galizischer Jude fährt in der Eisenbahn und hat es sich recht bequem gemacht, den Rock aufgeknöpfelt, die Füße auf die Bank gelegt. Da steigt ein modern gekleideter Herr ein. Sofort nimmt sich der Jude zusammen, setzt sich in bescheidene Positur. Der Fremde blättert in einem Buch, rechnet, besinnt sich undrichtetplötzlich an den Juden

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die Frage: ,Ich bitte Sie, wann haben wir Jomkipur (Versöhnungstag)?' - ,Aesoi', sagt der Jude und legt die Füße wieder auf die Bank, ehe er die Antwort gibt."22 Der polnische Zugwitz taucht wieder in dem Judenroman auf, der in Wien zwei Jahre nach Freuds Buch über Witze von seinem literarischen „Double", Arthur Schnitzler, veröffentlicht wurde. In diesem Roman, Der Weg ins Freie (1907), meint der jüdische intellektuelle Protagonist, Heinrich Bermann, diese galizische Anekdote vermittle eine Vogelperspektive der tragikomischen Lage der zeitgenössischen Juden. „Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt hat. Nie. Sowenig als Gefangene in Feindesland voreinander wirklichen Respekt haben, besonders hoffnungslose. Neid, Haß, ja manchmal Bewunderung, am Ende sogar Liebe kann zwischen ihnen existieren, Respekt niemals. Denn alle Gefühlsbeziehungen spielen sich in einer Atmosphäre von Intimität ab, sozusagen, in der Respekt ersticken muß."23 Freud, der im gleichen galizischen Witz offensichtlich den Ausdruck einer „demokratischen Denkweise" sah, kommentierte das Element jüdischer Selbstverachtung, das Schnitzler ins Auge gesprungen war, nicht. Es ist durchaus möglich, daß er sich vom warmen, vertraulichen Volksjudentum angesprochen fühlte, das auf die voremanzipatorische Gemeinschaft des galizischen Schtetl zurückging. Die durch die gemeinsame Ethnizität hervorgerufene Vertrautheit führte in diesem besonderen Fall nicht zu seiner Mißbilligung. Die Anerkennung der urzeitlichen Identität hinter der von den assimilierten Juden aufgesetzten und künstlich angenommenen Maske war Freud sehr wichtig, dessen Einstellung zur „zivilisierten" Verfeinerung weiterhin zwiespältig bleiben sollte. Seine eigene psychoanalytische Lösung für die Neurosen der Moderne könnte vielleicht als ein genialer Kompromiß zwischen dem vertrauten Umgang der osteuropäischen jüdischen Subkultur, aus der er kam, und den formalisierten Verhaltenszwängen der Wiener jüdischen Mittelschicht, der er sich angeschlossen hatte, gesehen werden.24 Obwohl Freud die auf Selbsttäuschung beruhenden Strategien des zivilisierten Bewußtseins scharf kritisierte und gegen diese rebellierte, war er persönlich zu sehr von der Armut seiner Kindheit, der kulturellen Entbehrung und den Demütigungen durch Rassendiskriminierung, denen die Juden der unteren Mittelschicht besonders ausgesetzt waren, geprägt worden, um seine eigene Familie und sein ethnisches Milieu zu idealisieren. Die durch seinen Hintergrund bedingten Erschwernisse stärkten jedoch auch seine Entschlossenheit, die angebliche Schwäche und Resignation seines Vaters angesichts antisemitischer Feindseligkeit nicht zu zeigen. Die Welt des Kindes in der Leopoldstadt, wo Freud in den 60er Jahren des

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19. Jahrhunderts aufwuchs, und deren Einfluß auf seine spätere Einstellung zu sozialen Problemen der Assimilation und zur jüdischen Identität, ist ein Rätsel, zu dem er in seinen eigenen Arbeiten nur sehr wenige Schlüssel hinterlassen hat. In dem kurzen Bericht, den er in seiner Selbstdarstellung gibt, schreibt er knapp: „Als Kind von vier Jahren kam ich nach Wien, wo ich alle Schulen durchmachte. Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte die bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältnissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auch natürliche Objekte bezog ... Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel später erkannte, die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt."25

Freud erwarb seine guten Kenntnisse des Alten Testaments im Grunde aus der volkstümlichen, kommentierten hebräisch-deutschen Bibel von Ludwig Philippson (1811-1889); dieser aufgeklärte deutsche Gelehrte, der - ähnlich wie Adolf Jellinek in Wien - einen Mittelweg zwischen jüdischer Reform und Orthodoxie beschreiten wollte, hatte 1837 die Allgemeine Zeitung des Judentums (die sich für die jüdische Emanzipation einsetzte) gegründet und gab diese bis zu seinem Tod heraus. Als Knabe hatte sich Sigmund Freud in die Philippson-Bibel vertieft, deren Textpräsentation (der hebräische und der deutsche Text standen nebeneinander) und deutscher Kommentar die liberale, assimilatorische Haltung des Herausgebers wiedergab. Vor allem die Geschichten von Josef und Moses hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck in seiner kindlichen Vorstellung und seinem späteren Phantasieleben. Josef, der Traumdeuter, war fast mit Sicherheit sein erster Held, nicht zuletzt wegen der offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen seiner Familienkonstellation und jener von Freud selbst. Außerdem dürfte die Josefslegende in den liberalen 60er Jahren eine besonders starke Anziehungskraft ausgeübt haben, als die jüdische Hoffnung auf Assimilation in Österreich besonders groß war und der Einfluß der katholischen Kirche abnahm.26 In dieser neo-josefinischen Zeit aufgeklärter Reform (wie die meisten österreichischen Juden bewunderte Freud Josef II., den habsburgischen Kaiser des späten 18. Jahrhunderts) brachte sein Vater Bilder der neuen Minister des „Bürgerministeriums" nach Hause. Wie sich Freud später in seiner Traumdeutung erinnerte, war das Haus zu Ehren dieser bürgerlichen Doktoren - Herbst, Giskra, Unger, Berger und all den übrigen - geschmückt worden.

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„Es waren sogar Juden unter ihnen; jederfleißigeJudenknabe trug also das Ministerportefeuille in seiner Schultasche. Es muß mit den Eindrücken jener Zeit sogar zusammenhängen, daß ich bis kurz vor der Inskription an der Universität willens war, Jura zu studieren, und erst im letzten Moment umsattelte."27 Zu dieser Zeit war es auch, daß in einem Gasthaus im Prater ein wandernder „Dichter" an den Tisch des elfjährigen Sigmund und seiner Eltern kam, „der es in seiner Inspiration für wahrscheinlich [erklärte], daß ich noch einmal,Minister' werde". 28 Wie William McGrath darauf hingewiesen hat, konnte der junge Freud in den Träumen von einer Ministerkarriere leicht auf einen Teil in der Josefslegende aufbauen, „da auch Josef Minister geworden war". 29 Neben den Themen von geschwisterlicher Rivalität, den Wanderungen seiner eigenen Familie und seinem erklärten Interesse an seinen Vorfahren,30 konnte Sigmund Freud - Jakobs Sohn - den biblischen Josef daher als ein Rollenvorbild für eine gelungene Akkulturation und politischen Erfolg ansehen: Als tiefgründiger Träumer, introvertierter Gefühlsmensch und rationale, staatsmännische Persönlichkeit, die in einem fremden Land in ein hohes Amt aufgestiegen war.31 Während seiner Schulzeit am Leopoldstädter Communal-Realgymnasium (18651875) war Freud ein herausragender Schüler und zu Recht Klassenbester. In seinem sechzehnten Lebensjahr (1871) begann er sich jedoch zu verschlechtern, und er machte die typische Krise aufbegehrender Adoleszenz durch. Zu dieser Zeit waren er und Heinrich Braun (1854-1927), der zukünftige bedeutende deutsche Sozialdemokrat und Schwager Victor Adlers (1852-1918), des Begründers des österreichischen Sozialismus, „unzertrennliche Freunde". 32 Freud berichtete, daß er „alle von der Schule freigelassenen Tagesstunden mit ihm" verbrachte und damals schon „in der dumpfen Ahnung jener Jahre" verstand, „daß er etwas besaß, was wertvoller war als edle Schulerfolge, was ich seither als die Persönlichkeit' benennen gelernt habe." 33 Er bewunderte Heinrich Brauns „energisches Auftreten" und seine unabhängige Urteilskraft sehr, insgeheim verglich er ihn mit einem jungen Löwen; obwohl Braun nicht viel lernte, war Freud „der sicheren Uberzeugung, daß er einmal eine führende Stellung in der Welt ausfüllen werde". 34 Heinrich Braun hatte als erster das Interesse des jungen Freud auf „progressive" Bücher gelenkt, wie Heniy Thomas Buckles Geschickte der Zivilisation und die Geschichte des Ursprungs und Εϊη/lusses der Αufklärung in Europa des irischen Historikers William Ε. H. Lecky (1838-1903). Braun bestärkte Freud auch in seinerwachsenden Aversion gegen die Schule, „erweckte eine Menge revolutionärer Regungen in mir" und führte ihn auf den Weg der antiautoritären und antiklerikalen Rebellion.35 Auf sein Drängen hin hatte Freud ursprünglich vor, an der Universität Jus zu studieren und „mich sozial zu betätigen";

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dieses Vorhaben gab er nur deshalb zugunsten der Medizin auf, weil er kurz vor Ende seiner Schulzeit bei einer populären Vorlesung Goethes wunderbaren Aufsatz „Die Natur" gehört hatte.36 Auf der Universität trennten sich ihre Wege. Bei einem zufälligen Treffen um das Jahr 1885 lud Heinrich Braun Freud jedoch zum Essen in das Haus seines Schwagers Victor Adler in die Berggasse 19 im Aisergrund ein. Dies waren genau dieselben Räume, in denen der Begründer der Psychoanalyse von 1891 bis zu seiner Flucht aus Wien im Jahre 1938 ohne Unterbrechung wohnen sollte.37 Während seiner letzten Schuljahre und seines Universitätsstudiums wurde Freuds Einstellung gegenüber seiner jüdischen Identität unter dem Druck widersprüchlicher Zwänge, wie der Assimilation in die deutsche Kultur, dem sozialen Radikalismus und dem aufkommenden Antisemitismus, zunehmend ambivalent. Von 1873 bis 1878 war Freud ein aktives Mitglied im Leseverein der deutschen Studenten Wiens, einer radikalen Studentenverbindung, die ganz der deutschnationalen Sache verpflichtet war.38 Nachdem er schon begeisterter Darwinist und Materialist war, fühlte er sich immer stärker zum wissenschaftlichen Modernismus und zum antiklerikalen Liberalismus hingezogen. Besonders angesprochen fühlte sich der junge Freud von der norddeutschen physikalischen Schule von Helmholtz, deren wichtigster Vertreter ein weiterer protestantischer Deutscher, sein hochverehrter Lehrer Ernst Brücke, war. Damals begann er den materialistischen deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach zu studieren, dessen Religionspsychologie einen beträchtlichen Einfluß auf seine radikalen Ansichten hatte.39 Wie andere Mitglieder des Lesevereins reagierte auch Freud scharf auf den Skandal um Ritter von Ofenheim, der dazu beitrug, den Austroliberalismus in den Augen einer ganzen Generation deutschnationaler Studenten in Mißkredit zu bringen.^ Während sich jedoch durch die Ofenheim-Affäre viele Studenten des Lesevereins für Politik interessierten, begann Freud genau zu diesem Zeitpunkt, sein Interesse an der Politik zu verlieren und sich verstärkt der Wissenschaft zuzuwenden.41 Der philosophische und religiöse Radikalismus interessierte ihn nach 1875 weit stärker als der politische Radikalismus nationalistischer oder sozialdemokratischer Prägung.42 Er geriet nun unter den entscheidenden Einfluß der großen Medizinprofessoren an der Wiener Universität: des aus Berlin stammenden Physiologen Ernst Wilhelm Brücke (1819-1892), in dessen Laboratorium er zwischen 1876 und 1882 die Kunst der detaillierten wissenschaftlichen Beobachtung kennenlernte; des brillanten Psychiaters aus Dresden, Theodor Meynert (1853-1892), der sich auf die Anatomie des Gehirns spezialisierte; und eines weiteren Deutschen, Richard KrafitEbing (1840-1902), der die Psychopathia sexualis: Eine klinisch-forensische Studie (1886) verfaßte.43 Das geistige Vorbild dieser großen Wissenschaftler aus Deutschland bildete einen Gegenpol zu der bitteren Enttäuschung, die Freud angesichts des zügellosen Anti-

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semitismus unter der Wiener Studentenschaft bei seinem Eintritt in die Universität 1873 empfunden hatte. 44 In seiner Selbstdarstellung sprach Freud dieses Thema offen an: „Vor cillem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichte ich ohne viel Bedauern. Ich meinte, daß sich für einen eifrigen Mitarbeiter ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschtums auch ohne solche Einreihung finden müsse."45 Da Freud in der toleranteren, optimistischen Atmosphäre des österreichischen politischen Liberalismus in den 60er und frühen 70er Jahren aufgewachsen war, als Assimiliation und gesellschaftliche Akzeptanz noch recht schmerzlos erschienen, war sein Gefühl des Schocks durchaus verständlich. Dennoch war dies nicht Freuds erstes Erlebnis mit dem neuen Antisemitismus. „Als ich dann im Obergymnasium das erste Verständnis fur die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse erwarb, und die antisemitischen Regungen unter den Kameraden mahnten, Stellung zu nehmen, da hob sich die Gestalt des semitischen Feldherrn [Hannibal] noch höher in meinen Augen." 46 Und gerade diese katholische antisemitische Gegenreaktion hatte seinen Kindheitskult des Hannibal verstärkt, des großen „semitischen" Befehlshabers, der es wagte, die Macht Roms herauszufordern. 47 „Hannibal und Rom symbolisierten dem Jüngling den Gegensatz zwischen der Zähigkeit des Judentums und der Organisation der katholischen Kirche." 48 Dennoch war Freuds Reaktion auf die Juden und das Judentum in seinen späten Jugendjahren recht unausgeglichen, wie Briefe an Eduard Silberstein (1857-1925), einen engen rumänischen Freund, belegen. Immer weiter entfernte er sich von den traditionellen Bräuchen, Riten und der Frömmigkeit seiner osteuropäischen, häuslichen Umgebung. Er brüstete sich nicht nur damit, „gottlos" zu sein, und weigerte sich deshalb, die jüdischen Festtage einzuhalten, die seinem Vater noch immer heilig waren, in Briefen an Freunde machte er sich auch ganz offen über die Einhaltung jüdischer Riten lustig.49 Erinnerungen an seinen eigenen provinziellen Hintergrund und an Verbindungen zu nicht assimilierten Juden aus Osteuropa begannen ihm auf die Nerven zu gehen. Als er auf der Rückreise von Freiberg nach Wien im September 1872 auf eine solche Familie traf, ließ er sich in einem Brief an seinen Freund Emil Fluss zu einigen wirklich ablehnenden Bemerkungen hinreißen: „Und nun sprach dieser Jude in derselben Weise, wie ich tausende andere früher sprechen gehört habe, sogar in Freiberg. Sein Gesicht kam mir bekannt vor - er war typisch. Gleiches gilt für den Buben, mit dem er über Religion diskutierte. Er war aus dem Holz,

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aus dem das Schicksal Schwindler macht, wenn die Zeit reif ist: schlau, verlogen, von seinen ihn vergötternden Verwandten in dem Glauben belassen, er sei ein großes Talent, aber ohne Grundsätze und Charakter. Ich habe genug von diesem Gesindel."50 Der klar erkennbare Wunsch, sich von solch unerwünschten provinziellen jüdischen Merkmalen zu distanzieren, ging mit Freuds wachsendem Streben nach der Identifikation mit der liberalen deutschen Kultur einher.51 Zu Beginn seines Medizinstudiums in Wien sah Freud die jüdischen religiösen Traditionen ganz eindeutig als anachronistisch an, gleichzeitig wandte er sich den deutsch-österreichischen Idealen als Grundlage für soziale Integration und Assimilation zu. Zur selben Zeit versuchte er, seine Verbindungen zu den Ostjuden, der „fremden Rasse", zu kappen, gegen die der deutschnationale Antisemitismus besonders hetzte.52 An der Wiener medizinischen Fakultät waren diese Angriffe zu allererst und hauptsächlich gegen die armen jüdischen Studenten aus Ungarn und Galizien gerichtet. Sie erlangten öffentliche Bedeutung, als der berühmte Chirurg Professor Theodor Billroth (1829-1894) einen Numerus clausus gegen die Ostjuden vorschlug, die die Wiener medizinische Fakultät überschwemmten.53 Billroth beschränkte seine Bemerkungen nicht bloß auf die Notwendigkeit, das wissenschaftliche Niveau zu halten, oder auf die objektiven Schwierigkeiten, sich den Lebensunterhalt zu finanzieren, mit denen die einwandernden Juden unweigerlich konfrontiert waren. Er postulierte vielmehr eine tiefe, grundsätzliche Kluft „zwischen rein deutschem und rein jüdischem Blut" und schloß die Möglichkeit aus, daß die Juden jemals ihre nationalen Merkmale verlieren oder „bei nationalen Kämpfen so zu empfinden vermochten, wie die Deutschen selbst".54 Billroths Buch über die Situation der medizinischen Lehre an den Universitäten und der dadurch einsetzende Sturm führte zu deutschnationalen Demonstrationen und einer scharfen Vergeltung durch jüdische Studenten. Einige assimilierte jüdische Vorstandsmitglieder des Deutschen Lesevereins, wie Victor Adler, widersprachen Billroths rassischen Behauptungen und bestanden darauf, daß die Juden nicht nur dem deutschen Nationalismus treu waren, sondern auch einen wichtigen Faktor in der kulturellen Entwicklung der deutschen Nation darstellten.55 Gleichzeitig mißbilligten sie die liberale jüdische Hetzkampagne gegen Billroth und die in der Neuen Freien Presse geäußerte Kritik. Auch wenn diese erste Welle nationalistischer Agitation schließlich abebbte, war doch die Saat rassischer Intoleranz in den deutsch-österreichischen Burschenschaften Mitte 1875 gesät worden, genau zu dem Zeitpunkt, als Freud sich von der radikalen Politik abzuwenden begann und sich ganz der experimentellen Wissenschaft zuwandte. Diese frühe Enttäuschung seiner Hoffnungen, die er auf den deutschen demokratischen Nationalismus gesetzt hatte, muß den Juden Freud tief getroffen und seine Entschlossenheit gestärkt haben, sich seiner etwas unsicheren jüdischen

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Identität wieder zu versichern. Deutlich wurde dies in seinen entschlossenen Reaktionen gegen den Antisemitismus in den frühen 80er Jahren, als er sein Medizinstudium abgeschlossen und begonnen hatte, als Assistenzarzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus zu arbeiten. Freuds Briefe aus Wien an seine künftige Frau Martha Bernays in Hamburg sind ein wertvolles Zeugnis seiner reifenden Persönlichkeit während dieser äußerst wichtigen Entwicklungsphase und erhellen die Komplexität seiner damaligen jüdischen Identität. Martha war die Enkelin des Hamburger orthodoxen sephardischen Rabbiners Isaak Bernays (1792-1848), und ihre Eltern waren streng praktizierende Juden. Martha selbst hielt Kaschrutem, fastete an Jom Kippur (trotz Protesten Freuds) und schrieb zu Beginn ihrer langen Verlobung ihrem Verlobten niemals am Sabbat.56 In einem bemerkenswerten Brief an Martha, den er in Hamburg verfaßte, berichtete der 26jährige Freud mit großer Rücksicht auf ihre Gefühle und voll der Neugier auf ihre Familie in allen Einzelheiten über ein Treffen mit einem dortigen jüdischen Schreibwarenhändler, von dem sich herausstellte, daß er ein Schüler ihres Großvaters, des Chacham Bernays, gewesen war. Dieser alte jüdische Händler, der Nathan hieß, wußte viel von ihrem familiären Hintergrund zu erzählen; über den Chacham („ein außerordentlicher Mensch", der „die Religion mit solchem Geist und Humanität" lehrte); und über den tiefen pädagogischen Wert der Heiligen Schriften.57 Trotz seines eigenen unversöhnlichen Atheismus war Freud fasziniert, wie dieser alte jüdische Schreibwarenhändler die Lehre Isaak Bernays auslegte. Das Zusammentreffen erinnerte ihn an Lessings berühmtes humanistisches Drama Nathan der Weise.56 „Die Religion war nicht mehr starres Dogma, sie wurde zum Gegenstand des Nachsinnens, zur Befriedigung des verfeinerten künstlerischen Geschmacks und gesteigerter logischer Anforderungen und schließlich empfahl sie der Hamburger Lehrer [Isaak Bernays], nicht weil sie einmal als geheiligt vorhanden war, sondern weil er sich des tiefen Sinns freute, den er in ihr entdeckte oder in sie hineintrug ... Er war kein Asket, setzt er fort. Der Jude, sagte er, ist die höchste Blüte des Menschen und fur den Genuß geschaffen. Er verachtet jeden, der nicht genießen könne ... Das Gesetz schreibt den Juden vor, sich jedes kleinen Genusses zu freuen, über jede Frucht die Broche zu sprechen, die an den Zuammenhang mit der schönen Welt, in der sie gewachsen ist, erinnert. Der Jude ist für die Freude und die Freude ist für den Juden" 59

Freud erklärte Martha, daß er bei seinem Abschied „bewegter" gewesen sei, „als der alte Jude erahnte" und beendete seinen Brief mit einer eindeutig optimistischen Bemerkung: „Und für uns beide glaube ich: wenn die Form, in der die alten Juden sich wohlfühlten auch für uns kein Obdach mehr bietet, etwas vom Kern, das Wesen des sinnvollen und lebensfrohen Judentums, wird unser Haus nicht verlassen."60

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Freuds Sicht des Judentums, wie sie in diesem Brief und anderen Quellen zum Ausdruck kommt, scheint ein seltsames Paradoxon aufzuzeigen. Einerseits sah er die Religion als kindliche Illusion an und sollte später eine Theorie entwickeln, die sie mit der Obsessionsneurose gleichsetzte.61 Er sollte fortan jeden Glauben an eine persönliche Gottheit oder an einen abstrakten Gott der Philosophen als Form der Abhängigkeit ablehnen, die unter der Würde der Vernunft war. In der Tradition der Aufklärungskritik und -skepsis sollte Freud ständig das Gerede über den Glauben im besten Falle als naive Regression in den Infantilismus oder im schlimmsten Falle als Mittel zur Massenmanipulation verunglimpfen.62 Im Gegensatz zu seiner starken Aversion gegen den römischen Katholizismus konnte Freud im Judentum jedoch gleichzeitig eine Lehrmethode und einen rationalen Kern sehen, der zum Fortschritt und zur Erziehung der Menschheit bedeutende Beiträge geleistet hatte.63 Die legalistisch-rationalistischen Traditionen des Judentums, die Freud später in der Person des Moses - des Erziehers, Gesetzgebers und Zerstörers von Götzen - verkörpert sah, entsprach seinem eigenen ikonoklastischen Temperament. Daher rührte seine Identifikation mit der seiner Meinung nach tief verwurzelten Feindseligkeit des Judentums gegenüber der Mystik, der Irrationalität und dem Aberglauben.64 Freuds Achtung vor dem ethischen und pädagogischen Wert des Judentums war in seiner Jugend stark von Samuel Hammerschlag, einem fähigen Religionslehrer, geprägt worden, der ihn am Leopoldstädter Gymnasium im Bibelstudium unterwies.65 Wie die gemäßigten Reformer Ludwig Philippson und Adolf Jellinek strebte auch Hammerschlag im Religionsunterricht nach einer ausgeglichenen Synthese von Denken und Fühlen; dies diente ihm, in Freuds Worten, „als ein Weg der Erziehung zur Humanität Mittel, und aus dem Material der jüdischen Geschichte wußte er die Mittel zu finden, um die im Herzen der Jugend sich bergenden Quellen der Begeisterung anzuschlagen".66 Freud sah in ihm vor allem einen Lehrer, dem „es möglich war, unvermischbare Eindrücke in der Entwicklung seiner Schüler zu hinterlassen. In seiner Seele glühte ein starker Funken von dem Geiste der großen jüdischen Wahrheitsbekenner und Propheten."67 Ganz offensichtlich hatte Hammerschlags Lehrmethode, das Herz und den Geist anzusprechen, die Phantasie des Kindes durch direkten Zugang zu biblischen Geschichten anzuregen, anstatt das mechanische Auswendiglernen von Fakten und Einzelheiten zu verlangen, den jugendlichen Freud stark beeindruckt.68 In diesem begnadeten Religionslehrer hatte er eine ideale Verbindung jüdischer Leidenschaft mit deutschem klassischem Humanismus gefunden, die in Einklang mit seinen eigenen liberalen Grundsätzen stand. Hammerschlag betonte - eher wie der Prediger Adolf Jellinek - die fortschrittliche, humanitäre Botschaft des Alten Testaments und versuchte, den jüdischen Gruppenpartikularismus mit den universellen Wahrheiten der Menschheit zu verbinden.69 Diese überhöhte ethische, durch deutsche Aufklärungs-

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ideale vermittelte Sicht der Bibel hatte eindeutig einen Niederschlag in Freuds Brief an seine Verlobte vom 23. Juli 1882 gefunden und beeinflußte weiter seine Ansichten, auch wenn er den orthodoxen Ritualismus zutiefst verabscheute. Außerdem blieb Hammerschlag für Freud nicht nur ein Lehrer, sondern der Prototyp eines jüdischen Menschen und engen Familienfreundes, der ihm während seiner Jahre an der Universität oft „aus der Not gerissen hatte", obwohl er selbst arm war.70 Im Jänner 1884 berichtete Freud Martha Bernays, daß Hammerschlag ihm eine Geldsumme gegeben hätte, um seine Ausbildung am Allgemeinen Krankenhaus zu unterstützen; er erwähnte auch, wie sehr er die warme Atmosphäre in der Familie Hammerschlag genoß, „ganz abgesehen von der tiefgewurzelten Symphatie, die seit den Gymnasialjahren zwischen dem braven alten jüdischen Lehrer und mir besteht".71 Sein ärztlicher Kollege und Mitarbeiter bei den Studien über Hysterie, Josef Breuer (1842-1925), hatte keinen geringeren Anteil als Samuel Hammerschlag, in Freud positivere Gefühle bezüglich seiner jüdischen Identität zu wecken. Breuers Vater war ebenfalls Religionslehrer und ein Kollege Hammerschlags an der Religionsschule der Kultusgemeinde gewesen, und die beiden Familien wohnten im gleichen Wiener Mietshaus, wo Freud mit ihm wahrscheinlich zum ersten Mal zusammengetroffen sein dürfte.72 Bald sah Freud in Josef Breuer einen väterlichen Freund, bei dem er Rat, wissenschaftliche Begeisterung und moralischen Beistand suchen konnte. Es war Breuer, der seinem ungestümen jüngeren Kollegen davon abriet, eine Bekehrung zum Protestantismus zu erwägen, statt einer orthodoxen jüdischen Hochzeit mit Martha Bernays im Jahr 1886 zuzustimmen!73 Durch Breuers stilles Drängen lernte Freud auch die Bedeutung von Brüderlichkeit, Intimität und gegenseitigem Vertrauen unter Juden in einer immer feindlicher gesinnten Wiener Umgebung Mitte der 80er Jahre schätzen.74 Freund verschloß jedoch keineswegs die Augen vor den Fehlern und Schwächen des Wiener jüdischen Milieus, in dem er sich bewegte. In einem Brief an Martha Bernays vom September 1885 zeichnete er nach dem Selbstmord seines engen Freundes Nathan Weiß, eines Dozenten am Allgemeinen Krankenhaus, ein außerordentlich eindringliches Bild dieser Umgebung.75 Weiß hatte sich in einem öffentlichen Bad in der Landstraße erhängt, nachdem seine junge Ehe in Brüche gegangen war. In einer tiefgründigen Analyse zeigte Freud, daß er „nicht etwa an einem Zufall gestorben" sei, „sein Wesen hat sich vielmehr erfüllt"; hinzu kam noch der unerträgliche gesellschaftliche und familiäre Druck. Nathan war der Sohn des Talmudgelehrten Isaak Hirsch Weiß (1815-1905). Freud beschrieb diesen: „Sein Vater ist Lektor an der hiesigen Religionsschule, ein sehr begabter Gelehrter, der, wenn er das Chinesische anstatt des Rabbinischen zu seinem Studium hätte, gewiß Universitätsprofessor wäre".76 Trotz dieses ehrwürdigen Hin-

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tergrunds sei der Vater „ein ganz harter, schlechter, roher Mensch", dessen enorme Eitelkeit all seine Söhne zum Studium gezwungen hatte. „Es gab keine Liebe in dem Hause und bittere Armut, keine Erziehimg und viele Anforderungen."77 Die Söhne „brachten es meist nicht weit, verlumpten sich" und schon sechs Monate zuvor hatte sich einer von ihnen erschossen. Nathan, der begabteste unter ihnen, hatte „das volle Talent des Vaters" geerbt, fühlte sich jedoch durch dessen Beispiel unter Druck gesetzt, sich unablässig beweisen zu müssen und um jeden Preis Erfolg zu haben.78 Eitel, egozentrisch, selbstsüchtig und häufig grausam schien Nathan Weiß zur Freundschaft oder der Freude an „menschlichen und natürlichen Dingen" unfähig zu sein. Sein exhibitionistisches Verhalten schien Freud ein Rätsel zu sein, bis Josef Breuer ihn „an eine kleine Geschichte [erinnerte], wie der alte Zwickauer seinen Sohn fragt: ,Mein Sohn, was wüllst du worden?' Und der Sohn antwortet: ,Vütriolöl, dorm das friß süch überall durch.'"79 Freud erkannte nun, daß das zwanghafte Verhalten von Weiß, sein selbstzerstörerischer Drang nach weltlichem Erfolg und gesellschaftlicher Akzeptanz das Ergebnis eines typisch jüdischen Vater-Sohn-Konflikts war. Denn unter dem Äußeren eines rastlosen, unglücklichen Karrieristen und dem manischen Verlangen nach Selbstbehauptung steckte in Nathan Weiß letztlich ein gutmütiger, lebhafter und warmer Mensch, der durch den Ehrgeiz seines Vaters verbildet worden war.80 Durch seine erste Liebeserfahrung war Weiß tragisch aus dem Gleichgewicht geraten, da er „glaubte, ihre [des Mädchens] Liebe so erzwingen zu können, wie er seine anderen Erfolge erzwungen hatte".81 Das Mädchen, das durch seine Arroganz und sein schlechtes Benehmen vor den Kopf gestoßen worden war, hatte ihn abgewiesen, unter enormem familiärem Druck aber schließlich der Hochzeit zugestimmt. Weiß „ertrug aber den Gedanken nicht, daß ein Mädchen ihn ablehnen könnte, er opferte alles so rücksichtslos dem einen Zweck, nicht vor die Welt mit einem Mißerfolg treten zu müssen", und stürzte sich dann in eine kurze und unheilvolle Ehe.82 Die gegenseitigen Vorwürfe der beiden jüdischen Familien beim Begräbnis in Wien schockierten Freud zutiefst. Isaak Weiß' Kollege Meir Friedmann (1831-1908), der ebenfalls an der Wiener Bet ha-Midrasch lehrte und ein bedeutender Talmudgelehrter war, forderte mit einem Zitat aus dem Alten Testament offen Rache:83 „,Und es steht geschrieben: Wenn eine Leiche gefunden wird und mein weiß nicht, durch wessen Hand er um's Leben gekommen, dann soll man sich an die Nächsten halten, das sind die Mörder. Wir aber, seine Eltern und Brüder, wir haben nicht sein Blut vergossen' -, und nun begann er in klaren Worten die andere Familie zu beschuldigen, daß sie ihm den Todesstoß versetzt. Dabei sprach er mit der gewaltigen Stimme des Fanatikers, mit der Glut des wilden, erbarmungslosen Juden.

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Wir waren alle entsetzt vor Empörung und Scham vor den Christen, die unter uns waren. Es war, als ob wir ihnen ein Recht gegeben hätten zu glauben, daß wir den Gott der Rache, nicht der Liebe anbeten."84 Diese erschütternde Geschichte aus dem Wiener Leben der 80er Jahre enthielt - so wie sie vom jungen Freud berichtet wurde - schon viele Themen, die ihn in den kommenden Jahren weiter beschäftigen sollten: den Konflikt zwischen Vätern und Söhnen (Nathan hatte seinen Vater selbst als „Ungeheuer" beschrieben); zwischen Bedürfnissen des einzelnen und gesellschaftlichen Forderungen; den Preis von Ehrgeiz und Erfolg; die durch das rastlose Streben nach Leistung hervorgerufene Desorientierung und das durch übereifrige Assimilation entstehende Unglück. Freuds Sorge um die Reaktion der Christen, die beim Begräbnis anwesend waren, und sein Horror vor einem jüdischen religiösen Fanatismus schienen ein fortdauerndes Gefühl des Unbehagens angesichts seines eigenen Jüdischseins anzudeuten. Und dennoch muß er auch in Nathan Weiß' Selbstmord eine Warnung vor dem schrankenlosen Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung gesehen haben. Ende 1883 machte sich Freud nur mehr wenige Illusionen über die Aussichten einer völligen Assimilation in die Wiener deutsch-österreichische Gesellschaft, er war sich auch nicht mehr sicher, ob dies wünschenswert sei, obwohl er sich als Jude noch immer nicht wohl fühlte. Viele Jahre später (1926) sagte er zu Georg Sylvester Viereck: „Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Errungenschaften sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deutschen, bis ich das Heranwachsen antisemitischer Vorurteile in Deutschland und in Deutsch-Österreich bemerkte. Seit dieser Zeit betrachte ich mich nicht mehr als Deutschen. Ich ziehe es vor, mich als Juden zu bezeichnen."85 Freud gab nicht genau an, zu welchem Zeitpunkt diese Wandlung erfolgt war, sie kann sich jedoch nicht nur „in seinen späten Jahren" vollzogen haben, auch war sie keine bloße Reaktion auf antisemitische Beleidigungen und Erniedrigungen.86 Der rassische Antisemitismus im kaiserlichen Wien hatte Freuds Gefühl für persönliche Würde zweifelsohne verletzt. Außerdem durchdrang er die deutschnationale Bewegung, mit der er einmal sympathisiert hatte, und vergiftete die Beziehungen der Studenten untereinander und die Universitätspolitik an der medizinischen Fakultät, wo er arbeitete. Dem Antisemitismus kam jedoch hauptsächlich in seiner Funktion als Katalysator für Freuds wachsende innere Bejahung seiner jüdischen Identität Mitte der 80er Jahre Bedeutung zu.87 Ein Brief, den Freud am 16. Dezember 1885 von Leipzig schrieb und in dem er einen antisemitischen Vorfall während seiner Zugreise durch Deutschland schilderte, deutete bereits ein neues Selbstbewußtsein und trotzigen Mut angesichts absichtlicher Schmähung an.88 Freud hatte versehentlich einige Mitreisende gestört, als er ein Fenster im Zug öffnete - daraufhin wurde sofort von hinten gerufen: „Das ist ein

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elender Jude!" Dieser brutale Zuruf hatte die ganze Situation in eine andere Richtung gelenkt. Freud erzählte die Szene Martha Bernays mit offensichtlichem Stolz: „Mein erster Gegner wurde auch Antisemit, erklärte: Wir Christen haben Sinn für das Gemeinwohl, Sie müssen das liebe Ich unterordnen, und dergleichen, und mein zweiter Gegner verkündigte unter seiner Bildung entsprechenden Schimpfreden, daß er über die Bänke steigen wolle, mir zu zeigen, und so weiter. Ich wäre ein Jahr früher vor Aufregung unfähig gewesen, ein Wort zu äußern, jetzt bin ich doch cinders, ich hatte keine Ftucht vor dem Gesindel, bat den einen seine allgemeinen Sentenzen für sich zu behalten, da sie mir gar keinen Respekt einflößten, und den andern, sich zu mir zu bemühen und sich die verdiente Antwort bei mir zu holen. Ich war ganz gefaßt, ihn zu erschlagen, aber er kam nicht; daß ich nicht mitgeschimpft habe, freut mich; das muß man immer den Herren überlassen."89

Freud schloß, daß er sich recht gut geschlagen „und die mir zu Gebot stehenden Mittel mutig benützt" habe, ohne sich auf das Niveau seiner Gegner herabzulassen. Sein neu entdecktes Selbstvertrauen und seine Entschlossenheit, energisch auf den Antisemitismus zu reagieren, konnte er bei seiner Solidarität für einen Freund und ärztlichen Kollegen, Carl Koller, nochmals unter Beweis stellen, der am Wiener Allgemeinen Krankenhaus beleidigt worden war.90 In einem Brief vom 6. Jänner 1885 erzählte Freud Martha Bernays von dem Vorfall, der kurz zuvor für Aufruhr am Allgemeinen Krankenhaus in Wien gesorgt hatte. „Er [Koller] gerät wegen eines geringfügigen sachlichen Ereignisses in Differenz mit dem für die Klinik Billroth amtierenden Ausheber und Operateur, und der sagt ihm plötzlich ,Saujud'. Nun mußt Du wissen, in welcher Stimmung wir hier leben, in welcher Verbitterung - kurz, wir hätten es alle ebenso erwidert - mit einem Schlag ins Gesicht."91

Da beide Reserveoffiziere waren, war der antisemitische Chirurg verpflichtet, Koller zum Duell zu fordern. Freud sandte seinem Kollegen sofort eine Flasche Wein, „ihn vor dem Kampf zu stärken", und frohlockte über Kollers späteren Triumph. „Wir sind alle herzlich froh, ein stolzer Tag für uns. Wir werden Koller ein Geschenk zur bleibenden Erinnerung an den Sieg machen."92 Freuds unverhohlener jüdischen Stolz und sein Solidaritätsgefühl waren durch die feindselige Atmosphäre geweckt worden, auf die er im Wiener Allgemeinen Krankenhaus traf, die tiefer gehenden Gründe dafür lagen jedoch in seiner eigenen, reifer werdenden Persönlichkeit und seinem Wunsch nach Unabhängigkeit. Festzuhalten ist, daß Freud diese positivere Einstellung zur jüdischen Identität sowie das Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und seinen künftigen Lebensweg während seines Pariser Aufenthalts im Winter 1885/86 weiter festigte. Seine Studien mit dem berühmten französischen Neurologen Jean-Martin Charcot (nach dem er einen sei-

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ner Söhne nannte) eröffneten ihm neue Einsichten in den Charakter der hysterischen Verdrängung und deren Verbindung zur Sexualität. In Charcot sah er nicht nur einen großen Wissenschaftler, sondern auch einen Befreier und aufgeklärten Verweltlicher, der - wie es William McGrath ausdrückte - entschlossen war, „seine Patienten vom erdrückenden Gewicht dogmatischer Fehleinschätzungen zu befreien". 93 Freud fand die Stimmung in Charcots Klinik „sehr zwanglos und demokratisch". 94 Der französische Arzt hatte in ihm „neue Empfindungen vom Vollkommenen" und eine wachsende Unzufriedenheit mit d e m Wiener wissenschaftlichen Umfeld geweckt, das er vorübergehend verlassen hatte. 95 Ein introspektiver Brief vom 2. Februar 1886 läßt vermuten, daß Freud durch die kritische Distanz während seines Pariser Aufenthalts auch seine tieferen Konflikte in seiner eigenen Persönlichkeit bewältigte. Er hatte nicht mehr das brennende Gefühl der Unzufriedenheit, daß „die Natur [ihm] nicht in einer gütigen Laune den Gesichtsstempel des Genies, den sie manchmal verschenkt, aufgedrückt hat". Er war zuversichtlich, daß die Fähigkeit zur Arbeit, ein starker Charakter und der „Mangel hervorragender intellektueller Schwächen" in Zukunft dem „langsamen Erfolg", den er nun vor sich sah, sehr förderlich sein würden. 9 6 Freud war der Meinung, daß seine Verschlossenheit und Schroffheit gegenüber Fremden „die Folge des Mißtrauens [war], nachdem ich oft erfahren.habe, daß mich gewöhnliche oder schlechte Menschen schlecht behandeln"; je „mächtiger und unabhängiger" er wurde, desto mehr sollte dieser Charakterzug Zug um Zug verschwinden. Er erinnerte sich: „Und doch war ich schon in der Schule immer ein kühner Oppositionsmann, war immer dort, wo es ein Extrem zu bekennen galt"; mit kaum verhohlener Begeisterung verband er diesen Charakterzug mit seinem jüdischen Wesen, und erinnerte sich in diesem Zusammenhang an eine Bemerkung seines Freundes Josef Breuer. „Er sagte, er hätte herausgefunden, daß in mir unter der Hülle der Schüchternheit ein maßlos kühner und furchtloser Mensch stecke. Ich habe es immer geglaubt, und mich nur nicht getraut, es wem zu sagen. Mir war oft so, als hätte ich den ganzen Trotz und die ganze Leidenschaft unserer Ahnen, als sie den Tempel verteidigten, geerbt, als könnte ich für einen großen Moment mit Freude mein Leben hinwerfen."97 Im gleichen Brief an Martha Bernays erwähnte Freud ein politisches Gespräch (das während einer Soiree in Charcots Haus stattgefunden hatte), das sich u m einen unmittelbar bevorstehenden neuerlichen deutsch-französischen Krieg drehte. Freud schrieb seiner Verlobten: „Ich gab mich gleich als juif, der weder Deutscher noch Österreicher sei, zu erkennen. Solche Gespräche sind aber immer sehr peinlich für mich, denn ich fühle was Deutsches in mir regen, was ich zu unterdrücken lange beschlossen habe." 98

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Die allmähliche Verlagerung von Freuds eigener Einordnung wurde weiter verstärkt, als seine neuen Gedanken zur Hysterie nach seiner Rückkehr nach Wien und seinem Auftritt vor der Gesellschaft der Ärzte im Winter 1886 eisig aufgenommen wurden. In seiner autobiographischen Studie erinnert sich Freud kryptisch: „Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hatten, bliebt unerschüttert. Ich fand mich mit der männlichen Hysterie und der suggestiven Erzeugung hysterischer Lösungen in die Opposition gedrängt. Als mir bald darauf das hirnanatomische Laboratorium versperrt wurde und ich durch Semester kein Lokal hatte, in dem ich meine Vorlesungen abhalten konnte, zog ich mich aus dem akademischen und Vereinsleben zurück. Ich habe die , Gesellschaft der Arzte' seit einem Menschenalter nicht mehr besucht." 99

Freuds Bitterkeit gegenüber der Gesellschaft der Arzte war nicht nur auf deren autoritäre, dogmatische Ablehnung neuer wissenschaftlicher Ideen zurückzuführen, sondern aüf sozio-politische Zwänge, die sich in Wien aufbauten. In einem Brief vom Februar 1888 an den Berliner jüdischen Physiologen Wilhelm Fließ (1858— 1928), der bald sein wichtigster Trost und eine Stütze seines Egos werden sollte, berichtete Freud über einen schrecklichen Tumult in der Wiener Medizinischen Gesellschaft. „Sie wollten uns zwangsweise auf ein neues Wochenblatt abonnieren, welches den geläuterten, exakten und christlichen Standpunkt einiger Hofräte, die das Arbeiten längst verlernt haben, behaupten soll. Sie setzen es natürlich durch; ich habe große Lust auszutreten."100 Freuds jüdische Identität wurde augenscheinlich durch diese Gegnerschaft zur „kompakten Majorität" im katholischen Wien genährt, dessen Ansichten er offen verachtete.101 Da er sich von der gesamten Atmosphäre im Wien des Fin de Siecle und den antisemitischen Strömungen, welche die medizinische Fakultät, die akademische Verwaltung und die Gemeindepolitik unterwandert hatten, abgestoßen fühlte, zog er sich immer mehr in seine eigene therapeutische Arbeit mit Patienten zurück. Wie er Wilhelm Fließ in einem Brief vom 11. März 1900 schrieb: „Ich hasse Wien geradezu persönlich und wie im Gegensatz zum Riesen Antaeus sammle ich frische Kraft, so oft ich den Fuß vom vaterstädtischen Boden abgehoben habe."102 Seine Korrespondenz mit Fließ in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt einen Mann, der praktisch von der Umwelt abgeschnitten war und in und für seinen engen Familienkreis, seine Patienten und seine jüdischen Freunde lebte, die vor allem Ärzte waren, wie Leopold Königstein und Oskar Rie (1863-1911), mit denen er einmal wöchentlich Tarock spielte. In seiner wissenschaftlichen Arbeit kam er gut voran, war aber vollkommen isoliert.105 1894 war sogar sein enger Kontakt zu Breuer abgebrochen, und er war völlig auf seine eigenen geistigen Fähigkeiten gestellt.104 Die Politik interessierte ihn kaum, ausgenommen die antisemitischen Erfolge bei

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den Wiener Gemeinderatswahlen, die ihn am 25. September 1895 zu einigen lapidaren Bemerkungen an Fließ veranlaßten: „Daß die Wahlen im III. Wahlkörper 46 gegen 0, und im II. 52 gegen 14 liberale Mandate ergeben haben, hat Dir wohl Ida vorgelesen. Ich habe doch gewählt. Unser Bezirk ist liberal geblieben."105 Daß Lueger nach einem kaiserlichen Veto nicht im Amt bestätigt wurde, veranlaßte Freud, eine Freudenzigarre anzuzünden, was aber kaum als leidenschaftliches Interesse an der österreichischen Politik gewertet werden kann.106 Trotzdem war Freud über einen von Fließ' Freunden verärgert, der Lueger zu wohlwollend beurteilte. Er schrieb Fließ am 25.Mai 1899: „... und ich habe ihn dafür schlecht behandelt. D. [Dernburg] wollte uns einreden, daß hier alles sehr schön reich an besten ,Possibilitäten' steht ... und daß wir Unrecht tun, so erbittert zu schimpfen. Ich glaube doch, wir wissen das besser."107 Die großen Erfolge von Luegers christlichsozialer Bewegung dürften Freud nur in seiner geringen Meinung über die meisten Wiener Nichtjuden und den menschlichen Charakter im allgemeinen bestätigt haben. Der antisemitische Siegeszug lieferte jedoch einen unmittelbaren Grund zur Sorge, da er sein eigenes Fortkommen an der Universität in Frage stellte. Seit er 1885 zum Privatdozenten ernannt worden war (dem niedrigsten Rang in der akademischen Laufbahn), waren Freuds beruflicher Ehrgeiz und seine Hoffnung auf eine Professur vereitelt worden - dies führte zu einer tiefen Frustration, die in den von ihm aufgezeichneten Träumen immer wiederkehrte.108 Am 8. Februar 1897 schrieb er an Fließ, daß seine Freunde, die Professoren Hermann Nothnagel und Krafft-Ebing, ihn für die ersehnte Professur vorschlagen würden, daß ersterer ihn aber gewarnt hätte, daß seine Chancen nur gering wären. „Sie kennen die weiteren Schwierigkeiten. Es ist vielleicht damit nur erreicht, daß sie aufs Tapet gebracht sind".109 Nicht ohne Grund glaubte Freud, daß es aufgrund „konfessioneller Rücksichtnahme" höchst unwahrscheinlich war, daß der Unterrichtsminister den Vorschlag annehmen würde.110 Einer seiner engsten jüdischen Freunde, Leopold Königstein, dessen eigene Beförderung um Jahre verzögert worden war, hatte Freuds diesbezüglichen Verdacht bereits bestätigt. Die Anfang 1897 nach Luegers Bestätigung als Bürgermeister von Wien und der Abhängigkeit der Regierung Badeni von der Unterstützung durch die Christlichsozialen bestehende politische Konstellation erschwerte eine Beförderung von Juden an den Universitäten in besonderem Maße. Vor diesem deprimierenden Hintergrund hatte Freud (im Februar 1897) vom Onkel mit dem gelben Bart geträumt - ein Traum, der sich direkt auf seine eigenen beruflichen Ambitionen bezog. In diesem Traum erkannte Freud, daß er in die Schuhe des Ministers geschlüpft war, der sich weigerte, ihn zu ernennen, um zwei jüdische Akademiker in ähnlicher Position wie er selbst lächerlich zu machen.111 „Indem ich die beiden gelehrten und achtenswerten Kollegen, weil sie Juden sind, so schlecht

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behandle, den einen, als ob er ein Schwachkopf, den anderen, als ob er ein Verbrecher wäre, indes ich so verfahre, benehme ich mich, als ob ich der Minister wäre, habe ich mich an die Stelle des Ministers gesetzt."112 Der rücksichtslose Ehrgeiz, wie er in einigen seiner Träume zutagetrat, war nur eine von vielen unerfreulichen Überraschungen, die Freud im Verlauf der tiefschürfenden Selbstanalyse nach dem Tod seines Vaters erlebte. In einem Brief an Wilhelm Fließ vom 10. Juli 1900 beschreibt er die versteckten Tiefen des Unbewußten, die er aufgedeckt hatte, anschaulich. „Alles wogt und dämmert, eine intellektuelle Hölle, eine Schicht hinter der anderen; im dunkelsten Kern die Umrisse von Lucifer-Amor sichtbar."113 Als er die dunkelsten Winkel des psychischen Lebens erforschte, das unter der zivilisierten Schicht der bürgerlichen Gesellschaft verdeckt war - den Charakter der kindlichen Sexualität, neurotische Symptome, Neigungen zum Vatermord und die Zensur durch den Traum - hegte Freud nur wenig Zweifel, daß seine Arbeit auf wenig Gegenliebe stoßen würde. In Wien konnte man über Sex als Laster schreiben oder dessen Perversionen und Störungen studieren, man konnte ihn aber nicht in allen Einzelheiten als Teil der täglichen Wirklichkeit behandeln. Dies war der Unterschied zwischen Freud und Krafft-Ebing. Außerdem irritierte Freuds Beharren, daß die Neurose psychische und nicht physische Gründe habe, seine akademischen Kollegen in immer stärkeren Maße; seine Betonung der sexuellen Urtriebe störte die Konventionen bürgerlicher Moral; sein unnachgiebiger Atheismus verärgerte die Hüter der katholischen Kultur. Und vor allem war Freud ein Jude in einer Stadt, in der die gesellschaftlichen und politischen Schranken des Antisemitismus geradezu sicherstellten, daß die Psychoanalyse verächtlich als eine „jüdische Wissenschaft" abgetan würde. Wie er sich gegenüber seinem psychoanalytischen Kollegen Karl Abraham beklagte: „Seien Sie versichert, wenn ich Oberhuber hiesse, meine Neuerungen hätten ... weit geringeren Widerstand gefunden."114 Gleichzeitig stand dieses starke Gefühl des Ausgeschlossenseins, der gesellschaftlichen Randstellung und des Abseitsstehens von der nichtjüdischen österreichischen Mehrheit (wie Freud selbst vage erkannte) in Beziehung zu seiner schöpferischen Originalität. „Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß an Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen."115 Und eben aufgrund seiner Stellung als gesellschaftlicher Außenseiter in der nichtjüdischen Welt könne es sich der Jude leisten, weniger konformistisch und freier zu sein, sogar in bezug auf sein eigenes spirituelles Erbe. Sein Geist sei nicht eingeengt durch die Überreste von Dogma und Aberglauben, durch die drückende Last theologischer Glaubensgrundsätze, die der christlichen Zivilisation innewohnen. Daher,

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so Freud, könne nur ein absolut areligiöser Jude die Psychoanalyse erfunden haben.116 Seine Entdeckungen standen auf paradoxe Weise in direktem Zusammenhang mit seinem jüdischen Wesen, denn aus dieser einzigartigen Tradition hatte er seinen Nonkonformismus, seine Freiheit von Vorurteilen und seinen Mut zur Rebellion geerbt.117 Dieser persönliche Glaube an eine den Juden gemeinsame psychologische Struktur hatte Freud ebenso wie seine eigene Achtung in der Wiener Gesellschaft zur B'nai B'rith-Loge hingezogen, der er am 29. September 1897 beitrat. Die Loge bot ihm nicht nur eine Zuflucht vor dem Antisemitismus, eine geistesverwandte jüdische Atmosphäre und ein wohlwollendes Forum für die Darlegung seiner psychoanalytischen Hypothesen, sondern auch einen Rahmen, um mit anderen die humanitären Ideale zu teilen, denen er seit seiner Jugend angehangen hatte.118 Die B'nai B'rith-Bruderschaft war in Wien im Winter 1894 unter dem Druck antisemitischer Feindseligkeit gegründet worden. Ihre erklärten Ideale waren es, die „Israeliten" zu vereinen, um ihre eigenen Interessen und jene Menschheit voranzutreiben, ihren geistigen und sittlichen Charakter zu entwickeln, einander die Grundsätze der Philanthropie, Ehre und des Patriotismus einzuprägen und die Leiden der Armen zu mindern sowie den Opfern von Verfolgung beizustehen.119 Freud stand diesen humanitären Zielen nahe, insbesondere befürwortete er den Appell an die Aufklärungsideale von universeller Brüderlichkeit und Gleichheit und deren Versuch einer Synthese mit den humanistischen Traditionen des Judentums.120 Er fühlte sich zu einem ethischen Verein hingezogen, der eine Insel der Zuflucht innerhalb einer feindseligen Umgebung sein konnte, während jedoch gleichzeitig die Beziehungen zur nichtjüdischen Welt nicht vollkommen gekappt wurden. Das Gefühl der Einzigartigkeit und sittlichen Überlegenheit, wie es B'nai B'rith-Mitglieder wie Solomon Ehrmann, ein enger Freund Freuds seit dessen Studententagen, empfanden, war nicht exklusiv, sondern universalistisch. Der Antisemitismus des Pöbels auf den Straßen Wiens hatte jedoch Ehrmann und andere Logenbrüder gelehrt, daß ihre Zeitgenossen für fortschrittliche humanitäre Ideale und soziale Gleichheit noch nicht bereit waren. Es sei daher die Aufgabe des Judentums, diese edlen Grundsätze innerhalb von kleinen gebildeten Gruppen wie der B'nai B'rith hochzuhalten, die stetig und unabhängig für den Fortschritt der Menschheit arbeiten würden. Dennis Klein hat überzeugend aufgezeigt, wie sehr sich Freud für die Strömungen von Brüderlichkeit und Demokratie innerhalb der B'nai B'rith eingesetzt hatte, wie er deren kulturellen Idealen von Grund auf zustimmte und wie freudig er seine jüdische Herkunft anerkannte.121 Insbesondere identifizierte er sich mit deren Konzeption einer jüdischen ethischen Elite. Dieser Gedanke sollte ihm als Vorbild für die Schaffimg der psychoanalytischen Bewegung im Jahr 1902 dienen. Genau zu dieser Zeit, als Freud ein regelrechter Paria innerhalb der Wiener Akademikerkreise wurde

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(1897-1902), hatte er in B'nai B'rith ein unterstützendes Forum und eine Zuhörerschaft für seine psychoanalytischen Ideen gefunden. Wahrend dieser sechs Jahre hielt er vor der Bruderschaft nicht weniger als acht Vorträge zu wissenschaftlichen Themen, darunter seine ersten öffentlichen Darstellungen zur Traumdeutung und die Darlegung einiger der in der Psychopathologie des Alltagslebens (1901) enthaltenen Theorien.122 Vor der Loge sprach er auch zweimal über das Leben und Werk von Emile Zola, dem großenfranzösischenRomancier, dessen leidenschaftlichen Einsatz in der Dreyfus-Affare er glühend bewundert hatte.123 Zola faszinierte Freud, sowohl aus psychoanalytischer Sicht als auch als Schriftsteller und im humanistischen Sinne als Kämpfer gegen die Autorität, die Ungerechtigkeit und die Judenverfolgung. Freuds aktivste Teilnahme an der B'nai B'rith-Gesellschaft in den Jahren 1901 bis 1902 ging der Gründung seines ersten Wiener psychoanalytischen Kreises unmittelbar voraus, dem anfänglich ausschließlich Juden angehörten. Erst ab März 1907, als die Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961) und Ludwig Binswanger (1881-1966) erstmals einer Sitzung in Wien beiwohnten, gehörten auch Nichtjuden zur psychoanalytischen Gruppe. Diese ethische Einseitigkeit weckte in Freud zutiefst ambivalente Gefühle. Einerseits fühlte er sich in diesem intimen Kreis jüdischer Analytiker wohl, die nicht nur durch ihr gemeinsames therapeutisches Interesse, sondern auch durch eine Art unausgesprochenen ethnischen Zusammenhalt untereinander verbunden waren. Gleichzeitig war es aber auch Freuds eindringlicher Wunsch, dem Auftrag und der Botschaft der Psychoanalyse einen allgemeinen Charakter zu verleihen. Aus diesem Grund war die Etablierung des Schweizer nichtjüdischen Psychiaters Jung und seiner kleinen Gruppe in Zürich für Freud äußerst wichtig, er bemühte sich auch sehr um ihre Gefolgschaft. Nur wenn sie an der Leitung der Bewegung Anteil hatten, bestand eine Hoffnung, daß der antisemitische Vorwurf, die Psychoanalyse sei eine „jüdische Wissenschaft", überwunden werden könnte. Dies erklärt auch seine wohlbekannte Bitte an Karl Abraham (1877-1925) vom 3. Mai 1908: „Seien Sie tolerant und vergessen Sie nicht, daß Sie es eigentlich leichter als Jung haben, meinen Gedanken zu folgen, denn erstens sind Sie völlig unabhängig, und dann stehen Sie meiner intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher, während er als Christ und Pastorsohn nur gegen große innere Widerstände den Weg zu mir findet. Um so wertvoller ist dann sein Anschluß. Ich hätte beinahe gesagt, daß erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden."124 Freud drängte Abraham, trotz der - wie er meinte - Schweizer „Abweichungen" in Richtung eines christlichen Spiritualismus Zurückhaltung zu üben, denn nur durch Jungs Auftritt auf der Bühne war die Psychoanalyse „der Gefahr entzogen ... eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden".125 Acht Tage später bekannte Karl Abraham in seiner Antwort:

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„Das es mir leichter wird, mit Ihnen zu gehen, als Jung, das gebe ich gern zu. Ich habe diese intellektuelle Verwandtschaft auch immer gefühlt. Die talmudische Denkweise kann ja nicht plötzlich aus uns verschwunden sein. Vor einigen Tagen wurde ich im , Witz' durch einen kleinen Absatz in eigentümlicher Weise gefesselt. Als ich ihn genauer betrachtete, fand ich, daß er in der Technik der Gegenüberstellung und im ganzen Aufbau durchaus talmudisch war."126

In einem Brief aus Berchtesgaden vom 23. Juli 1908 erhob Freud keine Einwände gegen Abrahams Schlußfolgerungen. Im Gegenteil, er gestand seinem jüdischen Schüler offen ein: „Darf ich sagen, daß es verwandte, jüdische Züge sind, die mich in Ihnen anziehen? Wir verstehen einander doch." Und wieder erklärte Freud, daß er über den Streit zwischen Abraham und Jung nicht glücklich sei; er machte ihn Abraham aber nicht zum Vorwurf, stattdessen betonte er die Notwendigkeit, für das höhere Wohl der Sache der Psychoanalyse auch Ungerechtigkeit zu erdulden. „Ich vermute bei mir, daß der verhaltene Antisemitismus der Schweizer, der mich schonen will, verstärkt auf Sie geworfen wird. Ich meine nur, wir müssen als Juden, wenn wir irgendwo mittun wollen, ein Stück Masochismus entwickeln, bereit sein, und etwas Unrecht tun zu lassen. Es geht sonst nicht zusammen."127 In einem anderen Brief an Abraham vom 26. Dezember 1908 drückte Freud die Sachlage etwas anders, aber noch unmißverständlicher aus: „Unsere arischen [!] Genossen sind doch ganz unentbehrlich, sonst verfiele die Psychoanalyse dem Antisemitismus."128 In seinem Briefwechsel mit Jung äußerte Freud die gleiche Sorge mit mehr Diskretion und Takt. Am 2. September 1907 schrieb er an Jung: „Zur Beschwichtigung sage ich mir, daß es für die Sache [die Psychoanalyse] besser so ist, daß Sie als der andere, der zweite einen Teil wenigsten des Widerstandes ersparen, der für mich bereit wäre, daß man nichts als nutzlose Wiederholung hören würde, wenn ich wieder einmal daselbe sagen würde, und daß Sie der Tauglichere für die Propaganda sind, denn ich habe immer gefunden, daß etwas an meiner Person, meinen Worten und Ideen die Menschen wie fremd abstößt, während Ihnen die Herzen offenstehen."129

Freud sah in Jung eindeutig sowohl eine Brücke zur nichtjüdischen Welt als auch den Josua, der sein Werk der Erforschimg des Gelobten Landes der Psychiatrie weiterfuhren und schließlich vollenden würde.150 In einem Brief an Jung vom 15. August 1908 drückt sich Freud diesbezüglich recht deutlich aus. „Sie als starke, unabhängige Persönlichkeit, als Germane, der leichter die Sympathien der Mitwelt kommandiert, mir besser zu taugen scheinen als irgendein anderer, den ich kenne."131

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Da Freud entschlossen war, die neue Wissenschaft auf eine breitere Basis zu stellen, als sie seine eigenen Wiener jüdischen Kollegen anboten, schlug er deren Einwände in den Wind und machte Jung bei der Nürnberger Konferenz im Jahr 1910 zum Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.132 Er verteidigte diesen Schritt und betonte, daß es ihm äußerst wichtig sei, „den Anschluß an die Wissenschaft [zu] finden"; die Psychoanalyse könne keine jüdisch-sektiererische Bewegung bleiben, wenn sie nach universeller Bedeutung strebe. Freud meinte daher, die „Juden müssen sich bescheiden, Kulturdünger zu sein". 133 Freuds Vertrauen in Jung, der bereit schien, „mir zuliebe Rassenvorurteile aufzugeben, die er sich bis dahin gestattet hatte", und seine Überzeugung, daß der Schweizer Psychiater sein offensichtlicher Erbe sei, erwiesen sich als traurige Fehleinschätzung.134 Freud war sich natürlich schon lange ihrer Divergenzen bewußt gewesen. So hielt es Jung zum Beispiel für denkbar, daß man „die Sexualtermini nur für die extremsten Formen Ihrer ,Libido' aufsparte und im übrigen einen weniger offensiven Kollektivbegriff für alle Libidines aufstellte."135 Freud wußte, daß sich Jung bemühte, sich innerlich von ihm zu befreien, wie er es in einem Brief an Freud ausdrückte, „vom drückenden Gefühl Ihrer [d. h. Freuds] Vaterautorität" zu lösen.136 Außerdem stimmten die beiden Männer in der Frage des Mythos und der Religion im Grundsatz ebensowenig überein, wie dies bei der Bedeutung der Sexualität der Fall war. Dieser Unterschied trat 1910 offen zutage, als Freud vorschlug, die psychoanalytische Bewegung sollte ihre Kräfte zu einem „Internationalen Orden für Ethik und Kultur" vereinen, um für gemeinsame fortschrittliche Ideale der Weltverbesserung und eine praktische Reform zu kämpfen sowie gleichzeitig Widerstand gegen die von reaktionären Staaten und der katholischen Kirche ausgeübte Ungerechtigkeit zu leisten.137 Dieser Vorschlag stand in Einklang mit der humanitären Aufgabe, die Freud durch seine Aktivitäten bei B'nai B'rith bekräftigte und in der Folge auf die Psychoanalyse übertrug. In einem Brief vom 11. Februar 1910 lehnte Jung Freuds Idee eines Ethischen Ordens scharf als künstlich, als mythisches „Nichts" ab, dem jeder archaisch-infantile Impuls oder jede Verwurzelung in dem tiefen Instinkt der Rasse fehle.138 Jung war sicher nicht der Ansicht, daß 2000 Jahre Christentum so einfach ersetzt werden könnten, außer durch etwas, das die breite Masse in ähnlicher Weise ansprach und die „ekstatischen Triebkräfte", die durch dessen Kommen ausgelöst würden, wieder absorbiert. Der Schweizer Psychiater war nicht an einer praktischen, auf rationalistischen Annahmen begründeten Ethik interessiert, sondern am „ewig wahren Mythos", der, seiner Meinung nach, von der Psychoanalyse in aller Vorsicht unter den Intellektuellen kultiviert werden sollte.139 Jung sprach sogar davon, Christus wieder „in den weissagenden Gott der Rede ..." (Dionysos) zurückzuverwandeln und die unendliche Begeisterung und die „Lebenskräfte unserer Religion" wieder zu entdecken.1'10

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Die Kluft zwischen den beiden Männern war eindeutig zu tief, um lange überbrückt werden zu können, insbesondere angesichts von Freuds Verachtung für Halbherzigkeit, Weitschweifigkeit oder eine umständliche und unverbindliche Ausdrucksweise zur Rolle der Sexualität im Leben der Psyche. Stefan Zweig sagte einmal, Freud sei niemals bereit gewesen, ein verbales Feigenblatt vor seine Uberzeugungen zu hängen, damit sie durch die Hintertür geschmuggelt werden könnten, ohne unangenehme Aufmerksamkeit zu erregen.141 Er war einfach nicht willens, Libido durch höfliche Worte wie „Eros" oder „Liebe" zu ersetzen, wie dies dem Schweizer Heber gewesen wäre. Außerdem konnte er Jungs latenten christlichen Mystizismus und den auf den Mythos gerichteten Irrationalismus nicht ohne weiteres hinnehmen, der sowohl den wissenschaftlichen als auch den materialistischen Grundlagen der Psychoanalyse den Todesstoß versetzt hätte. Der Bruch mit Jung in den Jahren 1912 bis 1913 war dennoch ein bitterer Schlag für Freuds Hoffnungen, Zürich und nicht Wien zum Zentrum der Psychoanalyse zu machen, und verstärkte weiter sein Mißtrauen gegen „Arier", wenn dies überhaupt noch möglich war.142 In einem Brief vom 8. Juni 1915 an einen seiner liebsten jüdischen Schüler, den Ungarn Sandor Ferenczi, räumte Freud die Existenz von unterschiedlichen rassischen Sichtweisen ein, versuchte aber weiter, die Wissenschaft als eine Art neutrale Basis aufrechtzuerhalten. „Zum Semitismus: Es gebe gewiß große Unterschiede vom arischen Geist. Wir überzeugen uns alle Tage davon. Daher werde es sicher hier und dort verschiedene Weltanschauungen und Kunst geben. Besondere arische oder jüdische Wissenschaft; dürfe es aber nicht geben. Diese Resultate müßten identisch sein, nur die Darstellung könnte variiren."143

Diese Freudsche Achtung vor der Universalität der Wissenschaft sollte jedoch nicht über das starke jüdische Selbstbewußtsein hinwegtäuschen, das in der psychoanalytischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg bestand. Nicht nur Freud, sondern auch einige seiner ihm nahestehenden Schüler, wie Otto Rank (1884-1939), Fritz Wittels (1880-1950) und Viktor Tausk (1879-1919), waren der Ansicht, daß die Juden in besonderer Weise aufgerufen waren, die Menschheit zu erziehen und von Sexualneurosen und den schändlichen Auswirkungen einer repressiven, zivilisierten Moral zu erretten.144 In einem am 13. Dezember 1905 von ihm als Jugendlichem verfaßten Aufsatz hatte Otto Rank gemeint, die Juden verstünden sich besser auf die Heilung der Neurose als jedes andere Volk, einschließlich der auf dem Gebiet der Dramen bewanderten Griechen.145 Von all seinen Wiener Schülern stand Rank Freud vielleicht am nächsten. Nachdem er zunächst seine Familie, seinen Vater und die jüdische Religion geleugnet hatte, rang er sich später zu der Meinung durch, die Juden würden besondere

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schöpferische Kräfte besitzen und seien bestens als „Ärzte" der Menschheit geeignet. Angesichts seiner wichtigen Stellung im inneren Kreis rund um Freud war diese Tatsache nicht ohne Bedeutung. m Wie Otto Weininger sah auch Rank einen Zusammenhang zwischen dem Judentum und dessen Zugang zur Sexualität. Im Gegensatz zu Weininger sah er darin aber den positiven Ausdruck der Natürlichkeit, den andere Völker anstreben sollten.147 Aller Wahrscheinlichkeit nach teilte Freud Ranks Vision des sexuell nicht unterdrückten Juden als möglichem Retter der Menschheit von einer neurotischen Zivilisation nicht. Implizit spricht aus seinem eigenen Werk jedoch die Überzeugung, daß „ein ungleich freieres Sexualleben" wünschenswert sei, auch wenn er, wie er in einem Brief meint, „selbst sehr wenig von solcher Freiheit" geübt habe.148 Außerdem hatte Freud zweifelsohne seinen Schülern ein latentes Gefühl des Auserwähltseins, des Stolzes und jüdischen Selbstbewußtseins vermittelt, das dazu beitrug, in ihnen den Glauben zu nähren, die Psychoanalyse habe die Mission der universellen Erlösung.140 Theoretisch war Freuds eigene Auffassung von dieser Mission rationalistisch, aufgeklärt und antiautoritär. Da er sowohl die Religion als auch weltliche Ideologien, wie den Nationalismus oder den Sozialismus, ablehnte, sah er in einem besseren Verständnis des Geistes die Anleitung zu einem besseren Leben. Die Psychoanalyse war in diesem Sinne nicht nur eine Theorie, sondern eine Bewegung rail einem politik- und religionsähnlichen Charakter, die die Welt im Sinne eines aufgeklärten Ideals erlösen wollte.150 Sie hatte ihre kleine, gut organisierte Vorhut, ihre eigenen Veröffentlichungen, ihre zentrale Organisation, Rangordnungen, Riten und sektiererischen Dogmen; sie hatte auch ihre Hexenjagden, Häresien und Rachefeldzüge. Tatsächlich wollte der unangefochtene Anführer im Zentrum lieber Leute, die zuarbeiteten, als wirkliche Mitarbeiter, eine treue Gruppe von Aposteln, die ihm bei der Errichtimg seiner Unsterblichkeit beistehen und schließlich seine Lehren in eine breitere Gesellschaft tragen würden.151 In Wien waren diese Anhänger praktisch ausnahmslos urbane jüdische Intellektuelle der Mittelschicht, die Freuds Gefühl der Zugehörigkeit zu einer umkämpften Minderheit teilten und dieses Gefühl auf die ebenfalls verhaßte und verhöhnte psychoanalytische Bewegung übertragen hatten. Als gesellschaftliche Parias, die über keinen wirklichen Anker in einer feindlichen österreichischen Gesellschaft verfugten, waren diese Anhänger umso abhängiger von Freud und nicht bereit, das Risiko einzugehen, ihn zu verärgern. Dennoch kam es häufig zu Abweichungen, Unstimmigkeiten und Abspaltungen, wobei die intelligentesten Schüler Freuds den Kreis verließen, sobald die Atmosphäre ihre eigene Kreativität zu sehr einengte. Der Abtrünnige, der den größten Schaden anrichtete, war Alfred Adler (18701957), der in eine kleinbürgerliche, jüdische Familie im Wiener Vorort Rudolfsheim

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geboren wurde und sich großteils in der Gesellschaft von Nichtjuden bewegte. Sein Vater Leopold, ein assimilierter Getreidehändler aus dem Burgenland, hatte es im Gegensatz zu vielen anderen nach Wien einwandernden Juden bewußt vermieden, sich in einem ethnisch abgesonderten Wohngebiet niederzulassen.152 Der Sohn hatte bei Meynert und Krafft-Ebing an der Wiener Universität Medizin studiert und 1895 sein Doktorat erworben. Zwei Jahre später heiratete Alfred Adler Raissa Epstein (1873-1962), eine radikale russische Studentin, und eröffnete 1900 eine private Arztpraxis in der Praterstraße in Wien. 1902 begann Adler, regelmäßig an den jeden Mittwoch in Freuds Wohnung stattfindenden Gesprächsabenden teilzunehmen, und bald galt er als der begabteste, ehrgeizigste und wortreichste Anhänger Freuds in Wien. Bemerkenswert ist, daß Adler das einzige Mitglied von Freuds frühem Kreis war, das der Sozialdemokratischen Partei Österreichs beitrat. Schon 1909 versuchte er Marx und Freud unter dem Einfluß des damals in Wien lebenden Leon Trotzky zu einer Einheit zu verschmelzen. In seiner Studie über die Minderwertigkeit von Organen (1907) deutete Adler an, daß Kinder mit schwacher Physis ihre Schwächen durch eine Uberbetonung ihrer intellektuellen Stärken überkompensierten. Im Gegensatz zu Freud sah Adler nicht in libidinösen Trieben oder dem Ödipuskomplex die entscheidenden Faktoren zum Verständnis der Psyche. Er betonte stattdessen viel stärker die Rolle der Willenskraft, der Selbstbehauptung und die Suche nach Sicherheit.155 Der Bruch, zu dem es 1911 kam, wurde durch Adlers Abhandlung im folgenden Jahr, die den Titel Über den nervösen Charakter trug, und seine Gründung einer neuen Schule der Individualpsycho logie besiegelt.154 Ganz im Gegensatz zu Freud war Adler ein typischer Wiener. Er sprach den natürlichen, unverfälschten Dialekt der Stadt und fühlte sich in dieser Umgebung wohl.155 Obwohl ein sozialistischer Freidenker, war Alfred Adler als junger Mann zum Protestantismus konvertiert, um seine Flucht vor dem Judentum zu vervollständigen; seine Verbindung zur jüdischen Gemeinde war eine Last, die er abschütteln wollte. Durch die Taufe wollte dieser radikale Atheist das Gefühl stärken, zu Wien, zur Mehrheit der christlichen Gemeinde und zum einfachen Volk, mit dem er in seiner Jugend aufgewachsen war, zu gehören.156 Für Freud war dies andererseits ein weiterer Grund, Adler zu mißtrauen, da der Begründer der Psychoanalyse in den späteren Jahren schließlich die Taufe als einen Akt des Verrats ansah, der gleichbedeutend mit dem Eintritt in das feindliche Lager war.157 Nach der Auffassung Freuds war Adler auf zweifache Weise abtrünnig geworden, da er auch die Psychoanalyse für eine größere gesellschaftliche Anerkennung durch Nichtjuden verraten hatte. Das meinte Freud auch mit seiner überaus harten Bemerkung in einem Brief an Arnold Zweig vom 22. Juni 1957, nachdem er von dem plötzlichen Tod Adlers infolge eines Herzanfalles in Schottland gehört hatte: „Für

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einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reichlich dafür belohnt, daß er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat." 158 Wie Jung war auch Adler abtrünnig geworden, indem er die Sexualität zähmte, um die Psychoanalyse salonfähiger zu machen, eine Tatsache, die Freud mit der Entstellung ihrer zentralen Wahrheit gleichsetzte. Abgesehen von dieser Apostasie war Alfred Adler in Freuds Augen ein Assimilationist der schlimmsten Sorte, der sein jüdisches Erbe allein um der Karriere willen verkauft hatte. Seine relativ problemlose Anpassung an die Wiener Umgebung des Fin de Siecle, in der sich Freud immer als einsam und umkämpft sah, schien dieses negative Urteil zu bestätigen. Peter Gay hat überzeugend ausgeführt, daß „Freud viel weniger in der Wiener Welt als in seiner eigenen Geisteswelt zu Hause war". 159 Sogar das medizinische Wien, von dem er seine erste analytische Ausbildung erhalten hatte, war ein „Mikrokosmos wissenschaftlicher Begabungen aus Deutschland", wobei viele seiner bedeutendsten Lehrer aus dem protestantischen Norden stammten. Es war kein Zufall, daß Freud verächtlich jeden Versuch zurückwies, den Ursprung der Psychoanalyse im Wiener Milieu zu sehen, als die theoretische Projektion „einer Atmosphäre von Sinnlichkeit und Unsittlichkeit wie sie anderen Städten fremd sei.. ," 160 Freud leugnete, daß Wien sich in bezug auf die sexuellen Gebräuche oder den Grad an Neurosen und nervösen Störungen wesentlich von anderen europäischen Städten unterschied.161 Für Freud war Wien weit davon entfernt gewesen, ihm Anregungen zu geben, es hat vielmehr alles mögliche getan, tun seinen Anteil am Ursprung der Psychoanalyse zu negieren, insbesondere in den gebildeten und kultivierten Kreisen. In einem Briefwechsel mit dem Berliner Wilhelm Fließ schreibt er am 29. August 1898: „Die ganze Atmosphäre Wiens ist auch wenig dazu angetan, einen Willen zu stählen oder jene Zuversicht des Erfolges aufkommen zu lassen, die euch Berlinern eigen ist."162 Außerdem war er überzeugt, daß der Vorwurf des Wienertums der Psychoanalyse „nur eine euphemistische Vertretung für einen anderen [ist], den man nicht gern öffentlich vorbringen wollte" - nämlich, daß sie eine „jüdische" Wissenschaft sei.165 Nach einem heftigen Angriff auf seine Theorien bei einem Treffen der Hamburger Medizinischen Gesellschaft hatte Freud am 24. April 1910 in diesem Sinne an Ferenczi geschrieben. „Die Wiener Sinnlichkeit finde sich anderwärts nicht! Zwischen den Zeilen können Sie noch lesen, daß wir Wiener nicht nur Schweine, sondern auch Juden sind. Aber das wird nicht gedruckt."164 Wien blieb jedoch achtundsiebzig Jahre lang Freuds Umgebung, an die er aus Gewohnheit, Trägheit und durch den offensichtlichen Widerwillen, sich selbst zu entwurzeln, gebunden war. Seinen Kaffeehausliteraten, Salons und Theatern aber blieb er fern, er war gleichgültig gegenüber seiner modernistischen Kultur und angeekelt

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von seiner „Politik einer neuen Tonart". Freud war, wenn überhaupt, ein äußerst unwienerischer Jude, ein Fremder in seiner eigenen Stadt. Erst nach der Kriegserklärung an Serbien durch die Habsburgermonarchie im Juli 1914 gab Freud eine Zeitlang zu, ein positives Identifikationsgefühl mit seiner Stadt, dem Land und der deutsch-österreichischen Nationalität zu empfinden, wie er es einst in seiner Jugend empfunden hatte. In einem Schreiben an Karl Abraham erklärte er: „... zum ersten Mal seit 30 Jahren [fühle ich mich] als Österreicher und möchte es noch einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich versuchen. Die Stimmung ist überall eine ausgezeichnete. Das Befreiende der mutigen Tat, der sichere Rückhalt an Deutschland tut auch viel dazu."165 Am 9. November 1918 jedoch schrieb er an Ferenczi: „Bei Altösterreichs Untergang konnte ich nur hohe Befriedigung empfinden. Leider bin ich auch nicht deutsch-österreichisch oder alldeutsch."166 Das Anschwellen des Antisemitismus in Deutschland und Osterreich zwang Freud einmal mehr, sich die Frage nach seiner jüdischen Identität zu stellen. Am 10. Dezember 1917 vertraute Freud Abraham an: „Eigentlich freut mich jetzt nur die Einnahme von Jerusalem und das Experiment der Engländer mit dem auserwählten Volke."167 Freuds Interesse am Zionismus war nicht neu, und in gewisser Weise waren seine diesbezüglichen Reaktionen typisch für seine ambivalente Haltung gegenüber seiner jüdischen Idenitität. Andererseits stand er schon seit langem dem Nationalismus skeptisch gegenüber, und die negative Aufnahme der Psychoanalyse hatte für ihn die Gefahr einer „national-jüdischen" Identifikation unterstrichen. Gleichzeitig stand Freud dem Zionismus insofern wohlwollend gegenüber, als dieser eine mutige, kämpferische Reaktion auf die jüdische Machtlosigkeit und den zweitklassigen Status war. Er hatte seine Kinder immer gelehrt, keine Beleidigungen hinzunehmen und sich selbst gegen Beschimpfung und Ungerechtigkeit zu verteidigen. Im Gegensatz zur antizionistischen Haltung vieler liberaler Wiener Juden war Freud hoch erfreut, als sein Sohn Martin um die Jahrhundertwende der Kadimah beitrat, und 1936 wurde er im Alter von achtzig Jahren selbst von der zionistischen Verbindung als einer ihrer Alten Herren geehrt.168 Freud wußte aus seiner eigenen Erinnerung an die Studentenzeit, aus der Lektüre der Zeitungen und den alltäglichen Erfahrungen seiner Söhne natürlich sehr wohl Bescheid über die Brutalität der deutschnationalen Studenten an der Wiener Universität.169 Und dennoch wurde der Name Theodor Herzls, seines berühmten Zeitgenossen, der in der gleichen Gegend wohnte, in Freuds umfangreicher Korrespondenz erstaunlicherweise nie erwähnt. Sein Sohn Martin brachte diese außergewöhnliche Tatsache damit in Zusammenhang, daß die jüdische liberale Presse Österreichs so gut wie nichts über den Zionismus berichtete, da sie ihrerseits befürchtete, die neue Bewegung könnte den bürgerrechtlichen Status der Juden untergraben. Er berich-

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tet, daß nur wenige jüdische Freunde aus dem Bekanntenkreis von Theodor Herzl gehört hatten, obwohl dieser damals schon internationale Bedeutung erlangt hatte. Er wußte lediglich, daß Herzl der Vater von Trude Herzl war, die als Freundin seiner Tochter häufig zu ihnen nach Hause kam.170 Freud erwähnte nie, daß Herzl zur Zeit der Verurteilung von Dreyfus erster Korrespondent der Neuen Freien Presse in Paris gewesen war, obwohl er großes Interesse an Emile Zola und der ganzen Affäre zeigte.171 Auch in seinem Briefwechsel gibt es keinerlei Hinweise auf den Zionistischen Kongreß, den Herzl gerade zu der Zeit organisierte, als Freud tastend nach seinen epochalen Traumdeutungen suchte. Allem Anschein nach sind Freud und Herzl einander in Wien nie persönlich begegnet, obwohl sie in der gleichen Gegend wohnten und ihre beiden Töchter miteinander befreundet waren.172 Dennoch sandte Freud Herzl im September 1902 ein Exemplar der Traumdeutung, weil er hoffte, dieser würde eine Rezension darüber in der Zeitung schreiben. „Ich kann nicht wissen, ob Sie den Eindruck empfangen werden, daß das Buch sich für die Verwendung eigne, die Herr Nordau im Auge gehabt hat, aber ich bitte ich Sie, es für alle Fälle als ein Zeichen der Hochachtung zu behalten, die ich - wie so viele Andere - seit Jahren dem Dichter und dem Kämpfer für die Menschenrechte unseres Volkes entgegenbringe."173 Freuds Hinweis auf „Menschenrechte" und nicht auf „nationale Rechte" spiegelt seine liberal-universalistische Gesinnung wider, aus der heraus er sich in der Lage sah, Herzls Tätigkeit für die Juden zu bewundern. Der Brief ist also eine Bestätigung, daß Freud über Herzls Zionismus Bescheid wußte und ihm gewogen war, ihn aber mit gewisser Zurückhaltung und kritischer Distanz betrachtete. Der Psychohistoriker Peter Loewenberg hat überzeugend nachgewiesen, daß die Herzische Idee eines jüdischen Heimatlandes tatsächlich in verdeckter Form in Freuds Traum von 1898, „Mein Sohn, der Myop ...", auftaucht. In diesem seltsamen Traum findet sich Freud in Rom am Rand eines Brunnen sitzend, „sehr betrübt, weinte fast". „Eine weibliche Person - Wärterin, Nonne - bringt die zwei Knaben heraus und übergibt sie dem Vater, der nicht ich bin. Der ältere der beiden ist deutlich mein Altester, das Gesicht des anderen sehe ich nicht; die Frau, die den Knaben bringt, verlangt zum Abschied einen Kuß von ihm. Sie zeichnet sich durch eine rote Nase aus. Der Knabe verweigert ihr den Kuß, sagt aber, ihr zum Abschied die Hand reichend: AufGeseres und zu uns beiden (oder zu einem von uns): AufUngeseres. Ich habe die Idee, daß letzteres einen Vorzug bedeutet."174

Freud selbst erklärte: „Dieser Traum baut sich auf einem Knäuel von Gedanken auf, die durch ein im Theater gesehenes Schauspiel, „Das neue Ghetto", angeregt wurden. Die Judenfrage, die Sorge um die Zukunft der Kinder, denen man ein Vater-

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land nicht geben kann, die Sorge, sie so zu erziehen, daß sie freizügig werden können, sind in den zugehörigen Traumgedanken leicht zu erkennen."175 Seltsamerweise erwähnte Freud nicht den Namen Herzl, der dieses Theaterstück verfaßt hatte, das zweifellos seine eigenen Gefühle der Entfremdung und Depression angesichts des Wiener Antisemitismus ausgelöst hatte. Er umgeht selbst den Namen „Zion", obgleich dieser im Zentrum des 157. Psalms steht: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten", das Freud selbst mit diesem Traum verband. Er erwähnte nicht die dritte Strophe mit dem berühmten Refrain „Sollte ich dich vergessen, Jerusalem [etc.]", nur daß kürzlich ein Jude gezwungen worden war, seine Stellung in einer staatlichen Anstalt in Wien aufzugeben. Das jiddische Wort Geseres mit seinen Assoziationen von Leid und Verfolgung, die Nonne mit einer roten Nase (ein Symbol für den Klerikalismus und betrunkene Nichtjuden) und die verdeckten Hinweise auf die Emigration, all dies legt den Gedanken an einen bevorstehenden Exodus nahe, um seine Kinder vor dem Unheil zu bewahren. Dennoch handelte Freuds Traum nicht von Zion, sondern eher von einem Land wie dem viktorianischen England (in das seine beiden Halbbrüder 1859 emigriert waren), das relativ frei von Antisemitismus war. Herzls politische Lösung eines Exodus nach Palästina wurde aus unbekannten Gründen unterdrückt, welch latente Anziehungskraft sie auch kurz für Freud gehabt haben mag.176 Leo Goldhammer zufolge berichtete Freud jedoch in einer Vorlesung in Wien um 1905 von einem Traum, den er über Herzl hatte. In dieser Phantasie war der Begründer des politischen Zionismus als „eine majestätische Gestalt mit bleichem, dunkelgetöntem Gesicht [erschienen], das ein schöner, rabenschwarzer Bart umrahmte, mit unendlich traurigen Augen. Die Erscheinung bemüht sich, ihm, Freud, die Notwendigkeit sofortigen Handelns auseinander zu setzen, sollte das jüdische Volk gerettet werden."177 Diese Worte erstaunten Freud „durch die strenge Logik und das in ihnen mitklingende Gefühl", scheinen jedoch keine unmittelbare Auswirkung auf sein Leben gehabt zu haben. Seine Haltung gegenüber dem politischen Zionismus blieb vorsichtig, manchmal wohlwollend und in anderen Fällen eindeutig fragwürdig. So riet er Herzls Sohn Hans im Jahr 1915 davon ab, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten: „Ihr Vater ist einer jener Männer, die Träume in Wirklichkeit verwandelten. Leute dieser Art, die Garibaldis, die Herzls, sind sehr selten und gefährlich. Ich würde ganz einfach sagen, daß sie sich am Gegenpol meines wissenschaftlichen Werks ansiedeln. Mein Beruf besteht darin, den Träumen ihr Geheimnis zu nehmen, sie durchsichtig und banal zu machen. Sie dagegen machen das Gegenteil, sie befehligen die Welt, während sie auf der anderen Seite des seelischen Spiegels verbleiben. Ich betreibe Psychoanalyse, sie machen Psychosynthese."178 Diese „Räuber im Untergrund der unbewußten Welt", diese Meister in der Politik

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der Phantasie, erweckten in Freud sowohl Neid als auch eine Art faszinierter Abscheu.179 Neben vielen anderen Zielen hatte sich die Psychoanalyse auch die Aufgabe gestellt, die Menschheit „von einer politischen Welt [zu befreien], in der die Existenz des Friedens an sich bedroht erschien".180 Freuds zweideutige und eher negative Bewertung Herzls mag wohl seinen eigenen starken inneren Zwiespalt in bezug auf die Autorität, auf Vaterfiguren wie auch auf seine eigene in der Phantasie bestehende Identifikation mit Moses und der Geschichte des Exodus widergespiegelt haben.181 Doch die Berührungspunkte beider Persönlichkeiten sind nicht weniger bedeutsam. Zwar wählte Herzl den Weg nach Zion, während Freud schließlich nach London ging. „Doch teilen sie beide ein gemeinsames Ideal, den Aufbau einer liberalen und kosmopolitsichen Welt ohne Antisemitismus, in der die Juden ihre Eigenart auszuleben vermöchten, ohne deshalb auf die Errungenschaften des Fortschritts verzichten zu müssen."182 Nichtsdestoweniger kann ein latenter „Zionismus" in Freuds Weltsicht ausgemacht werden, obwohl er weder ein praktizierender Jude noch ein bewußter Nationalist war. Ganz typisch dafür ist Freuds Haß auf Rom, auch wenn dieser zumeist nur als Reaktion auf den katholischen Antisemitismus gedeutet wurde, den er in Osterreich zu erleiden hatte.185 Freud selbst sah eine Verbindung seiner jugendlichen Bewunderung fur Hannibals Krieg gegen Rom mit dem weiter bestehenden Kampf zwischen „der Zähigkeit des Judentums und der Organisation der katholischen Kirche". Andere Helden seiner Knabenzeit, wie der puritanische Revolutionär Oliver Cromwell (nach dem er seinen zweiten Sohn nannte), Napoleon Bonaparte und General Massena waren entweder Beschützer oder Befreier der Juden gewesen. Sie könnten auch als Feinde des katholischen Roms gesehen werden, der großen Verfolgerin und Unterdrückern! des jüdischen Volkes in der Geschichte. Während Freuds geheimer Wunsch einer „Eroberung" Roms sicherlich den tiefen jüdisch-katholischen Antagonismus widerspiegelte, der sein Leben in Österreich vergällte, mag er aber auch eine verborgene „nationale" Dimension gehabt haben. Die Geister Hannibals und seines eigenen Vaters, die „Rache an den Römern" forderten, waren vielleicht nicht nur durch den Widerstand gegen das christliche Mittelalter und den katholischen Antisemitismus motiviert, dessen Bastion und Symbol die „Ewige Stadt" war;184, sie enthielten vielleicht auch ein atavistisches und unbewußtes Motiv des Widerwillens gegen die siegreiche Macht, die nicht nur das antike Karthago, sondern auch Jerusalem zerstört, den Tempel geplündert und das jüdische Volk ins Exil getrieben hatte. Der Sieg des heidnischen Rom (auch wenn Freud es als Mittelpunkt der antiken Kultur wirklich liebte) hatte auch den vorübergehenden Untergang des jüdischen Volkes bedeutet, das in alle Winde zerstreut wurde und unablässiger Verfolgung ausgesetzt war. Freuds jugendliche Identifikation mit Hannibal, dem zähen „semiti-

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sehen" General, der diese gewaltige Macht bekämpfte, und sein Hinweis auf die Tapferkeit seiner hebräischen Vorfahren bei der Verteidigung ihres Tempels legen nahe, daß seine feindselige Haltung gegenüber Rom in seinem Unbewußten tiefere vorchristliche, ethnische Wurzeln hatte.185 Freuds ursprüngliches, gefühlsbetontes und national gefärbtes Judentum trat am deutlichsten in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zutage. In einem Brief an Professor Friedrich Thieberger vom 25. August 1926 schrieb er: „Für den Zionismus habe ich nicht nur Sympathie, aber ich vermag seine Erfolgsaussichten nicht einzuschätzen, ebensowenig wie die möglichen Gefahren, denen er sich zu stellen hat."186 Zwei Monate zuvor hatte Freud zustimmend an Enrico Morselli geschrieben (der soeben eine Studie mit dem Titel „La psicoanalisi" publiziert hatte), obwohl er nicht wußte, „ob Ihr Urteil recht hat, welches in der Psychoanalyse ein direktes Erzeugnis des jüdischen Geistes erkennen will, aber wenn es so wäre, würde ich mich nicht beschämt fühlen". 187 Der Brief zeigt Freuds Sympathie für den Zionismus und eine jüdische Solidarität. Er schrieb ihm: „Obwohl der Religion meiner Voreltern schon längst entfremdet, habe ich das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit meinem Volke nie aufgegeben und denke mit Befriedigung daran, daß Sie selbst sich einen Schüler eines meiner Stammesgenossen - des großen Lombroso - nennen." 188 Derartige Reaktionen waren für Freuds gefühlsbetontes, atavistisches Gefühl der Stammessolidarität typisch, das einige seiner Vorbehalte gegen den Zionismus abschwächte.189 Aber selbst sein Interesse an Palästina und dem neuen Judentum war immer noch durchsetzt von der typisch Freudschen rätselhaften Zweideutigkeit. In der Einleitung, die er eigens für die hebräische Ubersetzung seines Totem und Tabu verfaßte, meinte Freud, es sei gewiß nicht leicht, sich in die Lage eines Autors zu versetzen, „der die hebräische Sprache nicht verstehe, der Religion seiner Vorfahren wie auch allen anderen Religionen gänzlich fremd gegenüberstehe, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen könne" und dennoch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet habe. „Fragt man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könne er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein."190 Am Schluß stellt er dann fest, daß Totem und Tabu keinen jüdischen Standpunkt vertrete oder eine Einschränkung zugunsten des Judentums gelten ließe. „Aber der Autor hofft, sich mit seinen Lesern in der Uberzeugung zu treffen, daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen [palästinensischen] Judentums nicht fremd bleiben kann." 191 Letztlich interessierte Freud das moderne Palästina jedoch viel weniger als die

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Welt des klassischen Altertums, die abgesehen von der Psychoanalyse seine größte Leidenschaft war.192 Die wissenschaftliche Ausgrabung prähistorischer Funde und die Erforschung griechischer, römischer und ägyptischer Grabungsorte lieferten Freud in der Tat ein Vorbild für seine eigenen „archäologischen" Erforschungen des Unbewußten. Hier kam Freud wahrscheinlich der Ausübung von religiösen Riten am nächsten, was in diesem Fall beträchtliche finanzielle Opfer und Pilgerreisen zu den „heiligen" Städten Rom und Athen bedeutete. In seinem Altertumskult fand Freud außerdem eine Bekräftigung der europäischen humanistischen Ideale, die er in der Schule aufgesogen hatte, und einen neutralen Treffpunkt, wo kultivierte Juden und Nichtjuden sich für Augenblicke der Illusion hingeben konnten, von den Spannungen der Gegenwart befreit zu sein. Doch sogar hier, auf der selbstlosen Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit, sollte die Misere seiner jüdischen Herkunft Freud ohne Unterlaß heimsuchen und verfolgen. Denn wie die Josefslegende seine frühe Kindheit geprägt hatte, so sollte die Mosesgeschichte ihn in seinen letzten Jahren wie besessen quälen. Nirgendwo kommt dies stärker zum Ausdruck als in der erstaunlichen Hypothese, die seinem letzten großen Werk Der Mann Moses und die monotheistische Religion zugrundeliegt.

Anstelle des historischen Moses des Judentums zeichnete Freud das höchst persönliche Portrait eines Moses, der als ägyptischer Adeliger geboren wurde und dessen angebliche Ermordung durch sein „angenommenes" Volk, die Juden, paradoxerweise den hebräischen Monotheismus geschaffen hatte.193 Dieser Moses wurde von Freud als heldenhafter Gesetzgeber und Kulturschaffender verehrt. Schon 1914 hatte er in seinem anonym veröffentlichten Aufsatz über Michelangelos Skulptur des Moses in Rom seinen Helden als größtes Beispiel für Selbstkontrolle und Verzicht auf mächtige Leidenschaften zugunsten seiner Aufgabe als Gesetzgeber dargestellt.194 In Der Mann Moses und die monotheistische Religion wurde er z u m Initiator einer

repressiven, jedoch letztlich segensreichen Revolution von oben umgewandelt, die die Grundlage für jede zivilisierte Sittlichkeit legte. In Freuds willkürlicher Auslegung war er „der Mann Moses, der die Juden geschaffen hat". Sie waren „sein auserwähltes Volk", deren Zähigkeit, Hartnäckigkeit und Moral durch seinen Charakter und seinen Willen geformt worden waren.195 Freud glaubte nun, daß in dieser mosaischen Lehre des Auserwähltseins der tiefste Beweggrund für den Judenhaß lag, daß „die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist".196 Er betonte, „daß es der Mann Moses war, der dem jüdischen Volk diesen für alle Zukunft bedeutsamen Zug Volk aufgeprägt hat".197 Der ägyptische Moses hatte der Selbstachtung der Juden einen religiösen Anker verliehen: „Ihm verdankt dieses Volk seine Zählebigkeit, aber auch viel von der Feindseligkeit, die es erfahren hat und noch erfahrt."198 Tatsächlich war es der Saat des Mo-

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notheismus nicht gelungen, in Ägypten zur Reife zu gelangen, unter den antiken Juden war sie jedoch immer wieder durch die hebräischen Propheten erneuert worden und hatte Zeugnis gegeben „von einer besonderen psychischen Eignung der Masse, die zum jüdischen Volk geworden war .,." 1 9 9 Sie allein hatten die schweren Lasten der monotheistischen Religion „für den Lohn des Auserwähltseins" auf sich genommen. Aus diesem überhöhten Selbstbewußtsein entwickelten sich die Charakterzüge, wie rationale Intellektualität, Legalismus, Zähigkeit, Abgesondertsein und sittliche Strenge, die Freud am jüdischen Volk bewunderte und die auch in seiner eigenen Persönlichkeit zutage traten. Der Mann Moses und die monotheistische Religion, geschrieben im dunklen Schatten des Nationalsozialismus, war die widersprüchlichste, zugleich aber auch persönlichste Arbeit Freuds. Es muß für ihn sehr schmerzhaft gewesen sein, den Juden jenen Mann wegzunehmen, auf den sie als den größten ihrer Söhne stolz sind, eine Tat, von der er wußte, daß sie die Juden aus nationalen wie religiösen Gründen tief treffen würde. 200 Und dennoch ist dieses ikonoklastische Buch trotz all seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten keineswegs die Tat eines Renegaten, der sein Volk im Augenblick seiner schwersten Krise anschwärzen will. Es sollte viel eher als die paradoxe Reaktion eines konsequenten Freidenkers und radikalen Atheisten gesehen werden, der die meiste Zeit seines Lebens eine hartnäckige Identifikation mit dem Judentum und der Person Moses bezeugt hatte, obwohl er alle Formen religiöser Selbstdefinition und nationaler Berauschung abgelehnt hatte. Gerade aus dieser alten Inspirationsquelle hatte Freud, vielleicht der unwienerischste aller Wiener Juden, seine unbezwingbare Widerstandskraft gewonnen, zu der er am Ende seiner Tage wieder zurückgekehrt war. Durch das mächtige Bild des Moses, das unauslöschlich den historischen Charakter des Judentums geprägt hatte, drückte er diese Uberwindung der Magie und des Mystizismus, dieses rätselhafte Versprechen einer inneren Freiheit durch die Kraft der Vernunft aus, die ihm den Mut gab, die dunkle Seite der Psyche zu erforschen, ohne der Verzweiflung anheimzufallen.

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Und hier seh ich es wieder: die Figur des Kraftjudenfehlt mir geradezu in Ihrem Stück. Es ist gar nicht wahr, daß in dem Ghetto, das Sie meinen, alle Juden gedrückt oder innerlich schäbig herumlaufen. Es gibt andere - und gerade die werden von den Antisemiten am tiefoten gehaßt. [...] Ihr Stück ist kühn - ich möchte es auch trotzig haben. Arthur Schnitzler, Brief an Theodor Herzl (17. November 1894) Man hatte die Wahl,für unempfindlich, zudringlich,frech oderfür empfindlich, schüchtern, veifolgungswahnsinnig zu gelten. Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß man weder das eine, noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren Ιϊφ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden bis Blut kommt. Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie (1913) Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmalfest, keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. Weil es eben eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteresjeder mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet aus seinem Arger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel, irgendwohin, wo er wiederfreiaufatmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen ... Ichfürchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß sich solche Wanderungen ins Freie gemeinsam unternehmen lassen ... Heinrich Bermann in Arthur Schnitzlers, Der Weg ins Freie (1907) Juden sind untereinander ebenso verschieden wie Menschen überhaupt. Das machtja gerade den Reiz und Reichtum des Lebens aus. Schnitzler sah diese Mannigfaltigkeit ...Er sah nicht den Juden, einen angeblich bestimmten Typus, sondern die Juden. Hans Kohn (1962)

VIELLEICHT KEINEM ANDEREN SCHRIFTSTELLER DES LITERATURKREISES Jung Wien gelang es, die Atmosphäre im Wien der Jahrhundertwende so getreu einzufangen wie dem jüdischen Arzt und Dichter Arthur Schnitzler (1862-1951). In seinen Theaterstücken, Erzählungen und Novellen zeichnete er das janusköpfige und bisweilen widersprüchliche Portrait einer Stadt, die in ganz Europa für ihren unbeschwerten Hedonismus und ihre Fröhlichkeit berühmt war, sich aber gleichzeitig ih-

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rer prekären Situation als Hauptstadt eines Reiches bewußt war, das langsam seinem Ende entgegenging. Unter der Oberfläche einer Hingabe an Eros und Tanz, Komödie und Operette lag die düsterere Stimmimg einer weltverdrossenen Müdigkeit, einer Orientierungslosigkeit, einer Ohnmacht sowie tragischer Spannungen, die in Schnitzlers literarischem Werk bis zur Perfektion eingefangen sind.1 Eine eigenartige Melancholie, latente Traurigkeit, Müdigkeit und Resignation schien Schnitzlers Charaktere bei ihrer unermüdlichen Suche nach Vergnügen und Glück zu erfassen. Ihre Freuden und Sorgen waren häufig von einer morbiden Beschäftigung mit sexueller Schuld, Tod oder der Einsamkeit überschattet, welche die Suche nach der individuellen Freiheit und Wahrheit in einer korrupten Gesellschaft begleitete.2 Trotz des eindeutigen Zeitkolorits in seinen Schriften war Schnitzler bei seinen freimütigen Untersuchungen des Sexualverhaltens, seinen frühen Versuchen, Vorgänge menschlichen Bewußtseins erzählerisch einzufangen und seiner tiefgehenden psychologischen Einsicht gleichzeitig auch ein radikaler Erneuerer. Nicht zufallig schrieb Sigmund Freud ihm am 8. Mai 1906: „Seit vielen Jahren bin ich mir der weitreichenden Übereinstimmung bewußt, die zwischen Ihren und meinen Auffassungen mancher psychologischer und erotischer Probleme besteht."3 Freud bekannte: „Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert."4 In einem weiteren Brief vom 14. Mai 1922 anläßlich des 60. Geburtstages des Schriftstellers legte Freud ein umfangreiches „Bekenntnis" ab, das er Schnitzler bat, für sich zu behalten und „mit keinem Freunde oder Fremden [zu] teilen". Lange Zeit hindurch hatte Freud sich offensichtlich mit der Frage herumgequält, „warum ich eigentlich in all diesen Jahren nie den Versuch gemacht habe, Ihren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu fuhren".5 Die Schlußfolgerung, zu welcher der Vater der Psychoanalyse kam, enthüllt vieles über Freud und Schnitzler: „Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, daß ich sonst so leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren oder daß ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis - was die Leute Pessimismus heißen - Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewußten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.

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(In einer kleinen Schrift vom Jahr 1920, „Jenseits des Lustprinzips", habe ich versucht, den Eros und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.) So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition - eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung - alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit ein anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war... "6 Schnitzler und Freud waren sich zweifellos gleichermaßen bewußt, welch außerordentlich wichtige Rolle die Triebe im Leben eines Menschen spielten und zu welchem Konflikt dies unweigerlich mit den repressiven moralischen Werten der bürgerlichen Gesellschaft führen mußte. Diese beiden liberalen Wiener Juden waren, jeder auf unterschiedliche Weise, Pioniere der Erforschung dessen, was Freud in einem Brief an Schnitzler am 15. Mai 1912 die „thörichte[n] und frevelhafte[n] Geringschätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten" genannt hatte.7 Beide zogen aus ihren Träumen kreative Impulse; 8 außerdem gelangten beide zu der Erkenntnis, daß Neurotiker durch ein erneutes Erleben ihrer Traumata zu einem Selbstbewußtsein gelangen könnten. 9 Trotz aller Faszination, welche die Neurose und die dunkle Seite der Psyche auf sie ausübten, identifizierten sich weder Freud noch Schnitzler mit den Neurotikern, noch erlagen sie den Versuchungen des mitteleuropäischen Irrationialismus, die damals in Mode waren. Sowohl bei Schnitzler als auch bei Freud lassen sich die gleichen starken Reste eines moralischen Humanismus erkennen, ängstlich gepaart mit dem kühlen Skeptizismus, der aus der Entdeckung des Unbewußten, der Verderbtheit der Massenpolitik und der „kultivierten" Doppelmoral der österreichischen Gesellschaft des Fin de Siecle entsprang. Bereits als Medizinstudent an der Wiener Universität fühlte Schnitzler sich zur Psychologie hingezogen und war, wie Freud, Assistent an der Klinik des berühmten Gehirnanatomen Theodor Meynert gewesen. 10 Wie Freud interessierte auch er sich in unkonventioneller Weise für die Hypnose, ein Interesse, das vor allem durch die Pionierarbeiten der Franzosen Charcot und Hippolyte Bernheim geweckt wurde, und veröffentlichte 1889 sogar eine medizinische Abhandlung „Uber funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion".11 Schnitzlers Hinwendung zur Hypnose, Psychotherapie und Telepathie während der medizinischen Phase seiner Laufbahn zeigte damit bemerkenswerte Parallelen zu Freud. Die Ähnlichkeiten gingen tatsächlich über ihre Erfahrungen als Medizinstudenten hinaus, da beide, sowohl Freud als auch Schnitzler, die erstgeborenen Söhne relativ liberaler jüdischer Familien waren, ihre erste Erziehung von katholischen Kindermädchen erhalten hatten und als kleine Kinder den Tod eines Bruders/einer Schwester erlebt hatten. 12

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Im Unterschied zu Freud war Schnitzler jedoch in einer typisch wienerischen jüdischen Familie der oberen Mittelschicht aufgewachsen. Sein Vater, Johann Schnitzler, hatte sich aus eigener Kraft emporgearbeitet und war ein geachteter, in Ungarn geborener Laiyngologe aus Groß-Kanizsa, zu dessen Patienten und Freunden einige der führenden Schauspieler Wiens zählten. Johanns berufliche Stellung ermöglichte seinem ältesten Sohn später den Zugang zu zwei Sphären: der Medizin und dem Theater. 15 Im Gegensatz zu den vielen Hinweisen auf seinen Vater in seiner Autobiographie hatte Schnitzler merklich wenig über seine Mutter (geborene Louise Markbreiter) zu sagen, obwohl er ihre Verwandten recht ausführlich beschrieb, die schon lange in Wien lebten und dem großbürgerlichen Milieu entstammten. 14 So hören wir über seinen Großvater mütterlicherseits, Philip Markbreiter: „Sohn oder Enkel eines Wiener Hofjuweliers, Doktor der Medizin und Philosophie, war in früheren Jahren ein sehr gesuchter praktischer Arzt gewesen, überdies in seinen Mußestunden vortrefflicher Pianist, und er hätte es nach Bildung und Begabung in jeder Hinsicht weiter bringen oder sich zum mindesten auf gebührender Höhe halten können, wäre er nicht der Leidenschaft des Spiels von Jahr zu Jahr rettungsloser anheimgefallen." 15 Schnitzlers Großmuter Amalia, die aus der nicht weit von der niederösterreichischen Grenze gelegenen deutsch-ungarischen Stadt Güns stammte, gehörte der vornehmen Familie Schey an, die „im Verkehr mit verschuldeten ungarischen Adeligen zu Reichtum kam". 1 6 Schnitzler beschrieb die Vielfalt jüdischer Typen in diesem assimilierten höheren Mittelschichtmilieu (das in seinem Roman Der Weg ins Freie geschildert wird) mit dem für ihn charakteristischen Anstrich von Ironie: „Eine teilweise Ubersiedlung in die Großstadt erfolgt, das Geschlecht verzweigt sich weiter, verschwägert sich vielfach in oft vorteilhafter Weise; Bankiers, Offiziere, Gelehrte, Landwirte gehen aus ihm hervor; auch an Originalen fehlt es nicht, in denen der Typus des jüdischen Patriarchen und des Aristokraten, des Agenten und des Kavaliers sich eigenartig vermischen. Manche der jüngeren und jüngsten Sprosse unterscheiden sich von den Abkömmlingen altadeliger Geschlechter höchtens durch ein Mehr an Witz und die rasseneigentümliche Neigung zur Selbstironie; auch unter den Frauen und Mädchen - neben solchen, die in Aussehen und Gehaben ihren Ursprung nicht verleugnen wollen oder können - erscheint das Sportfräulein und die Modedame; und es versteht sich von selbst, daß in den Regionen, an denen ich hier, den Jahrzehnten vorauseilend, flüchtig vorüberstreife, der Snobismus, die Weltkrankheit unserer Epoche, ausnehmend günstige Entwicklungen vorfinden mußte."17

Schnitzler läßt die Familientreffen am Versöhnungstag im Haus von Amalia Markbreiter mit aller Lebendigkeit wieder aufleben, als „man sehnsüchtig nach dem Abendstern ausblickte, dessen Erscheinen am Horizont den Beschluß des Büß- und

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Fasttages verkündete". Seine Großmutter Amalia war das einzig fromme Mitglied der Familie, die zu Jom Kippur regelmäßig in die Synagoge ging. „Ihre Kinder und Kindeskinder, wenn und solange sie es überhaupt taten, feierten den Bußtag hauptsächlich ihr zu liebe und nach ihrem Tode nur aus Pietät weiter. Doch war auch für meine Großmutter das Fasten am Versöhnungstag neben dem österlichen Essen ungesäuerter Brote (die übrigens in den Kaffee gebrockt vorzüglich mundeten) die einzige rituelle Übung, an der sie mit Strenge, aber nur mit Strenge gegen sich selbst, festhielt. Schon die Feier des Laubhüttenfestes oder gar eine Heiligung des Sabbats fand im großelterlichen Hause nicht statt; und in den folgenden Generationen trat - bei allem oft trotzigen Betonen der Stammeszugehörigkeit - gegenüber dem Geist jüdischer Religion eher Gleichgültigkeit, ihren äußeren Formen gegenüber Widerstand, wenn nicht gar spöttisches Verhalten zutage."18

Obwohl Schnitzler ursprünglich im weitgehend jüdischen Stadtteil Leopoldstadt (damals „noch ein vornehmes und angesehenes Viertel") aufwuchs, förderten die komfortable gesellschaftliche Stellung und die religiöse Indifferenz seiner Eltern zunächst nicht sein Interesse an jüdischen Angelegenheiten. „Damals, es war in der Spätblütezeit des Liberalismus, existierte der Antisemitismus zwar, wie seit jeher, als Gefühlsregung in zahlreichen, dazu disponierten Seelen und als höchst entwicklungsfähige Idee; aber weder als politischer noch als sozialer Faktor spielte er eine bedeutende Rolle. Nicht einmal das Wort war geprägt, und man begnügte sich damit, Leute, die den Juden besonders übel gesinnt waren, fast abschätzig als Judenfresser' zu bezeichnen."19 Diese Welt solider bürgerlicher Werte, verkörpert durch den beruflichen Erfolg des Vaters als Arzt und die gesellschaftlichen Verbindungen mit Berühmtheiten aus dem Bereich der Künste, prägten die optimistische Sichtweise der Familie Schnitzler tief.20 Es überrascht nicht, daß die Ansichten seines Vaters über öffentliche und künstlerische Belange sich „im großen und ganzen mit denen der kompakten Majorität [deckten], als deren Organ auch damals schon die ,Neue Freie Presse' gelten konnte, und die durchaus nicht immer die falschesten waren".21 1871 war Arthur Schnitzler in das renommierte Wiener Akademische Gymnasium eingetreten. In dieser Mittelschule zeigte er nur wenig Begabimg für akademische Studien, am wenigsten eine Begabung für die Naturwissenschaften, obwohl ihm „schon durch das väterliche Beispiel und Vorbild ... die ärztliche Laufbahn ... als unausweichlich und hoffnungsvoll vorgezeichnet" war. Sein Geschichtslehrer, Ludwig Blume, war, wie er sich erinnerte, ein standhafter Nationalist, dessen Lieblingsfrage lautete: „Wer kann die deutschen Kaiser aufzählen?" Schnitzlers bei der Beantwortung dieser Frage an den Tag gelegte Geschicklichkeit stellte sicher, daß er keine Abschlußprüfung in Geschichte absolvieren mußte. Professor Blume, ein be-

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geisteter Wagnerianer, fühlte sich von der rassistischen Politik des deutschen Komponisten gleichermaßen angezogen wie von dessen ästhetischen Vorlieben: „... und so wurzelte auch seine Abneigung gegen das Judentum mehr in seiner Gesinnung als in seinem Gefühl. Denn, wenn es ihm auch Spaß machte, die prononcierten Vornamen einzelner Mitschüler bei sich bietenden Gelegenheiten mit tendenziöser Betonung auszusprechen, so hinderte ihn das keineswegs, d e m Spitzer Samuel nach Verdienst ein Vorzüglich ins Zeugnis zu setzen; und d e m nachlässigen Kohn Isidor erging es nur nach Gebühr, wenn er im Gegensatz zu d e m fleißigen Kohn Richard oder d e m Löwy Ernst durchfiel." 2 2

Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts gab es im Gymnasium „eine gewisse, keineswegs streng durchgeführte Scheidung zwischen christlichen und jüdischen Schülergruppen - von Parteien konnte noch nicht die Rede sein", der Judenhaß aber war immer noch relativ harmlos.23 Im Herbst 1879, als Schnitzler an der medizinischen Fakultär der Universität Wien inskribierte, begann sich die Situation zu ändern. Er war dem deutsch-österreichischen Leseverein mit seiner monarchistischen Ausrichtung beigetreten, und nicht dem deutschnationalen Akademischen Leseverein weniger aus politischen Gründen als aufgrund gewisser Vergünstigungen (wie billigeren Theaterkarten), die mit der Mitgliedschaft verbunden waren. Die leidenschaftlichen nationalistischen Reden vor großen Studentenversammlungen interessierten ihn überhaupt nicht, „höchstens insoweit die Frage des Antisemitismus hineinspielte, der damals eben emporzublühen begann und mich ... mit Sorge und Erbitterung erfüllte".24 Charakteristischerweise waren es die psychologischen und nicht die politischen, religiösen oder sozialen Aspekte der „Judenfrage", die das Interesse des jungen Schnitzler erweckten.25 „Doch war es ... vorwiegend die psychologische Seite der Judenfrage, für die das Interesse in mir meiner ganzen Anlage nach zuerst erwachte. D a s konfessionelle M o m e n t berührte mich so gut wie gar nicht. Alles Dogmatische, von welcher Kanzel es auch gepredigt und in welchen Schulen es gelehrt wurde, war mir durchaus widerwärtig, ja erschien mir im wahren Wortsinn indiskutabel. Und ich hatte zum sogenannten Glauben meiner Väter - zu dem,

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in diesem Glauben eben wirklich Glaube war - nicht Erin-

nerung, Tradition und Atmosphäre - so wenig innere Beziehung als zu einem andern." 2 6

Im Oktober 1882 begann Schnitzler seinen einjährigen Militärdienst bei dem medizinischen Studentencorps. Hier traf er imgarische und polnische Juden, die „in Hinsicht auf militärische Haltung und Aussehen einiges zu wünschen übrigließen".27 Einer von Schnitzlers engsten Kameraden während seines ersten Jahres in der Armee war sein Cousin zweiten Grades Louis (Ludwig) Mandl, dessen jüngerer Bru-

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der Ignatz bereits Wiener Stadtrat und Verbündeter von Karl Lueger - damals ein aufstrebender Gemeindepolitiker - war. Schnitzlers Ansichten über die sogenannte „antikorruptionistische demokratische Partei", die in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts von Lueger und Mandl geführt wurde, war ohne jeden Vorbehalt ätzend. Die „Demokraten" wurden zu Antisemiten, „nicht weil sich etwa unter den Juden mehr korrupte Elemente befunden hätten als unter den Andersgläubigen, sondern weil es der großen Masse viel einleuchtender schien und daher raschere politische Erfolge versprach, wenn man eine streng umschriebene Menschengruppe, und nun gar die hierfür auch ohne gelben Fleck vorbestimmte Judenschaft, kurzerhand als die korrupte denunzierte, - als wenn man sich erst hätte die Mühe geben sollen, aus den verschiedenen Ständen und Konfessionen von Fall zu Fall irgendein verdächtiges Subjekt herauszuholen und der sittlichen Entrüstung auszuliefern."28

Sobald der antisemitische Flügel unter den sogenannten „Antikorruptionisten" eindeutig die Oberhand gewonnen hatte, opferte Lueger für das Heil seiner eigenen politischen Ambitionen ohne Umschweife seinen jüdischen Mentor und Mitstreiter Ignatz Mandl. Schnitzler merkte an, daß Lueger selbst am Höhepunkt seiner Popularität „sowenig Antisemit als zu der Zeit [war], da er im Hause des Dr. Ferdinand Mandl mit dessen Bruder Ignatz und andern Juden larock spielte". Das landläufige Argument, Luegers private Uberzeugungen würden seinen öffentlichen Antisemitismus gewissermaßen weniger anstößig machen, lehnte Schnitzler indes ab: „Es gab und gibt Leute", so Schitzler, „die es ihm als Vorzug anrechnen, daß er auch in seiner stärksten Antisemitenzeit persönlich fur viele Juden eine gewisse Vorhebe beibehalten und daraus gar kein Hehl gemacht hatte: Mir galt gerade das immer als der stärkste Beweis seiner moralischen Fragwürdigkeit."29 Während seiner Studententage wurde sich Schnitzler, wie so viele junge österreichische Juden, erstmals der heimtückischen Verbreitung des Antisemitismus bewußt: „Die deutschnationalen Verbindungen hatten damit begonnen, Juden und Judenstämmlinge aus ihrer Mitte zu entfernen; gruppenweise Zusammenstöße während des sogenannten ,Bummels' ein den Samstagvormittagen, auch an den Kneipabenden, auf offener Straße zwischen den antisemitischen Burschenschaften und den freisinnigen Landsmannschaften und Corps, deren einige zum großen Teil aus Juden bestanden (...), waren keine Seltenheit."50

Als Folge der täglichen Provokationen in den Vorlesungssälen, Gängen und Laboratorien begannen sich die Juden selbst zu verteidigen, indem sie sich zu „besonders tüchtigen und gefährlichen Fechtern" entwickelten. Der Antisemitismus begann

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selbst in Studentenverbindungen Eingang zu finden, deren Ziele rein humanitär waren und die weder mit Philosophie oder Politik zu tun hatten noch „mit den Phantomen der Standesehre". Die Agitation richtete sich in erster Linie gegen bedürftige, fleißige jüdische Medizinstudenten aus Ungarn, die von einem der Universitätsclubs eine monatliche Unterstützung von ein oder zwei Gulden bekamen (die überwiegend aus jüdischen Taschen stammten). 31 Die Deutschnationalen versuchten nun, ungarische und slawische Studenten (d. h. vorwiegend Juden) von dieser finanziellen Hilfe auszuschließen, und errangen trotz Schnitzlers Bemühungen schließlich einen entscheidenden Sieg. Unterstützt wurden sie dabei von getauften Juden, die „mit der falschen Objektivität des Renegaten den Standpunkt der kläglichen, aber zum Teil wohl gutgläubig überzeugten Gesellen ... so geschickt zu vertreten wußten, daß damals das Scherzwort geprägt wurde: Der Antisemitismus sei erst dann zu Ansehen und Erfolg gediehen, als die Juden sich seiner angenommen."32 Selbst während seines Dienstes in der Armee beobachtete Schnitzler, daß es eine scharfe Trennung zwischen Nichtjuden und Juden gab, und der private gesellschaftliche Verkehr war genauestens geregelt. Dennoch war eine deutschnationale Militanz in der kaiserlichen Armee in wesentlich geringerem Ausmaße gestattet als an den Universitäten, und der junge Schnitzler hatte nicht unter offener Diskriminierung zu leiden. Für ihn, der aus einem begüterten höheren Mittelschichtmilieu kam, war es dennoch schwierig, die sozioökonomischen und politischen Auswirkungen des Antisemitismus oder dessen volle destruktive Gewalt zu erfassen. Er registrierte offensichtlich, wie leicht sich ein Vorurteil verbreitete, ohne jedoch dessen soziale Dynamik wirklich zu verstehen oder sich bis dato persönlich betroffen zu fühlen.33 Im September 1885, kurz nach seiner Promotion, wurde Schnitzler Assistenzarzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus und in der Polyklinik seines Vaters. Abgesehen von der routinemäßigen ärztlichen Arbeit besuchte er regelmäßig das Theater, Konzerte, Gesellschaften, ging ins Kaffeehaus und stand im Ruf eines Lebemannes, eines geistreichen Kopfes und eines Schürzenjägers. Seit Beginn des Jahres 1887 gab er die Internationale Klinische Rundschau heraus, die sein Vater gegründet hatte und hinter den Kulissen weiterhin leitete. Aber sein Herz gehörte der Literatur, nicht dem Medizinjournalismus, der individuellen Selbstverwirklichung und nicht der positivistischen Wissenschaft, er widmete sich lieber den Frauen und nicht den großen Fragen der Geschichte und der Politik.34 Der flotte Lebemann und Genußmensch der späten 80er Jahre beschäftigte sich vor allem mit den Problemen des Ich und nicht mit jenen der Gesellschaft, mit den Zwängen und Täuschungen des Eros und nicht mit denen der Zivilisation insgesamt. Um 1890, als er erstmals mit dem Literaturkreis Jung Wien in Kontakt kam, hatte sich Schnitzler bereits für eine literarische Laufbahn entschieden. Damals schloß er bleibende Freundschaft mit dessen bekanntesten Mitgliedern Hermann Bahr (1865-1934), Richard Beer-Hofmann

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(1866-1945), Felix Saiten (1869-1947) und dem Wunderkind Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), der zu jener Zeit noch ein Schulbub war.35 Schnitzlers Anatol-Zyklus (1888-1892), sieben lose miteinander verknüpfte Einakter, die Episoden aus dem eleganten, unbeschwerten Leben eines Frauenhelden schildern, machten ihn zum Stadtgepräch in Wien.56 Durch die Schilderung eines zeitlosen Narziß, der von einer Frau zur nächsten fliegt und dessen Enttäuschungen in Liebesdingen mit Selbsttäuschungen einhergehen, deckte Schnitzler in spielerischer Form einerseits die Scheinheiligkeit und Frivolität der sexuellen Tändelei, andererseits das Dilemma eines leeren Asthetizismus auf.57 In seinem späteren zyklischen Meisterwerk Der Reigen, geschrieben in den späten 90er Jahren, zum ersten Mal jedoch erst 1905 veröffentlicht, demaskierte Schnitzler in zehn kurzen Szenen, die unerhört feinfühlig und psychologisch kompliziert aufgebaut sind, die nackte Gewalt, Verlogenheit und selbstsüchtige Sinneslust hinter dem Geschlechtsakt. Infolge dieses und anderer Werke, in denen er eine kranke Gesellschaft aufzeigte, deren überholte Konventionen über das zeitgenössische Sexualverhalten aus den Fugen gerieten, mußte Schnitzler viele Beschimpfungen als Jude und dekadenter Genußmensch, der die Moral untergräbt, über sich ergehen lassen.58 Auf ähnliche Weise kostete Schnitzler seine brillante Erzählung Leutnant Gustl (1900) mit ihrer impliziten Kritik des österreichischen Militarismus und des Ehrenkodex, der zum Duell zwang, seinen Offiziersrang, weil die Kaiserlich-Königliche Armee dadurch angeblich in Mißkredit gebracht wurde.59 Bezeichnenderweise zeigt Schnitzler in dieser umstrittenen Erzählung bereits ein wachsendes Verständnis für die soziale Funktion des Antisemitismus als Ausdruck der Ressentiments des österreichischen Kleinbürgertums und dessen Angst vor einer Proletarisierung.'w Seit Mitte der 90er Jahre weist Schnitzlers literarisches Werk einen kritischeren Tenor auf, unbewußt vielleicht vom Zusammenbruch des politischen Liberalismus beeinflußt. In seinem satirischen Stück Der grüne Kakadu aus dem Jahre 1898 bediente sich Schnitzler der Französischen Revolution als „Mittel für seine Ironie über die zeitgenössische österreichische Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Krise".41 Die dekadenten Aristokraten, die in einem drittklassigen Pariser Kabarett der Aufführung einer Gruppe von Komödianten beiwohnen, die vorgeben, alle möglichen Verbrechen begangen zu haben, werden plötzlich mit dem Pöbel konfrontiert, der, trunken vom Sturm auf die Bastille, von der Straße in die Bar stürzt. Die Aristokraten, die nicht zwischen Traum und wirklichem Leben zu unterscheiden vermögen, glauben zunächst, der Terror gehöre zum Stück, bis sie von der Irrationalität der politischen Realität überwältigt werden. In Paracelsus (1899), einem Stück über den Arzt und Psychologen der Renaissancezeit, äußert der Protagonist mit Worten, die das Wesen von Schnitzlers Kunst auf den Punkt bringen, dieselbe verwirrende Konfusion von Traum und Wirklichkeit.

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„Es war ein Spiel! WEIS sollt' es anders sein? was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben, Und schien es noch so groß und tief zu sein! Mit wilden Söldnerscharen spielt der Eine, ein and'rer spielt mit tollen Abergläubischen, Vielleicht mit Sonnen, Sternen, irgendwer, Mit Menschenseelen spiele ich. Ein Sinn Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht. Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von andern, nichts von uns. Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug."42 Sicherheit ist nirgends, dieser berühmte Ausspruch Schnitzlers spiegelt die Stimmung der Hilflosigkeit des Fin de Siecle angesichts der politischen Irrationalität wider; das unheimliche Gefühl eines nahenden Endes, das sowohl die österreichische Monarchie bedrohte als auch einen der bedeutendsten und verwundbarsten Teile derselben - die jüdische Gemeinde Wiens. Themen wie Sterben und Tod lagen in Schnitzlers „fröhlichem" Wien immer unmittelbar unter der Oberfläche. Sein Fühlen und Denken waren davon erfüllt bei Werken wie dem Roman Sterben (1894), den Einaktern Das Vermächtnis (1898) und Letzte Masken (1902), längeren Stücke wie Liebelei (1895), der schwermütigen Tragikomödie Das weite Land (1911) oder späteren Prosawerken wie Fräulein Else (1924). Das Zusammenspiel von Liebe und Tod, Traum und Wirklichkeit, die Unergriindbarkeit menschlicher Beziehungen, die verwirrende Unvorhersehbarkeit des Lebens und das Chaos sowohl in der Psyche als auch in der äußeren Realität verliehen Schnitzlers Werk eine zutiefst desillusionierende Note, die unter der eleganten und verspielten Oberfläche lag. Diese Melancholie und diese bittersüße Färbung seines Werkes mit ihrem entmutigenden Wissen um die Vergänglichkeit jeder menschlichen Existenz waren durch und durch wienerisch. 45 Gleichzeitig standen Schnitzlers meisterhafte psychologische Einsichten in den dekadenten Geist und die Sitten im selben Wien mit seiner lockeren Sexualmoral und seinem überholten Ehrenkodex in gewisser Beziehung zu seiner exponierten Situation als jüdisch-liberaler Außenseiter. Wir dürfen nicht vergessen, daß Schnitzler mit zunehmender Reife in den 90er Ιβΐιτεη - wie seine Freunde Beer-Hofmann und Hofmannsthal - begonnen hatte, den Ästhetizismus als Lebensstil abzulehnen und dessen Wahlspruch „Kunst um der Kunst willen" aufzugeben. Wie Freud suchte er zunehmend, die aufgeklärten ratio-

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nalistischen Werte seines väterlichen Erbes zu bekräftigen, obwohl sie in offenkundigem Widerspruch zum Primat der Triebe standen, den er in der Psyche entdeckt hatte.44 Paradoxerweise wollten, trotz des subversiven Radikalismus ihrer jeweiligen Untersuchungen über die gängige Sexualmoral und die zwischenmenschlichen Beziehungen, weder Freud noch Schnitzler den immer noch sicheren Rahmen der bürgerlichen Kultur, geschweige denn die gebrechlichere Struktur der kaiserlichen Politik revolutionieren. In einer österreichischen Gesellschaft, die zunehmend durch politischen und ideologischen Parteigeist gespalten wurde, suchten sie Zuflucht bei den traditionellen liberalen Werten der Objektivität, einem selbstlosen rationalen Urteil und einem toleranten Pluralismus. Bei Schnitzler kam diese Tendenz in einem skeptischen Individualismus und einer tiefen Abscheu vor politischem Fanatismus zum Ausdruck, was es ihm ermöglichte, sich in seiner Umgebung ein Minimum an Integrität und Gelassenheit zu bewahren. Insofern stand Schnitzlers Antwort tatsächlich repräsentativ für viele gebildete Wiener jüdische Intellektuelle, die sich mit dem Triumph des reaktionären Klerikalismus und des fanatischen Antisemitismus konfrontiert sahen. In seinen Notizen für eine Autobiographie erinnerte Schnitzler 1912 schmerzlich an die traumatischen psychologischen und spirituellen Auswirkungen der „Judenfrage" auf die Intellektuellen und Künstler seiner Generation: „Man hatte die Wahl, für unempfindlich, zudringlich, frech oder für empfindlich, schüchtern, verfolgungswahnsinnig zu gelten. Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß man weder das eine, noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden bis Blut kommt."45

Mit seiner wachsenden Berühmtheit als Schriftsteller sollte Schnitzler die Heimtücke des Wiener Antisemitismus und die Machtlosigkeit der Juden, daran etwas zu ändern, noch stärker zu spüren bekommen. Fast überall mußte er erfahren, daß sein literarisches Werk, wie das anderer als Juden geborener Künstler, die er bewunderte - wie den Komponisten Gustav Mahler - aus rein rassistischen Gründen angegriffen oder abgelehnt wurde.46 Dieses unentrinnbare soziale und politische Stigma war umso bitterer für Schnitzler, als er keinerlei innere Verbindung zu jüdischen nationalen Traditionen oder dem religiösen Glauben fühlte. Wie bei Freud verstärkte der Antisemitismus seine niedrige Meinung von der menschlichen Natur, die bisweilen an Menschenfeindlichkeit grenzte.47 Dennoch fühlte er trotz all seines Pessimismus das mächtige Bedürfnis, mit Hilfe des einzig wirkungsvollen ihm zur Verfügung stehenden Mittels Rache zu üben - ein Uterarisches Werk zu schaffen, das „die Tragödie der Juden" beschreiben

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würde.48 Schnitzlers Wut auf die gewissenlose Verlogenheit und ungezügelte Demagogie der österreichischen Antisemiten erweckte in ihm in den 90er Jahren trotz seines Argwohns gegenüber jeder Form der kollektiven Identität das latente Solidaritätsgefühl mit anderen Juden zu neuem Leben. Die Niedertracht des Wiener Antisemitismus rief bei diesem liberalen Humanisten dasselbe instinktive Trotzgefiihl hervor wie bei Freud, auch wenn dieses bisweilen durch Schnitzlers angeborenen Skeptizismus und seine Bemühungen abgeschwächt wurde, sich eine über den Dingen stehende distanzierte Objektivität zu bewahren. Schnitzler, und das muß betont werden, war alles andere als ein „Assimilationist", wie seine lebenslange Verachtung für jüdische „Renegaten" zeigt. Beide, sowohl die getauften Juden als auch jene, die ostentativ versuchten, sich wie Deutschnationale zu benehmen oder als solche zu gelten, waren in seinen Augen dumm, feig und unverantwortliche Opportunisten.49 Wie sein enger Freund, der Dichter und Schriftsteller Richard Beer-Hofmann, der auf die Selbstnegierung der Konvertiten und teutomanischen Juden nicht weniger allergisch war, sah Schnitzler in der Bekräftigung der jüdischen ethnischen Identität die einzig würdige Antwort auf den Antisemitismus. Im Gegensatz zu Beer-Hofmann blieb Schnitzler aber skeptisch gegenüber der zionistischen Lösung der „Judenfrage", obwohl er sich im Wien des Fin de Siecle gesellschaftlich zunehmend isoliert fühlte. Schnitzlers Kenntnis des Zionismus resultierte aus seiner nach 1892 beginnenden Freundschaft mit Theodor Herzl. Herzls Scharfsinn in der Diskussion, seine Eleganz in der Kleidung und sein savoir-faire hatten schon den jungen Schnitzler in den späten 70er Jahren in der Akademischen Lesehalle beeindruckt, als der spätere Zionistenführer aktiv an deutschen Studententreffen teilnahm.50 Ihre engere Beziehung ging jedoch auf die Tage von Herzls Paris-Aufenthalt als Korrespondent der Neuen Freien Presse zurück. Im Juli 1892 ergriff Herzl die Initiative und schrieb Schnitzler plötzlich aus Frankreich, um ihm zu seinem neuesten Roman Das Mädchen zu gratulieren und sein eigenes Scheitern als Schriftsteller zu beklagen: „Stücke, an die ich glaubte, in denen ich künstlerisch strebte, kamen gar nicht zum Vorschein. Wenn ich in einer gewissen gierigen Verzweiflung zum Handwerk hinabstieg, wurde ich aufgeführt - und verhöhnt. Wenn ich, was äußerst selten geschieht, an meinen Platz in der deutschen Literaturwelt denke, muß ich ergötzt lachen."51 Herzl lobte Schnitzlers aufkeimende dramatische Begabung: „Wenn ich aber so ein Talent wie Ihres aufblühen sehe, freue ich mich, wie wenn ich nie ein Literat, das heißt ein engherziger unduldsamer neidischer boshafter Tropf gewesen wäre .. ," 52 In einem weiteren Brief an Schnitzler vom Jänner 1895 bedauerte Herzl, daß der politische Journalismus seine Uterarischen Ambitionen behindere und prophezeite pessimistisch eine neue Revolution in Frankreich „... und wenn ich nicht rechtzeitig nach Brüssel entkommen, werden sie mich vielleicht füsilieren, als Bourgeois

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oder deutscher Spion oder Juden oder Finanzier ..." 55 Die beste politische Lösung für das französische Volk, so Schloß Herzl, wäre un hon tyran. Im November 1894 schrieb Herzl erneut an Schnitzler, diesmal in Zusammenhang mit dem neuen Stück, das er soeben fertiggestellt hatte, Das neue Ghetto, und fragte ihn um seine ehrliche Meinung; er bat ihn auch, ihm dabei behilflich zu sein, einen Verleger zu finden. Herzl wollte nicht als Verfasser aufscheinen und schlug stattdessen das Pseudonym Albert Schnabel vor. Schnitzler ließ er feierlich schwören, über die wahre Identität des Autors „Schweigen zu bewahren".54 Am 17. November 1894 beglückwünschte Schnitzler Herzl in seiner Antwort dazu, für die Bühne ein neues Milieu und neue Formen entdeckt zu haben, die andere Schriftsteller vor ihm noch nicht versucht hätten.55 Er bewunderte gewisse jüdische Charaktere in dem Stück, allen voran Herrn Wasserstein, obwohl er meinte, Herzl hätte einige Personen überzeichnet. Kritik übte Schnitzler am ursprünglich von Herzl geplanten Ende, wo der sterbende Jacob Samuel sagen sollte: „Juden, Brüder, man wird euch erst wieder leben lassen, wenn ihr zu sterben wißt." Schnitzler bevorzugte einen wortlosen Tod, vor allem aber war er gegen die Prämisse im letzten Satz von Herzls Stück. „Es gab eine Zeit, wo die Juden zu tausenden auf den Scheiterhaufen verbrannt wurden. Sie haben zu sterben gewußt. Und man hat sie nicht leben lassen - deswegen. - So fahrt Ihr Drama, nachdem es sicher und schön seinen Weg hingebraust ist, - auf einem falschen Geleise ein. - Eine Figur wäre eventuell noch in das Stück hineinzustellen, die als Gegenspieler wirksam wäre: ein jüdischer Couleurstudent, der nach 50 Mensuren chassiert wird, weil er ein Jude ist. - ... Und noch eine Figur scheint mir in dem reichen Bild zu fehlen, das Sie von einer gewissen jüd. Gesellschaft entwerfen; - d. i. eine sympathische Frau (oder Mädel) - ... Auch der,Jude mit dem wunden Ehrgefühl' will mir nicht gefallen - geben Sie Ihrem Jacob etwas mehr innere Freiheit...1156

Herzls Ansicht, alle Wiener Juden seien verängstigte, unterwürfige Ghettotypen, wies Schnitzler mit aller Entschiedenheit zurück. „Die Figur des Kraftjudenfehlt mir geradezu in Ihrem Stück. Es ist gar nicht wahr, daß in dem Ghetto, das Sie meinen, alle Juden gedrückt oder innerlich schäbig herumlaufen. Es gibt andere - und gerade die werden von den Antisemiten am tiefsten gehaßt. Etwas in dieser Art müßte auch in dem Stück gesagt werden. Ihr Stück ist kühn - ich möchte es auch trotzig haben."57

In seiner Antwort schien Herzl die Motive bzw. den Kernpunkt hinter Schnitzlers Kritik jedenfalls nicht erkannt zu haben. Er sah keine Veranlassung, seine eigene „Misanthropie" zu verfälschen: „Soll ich gerade dort, wo es mir niemand glauben wird, lauter wundervolle Menschen sehen und zeigen?"58 Herzl mißinterpretierte Schnitz-

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lers Einwände offensichtlich als Aufruf: „Ich will mich auch nicht emaskulieren, irgend einem Erfolg zuliebe." Auch unterstrich er, daß es nicht seine Absicht sei, die Juden zu verteidigen oder zu retten (Schnitzler hatte gemeint, das Stück könnte den Juden implizit als Polemik schaden), er wollte auch kein „sympathischer Dichter" sein.59 Sehr zum Leidwesen Herais wurde Das neue Ghetto von einer Reihe von Theatern abgelehnt, und in seiner Isolation fühlte er mehr denn je das Bedürfnis nach Schnitzlers Freundschaft und Ermutigung. 60 Am 23. Juni 1895, als Aufführungen des Neuen Ghettos in Prag im Gespräch waren, schrieb Herzl aus Paris in dramatischen Worten an Schnitzler, daß nun „etwas Anderes, Neue, viel Größeres" von ihm Besitz ergriffen hätte und er ihm bei seiner Rückkehr aus Frankreich nach Osterreich Ende Juli nähere Einzelheiten erzählen werde. 61 Als sie einander schließlich im Herbst 1895 in Wien trafen, begrüßte Herzl Schnitzler mit dem ihm eigenen Uberschwang: „Ich habe die Judenfrage gelöst!", erklärte er seinem verdutzten Freund. 62 Einige Wochen später, nach Erscheinen des Judenstaates, äußerte Schnitzler auf die Anfrage des Verfassers, ob er nach Palästina kommen würde, Zweifel daran, daß Herzl selbst dorthin gehen würde. Als Herzl meinte, seine Stücke sollten wohl besser in Palästina als am Wiener Burgtheater aufgeführt werden, blieb Schnitzler skeptisch: „Aber in welcher Sprache wird man meine Stücke spielen?" antwortet er postwendend. 63 In seinen eigenen Augen war Schnitzler fraglos ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker, und er ärgerte sich über alle Versuche, sei es von deutsch-österreichischen oder von jüdischen Nationalisten, dies in Frage zu stellen.64 Seiner Meinung nach waren nur Autoren, deren Sprache hebräisch war, berechtigt, sich als jüdische Schriftsteller zu bezeichnen oder als solche eingestuft zu werden. Was den Zionismus betraf, so wollte er ihn - wie er später erklärte - auf der politischen Weltbühne nicht missen. Diese berechtigte Zustimmung enthielt aber auch einen Anstrich von urbanem Skeptizismus und von Sympathie. Schnitzler wollte gewiß nicht die Notwendigkeit des Zionismus an sich (und insbesondere nicht seine philantropischen Leistungen) bestreiten, selbst wenn sich eines Tages herausstellen sollte, daß er bloß eine historische Periode war. In dem Roman Der Weg ins Freie nimmt Schnitzler zum Zionismus Stellung. Für den von ihm geschilderten Schriftsteller Heinrich Bermann war das Wort „Vaterland" nur eine „Fiktion, ein Begriff" - „Als moralisches Prinzip und als Wohlfahrtsaktion wollte er den Zionismus gelten lassen, wenn er sich aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee der Errichtung eines Judenstaates auf religiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie eine unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung." 65 Schnitzlers Vorbehalte gegenüber dem Zionismus waren zu einem Gutteil durch seine starke emotionale Bindung an Wien und den österreichischen Boden bedingt.66 Dieses Heimatgefiihl hatte nichts mit konventionellem österreichischem Patriotismus oder dem nationalistischen Begriff eines Vaterlandes zu tun, der klare geo-

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graphische Grenzen definierte, was er entschieden ablehnte.67 Es stand vielmehr in Zusammenhang mit einer tiefen Zuneigung zur deutschen Sprache und der österreichischen Landschaft. Abstrakte Begriffe wie „Nation", „Rasse" oder, weiter gefaßt, politische Gemeinschaft berührten ihn nicht.68 Schnitzler mißtraute durchwegs allen Ideologien und kollektiven politischen Lösungen, da sie sich seiner Meinung nach unweigerlich der komplexen inneren Realität der subjektiven Erfahrung bemächtigten, sie verzerrten und zu einer Uberbewertung des Staates auf Kosten des einzelnen führten. Seine negative Reaktion auf den dogmatischen, politischen Zionismus stand in Einklang mit dieser individualistischen Betonung der überragenden Bedeutung der persönlichen Gefühle, die sich aus der Kindheit, der Erziehung und der Lebenserfahrung im Laufe der Identitätsfindimg entwickelten. Bereits aus den ersten Seiten seiner Autobiographie geht hervor, daß Schnitzler die Bezeichnimg Palästinas als „Land der Väter" für fragwürdig hielt. „Seit wann meine Voreltern in Groß-Kanizsa, seit wann sie sich in Ungarn ansässig gemacht haben, in welchen Gegenden sie vorher umhergewandert und wo sie überall fur kürzere oder längere Dauer heimisch gewesen sind, nachdem sie, wie wohl anzunehmen ist, vor zweitausend Jahren ihre Urheimat Palästina verlassen hatten, das alles ist mir vollkommen unbekannt... So läge die Versuchung nahe, sich schon hier mit der fragwürdigen Auffassung auseinanderzusetzen, nach der jemand, der in einem bestimmten Land geboren, dort aufgewachsen, dort dauernd tätig ist, ein anderes Land nicht etwa eines, in dem vor Jahrzehnten seine Eltern und Großeltern, sondern eines, wo seine Urahnen vor Jahrtausenden zu Hause waren - nicht allein aus politischen, sozialen, ökonomischen Gründen (worüber sich immerhin diskutieren ließe), sondern auch geßihlsmäßig als seine eigentliche Heimat zu betrachten habe."69

Schnitzlers Ansichten zu dieser Frage werden in seinem langen, vielschichtigen Roman Der Weg ins Freie von dem jüdischen Schriftsteller Heinrich Bermann wiederholt. Bei einem herbstlichen Radausflug in den Hügeln rund um Wien wird Bermann in eine Auseinandersetzung mit dem gutaussehenden Zionisten Leo Golowski verwickelt - offensichtlich Schnitzlers indirekter Tribut an Theodor Herzl. Golowski brachte seinen philosophischen Gleichmut angesichts des österreichischen Antisemitismus auf eine Art und Weise zum Ausdruck, die den empfindlichen und etwas neurotischen Bermann herausfordern mußte: „Aber daß diese Leute sich als die einheimischen einsehen und Sie und mich als die Fremden, das kann man ihnen doch nicht übel nehmen. Das ist doch schließlich nur der Ausdruck ihres gesunden Instinkts für eine anthropologisch und geschichtlich feststehende Tatsache. Dagegen und daher auch gegen alles, was daraus folgt, ist weder mit jüdischen noch mit christlichen Sentimentalitäten etwas auszurichten."70

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Leo Golowskis verblüffende Annahme, die Antisemiten könnten einen Grund haben, und seine Verwendung so zweifelhafter Begriffe wie „gesunder Instinkt" provozierten eine verbitterte Antwort. „Mein Instinkt ist mir mindestens ebenso maßgebend wie der der Herren Jalaudek junior und senior [christlich-soziale Antisemiten], und dieser Instinkt sagt mir untrüglich, daß hier, gerade hier meine Heimat ist und nicht in irgendeinem Land, das ich nicht kenne, das mir nach den Schilderungen nicht im geringsten zusagt und das mir gewisse Leute jetzt als Vaterland einreden wollen, mit der Begründung, daß meine Urahnen vor einigen tausend Jahren gerade von dort aus in die Welt verstreut worden sind. Wozu noch zu bemerken wäre, daß die Urahnen des Herrn Jalaudek, und selbst die unseres Freundes, des Freiherrn von Wergenthin, gerade so wenig hier zu Hause gewesen sind als die meinen und die Ihrigen."71

In seiner Antwort argumentiert der zionistische Protagonist, daß solche Gefühle eine rein subjektive, egoistische Sicht darstellten. Außerdem sei die Tatsache, daß Bermann rein zufallig auf deutsch über österreichische Leute und österreichische Zustände schreibe, schlicht und einfach irrelevant; gleiches gelte fur die „Unanehmlichkeiten zweiten Ranges" wie die Nichtbeförderung jüdischer Beamter, Offiziere oder Universitätslehrer in Wien. Die Kernfrage sei die allgemeine materielle und psychologische Lage des jüdischen Volkes, vor allem der osteuropäischen Juden, die Leo beim Zionistenkongreß in Basel begegnet waren. „In diese Menschen, die er zum ersten Mal in der Nähe gesehen, war die Sehnsucht nach Palästina, das wußte er nun, nicht künstlich hineingetragen; in ihnen wirkte sie als ein echtes, nie erloschenes und nun mit Notwendigkeit neu aufflammendes Gefühl. Daran konnte keiner zweifeln, der, wie er, den heiligen Zorn in ihren Blicken hatte aufleuchten sehen, als ein Redner erklärte, daß man die Hoffnung auf Palästina vorläufig aufgeben und sich mit Ansiedlungen in Afrika und Argentinien begnügen müsse." 72

Die leidenschaftliche Verteidigung des Zionismus veranlaßte Bermann zu dem Ausruf, daß ihm die neue Bewegung „als die schlimmste Heimsuchung erschiene, die jemals über die Juden hereingebrochen war". Worte wie Nationalgefühl und Religion erbitterten Bermann „in ihrer leichtfertigen, ja tückischen Vieldeutigkeit". „Vaterland das war ja überhaupt eine Fiktion". Jede Religion war ihm „gleich unerträglich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte". Bermann identifizierte sich mit niemandem auf der Welt: „Mit den weinenden Juden in Basel gerade so wenig als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen Parlament; mit jüdischen Wucherern so wenig als mit hochadeligen Raubrittern; mit einem zionistischen Branntweinschänker so wenig als mit einem christlich-sozialen Greisler".75 Gemeinsam erlittene Verfolgung und antisemitischer Haß erweckten in ihm kein Solidaritäts-

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gefuhl mit jenen, die einen Judenstaat gründen wollten, was ihm als eine „unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung" erschien. „Als moralisches Prinzip und als Wohlfahrtsaktion wollte er den Zionismus gelten lassen", in der Praxis aber waren seine Ziele unerreichbar.74 „Was ist Ihnen Ihr,Heimatland' Palästina? Ein geographischer Begriff. Was bedeutet Ihnen ,der Glaube Ihrer Väter'? Eine Sammlung von Gebräuchen, die Sie längst nicht mehr halten und von denen Ihnen die meisten gerade so lächerlich und abgeschmackt vorkommen als mir."75 Mit der typischen Unparteilichkeit bezieht Schnitzler bei diesen innerjüdischen Diskussionen, die oft in Gegenwart des nichtjüdischen Künstler-Aristokraten Georg von Wergenthin stattfinden, nicht eindeutig Stellung. Manchmal fühlt sich der Baron in diesen Diskussionen stärker auf Leos Seite gezogen, „in dessen Worten ihm ein glühendes Mitleid für seine unglücklichen Stammesgenossen zu beben schien, und der sich stolz von Menschen abkehrte, die ihn als ihresgleichen nicht wollten gelten lassen. Bald wieder war er innerlich Heinrich [Bermann] näher, der sich zornig von einem Beginnen abwandte, das, phantastisch und kurzsichtig zugleich, die Angehörigen einer Rasse, deren Beste überall in der Kultur ihres Wohnlandes aufgegangen waren, oder mindestens in ihr mitarbeiteten, von allen Enden der Welt versammeln und in eine gemeinsame Fremde senden wollte, nach der sie kein Heimweh rief."76 In dem Roman ist es gerade diese Diskussion der Für und Wider des Zionismus, durch welche dem katholischen Freiherrn erstmals „eine Ahnung von dieses Volkes geheimnisvollen Los" aufdämmert, „in einer ganz neuen gleichsam düsteren Beleuchtung"; „wie gerade ihnen, hin und her geworfen zwischen der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der Erbitterung über die Zumutung, einer frechen Uberzahl weichen zu sollen, - zwischen dem eingeborenen Bewußtsein, daheim zu sein, wo sie lebten und wirkten, und der Empörung, sich eben da verfolgt und beschimpft zu sehen; wie gerade ihnen zwischen Trotz und Ermattung das Gefühl ihres Daseins, ihres Wertes und ihrer Rechte sich verwirren mußte."77 Der zionistische Weg zur Freiheit, fur den der junge Leo Golowski eintritt, wird auch von einem anderen der Protagonisten in Erwägung gezogen, dem millionenschweren Patronenfabrikanten Salomon Ehrenberg, dessen Salon einen der Mittelpunkte der Handlung dieses Romans darstellt.78 Ehrenberg, der patriarchalische Industrielle, steht in ständigem Konflikt mit dem sozialen Aufstiegsstreben und den assimilationistischen Ambitionen seiner Frau und seiner Kinder. Er verachtet den österreichischen Adel, den sein Sohn Oskar mit „seiner nonchalant-vornehmen Haltung" und dem Akzent der Oberschicht nachzuahmen sucht, was die Beziehung zunehmend unerträglich macht. „Fing hingegen der Vater, wie er es vor Leuten und mit offenbarer Absicht am liebsten tat, im Jargon [Jiddisch] zu reden an, so biß Oskar die Lippen aufeinander und verließ wohl auch das Zimmer."79

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Der stolze, trotzige Ehrenberg, einer von Schnitzlers „Kraftjuden" der älteren Generation, ist angewidert und entsetzt über die scheinbare Gleichgültigkeit seiner Frau, seines Sohnes und deren blasierter jüdischer Freunde gegenüber dem arischen Antisemitismus. In einem der ersten Gespräche in dem Roman erzählt er dem agnostischen jungen Schriftsteller Edmund Nürnberger, daß er in Kürze eine Reise nach Ägypten, Syrien und Palästina plane. „Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe."80 Ehrenberg beeilt sich hinzuzufügen, daß weder seine Frau noch seine Kinder Verständnis für diesen Wunsch haben, aber „wenn man so liest, was in der Welt vorgeht, man möcht' selber manchmal glauben, es gibt für uns keinen andern Ausweg". Wenn der etwas geckenhafte Nürnberger einwirft, daß der Antisemitismus Ehrenberg bislang nicht daran gehindert hätte, ein riesiges Vermögen anzuhäufen, und seine Voreingenommenheit kritisiert, antwortet der alte Patriarch verärgert: „Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlagt auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf."81 Als Salomon Ehrenberg Nürnberger verbittert erzählt, daß auch sein Sohn Oskar ein Antisemit ist, seufzt seine Frau leise: „Es ist eine fixe Idee von ihm ... Uberall sieht er Antisemiten, selbst in der eigenen Familie."82 Nürnberger zufolge ist dies „die neueste Nationalkrankheit der Juden". Sarkastisch meint der junge Lebemann zu seinem Gastgeber: „Mir selbst ist es bisher erst gelungen, einen einzigen echten Antisemiten kennen zu lernen. Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, lieber Herr Ehrenberg, daß es ein bekannter Zionistenführer war."85 In einer anderen eindrucksvollen Szene stößt Ehrenberg mit Leo Golowskis Schwester, der jungen sozialistischen Aktivistin Therese, zusammen, die erst kürzlich wegen ihrer Involvierung in einen böhmischen Kohlenarbeiterstreik eingesperrt gewesen ist. Er warnt sie, daß es „euch jüdischen Sozialdemokraten genauso ergehen [wird], wie es den jüdischen Liberalen und Deutschnationalen ergangen ist". Juden, so erklärt Ehrenberg, hätten sowohl die liberale als auch die deutschnationale Bewegung in Osterreich gegründet, um verraten, verlassen und wie Hunde bespuckt zu werden: „... Und geradeso wird's ihnen jetzt ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe erst aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird immer so sein."84 Ehrenbergs tragikomischer Konflikt mit seinem eigenen Sohn Oskar (ein Extrembeispiel für das Generationsproblem, das in diesem Roman geschildert wird) über die Frage der Assimilation gipfelt schließlich in einem grotesken Finale. Sein Sohn, nun Leutnant der Reserve, wird von seinem Vater zufallig beobachtet, als er seinen Hut vor der Michaeierkirche in Wien zieht, um seinen jungen aristokrati-

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sehen und katholischen Kameraden zu gefallen.85 Voller Wut versetzt der Vater seinem Sprößling auf der Stelle eine Ohrfeige, zu Mittag, im Zentrum der Stadt; eine öffentliche Erniedrigung, die einen stümperhaften Selbstmordversuch Oskars nach sich zieht. In dem Roman wird der Skandal sofort von der klerikalen und antisemitischen Presse in Wien aufgegriffen, die verlangt, daß „beide Ehrenberg wegen Religionsstörung oder gar Gotteslästerung vor die Geschworenen kommen" sollen. Vor diesem absurden Höhepunkt (der mit weitgehender Genauigkeit die Atmosphäre in Wien um 1900 wiedergibt) ist Ehrenberg bereits von seinem Besuch in Palästina zurückgekehrt, von der Landschaft enttäuscht, von den Strapazen der Reise verstimmt, und von jüdischen Ansiedlungen hat er praktisch nichts gesehen.86 Zionismus, im Sinne von Auswanderung, kann für ihn nun ebensowenig eine persönliche Lösung sein wie für den jüngeren, großgewachsenen Leo Golowski. Das vielleicht letzte Wort zum „zionistischen" Thema spricht in dem Roman der Zyniker Heinrich Bermann, der dem nichtjüdischen Baron erklärt, daß jede definitive Antwort auf die Judenfrage noch sehr weit entfernt ist. „Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. Weil es eben eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet aus seinem Arger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei aufatmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen ... Ich furchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins Freie sich gemeinhin unternehmen lassen ... denn die Straßen dorthin laufen ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden. Dazu ist es natürlich notwendig, möglichst klar in sich zu sehen, in seine verborgensten Winkel hineinzuleuchten! Den Mut seiner eigenen Natur zu haben." 87

Schnitzlers Der Weg ins Freie ist als Roman weit mehr als bloß eine literarische Diskussion des Zionismus bzw. dadurch der weiteren Dimensionen des jüdischen Problems im Wien des Fin de Siecle. Die Haupthandlung dreht sich um die Liebesaffäre von Georg von Wergenthin mit Anna Rosner, der Tochter einer nichtjüdischen Familie der unteren Mittelschicht. Der narzißtische Baron spielt mit dem Gedanken einer Heirat, im Grunde seines Herzens möchte er aber weder Frau noch Kind, da er nur unzureichend zur Liebe zu anderen fähig ist. Annas totgeborenes Kind ihrer Beziehung läßt ihn sich sowohl schuldig als auch erleichtert fühlen, daß es ihm möglich war, die Affäre ohne bleibende Verbindung zu beenden. In seiner Schilderung des katholischen Barons, eines willkommenen Gastes in den Salons der höheren Mittelschicht des jüdischen Wien, vermittelt Schnitzler ein ausgeprägtes Gefühl der

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Isolation, des ziellosen Herumirrens und der kreativen Lähmung. Von Wergenthin ist unfähig zu einem Liebesbekenntnis, und so bleibt sein Talent als Komponist unerfüllt; auch vermag er keinerlei wichtige Entscheidung zu treffen, geschweige denn seine eigenen widersprüchlichen Triebe zu beherrschen.88 Wie die vielfältigen und verschiedenen jüdischen Charktere in diesem Roman, ist auch der Baron in gewissem Sinne ein Opfer des Zerfalls der liberalen Werte und der Verzerrungen des Ich durch den Sumpf einer dekadenten Gesellschaft.89 Indem er von einem jüdischen Salon zum nächsten zieht, ist von Wergenthin eine Art Seismograph, der mit distanzierter Höflichkeit die endlosen psychischen Konflikte registriert, die sich aus den Auswirkungen des Antisemitismus auf die persönliche Existenz der Wiener Juden ergeben. Trotz seines unbeschwerten und aristokratischen Charmes scheint doch etwas von der selbstanalytischen Introspektion und dem Weltschmerz seiner jüdischen Freunde auf den Baron abzufärben, was gemischte Gefühle in ihm auslöst.90 In einem frühen Gespräch im Roman ist er etwas verärgert über die Erklärung der entfernten Verwandtschaft zwischen den Ehrenbergs, Golowskis und Staubers, die alle aus Ungarn und Galizien stammen. „In Wirklichkeit aber war er eher enerviert. Seiner Empfindung nach bestand durchaus keine Notwendigkeit, daß auch der alte Doktor Stauber ihm offizielle Mitteilung von der Zugehörigkeit zum Judentum machte. Er wußte es ja, und er nahm es ihm nicht übel. Er nahm es überhaupt keinem übel; aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an? Wo er auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich." 91

Schnitzlers nichtjüdischer Anti-Held ist stets erstaunt über diese ängstliche Haltung einiger seiner jüdischen Bekannten. „Im ganzen fand er den Ton der jungen Leute untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer sich selbst mit Unbefangenheit zu geben."92 Im weiteren Verlauf des Romans wird die Toleranz des unbeschwerten Aristokraten durch Heinrich Bermanns „Verfolgungswahn" auf eine harte Probe gestellt. Sein jüdischer Freund hat den schriftlichen Nachlaß seines Vaters durchgesehen. Der alte Bermann, der aus einer böhmischen Kleinstadt kam, war ein liberaler österreichischer Patriot und Parlamentsabgeordneter gewesen, der durch ein „verwirrendes Ineinanderspiel von Tücke, Beschränktheit, Brutalität... echt deutsch, mit einem Wort" aus seiner Partei gedrängt worden war. „Ein Jude, der sein Vaterland liebt... ich meine, so wie mein Vater es getan hat, mit Solidaritätsgefuhlen, mit dynastischer Begeisterung, ist unbedingt eine tragikomische Figur. Das heißt... er war es zu jener liberalisierenden Epoche der siebziger und achtzi-

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ger Jahre, da auch kluge Menschen dem Phrasentaumel der Zeit unterlegen sind. Heute wäre ja ein solcher Mensch allerdings ausschließlich komisch .. ." 93 Von Wergenthins aufgebrachte Antwort auf diese zynische, im Grunde aber richtige Beobachtung ist, daß er „überhaupt nicht mehr imstande [sei], etwas anderes in der Welt zu sehen als immer und überall die Judenfrage". Dies führt zu einer der bittersten Entgegnungen in dem Roman. Den bohrenden Blick auf ihn gerichtet, fragt Heinrich Bermann seinen katholischen Freund: „Glauben Sie, daß es einen Christen auf Erden gibt, und wäre es der edelste, gerechteste und treueste, einen einzigen, de nicht in irgendeinem Augenblick des Grolls, des Unmuts, des Zorns selbst gegen seinen besten Freund, gegen seine Geliebte, gegen seine Frau, wenn sie Juden oder jüdischer Abkunft waren, deren Judentum, innerlich wenigstens, ausgespielt hätte?"94 Was den Verfolgungswahn anbelangt, so sei das „eben in Wahrheit nichts anderes als ein ununterbrochenes waches, sehr intensives Wissen von einem Zustand, in dem wir Juden uns befinden".95 In der Antwort auf die ungehaltene Bemerkung des Barons, wenn er dieser Auffassung sei, müsse er mit Leo Golowski nach Palästina auswandern, unterstreicht Bermann seine Ablehnung rein äußerlicher Lösungen „für höchst innerliche Angelegenheiten". Weder der Zionismus noch die Assimilation (ausgenommen in einer sehr fernen Zukunft) könnten die Juden von dem bedrückenden Unbehagen befreien. Die einzige Hoffnung hege in einer inneren Freiheit auf der Grundlage einer wachsamen Selbstbeobachtung und Stärkung der eigenen autonomen Identität. Die Morbidität und der Pessimismus in Heinrichs Worten, seine quälenden Schuldgefühle, seine Verbitterung und seine Ressentiments sowohl gegenüber den Nichtjuden als auch gegenüber seinen jüdischen Mitbriidern scheinen dieses Credo indes Lügen zu strafen.96 „Jede Rasse als solche ist natürlich widerwärtig. Nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen. Wahrscheinlich liegt es nur daran, daß ich, wir alle, auch wir Juden mein' ich, zu dieser Empfindlichkeit systematisch herangezogen worden sind. Von Jugend auf wurden wir darauf hingehetzt, gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen Eigenheiten der andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar nicht verhehlen, - wenn sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt, befallt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich vergehen möchte, in die Erde sinken."97

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Bermanns Schamgefühl, seine Nervosität und seine Sensibilität in bezug auf das Verhalten seiner Glaubensgenossen war keine Form des jüdischen Antisemitismus, sondern eine verbitterte Reaktion auf die Tatsache, daß die Juden immer kollektiv für die Fehler von einzelnen verantwortlich gemacht wurden. Die einzigen Juden, die Bermann (wie Schnitzler selbst) aufrichtig haßte, waren die Abtrünnigen, „die sich in wohlfeiler und kriecherischer Weise bei ihren Feinden und Verächtern anzubiedern suchen und sich auf diese Art von dem ewigen Fluch loszukaufen glauben, der auf ihnen lastet.. ," 98 Gleichzeitig war es gerade diese unsichere Situation, in einem „Feindesland" ständig wie Gefangene eingeschlossen zu sein, die den Juden die Gabe eines tieferen Verständnisses verliehen hatte. Allein diese analytische Intensität des Bewußtseins, die für das Uberleben in einem Feindesland so notwendig war, versetzte die Juden in die Lage, sich selbst von ihrem endemischen Gefühl des Fremdseins zu heilen. Was dem Baron also lediglich als Verfolgungswahn, ja sogar Größenwahn erschien, war in Wirklichkeit Ausdruck eines historisch bedingten Verteidigungsmechanismus, der aus der Unsicherheit der jüdischen Minderheit in der Diaspora resultierte." Trotz seiner verständnisvollen Offenheit empfindet Georg von Wergenthin immer noch einer gewisse latente Antipathie für diese „jüdisch-überklugen schonungslosmenschenkennerischen Leute, diese Bermann und Nürnberger". Sie sind eine „unbequeme Gesellschaft", von nichts im Leben übeiTascht, und Güte fehlt ihnen allen. 100 Er fühlt, daß er mit ihnen nie dieselbe entspannte Intimität erreichen wird wie mit den Nichtjuden seines Oberschichtmilieus. Dieser Gedanke ruft in dem Baron wachsendes Unbehagen hervor und läßt ihn vage erkennen, daß natürliche Beziehungen in der vergifteten Atmosphäre von „Torheit, Ungerechtigkeit und Unaufrichtigkeit", die das Wien des Fin de Siecle kennzeichnet, nicht gedeihen können. Durch den Filter des gutmütigen aristokraten Nichtjuden zeigt Schnitzler auf, daß die Juden, auch wenn die äußeren Ghettomauern gefallen sind, praktisch immer noch in einem geschlossenen „mentalen" Ghetto leben, in dem selbst der Baron letztlich ein privilegierter Außenseiter ist. 101 Die jüdischen Nebenpersonen in diesem Roman, wie die glühende sozialistische Aktivistin Therese Golowski, prangern die unterdriickerisch-feindliche Atmosphäre ebenfalls an, wenn sie sich ausreichend provoziert fühlen. Therese beispielsweise verteidigt ihren zionistischen Bruder Leo entschieden gegen die Behauptung eines nichtjüdischen Bekannten aus der Oberschicht, er sei in bezug auf den Antisemitismus krankhaft übersensibel. Therese meint zunächst, daß ihr jüdische Bankiers und orthodoxe Rabbiner gleichermaßen zuwider seien wie feudale Großgrundbesitzer oder katholische Pfaffen, und fugt dann scharf hinzu: „Aber wenn sich jemand über mich erhaben fühlte, weil er einer andern Konfession oder Rasse angehört als ich,

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und gar im Bewußtsein seiner Übermacht mich diese Erhabenheit fühlen ließe, ich würde so einen Menschen ... also ich weiß nicht, was ich ihm täte."102 Alle jüdischen Charaktere in Schnitzlers Roman sind, ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Stellung oder ihrer politischen Meinung, in irgendeiner Weise vom Triumph des populistischen katholischen Antisemitismus in Wien und der durch den Kult der rassischen deutschen Überlegenheit bedingten sozialen Achtung betroffen. Obwohl ihre Reaktionen in ihrer Intensität unterschiedlich sind, ist vielen als Folge ihrer ähnlichen historischen Situation doch die Empörung über die Pariastellung und die trotzige, wenn bisweilen auch mehrdeutige Betonung der jüdischen Identität gemeinsam. Bei dem Zionisten Leo Golowski - der in einem Duell schließlich einen antisemitischen Oberleutnant tötet, der ihn während seines Militärdienstes ein Jahr lang verspottet hat - ist die Antwort relativ einfach und auf der Hand liegend. Gleiches gilt in gewisser Weise auch für das selbstbewußte Auftreten von Willy Eißler, dessen starkes Temperament und eiserner Wille ihn mehr einem ungarischen Magnaten als einem österreichischen Juden ähneln lassen. Was diesen Sohn eines Wiener Antiquitätensammlers in den Augen des Barons „vor andern jungen Leuten seines Stamms und seines Strebens auszeichnete, war der Umstand, daß er gewohnt war, seine Abstammung nie zu verleugnen, für jedes zweideutige Lächeln Aufklärung zu fordern und sich gelegentlich über alle Vorurteile und Eitelkeiten, in denen er oft befangen schien, selber lustig zu machen".103 Mehrdeutiger und vielschichtiger ist Dr. Berthold Straubers Antwort auf den Antisemitismus, der den Beruf seines Vaters als Arzt zugunsten einer politischen Laufbahn aufgegeben hatte. Zu Beginn des Romans erleben wir, daß er nicht nur durch den antsemitischen Spott seiner christlich-sozialen parlamentarischen Gegner zur Bakteriologie zurückgetrieben wird, sondern auch durch die Abscheu vor dem schamlosen Zynismus hinter dieser Rhetorik. Empört über die völlige Respektlosigkeit der österreichischen Politik, kommentiert Strauber diese mit Worten, die Schnitzler zweifellos aus dem Herzen kamen. „Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude und der Haß gegen das Talent, die sind echt bei tins."104 Fünf Jahre lang hat Schnitzler an diesem Diskussionsroman gearbeitet (von 1902 bis 1907), und welche ästhetischen Mängel auch immer er aufweisen mag, gelang es ihm doch, eine bunte Palette zeitgenössischer jüdischer Typen zu zeichnen, die mit dem Problem der jüdischen Identität unter der katholisch antisemitischen Herrschaft konfrontiert waren.105 Die Ehrenbergs, die Bermanns, die Golowskis, die Eißlers, die Straubers und die Nürnbergers vertraten einen breiten Querschnitt des Wiener Judentums der Mittel- und Oberschicht, von dem nur die orthodoxen und halb-proletarischen osteuropäischen (d. h. galizischen) Juden ausgespart blieben. Es war nicht Schnitzlers Absicht, irgendeine einheitliche Theorie über diese Charaktere

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aufzustellen oder eine künstliche Einheit in die Vielfalt widersprüchlicher Argumente zu bringen.106 In dem Roman war tatsächlich nahezu das gesamte Spektrum von Ansichten der Wiener Juden vertreten, wodurch die Erzählmethode des ständigen Wechsels der Perspektive und das umfassendere Thema des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der österreichischen Gesellschaftsordnung eine Parallele fanden.107 Schnitzlers zunehmendes Gefühl der Entfremdung von der österreichischen Gesellschaft und Politik läßt sich dennoch klar erkennen. Seine Beschreibung der Verteidigungspsychologie der Wiener Juden, die durch die feindselige Umgebung zu einer Haltung des Mißtrauens, der Furcht, des übertriebenen Selbstbewußtseins und der Selbstverachtung gedrängt wurden, spiegelt seine eigene Lebenssituation und die vieler seiner Glaubensgenossen wider. Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Zionismus versucht er nicht, die Schwierigkeiten zu beschönigen, mit denen sich die österreichischen Juden als exponierte und verwundbare Minderheit konfrontiert sahen. Heinrich Bermanns „Sicherheitswahn" und der Eindruck, daß die nicht vorhandene Kommunikation zwischen Juden und Nichtjuden eine nicht überbrückbare Kluft aufgerissen hat, sind Gefühle, die Schnitzlers eigenen Erfahrungen nicht fremd waren. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie rasch sein österreichisches Heimatland für Juden trotz ihres wirtschaftlichen Wohlstands und gleicher bürgerlicher Rechte zu einem „Feindesland" werden konnte. Er hatte nie geglaubt, daß Polemiken, Rechtfertigungen oder eine politische Betätigung der Juden diese Situation radikal ändern würden. Wien und den liberalen kosmopolitischen Traditionen der deutschen Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts aber blieb er unerschütterlich verbunden.108 Sein skeptischer Individualismus suchte daher tapfer, die Autonomie des inneren Ich zu bestätigen, in einem Zeitalter der kollektivistischen Ideologien wie des Nationalismus, des darwinistischen Rassismus, des Antisemitismus, des militaristischen Imperialismus und selbst des Zionismus, die dessen Integrität bedrohten.109 Es waren im wesentlichen die spezifische Wucht und die Aggressivität des österreichischen Antisemitismus, die Schnitzler aus dieser quasi-solipsistischen Haltung zu einer größeren Identifikation mit den Juden als verfolgte Gruppe führten.110 In einem Brief an den liberalen österreichischen Historiker Richard Charmatz vom 4. Jänner 1915 zeigte sich Schnitzler zutiefst verärgert über jene Juden, die behaupteten, nicht unter dem Antisemitismus zu leiden, sei es „aus Mangel an Feingefühl, aus Bequemlichkeit, aus Saturiertheit, aus Snobismus oder aus Kriecherei".111 Gleichzeitig unterstrich er, daß das Deutschtum selbst trotz des großen Dankes, den er dem deutschen Volk und der österreichischen Kultur schulde, über die Jahrhunderte hinweg viele kulturelle und ethnische Errungenschaften des Judentums übernommen habe. Daher fühlte sich Schnitzler dem Erbe der Vorfahren seiner Rasse

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nicht weniger verpflichtet als der deutschen und österreichischen Komponente seiner Identität.112 Wie Freud so schätzte auch Schnitzler offenkundig den Nonkonformismus und die Freiheit von Dogmen, die er mit dem Judentum verband. Auch er sah die Juden als Ferment der Geschichte und als stark individualistisches Volk, das es verstanden hatte, Jahrhunderte hindurch Verfolgung und Unterdrückung die Stirn zu bieten. Radikale assimilationistische Lösungen erschienen ihm daher nur wenig anziehend, geschweige denn in einer Zeit des wachsenden Rassismus, der solche Optionen als moralisch verdächtig und politisch nicht praktikabel erscheinen ließ. Schnitzlers Sensibilität für den Druck antisemitischer Vorurteile im Leben Wiens kommt in aller Deutlichkeit in seinem packenden Theaterstück Professor Bernhardt (1912) zum Ausdruck. Mehr als an jeder anderen Stelle seines literarischen Werkes zeigt Schnitzler in diesem Stück die Irrationalität, die Niederträchtigkeit, die politische Intrige und die Intoleranz auf, die den integren Menschen in der zeitgenössischen Gesellschaft bedrohen. Im Zentrum des Stückes steht ein Ereignis: die Weigerung Professor Bernhardis, des jüdischen Leiters des Privatspitals Elisabethinum, einen katholischen Priester an das Bett eines sterbenden Mädchens zu lassen, aus Angst, sein Erscheinen könnte ihren Halluzinationszustand der Euphorie beenden.113 Als Arzt und Mensch glaubt Bernhardi, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, dem Mädchen in seinem kurzen und tragischen Leben wenigstens einen Augenblick des Glücks zu gönnen. Der Vorfall aber wird von den klerikalen Kräften schnell zu einem Politikum aufgebläht und Bernhardi beschuldigt, das religiöse Empfinden der katholischen Bevölkerung Wiens gröblich verletzt zu haben. Zunächst, im zweiten Akt, scheint er bereit, eine öffentliche Erklärung abzugeben, daß es nicht seine Absicht gewesen sei, religiöse Gefühle zu verletzen; dann jedoch hört er von den Machenschaften und politischen Intrigen seines Stellvertreters Dr. Ebenwald, eines loyalen Deutschnationalen und Antisemiten.114 Er zerreißt daraufhin die Erklärung, die er schon begonnen hatte zu verfassen, und stellt sich in Hinkunft auf den Standpunkt, daß er der Gesellschaft keinerlei Erklärung für sein Verhalten schuldig sei - die ganze Angelegenheit sei ausschließlich eine Frage seiner eigenen Moral. Der Erziehungsminister, Professor Flint, rät Bernhardi, daß eine Erklärung zweckdienlich wäre, der Arzt jedoch lehnt ab. Der Minister, der zunächst der Sache des Spitals dienlich sein will, läßt seinen Direktor schließlich aus opportunistischen Gründen unter dem starken christlich-sozialen Druck im österreichischen Parlament im Stich.115 Im folgenden Gerichtsverfahren wird Bernardi des Sakrilegs für schuldig befunden und zieht es, trotz des Drängens einiger seiner Kollegen vor, ins Gefängnis zu gehen, statt öffentlich eine Stellungnahme abzugeben, die sein moralisches Gewissen kompromittiert hätte. Als er aus dem Gefängnis zurückkommt, ist er peinlich berührt, als er entdeckt, daß er für die freidenkerische Öffentlichkeit zu

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einem Helden geworden ist; er widersetzt sich jedem Versuch, aus ihm einen politischen Märtyrer zu machen.116 In der Schlußszene wird dieser Rückzug von Hofrat Winkler indirekt kritisiert, der ihm vorwirft, die ganze Affäre angezettelt zu haben, ohne bereit zu sein, seine moralischen Prinzipien zu verteidigen.117 Diese heuchlerische Verurteilung, die darüber hinaus durch jene Person erfolgt, die dazu vielleicht am allerwenigsten berechtigt ist, zeigt die verlogene Selbstironie und Ambivalenz, die viele der Protagonisten dieses Stückes kennzeichnet.118 Im Verlauf des Dramas deckt Schnitzler geschickt viele antijüdische Vorurteile auf, die in der österreichischen Gesellschaft vor 1914 weit verbreitet waren; er zeigt auch den zynischen Opportunismus der Medizinerkollegen, die hofften, die Beförderung des Professors zum Klinikvorstand verhindern zu können. Bernhardis Stellvertreter, Dr. Ebenwald, versucht bei der Neubesetzung des Postens von Dr. Tugendvetter statt des friedfertigen Assistenten Dr. Wenger, der zufällig Jude ist, die Bestellung eines deutschen Kollegen aus Graz durchzusetzen, wobei er die individuelle Begabung völlig außer acht läßt.119 Sein Vetter, ein führender Politiker des klerikalen Lagers, spielt in der parlamentarischen Hetze gegen Bernhardi eine Schlüsselrolle. In seiner eigenen Studentenzeit hatte Dr. Ebenwald zu den Führern der Deutschnationalen gezählt; wie er seinen getauften jüdischen Gefolgsmann Dr. Schreimann erinnert: „Und du weißt, was das heißt: Wacht am Rhein - Bismarckeiche - Waidhofner Beschluß - Juden wird keine Satisfaktion gegeben, auch Judenstämmlingen." 120 Die Gespräche zwischen Ebenwald und Schreimann im dritten Akt lassen die verwirrend mehrdeutigen Zustände, selbst im deutschnationalen Lager, durchschimmern. Schreimann, der einen auffallend österreichischen Dialekt spricht, in den sich bisweilen unbeabsichtigt ein jüdischer Akzent mischt, versichert Ebenwald, daß er sich selbst dann, wenn er ein Nationaljude wäre, in diesem Fall gegen Bernhardi stellen würde. „Aber abgesehen davon, erlaube ich mir, dich wieder einmal darauf aufmerksam zu machen, daß ich Deutscher bin, geradeso wie du. Und ich versichere dich, wenn sich einer von meiner Abstammung heutzutage als Deutscher und Christ bekennt, so gehört dazu ein größerer Mut, als wenn er das bleibt, als was er auf die Welt gekommen ist. Als Zionist hätt ich's leichter gehabt."121 Als Ebenwald begeistert vom berüchtigten Waidhofener Beschluß des Jahres 1896 spricht, der es deutschen Studenten verbot, Juden als Angehörigen einer „,minderwertigen Rasse' Satisfaktion zu geben", zeigt Schreimann auf seine eigene Narbe, die aus einem Duell mit einem Studenten einer deutschen Burschenschaft stammt. „Ist doch manchmal nicht anders gegangen trotz der strengsten Observanz. Den Schmiß da hab ich noch als Jud gekriegt." Ebenwald antwortet: „Na, leben wir nicht in einem konfusen Land? Auf deinen jüdischen Schmiß bist du heut noch stolzer als auf dein ganzes Deutschtum."122 Schreimann ist nicht der einzige Konvertit an der Klinik, der sich gegen Bernhardi

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stellt. Der halbjüdische Dr. Adler, Dozent für pathologische Anatomie, stammt mütterlicherseits aus einer alten Wiener bürgerlichen Familie, steht ebenfalls in Ebenwalds Lager, auch wenn er in seiner Studentenzeit sogar Gelegenheit gehabt hat, „für die andere Hälfte zu bluten".125 Dr. Goldenthal, Bernhardis Anwalt, ist ebenfalls ein Konvertit, der ihn nicht entsprechend verteidigt, aus Furcht, es könnten Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Konversion aufkommen. Im vierten Akt des Stückes fragt er Bernhardi spitz, wie er sich vorstellen könne, „daß ein Diener der Kirche jemals wissentlich eine Unwahrheit aussprechen würde" und verteidigt die „von mancher Seite so sehr verlästerten Kleriker" als „Männer von geistiger Bedeutung, ja sogar, wie es sich heute wieder gezeigt hat, tapfere und edle Menschen .. ," 124 Ihm wirft der nichtjüdische Professor Pflugfelder, ein altes liberales „Schlachtroß" des Jahres 1848 und Befürworter Bernhardis, scharf vor: „Denn wenn man Ihnen zugehört hat, Herr Doktor, mußte man ja wirklich glauben, daß sämtliche religiösen Gefühle der katholischen Welt, von denen Seiner Heiligkeit des Papstes an, bis zu denen des Betbruders im entlegensten Dorf, durch Bernhardis Vorgehen gegen den Pfarrer aufs tiefste verletzt worden seien. Und statt einfach zu erklären, daß jeder Arzt so handeln müßte wie Bernhardi tat... haben Sie es für nötig gefunden, als einen Akt der Unbesonnenheit zu entschuldigen, was einfach seine ärztliche Pflicht gewesen ist. Die böswilligen Idioten auf der Geschworenenbank, die vom ersten Augenblick an entschlossen waren, Bernhardi schuldig zu sprechen, haben Sie behandelt wie die erlesensten Köpfe der Nation - und die Richter, die die Kerkerstrafe für Bernhardi sozusagen in der Aktentasche mitgebracht hatten, als Musterbilder von Scharfsinn und Gerechtigkeit... Und Sie haben sich nicht anders gebärdet, als glaubten Sie, Sie Herr Doktor Goldenthal, im Innersten Ihrer Seele selbst an die Unerläßlichkeit und Kraft jenes Sakramentes, gegen das sich Bernhardi angeblich vergangen, und ließen durchblicken, daß unser Freund Bernhardi im Grunde doch sehr unrecht täte, nicht daran zu glauben."123

Gegen Ende des Stückes besucht Franz Reder, jener Priester der Kirche St. Florian, den Dr. Bernhardi daran gehindert hat, das sterbende Mädchen im Krankensaal zu sehen, den Arzt, und es kommt zu einem offenen Gespräch. Der Priester erklärt, daß er aus seiner Verpflichtung gegenüber der katholischen Kirche vor Gericht gegen Bernhardi ausgesagt habe.126 Im Verlauf ihres zunehmend gespannten Gesprächs beschuldigt er den Arzt der Arroganz und „Feindseligkeit, jene unbezwinglich tiefe, die Männer Ihrer Art gegen meinesgleichen nun einmal nicht überwinden können". 127 Für Bernhardi ist „Feindseligkeit" jedoch ein „zu armes und kleines Wort" für das, „was uns trennt, und wahrscheinlich für alle Zeit trennen muß" - „Es ist von etwas höherer Art... und - von hoffnungsloserer."128 Bernhardis moralische Haltung in dem Stück ist in erster Linie die des Arztes und

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Wissenschaftlers. Sein Beruf ist es, Kranke zu heilen und damit der Menschheit und der Wissenschaft zu dienen. Es ist nur insofern ein Bilderstürmer, als er verteidigt, was er für die selbstverständlichen Werte der Wahrheit, des unabhängigen Urteils und der humanistischen Ethik hält. Nichts hegt ihm ferner als der Wunsch, irgendein soziales Problem zu lösen.129 Daher weigert er sich auch, zum Spielball der Politiker zu werden, und beugt sich dem Druck Ebenwalds und später des Erziehungsministers nicht, als Entschuldigung für sein Verhalten gegenüber dem Priester einen Nichtjuden in die Belegschaft aufzunehmen. Aus demselben Grund weigert er sich auch, sich dem Kampf seiner Anhänger gegen Klerikalismus und Antisemitismus anzuschließen.130 Die Abneigung gegenüber politischer Militanz ganz allgemein, aber auch als spezifische Antwort auf antijüdische Intrigen, war durchaus kennzeichnend für Schnitzlers eigene Haltung. Als Stück spricht Professor Bernhardt trotz, des apolitischen Charakters für ein tiefes Bewußtsein der widersprüchlichen ideologischen Strömungen, die die österreichische Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unterwanderten. Das Drama legt geschickt die religiöse, soziale und politische Dimension des Antisemitismus offen, der die Gesellschaft durchdrang, auch wenn sich die Handlung strikt auf die enge Welt des Elisabethinum-Spitals beschränkt. Die Rivalitäten und Eifersüchteleien im ärztlichen Berufsstand, die es zum Thema hat, stehen in untrennbarem Zusammenhang mit dem antijüdischen Meinungsklima, das sich über einen Zeitraum von 50 Jahren entwickelt hat, wie Schnitzler aus eigener Erfahrung sowie aus der Erfahrung seines Vaters nur allzu gut wußte. Ein Großteil des Materials für das Stück kann als autobiographisch identifiziert werden und geht auf den „Kampf des Professorenkollegiums und der praktischen Ärzte gegen die von meinem [Schnitzlers] Vater und einigen andern jüngeren Dozenten ins Leben gerufene Poliklinik" zurück.131 In seiner Autobiographie schreibt Schnitzler recht ausführlich von der zentralen Rolle, die diese Poliklinik im Leben seines Vaters spielte, und dem skrupellosen Feldzug, der in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts nach dem Wiener Börsenkrach gegen diese Einrichtung entfesselt worden war.152 Selbst nach dem Abflauen der ersten Verleumdungskampagne mußte Johann Schnitzler nicht nur die berufliche Eifersucht weniger erfolgreicher Ärzte und die mißtrauische Angst der einfacheren Gemüter abwehren, sondern auch gegen „kleinliche, erbärmliche Intrigen, die im Professorenkollegium selbst ausgeheckt worden waren" ankämpfen.133 Die „erbeingesessen Herren" an der Universität hatten in der florierenden Klinik seines Vaters und der zunehmenden Berühmtheit ihrer Dozenten einen gefährlichen Rivalen gesehen.134 1886 fühlte sich Johann Schnitzler zu einer scharfen Klarstellung in der Medizinischen Presse veranlaßt, in der er „von dem Geist der Unduldsamkeit" spricht, „der auch an der medizinischen Fakultät immer weiter um sich greife" und eine Atmosphäre schaffe, die mit einem Gutteil von Antisemitismus vermischt war.

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Innerhalb weniger Jahre erfaßte der Geist der Intoleranz auch die Poliklinik selbst (wo jüdische Ärzte wie im Elisabethinum in Schnitzlers Stück in der Mehrheit waren) und begann sich trotz seines hervorragenden ärztlichen Rufes und seiner Popularität als Konsiliarius in den reichsten bürgerlichen Kreisen auf die Karriere seines Vaters auszuwirken. „Ein Teil seiner Klientel, besonders aus den ,höheren Kreisen', sollte sich wohl in den nächsten Jahren verlieren", erinnert sich Schnitzler, „und auch der Glanz seines Namens trübte sich um ein weniges."135 Dies war nicht nur auf sein Alter und das Nachdrängen jüngerer, erfolgreicherer Spezialärzte zurückzuführen, sondern auch auf „das Uberhandnehmen jener Strömungen", die ohne Unterlaß selbst die höchsten Ränge der medizinischen Welt unterwanderten. 136 Die Handlung des Professor Bernhardt arbeitet nicht nur diese ernüchternden persönlichen und familiären Erfahrungen heraus, sondern auch die politische Gehässigkeit, die unmittelbar unter der dünnen Schicht der Wiener Fröhlichkeit und Gemütlichkeit lag. Das Drama spielt sich nicht nur im Kontext der christlich-sozialen Verwaltung Wiens ab, sondern auch vor dem Hintergrund einer anhaltend feindlichen antisemitischen Presse und eines Parlaments, das von schamloser Demagogie korrumpiert wird. In dem herrschenden Meinungsklima konnte der Vorfall, der die Affäre Bernhardi ausgelöst hatte, von den klerikalen und antisemitischen Parteien nur allzu leicht ins Ungeheuerliche verzerrt werden. 137 In Schnitzlers Stück bezieht sich die parlamentarische Anfrage, die von der klerikalen Fraktion eingebracht wird, ausdrücklich auf Bernhardis „mosaische Konfession" und beeinhaltet auch die Frage, welche Maßnahmen der Erziehungsminister zu ergreifen gedenke, „um den durch diesen Vorfall aufs schwerste verletzten religiösen Gefühlen der christlichen Bevölkerung Wiens Genugtuung zu verschaffen".158 In der Interpellation wird es weiters fur ratsam gehalten, „künftighin bei Besetzung öffentlicher Stellen ein für allemal von Persönlichkeiten abzusehen, die durch Abstammung, Erziehung und Charaktereigenschaften nicht in der Lage sind, den religiösen Gefühlen der angestammten christlichen Bevölkerung das nötige Verständnis entgegenzubringen".139 So war die Kampagne gegen Bernhardi tatsächlich Teil der christlich-sozialen Propaganda gegen das Wiener Judentum, derzufolge die Verjudung des ärztlichen Berufsstandes eine besondere Schmach darstellte. Ohne Unterlaß wurden jüdische Ärzte von Antisemiten des unfairen Wettbewerbs, immoralischer Praktiken, ja sogar „krimineller" Experimente an ihren christlichen Patienten beschuldigt.140 Schnitzler war dieser gemeine Antisemitismus seit seiner Zeit als Medizinstudent bestens vertraut, und er hatte - wie er in einem ärgerlichen Ausbruch gegenüber Olga Waissnix am 29. März 1897 einbekannte - „... ein so starkes Rachebedürfnis gegenüber diesem Gesindel, daß ich sie mit Ruhe persönlich hängen würde." 141 Am 12. Jänner 1899 schrieb er seinem Freund Georg Brandes, dem bekannten dänischen Literaturhistoriker, und fragte ihn, ob er je Wiener Zeitungen las oder die Par-

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laments- und Gemeinderatsbereichte verfolgte. „Es ist staunenswerth unter was für Schweinen wir hier leben; - und ich denke immer, daß der Antisemitismus - von allem anderen abgesehen - , jedenfalls die sonderbare Kraft hat, die verborgensten Gemeinheiten der menschlichen Natur zu Tage zu fördern und sie aufs höchste auszubilden."142 In einem früheren Brief an Brandes vom 27. März 1898 hatte Schnitzler bereits von „unglaublichen" Denunziationen in der lokalen antisemitischen Presse über sein neues Stück Freiwild berichtet.143 Von den Wiener Antisemiten unaufhörlich als kleiner, schäbiger jüdischer Literat, als mieser Pornograph und skandalöser Immoralist verleumdet, hatte Schnitzler allen Grund, verärgert zu sein.144 Sein Erfolg beim gebildeten Theaterpublikum der Hauptstadt, dessen Krönung die Verleihung des Grillparzerpreises im Jahr 1908 war, führte nur zu einem neuen Crescendo der antisemitischen Angriffe auf diesen „Sohn eines eingewanderten ungarischen Juden, der zufällig in Wien geboren wurde". 145 Diese anhaltende Kampagne überzeugte Schnitzler (der bereits 1899 mit der Arbeit an Professor Bernhardt begonnen hatte) zweifelos davon, daß die Zeit nun gekommen war, den Wiener Antisemitismus in einem ernstzunehmenden Drama zu behandeln, in das er seine eigenen medizinischen Erfahrungen und die seines engsten Kreises voll einfließen lassen wollte. So ist es kein Zufall, daß Professor Bernhardi mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit Schnitzlers Vater aufWeist und die Intrigen am Elisabethinum an eben jene Auseinandersetzungen erinnern, die eine Generation zuvor an Johann Schnitzlers Poliklinik stattfanden. Romanfiguren wie Professor Cyprian, Oskar Bernhardi (der dem jungen Schnitzler ähnelt) und der antisemitische Tiroler Medizinstudent Hochroitzpointner sind leicht in Personen des realen Lebens wiederzuerkennen. m Die Auswirkungen des Waidhofener Beschlusses (1896) und des fanatischen Deutschnationalismus in Medizinerkreisen sind ein wichtiger Teil des sozialen Hintergrunds des Stückes. In gleicher Weise spiegeln die Konflikte zwischen dem weltlichen Humanismus und den katholischen Werten, zwischen Wissenschaft und Religion, wie sie in dem Stück geschildert werden, die Atmosphäre des Kulturkampfes wider, der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrunderts in Österreich tobte.147 Schnitzler verwob all diese Themen rund um die zentrale soziale Frage der feindseligen Beziehungen zwischen einem christlichen Staat und seiner jüdischen Minderheit, wodurch es ihm gelang, einen bemerkenswerten Mikrokosmos für jene Krise zu schaffen, die Wien und seine Juden gegen Ende der Habsburgermonarchie durchlebten.148 Bezeichnenderweise wurde Professor Bernhardi für zu subversiv und für öffentliche österreichische Einrichtungen für zu herabwürdigend empfunden, um vor 1918 in Wien aufgeführt zu werden. 140 Sogar der berühmte Berliner Kritiker und Impressario Otto Brahm, ein enger persönlicher Freund Schnitzlers, weigerte sich, das Stück in seinem Theater aufzuführen. Die Personenbeschreibungen und Dialoge

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gefielen ihm zwar, die aufrichtige und schonungslose Behandlung der „Judenfrage" in diesem Stück brachte ihn aber offensichtlich in Verlegenheit. In seinem Brief an Schnitzler meinte er vordergründig, daß „das Milieu zu fremdartig, für norddeutsche Hörer zu schwer eingängig und befremdend [sei]. Die Berliner jüdischen Arzte seien nicht verfolgt, im Gegenteil, sie dominieren. Auch sei die Umwelt nicht katholisch, sondern protestantisch."150 Professor Bernhardi illustriert, wie Schnitzlers beste literarische Arbeiten, die tiefe moraüsche Ernsthaftigkeit und den psychologischen Scharfsinn hinter der feinen, Urbanen Ironie und der täuschenden Leichtigkeit dieses Wiener Autors. Er verband typisch österreichische ästhetische Elemente mit der klinischen Präzision eines „betont jüdischen Intellekts", wodurch es ihm besser als jedem anderen seiner Zeitgenossen gelang, die widersprüchlichen Wertorientierungen einer langsam auseinanderdriftenden Gesellschaft einzufangen.151 Trotz des allmählichen Abgleitens des Austroliberalismus in Passivität, Skeptizismus und Weltschmerz klammerte er sich hartnäckig an die kosmopolitischen Werte der klassischen deutschen Aufklärung. Ohne sich Illusionen über die Eigenheiten und Schwächen seiner eigenen Klasse oder der österreichischen Gesellschaft insgesamt zu machen, suchte er das beste dieser Welt vor den Zerstörungen der politischen Demagogie und der religiösen Intoleranz zu retten: die Integrität des einzelnen, die Achtung vor der Vernunft und der freien Entscheidung.152 Trotz all seiner Indifferenz gegenüber dem Judentum als Religion sowie gegenüber jeglicher Form der Gruppenidentifikation blieb Schnitzler, wie Freud, ein trotziger Jude, sich selbst zutiefst bewußt, was er diesem Hintergrund und Erbe verdankte. Obwohl der Antisemitismus ihm sein Leben vergällte, versuchte er dessen Manifestationen mit derselben Unparteilichkeit und Objektivität zu untersuchen, wie er sie all seinen Uterarischen Schöpfungen entgegenbrachte. Aufgewachsen im Osterreich des Fin de Siecle, war dies eine Aufgabe, die bisweilen über das selbstkritische, diagnostische Talent dieses geborenen Skeptikers hinausging. Angewidert von der österreichischen Politik und im allgemeinen gleichgültig gegenüber sozialen Problemen, lag Schnitzlers höchste Begabung als Künstler in der scharfsinnigen psychologischen Beobachtung. Kein anderer österreichischer Schriftsteller vermochte wie er die psychische Struktur des Wiener jüdischen Bürgertums, aus dem er kam und dessen Identitätskrise sein Werk so getreu beschrieb, mit derselben unbeirrbaren analytischen Präzision zu sezieren. Schnitzlers jüdische Figuren zeugen von der Stimmung dieser Klasse, ihrem Skeptizismus, Selbstzweifel und Pessimismus in einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus. Schnitzler glaubte nicht an eine universelle Lösung oder an ein Allheilmittel für die Judenfrage. Weder die Assimilation noch der Zionismus, der Sozialismus, eine Konversion oder der Selbsthaß würden den Tag näherbringen, an dem die Juden ohne Angst vor Verfolgung frei atmen könn-

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ten. Der Weg ins Freie war in einer österreichischen Gesellschaft, die die individuellen Bedürfhisse ihrer Mitglieder verzerrte, deformierte und unterdrückte, abgeschnitten worden. Sicherheit war nirgends in Sicht, aber in der tiefgehenden Kenntnis des Ich lag vielleicht der Anfang der Weisheit.

18. Kaiserlicher Schwanengesang: Von Stefan Zweig zu Joseph Roth Vorfahren, die irrend, den Staub aller Heerstraßen in Haar und Bart, zerfetzt, bespien mit aller Schmach, wanderten; alle gegen sie, von den Niedrigsten noch verworfen - aber nie sich selbst verwerfend [...] Und hinter ihnen aUen ein Volk, um Gnaden nicht bettelnd, im Kampf den Segen seines Gottes sich erringend; durch Meere wandernd, von Wüsten nicht aufgehalten, und immer vom Fühlen des gerechten Gottes so durchströmt wie vom Blut in ihren Adern f...] Und von ihrem Blute war auch er. Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs (1900) Wandervolk, Leidvolk - im heiligen Namen Jakobs, der von Gott einst dir Segen entrang Hebe dich auf, in die Welt zu fahren, Rüste und schreite unendlicher Gang! Wirfdeinen Samen Willig ins Dunkel der Völker und Jahre, Wandre dein Wandern und leide dein Leid! Auf, du Gottesvolk! Beginn deine wunderbare Heimkehr durch Welt und Ewigkeit. Stefan Zweig, Jeremias (1916) Aber in der Wüste seid ihr unüberwindlich und werdet das Ziel erreichen: Vereinigt mit Gott. Arnold Schönberg, Moses undAron, Textbuch (1926) Seine Wahrheftigkeit sagte ihm, da/3 seine Skepsis derjüdischen Religion gegenüber und seine Taufe keineswegs sein Judentum vergessen machen könnten. Dies wollte er auch nicht. Andererseits bat er mich immer wieder, ihm zu sagen, warm er zu stark gestikuliere, weil er dies als unkultiviert an anderen haßte ...Er war christgläubig. Er war JudenChrist und hatte es schwer. Alma Mahler, Erinnungen an Gustav Mahler (1940) In der Tat, zwar nicht als Jude - obschon er als erster Hofmannsthal nach drei Generationen wieder einejüdische Ehe eingeht -, wohl aber als Künstler und mit dem Adelsanspruch des Künstlers stellt sich Hugo v. Hof mannsthal aufo neue der Assimilationsaufgabe. Dem Geist des Urgroßvaters, verkörpert in dem mystisch nachwirkenden Bild der Gesetzestafeln im Familienwappen, wurde solcherart eine glänzende nachträgliche Abbitte geleistet, wenn es auch nicht geradejener Glanz war, den erfür seine Kindeskinder erträumt haben mochte. Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit (1947)

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DAS ILLUSIONÄRE G E F Ü H L DES WOHLSTANDS UND DER S I C H E R H E I T ,

WELCHES

das mitteleuropäische Bürgertum in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg empfand, wurde nur selten lebendiger wiedergegeben als von dem in Wien geborenen Juden Stefan Zweig (1881-1942). Die Beschreibung des Habsburgerreiches, mit der seine Autobiographie beginnt, ist schon lange zu einer klassischen Heraufbeschwörung des „Goldenen Zeitalters" geworden, die durch die offenkundige Idealisierung und das Gefühl einer nostalgischen Wunscherfüllung umso ergreifender ist. „Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewählte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht."1

Wohlhabende Familien konnten gelassen in die Zukunft bücken. Beamte und Offizier wußten, wann sie befördert und wann sie pensioniert werden würden. Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für seine Kinder und Kindeskinder; Güter und Geschäfte wurden von einer Generation auf die nächste vererbt. „Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft."2

Diese Zweigsche Nostalgie nach der Vorkriegswelt der Stabilität und Vernunft wurde von zahlreichen anderen österreichischen Schriftstellern geteilt, einige von ihnen jüdischer Herkunft, wie der in Galizien geborene Joseph Roth (1894-1939). Nach dem Zusammenbruch der Monarchie konstruierten sie einen Nach-1918-Mythos der habsburgischen Wohltaten, eine literarische Fiktion, die ihre verständliche Entfremdung von den erbarmungsloseren Zügen des Lebens im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit widerspiegelte.3 Keineswegs alle diese Autoren teilten Zweigs Ansicht über das 19. Jahrhundert als dem „geraden und unfehlbaren Weg zur ,besten aller Welten'".4 Wie wir gesehen haben, hatten einige jüdische Intellektuelle wie Karl Kraus schon lange vor 1914 die positivistische Religion des Fortschritts auf Grundlage der Entwicklungen auf den Gebieten der materiellen Produktion, der Wissenschaft und der Technologie auf das schärfste abgelehnt. Liberale Humanisten wie Freud und Schnitzler waren sich allzu tief bewußt, daß unter dieser dünnen Schicht der bürgerlichen Kultur mächtige und

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destruktive Kräfte der trieblichen „Unterwelt" auf ihren Ausbruch warteten. Sogar Zweig selbst anerkannte klar den „voreiligen Optimismus" von „uns grausam Belehrten", die wir naiv an einen „raschen und andauernden Aufstieg der Humanität" geglaubt hatten.5 Einer der eingehendsten Kritiker dieses Mythos des liberalen Fortschritts war der Wiener jüdische Dichter Hermann Broch (1886-1951), ein metaphysisch-platonischer Denker, beeinflußt von Otto Weininger, der selbst 1908 zum Christentum übergetreten war.6 Broch, der den doppeldeutigen Ausspruch „die fröhliche Apokalypse" geprägt hat, um das zu charakterisieren, was Zweig lieber als „Goldenes Zeitalter der Sicherheit" bezeichnete, sah das Wien des Fin de Steele als europäische Hauptstadt des Kitsches und als Metropole par excellence des „Wertvakuums" in der modernen Kultur.7 Wie der Dichter Robert Musil, jener andere scharfsinnige Entmystifizierer der kaiserlich-königlichen Mythen,8 unterstrich Broch den selbsttäuschenden Charakter des Lebens in der habsburgischen Metropole; das Fehlen einer ethischen Substanz, den künstlichen Charakter einer pseudokonstitutionellen Struktur, die letztlich durch die Mystik der Krone zusammengehalten wurde, und den bürokratischen Lebensstil, der durch den alternden Kaiser Franz Joseph I. verkörpert wurde.9 Für Hermann Broch war das Wien nach 1880 mit seiner hedonistischen Ästhetik, seinem skeptischen Pessimismus und seinem provinziellen, nicht-revolutionären Ethos in eine museumsgleiche Traumstadt verwandelt worden, die von einer politischen Lähmung erfaßt war.10 Trotz seiner äußerlich imponierenden bürokratischen Maschinerie und des soliden dynastischen Patriotismus des Wiener Bürgertums, war dies im Grunde eine „staatenlose Gesellschaft", hoffnungslos aufgesplittert in einzelne unwiderspriichliche Elemente, die nur durch eine in höchstem Maße trügerische „Stil-Demokratie" vereint wurde, die ziellose Hingabe an das Vergnügen und einen eklektischen Kult des Dekors.11 In seiner Studie über die Person und das Werk des hervorstechendsten lyrischen Dramatikers des habsburgischen Österreich, Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), versuchte Broch eine der edelsten, wenn auch letztlich gescheiterten Bemühungen darzustellen, dieses mitteleuropäische „Wertvakuum" zu überwinden. Hugo von Hofmannsthal war der Urenkel eines der Gründer und Leiter der Wiener jüdischen Gemeinde um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert, Isaak Loew Hofmann (1759-1849).12 Aus einer armen böhmischen Einwandererfamilie stammend, erhielt Isaak Loew Hofmann 1788 die Erlaubnis, sich als Großhandelskaufmann in Wien anzusiedeln. Zehn Jahre später hatte er in Osterreich die Seidenmanufaktur eingeführt und das Land damit von italienischen Importen unabhängig gemacht.13 Loew Hoffmann hatte auch seinen Anteil an der Entwicklung der österreichischen Pottasche-Industrie. 1855 wurde er von Kaiser Ferdinand I. geadelt und erhielt das Prädikat Edler von Hofmannsthal. Sein Wappen zeigt den Dekalog

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sowie eine Seidenarbeit, ein Maulbeerbaumblatt und eine Almosenbüchse. Sehr aktiv in der jüdischen Gemeinde, war dieser geadelte Philanthrop einer der Gründer des Wiener „Tempels", wobei er in religiösen Belangen im allgemeinen die orthodox· konservative Sicht unterstützte.14 Sein Sohn August Emil von Hofmann heiratete 1839 Petronella von Rho (eine italienische Katholikin aus einer Mailänder Patrizierfamilie), und ihre Kinder wurden im katholischen Glauben sowie im gesellschaftlichen Milieu der österreichischen niederen Adels erzogen. Der Vater des Dichters, der, wie schon erwähnt, von einem jüdischen Vater und einer katholischen Mutter abstammte, der Rechtsanwalt und Bankdirektor Dr. Hugo Hofmann von Hofmannsthal (1841-1915), heiratete ebenfalls eine Katholikin aus einem österreichisch-schwäbischen Bauerngeschlecht. Nachdem sein Vater beim Wiener Börsenkrach des Jahres 1875 den Großteil des Familienvermögens verloren hatte, nahm er den bescheideneren Lebensstil eines bürgerlichen Patriziers an, der dem Reich loyal gegenüberstand und sich an den klassischen österreichischen Werten der schöngeistigen Bildung orientierte.15 Dank der innigen Zuneigung des Vaters wuchs Hugo von Hofmannsthal in einem familiären Umfeld auf, das für die individuelle Arbeit an sich selbst und die Entwicklung seines sich schon früh manifestierenden literarischen Talents äußerst forderlich war. Obwohl Hofmannsthal seine jüdischen Vorfahren nie ausdrücklich leugnete, zeugen seine vagen Hinweise auf diese, sei es in Gedichten oder in Dramen, von einem gewissen Unbehagen. Hermann Broch brachte dieses Unbehagen mit dem eigenartigen „inneren Antisemitismus" des assimilierten Judentums in Verbindung, der durch die Identifizierung mit dem kollektiven Narzißmus der herrschenden Klassen und der quälenden Erinnerung an fern zurückliegende Erniedrigungen hervorgerufen wurde.16 So war Hofmannsthal als junger Reserveoffizier, als der er 1896 in dem bitterarmen jüdischen Dorf Tlumacz in Galizien seinen Dienst versah, von dem ihn umgebenden Gestank und Elend ehrlich entsetzt. In einen Brief an seinen Vater vom 5. Mai 1896 beklagte er sich bitter über seine Unterkunft: „Ein stinkender Schuppen voller stinkender Juden und stinkender kleiner Pferde ... Ich spreche nie mit jemandem, rufe nur bei der Tür hinaus, wenn ich etwas ,brooche' ... einen an Schwefelgeist addressierten Brief würde er mir im Kaftan aufgeben, bis er vor Fett und Schmutz unberührbar wäre."17 Selbst in einigen seiner besten literarischen Werke, darunter auch in der nach dem Krieg erschienenen Tragödie Der Turm, in welcher der konvertierte Jude Simon vorkommt, der in einem karikierten jiddischen Dialekt spricht, finden wir konventionelle antijüdische Stereotypen, die Juden mit Geld in Verbindung bringen.18 Die Schilderung jüdischer Nebencharaktere in einigen Dramen Hofmannsthals, die vor dem Krieg erschienen, wie Das gerettete Venedig, weist dieselbe Tendenz auf, simple christliche Stereotypen über die jüdischen Berufe, Manieren und sprachlichen Besonderheiten zu übernehmen. Trotz Hofmannsthals

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Sorge und Mitgefühl für die Armen im allgemeinen, zeigte er keinerlei Sympathie für die spezifische Art des jüdischen Elends oder auch nicht das geringste Interesse an radikalen Bewegungen wie dem Sozialismus oder dem Zionismus, die nach konkreten Lösungen für die Probleme des Judentums suchten. Obwohl er mit Herzl (der sein dichterisches Talent stets gefordert hatte) in Briefkontakt stand, wies er nie auf dessen Engagement in der zionistischen Bewegung hin, nicht einmal in dem Kondolenzschreiben an die Neue Freie Presse anläßlich Herzls frühzeitigen Todes. 19 Noch bezeichnender ist, daß Hofmannsthal in seiner sehr umfangreichen Korrespondenz mit zwei seiner engsten literarischen Freunde, Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann (1866-1945), jegliche Diskussion der „Judenfrage" soweit als möglich vermied. Schnitzlers Der Weg ins Freie bot eine offenkundige Gelegenheit, sich zu diesem kritischen Problem in der österreichischen Gesellschaft zu äußern, umso mehr, als sein Freund ihn dringend um seine Meinung gebeten hatte, die er aber nicht kundtat. 20 Die freimütige und ausführliche Behandlung des Antisemitismus in Schnitzlers Roman verwirrte Hofmannsthal offensichtlich ebenso wie seinen literarischen Freund Leopold von Andrian, der zum Teil ebenfalls jüdische Vorfahren hatte. 21 Gleiches gilt für die zunehmende Geltendmachung jüdisch nationaler Rechte und die religiösen Motive im Werk von Richard Beer-Hofmann nach 1900, vor allem da letzterer lange Zeit hindurch eine Art ästhetisches Rollenvorbild für den jungen Dichter gewesen war.22 Beer-Hofmanns biblisches Stück Jaakobs Traum veranlaßte Hofmannsthal schließlich, seinen Freund im April 1919 vorzuwerfen: „In der Erinnerung wird mir der eine Zug, der mir fremd daran ist, der chauvinistische oder national-stolze - worin ich, wie im Dünkel und in der Selbstgerechtigkeit des einzelnen, nicht anders kann als die Wurzel alles Bösen sehen - weit fühlbarer und verstört mich beinahe wie ein fremder und böser Zug in einem sonst heben und schönen Gesicht." 23 Einen Monat später schrieb er in einem anderen Brief vom Mai 1919 entschuldigend, die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hätten ihn übersensibel für die geringste Heraufbeschwörung des Chauvinismus und des Nationalstolzes gemacht. 24 Erst 1924 schien Hofmannsthal diese negativen Gefühle überwunden zu haben und gestand zu, daß Beer-Hofmann Gott wie Dostojewski durch die Rückkehr zu seinem eigenen Volk gefunden haben mochte.25 Die Kluft zwischen dem aristokratischen, kosmopolitischen Osterreichertum Hofmannsthals und dem intensiv jüdischen ethnischen Stolz Beer-Hofmanns (dessen häufiger Verwendung des Motivs des auserwählten Volkes mehr eine symbolische als eine politisch-nationalistische Absicht zugrundelag) spiegelte eine im Wiener Leben bekannte Spannung wider. Nicht nur die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, sondern auch zwischen voll assimilierten Juden und solchen, die sich immer noch einen gewissen Grad an Partikularismus bewahrten, oder zwischen religiösen und abtrünnigen Juden, konnten letztlich einer Verzerrung und Entstellung nicht entgehen.26

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Hofmannsthals offenkundiges Unbehagen in bezug auf seine jüdischen Vorfahren war nicht untypisch für viele berühmte Wiener Kulturschaffende, die zum Christentum konvertiert waren. Gustav Mahler (1860-1911), zehn Jahre lang Direktor der Hofoper in Wien und vielleicht der letzte große Symphoniker des 19. Jahrhunderts, war ein solcher Fall. Mahler stammte aus einer verarmten kleinbürgerlichen jüdischen Familie aus Südböhmen, die von einem harten, unbarmherzigen Vater beherrscht wurde, der ständig mit der ihr Leid geduldig ertragenden Mutter stritt, für die Mahler eine innige Zuneigung empfand.27 In einem privaten Gespräch mit Sigmund Freud im Jahre 1910 erzählte er, daß er als junges Kind einmal während eines besonders heftigen Streites seiner Eltern aus dem Hause gestürmt und auf der Straße einem Leierkastenmann begegnet sei, aus dessen Kasten das Wiener Volkslied Oh, Du lieber Augustin erklang.28 Diese Episode mit ihrer Verbindung von persönlicher Tragödie und leichter Unterhaltung, tiefer Emotion und bloßer Trivialität scheint einen mächtigen Eindruck in seinem Inneren hinterlassen zu haben und wurde vielleicht zu einem prägenden Stempel für seinen musikalischen Stil - jene einzigartige und kühne Mischung erhabener und prosaischer Elemente. Mahlers ärmlicher, provinzieller Hintergrund und die antijüdische Feindseligkeit, der er seit seiner Kindheit begegnet war, machten seinen Wunsch umso zwanghafter und intensiver, dank seiner glänzenden musikalischen Begabung in die kreative Welt der Hochkultur zu flüchten. 1875 wurde er von seinem Vater an das Wiener Konservatorium geschickt, drei Jahre später legte er sein Diplom ab, und 1880 begann er seine aufsehenerregende Karriere als Dirigent.29 In diesen Entwicklungsjahren wurde Mahler zu einem engen persönlichen Freund des Sozialisten Victor Adler, damals noch ein glühender Deutschnationaler, der seine musikalische Entwicklung wärmstens befürwortete.30 Als ebenso glühender Wagnerianer wie Adler wurde Mahler vor allem von der Vision des deutschen Komponisten beeinflußt, daß der musikalische Künstler als Dichter-Priester seiner Generation eine erlösende Rolle spiele.31 Nichtsdestoweniger konnte er sich wie Adler nur schwer mit dem völkischen Nationalismus der Wagnerianer oder mit dem verwerflichen Antisemitismus identifizieren, der zunehmend den Wagner-Kult begleitete.32 Es war kein Zufall, daß die von Rassedünkeln geplagte Cosima Wagner (die er einmal verehrt hatte) in der Folge seine Bestellung zum Direktor der Wiener Hofoper im Jahre 1897 zu verhindern suchte, eine Position, die tatsächlich seine Konversion erforderlich machte.33 Obwohl Mahler sich zunächst nur aus Gründen der Karriere taufen ließ, fühlte er sich vom katholischen Mystizismus sowie dessen religiösen und ästhetischen Komponenten stark angezogen.34 Die christliche Religiosität veranlaßte Mahler nicht, seine jüdische Herkunft zu verleugnen, obwohl er sich dem Judentum schon lange entfremdet fühlte und auch weiterhin durch jüdische Witze sowie durch „ungebildetes" jüdisches Gehabe oder ungehobeltes Gestikulieren in Verlegenheit gebracht

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wurde.35 Aber auch die Konversion zum Christentum vermochte dieses Gefühl des Unbehagens und der Entfremdung nicht zu mildern, das viel tiefer saß als bei dem Patrizier Hofmannsthal. „Ich bin dreifach heimatlos", pflegte Mahler zu sagen, „als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Uberall ist man Eindringling, nirgends erwünscht."36 Gezwungen, das kulturelle Alldeutschtum seiner Jugend aufgrund des wachsenden Wiener Antisemitismus (unter dem er selbst am Höhepunkt seiner glänzenden Karriere stark zu leiden hatte) aufzugeben, vermochte Mahler sein Gefühl der Heimatlosigkeit nie ganz zu überwinden. Umgekehrt verliehen die vielfachen Elemente seines Hintergrundes - ob slawisch, jüdisch, deutsch oder katholisch - seiner Musik eine universelle, kosmopolitische und entschieden „österreichische" Note, die Erinnerungen an Hofmannsthals Dichtung und Dramatik aufkommen läßt.37 Mahlers außerordentliche Fähigkeit, verschiedene musikalische Traditionen - von der Wiener Klassik und der deutschen Romantik bis zu österreichischen, slawischen und jüdischen Volksmelodien - zu verschmelzen, war vielleicht ein Zeugnis für seine rastlose Suche nach einer universell gültigen Ausdrucksweise. Gleichzeitig gab es eine auflehnende, subversive Seite in Mahlers Kunst, die ihn in Opposition zur vorherrschenden musikalischen Ideologie der deutschen Romantik stellte. Indem er in seine ersten Lieder und Symphonien bizarre, volkstümliche, ja burleske Elemente einbaute, schien er gegen die selbstzufriedene Übersättigung des deutschen bürgerlichen Philistertums des 19. Jahrhunderts zu protestieren, das Musik in eine Art Ersatzreligion verwandelt hatte.38 Mahler hatte ja in seiner Kindheit Armut, Entbehrung und Diskriminierung kennengelernt. Er war aus erster Hand Zeuge der Entbehrungen des tschechischen Proletariats gewesen. In frühen Jahren hatte er auch die Volkslieder und die Militärmärsche seiner böhmischen Heimat in sich aufgesogen. Ironie, Pasticcio, schwarzer Humor, Sozialkritik und eine tiefe Sensibilität für Leid und Tod - alles Züge, die in gewisser Weise mit seinem jüdischen Erbe der Diaspora in Zusammenhang standen - waren in seinem künstlerischen Werk ebenso wichtig wie die dionysischen Vorstellungen von der Lebenskraft der Natur.39 Mahler, der sich des Bedürfnisses des Künstlers, den Weg zurück zur Identifikation mit der realen Welt und der gesamten Existenz zu finden, ebenso klar bewußt war wie Hofmannsthal, war von der Suche nach Tiefe und Wahrheit des Ausdrucks geradezu besessen.40 Dennoch findet sich im Gigantismus seiner letzten großen Symphonien eine erschütternde, ja hysterische Note des christlichen Triumphalismus, die als eine Art Überkompensation für vergangene Erniedrigungen und ein unbewältigtes Gefühl der Unsicherheit inteipretiert werden kann, das auf seine jüdische Herkunft zurückging.41 Mahlers quälende Suche nach der künstlerischen Wahrheit und der mystischen Transzendenz erfolgte in einer immer noch relativ sicheren Welt, allerdings in einer

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Welt, für deren verhängnisvolle Vorzeichen der sozialen Spannungen, des inneren Unbehagens und der Melancholie er äußerst sensibel war. Sein bedeutendster Schüler und Nachfolger, Arnold Schönberg (1874-1951), teilte Mahlers Ruhelosigkeit, sein Bedürfnis nach Sicherheit im Glauben und vielleicht noch heftiger seine Qual der sozialen Ablehnung als Komponist und als Jude. 42 In der Wiener Leopoldstadt als ältester Sohn von Samuel und Pauline Schönberg (geborene Nachod) geboren, kamen seine Eltern aus einem typisch armen, provinziellen, orthodoxen jüdischen Hintergrund. Sein Vater kam aus dem ungarisch beherrschten Preßburg nach Wien (seine traditionalistische Mutter entstammte einer Familie von Prager Handelsleuten und Schneidern) und hatte bald das orthodoxe Judentum seiner Jugend abgelegt. 1898 konvertierte Arnold Schönberg aus einer Mischung kulturell und karrieremäßig bedingter Motive, die u.a. in Zusammenhang mit seiner Bewunderung fur die norddeutsche Musiktradition standen, zum Luthertum. 43 Bereits in seiner expressionistischen Zeit vor 1914 war Schönberg ein kämpferischer, intellektueller Revolutionär, dessen musikalische Experimente den kompromißlos konservativen musikalischen Geschmack des Wiener Publikums erzürnten. 44 Schönbergs zentrale Neuerung in dieser Zeit war die Abkehr von der Tonalität, oder, wie er es nannte, die „Emanzipation der Dissonanz". 45 Zwischen 1908 und 1915 begann Schönberg in einer Reihe von Musiktexten schonungsloser und morbider Intensität, die einiges von der makabren, kontrollierten Hysterie des neuen Expressionismus atmeten, die etablierten Hierarchien der westlichen Musik niederzureißen. Ein leidenschaftlicher Wagnerianer wie sein Mentor Gustav Mahler, wurde Schönberg in diesen frühen Jahren in ähnlicher Weise zur deutschen Neoromantik, zu deren Glauben an die geheiligte Mission des Künstlers und deren Credo der mystischen Einheit von Mensch und Kosmos hingezogen. In Schönbergs Wiener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verlieh die „Emanzipation der Dissonanz" dieser romantischen Tradition jedoch eine schärfere, kritischere Note. Die Ablehnimg der Tonalität zerstörte nicht nur die harmonische Ordnung und Struktur, sie wurde mit einer neuen und schrecklichen Präzision zu einem bemerkenswert wirkungsvollen Mittel des musikalischen Ausdrucks für die Störungen der Psyche.46 In Werken wie Erwartung (1909) und Pierrot lunaire (1912) erforschte Schönberg aber nicht einfach „die dunklen Mächte" um einer umfassenderen psychologischen Ausdruckskraft willen. Er antwortete auch auf einen drängenden inneren moralischen Imperativ, eine übersättigte, selbsttrügerische Gesellschaft aus ihrer bürgerlichen Selbstzufriedenheit und ihrem sicheren Wohlstand wachzurütteln 47 Wie seine Wiener Kollegen - Hofmannsthal im Bereich des Dramas, Adolf Loos im Bereich der Architektur, Wittgenstein in der Philosophie und Karl Kraus in der Sprachkritik - griff Schönberg mit aller Entschlossenheit das Bollwerk des Wiener Asthetizismus an, indem er die Schönheit durch seine eigenen asketischen Auffassungen der mu-

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sikalischen Wahrheit ersetzte. Als Maler, Essayist, autodidaktischer Philosoph und Musiktheoretiker sowie als revolutionärer Komponist sah Schönberg sich selbst als denjenigen, der die letzten Grenzen der obsoleten Logik der Wiener bürgerlichen Ästhetik durchbrach. 48 Gleichzeitig betonte seine intellektuelle Revolution in der Musik, die auf jene Mahlers folgte, den Supremat der Integrität und Authentizität über die Erzeugung schöner Klänge. 48 Schönbergs zutiefst mystisches Temperament konnte sich auf lange Sicht gesehen mit der rein destruktiven Kulturkritik nicht zufriedengeben. Bereits im Dezember 1912 berichtete er Richard Dehmel, daß er seit langem schon ein Oratorium schreiben wollte, „das als Inhalt haben sollte: wie sich der Mensch von heute, der durch den Materialismus, Sozialismus, Anarchie durchgegangen ist, der Atheist war, aber sich doch ein Restchen alten Glaubens bewahrt hat (in Form von Aberglauben), wie dieser moderne Mensch mit Gott streitet (siehe auch , Jakob ringt' von Strindberg) und schließlich dazu gelangt, Gott zu finden und religiös zu werden". 50 Schönbergs Rückkehr zu einem prophetischen Judentum, die während seines Dienstes in der österreichischen Armee nach 1914 begann und sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkte, setzte diesen Gedanken fort, der in völligem Einklang mit seiner puritanischen Auflehnung gegen die Wiener Ästhetik der Vorkriegszeit stand. 51 Während des Ersten Weltkrieges dürfte Schönberg sich erstmals mit zeitgenössischen jüdischen Problemen auseinandergesetzt haben, wobei ihm Zweifel kamen, ob eine Assimilation Erfolg haben konnte. Damals schrieb er sein musikalisch unvollständiges Oratorium Die Jakobsleiter, das bereits wegweisend für spätere Werke war, wie Der biblische Weg (1926), in dem er für eine Heimat für die jüdische Nation plädiert, oder Moses und Aron (1932), seine außerordentlich mächtige ZwölftonOper, die den hebräischen Monotheismus verherrlicht. Diese späteren Werke zeugen von einer erstaunlichen Einsicht in die Bedeutung und die Botschaft des biblischen Judentums. Sie sollten aber auch als die typisch trotzige Antwort auf das Aufkommen des nationalsozialistischen Antisemitismus und die gesamte pseudochristliche Tradition der Wagnerschen Oper und Musik gesehen werden, zu der sich Schönberg einst hingezogen gefühlt hatte, die er nun aber strikt ablehnte. Schönbergs Rückkehr zum prophetischen jüdischen Erbe wurde zweifellos durch die Zunahme des deutschen und des österreichischen Antisemitismus nach 1918 beschleunigt. Ein Vorfall in dem österreichischen Sommerfrischeort Mattsee in der Nähe von Salzburg im Jahre 1921, wo er von den lokalen Behörden unvermittelt aufgefordert wurde, einen laufschein vorzulegen, wirkte als Katalysator.52 Dieses traumatische Ereignis dürfte Schönberg endgültig bestätigt haben, was er schon seit einiger Zeit vermutete - nämlich daß Assimilation ein Schwindel war. Die diskriminierenden Ausschreitungen von Mattsee waren das Schlüsselproblem von Rasse und Weltanschauung. Mit zunehmender Bewußtheit seines Judentums schrieb Schön-

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berg an seinen Malerfreund Wassily Kandinsky: „Denn was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern daß ich Jude bin." 53 Schönberg erklärte: „Ich bin damit [dem Stand der Dinge] zufrieden!", und versicherte seinem russischen Freund (der kaum als Philosemit bezeichnet werden kann), daß er nicht mehr länger als Sonderjude behandelt werden wolle. In einem anderen, kämpferischen Brief an Kandinsky warnte Schönberg im Mai 1923 prophetisch: „Wozu aber soll der Antisemitismus fuhren, wenn nicht zu Gewalttaten? Ist es so schwer, sich das vorzustellen? Ihnen genügt es vielleicht, die Juden zu entrechten. Dann werden Einstein, Mahler, ich und viele andere allerdings abgeschafft sein. Aber eines ist sicher: Jene viel zäheren Elemente, dank deren Widerstandsfähigkeit sich das Judentum 20 Jahrhunderte lang ohne Schutz gegen die Menschheit erhalten hat, diese werden sie doch nicht ausrotten können. Denn sie sind offenbar so organisiert, daß sie die Aufgabe erfüllen können, die ihnen ihr Gott angewiesen hat: Im Exil sich zu erhalten, unvermischt und ungebrochen, bis die Stunde der Erlösung kommt."34

Arnold Schönbergs endgültige Rückkehr zu den alten Lehren und zur Geschichte des Judentums als Quelle der musikalischen und philosophischen Inspiration erfolgte nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches. Zu der Uberzeugung, daß eine nationale Wiedergeburt, die in der politischen Restauration des jüdischen Volkes im Land Israel gipfeln sollte, ein dringendes Gebot der Stunde sei, kam er erst allmählich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. In Hinkunft setzte er sich unermüdlich für die Rückkehr des „Auserwählten Volkes" in dessen Land, zu dessen Lebensform, dessen Idealen, dessen Moral und dessen Verfassung ein, wie sie in alten Zeit verkündet worden war.55 Dieses Einschlagen des biblischen Weges und die Hinwendung zur mosaischen Mission waren tatsächlich ungewöhnlich, aber keineswegs ohne Parallelen unter den Wiener jüdischen Künstlern und Denkern vor 1918. Die verblüffendste Parallele auf dem Gebiet der Literatur fur diesen Versuch, dem modernen Menschen die hebräische Antwort auf Grundfragen in neuer Form darzulegen, ist der österreichische Dichter und Schriftsteller Richard Beer-Hofmann. Wie Schönberg erfolgte BeerHofmanns biblisches Erwachen erst während des Ersten Weltkrieges und in der Zeit danach, er war aber bereits viel früher, Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zum Judentum zurückgekehrt. Die Wurzel seiner dramatischen biblischen Trilogie, beginnend mit Jaakobs Traum (1918), gefolgt von Der junge David (1953) und als drittes Stück Vorspiel auf dem Theater zu König David (1956), das nie vollendet wurde, gehört daher zum Wiener Fin de Steele.56

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1866 in eine Advokatenfamilie böhmisch-mährischer Herkunft geboren, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Wien übersiedelt war, hatte Richard Beer seine Mutter bei seiner Geburt verloren und wurde von seinem kinderlosen Onkel, dem Wiener Industriellen Alois Hofmann, aufgezogen, dessen Namen er in der Folge seinem eigenen hinzufugte.57 Als einziger Erbe der Familie war er frei von allen finanziellen Zwängen, und es war ihm gegönnt, sein Talent ohne Hindernisse zu entwickeln; Beer-Hofmann studierte Jus an der Universität Wien und wurde 1890 zum Dr. jur. promoviert. Er wurde sofort in den literarischen Kreis „Jung Wien" hineingezogen, wo er Freundschaft mit den fuhrenden Größen wie Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Saiten, Peter Altenberg und Theodor Herzl schloß. Der 25jährige Beer-Hofmann wurde in diesem Kreis liebevoll als eleganter Lebemann und sprühender, witziger Unterhalter angesehen. Seine frühen Kurzgeschichten, die in einem dünnen Bändchen unter dem Titel Novellen (1895) veröffentlicht wurden, erweckten wegen ihrer feinsinnigen psychologischen Wahrnehmungen Aufmerksamkeit, obwohl Beer-Hofmann sie später nicht für wert befand, in seine Gesammelten Werke aufgenommen zu werden. 58 Sie handelten im wesentlichen von den klassischen Motiven des Wiener literarischen Epikuräertums - Problemen, die sich aus flüchtigen Liebschaften ergaben, und der Unzufriedenheit mit einer leichtfertigen, unverantwortlichen Existenz ohne persönliche Verpflichtung. Aber bereits in seiner Novelle Das Kind (1895) begann Beer-Hofmann sich Themen zuzuwenden, wie der Verantwortung des einzelnen für sein Schicksal und der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die ihn in seinem späteren Leben vorwiegend beschäftigen sollten. Beer-Hofmanns Heirat mit einer österreichischen Katholikin, die zum Judentum konvertierte, und die Geburt seiner ersten Tochter im Jahre 1898 inspirierten ihn zu einem wunderschönen und bewegenden philosophischen Schlaflied, dem Schlaflied fiir Mirjam, dessen poetische Version der Einheit der Generationen einen endgültigen Wendepunkt in seiner Schaffenskraft darstellte. Die letzte Strophe war erfüllt vom Widerhall der jüdischen Vergangenheit seiner Vorfahren und der Verantwortung, diese den zukünftigen Generationen unversehrt weiterzugeben. „Schläft du, Miriam? - Mirjam, mein Kind, Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt Blut von Gewesenen - zu Kommenden rollts, Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein? Du bist ihr Leben - ihr Leben ist dein — Mirjam, mein Leben, mein Kind - schlaf ein!"®

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Beer-Hofmanns einziger Roman, Der Tod Georgs, den er 1900 beendete, vermittelt in seinem letzten Kapitel ein ähnliches Gefühl für die Einheit und Kontinuität der jüdischen Existenz. In dem Roman führt der Protagonist Paul zunächst ein nutzloses, dekadentes Leben, bis der Tod eines Freundes ihn aus seiner morbiden, leeren Vergnügungssucht wachrüttelt. „Denn vor ihm tauchte aus Dunklem und Verworrenem ein neues Leben ... Und hinter sich sah er das Leben, das er bis jetzt gelebt, versinken ... Nur sein Schicksal war wirklich."60 Dieses Schicksal, das er entdeckt hat, teilt er mit all jenen, deren „Blut in ihm flöß", deren Siege die Siege Gottes und deren Niederlagen Gottes Urteil waren: Seine jüdischen Vorfahren sahen sich selbst in der Rolle der Zeugen seiner Macht - ein Volk von Weisen.61 Durch das jüdische Blut in seinen Adern, das stolze Bewußtsein seiner Abstammung und die mächtige religiöse Vorstellung von der göttlichen Gerechtigkeit vermochte der glücklose Ästhet Paul seine endemische Entfremdung und Verwirrung zu überwinden.62 Die Entdeckung des Judentums hatte ihn vom ästhetischen Narzißmus befreit und ihn zur Verwirklichung der wahren Mission in seinem Leben gebracht, die im Leben der Generationen seiner Vorfahren verkörpert war. „Vorfahren, die irrend, den Staub aller Heerstraßen in Haar und Bart, zerfetzt, bespien mit aller Schmach, wanderten; alle gegen sie, von den Niedrigsten noch verworfen aber nie sich selbst verwerfend [...] Und hinter ihnen allen ein Volk, um Gnaden nicht bettelnd, im Kampf den Segen seines Gottes sich erringend; durch Meere wandernd, von Wüsten nicht aufgehalten, und immer vom Fühlen des gerechten Gottes so durchströmt wie vom Blut in ihren Adern."63

Durch diese Vorfahren, die freiwillig die Agonie des Leids und die Verzückung der Erlösung gewählt hatten, brachten Paul und sein Schöpfer Beer-Hofmann ihre Verpflichtung gegenüber der prophetischen Botschaft der Bibel zum Ausdruck. BeerHofmanns intuitiver Zionismus war unauflöslich mit diesem Glauben an ein gemeinsames jüdisches Schicksal und eine gemeinsame Verantwortimg verbunden, mit dem Bewußtsein, einer ethnischen Gruppe anzugehören, die sich dafür entschieden hatte, Zeugnis von Gottes Gerechtigkeit abzulegen. Dieser Glaube verlieh dem scheinbaren Chaos und der Unergriindlichkeit des Lebens einen Sinn und bewahrte Beer-Hofmann vor dem endemischen Pessimismus, der so charakteristisch für so vieles in der Literatur des Wiener Fin de Siecle war. Ohne dieses Gefühl, „auserwählt" zu sein, tun eine göttliche Mission zu erfüllen, so sagte Beer-Hofmann Schnitzler einmal, könnte er nicht leben.64 Es war diese aus der Bibel abgeleitete Hoffnung, die seine dichterische Vorstellungskraft anregte und seinen religiösen Dramen, vor allem Jaakobs Traum, eine einzigartige Zeitlosigkeit verlieh.65 Beer-Hofmanns Wiederentdeckung des Judentums Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte dazu geführt, daß er sich in die jüdische Geschichte und die

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biblischen Wurzeln seines Eibes versenkte. Von nun an sollten alle seine Werke den Stempel dieser Identifikation tragen. Selbst in seinem ersten Drama, Der Graf von Charolais (1904), das ihm den vielbegehrten Volksschillerpreis eintrug, baute er mit dem Geldverleiher Itzig einen echten jüdischen Charakter in die Verschwörung ein, die auf einer aus der nach-elisabethinischen Zeit stammenden englischen Tragödie (The Fatal Dowry, 1632, von Philip Massiger und Nathan Field) basierte. Der Vater dieses mittelalterlichen Juden war von der Inquisition gekreuzigt worden, was Itzig zu einem harten und misanthropischen Menschen gemacht hatte. Vom Held Charolais beschuldigt, ein „böser Mensch" zu sein, antwortet er trotzig: „Und warum soll ich e guter sein mit Euch? Nur einen, En einzgen Grund sagts mir, Herr Graf! Meints Ihr, Weil überhaupt e jeder Mensch soll gut sein Zum andern? ja? - Nehmts erst heraus, Herr Graf, Mei Herz, was so zusamm'gekrampft ist von die Gebrennten Lad', was man ihm angetan; Stechts mir die Augen aus, lind gebts mir andre, Die nix entzindt noch sind von vielen Wanen; Den Buckel schneidts mir weg, der krumm ist, weil Er ducken hat gemußt sich vor de andern; Gebts andre Füß' mir, die nix sind gewesen Ihr Lebtag müd und immer auf der Wander."66

Beer-Hofmann war äußerst sensibel für die Dualität des jüdischen „Auserwähltseins", sowohl den Segen als auch den Fluch, das Leid und die Herrlichkeit, die mit der Last verbunden waren, die Israel in der Geschichte auf sich genommen hatte. Dieses Thema war die Grundlage von Jaakobs Traum (dem Prolog einer geplanten Trilogie rund um das Leben König Davids), das Beer-Hofmann im Mai 1909 begann und im Juli 1915 fertigstellte. Veröffentlicht wurde es erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges, just im Augenblick des endgültigen Zusammenbruchs Österreich-Ungarns. In dem Stück wird der biblische Jakob, der ewig Suchende und Zweifler, voll geheimnisvoller Träume und Sehnsüchte, dem Jäger Edom/Esau gegenübergestellt, seinem Zwillingsbruder, dem diesseitsorientierten, praktischen Realisten, der seinen Bedarf mit Besitz, Essen, Trinken und Frauen deckte. In Jakobs Vision in BethEl, wo er einen Bund mit Gott schließt, verspricht der Erzengel Michael ihm, daß aus seinem Schöße ein Volk hervorgehen werde, welches das Licht der Nationen sein und die göttliche Botschaft in die Welt tragen werde: Gleichzeitig aber warnt ihn der Engel der Finsternis davor, daß der Preis, um in dieses ewige Volk hinein-

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geboren zu werden, des Märtyrertum sei. Sie würden heimatlos werden, von einem Ort zum anderen vertrieben werden, von Neid und Haß umgeben sein. „Erwähltes du - du Segen aller Völker Wo wächst die Schmach denn, die dir nicht geschah? Dein Sinn, dein Leib, wird allen Abscheu, Ekel Man spuckt ins Antlitz dir .. ." 67

Jedes Volk, an das sich seine Nachkommen klammern werden, so warnt der Engel Samael Jakob, „brennt dich aus wie etriges Geschwür". Israel wird Gottes Opfer werden, seine Strafe, sein Rechtfertigung gegenüber den Nationen, „Du Liebling Gottes, wirst der Welt verhaßter als Pest - als giftiges Kraut - als tolles Tier!" 68 Jakob aber läßt sich nicht davon abbringen, den Bund anzunehmen, selbst wenn dies bedeutet, auch das Schicksal anzunehmen, Gottes Prügelknabe zu sein, dessen gebeugter Rücken die Peitsche der Gottheit ertragen muß, um sie zu den widerspenstigen Völkern zu bringen. „Herr! Was Dein Wille mir auch auferlege ... Wie Krone will ich's tragen - nicht wie Joch! Hast Du mein Blut erwählt zur Feuerfackel, Die ob den Wegen aller Völker flammt... Laß Deine heilige Wahl - Herr - nie vergessen Was fern und spät noch meinem Blut entstammt!"69

Kein anderer Wiener Schriftsteller sollte mit solchem Stolz seine Apotheose, seinen Glauben an das historische Schicksal der Juden bekräftigen; ein Glaube, der in seinem bewegenden Drama des Jahres 1933, Derjunge David, fand, das in dem Jahr des Aufstiegs der Nazis in Deutschland vollendet wurde. Keinem anderen gelang es, die katalytischen Ereignisse des Zeitalters in so ergreifender Weise zu ewigen Symbolen zu verwandeln, die jenseits aller augenblicklichen Unruhen lagen. Die Kunst Beer-Hofmanns war nur im visionären und messianischen Sinne nationalistisch, sie beruhte auf der Uberzeugung, daß es besser war, Ungerechtigkeit zu erdulden, als sie zu verüben, durch den Geist zu triumphieren statt durch die trügerische Macht des Schwertes. Gleichzeitig glaubte der Dichter mit aller Inbrunst an die jüdische kulturelle Wiedergeburt und die Rückkehr Israels in sein Land als großen Akt der historischen Restauration und Versöhnimg. Beer-Hofmann war der Atmosphäre und den Farben der österreichischen Landschaft zwar eng verbunden, seine gesamte Weltanschauung aber stand den biblischen Propheten mit ihrer universellen Vision von der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, dem Leid und der Erlösung stets näher.

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Eine ähnliches Wiederaufleben des hebräischen Humanismus läßt sich in den Schriften des ebenfalls aus Wien gebürtigen Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) beobachten, dessen großzügige poetische Vision und dessen Auflassung von Dialog später allgemeine Anerkennung finden sollten.70 Trotz seiner Wiener Herkunft und seiner zentralen Rolle bei der jüdischen nationalen Wiedergeburt während des 20. Jahrhunderts, tangiert Buber unsere Geschichte nur am Rande. Sein geistiger Schwerpunkt lag selbst vor 1914 in Deutschland, und nicht so sehr in Österreich-Ungarn. Nichtsdestoweniger begann Buber, nachdem er 1896 sein Philosophie- und Kunstgeschichtestudium an der Wiener Universität begonnen hatte, die spezifischen Einflüsse der Habsburgermetropole in sich aufzunehmen. Vor allem seine Involvierung in der zionistischen Weltbewegung erwuchs direkt aus seiner Begegnung mit Theodor Herzl in Wien. Martin Bubers regionale österreichische Wurzeln sind noch bedeutungsvoller, verbrachte er doch seine frühen prägenden Jahre vor 1892 in der ostgalizischen Hauptstadt Lemberg im Haus seines Großvaters Salomon Buber (1827-1906). Salomon Buber war nicht nur Bankdirektor und eine der bedeutendsten Gemeindepersönlichkeiten in Lemberg, sondern auch ein führender Maskilim und Midrasch-Gelehrter, der fließend hebräisch sprach. Sein galizischer Großvater war der erste, von dem Martin Buber die Faszination der Philologie, seine Kenntnis des Hebräischen, der jüdischen Traditionen und des chassidischen Volkstums erwarb. Die Verschmelzung seiner Begegnung mit dem Chassidismus in Galizien und der Bukowina mit der westlichen Kultur (der polnischen und der deutschen), die er im polnischsprachigen Gymnasium in Lemberg in sich aufnahm, ebnete den Weg für Bubers einzigartige Rolle als kultureller Vermittler zwischen Ost und West. Sein österreichischer Hintergrund lieferte die entscheidenden, prägenden Erfahrungen, die erklären, warum es gerade Martin Buber war, der mehr als jeder andere dazu beitragen sollte, die westliche (ob jüdische oder nichtjüdische) Sicht der Ostjuden zu ändern.71 Bubers erstes Studienjahr in Wien (1896) fiel paradoxerweise mit dem Höhepunkt seiner Entfremdung von jüdischen Problemen zusammen, obwohl er Herzls Der Judenstaat las. Zu eben dieser Zeit gab der junge Buber mit vier Aufsätzen über die führenden Autoren von „Jung Wien" für die Leser der Przeglqd tygodniowy (Polnische Wochenzeitung) sein literarisches Debüt in polnischer Sprache.72 Bemerkenswerterweise findet sich in diesen Aufsätzen kein einziger Hinweis Bubers auf das Judentum seiner Protagonisten Arthur Schnitzler und Peter Altenberg bzw. die jüdische Herkunft Hugo von Hofmannsthals. Seine Bewunderung für diese drei Schriftsteller (sowie für Hermann Bahr) ist dennoch offenkundig und zeigt, daß der Wiener Impressionismus für diesen jungen Ästheten eine wichtige, wenn auch vorübergehende Phase seiner sich entwickelnden Sensibilität darstellte. In der Dichtung Hofmannsthals fand der 19jährige Buber ein majestätisches, harmonisches Gefühl

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für die Form und ein „außerordentlich subtiles Gefühl für minutiöse psychische Nuancen", während ihm die „weiche, nicht maskuline Trägheit" seines Werkes wesentlich weniger zusagte. Bei Schnitzler entdeckte Buber die vollkommene Meisterschaft der theatralischen Form, die auf eine unwahrscheinliche Art und Weise die Grenzen und Dissonanzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen läßt; 73 während Buber bei Peter Altenberg, Wiens exzentrischem böhmischem Poeten, eine grenzenlose Leidenschaft für alle Menschen herauslas, eine bewegende Warme und Spontaneität, die den Stempel einer starken, individualistischen Persönlichkeit trägt. Wie Beer-Hofmann konnte auch der junge Buber sich nicht lange mit dem impressionistischen Asthetizismus zufriedengeben. 1898, noch als Student, Schloß er sich Herzls zionistischer Bewegung an, drei Jahre später übernahm er die Redaktion von Die Welt, die er jedoch nach nur wenigen Monaten zurücklegen sollte.74 Die Konflikte entzündeten sich im wesentlichen an Bubers Mitgliedschaft bei der Demokratischen Fraktion (einer internen Opposition zu Herzl) und an seinem Eintreten für Achad Ha'ams Kulturzionismus gegenüber dem politischen Zionismus. Wie der russische Zionist und dessen österreichischer Vorgänger Nathan Birnbaum glaubte auch Buber, daß die kulturelle Renaissance des Judentums und nicht der Antisemitismus zur Quelle und zur treibenden Kraft des Zionismus werden sollte. Erziehung war wichtiger als ein Propagandaprogramm. Außerdem kritisierte Buber Herzl, weil er eine lebendige Bewegung auf eine bloße Partei und die Judenfrage auf eine Frage der physischen Existenz {Judenheitsfrage) reduzierte, statt sie zu einer Frage des Judentums (Judentumsfrage) zu machen. Herzl, der die organische Natur der nationalen Bewegung in Osteuropa nicht erfaßte, blieb in Bubers Augen ein typisch westlicher Jude ohne Wurzeln, dem jeder Sinn für die Tradition fehlte und dessen Persönlichkeit keinerlei „jüdisches" Element aufwies.75 Ein Brief Herzls an den jungen Buber, in dem er ihn vor einer Opposition warnte und ihn dringend aufforderte, den Weg zurück in den Schoß der Bewegung zu finden, hinterließ bei diesem einen bitteren Geschmack, der ihn in seinem Urteil zynisch werden ließ.76 Herzl, so gestand Buber ein, hatte dem Zionismus eine organisatorische Form gegeben, aber noch 1904 zweifelte er, ob die von diesem ins Leben gerufene Bewegung nicht vielleicht eine „Frühgeburt" gewesen war.77 Erst 1910, zehn Jahre nach dem Tod des Gründers, objektivierte Buber sein Bild und anerkannte Herais Größe als Mensch und „Elementaraktiver", dessen Schwächen gerade durch seinen übermächtigen Willen zur Aktivität bedingt waren. 78 Anders als Herzl, wurde Bubers kultureller Zionismus stark von dem damals in Mitteleuropa modernen Vokabular von Blut und Volk beeinflußt, abgeschwächt durch die aufklärerischen Traditionen der Bildung und des offenkundigen Wunsches, den Nationalismus zu humanisieren. Der diskriminierende Rassismus im deutschen Sinne lag Buber natürlich fern. In einer Art, die mehr an Beer-Hofmann

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erinnert, sah der junge Buber den einzelnen Juden als organischen Teil eines Gliedes in der Kette der Generationen. Es gab ein kollektives Schicksal, eine gemeinsame Volkssubstanz, eine über-individuelle Einheit des jüdischen Schicksals, das, so Buber, in jedem Juden lebte; dunkle, ererbte Kräfte im eigenen Ich trugen dazu bei, die eigene Persönlichkeit zu bestimmen, und verbanden jeden Juden mit der alten Vergangenheit Israels. Buber war überzeugt, daß der Jude sich zuerst seiner Vergangenheit bewußt werden mußte, seiner Stammeswurzeln und der tiefsten Schichten des kollektiven Ich, die aus seinem Erbe stammten, bevor er im Dienste seiner Gemeinde kreativ werden konnte. Dieser neuromantische Appell an die jüdische Gesamtheit und das jüdische Selbstbewußtsein, der Aufruf zur Uberwindung der „tiefen Kluft in unserer Existenz", der vor allem in seinen - ursprünglich vor der Prager Studentenverbindung Bar-Kochba gehaltenen - Drei Reden über das Judentum (1911) zum Ausdruck kam, übte eine starke Anziehungskraft auf die zionistische Jugend in der Habsburgermonarchie aus. Verbunden mit der Suche nach einer authentischen Gemeinschaft und der Auflehnung der Jugendbewegungen gegen Urbanismus, bürgerlichen Materialismus und sterilen Rationalismus, hatten Bubers Lehren auch einen wichtigen Einfluß auf die frühe Geschichte der radikalen zionistischen Gruppen wie der galizischen (und Wiener) Hashomer Hatzair.79 Bubers Einfluß auf die jüdische Jugend in der Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg resultierte aus seiner Fähigkeit, den Zionismus mit den modernen intellektuellen Strömungen zu verbinden, und aus seinem anerkannten Status als führender deutscher Denker. Von nicht geringerer Bedeutung war, daß Buber der gebildeten Öffentlichkeit im Westen durch seine Darstellung des Chassidismus die äußerst große Spiritualität des osteuropäischen jüdischen Lebens enthüllte. Kein jüdischer Denker im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts trug mehr dazu bei als Martin Buber, die negativen, rationalistischen Stereotypen der Ostjuden in den Augen der assimilierten westlichen Juden zu wandeln. Diese Umwandlung war eindeutig in hohem Maße Bubers österreichisch-galizischen Wurzeln zu verdanken, seiner Sensibilität für mystische und neuromantische Strömungen in der deutschen Kultur und seiner Fähigkeit, die chassidische Religiosität in einer ästhetisch zufriedenstellenden Weise zu verpacken. Selbst der Patrizier Hugo von Hofmannsthal, dem die Welt des Ostjudentums so fern war, zeigte sich 1906 tief bewegt durch die Lektüre von Bubers Rabbi Nachmann.80 Bubers Betonving der prägenden Kraft des Mythos und der Mystik bei der Suche nach der Einheit des Lebens und sein Heraufbeschwören einer Bewegung (Chassiden), die den Irrationalismus in eine positive soziale Aktion zu kanalisieren schien, dürfte in Hofmannsthals eigenem Denken Zustimmung gefunden haben.81 Schon lange bevor Hugo von Hofmannsthal Buber gelesen hatte, waren ihm die lähmenden Folgen einer rein ästhetischen Einstellung zum Leben bewußt gewor-

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den, wo der einzelne von der äußeren Wirklichkeit und positiven Taten getrennt blieb. Bereits 1893 hatte Hofmannsthal in seinem kurzen, von Buber so bewunderten Stück Der Tor und der Tod klar zum Ausdruck gebracht, daß er dieser bedrohlichen Leere der auf sich selbst beschränkten narzißtischen Sensibilität entfliehen wollte. Wie viele andere österreichische Künstler seiner Generation anerkannte auch er die Bedürfnisse der Triebe, versuchte sie nach 1900 jedoch in der dynamischeren Form des historischen und mythologischen Dramas zu kanalisieren, das die lebendige Realität einer Kultur wiederherstellen sollte, die bereits zu Bruch ging.82 Hofmannsthal versuchte innerhalb des habsburgischen Traditionalismus durch die Verwendung der Sprache, von Mythen, Symbolen und ein quasi-mystisches Heraufbeschwören der traditionellen, hierarchischen Ordnung einen Weg zurück zur spirituellen Einheit des österreichischen Volkes zu finden.83 Wie Hermann Broch in seinem Essay schrieb: „Allzugenau war es ihm sichtbar, daß er überall auf verlorenem Posten stand: aussichtslos war der Weiterbestand der österreichischen Monarchie, die er geliebt hatte und nie zu lieben aufhörte; aussichtslos war die Hinneigung zu einem Adel, der nur noch ein karikaturhaftes Scheindasein führe; aussichtslos war die Einordnung in den Stil eines Theaters, dessen Größe nur mehr auf den Schultern einiger überlebender Schauspieler ruhte; aussichtslos war es all das, diese schwindende Erbschaft, aus der Fülle des maria-theresianischen 18. Jahrhunderts, nun im Wege einer barock-gefärbten großen Oper zur Wiedergeburt bringen zu wollen. Sein Leben war Symbol eines verschwindenden Österreichs, eines verschwindenden Theaters - Symbol im Vakuum, doch nicht des Vakuums."84 Brochs Essay über Hofmannsthal zeigt, daß der Dichter von Anfang an wußte, „daß er sich letztlich an das Vakuum selber assimilierte".85 Hofmannsthal, der nicht ganz frei von dem „inneren Antisemitismus" des assimilierten Judentums war, hat wahrscheinlich das Problem seiner eigenen jüdischen Identität auf das Gebiet der Nationalitätenkämpfe und seines eigenen supranationalen Mythos eines kosmopolitischen Österreichertunis verlagert. Für diesen Akt der symbolischen Einigung griff Hofmannsthal nicht nur auf das katholisch-barocke Erbe Wiens zurück, sondern auch auf die kulturellen Vorbilder im Mittelalter, in Venedig, Florenz, Spanien, den Niederlanden und England sowie auf den Universalismus der Goetheschen Aufklärung. In seiner hoch entwickelten historischen Intuition zeigte Hofmannsthal eine ähnliche Achtung vor dem Einfluß der Vergangenheit, wie wir ihr in dem Werk BeerHofmanns und Martin Bubers begegnen; der Glaube an die prägende Kraft, die nicht nur die Kultur und die Gesellschaft formt, sondern das Leben jedes einzelnen. Aber nur bei Hofmannsthal war es auch sein Sinn für den Staat als „Bündnis vergangener Generationen mit späteren und umgekehrt" (Adam Müller), der ihn veranlaßte, sich in den Dienst der konservativen Sache des habsburgischen Supranatio-

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nalismus zu stellen. Für Hofmannsthal waren das Prisma des habsburgischen Staates und die Loyalität gegenüber der kosmopolitischen österreichischen Kultur, deren Entfaltung ihm im Rückblick als Ergebnis eines organischen Prozesses erschien, die Voraussetzungen für die Bindung an sein Geburtsland.86 1917 veranlaßte ihn sein österreichischer Patriotismus zu einer strikten Unterscheidung zwischen den Eigenschaften seiner Landsleute und jenen der preußischdeutschen Verbündeten.87 Osterreich verkörperte für Hofmannsthal organische, instinktive Eigenschaften, die durch die Liebe zur Heimat, durch das höchste Vertrauen in die Krone und eine Kultur zusammengehalten wurden, die trotz ihres Pluralismus einheitlich war und ein dichtes soziales Gewebe bildete; das preußische Deutschland hingegen blieb eine künstliche Struktur, zusammengehalten durch einen autoritäten Staat, eine mächtige Armee, erzwungene Disziplin und eine homogene Beamtenschaft, die tiefe soziale und kulturelle Spaltungen überdeckte. In Hofmannsthals Vergleich erscheint der einzelne Österreicher als grundsätzlich traditionell in seinen Ansichten, anpassungsfähig, ausgewogen und wesentlich selbstironischer als der Preuße. Er lehnt jede abstrakte Dialektik ab, vermeidet Krisen, zieht es vor, Dinge vage zu belassen und sucht in aller Ruhe die Vorherrschaft des privaten Bereichs.88 Die Stärke der Preußen auf der anderen Seite lag in ihrem Selbstvertrauen, ihren funktionellen, maskulinen Eigenschaften, in ihrer Vorhebe fur logische Abstraktionen und ihrem WUlen, um ihre Rechte zu kämpfen. Es fehlte ihnen indes ein organischer Sinn für die Geschichte; außerdem verfügten sie weder über die Fähigkeit, sich in andere Völker hineinzudenken, noch waren sie offen für neue Eindrücke. Sie neigten daher dazu, überheblich, selbstgerecht, herrisch und aufdringlich zu sein sie lösten lieber Krisen aus, als den Dingen auf gut österreichisch ihren Lauf zu lassen. Nicht nur diese österreichisch-preußische Antithese, sondern auch Hofmannsthals Aphorismen zeigen, wie deutlich er alle charakterlichen Schwächen der Deutschen sah, die Armseligkeit ihres gesellschaftlichen Lebens, ihre Grobschlächtigkeit und die maskuline Brutalität ihres Nationalismus - Züge, die seinem einfühlsameren österreichischen Temperament fremd waren. Die meisten führenden österreichischen Schriftsteller seiner Generation teilten Hofmannsthals Abneigung gegenüber der Politik des Nationalismus, unter ihnen auch Stefan Zweig, einer seiner treuesten Bewunderer.89 In Zweigs Werk fand der Glaube der Aufklärung an die Bildung, die Menschheit, den Primat der individuellen Entwicklung und der persönlichen Beziehungen seine höchste Apotheose. Viel stärker als bei Hofmannsthal steht im Zentrum seines Interesses immer die Menschheit als ganzes, und einen Großteil seines Lebens als Erwachsener verbrachte er mit dem Uberschreiten künstlicher Barrieren zwischen verschiedenen Nationen und Glaubensbekenntnissen.90 In dieser kulturellen Haltung jenseits von Religion und

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Nationalismus, die angesichts der wachsenden Strömungen sozialer und politischer Barbarei unerschütterlich am individualistischen bürgerlichen Humanismus festhielt, lag etwas zugleich zutiefst Wienerisches und zutiefst Jüdisches.91 In seiner wunderbaren Autobiographie Die Welt von Gestern (mehr die Biographie eines Zeitalters als die einer Person) läßt Zweig bei der Erklärung seines Glaubens an die Vorherrschaft der Kultur gegenüber der Politik sowohl den wienerischen als auch den jüdischen Aspekten freien Lauf: „In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich wie in Wien. Gerade weil die Monarchie, weil Osterreich seit Jahrhunderten weder politisch ambitioniert noch in seinen militärischen Aktionen besonders erfolgreich gewesen, hatte sich der heimatliche Stolz am stärksten dem Wunsche einer künstlerischen Vorherrschaft zugewandt."92

Für Zweig war Wien eine Hauptstadt, wo „alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen" waren; wo deutsches, slawonisches, imgarisches, spanisches, italienisches, französisches und flämisches Blut sich oft vermischt hatten, bei Hof, unter dem Adel und im Volk. Der genius loci dieser Stadt der Musik lag gerade in ihrer Fähigkeit, die mannigfaltigen Kontraste harmonisch in etwas spezifisch Österreichisches und Wienerisches aufzulösen. „Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Ubernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen."93 Trotz aller offenkundigen Idealisierung und unbewußten Selbstprojektion bei dieser Schilderung, verweist Zweig richtigerweise auf die Tatsache des „Fanatismus für die Kunst" (vor allem die „Theatromanie"), die alle Schichten in Wien durchdrang. „Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren, sich geschmackvoll und gefallig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere Kunst. Nicht das Militärische, nicht das Politische, nicht das Kommerzielle hatte im Leben des einzelnen wie in dem der Gesamtheit das Ubergewicht; der erste Blick eines Wiener Durchschnittsbürgers in den Zeitungen galt allmorgendlich nicht den Diskussionen im Parlament oder den Weltgeschehnissen, sondern dem Repertoire des Theaters, das eine für andere Städte kaum begreifliche Wichtigkeit im öffentlichen Leben einnahm."94

Der intuitive Sinn für die Form und das Feiern künstlerischer Bemühungen, der für Wien als Stadt so typisch war, ging auch auf dessen jüdische Bourgeoisie über, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts als führende Mäzene, Publikum und Konsumenten des kulturellen Lebens der Hauptstadt die Bühne betrat. Ohne dieses unablässig stimulierende jüdische Interesse, so meint Zweig, wäre Wien in künstlerischen

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Belangen hinter Berlin ebenso weit zurückgeblieben wie Österreich politisch hinter dem Deutschen Reich. „Wer in Wien etwas Neues durchsetzen wollte, wer als Gast von außen in Wien Verständnis und ein Publikum suchte, war auf diese jüdische Bourgeoisie angewiesen ... neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte, war eine vom Wiener Judentum geforderte, genährte, oder sogar schon selbstgeschaffene Kultur."95 Zweig sah in dieser massiven Teilnahme der Juden an der Wiener Kultur den Ausdruck ihres glühenden Patriotismus, ihres Wunsches nach einer Anpassung und raschen Assimilation sowie ihrer angeborenen Liebe zu dieser Stadt. Die Juden „fühlten ihr Osterreichertum als eine Mission vor der Welt"; ihre Liebe zur Wiener Kunst gab ihnen das Gefühl, heimatberechtigt, echte Wiener geworden zu sein. Aus den meisten privilegierten Kreisen ausgeschlossen - der staatlichen Verwaltung, der Aristokratie, den höheren Rängen in der Armee und in der Beamtenschaft - fühlten sie sich gleichberechtigt bei der Förderung und der Konsumation der Kultur. „Sie waren das eigentliche Publikum, sie füllten die Theater, die Konzerte, sie kauften die Bücher, die Bilder, sie besuchten die Ausstellungen und wurden mit ihrem beweglicheren, von Tradition weniger belasteten Verständnis überall die Förderer und Vorkämpfer alles Neuen."96 Zweig unterstrich, daß die Juden diese Förderung der Kultur als „persönliche Aufgabe" ansahen. Durch den Erfolg der österreichisch-jüdischen Symbiose in Wien war es dem Judentum möglich, die „höchste Leistung seines jahrtausendalten geistigen Triebes" zu erreichen. Durch ihre spezifische intellektuelle Energie waren sie in der Lage, die etwas „erschöpfte Tradition" des leichtlebigen, konzilianten österreichischen Volkes zu nähren, wiederzubeleben und zu erneuern, dem nichtsdestoweniger „derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte [innewohnte], wie sie ihnen selbst so wichtig waren".97 Bereits auf den ersten Seiten seiner Autobiographie schreibt Zweig: „Der eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal ist der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht", eine Einstellung, die das osteuropäische Judentum ebenso teilte wie die bekanntesten germanisierten Familien. Der Supremat des Geistigen über das bloß Materielle, des Intellekts über den Reichtum war allen Ständen unter den Juden gemeinsam, die kein Opfer scheuten, „jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker". Erfolg in einem freien Beruf oder im Bereich der Kunst und Kultur war das höchste Zeichen für die Befreiung von all den Zwängen und dem Elend, die das Ghetto ihnen Jahrhunderte hindurch aufgezwungen hatte. Gleichzeitig war dies eine Flucht aus „dem moralisch Dubiosen, dem Widrigen, Kleinlichen und Ungeistigen, das allem Handel, allem bloß Geschäftlichen anhaftet". Der Aufstieg in die Welt der Kultur, so glaubte Zweig, war im Wagnerschen Sinne ein Bemühen, „sich und seine

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ganze Rasse vom Fluch des Geldes [zu] erlösen". 98 Vielleicht, so fügt er hinzu, „drückt sich darin sogar die geheime Sehnsucht aus, durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen." 99 Immer wieder sah sich der begabte, ruhelose Stefan Zweig dieser Versuchung ausgesetzt; sein Vater war ein reicher Industrieller, dessen Familie aus Mähren kam und über jene Tugenden der methodischen Nüchternheit, des Unternehmergeistes und des toleranten Liberalismus verfugte, mit denen sich Zweig einerseits identifizierte, denen er andererseits aber auch zu entfliehen suchte. 100 Seiner Mutter gegenüber (sie stammte aus einer italienisch-jüdischen Bankiersfamilie) zeigte Zweig ebenfalls eine ausgeprägte Ambivalenz - angezogen fühlte er sich vom vielsprachigen, internationalen Charakter ihrer Familie, abgestoßen durch den erdrückenden Snobismus seiner mütterlichen Verwandtschaft. 101 Dies war jene Art von Hintergrund der gehobenen Mittelschicht, der für die Entwicklung eines künstlerischen Talents im Wien des Fin de Siecle und die Pflege einer übernationalen Weltanschauung so förderlich war; bedeutend weniger dienlich war er indes für die Ermutigung zu einem starken Gefühl für die jüdische Identität. Es überrascht nicht, daß Zweig in seiner Jugend zu einem allgemein paneuropäischen Humanismus neigte, verstärkt durch den Wiener kulturellen Kosmopolitismus, seine ständigen Reisen und seine Kontakte mit der literarischen Elite Westeuropas. Weder im Gymnasium noch an der Wiener Universität kümmerte oder interessierte er sich sehr für den Aufstieg der Massenbewegungen wie der Sozialdemokratie und des Christlichen Sozialismus oder für die lautstarke rassistische Agitation der Alldeutschen.102 Das im Rückblick gezeichnete Portrait Karl Luegers fällt bemerkenswert günstig, ja geradezu sympathisch aus, obwohl er zugibt, daß Hitler in ihm ein wichtiges Vorbild bei der Mobilisierung der breiten Masse der Kleinbürger und des Einsatzes antisemitischer Parolen sah. Für Zweig aber blieb Lueger in den etablierten Grenzen der kultivierten Achtbarkeit. Er verfügte letztlich über eine akademische Bildung, war gutaussehend, witzig und vor allem anständig. „Gegen seine Gegner bewahrte er [Lueger] - unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben - immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte ... blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter. Noch war nicht das Haßgift und der Wille zu gegenseitiger restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen."103

Zweig übertrieb das Positive an Luegers Bewegung zweifellos und unterschätzte das Unbehagen, das die meisten Wiener Juden unter der christlich-sozialen Herrschaft

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empfanden. Er war in einer Gesellschaft aufgewachsen, wo wohlhabende Familien, selbst wenn sie Juden waren, der Zukunft mit einer gewissen Gelassenheit entgegenblickten, solange der alte Kaiser noch lebte. Aber Zweigs Bild der Stabilität und Heiterkeit war überzeichnet. Ebenso seine Schilderung der gewalttätigen Deutschnationalen Schönerers, die allzu subjektiv gefärbt ist. Zweig sah klar, daß Hitler sein rassistisches Programm von den deutschnationalen Schlägertypen übernommen hatte, die vor 1914 ganz bewußt versucht hatten, Österreich zu zerstören, und die Juden und Slawen an den Universitäten unablässig angriffen. Er gestand sogar ein, „in Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen alle in Osterreich schon begonnen" mit den gewalttätigen deutschnationalen Demonstrationen gegen Graf Badems Sprachenverordnung. 104 Aber Stefan Zweig brachte es nicht über sich, „den Einbruch der Brutalität in die Politik, den schrecklichen Niedergang unseres Jahrhunderts" in allzu enge Verbindung zu dem „Goldenen Zeitalter der Sicherheit" zu setzen, in dem er aufgewachsen war. Wie er selbst eingestand, war er damals zu sehr mit seinen literarischen Ambitionen beschäftigt, um „diese gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat" zu bemerken.105 Aus den verfugbaren Zeugnissen geht hervor, daß nicht der Antisemitismus Zweig erstmals seine jüdische Identität zu Bewußtsein brachte. Auch nicht sein familiärer Hintergrund, da, wie er in einem Gespräch mit David Ewen 1931 sagte, „meine Mutter und mein Vater nur durch den Zufall der Geburt jüdisch waren". 106 In demselben Interview erwähnt er jedoch den entscheidenden Einfluß von Theodor Herzl, der aus ihm „einen Juden im Herz und in der Seele sowie durch die Geburt" gemacht habe. „Er [Herzl] zeigte mir die Größe unserer Rasse. Von dieser Freundschaft stammt wirklich ein intensives Interesse an jüdischen Angelegenheiten." 107 Dieses Eingeständnis wird noch durch das Bewunderung zollende Portrait Herzls in Die Welt von Gestern verstärkt, wo Zweig schreibt: „Es war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand." 108 Der junge Zweig hatte bereits einige Kurzgeschichten und einen Gedichtband (Silberne Saiten, 1901) veröffentlicht, als er Herzl im selben Jahr in den Räumen der Neuen Freien Presse erstmals traf. Dank Herzl wurde sein erstes Feuilleton, wie es sich gehörte, in dieser Zeitimg veröffentlicht - eine Ehre, die Zweig damit vergleicht, als „ob Napoleon auf dem Schlachtfelde einem jungen Sergeanten das Ritterkreuz der Ehrenlegion anheftete". Hauptverantwortlich dafür, daß Zweig sich der neugegriindeten zionistischen Bewegung nicht anschloß, war abgesehen von seiner angeborenen Abneigung gegenüber der Politik nicht eine Unstimmigkeit mit Herzl, sondern „der zänkische, rechthaberische Geist dieses ständigen Opponierens, der Mangel an redlicher, herzlicher Subordination in diesem Kreise". 109 Stefan Zweig war damals auch sehr mit Ephraim Moses Lilien (1874-1925) befreundet, dem in Galizien geborenen Buchillustrator und künstlerischen Heraus-

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geber des Jüdischen Almanack, und veröffentlichte 1905 sogar einen aufwendig illustrierten Band seiner bis dahin verfaßten Werke. Lilien, der erste österreichische Künstler, der unmittelbar in die zionistische Bewegung involviert war, spielte eine aktive Rolle bei den Bemühungen der „Demokratischen Fraktion" um die Pflege der jüdischen Kultur. Er unterhielt als Illustrator, Redakteur und Werbeagent ζ. B. gute Beziehungen zum Berliner Jüdischen Verlag. Außerdem arbeitete Lilien eng sowohl mit Theodor Herzl als auch mit Martin Buber zusammen, und 1905 wurde er Mitglied des Gründungskomitees der Bezalel Kunstschule in Palästina, das er vor 1914 einige Male besuchte. Obwohl Stefan Zweig den Jugenstilkünstler Lilien offenkundig mehr bewunderte als den glühenden Zionisten, trug diese Freundschaft wohl das ihre dazu bei, sein Interesse an jüdischen Belangen aufrechtzuerhalten. In Die Welt von Gestern erwähnt Zweig en passant kryptisch, daß er durch Lilien erstmals „einem Judentum [begegnet sei], das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen".110 Zweigs Korrespondenz während des Krieges mit Martin Buber und vor allem sein herausragendes Werk Jeremias, verfaßt im Jahre 1916, zeugen von einem ausgeprägteren Sinn für die jüdische Identität als ihm bisweilen zugestanden wird. In einem Brief an Buber vom 8. Mai 1916 berichtet Stefan Zweig, daß er an „einer großen (und durch Beziehungen zeitlosen) jüdischen Tragödie, einem Jeremias-Drama [arbeite], das ohne Liebesepisoden, ohne Theaterambitionen die Tragik des Menschen, dem nur das Wort, die Warnung und die Erkenntnis gegen die Realität der Thatsachen gegeben ist, auf dem Hintergrund eines Entscheidungskrieges darstellt". Zweig beschrieb Jeremias Buber gegenüber als „die Tragödie und den Hymnus des jüdischen Volkes als des auserwählten - aber nicht im Sinn des Wohlergehens, sondern des ewigen Leidens, des ewigen Niedersturzes und der ewigen Erhebung und der aus solchem Schicksal sich entfaltenden Kraft - und der Schluß ist gleichsam die Verkündigung im Auszug aus Jerusalem zum ewig neu gebauten Jerusalem".111 Zweig fuhr fort, seine Vorbehalte gegenüber jeder nationalistischen Interpretation dieses Auserwähltseins zu erläutern: „Ich sage nur Ihnen, daß ich entsprechend meiner Natur, die ganz auf Bildung, auf Synthese gestellt ist, das Judentum nie mir als Kerker der Empfindung wählen mochte, der Gitterstäbe des Begreifens gegen die andere Welt hat, überhaupt alles, was darin Gegensätzlichkeit formen will, ist mir antipathisch: aber ich weiß, daß ich doch ruhe darin und nie ihm abtrünnig sein will und werde. Ich bin nicht stolz darauf, weil ich jeden Stolz auf eine Leistung ablehne, die nicht von mir selbst aus ward, so wie ich nicht stolz bin auf Wien, obwohl ich dort geboren bin, oder auf Goethe, weil er meiner Sprache ist, oder auf Siege ,unserer' Armee, bei denen mein Blut nicht geflossen ist."112

Zweig bedauerte das hinter den hochtrabenden Beteuerungen des Jüdischseins feh-

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lende Selbstbewußtsein, und was an Stolz in den jüdischen Bekenntnissen ist, „scheint mir eine aufgetane Unsicherheit, eine ungewendete Angst, ein gedrehtes Minderwertigkeitsgefühl".113 Er versicherte Buber: „Es belastet das Judesein mich nicht, ich fiihle es ebenso wie ich meinen Herzschlag fühle, wenn ich daran denke, und ihn nicht fiihle, wenn ich nicht daran denke."114 Zweigs Interesse an jüdischen Belangen war damals keineswegs rein ätherisch. Er war, zum Beispiel, sensibel für die tragische Situation der polnischen Juden während des Ersten Weltkrieges; und die Tatsache, daß die Flucht galizischer Juden nach Wien den österreichischen Antisemitismus bereits schürte.115 In einem Brief an Abraham Schwadron im Sommer 1916 äußerte er die Uberzeugung, daß sich die Erbitterung gegen jene, die ihn angezettelt hatten, nach dem Krieg sicher gegen die Juden richten werde.116 Er glaubte, die Juden würden von den nationalistischen politischen Parteien sowohl in Osterreich als auch in Polen zum Sündenbock gemacht werden und zweifellos mehr leiden als jede andere Nation, ohne eine Entschädigung dafür zu bekommen.117 Und eben diese Sensibilität Zweigs für die drohende jüdische Tragödie verstärkte seinen Groll gegenüber jenen Wiener und deutschen jüdischen Schriftstellern wie beispielsweise Felix Saiten, die sich für die Sache der Hohenzollern begeisterten.118 Zweigs geradezu physische Abscheu vor dem „nationalen Irrwahn" des Krieges rund um ihn schärfte seinen Sinn für die jüdische Identität, wie er in einem Brief an Martin Buber schrieb. Das einzige, was ihn von Bubers humanistischem zionistischem Kreis trennte, war seine Liebe und die Bekräftigung der Diaspora als „der Sinn seines Idealismus, als seine weltbürgerliche Allmenschliche Berufung".119 Zweig wollte nicht, daß „das Judentum wieder Nation wird und damit sich in die Concurrenz der Realitäten erniedrigt".120 Wie er Martin Buber gegenüber einmal zum Ausdruck brachte, wollte er „keine andere Vereinimg als im Geist, in unserem einzigen realen Element, nie in einer Sprache, in einem Volke, in Sitten, Gebräuchen, diesen ebenso schönen als gefahrlichen Synthesen".121 Zweig sah in der bestehenden Zerstreuimg der Juden das erdenklich Beste, „dieses Eins-Sein ohne Sprache, ohne Bindung, ohne Heimat nur durch das Fluidum des Wesens. Jeder engere, jeder realere Zusammenschluß scheint mir Verminderung dieses unvergleichlichen Zustands. Und das Einzige, worin wir uns stärken müssen, wäre, diesen Zustand nicht als eine Erniedrigung, sondern mit Liebe und Bewußtheit zu empfinden, wie ich es tue."122 In demselben Brief warf Zweig Bubers zionistischem Freund aus Prag, dem Schriftsteller Max Brod, vor, bei seinem Wunsch nach einer Veränderung und nach der Ausrottung des tausendjährigen Leids innerhalb nur eines Jahrzehnts zu „fanatisch" und zu „national" zu sein.123 Die Kluft zwischen der Einstellung Zweigs und jener Bubers wurde auch in einem anderen Brief an Abraham Schwadron im Früh-

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jähr 1917 angesprochen. Für Zweig lag die Größe des Judentums in dessen übernationalem Charakter, in dessen Rolle als Ferment und Zement zwischen den Nationen sowie in dessen ewigem Streben nach einer geistigen Heimat. Buber auf der anderen Seite war nach Zweigs Ansicht zu sehr auf die physische Rückkehr nach Zion und einen Nationalismus ausgerichtet, der - wie humanistisch seine Intentionen auch sein mochten - immer noch die Gefahr von Überheblichkeit, Stolz und engstirnigem Separatismus in sich barg.124 Am 25. Mai 1917 schrieb Zweig erneut an Buber, wobei er seinen Widerstand gegen das zionistische Vertrauen in die Realpolitik und seine Ablehnung des hinter dem jüdischen Nationalismus stehenden Prinzips näher erläuterte. Er wies darauf hin, daß er vor 1914 „dumpf schon empfand" und auf seinen Weltreisen dann in der Praxis umgesetzt hatte, „die absolute Freiheit zwischen den Nationen zu wählen, sich überall als Gast zu fühlen, als Theilnehmer und Mittler .. ," 125 Dankbar anerkannte er: „Dieses übernationale Gefühl der Freiheit vom Wahnsinn einer fanatischen Welt, hat mich in dieser Zeit innerlich gerettet" und es ist „das Judentum, das mir diese übernationale Freiheit ermöglicht hat". 126 „Ich halte nationale Gedanken, wie den jeder Einschränkung als eine Gefahr und erblicke eigentlich in der Idee, daß das Judentum sich realisieren sollte, ein Herabsteigen und einen Verzicht auf seine höchste Mission. Vielleicht ist es sein Zweck, durch Jahrhunderte zu zeigen, daß Gemeinschaft auch ohne Erde, nur durch Blut und Geist, nur durch das Wort und den Glauben bestehen kann, und dieser Einzigartigkeit uns zu begeben, heißt für mich ein hohes Amt freiwillig niederlegen, das wir von der Geschichte übernommen haben, ein Buch schließen, das in tausend Blättern beschrieben, noch Raum hat für tausend und tausend Jahre Wanderschaft."127

Zweig räumte ein, daß seine Uberzeugung vielleicht aus einem „tiefen Pessimismus über alle Realitäten ..., aus einem Mißtrauen gegen alles, was wirklich soll, statt im Geist, im Glauben, im Ideal zu wahren", entstanden ist. Er gestand ein, persönlich nicht „an die Realisierung einer Volksgemeinschaft" oder die Neuerrichtimg einer jüdischen Heimat zu glauben, obwohl er jene respektierte, die mit aller Hingabe und viel Geschick danach strebten.128 Zweig war jedenfalls überzeugt, daß die von Buber angestrebte menschliche und gesellschaftliche Verwirklichung in einem irdischen Zion noch hunderte Jahre entfernt und damit ebenso eine Abstraktion war wie seine eigene Vorstellung von einem „geistigen Jerusalem". Anfang Februar 1918, nach der Balfour Declaration, wurden Zweigs bange Warnungen vor dem Zionismus noch drängender und nahmen einen prophetischeren Ton und Charakter an.

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„Je mehr sich im Realen der Traum zu verwirklichen droht, der gefahrliche Traum eines Judenstaates mit Kanonen, Flaggen, Orden, gerade die schmerzliche Idee der Diaspora zu lieben, das jüdische Schicksal mehr als das jüdische Wohlergehn. Im Wohlergehn, in Erfüllungen war dieses Volk nie ein Wert - nur im Druck findet es seine Kraft, in der Auseinandersprengung seiner Einheit. Und im Beisammensein wird er sich selbst auseinandersprengen. Was ist eine Nation, wenn nicht ein verwandeltes Schicksal? Und was bleibt noch von ihr, entweicht sie ihrem Schicksal?"129 Die Rückkehr nach Zion würde letztlich bedeuten, daß sich ein historischer Kreis schloß, es würde das Ende einer unermüdlichen, jahrhundertelangen Wanderschaft durch Europa und die ganze Welt bedeuten. Für Stefan Zweig wäre es „eine tragische Enttäuschung wie jede Wiederholung".130 In seinem packenden pazifistischen Stück Jeremias versuchte Zweig seiner Vision des jüdischen Schicksals dramatisches Fleisch und Blut zu verleihen - „die Tragik des Menschen, dem nur das Wort, die Warnimg und die Erkenntnis gegen die Realität der Tatsachen gegeben ist", zu zeigen.131 In einem Brief an Buber hatte Zweig das Stück als Hymne an die Tragödie der Juden als das „auserwählte Volk" beschrieben, die ewigen Wanderer und Leider, die in zahllosen Ländern und unzählige Jahre hindurch im Geiste mit ihrem Gott gerungen hatten. In seiner poetischen Bearbeitung des biblischen Stoffes brachte Zweig all seine Gefühle der Wut, der Ohnmacht und des Schmerzes zum Ausdruck, die sich in ihm während des Ersten Weltkrieges aufgestaut hatten. Die Figur des Jeremias bot ihm ein mächtiges Medium, um gegen „das falsche Heldentum, das lieber die andern vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern ..." zu kämpfen.132 Jeremias ermöglichte es Zweig, in dramatischer Form die tragische Situation von „Defaitisten" wie ihm selbst zu schildern, die dazu verdammt waren, Propheten der Katastrophe zu sein, ohne irgendeinen Einfluß auf die Ereignisse zu haben. Das Stück war in seiner umfassenden Aussage jedoch keineswegs zutiefst pessimistisch, es bekräftigte vielmehr Zweigs Glauben an die „seelische Superiorität des Besiegten". Bezeichnender ist vielleicht, daß die Wahl eines biblischen Themas es ihm erlaubte, „die im Blut oder in der Tradition dunkel begründete Gemeinschaft mit dem jüdischen Schicksal" wiederzuentdecken.133 So verstärkte Jeremias Zweigs zunehmend starke Identifizierung mit dem jüdischen Erbe. „War es nicht dies, ein Volk, das immer wieder besiegt worden war von allen Völkern, immer wieder, immer wieder, und doch sie überdauerte dank einer geheimnisvollen Kraft - eben jener Kraft, die Niederlage zu verwandeln durch den Willen, sie immer

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und immer wieder zu bestehen? Hatten sie es nicht vorausgewußt, unsere Propheten, dies ewige Gejagtsein und Vertriebensein, das uns auch heute wieder wie Spreu über die Straßen wirft, und hatten sie dies Unterliegen unter der Gewalt nicht bejaht und sogar als einen Weg zu Gott gesegnet?"134

In der neunten und letzten Szene von Zweigs Drama erklärt Jeremias die Bedeutung der Qualen und Leiden, denen das auserwählte Volk ausgesetzt ist. „Damit wir ihn erkennen, sendet Gott uns die Prüfung. Andern Völkern ist klein Zeichen und gering Erkennen gegeben, in Hölzern und Steinen meinen sie des Ewigen Gesicht zu erschauen. Doch unser Gott, unser Väter Gott, ein verborgener Gott ist er, und erst in der Tiefe des Leidens werden wir seiner gewahr, nur in der Prüfung tut er sich auf seinen Erwählten. Segen, wem sie begegnet, denn was wäre Israel unter den Völkern, prüft es nicht ewig sein Gott? Wen er liebet, den stößt er hinab in die Tiefe des Lebens, daß er ihn erprobe, und, ihr Brüder, immer hat Gott sein Volk geliebt, immer hat er es hinabgestoßen ... Nur die Geprüften hat er erwählet, und nur den Leidenden gilt seine Liebe. So lasset uns die Geprüften sein und lieben sein Leid, ihr Brüder! Er hat uns brüchig gemacht, daß er tiefer sich senke in unseres Herzens Scholle und wir fruchtend würden seines Samens, er hat uns geschwächt am Leibe, daß er uns stärke in der Seele."155

Die Botschaft des Propheten ist im wesentlichen eine Bekräftigung der Diaspora, wie sie Zweig bereits in seinen Briefen an Martin Buber geäußert hatte. „Weltwanderschaft ist unser Zelt, Mühlsal unser Acker und Gott unsere Heimat in der Zeit."156 In Jeremias werden die Heimatlosen, Besiegten, Exilanten zu den Auserwählten Gottes; denn eben ihr Elend wird zur Garantie der Freiheit, ihr Drangsal enthält den Samen der Erlösung; ihr Leid das Versprechen der Ewigkeit. So wird Jeremias zum Propheten des Exodus und der nie endenden Rückkehr. „Willig ins Dunkel der Völker und Jahre, Wandre dein Wandern und leide dein Leid! Auf, du Gottvolk! Beginn deine wunderbare Heimkehr durch die Welt in die Ewigkeit."157

Der dritte Chor der Wanderer greift Jeremias' Thema der ewigen Wanderschaft durch eine sich ändernde Welt auf, „die ewig besiegten" und „keinem genehm" auf das letzte Ziel ihrer Wünsche zu, ein geistiges Jerusalem. Der fünfte Chor der Wanderer faßt die Lehren des Propheten mit Worten zusammen, die in ihrem Unterton vielleicht mehr christlich als hebräisch sind.

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„Wir wandern den heiligen Weg unserer Leiden, Von Prüfung und Prüfung zur Läuterung, Wir ewig Bekriegte und ewig Besiegte, Wir ewig Verstrickte und ewig Befreite, Wir ewig Zerstückte und ewig Erneute, Wir aller Völker Spielball und Spott, Wir einzig Heimatlosen der Erde, Wir wandern in alle Ewigkeiten, Die Letztgebliebenen Unendlicher Schar Heimwärts zu Gott, Der aller Anfang und Ausgang war, Bis daß er uns selber die Heimstatt werde."138

Die dramatische Kaft und Eloquenz von Zweigs Jeremias zeigt, wie sehr er seit dem bittersüßen Asthetizismis seiner Jung-Wien-Tage gereilt war. Seine jüdische Identifikation aber blieb zögernd, unsicher, seinen paneuropäischen Vorstellungen zweifellos nachgeordnet und durch sein apolitisches Temperament strikt begrenzt.139 In den schweren Jahren des Aufstiegs der Nazis nach 1953 wurde Zweig durch eine grausame Ironie des Schicksals selbst ins Exil und in die unwillkommene, tragische Rolle des müden, heimatlosen Wanderers gezwungen, den er im Jeremias verherrlicht hatte. Seine immer wiederkehrenden Beteuerungen des Judentums der Diaspora im neuen Kontext von Hitlers Aufstieg zur Macht hatten nun den hohlen und nicht sehr überzeugenden Klang eines Mannes, der durch den endgültigen Zusammenbruch seiner bislang sicheren Welt und der humanistischen Ideale des Erasmus' verwirrt war. Noch 1940 sprach Zweig etwas naiv von der Überlegenheit der ästhetischen und der geistigen Verpflichtungen der Juden und pries deren freiwilligen Verzicht auf „Eroberung, Expansion und militärische Macht zu Gunsten der Freuden des Geistes".140 Das Problem bei dieser Haltung war nicht so sehr, daß Zweigs grundlegende Werte falsch waren, sondern vielmehr, daß seine unpolitische Idealisierung der Kultur in einer zunehmend gewalttätiger werdenden Welt völlig ohnmächtig schien. Zweigs bedingungsloser Glaube an die Vernunft, die Menschlichkeit, die künstlerische und geistige Schöpfung jenseits allen Nationalismus und aller raison schien 1942 durch Europas imbarmherzig selbstmörderischen Weg ebenso zum Untergang verurteilt wie sein prophetischer Glaube an den letztlichen Sieg der Unterdrückten. In einer Welt, die nun durch den Kult der Macht um ihrer selbst willen beherrscht wurde, muteten die panhumanistischen Werte dieses letzten großen Uberlebenden des Goldenen Zeitalters des Wiener Judentums wie ein Relikt einer

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vergangenen Epoche an. Was konnten die Ideale der Kultur und Bildung, des Europäertums oder der Aufklärung im Angesicht Hitlers und des Holocaust noch bedeuten? Weder ein sentimentaler österreichischer Patriotismus noch ein Rest an jüdischem Gefühl für die moralische Mission bargen eine reale Hoffnung angesichts der verheerenden Gewalt des Nazi-Regimes.141 Zweigs Fatalismus und Verzweiflung über die Selbstzerstörung Europas ließen ihm nur eine Alternative. Sein Selbstmord in Brasilien Anfang 1942 schien den Vorhang über siebzig Jahre österreichisch-jüdischer Symbiose, die Zweig - mit Ausnahme des mittelalterlichen Spanien - für die glücklichste und fruchtbarste Zeit in der jüdischen Diaspora-Geschichte hielt, endgültig fallen zu lassen.142 Wie wir im Verlauf dieser Untersuchung gesehen haben, war Zweig nur einer von vielen österreichischen Juden (und Nichtjuden) vor ihm, die leidenschaftlich an das Ideal einer supranationalen Freiheit des Geistes geglaubt hatten, selbst in einem Zeitalter des wachsenden Fanatismus und der Verherrlichung der rohen Gewalt. Diesen edlen Traum teilte auch sein Freund und Zeitgenosse, der großartige österreichisch-jüdische Romancier Joseph Roth, dessen zerrissene Identität in beeindrukkender Weise viele der Doppeldeutigkeiten der jüdischen Existenz in der Habsburgermonarchie aufzeigt. Das Werk Joseph Roths läßt sich ohne den ethnischen Hintergrund und das sozio-politische Klima des österreichischen Vorkriegs-Galizien nicht wirklich verstehen.143 1894 in der ostgalizischen Stadt Brody geboren, der Stadt mit dem höchsten Prozentsatz an Juden in der österreichisch-ungarischen Monarchie, bezog Roth seine Inspiration sein ganzes Leben hindurch aus dem Milieu, der Atmosphäre und von den Menschentypen, mit denen er aufgewachsen war. Konsequenter als jeder andere deutschsprachige Schriftsteller kämpfte er gegen die negativen Stereotypen seiner Heimatprovinz, insbesondere der galizischen Juden, die in Westeuropa immer noch vorherrschten. Einmal vertraute er einem Freund an: „Je westlicher die Herkunft eines Juden, desto mehr Juden gibt es, auf die er herunterschaut. Der Frankfurter Jude verachtet den Berliner Juden, der Berliner Jude verachtet den Wiener Juden, der Wiener Jude den Warschauer Juden. Und dann gibt es ganz drüben noch die Juden in Galizien, auf die alle herunterschauen, und genau von dort komme ich, von den niedrigsten aller Juden."144 Ohne Zweifel wollte der junge Roth dem Provinzialismus und der Enge des ostgalizischen Schtetls entfliehen; andererseits sind Roths Beschreibungen der Landschaft seines Geburtslandes Galizien, des bäuerlichen Lebensstils, der natürlichen Schlichtheit und der naiven Unschuld seiner Bewohner voll der Nostalgie, des Pathos und der Wärme. In seinem bemerkenswerten Essay Juden auf Wanderschaft zollte Roth der Schönheit seiner Heimat und den positiven Eigenschaften ihrer jüdischen Bevölkerung Tribut. Roth schätzte vor allem die fromme Religiosität und die

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Kontinuität jüdischer Familientraditionen in Galizien und Osteuropa, geistige Vorteile, die er der Leere und dem falschen Assimilationismus der westlichen bürgerlichen Juden für weit überlegen hielt.145 Der bescheidene Ostjude war der göttlichen Inspiration nach Meinung Roths nicht nur viel näher, sondern war auch menschlicher als sein assimilierter Widerpart im Westen. Die Moderne der westlichen Juden war Roth zutiefst suspekt, und er setzte sie mit einem Verlust sowohl an jüdischer als auch an menschlicher Substanz gleich. Wie Martin Buber sah Roth die wahre Seele des Judentums nicht im liberalen, verwestlichten „Protestantismus" des deutschen Reformjudentums, sondern in den chassidischen Gemeinden Ostgaliziens und Rutheniens. 146 Seine sentimentale Zuneigung zum Zusammenhalt und zur Einheit dieses chassidischen Judentums war in gewisser Hinsicht komplementär zu seiner konservativen Sehnsucht der Nachkriegszeit nach der Wiederherstellung der alten Habsburgermonarchie, in der die Juden ein so angenehmes Plätzchen gefunden hatten.147 Hand in Hand ging dies mit dem wohlwollenden Bild, das er von den rückständigeren slawonischen Völkern der Monarchie zeichnete. Nach Meinung Roths waren sie für den Augenblick vom Lauf der Moderne und des Fortschrittes mit seiner Verzerrung der familiären Bande und der Aushöhlung der warmen, einfachen Solidarität, welche die Gemeinschaft ausstrahlte, verschont geblieben. In Roths konservativer Ummünzung der Werte lebte die Welt der Schtetls als ideale Verkörperung der verlorenen Vertrautheit und Unschuld wieder auf; die materialistischen Werte des westlichen Bürgertums (des jüdischen wie des nichtjüdischen) stellten die sich selbst entfremdete Antithese dar. In den ererbten Traditionen, Hoffnungen und Ängsten der Ostjuden fand Roth eine überzeugendere Metapher für einen authentischen menschlichen Universalismus als in der verfeinerten Uberspitztheit der westlichen Bildung. Daher seine Sorge über die Massenauswanderung und die zunehmende Assimilation der Ostjuden im Westen, sein Bedauern und seine Mißbilligung ihrer Bemühungen um eine nationale Integration in Amerika, der Sowjetunion sowie Mittel- und Westeuropa. 148 Der Exodus in den Westen war für Roth eine Odyssee in die Wüste, die vom Gelobten Land des Schtetls immer weiter weg in die sterile Anonymität des Urbanen bürgerlichen Lebens mit all seiner oberflächlichen Sauberkeit, Bequemlichkeit und seinen technischen Geräten führte.140 Zugegebenermaßen war der Ostjude in der gesellschaftlichen Landschaft Osteuropas in vielerlei Hinsicht heimatlos und fremd, immer noch dem freudlosen Elend, der wirtschaftlichen Unsicherheit, der Unterdrückung und der Engstirnigkeit des Ghettos unterworfen. Zumindest aber war er seiner eigenen Identität, seiner Tradition, seinem ständigen Dialog mit Gott und seinem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer ununterbrochenen Kette von Generationen treu gebheben. In seinem Roman Hiob verkörperte Roth dieses Ethos in der zentralen Figur des

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Mendel Singer; „er war fromm, gottesfurchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude", ein Melamed, der die durch die Vorfahren bedingte Kontinuität seiner Existenz durch den Verlust seiner engsten Familie und die bevorstehende Emigration nach Amerika bedroht sieht.150 In Roths Werk wurzelt die Würde des Menschen unveränderlich in der Aufrechterhaltung von Traditionen und in der Anerkennung einer alles umfassenden, allgemein anerkannten Quelle der Macht. Seit seiner Jugend in Brody und vor allem während seines Kriegsdienstes in der österreichisch-ungarischen Armee sah der heimatlose, vaterlose Roth in der bedingungslosen Loyalität gegenüber dem Kaiser und seinem Vielvölkerstaat seinen Lebensanker.151 Nach dem Zusammenbruch dieses Reiches (dem vielleicht größten Trauma in seinem Leben als Erwachsener) wurde Roth zusätzlich zu seiner Rolle als Chronist der Leiden der Ostjuden zum epischen Verfasser des Mythos der Habsburger. Sowohl in seinem persönlichen Leben als auch in seinem Werk versuchte Roth diese Verpflichtungen zu verbinden und zu vereinen, indem er sich wortreich fiir den österreichischen Supranationalismus und die gegenseitige Abhängigkeit der Habsburger, der Juden und der slawischen nationalen Minderheiten einsetzte. In besonderer Weise beschwor er diese Symbiose des Hauses Habsburg, der Juden und der Slawen in seinem Radetzkymarsch herauf (1932); in einer meisterhaft geschilderten Szene beschreibt Roth eine Versammlung frommer galizischer Dorfjuden, die Franz Joseph I. (der unter vielen anderen Titeln den des Königs von Jerusalem trug) huldigten: „Der schwarze Haufen der Juden wogte ihm entgegen. Ihre Rücken hoben und senkten sich. Ihre kohlschwarzen, feuerroten und silberweißen Bärte wehten im sanften Wind. Drei Schritte vor dem Kaiser blieb der Alte stehen. Er trug eine große purpurne Thorarolle in den Armen, geziert von einer goldenen Krone, deren Glöckchen leise läuteten. Dann hob der Jude die Thorarolle dem Kaiser entgegen. Und sein wildbewachsener, zahnloser Mund lallte in einer unverständlichen Sprache den Segen, den die Juden zu sprechen haben beim Anblick eines Kaisers. Franz Joseph neigte den Kopf. Über seine schwarze Mütze zog feiner, silberner Altweibersommer, in den Lüften schrien die wilden Enten, ein Hahn schmetterte in einem fernen Gehöft. Sonst war es ganz still. Aus dem Haufen der Juden stieg ein dunkles Gemurmel empor. Noch tiefer beugten sich ihre Rücken. Wolkenlos, unendlich spannte sich der silberblaue Himmel über der Erde.,Gesegnet bis du!', sagte der Jude zum Kaiser. ,Den Untergang der Welt wirst du nicht erleben!' Ich weiß es! dachte Franz Joseph. Er gab dem Alten die Hand. Er wandte sich um. Er bestieg seinen Schimmel."152

Roth betonte nicht nur und zeichnete voller Sympathie die Beziehung zwischen dem frommen katholischen Kaiser und seinen loyalen jüdisch-orthodoxen Untertanen. Er glaubte auch leidenschaftlich an die universelle Mission der Habsburger, an ihre

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göttliche Legitimität und ihre besondere Eignung, die Vielzahl christlicher Völker in ihrem Reich zu regieren. Daher war es kein Zufall, daß der Held des Radetzkymarsch, Leutnant Carl Josef von Trotta, aus einer Familie slowenischer Grenzbauern kam, deren besondere Verbindung mit dem Kaiser in das Jahr 1859 zurückreichte, als dessen Großvater Kaiser Franz Joseph in Solferino das Leben gerettet hatte; es war auch kein Zufall, daß er sich stets darum bemühte, nach Hause und zu der traditionellen Lebensweise seiner slowenischen Vorfahren zurückzukehren. Schließlich läßt sich Trotta nach dem Abschied aus der Armee in Ostgalizien (nahe der russischen Grenze) unter ruthenischen Bauern, Polen und Juden nieder, wo er in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges im Gefecht fallt.153 Mit diesem epischen Roman über das habsburgische Osterreich und dessen Niedergang und dem Folgeroman Die Kapuzinergruft (1939) stellt Roth unter Beweis, daß er sich der zentrifugalen Kräfte in der Monarchie völlig bewußt war, die langsam, aber sicher auf den Zerfall hinarbeiteten. Sein Sprachrohr gegen diesen Trend ist in beiden Roman der gebildete, reiche polnische Graf Chojnicki, der seinen Zuhörern jedes Mal, wenn er aus Wien zurückkehrt, einen düsteren Vortrag hält, der, um einen zu zitieren, wie folgt lautet: „Dieses Reich muß untergehn. Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert Stücke. Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich kann's auf der Ringstraße nicht mehr aushalten. Die Arbeiter haben rote Fahnen und wollen nicht mehr arbeiten. Der Bürgermeister von Wien ist ein frommer Hausmeister. Die Pfaffen gehn schon mit dem Volk, man predigt tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag' euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist's aus. Wir werden's noch erleben!"154

In Die Kapminergruft beschrieb Roth in ausführlicher und beängstigender Weise den Niedergang der Monarchie, deren Restauration ihm in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts immer noch als eine offene Chance für die Stabilität in Mitteleuropa und als einziges Bollwerk gegen die Nazi-Barbarei erschien. In dem Roman versucht Roth die Macht, die Größe und die Schönheit des alten Österreich zu vermitteln, dem letzten wirklich universellen Staat und legitimen Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches. Aber in Wirklichkeit war die Aufsplitterung schon erfolgt, gemeinsam mit dem Abstieg in einen fanatischen Nationalismus. In Die Kapuzinergruft erklärt Graf Chojnicki, daß die Initiatoren und Instrumente dieses Verrats des Habsburgerreiches die sogenannten „Herrenrassen" waren, die deutschen Nationalisten in Wien, Böhmen, Mähren und den Alpentälern, und die ungarischen Regie-

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renden, die schonungslos damit fortfuhren, ihre slowakischen, rumänischen, kroatischen, serbischen, ruthenischen und deutschen Minderheiten zu unterdrücken. Die einzig wirklich loyalen Österreicher gab es an der Peripherie der Monarchie, unter den Polen, Ruthenen, Slowenen, den Kaftanjuden, ja sogar unter den Tschechen usw. In diesen Kronländern, unter den ärmeren, rückständigeren, leidenden nationalen Minderheiten schlug das Herz der Monarchie, und nicht inmitten des blendenden Reichtums, der gesellschaftlichen Umgangsformen und des kulturellen Genies Wiens. „Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Polen, nicht unsere Ruthenen haben uns verraten", erinnert Graf Chojnicki Trotta, „sondern nur unsere Deutschen, das Staatsvolk."155 Sie konnten es nicht mehr länger begreifen, daß das kaiserliche Osterreich der Prototyp einer universalistischen Supranation war, in seiner historischen Bedeutung und Mission der grotesken, engstirnigen, rassistischen Mythologie des deutschen Nationalismus weit überlegen.156 In späteren Jahren identifizierte sich Joseph Roth völlig mit der österreichischen kaiserlichen Mystik, mit dem habsburgischen und römischen Katholizismus (zu dem er konvertierte), auch wenn das Reich seitdem er 25 Jahre alt war nur mehr in seiner Phantasie existierte. Er bewahrte sich diese idealisierte Treue auch trotz seiner schmerzlichen Erfahrungen in Wien zwischen 1913 und 1916 (und erneut zwischen 1918 und 1920), als der Antisemitismus in der Stadt besonders bedrohliche Ausmaße annahm.157 In seinem Juden auf Wanderschaft schrieb er: „Die Christlichsozialen und Deutschnationalen haben den Antisemitismus als wichtigen Programmpunkt. Die Sozialdemokraten fürchten den Ruf einer jüdischen Partei'. Die Jüdischnationalen sind ziemlich machtlos. Außerdem ist die jüdisch-nationale Partei eine bürgerliche. Die große Masse der Ostjuden aber ist Proletariat... In einem jüdischen Wohlfahrtsbüro wird der Ostjude von seinen Glaubensgenossen und sogar von seinen Landsleuten oft nicht besser behandelt als von Christen. Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien." 158 Dieser fremdenfeindliche Antisemitismus, den er zutiefst verabscheute, verminderte jedoch nicht seine Achtung vor dem aristokratischen Lebensstil und dem kultivierten Umgang im Wien der Vorkriegszeit, die er übernahm und bis hin zum ausgefeilten Handkuß und zum spezifisch wienerischen Akzent nachahmte. Roths Identifizierung mit Wien blieb jedoch zweitrangig und im wesentlichen oberflächlich. Es ist richtig, daß er während seines Aufenthaltes in Wien zu so charakteristisch assimilationistischen „Klimmzügen" veranlaßt wurde wie der berüchtigten Fälschung seines wirklichen Geburtsortes und dem Herunterspielen seiner galizischen und jüdischen Herkunft.159 Die spätere Bekräftigung seines osteuropäisch-jüdischen Hintergrundes und sein starkes Identitätsgefühl mit dem jahrhundertealten gemeinsamen Schicksal und der über 4000 Jahre hinweg geteil-

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ten Blutbande war jedoch viel typischer für ihn als die gelegentlichen Krisen des Selbsthasses. Bei seiner Ablehnung der westlichen jüdischen Assimilation und der Selbstentfremdung (fast ebenso entschieden wie die Verurteilung durch Franz Kafka und ähnlich intellektuell antisemitisch gefärbt) fühlt man nichtsdestoweniger die Agonie eines gespaltenen Ich.160 Roths Einstellung zum Zionismus war anfänglich mehrdeutiger. Er anerkannte dessen starke, lebendige Wurzeln im osteuropäischen Judentum; er begrüßte die Errungenschaften der Chalutzim in Palästina; und bis zu einem gewissen Grad sympathisierte er mit der Logik der jüdischen nationalen Einheit in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit des rassischen Exklusivismus, der Verfolgung und der Diskriminierung der jüdischen Minderheiten in den neuerrichteten osteuropäischen Nationalstaaten.161 Roth merkte an, daß der moderne politische Zionismus sich zuerst im versunkenen habsburgischen Österreich in einer Atmosphäre der erbitterten nationalen Kämpfe zwischen Deutschen und Tschechen, Magyaren und Rumänen, Polen und Ruthenen entwickelt habe. Die Juden hätten gelitten, weil sie kein eigenes, genau definiertes Territorium besaßen. Gefangen im Kreuzfeuer der ethnischen Konflikte, verstärkte ihre ungewöhnliche Situation den Antisemitismus der österreichischen Völker.162 Trotz dieser Überlegungen schien der Wunsch nach einer jüdischen Heimat Roth letztlich noch anachronistischer als antizionistischen Zeitgenossen wie Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder Stefan Zweig, wenn auch aus anderen Gründen. Roths antizionistischer Standpunkt resultierte zum Teil aus der habsburgischen Mythologie des Supranationalismus und seiner angeborenen Ablehnung des Nationalismus ganz allgemein als Geißel und Plage des 20. Jahrhunderts. Zum Teil wurde er vielleicht auch von der jüdisch-orthodoxen Ansicht beeinflußt, daß der Kampf um die nationale Freiheit unbedeutend, ja schädlich sei - die Rückkehr in das Gelobte Land lag in der Hand Gottes und konnte erst dann erfolgen, wenn der Messias kam. 165 Erstaunlich ist, daß Roths Antizionismus Mitte der 50er Jahre unter dem Einfluß des Nationalsozialismus entschieden unausgewogen wurde, als die Welt des Schriftstellers durch Hunger, Exil und Alkoholismus in Bitterkeit und tiefste Verzweiflung zerfiel. In einem Brief an Stefan Zweig vom 14. August 1955 Schloß er die Vorstellung einer Zusammenarbeit mit Chaim Weizmann oder jedem anderen nationalistischen Juden gegen Hitler kategorisch aus. Roth behauptete allen Ernstes: „Ein Zionist ist ein Nationalsozialist, ein Nazi ist ein Zionist"; er hielt daran fest, daß die Zionisten den jüdischen Boykott der Nazis untergraben würden, und daß es „Verbindungen" und „Sympathien" zwischen den beiden nationalistischen Bewegungen gab. Roth nannte Hitler sogar einen „blöden Bruder des Zionisten". Zweig gegenüber meinte er: „Sie können damit vielleicht das Judentum beschützen. Aber mir kommt es darauf an, Europa und den Menschen zu beschützen, vor Nazis und vor

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Hitler-Zionisten. Mir kommt es nicht darauf an, die Juden zu beschützen, es sei denn: als die am meisten gefährdete Avantgarde der Menschheit."164 Roths politische Einstellung in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war durchaus legitimistisch - d. h. katholisch, konservativ, monarchistisch und aktiv zu Gunsten einer habsburgischen Restauration. Am 19. August 1935 schrieb er an Zweig: „Ihre Feiniuhligkeit wird vielleicht dagegen protestieren, daß ein Saujud', wie ich, gleich hinter dem Papst gedruckt wird. Aber, bedenken Sie, bitte, daß es mir sehr, sehr ernst ist. Ich sehe in der Tat keinen anderen Weg, als den Kalvarienberg, der zu Christus fiihrt und keinen größeren Juden. Ja, ich werde vielleicht noch weiter gehn, wenn ich die Kraft habe, und in einen Orden eintreten. Nennen Sie das eine Art Selbstmord. Ich sehe nichts anderes, als den christlichen Glauben, (keine Literatur) und ich glaube nicht an diese Welt, und ich glaube nicht, daß man auf sie wirken kann."165

Roths Briefe aus dieser Zeit sind voll des tödlichen morbus Austriacus - Resignation, Melancholie, Selbstironie und therapeutischer Nihilismus. Trotz all seines Fatalismus und seiner habsburgisch-legitimistischen Exzentrizität, war Roth hinsichtlich der nationalsozialistischen Bedrohung fiir die Juden jedoch scharfsinniger als Zweig. In demselben Brief vom 19. August 1955 warf er seinem Freund übertriebenen Optimismus, Naivität und Flucht vor der Wirklichkeit vor: „Sie unterschätzen oder Sie übersehen nicht ein paar deutliche Sachen: 1) die Sucht, die Juden zu erniedrigen, stammt NICHT von heute oder von gestern; sie gehört zum Programm des ΙΠ. Reiches vom ersten Tag an. Das weiß doch alle Welt. Der Streicher ist doch nicht anders, als der Hitler, und man brauchte doch nicht erst zu warten, bis der Streicher von Nürnberg nach Berlin kommt! In der nationalsozialistischen Idee, wenn man sie so nennen kann, ist nichts Anderes enthalten, als die Verachtung der jüdischen Rasse! Warum sehen Sie es denn erst heute? Warum nicht schon vor zwei Jahren? 2 3/+ Jahren?! Diese Bestialität war von Anfang drin. & hat nicht erst vor 2 Monaten die niederträchtige Auffassung von den Juden begonnen. Beleidigt und erniedrigt waren wir vom ersten Hitlertag an!"166

Joseph Roth und Stefan Zweig waren, das soll nicht ungesagt bleiben, im Hinbück auf ihren sozialen Hintergrund und ihren psychologischen Typus Gegenpole. Zweig, ein echter Sproß des Wiener Großbürgertums, war dessen liberal-humanistischem Ideal des Europäertums verhaftet, dem sein Judesein insgesamt untergeordnet war. Joseph Roth, der rebellische, ostgalizische, plebejische Ostjude wandte sich einem reaktionären Katholizismus und dem habsburgischen Konservatismus zu, um seine zerstörte Welt vor dem Unheil der modernen Nationalismen zu retten, ohne je seine Zuneigung zu den orthodoxen, traditionellen Juden aufzugeben. Aber trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen Zweig und Roth lag etwas Gemeinsames in

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ihrer Nostalgie nach „der Welt von Gestern" und in ihren Bemühungen um eine Synthese aus dem Wertvollsten der europäischen, der deutschen und der jüdischen Kultur.167 Roth sah in der Monarchie ebenso wie Zweig eine stabiliserende und beständige Macht, die es vermochte, die verschiedenen Völker und Kulturen miteinander zu versöhnen. Beide entfalteten ihren Habsburger-„Mythos" vor dem Hintergrund eines fanatischen völkischen Nachkriegsnationalismus, wo es um Blut und Rasse ging, und der sich mit bislang nicht gekannter Grausamkeit gegen die Juden richtete. Darüber hinaus sahen beide, Zweig und Roth, ebenso wie Hugo von Hofmannsthal in der legendären Vaterfigur Franz Josephs I. den Schutzherrn aller seiner Völker. Insbesondere für den vaterlosen Joseph Roth erlangte die väterliche Figur des alten Kaisers eine ganz besondere existentielle, symbolische und moralisch-politische Bedeutung.168 Viel stärker als Stefan Zweig und in deutlichem Unterschied zu der Mehrheit der liberalen Wiener Juden unterstrich Joseph Roth die konservativen Werte der Ordnung, der aristokratischen Hierarchie, der Religiosität und der ländlichen Schlichtheit, denen man in der österreichischen Monarchie begegnete. Der lateinische Universalismus und der Supranationalismus der Habsburger standen in seinen Augen weit über der emporkömmlinghaften Ungeschliffenheit der Dynastie der Hohenzollern. Im Zusammenspiel des preußischen Militarismus und der heidnischen Mythologie des Alldeutschtums sah Roth die historischen Wurzeln der „Hitlerei". Er unterschied nicht zwischen den Nazis und den Preußen; sein Haß gegen diese brach durch: „Sie haben die Preußen [...] niemals so gesehen wie ich. Ich kenne sie aus dem Felde. Es ist wahr, was sie alles von Greueln in Belgien erzählen. Es ist wahr! Die Preußen sind die Vertreter der chemischen Hölle, der industrialisierten Hölle der Welt. Der Schlag wird sie treffen. Sie werden untergehen, viel früher, als man glaubt."169 Beides war seiner Meinimg nach den Traditionen des Hauses Habsburg, das den österreichischen Genius geformt hatte, zutiefst fremd. Roths eindeutige Vorhebe für die feudalen, prämodernen Werte des habsburgischen Osterreich fand in seiner Verherrlichung der mystischen, „primitiven" Ostjuden gegenüber den bürgerlich-rationalistischen Westjuden eine Parallele. Diese Umkehr bekannter Stereotypen der Aufklärung erinnert an die Begeisterung fur die „Gemeinschaft" in den frühen Schriften Martin Bubers. Sowohl bei Buber als auch bei Beer-Hofinann stoßen wir auf dieselbe Betonung der Bedeutung der Blutsbande, des Erbes der Vorfahren und der in der Kette der Generationen verkörperten Kontinuität wie in Roths Schriften. Diese Themen waren einem ganzen Kreis junger Künstler und Intellektueller in Mitteleuropa um die Jahrhundertwende gemeinsam. Daher kann Roths Werk trotz seines idiosynkratischen Charakters als Repräsentant einer Vielzahl von Strömungen interpretiert werden, die unter dem mitteleuropäischen Judentum in den letzten Jahren des Habsburgerreiches an Einfluß gewannen. Vor allem sein habsburgisch-dynastischer Patriotismus und die Rechtfertigung

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der Pax Austriaca im östlichen Mitteleuropa wurden von vielen österreichischen Juden vor 1914 geteilt, unabhängig davon, ob sie Parias oder Emporkömmlinge, Orthodoxe oder Reformer, Konservative, Liberale, Sozialisten oder Zionisten waren.170 In Wien selbst war der kaiserliche Zauber besonders trügerisch. Unter dem persönlichen Schutz des Kaisers und der patriarchalischen Ordnimg der ältesten regierenden Dynastie Europas, wohlhabend, fleißig und am Höhepunkt ihrer kreativen Schaffenskraft, waren die Wiener Juden 1914 großteils noch zuversichtlich, daß sie den antisemitischen Sturm überstehen würden, der ihren aufsehenerregenden Aufstieg verdüstert hatte. Der Kampf um die jüdische Emanzipation war vier Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges siegreich beendet worden. Nicht einmal Theodor Herzl glaubte ernsthaft daran, daß diese per Gesetz widerrufen werden könnte. Aber die warnenden Wolken standen bereits am Horizont, und in den Werken der großen politischen, religiösen, literarischen und künstlerischen Persönlichkeiten des habsburgischen Judentums findet sich mehr als ein Hinweis auf die kommende Katastrophe. Ihre Visionen, Ziele, Spannungen und Identitätskonflikte waren ein zuverlässiger Seismograph für die kreativen Widersprüche des Wiener Judentums, dessen Errungenschaften und Mißerfolge einen schicksalhaften Einfluß auf den Lauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts ausüben sollten.

Anmerkungen

1 . VOM G H E T T O ZUR R E V O L U T I O N

1 Siehe Oscar Jäszi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago und London 1971, S. 32, der anmerkt, daß die habsburgische Herrschaft „keinen nationalen Charakter" besaß „und viel privatere Züge als alle anderen einigenden Dynastien" hatte. A. J. P. Taylor, The Habsburg Monarchy, 1809-1918, London 1981, S. 12, beschreibt die habsburgischen Länder noch schärfer als „eine Ansammlung von erblichen Gütern, kein Staat, und die Habsburger waren Grundherren, keine Herrscher ... denen es darauf ankam, den größten Gewinn von ihren Pächtern herauszupressen, um in Europa gut dazustehen". 2 Über den Aufstieg der Habsburger im 16. und 17. Jahrhundert siehe R. J. W. Evans, Das Werden der Habsburgermonarchie 1550-1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen, WienKöln-Graz 1986. 3 Ernst Wangermann, The Austrian Achievement, 1700-1800, London 1973. 4 Siehe Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, Wien 1928, S. 7: „Der erste Wiener Jude, den wir namentlich kennen, ist Schlom, Münzmeister des Herzogs Leopold, 1177-1194. Dieser Schlom genießt überall großes Ansehen und nennt auch die Grundstücke sein eigen, auf denen die Synagoge steht." 5 „Austria", in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, ΠΙ, S. 887-888. 6 Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 8, auch Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 1-14, über die politischen Bedingungen der Juden unter den Babenbergerherzögen. 7 Max Grunwald, Vienna, S. 7ff., betont die Liberalität dieses Dekrets und bemerkt: „Österreich und Wien wurden zu einer Oase in der Wüste des jüdischen Leidens im Mittelalter bis 1420, als Osterreich mit einem Schlag für sie zu einem ,Land des Blutes' wurde." 8 Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien, 1156-1876, Wien 1876, S. 5. 9 Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 9. 10 Max Grunwald, Vienna, S. 32-38: „So endete die jüdische Gemeinde von Wien im Mittelalter mit ihrer Bevölkerung von vierzehnhundert Seelen - eine der größten ihrer Zeit." Siehe auch Bato, Die Juden im alten Wien, S. 10-11, und Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 18-19, der diese Episode nur sehr kurz streift. 11 Gerson Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt im 17. Jahrhundert in Wien, Wien 1864, S. 4-15. 12 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, 1550-1750, Oxford 1985, S. 88-89. 13 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, S. 146-147; über den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund siehe Gerson Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt, S. 37ff.; siehe auch Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 14-17. 14 David Kaufmann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich: Ihre Vorgeschichte (1625-1670) und ihre Opfer, Wien 1889, S. 105-153.

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Anmerkungen

15 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, S. 147. 16 Robert Α. Kann, Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik, Wien-Freiburg-Basel 1962, S. 81-86. 17 Uber Diego d'Aguilar und die sephardische Gemeinde in Wien siehe Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 64-68, und Max Grunwald, Vienna, S. 130-134. D'Aguilar war wahrscheinlich der Sohn eines Proselyten oder eines Maranen, der sich wieder zum Judentum bekehrte. Aufgrund seines Tabakhandels erhielt er eine portugiesische Baronie und erfreute sich sogar der Gunst Karls VI. und Maria Theresias, die fanatisch gegen die Juden eingestellt waren. 1718 setzte er sich für die sephardische Gemeinde von Temesvär ein, der die Vertreibung auf Befehl der österreichischen Armee drohte. Während der Kriege gegen Schlesien setzte er sich auch für die Prager Juden ein, als sie des Verrats angeklagt wurden. Als Untertanen des türkischen Sultans genossen die Mitglieder der sephardischen Gemeinde in Wien eine privilegierte Stellung und waren in dieser frühen Zeit ziemlich wohlhabend. Ihre Muttersprache war das sog. „Ladino". 18 Über Oppenheimer, Wertheimer und die Hofjuden siehe Max Grunwald, Samuel Oppenheimer und sein Kreis: Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs, Wien und Leipzig 1913; auch F. L. Carsten, „The Court Jews. A Prelude to Emancipation", in: Leo Baeck Yearbooks, 1958, S. 140-156; und Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, III, Berlin 1955, S. 191-192, 239-245. 19 Max Grunwald, Vienna, S. 155ff.; Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, S. 215-216, 220-224; Encyclopaedia Judaica, XVI, S. 123; und Nikolaus Vielmetti, „Vom Beginn der Neuzeit bis zur Toleranz", in: Das österreichische Judentum, Hgg. Anna M. Drabek et al., Wien 21982, S. 78. 20 Max Grunwald, Vienna, S. 127; zu Eisenmenger siehe Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-19)3, München 1989, S. 21-30. 21 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, S. 234-235. 22 Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 22. 23 F. L. Carsten, „The Court Jews. A Prelude to Emancipation", in: Leo Baeck Yearbook 3, S. 144. 24 Max Grunwald, Oppenheimer und sein Kreis, S. 78-79. 25 Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, III, S. 239ff.; Max Grunwald, Vienna, S. 120-121. 26 Uber die antijüdischen Ausschreitungen von 1700 siehe Max Grunwald, Vienna, S. 119— 120, der behauptet, daß es die „Unzufriedenheit in den höheren Kreisen mit den angeblichen Wucherpraktiken von Oppenheimer und die Not der unbezahlten Offiziere und Soldaten, die oft keine Nahrang und Kleidung hatten", waren, die das in der breiten Masse der Bevölkerung tief verwurzelte Gefühl gegen die Juden heraufbeschworen. 27 F. L. Carsten, „The Court Jews. A Prelude to Emancipation", in: LeoBaeck Yearbook 3, S. 144. 28 Siehe David Kaufmann, Samson Wertheimer, der Oberfaktor und Landesrabbiner (16581728) und seine Kinder, Wien 1888. 29 Es war Kaiser Karl VI. als König von Ungarn, der Wertheimer zum ungarischen Landesrabbiner ernannte und seinen Beamten befahl, ihn als die oberste Autorität in allen jüdi-

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sehen Rechtstreitigkeiten anzusehen. Wertheimer erfreute sich bis zu seinem Tod im Jahre 1724 der Gunst des antijüdischen Kaisers, Max Grunwald, Vienna, S. 128-129. Obwohl der soziale Kontakt zwischen Juden und Christen zugenommen hatte, verstärkte sich in Wien die Hetze gegen die Juden unter den einheimischen Händlern um 1721. Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 62, schreibt: „Die Verhältnisse der Juden unter Carl VI. waren überhaupt schlecht, insbesondere aber fiir die Wiener Juden. Man hatte den besten Willen, die Juden mit Stumpf und Stiel auszurotten, und wenn dies nicht geschah, so zeigt sich eben darin, daß die Verhältnisse stärker waren, als die Menschen." 30 Für eine lebendige Beschreibung dieses Kreises siehe Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder die Emanzipation: Ein Frauenleben an der Zeitwende, 1758-1818, Frankfurt 1978; siehe auch Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 166-180. 51 Hilde Spiel, Fanny von Arnstein, S. 335ff., über die begeisterte Unterstützung der Arnstein und Eskeles für den Tiroler Aufstand gegen Napoleon. Uber Fanny von Arnsteins leidenschaftliche Abneigung gegenüber den Franzosen und den romantischen, idealisierten „preußischen Patriotismus" ihres Salons (obwohl die Franzosen die erste europäische Nation waren, die eine Emanzipation der Juden zuließen) siehe ebenda, S. 198-199. Ihr Haß auf Napoleon, in dessen Kriegen einer ihrer Neffen fiel und ein anderer verletzt wurde, war noch ausgeprägter. 32 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 21. 33 Über Maria Theresia, deren gefühlsmäßige Abneigung am besten durch ihren Ausspruch gekennzeichnet wurde: „Ich kenne keine ärgere Pest vor den Statt als dise nation" (Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, S. 26)... „wegen ihrer Falschheit, ihrer Wucherzinsen und ihrer Fähigkeit, Leute an den Bettelstab zu bringen ..." (siehe Max Grunwald, Vienna, S. 139ff.) Damit ein Jude in Wien „toleriert" wurde, mußte er beweisen, daß er über Besitz verfügte, dem Staat von Nutzen war und eine jährliche Toleranzsteuer zahlen würde. Alle drei Monate mußte der Haushaltsvorstand überdies den Behörden eine Liste all jener Personen vorlegen, die zu seinem Haushalt gehörten. Die Bediensteten wurden regelmäßig überprüft, und es wurde alles getan, um die Zahl der Juden zu reduzieren, denen es erlaubt war, in der Hauptstadt zu wohnen. Trennung der Wohngebiete, religiöse Diskriminierung und gesellschaftliche Demütigung waren die Norm. So durften sich Juden bei Prozessionen nicht blicken lassen, verheiratete Männer waren verpflichtet, sich Bärte wachsen zu lassen, der Bau von Synagogen war verboten. Juden durften an Sonntagen und christlichen Feiertagen vor Mittag nicht einmal die Straße betreten. 34 Siehe Gerson Wolf, „Die Vertreibung der Juden aus Böhmen im Jahre 1744 und deren Rückkehr im Jahre 1748", in: Jahrbuchfiir Geschichte der Juden 2,1896, S. 145-554. 35 Ernst Wangermann, The Austrian Achievement, S. 117-120,152-154, und Robert A. Kann. 56 Ernst Wangermann, The Austrian Achievement, S. 112. 57 Für eine Zusammenfassung der Hauptpunkte siehe Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 84-87. Für die vollständige Dokumentation siehe A. F. Pribram, Hg., Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, Wien und Leipzig 1918, S. 440-500, Teil I., Nr. 205; auch Paul P. Bernard, „Josef Π and the Jews: The Origins of the Toleration Patent of 1782", in: Austrian History Yearbook 4/5, 1970, S. 101-119.

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Anmerkungen

38 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1935, S. 117-120. 39 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism, S. 250. 40 Meir Balaban, „Herz Homberg in Galizien", in: Jahrbuchfiirjüdische Geschichte und Literatur 19,1916, S. 189-221. 41 Siehe Raphael Mahler, A History of Modem Jewry, 1780-1815, London 1971. 42 Kurt Schubert, „Der Einfluß des Joseünismus auf das Judentum in Osterreich", in: Kairos, NS 14,1972, S. 91ff. 43 Gottfried Schramm, „Das Ostjudentum als soziales Problem des 19. Jahrhunderts", in: Heinz Maus, Hg., Gesellschaft, Recht und Politik, Neuwied-Berlin 1968, S. 371. 44 Ruth Kestenberg-Gladstein, Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern, I. Das Zeitalter der Aufklärung, 1780-1830, Tübingen 1969, S. 357-359. 45 Eduard Goldstücker, „Jews Between Czechs and Germans around 1848", in: LeoBaeck Yearbook 17, 1972, S. 61-71. 46 Die offiziellen Historiker des Wiener Judentums sprechen ausnahmslos von der früheren Einstellung der Dankbarkeit und Bewunderung gegenüber Josef II. Siehe ζ. B. Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 78: „Auch die Juden in Osterreich bewahren dem großen Monarchen ein dankbares Angedenken, und sie haben allen Grund dazu, denn er hat ihre Fesseln gesprengt. Während sie noch überall unter dem tiefsten Drucke schmachteten, durften sie in Österreich aufathmen." Max Grunwald, Vienna, S. 156, geht sogar weiter und beschreibt Josef als „der erste wirklich liberale Monarch, einer der edelsten Menschen, die je gelebt haben" und als einen „unter den bedeutendsten Menschenfreunden in der Geschichte des menschlichen Fortschritts". Seiner Meinung nach „glaubte Kaiser Josefan den Menschen und sah ihn in dem Juden - ein,Produkt dieses unglücklichen Volkes' wie er sie charakterisierte". 47 Siehe Wolfgang Häusler, „Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. DEIS österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters, 1782-1918", in: Drabek et al., Das österreichische Judentum, S. 84: „Den Wiener Tolerierten, durchwegs wohlhabenden Familien, brachte das Gesetz die rechtliche Sicherung ihrer hervorragenden wirtschaftlichen Stellung. Wie die aufgeklärten' christlichen Zeitgenossen begrüßten sie im Reformwerk Josefs II. den Beginn der neuen Epoche." 48 Josef von Wertheimer, Die Juden in Österreich, Leipzig 1842,1, S. 137. 49 Siehe Hanns Jäger-Sunstenau, „Die geadelten Judenfamilien im vormärzlichen Wien", Dissertation ein der Universität Wien, 1950; auch H. G. Reissner, „Daniel Lessmann in Vienna and Verona", in: Leo Baeck Yearbook 14, 1969, S. 203-114; Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, III, S. 249. 50 Hilde Spiel, Fanny von Arnstein, S. 446-449; Salo W. Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener KongreQ, Wien und Berlin 1920, S. 130ff. 51 Siehe Hannah Arendt, Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959. 52 Siehe Max Grunwald, Vienna, S. 194-195; auch Jacob Allerhand, „Die Rabbiner des Stadttempels von J. N. Mannheimer bis P. Z. Chajes", in: Studio Judaica Austriaca 6, Eisenstadt 1978, S. 9.

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53 Friedrich Heer, Gottes erste Liebe. Die Juden im Spaimungsfeld der Geschichte, München 1967. 54 „Fanny von Arnstein", in: Encyclopaedia Judaica, ΠΙ, S. 490-491; Max Grunwald, Vienna, S. 195. 55 Moses Rosenmann, IsakNoa Mannheimer: Sein Leben und Wirken, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde in Wien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wien und Berlin 1922, S. 50ff. 56 Ebenda, S. 52-55. 57 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 159, 285-284; Max Grunwald, Vienna, S. 214-215. 58 Jacob Allerhand, „Die Rabbiner des Stadttempels", S. 10-11; Moses Rosenmann, IsakNoa Mannheimer, S. 65-74. 59 Raphael Mahler, A History of Modern Jewry, S. 255. 60 Moses Rosenmann, IsakNoa Mannheimer, S. 65-64. 61 Raphael Mahler, A History ofModem Jewry, S. 256ff. 62 Jacob Allerhand, „Die Rabbiner des Stadttempels", S. 9; Max Grunwald, Vienna, S. 168171. 63 Wolfgang Häusler, „Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus", S. 89. 64 Ebenda, S. 94. Häusler unterstreicht, daß, obwohl die jüdischen Bankiers und Großkaufleute durch ihre defacto-Allianz mit dem Staat nach außen hin in Opposition zu den Bestrebungen des Volkes nach verfassungsmäßiger Freiheit standen, „mit der Schaffung der Grundlagen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Voraussetzungen für eine bürgerliche Revolution gegeben waren". 65 Robin Okey, Eastern Europe 1740-1980: Feudalism to Communism, London 1982, S. 64. 66 Siehe „Das Judentum im Revolutionsjahr 1848", in: Studio Judaica Austriaca, I, 1974, vor allem die Beiträge von Wolfgang Häusler, „Die Revolution von 1848 und die österreichischen Juden; eine Dokumentation", S. 5-63, und auch S. 64-77, 92-111. Auch Max Grunwald, Vienna, S. 253ff. 67 Richard Charmatz, Adolf Fischhof: Das Lebensbild eines österreichischen Politikers, Stuttgart und Berlin 1910, S. 20-25. Fischhof sprach Forderungen des Volkes nach Freiheit der Presse, des Gewissens und der öffentlichen Versammlung aus und rief zu einer brüderlichen Vereinigung der Völker Österreichs auf. Seine Rede, in der die berühmten Worte fielen „Wer an diesem Tage keinen Mut hat, gehört in die Kinderstube!" wird von seinem bewundernden Biographen als die erste wirklich freie Rede beschrieben, die in Österreich im 19. Jahrhundert gehalten wurde. Siehe auch Werner Cahnmann, „Adolf Fischhof als Verfechter der Nationalität und seine Auswirkung auf das jüdisch-politische Denken in Österreich", in: Studia Judaica Austriaca, I., S. 78-91. 68 Wolfgang Häusler, „Hermann Jellinek (1825-1848): ein Demokrat in der Wiener Revolution", in: Jahrbuch des Institutsfür deutsche Geschichtet, Tel Aviv 1976, S. 125-175. 69 Siehe Reinhard Rürup, „The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation", in Werner E. Mosse, Arnold Paucker, Reinhard Rürup, Hgg., Revolution and Evolution: 1848 in German-Jewish History, Tubingen 1981, S. 1-55, für einen hervorragenden Überblick zu diesem Thema. Für Deutschland bleibt das klassische Werk Jacob Touiy, Die politischen

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Anmerkungen

Orientierungen der Juden in Deutschland: Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 47ff. 70 Siehe Jacob Touiy, „Die Revolution von 1848 als innerjüdischer Wendepunkt", in: Hans Liebeschütz und Arnold Paucker, Hgg., Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800-1850: Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tubingen 1977, S. 359-576. 71 Ebenda, S. 363. Toury zitiert die Forderung eines Rabbiners in Frankfurt, von der die Allgemeine Zeitung des Judentums (1848) berichtet: „Wir haben und wünschen kein anderes Vaterland als das deutsche! Nur dem Glauben nach sind wir Israeliten, in allem übrigen gehören wir aufs Innigste dem Staate an, in welchem wir leben!" 72 Jacob Toury, „Die Revolution von 1848", S. 364-365. 73 Österreichisches Centrai-Organ, 1848, Nr. I, S. 1, zitiert in: Moses Rosenmann, IsakNoa Mannheimer, S. 147. 74 Max Grunwald, Vienna, S. 274-275. 75 Adolf Jellinek, „Die Juden in Österreich Xffl", in: Der Orient, 8. Juli 1848, S. 217-218. 76 Ebenda, S. 218; siehe auch ebenda, 17. Juni 1848, S. 193-194, und 1. Juli 1848, S. 209210. Nach Jellinek wäre die „Slawisierung" Österreichs eine Katastrophe für die Juden, da den slawischen Völkern die grundlegenden Voraussetzungen einer reichen Geschichte Kultur, Aufklärung, Literatur, Handel und industrielle Fähigkeiten der Deutschen - fehlten. Der tschechische Nationalismus sei intolerant und eine fühlbare Bedrohung für die jüdische Existenz. Nur die Bajonette der kaiserlichen Soldaten stünden zwischen den Juden und den Bauernpogromen in Böhmen und Mähren. 77 Isidor Schallt, „Kadimah: Aus meinen Erinnerungen", MS, Central Zionist Archives, A 196/25, Jerusalem. 78 Über das böhmische Judentum siehe Eduard Goldstücker, „Jews Between Czechs and Germans around 1848", S. 66-71, der auch die Zurückweisung der Idee, daß die Juden die tschechische Nationalität fordern könnten, durch den damaligen fuhrenden tschechischen Journalisten Karel Havliöek (1821-56) diskutiert. Nach Havliöek wäre es für das tschechische Bürgertum äußerst gefährlich, die Juden zu assimilieren, bevor diese ihre eigene Stellung durchgesetzt hätten. Dies half den Juden, sich mit den Deutschen in Böhmen zu identifizieren, ein Erbe der josefinischen Ära und der sozioökonomischen Entwicklungen aus einer etwas anderen Perspektive. 79 Wolfgang Häusler, „Assimilation und Emanzipation des ungarischen Judentums um die Mitte des 19. Jahrhunderts", in: Studia Judaica Austriaca 3, 1976, S. 33-79. 80 Für die Auswirkung des Nationalitätenproblems auf die Stellung der Juden siehe den umfassenden Aufsatz von Salo W. Baron, „The Impact of the Revolution of 1848 on Jewish Emancipation", in: Jewish Social Studies 11, 1949, S. 195-248, vor allem S. 234ff. 81 Jacob Toury, „Die Revolution von 1848", S. 375-376. 82 Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 220-223. 83 Eduard Goldstücker, „Jews Between Czechs and Germans around 1848", S. 66. 84 S. Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bde., Berlin 1925-1929, IX., S. 467ff. 85 Ebenda, S. 370ff.; siehe auch Wolfgang Häusler, „Assimilation und Emanzipation", S. 62-65. 86 Reinhard Rürup, „The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation", S. 38.

Zuwanderung in die Kaiserstadt

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87 Ebenda. 88 R. John Rath, The Viennese Revolution of1848, New York 1969, S. 503. 89 Über das allgemeine Thema der Verschwörung siehe Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776-1945: Philosophen, Freimauerer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörergegen die Sozialordnung, Bern 1976; auch Jacob Toury, Turmoil and Confusion in the Revolution of1848 (auf hebräisch), Merhavia 1968, S. 42^14,158143, über die Verwendung dieses Themas gegen die Forderung nach jüdischer Gleichheit. 90 Reinhard Rürup, „The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation", S. 48. 91 Gustav Otruba, Hg., Wiener Flugschriften zur Sozialen Frage 1848, Wien 1980, S. ΧΙ-ΧΙΠ, und 120-121,212-213,225-250,336, 541-549. 92 Erika Weinzierl, „On the Pathogenesis of the Anti-Semitism of Sebastian Brunner (1814-1895)", in: Yad Vashem Studies 10, Jerusalem, Yad Vashem, 1974, S. 217-239; auch Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 220-222,275,279. 93 Johann Quirin Endlich, Der Einfluss der Juden auf unsere Civilisation mit besonderer Rücksicht auf Industrial-Anstalten in Österreich, Wien 1848. 94 Siehe Egon Caesar Conte Cord, Der Außtieg des Hauses Rothschild, Wien 1955, und Frederic Morton, Die Rothschilds. Porträt einer Familie, Zürich 1962, S. 88-99. 95 Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig 1845, S. 114. 96 Siehe Marx-Engels Werke (MEW), Bd.I, Ostberlin 1964, S. 375. 97 Eduard von Müller-Tellering, Freiheit und Juden: Zur Beherzigung an alle Volksfreunde, Wien 1848, S. 9. 98 Ernst Hanisch, Der kranke Mann an der Donau: Marx und Engels über Österreich, WienMünchen-Zürich 1978, S. 77-82. 99 Reinhard Rürup, „The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation", S. 48. 100 Wolfgang Häusler, „Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus", S. 100. 101 Reinhard Rürup, „The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation", S. 48-49. 102 Siehe Sigmund Mayer, Die Wiener Juden, S. 510-526.

2 . ZUWANDERUNG IN DIE KAISERSTADT

1 Sigmund Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, 1831 bis 1911, Leipzig 1911, S. 107ff.; Hans Hetze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1955, S. 158-159. 2 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommen, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 207-209. 5 Ebenda, S. 214. 4 Ebenda, S. 281-282. 5 Ebenda, S. 219,245. 6 Heinrich Jaques, Denkschrift über die Stellung der Juden in Österreich, Wien 1859, S. XI. 7 P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966, S. 275-276.

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Anmerkungen

18 Ebenda. 19 Ebenda, S. 546-547. 10 Peter Schmidtbauer, „Zur sozialen Situation der Wiener Juden im Jahre 1857", in: Studio Judaica Austriaca 6, 1978, S. 62. 11 Siehe Rabinbach, „Migration of Galician Jews", S. 45-54, der behauptet, daß Galizien die Hauptquelle der Zuwanderung nach Wien war; und die Bemerkungen von Scott Eddie, „Galician Jews as Migrants: An Alternative Hypothesis", in: Austrian History Yearbook, Π, 1975, S. 59-65; Oxaal und Weitzmann, „Jews of Pre-1914 Vienna", S. 598ff. 12 Oxaal und Weitzmann, S. 400. 15 Marsha Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914, Assimilation und Identität, Wien-KölnGraz 1989, S. 29. Die frühere Studie von Israel Jeiteles, Die Kultusgemeinde der Israeliten in Wien mit Benutzung des statistischen Volkszählungsoperatus vom Jahre 1869, Wien 1875, S. 67, Schloß, daß 1869 der Herkunft nach 46,5 Prozent der Juden Wiens aus Ungarn, 20,9 Prozent aus Mähren, 15 Prozent aus Galizien, 11,5 Prozent und nur 5,4 Prozent aus Wien stammten. 14 Rabinbach, „Migration of Galician Jews", setzte offensichtlich die Masse der galizischen Zuwanderung zu früh an und übersah nicht nur das Ausmaß der früheren ungarischen Zuwanderung, sondern auch die Tatsache, daß mehr Juden Böhmen und Mähren (trotz deren geringeren Anteils an jüdischer Bevölkerung) verließen als Galizien. Siehe die Kritik von Eddie, S. 60ff. 15 Siehe Michael K. Silber, „Roots of the Schism in Hungarian Jewry: Cultural and Social Change from the Reign of Josef Π until the Eve of the 1848 Revolution", auf Hebräisch, Hebräische Universität, Jerusalem, unveröffentlichte Dissertation, 1985. Uber ihre allgemeine politische Ausrichtung siehe den Artikel von Robert A. Kann, „Hungarian Jewry during Austria-Hungary's Constitutional Period, 1867-1918", in: Jewish Social Studies 7, 1945, S. 557-586 16 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 44. 17 Eddie, S. 60ff. 18 Hugo Gold, Hg., Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn 1929. 19 Ruth Kerstenberg-Gladstein, „The Jews between Czechs and Germans in the Historic Lands, 1848-1918", in: The Jews of Czechoslovakia, 2 Bde., Philadelphia 1968,1, S. 5257, 45ff. 20 Gary Β. Cohen, The Politics ofEthnic Survivial: Germans in Prague, 1861-1914, Princeton 1981, S. 257-242. 21 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 47 22 Ebenda, S. 44. 25 Siehe Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900: Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München und Wien 1972, für eine detaillierte Studie des Assimilationsprozesses, den die Tschechen in Wien durchliefen. 24 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 109-110, 150-152. 25 Ebenda, S. 101.

Zuwanderung in die Kaiserstadt

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26 Siehe Gary B. Cohen, „Jews in German Society: Prague, 1860-1914", in: Central European History 10, 1977, S. 28-54; ebenfalls abgedruckt in David Bronsen, Hg., Jews and Germansfrom1860 to 19)3: Hie Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, S. 506-337. 27 Cohen, Politics ofEthnic Survival, S. 322-323. 28 Ebenda, S. 525. 29 Ebenda, S. 524. 50 Cohen, S. 526. Für eine kritische Besprechung von Cohens Buch siehe Hillel J. Kieval, in: Studies in Contemporary Jewry, Hg. Jonathan Frankel, Bloomington, Ind., 1984, I, S. 424-427. Kieval fuhrt an, daß Cohen das Vorhandensein einer „Ethnizität" vor 1848 nicht beachtet und die jüdische Eigentümlichkeit im engen Rahmen ihrer Stellung im deutschen und tschechischen öffentlichen Leben beschreibt. 51 Oxaal und Weitzmann, S. 405. 52 Siehe die auf der Volkszählung von 1857 basierende Analyse von Peter Schmidtbauer, „Zur sozialen Situation der Wiener Juden". 53 Oxaal und Weitzmann, S. 405-411. 54 Abraham Korkis, „Zur Bewegung der jüdischen Bevölkerung in Galizien", in: Jüdische Statistik, Berlin 1905, S. 514; Max Rosenfeld, „Die jüdische Bevölkerung Galiziens von 1772-1867", in: Zeitschriftfür Demographie und Statistik der Juden 10, Sept.-Okt. 1914, S. 140ff. 55 Robert S. Wistrich, „Austrian Social Democracy and the Problem of Galician Jewry 18901914", in: LeoBaeck Yearbook26 (1981), S. 89-124. 56 Siegfried Fleischer, „Enquete über die Lage der jüdischen Bevölkerung Galiziens", in: Jüdische Statistik, S. 217-220; Rosenfeld, „Die jüdische Bevölkerung"; Rabinbach, „The Migration of Galician Jews", S. 50ff. 37 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 44-45. 38 Siehe Jonathan Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism and the Russian Jews, 1862-1917, Cambridge 1981, S. 5, für eine Charakterisierung dieser Subkultur. 39 Siehe Wistrich, S. 89-124ff.; ebenso John Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora: Zur Geschichte derjüdischen Arbeiterbewegung, Wien 1975, S. 119-125. 40 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 156. 41 Siehe George Clare, Letzter Walzer in Wien: Spuren einer Familie, Frankfurt-Berlin-Wien 1984, S. 44, ein unterhaltsamer und scharfsichtiger persönlichen Bericht. 42 Siehe Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers: The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison, Wis., 1982, fur eine detaillierte und erhellende Analyse der Verzweigungen der kulturellen Antithese. 45 Wölfgang Häusler, Das galizische Judentum in der Habsburgermonarchie: Im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772-1848, Wien 1979, liefert manch aufschlußreiche Dokumentation über die Vorurteile aufgeklärter österreichischer Bürokraten, die mit der „fremdartigen" Welt der damaligen galizischen Juden konfrontiert waren. 44 Steven E. Aschheim, The East European Jew and German Jewish Identity", in: Studies in Contemporary History, 1984, S. 5-22. 45 Ebenda, S. 5.

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Anmerkungen

46 George L. Mosse, German Jews beyond Judaism, Hebrew Union College 1985, betont zu Recht den enormen Einfluß des deutschen Bildungsideals der Aufklärung auf die postemanzipatorische jüdische Identität. 47 Aschheim, „East European Jew", S. 8-9. 48 Siehe Mark H. Gelber, „Ethnic Pluralism and Germanization in the Works of Karl-Emil Franzos, 1848-1904", The German Quarterly, S. 56, Nr. 3, Mai 1985, S. 376-585. 49 Aschheim, „East European Jew", S. 9-10. 50 Karl-Emil Franzos, „Die Kolonisationsfrage", Allgemeine Zeitung des Judentums 55, Nov. 1891. 51 AusHalb-Asien, I, Berlin, 1901, S. 183. 52 Gelber, S. 383-384. 53 Siehe Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 52-53. 54 Ebenda, S. 123. 55 Ebenda, S. 145-147. 56 Für statistisches Material über den Übertritt vom Judentum in Wien zwischen 1868 und 1903 siehe Jacob Thon, „Taufbewegung der Juden in Osterreich", in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 3, Mai 1908. 57 Oxaal und Weitzmann, S. 428-432. 58 Für einschlägige Diskussionen der „strukturellen Assimilation" siehe die Arbeit von Milton Gordon, Assimilation in American Life: The Role ofRace, Religion and National Origins, New York 1981; auch die Anmerkungen von Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 7-19; Cohen, „Jews in German Society", S. 306-322; George Barany, „Magyar Jew of Jewish Magyar? Reflections on the Question of Assimilation", in: Bela Vago und George L. Mosse, Hgg., Jews and Non-Jews in Eastern Europe, 1918-1945, Jerusalem 1974, S. 51-98; Victor Karady und Istvän Kem£ny, „Les Juifs dans la structure des classes en Hongrie: essai sur les ant6c6dents historiques des crises d'antisimitisme du XX. siecle", in: Actes de la recherche en sciences sociales 22, Juni 1978, S. 25-59. 59 Robert S. Wistrich, „Remaining outsiders", in: Times Literary Supplement, 28. Juni 1985 60 Oxaal und Weizmann überbetonen meiner Meinung nach etwas das Ausmaß der Assimilation der breiten Masse der Wiener Juden in das Leben in der Hauptstadt. 61 Siehe das ausgezeichnete Kapitel über Bildung, Beweglichkeit und Assimilation in Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 106-132. Zum Vergleich siehe Victor Karady, „Jewish Enrollment Patterns in Classical Secondary Education in Old Regime and Inter-War Hungary", in: Studies in Contemporary Jewry, I, S. 225-252. 62 Josef Fraenkel, Hg., The Jews ofAustria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967. 63 Siehe Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 25-28. 64 Ebenda, S. 57. Rozenblit führt an: „Die Neustrukturierung des jüdischen Berufsprofils führte durchaus nicht zu wachsender Annäherung und Ähnlichkeit jüdischer und nichtjüdischer Berufsverteilung. Im Gegenteil: Die Statistik zeigt, daß die Juden Wiens auch weiterhin Berufe ausübten, die sie vom Gros der Gesellschaft, in der sie lebten, unterschieden." Insbesondere unterstreicht sie den hohen Prozentsatz an jüdischen Angestellten,

Philanthropie, Politik und die Ostjuden

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Verkäufern und Managern, die „Pioniere einer neuen, spezifisch jüdischen Berufsstruktur" waren. Dies ist wahrscheinlich übertrieben. Für eine gegenteilige Meinung siehe Oxaal und Weitzmann, S. 428ff. Aber auch sie verweisen auf eine bedeutende Diskrepanz in der Berufswahl zwischen Juden und Katholiken in Wien - daß nämlich „die überwiegende Mehrheit der jüdischen Männer entweder angestellt oder selbständig waren, während männlicher Katholik zu sein, normalerweise bedeutete, daß man Arbeiter war". 65 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 85. 66 Goldhammer, S. 10. 67 Ebenda. 68 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 84. 69 Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, S. 463. 70 Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 101. 71 Zum Vergleich siehe den hervorragenden Artikel von David Weinberg, „,Heureux comme Dieu en France': East European Jewish Immigrants in Paris, 1881-1914", in: Studies in Contemporary Jewry, I, S. 26-54; Michael R. Marrus, The Politics of Assimilation, Oxford 1971; Willian J. Fishman, East End Jewish Radicals 1875-1914, London 1975; und Irving Howe, The Immigrant Jews of New York 1881 to the Present, London und Boston 1976. 72 Detaillierte Tabellen in Rozenblit, Die Juden Wiens, Kap. 5. 73 Ebenda, S. 109-110. 74 Thon, Die Juden in Österreich, Berlin 1908, S. 100-104. 75 Ebenda, S. 104. 76 Ebenda. 77 Ebenda, S. 100. 78 Marsha L. Rozenblit, „The Assertion of Identity, Jewish Student Nationalisms on the University of Vienna before the first World War", in: Leo Baeck Yearbook 27, 1982, S. 281283. 79 Martin Freud, „Who was Freud?", in: Fraenkel, Hg., The Jews of Austria, S. 206-207. 80 Ebenda, S. 207. 81 Uber den Wiener Antisemitismus siehe Dirk van Arkel, „Antisemitism in Austria", Univ. von Leiden, Diss. 1966; Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus-, Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981·, und John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981. 82 Siehe Carl E. Schorske, „Politics in a New Key: An Austrian Triptych", in: Journal of Modem History 59,1967, S. 545-586.

5 . PHILANTHROPIE, POLITIK UND DIE OSTJUDEN

1 Jacob Thon, Die Juden in Österreich, Berlin 1908, S. 4. 2 Ebenda, S. 4: „Nur dürfte Wien, dessen jüdische Bevölkerung hauptsächlich durch Zuwanderung in einigen Jahrzehnten stark angewachsen ist und das eine zahlreiche jüdische

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Anmerkungen

Proletarierklasse besitzt, eine etwas abgesonderte, zwischen diesen beiden Ländergruppen vermittelnde Stellung einnehmen." 3 Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 393-394. 4 Henry Wickham Steed, The Habsburg Monarchy, London 1913, S. 187 ff.; auch Adam Wandruszka, Geschichte einer Zeitung: Das Schicksal der „Presse" und der „Neuen Freien Presse" von 1848 zur Zweiten Republik, Wien 1958, S. 101-106. 5 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1933, S. 212; auch H. Gold, Geschichte der Juden in Wien, Tel Aviv 1966, S. 36. 6 Leo Goldhammer, Die Juden Wiens: eine statistische Studie, Wien 1927, S. 56. 7 Theodor Billroth, Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, Wien 1876, S. 148. 8 Jacob Thon, „Anteil der Juden an Hochschulen in Osterreich seit dem Jahre 1851", Zeitschriftfür Demographie und Statistik der Juden 3, März 1907, S. 34. 9 E. Pichl, Georg von Schönerer und die Entwicklung des Alldeutschtums in der Ostmark, Oldenburg 1938, Π, S. 25. 10 Siehe Ernst Waldinger, „Darstellung einer jüdischen Jugend in der Wiener Vorstadt", in: Josef Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 259-81; auch Franz Borkenau, Austria and After, London 1938, S. 107. 11 Ν. H. Tur-Sinai, „Viennese Jewry", in: Fraenkel, Hg., Jews of Austria, S. 313. 12 Goldhammer, S. 64. 13 Ebenda, S. 53-54. 14 Ebenda. 15 Goldhammer, S. 53-54. Zur Berufsstruktur von Juden und Nichtjuden in Galizien selbst siehe Samuel Josefs, Jewish Immigration to the United States from 1881 to 1910, New York 1969, S. 36ff. 16 Siehe Tabelle IX in Ivar Oxaal und Walter R. Weitzmann, „The Jews of Pre-1914 Vienna: An Exploration of Basic Sociological Dimensions", Leo Baeck Yearbook 30, 1985, S. 425, basierend auf der Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, NS 3, Nr. I, Österreichische Statistik, Wien 1916, S. 132. 17 Oxaal und Weitzmann, S. 428. 18 Ebenda, S. 432. 19 P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966, S. 23. 20 Edward Bristow, „The German-Jewish Fight against White Slavery", Leo Baeck Yearbook 28,1983, S. 301-28; auch Bristow, Prostitution and Prejudice, Oxford 1982. Für einen Augenzeugenbericht siehe Bertha Pappenheim und Sara Rabinowitsch, Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien, Frankfurt 1904, S. 47ff. 21 Stenographisches Protokoll über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrats in den Jahren 1892 und 1893, 9. Sitzung, Bd. 7, Wien 1893, 11. Nov. 1892, S. 7638ff.; auch Neue Freie Presse, 15. Nov. 1892. 22 „Der Sklavenhändlerprozess in Galizien", Arbeiterzeitung, 22. Nov. 1892, S. 2-3. 23 Zitiertin: Bristow, „The German-Jewish Fight", S. 311.

Philanthropie, Politik und die Ostjuden

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24 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1959, S. 63. „Wenn man abends durch die Straßen und Gassen der Leopoldstadt lief, wurde man auf Schritt und Tritt, ob man wollte oder nicht, Zeuge von Vorgängen, die dem Großteil des deutschen Volkes verborgen geblieben waren ..." 25 Files Autriche IDI Galicie, Archiv der Alliance Israelite Universelle, Paris. Siehe Bristow, „German-Jewish Fight", S. 321-322; auch Siegfried Fleischer, „Enquete über die Lage der jüdischen Bevölkerung Galiziens", in: Jüdische Statistik, Berlin 1903, S. 209-231. 26 Sara Rabinowitsch in: Zur Lage derjüdischen Bevölkerung, S. 67-98. 27 Bristow, „German-Jewish Fight", S. 323. 28 Wertheimers allgemeine humanitäre Verdienste wurden von Franz Joseph I. anerkannt, der ihn 1868 in den Adelsstand erhob und ihm den Orden des Eisernen Kreuzes verlieh. 1830 hatte er den ersten Kindergarten Wiens gegründet und in der Folge eine Gesellschaft zur Hilfe von entlassenen Verbrechern und jugendlichen Straftätern geschaffen. 1843 schuf er einen jüdischen Kindergarten und 1860 eine Gesellschaft zur Pflege bedürftiger Waisen der Israelitischen Gemeinde. Wertheimers 1842 anonym veröffentlichtes Werk Die Juden in Österreich, 2 Bde., war eine Pioniertat im Kampf für die Emanzipation der österreichischen Juden. Seine Flugschrift Die Stellung der Juden in Österreich (Wien 1853) verdammte die bürgerliche Herabstufung von 800.000 loyalen Israeliten durch kaiserliches Dekret. Zwischen 1855 und 1865 gab er das Jahrbuchßir Israeliten in Wien heraus. Siehe G. Wolf, Josef Wertheimer: Ein Lebens- und Zeitbild, Wien 1868; Adolf Jellinek, Gedenkrede auf Herrn Josef Ritter von Wertheimer am 25. März 1887 im israelitischen Bethause der innern Stadt Wien, Wien 1887; Die Neuzeit, 25. März 1887, S. 113-114, und 8. April 1887, S. 151. 29 Siehe G. Wolf, Geschichte der Juden in Wien (1156-1876), Wien 1876, S. 143, S. 146ff., für Details über die Geschichte des Vereins, der, wie er bemerkt, „auch viel dazu beigetragen hat, die sociale Stellung der Juden im Allgemeinen zu verbessern". 30 Wolf, JosefWertheimer, S. 36. 31 Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 216. 52 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 86-87. 55 Ebenda, S. 86-87. 54 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 452. 55 Boyer, S. 87-88. 36 Jellinek, S. 6. 37 Ebenda, S. 5. 58 Joseph Ritter von Wertheimer, Zur Emancipation unserer Glaubensgenossen, Wien 1882, S. 2-5. 39 Ebenda, S. 15: „Es ist daher kein vaterstädtischer Eigendünkel, sondern ein gerechter Stolz auf die Verdienste unserer Altvordern, wenn ich sage, daß die Juden Wiens zur Erwirkung der socialen Emancipation mit Glaubenseifer, Umsicht und Opfermuth in der vordersten Reihe der Vorkämpfer gestanden sind."

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Anmerkungen

40 Ebenda, S. 14-15. 41 Ebenda, S. 17-21. 42 Akte 4408, IA 1-3, Archiv der Alliance Isra61ite Universelle, Paris, Brief vom 22. Jän. 1875 von J. Wertheimer an das Comit0 Central de l'Alliance Isra61ite Universelle, S. 9: „C'est lä (en Galicie) que l'Orthodoxie et le Chassidisme ont encore en grande partie le dessus et sont ennemis de tout progres; les synagogues, les £coles, les institutions bienfaisantes ne s'en repentent que trop. N£anmoins Emancipation complete influe partout favorablement en ce que les professions utiles, se trouvent bien plus fröquemment embrass6s..." 45 Ν. M. Gelber, „Die Österreichische Polizei und die Alliance Israelite Universelle", in: Aus zwei Jahrhunderten, Wien und Leipzig 1924, S. 151-177, beschäftigt sich ausfuhrlich mit Regierungsbestimmungen und Polizeiverdächtigungen, die es ausländischen Organisationen verboten, in Osterreich Aktivitäten durchzuführen. Er behandelt insbesondere die Opposition der orthodoxen Juden Österreichs unter der Führung von Ignaz Deutsch, der befürchtete, die Alliance würde das Reformjudentum stärken. Siehe auch Ν. M. Gelber, „Die Wiener Israelitische Allianz", Publikationen des Leo Baeck Instituts Bulletin, Nr. 11, 1960, Sonderdruck, für nähere Details über die Verdächtigungen der Behörden bezüglich der „revolutionären" und pro-polnischen Verbindungen der Alliance Israelite sowie deren Rolle als Instrument der französischen Außenpolitik. 44 Zur Bedeutung dieser Episode und dem diplomatischen Hintergrund siehe Fritz Stern, Gold and Iron: Bismarck, Bleichröder and the Building of the German Empire, London 1977, S. 551-595. „In the history of Jewiy, July 1878 stands out as a moment when because of its own power and influence and by virtue of universally held principles, the fate of Jews in East and West seemed at last safe and propitious .The principle of equality had been formally enshrined; Rumanians had been forced to swallow it, and the presumption of most Western Jews that emancipation would win over new ground received clear confirmation." 45 Zosa Szajkowski, „Conflicts in the Alliance Israelite Universelle and the Founding of the Anglo-Jewish Association, the Vienna Allianz and the Hilfsverein", in: Jewish Social Studies 19, 1957, S. 29-50. 46 Adolf Jellinek, Der israelitische Weltbund: Rede am I. Tage des Hüttenfestes 5639gehalten, Wien 1878, S. 12. 47 Wertheimer, Zur Emanzipation, S. 28-29. 48 A. Jellinek, „Stimmen über den verewigten Herrn Josef Ritter von Wertheimer. IV. Die Worte eines Sterbenden", Die Neuz£it, 8. April 1887, S. 151—152, zitiert die letzten Worte des Begründers an die Allianz: „International muß sie sein." 49 Jellinek, „Stimmen", S. 131. 50 „Die israelitischen Allianzen", Dez. 1884, in: Adolf Jellinek, Aus derZeit: Tagesfragen und Tagesbegebenheiten, Budapest 1886, S. 150-136. 51 „Doppelte Zeitrechnung", ebenda, S. 140. 52 „Die Israelitischen Allianzen", ebenda, S. 151. 55 J. von Wertheimer an das Comitö Central de l'Alliance Israelite Universelle, 26. Juni 1879, Wien, IB S. 1-10; auch ebenda, Brief vom 20. Juli 1878, der die Initiative der Alliance bezüglich der rumänischen Juden beim Berliner Kongreß lobt.

Philanthropie, Politik und die Ostjuden

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54 „Ein Wort an die isr. Allianz zu Wien, II", Die Neuzeit, 2. Sept. 1881, S. 279. 55 Ebenda, S. 280. 56 „Ein Wort über die isr. Allianz zu Wien", Die Neuzeit, 26. Aug. 1881, S. 271. 57 Archiv der Alliance Israelite Universelle, Paris IA 5, „Von der israelitischen Allianz zu Wien", Nr. 8757,2, 8. Feb. 1884, vor allem Wertheimers Bemerkungen, „den dringenden civilatorischen Bedürfnissen im eigenen Vaterlande, namentlich in Galizien, Rechnung zu tragen". 58 Zosa Szaijkowski, „The European Attitude to East European Jewish Immigration (1881-1895)", Publications of the American Jewish Historical Society 41, Nr. 2, Dez. 1951, S. 159-140; Die Neuzeit, 1. Juni 1885, S. 207. 59 Szaijkowski, „European Attitude", S. 140; siehe auch „Rechenschaftsbericht des Vorstandes der Israelitischen Allianz zu Wien über die Thätigkeit im Jahr 1881", Die Neuzeit, 9. Juni 1882 60 Siehe Kurt Grunwald, Türkenhirsch: A Study of Baron Maurice de Hirsch, Entrepreneur and Philanthropist, Jerusalem 1966; S. Adler-Rudel, „Moritz Baron Hirsch. Profile of a great Philanthropist", Leo Baeck Yearbook 8,1965, S. 29-69. 61 Kurt Grunwald, „Railways and Jewish Enterprise", Leo Baeck Yearbook 12, 1967, S. 165209. Dieser Artikel enthält auch wichtige Informationen über die Rolle anderer jüdischer Finanziers in Osterreich wie Salomon Rothschild, Königswarter und Leopold Lämel bei der Begründung der europäischen Eisenbahnrevolution. 62 Haim Avni, „Mifalo ha-Hityashevuti shel ha-Baron Hirsch be-Argentinah", Hebr. Univ. Jerusalem, Diss., 1969, S. 56ff., S. 556-542. Siehe Grunwald, Türkenhirsch, S. 76-85, fiir die Meinung des Barons über den Zionismus. Für Theodor Herzls Briefe an Hirsch und seine kritische Sicht der Philanthropie siehe The Diaries of Theodor Herzl, hrsg. und übers. Marvin Lowenthal, London 1958, S. 15-28. Das Gespräch mit Hirsch beeinflußte Herzl recht stark. 65 Uber die Schwierigkeiten, von der österreichischen Regierung die Erlaubnis für ein von assimilierten westlichen Juden unterstütztes Projekt zu erlangen, und die Feindseligkeit jüdischer orthodoxer Kreise dagegen siehe Adler-Rudel, S. 40ff., und Grunwald, Türkenhirsch, S. 69; auch „Baron Moritz von Hirsch", Die Neuzeit, 6. Sept. 1889, S. 541, und „Die Millionen-Stiftung des Baron Hirsch", ebenda, 1. Feb. 1889. 64 A. J., „Ein Wort über Herrn Baron Hirsch", Die Neuzeit, 22. Feb. 1889, S. 74; 6. Sept. 1889, S. 51. 65 Ebenda, 22. Feb. 1889: „Er will Arbeit, nichts als Arbeit unterstützen, will den ärmeren Classen es möglich machen, das sie durch ihrer Hände Arbeit sich ernähren und überlaßt es Anderen die höheren Universitätsstudien zu fördern". Siehe auch „Ein Interview mit Baron Moritz Hirsch", ebenda, 1. Sept. 1895. 66 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke infünf Bänden, Bd.II, Berlin 1925, Tagebücherl, S. 15-16. 67 Grunwald, Türkenhirsch, S. 7. 68 Zu Hirschs Ansichten über die Selbstemanzipation und die Umwandlung der unterdrückten Juden zu produktiven, unabhängigen Bürgern siehe „My views on Philanthropy",

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Anmerkungen

North American Review, 416, Juli 1891; „An Asylum for the Russian Jews", Forum, Aug. 1901; Lucien Wolf, „Glimpses of Baron von Hirsch", Jewish Chronicle, 8. Mai 1896. 69 Grunwald, Türkenhirsch, S. 84-85. 70 Jewish Chronicle, 8. Mai 1896, Baron von Hirsch an Lucien Wolf: „The time will come when I shall have three or four hundred thousand Jews flourishing on their homesteads in the Argentine, peaceful and respected citizens, a valuable source of national wealth and stability. Then we shall be able to point to them and contrast them with their brethren who have been demoralised by persecution. What will the Jew-haters have to say then?" Er war auch der Meinung, daß die Rückkehr der galizischen Juden zur Landwirtschaft dem österreichischen Antisemitismus den Wind aus den Segeln nehmen würde. 71 Siehe die jährlichen Kuratoriumsberichte der Hirsch-Stiftung in der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem, Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch Stiftung zur Beförderung des Volksschulunterrichtes im Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Grossherzogthume Krakau und Herzogthume Bukowina, Wien 1891/92-1911/12. Der Bericht von 1908/09 merkt an, daß schließlich Tausende orthodoxe und sogar chassidische Juden Galiziens und der Bukowina ihre Kinder in die Hirsch-Schulen schickten, da deren Verbindung jüdischer Grundzüge mit moderner Erziehung der traditionellen Cheder und dem christlichen Schulsystem vorzuziehen war. In Galizien war Polnisch Unterrichtssprache mit Deutsch als zweiter Pflichtsprache. In der Bukowina war Deutsch die erste Sprache. 72 Siehe die Tabelle in Kurt Grunwald, „A Note on the Baron Hirsch Stiftung Vienna, 1888-1914", in: LeoBaeck Yearbook 17,1972, S. 227-256. Die Statuten der Stiftung sahen vor, daß je nach dem zur Verfügung stehenden Raumangebot bis zu 25 Prozent christliche Kinder zugelassen werden müßten, wenn in einem Gebiet keine anderen Schulen existierten. Für arme Kinder war der Unterricht frei. 73 Zitiertin: Grunwald, „Note", S. 235. 74 Bertha Pappenheim, unter dem Pseudonym P. Berthold, Zur Judenfrage in Galizien, Frankfurt 1900, S. 23, und idem, mit Sara Rabinowitsch, Zur Lage derjüdischen Bevölkerung, S. 11. 75 Pappenheim, Zurl^ge derjüdischen Bevölkerung, S. 11. 76 „Baron Moritz von Hirsch", Die Neuzeit, 6. Sept. 1889, S. 341: „Er mische sich nie in religiöse Angelegenheiten, weder im Orient, noch im Abendlande; das Einzige was er wolle, sei daß die Juden die nöthige Bildung erhalten und so erzogen werden, das sie arbeitstüchtig werden, um sich durch ihrer Hände Arbeit, durch Handwerk und Ackerbau zu ernähren." 77 Ebenda. Der begeisterte Leitartikel über die Philanthropie von Hirsch merkte an, daß es ihm große Freude bereiten würde, „wenn der jüdisch-deutsche Jargon aus Galizien verschwinden werde ..." 78 „Für die Baron Hirsch-Stiftung", ebenda, 6. Nov. 1891, S. 433. Siehe auch „Das Kulturwerk der israelitischen Allianz in Galizien", Österreichische Wochenschrift, Nr. 33,20. Aug. 1886, S. 387-388, zur Haltung eines Mitglieds der galizischen „Machzike Hadas" über die philanthropische Aktivität Wiens in dieser Provinz.

Philanthropie, Politik und die Ostjuden

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79 „Ein Capitel über die Verwaltung der isr. Cultusgemeinde in Wien. I. Die Armenpflege", Jüdisches Weltblatt, 1. April 1883. Josef H. Waltuch war der Herausgeber dieser orthodoxen Wochenzeitung mit dem Untertitel „Sodal-politisches Organ für das gesetzestreue Judenthum". Nach Jacob Toury, Die jüdische Presse im österreichischen Kaiserreich, 1802-1918, Tübingen 1983, S. 54, wurde sie ursprünglich in Preßburg (Bratislava) 1878 oder 1879 gegründet. Die orthodoxe Kritik wurde um die Jahrhundertwende durch die Zionisten verschärft; siehe „Die Wahlen in den österreichischen Cultusgemeinden", Die Welt, Nr. 46, 16. Nov. 1900, S. 1-4. 80 „Öffentliche Vorstandssitzung der isr. Cultusgemeinde in Wien", Jüdisches Weltblatt, 15. Jän. 1884, S. 2. 81 „Ergänzungswahlen in den Wiener Cultus-Vorstand", ebenda, 1. Dez. 1884: „Protection und Coteriewirtschaft ist aber der Fluch, der auch auf der Wiener israelitischen Cultusgemeinde lastet". 82 Ebenda, siehe auch „Zur Consistorial-Verfassung", Österreichische Wochenschrift, 2. Jän. 1885, S. 4. 83 Wertheimer, Zur Emancipation, S. 23, scheint einige dieser kritischen Einwände aufzunehmen, da er auf die Bescheidenheit, Einfachheit und „Schmucklosigkeit" der protestantischen Kirchen in Wien als wünschenswertem Vorbild für die jüdische Gemeinde hinweist. Wertheimer zeigt auch die Schwäche der Gemeinde betreffend den jüdischen Unterricht auf und zitiert den Sprach „Der Kultus hat den Unterricht erschlagen". 84 Dr. M. Güdemann, Oberrabbiner, Was bedeutet das Hebräischeßir den israelitischen Religions-Unterricht, Wien 1893, S. 18. 85 „Galizien und die Wiener isr. Allianz", Jüdisches Weltblatt, 15. Nov. 1884. Der Leitartikel fragte ironisch: „Wie kommt die isr. Allianz in Wien dazu, sich um den religiösen Unterricht in einem Lande zu kümmern, in dem die Religiosität noch zu Hause ist und die religiöse Erziehung das Alpha-Omega des Unterrichtes bildet?" 86 Ebenda: „... in der nächsten Nähe der Allianz, in Wien vor Allem, ja in den Kreisen vieler Wortführer der Allianz selbst." 87 „Wiener Briefe", Die Neuzeit, 2. Juli 1880, 11. Juni 1880; „Analphabetischer Obscurantismus", ebenda, 24. Mai 1889, S. 204; „Briefe aus Galizien", ebenda, 24. März 1893, S. 112. 88 „Beschauliches über Galizien", ebenda, 6. April 1883; auch „Ein Wort über die galizischjüdische Deputation und deren Wünsche", ebenda, 4. Jän. 1889, S. 3. 89 „Die Juden in Galizien und in der Bukowina", ebenda, 23. Jan. 1885, S. 33-35; auch „Zur Lage der Juden in Polen, I", ebenda, 7. Juni 1889, S. 224. 90 „Die Juden in Galizien", S. 33. 91 „Die Wiener Allianz und Galizien", ebenda, 2. Okt. 1883, S. 366: „Galizien ist das Arbeitsfeld der Wiener Allianz; daß aber dort in keiner anderen Richtung gearbeitet werden kann, als indem man die Jugend zu Handwerk und Ackerbau heranzieht, ist eine Thatsache ..."; auch „Die zwölfte ordentliche Generalversammlung der Israelitischen Allianz zu Wien", ebenda, 1. Mai 1885, S. 169-171. 92 „Die Thätigkeit der Allianz in Galizien", ebenda, 13. Feb. 1885, S. 61-62; auch ebenda, 21. Jän. 1881.

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Anmerkungen

93 „Vorschlag zu einer Enquete über die Nothlage der galizischen Juden", ebenda, 11. Jän. 1895, S. 14; Fleischer, „Enquete über die Lage der jüdischen Bevölkerung Galiziens", S. 217ff.; auch Abraham Korkis, „Zur Bewegung der jüdischen Bevölkerung in Galizien", ebenda, S. 311-516. 94 Siehe Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 310-311; auch „Einiges aus Halb-Asien", Die Neuzeit, 23. Aug. 1895, S. 376-377; „Der Nothstand unter den Juden in Galizien", ebenda, 10. Mai 1895, S. 196. 95 Wistrich, Socialism, S. 313-314. 96 Max Zetterbaum, „Nach den Judenexzessen", Arbeiterzeitung, 11. Sept. 1898, S. 6-7. 97 Wilhelm Ellenbogen, Wer lügt?Ein Mahnwort an die Wähler, Wien 1897, S. 12. 98 „Der Streik der Talesweber in Kolomea", Arbeiterzeitung, 11. Dez. 1898, S. 8-9. 99 Für eine detaillierte Beschreibung der Bedingungen der Ostjuden durch einen führenden sozialistisch-zionistischen Aktivisten in Österreich siehe Said Raphael Landau, Unter jüdischen Proletariern: Reiseschilderungen aus Ostgalizien und Polen, Wien 1898. 100 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke infünf Bänden, Bd.II, Berlin 1923, Tagebücher I, S. 5. 101 Ebenda, S. 24. 102 Ebenda, S. 45: „Wenn ich's nicht mit R's [Rothschilds] machen kann, mache ich's gegen sie", 7. Juni 1895. In einem Brief an den Oberrabbiner von Frankreich, Zadok Kahn, vom 26. Juli 1896 beschreibt Herzl das Haus Rothschild als „ein Nationalunglück der Juden" (Alex Bein etal. [Hgg.], Theodor Herzl. Briefe und Tagebücher, Berlin-Frankfurt/MainWien 1983, 6 Bde., II, S. 421), obwohl er für Edmond de Rothschild noch Sympathie empfand als „philanthropischen Zionisten", trotz ihres so mißlungenen persönlichen Zusammentreffens . 103 Herzl, „The Solution of the Jewish Question", Jewish Chronicle, 17. Jan. 1896. 104 Siehe Jacques Kornberg, „Theodor Herzl: A Re-evaluation", Journal of Modern History 52, 1980, S. 229ΙΓ. 105 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke infünf Bänden, Bd. I, Berlin 1923, Zionistische Schriften, S. 271-271; erschien ursprünglich in: Die Welt, 18. Feb. 1898: „Rede in Berlin". 106 Zu Aron Marcus siehe Marcus Markus, Ahron Marcus: Die Lebensgeschichte eines Chossid, Basel 1966. 107 Für ausfiihrliche Auszüge aus Marcus' Brief vom 27. April 1896 an Herzl siehe Herzl Year Book, I, New York 1958, S. 187-190. 108 Das Zitat wurde einer Flugschrift entnommen, die in Hamburg 1897 veröffentlicht worden war und den Text eines von Aron Marcus gehaltenen Vortrags über Herzls Der Judenstaat enthielt, der ursprünglich in Krakau gehalten worden war: Dr. Theodor Herzl's Judenstaat, besprochen in der Generalversammlung der „ Chowewe Eretz Israel' in Krakau am 10. Januar 1897, von Ahron Marcus. 109 Wiedergegeben in Herzls Antwort an Güdemanns Nationaljudentum, Österreichische Wochenschrift, 23. April 1897; siehe auch Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke in

Philanthropie, Politik und die Ostjuden

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fünf Bänden, Bd.I, Berlin 1925, Zionistische Schriften, S. 141. 110 Zionistische Schriften, S. 146. 111 Herzl, „Ein Armutszeugnis (Zu den Wiener Cultuswahlen)", Die Welt, 2. Dez. 1898, nicht unterzeichnet; enthalten in der hebräischen Ausgabe seiner Zionistischen Schriften, Jerusalem 1976, S. 285-288; auch „Die Wahlen in die Wiener Kultusgemeinde", Die Welt, 21. Nov. 1902, Nr. 47, S. 1-2. 112 Für eine Kritik dieses Systems siehe Die Welt, 9. Nov. 1900, S. 6. 113 Israel Jeiteles, Die Kultusgemeinde der Israeliten in Wien, Wien, 1873; „Die Organisation der israel. Cultusgemeinden", Die Neuzeit, 30. Mai 1884, S. 206; „Regelung der äusseren Verhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft", ebenda, 21. Feb. 1890, S. 72ff. 114 „Die Tradition der Wiener Cultusgemeinde", Die Neuzeit, 23. Mai 1884, S. 195-196. 115 Ebenda, 23. Mai 1884: „Der alte Singsing, das mittelalterliche Tohu wa-Bohu in der ,Judenschul' konnte in der Residenz [Wien] nicht aufrecht erhalten bleiben; es musste etwas geschehen, damit das Judenthum in der Hauptstadt Oesterreichs so erscheine, dass es nicht den Spott der Nichtjuden mit Recht verdiene." 116 Siehe der Brief von Rabbi Güdemann, der gegen die Kritik protestierte, die Joseph Ritter von Wertheimer gegen ihn äußerte, daß er seine Kompetenzen bezüglich der Frage eines „Jüdischen Gymnasiums" in Wien überschritten hätte: die Laienleitung mißbilligte die Einmischung der Rabbiner sogar in solche Angelegenheiten: „Die Autonomie des Cultusgemeinde-Vorstandes", Die Neuzeit, 16. Juli 1886, S. 272. 117 „Ein ausgezeichneter Bürger", Die Neuzeit, 29. Feb. 1884, S. 81; auch ebenda, 28. Nov. 1884, S. 452; „Zu den Wahlen in den Wiener israelitischen Cultusvorstand", Österreichische Wochenschrift, 23. Nov. 1888, S. 728, 731. 118 Österreichische Wochenschrift, 23. Nov. 1888, S. 728. 119 Berlin hatte bei 86.152 Juden im Jahr 1875 17.261 Beitragszahler in der Gemeinde, die ein Einkommen von 564.362 Gulden schufen, im Vergleich zu der Summe von 190.979 Gulden für Wien mit seinem viel größeren jüdischen Bevölkerungsanteil, aber einem geringeren Anteil von Steuerzahlern. Zu dieser Zeit strömten nicht annähernd so viele verarmte Ostjuden nach Berlin. Für die Zahlenangaben siehe John Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna, S. 452. 120 „Die Schatzkammer der Wiener Cultusgemeinde", Die Neuzeit, 15. Feb. 1884. Dieser Leitartikel unterstrich die Tatsache: „die Wiener Cultus-Gemeinde als solche, als Corporation, ist nichts weniger als begütert". Er gestand ein, daß ihre finanzielle Situation mit den viel größeren finanziellen Möglichkeiten der Berliner Juden nicht vergleichbar sei, hob aber hervor, daß die Wiener Gemeinde einzigartig in ihrer harmonischen Einheit und den immensen Beiträgen ihrer Mitglieder zu parlamentarischen, finanziellen, geschäftlichen, rechtlichen, medizinischen, philanthropischen und erzieherischen Institutionen Wiens insgesamt sei. „Die Wiener israel. Cultus-Gemeinde kann mit einem Gefühl von freudigem Stolze über diese Männer, die in ihren Reihen zu finden sind, Revue halten", S. 61. 121 Siehe G. Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 165ff., über die Statuten von 1867. 122 Österreichische Wochenschrift 15. Dez. 1865, S. 974.

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Anmerkungen

125 Siehe Hermann Fialla über die revidierten Statuten von 1896 ebenda, 25. Sept. 1896, S. 765ff. 124 Siehe „Die Elemente eines Cultusvorstandes in einer Gross- und Residenzgemeinde", Die Neuzeit, 28. Nov. 1884, S. 451: „Das Wort eines Diplomaten: ,Pas trop de zele', sollte man an den Eingang des Saales schreiben, wo jüdische Cultusvorstände ihre Sitzungen halten. Denn der jüdische glühende Thateneifer, der immer sich und Anderen zu schaffen gibt... kann mehr Unheil in einer Cultusgemeinde stiften, als der vornehmste Indifferentismus". 125 Ebenda, siehe auch Österreichische Wochenschrift, 16. Feb. 1900. 126 Zentralarchive der Geschichte des Jüdischen Volkes, Jerusalem, Akte A/W 98-102. Interne Berichte des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde fur die Jahre 1902, 1904, 1906,1908, 1910 und 1912. 127 Ebenda. 128 Siehe Avraham Palmon, „The Jewish Community of Vienna between the Two World Wars, 1918-1958: Continuity and Change in Internal Political Life", Hebräische Univ., Jerusalem, unveröff. Diss., 1985, S. 47. 129 Ber Borochov, „Kehillat Vina ve-ha-behirot le-hanhala", Dez. 1912, Ketavim, Tel Aviv 1955-66, III, S. 147-155. 150 Siehe Palmon, S. 10-50, zur Zusammenfassung der Veränderungen in den Statuten und der Struktur der Gemeinde mit deren Auswirkungen auf das Stimmrecht und interne Wahlen vor 1914. 151 Ebenda, S. 25. 152 Palmon, S. 41. 155 Österreichische Wochenschrift, 17. Nov. 1900; auch 50. Nov., S. 855-854. 154 Die Welt, 16. Nov. 1900; auch 4. Nov. 1904, S. 6-7. 155 Für ein Beispiel der Art des von Herzl verfaßten zionistischen Programms, das die Kultusgemeinde umformen und demokratisieren sollte, siehe „Das Gemeindeprogramm der Wiener Zionisten", Die Welt, Nr. 41, 10. Okt. 1902, S. 5-7. Es forderte unter anderem die Zentralisierung wohltätiger Einrichtungen, die Produktivierung der Gemeinde, die Entwicklung von Kredit-, Genossenschafts- und Versicherungsfonds, die Unterstützung von Pogromopfern, von Arbeiter- und Handelsangestelltenorganisationen und die Errichtung von nationalen Schulen. Das zionistische Programm bestand auf einer Beendigung des „plutokratischen Kuriensystems", der bevorzugten Behandlung der jüdischen Hochfinanz und verurteilte den Ausschluß der jüdischen Massen vom Stimmrecht als Beleidigung der demokratischen Traditionen des jüdischen Volkes. 156 „Die Wahlen in den österreichischen Cultusgemeinden", Die Welt, 16. Nov. 1900, S. 2. 157 Jüdische Zeitung, 12. Juni 1908, S. 1-2; auch Borochov, „Kehillat Vina". 158 Die Welt, 16. Nov. 1900, S. 2-4. 159 Zentralarchiv der Geschichte des Jüdischen Volkes, A/W 55/10, „Wahlprotokolle 1906". 140 Marsha Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien-KölnGraz 1989, S. 189, merkt an, daß „um 1906 zwischen 50 und 60 % der Wähler sowohl in Mariahilf-Neubau wie auf dem Aisergrund und Währing (XVIII) für die Zionisten"

Drei Wiener Prediger

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stimmten. Dies waren Bezirke der Mittelklasse mit der größten Anzahl an zionistischen Schekelzahlern in Wien. 141 Sogar der militante Dr. Josef Samuel Bloch, der früher in seiner Laufbahn mit dem jüdischen Establishment im Widerspruch gestanden war, unterstützte deren Opposition zum allgemeinen Wahlrecht mit der Begründung, daß die armen Juden kein Wahlrecht hätten, weil sie keine Steuern an die Gemeinde zahlten. Außerdem war er der Meinung, daß eine interne Demokratie die Gemeinde finanziell ruinieren würde. Osterreichische Wochenschrift, Okt. 1895, S. 826ff.; 25, Nr. 50, Dez. 1906, S. 856-857. 142 Siehe Bericht des Vorstandes der israelitischen Cultusgemeinde in Wien über seine Thätigkeit in der Periode 1896-1897, Wien 1898, S. 5. Der Bericht lobte bezeichnenderweise die beispielhaften philanthropischen Einrichtungen der Gemeinde, während er etwas Beunruhigung über das wachsende Problem der Armut der jüdischen Massen äußerte: „Der Pflege der Wohlthätigkeit, an der Spitze von Vereinen und humanitären Instituten, widmen sich edle Frauen und hochherzige Männer, deren mustergiltiges Wirken weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus bekannt ist. Gleichwohl konnte der Vorstand, angesichts der an ihn tagtäglich und in immer steigenderem Masse herantretenden, durch die zunehmende Armuth in der jüdischen Bevölkerung begründeten Ansprüche, welche durch die herrschenden Verhältnisse ihre Verschärfung finden, sich der Nothwendigkeit nicht entziehen, der Armenpflege erhöhte Beachtung zu geben ..." 143 Brief von David Gutmann an die Alliance Israelite Universelle in Paris, 6. Nov. 1895, in Archiv der Alliance Israelite Universelle, IIA4, der die zahlreichen Vermittlungen der Wiener Allianz zugunsten von im Ausland verfolgten Glaubensbrüdern aufzählt. Diese umfaßten Aktionen zugunsten der rumänischen Juden in den 70er Jahren, Beistand zur Emigration russischer Juden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, Einschreiten zugunsten bulgarischer Juden und Beistand für Juden in Korfu und Saloniki. Zwischen 1897 und 1905 richtete die Allianz gemeinsam mit der „Esra" Verbindung von Berlin und der Jewish Colonization Association (ICA) neue Hilfsprojekte für die Emigration rumänischer und russischer Juden ein.

4 . D R E I W I E N E R PREDIGER

1 Siehe Gerson Wolf, Isak Noa Mannheimer, Prediger: Eine biographische Skizze, Wien 1863; und vor allem M. Rosenmann, Isak Noa Mannheimer: Sein Leben und Wirken, Wien und Berlin 1922, für bibliographische Details; Jacob Allerhand, „Die Rabbiner des Stadttempels von J. N. Mannheimer bis P. Z. Chajes", in: Studio Judaica Austriaca 6, 1978, S. 10-15; und Rabbi Dr. Alfred Willman, „Famous Rabbiner of Vienna", in Josef Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 577ff. 2 Über den dänischen Hintergrund und den Einfluß der Mendelssohnschen Haskala in Kopenhagen siehe Rosenmann, Mannheimer, S. 22-27. 5 Ebenda., S. 52-55. 4 Wolf, Mannheimer, S. 17.

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Anmerkungen

5 Ebenda., S. 18-19. 6 Siehe Max Granwald, Der Kampf um die Orgel in der Wiener israelischen Kultusgemeinde, Wien 1919, S. 27ff., 50-33 über Mannheimers und Sulzers Widerstand sowie die internen Debatten in der Gemeinde; auch Rosenmann, Mannheimer, S. 68,95-94, über Mannheimers Meinungsverschiedenheit mit Jellinek in dieser Angelegenheit. 7 G. Wolf, Geschichte der Juden in Wien, 1156-1876, Wien 1876, S. 132. 8 Ebenda., S. 155ff. 9 Rosenmann, Mannheimer, S. 106-111. 10 Siehe G. Wolf, Josef Wertheimer: Ein Lebens- und Zeitbild, Wien 1868; Rosenmann, Mannheimer, S. 124-125. 11 Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 376. 12 Siehe Michael A. Meyer, „Jewish Religious Reform and The Wissenschaft des Judenthums - The Positions of Zunz, Geiger and Frankel", in: LeoBaeck Yearbook 16, 1971, S. 19-44. Zu weiter gefaßten Fragen siehe Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, und David Philipson, The Reform Movement in Judaism, Cincinnati 1967. 15 Rosenmann, Mannheimer, S. 74-75. 14 Ebenda. 15 Grunwald, Vienna, S. 376-577. 16 Rosenmann, Mannheimer, S. 69. 17 Ebenda, S. 106. Nach Rosenmann, „Die Triebkraft seines Wesens war die absolut restlose Hingabe an die Idee der Veredelung des damaligen Judentums durch Kultur und Kultus." 18 Ebenda, S. 65. 19 Grunwald, Vienna, S. 347-48; Philipson, S. 87, 155. Altmann, zitiert in: Robert Weltsch, Einfiihrung, LeoBaeck Yearbook 1,1966, S. XIII. 20 Ein Cyklus religiöser Gesänge zum gottesdienstlichen Gebrauche der Israeliten, hg. von S. Sulzer, Selbstverlag, Wien 1840. 21 Wiener Allgemeine Musik-Zeitung, Nr. 6 (1866), S. 138. 22 Franz Liszt, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Leipzig 1883, S. 20-68. Zitat nach Hanoch Avenary, Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit. Eine Dokumentation, Sigmaringen 1985, S. 154-158. 23 Wolf, Mannheimer, S. 43. 24 Rosenmann, Mannheimer, S. 73. 25 Ebenda, S. 84-85. 26 Ebenda, S. 138-159. 27 „Predigt, gehalten am 18. März 1848 beim Dankfeste für die bewilligte Konstitution im israelischen Bethause in Wien", Ebenda., S. 140-45. 28 Ebenda, S. 140. 29 „Erklärung bezüglich auf die Judenfrage", 24. März 1848, ebenda, S. 152ff. 50 Ebenda, S. 155. 31 Ebenda, S. 204 ff. 32 „Predigt, gehalten am 11. November 1848 im Tempel zu Wien", ebenda, S. 183-192.

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33 Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 155ff. 34 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1933, S. 201; Grunwald, Vienna, S. 289ff. 35 Grunwald, Vienna, S. 301. 36 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917; George Franz, Liberalismus: Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, Wien und München 1955, S. 198ff. 37 Rosenmann, Mannheimer, S. 88. 38 Grunwald, Vienna, S. 293; A. F. Pribram (Hg.), Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, Erste Abteilung., Allgemeiner Teil 1526-1847(48), Wien und Leipzig 1918, Π. Bd., S. 549. 39 Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 154. 40 Ebenda. 41 Ebenda, S. 168-169. 42 Grunwald, Vienna, S. 419ff., der auch daraufhinweist, daß „die fuhrenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde es sich zur Kavalierspflicht gemacht hatten, ihren eigenen Bedürfnissen nachzukommen anstatt eine Regierungsunterstützung zum Erhalt der jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen zu erbitten". 43 Ivar Oxaal und Walter R. Weitzmann, „The Jews of Pre-1914 Vienna: An Exploration of Basic Sociological Dimensions", in: LeoBaeck Yearbook 30,1985, S. 417-418. 44 Siehe Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 164-166; Rosenmann, Mannheimer, S. 93-96. 45 Ν. Μ. Gelber, Aus zwei Jahrhunderten, Wien und Leipzig 1924, S. 145ff., S. 170; auch Wolfgang Häusler, „Orthodoxie und Reform im Wiener Judentum in der Epoche des Hochliberalismus", in: Studio Judaica Austriaca 6,1978, S. 35. 46 Siehe Tietze, S. 217-220, der anmerkt, daß die Gottesdienste im Ersten Tempel den Anhängern Deutschs unter den galizischen und ungarischen Juden ein Greuel waren, seine Bemühungen, sie zu mobilisieren, jedoch politisch fehlschlugen. Siehe auch I. Oehler, „Geschichte des ,Leopoldstädter Tempels' in Wien", in: H. Gold, Hg., Zeitschriftfür Geschichte der Juden, I, Tel Aviv 1964, S. 22-24. 47 Tietze, S. 217. 48 Ebenda, S. 218. 49 G. Wolfs Beitrag zur Geschichte juedischer Tartuffe, Wien 1864, verfaßt unter dem Pseudonym Israel Levi Kohn, der Deutschs Eingaben an das Ministerium für Kultus und Unterricht offenlegte, nachdem dieser abgestritten hatte, sie geschrieben zu haben, trug dazu bei, dessen Glaubwürdigkeit zu erschüttern. 50 Diese beinhalteten die Einführung der Orgel und die Auslassung aller Hinweise auf eine endgültige Rückkehr nach Zion, auf den Glauben an den Messias und auf die Wiedereinsetzung der Opfer in den Gebetbüchern. Die Wiener Reformer, die bei der Augsburger Synode (1871) durch Joseph von Wertheimer, Leopold Kompert und den einflußreichen Herausgeber der Neuzeit, Simon Szdntö, vertreten waren, sahen in solchen Veränderungen eine geeignete Antwort auf die Zuerkennung der vollen Emanzipation und die liberale Ideologie der neuen Zeit. Siehe „Beschlüsse der beiden israelitischen Synoden im Jahre 1869 und 1871", in: Die Neuzeit, 20. Oktober 1871, S. 497-500.

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Anmerkungen

51 Für eine kritische Betrachtungsweise des „Kompromisses" und der Position der Orthodoxen durch einen Zeitgenossen siehe Wolf, Geschichte der Juden in Wien, S. 201-204. Zu Spitzers Kampagne siehe Häusler, S. 52-55. 52 Die Standardbiographie stammt von M. Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek: Sein Leben und Schaffen, Wien 1931; siehe auch Grunwald, Vienna, S. 360-565; Alfred Willman, „Famous Rabbiner of Vienna", in: Fraenkel, Hg., Jews ofAustria, S. 323-324; und Allerhand, S. 14-17. Allerhands Charakterisierung von Jellinek als „Apologet eines blutleeren Judentums" ist jedoch einseitig. 53 Rosemnann, Jellinek, S. 121, 124, 129, 194. 54 Ebenda, S. 36-57. 55 Rosenmann, Jellinek, S. 58. 56 Ebenda, S. 59-60. Sein Bet ha-Midrasch, 6 Bände, 1853-1878, war vielleicht Jellineks wichtigster Beitrag zur modernen jüdischen Wissenschaft. Nicht nur sammelte, klassifizierte und editierte er seltene Midraschim und schrieb Kommentare zu ihnen, sondern verwendete sie auch in seinen Reden und Predigten mit außergewöhnlicher Wirkung. Seine Rekonstruktion der Midrasch-Literatur zeigte den Einfluß der kritischen Methoden, die er von Zunz, Steinschneider, Rapoport und Münk gelernt hatte; seine rhetorische Anwendung dieses Schatzes spiegelte die eher künstlerische Seite seines Temperaments wider. 57 Rosenmann, Jellinek, S. 25-27. 58 Ebenda, S. 28-53. 59 Grunwald, Vienna, S. 360-361; Rosenmann, Jellinek, S. 44. 60 Grunwald, Vienna, S. 361. 61 Ebenda, S. 361-362; siehe auch „Adolf Jellinek ist ein moderner Prediger, par excellence, ein jüdischer Kanzelredner der unmittelbaren Gegenwart", „Dr. Adolf Jellinek", in: Die Neuzeit, 6. Okt. 1882. 62 Über jüdische Homiletik und Predigten in dieser Zeit siehe den aufschlußreichen Artikel von Alexander Altmann, „The New Style of Preaching in Nineteenth-Century Germany", in: Α. Altmann, Hg., Studies in Nineteenth-Century Jewish Intellectual History, Harvard 1964, S. 65-116. Altmann geht ausführlich auf die Bedeutung ein, welche die Reformer der Würde und Schönheit bei der Andachtsform beimaßen, sowie auf die Uberzeugung, daß „Erbauung" der Hauptzweck der Predigt sei, und bezeichnet dies als zwei der vorherrschenden Merkmale des „neuen Stils". Rosemnann seinerseits lobt Jellineks Synthese „deutscher Sprachgewalt und jüdischer Geistigkeit" und sah in ihm den klassischen Vertreter „der neuzeitlichen jüdischen Kanzelberedsamkeit", Jellinek, S. 6. 63 A. J., „Die Juden in Österreich", in: Der Orient, 22. April 1848, S. 129ff. Seit seiner Übersiedlung nach Leipzig hatte Jellinek Julius Fuerst bei der Herausgabe des Orient unterstützt, wobei ihm seine Kenntnis der romanischen Sprachen sowie des Arabischen und des Persischen gut zustatten kam. 64 „Dr. Adolf Jellinek", Die Neuzeit, 6. Okt. 1882. 65 Siehe die Würdigung von Julius David, „Zum ersten Jahrzeitstage Dr. Adolf Jellinek's", Die Neuzeit, 11. Jän. 1895: „Jellinek war ein rednerischer Dichter oder dichterischer Red-

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ner, weil man an seinen Reden nicht nur die Tiefe des Denkers und den Lichtglanz des Idealen, sondern auch die heilige Gluth der Phantansie, die fesselnde Form und die gewählteste Sprache des Dichters beobachten kann." Auch Grunwald, Vienna, S. 562: „Seine Beredsamkeit brach wie Lava aus dem Krater seiner Seele hervor." Er konnte plagiiert, „nie jedoch imitiert werden, geschweige denn vermochte mein es ihm gleich zu tun". 66 Willman, S. 524, nannte ihn sogar „the most talented Jewish preacher that modern Judaism has produced", den begabtesten jüdischen Prediger, den das moderne Judentum hervorgebracht hat. 67 Rosenmann, Jellinek, S. 47-48. 68 Jellinek, Der Talmudjude: Vier Reden, Wien 1882, S. 8-9, 15. 69 Jellinek, Talmudjude, S. 8-9, 15; „Die Rede und Vortragsweise der Talmudlehrer, zunächst Adam betreffend." 70 Die letzten Reden des verklärten Predigers Dr. Adolf Jellinek gehalten an den Freitagabenden des abgelaufenen Winters im Tempel der Seitenstettengasse in Wien, Hg. D. Löwy, Wien 1894, S. 57-40. 71 Ebenda, S. 48. 72 Jellinek, Talmudjude, S. 5-6. 75 Jellinek, Denkrede auf Moses Mendelssohn am 4. Januar 1886 im israelitischen Rethause der innern Stadt Wien, Wien 1886, S. 1-8. 74 „Moses Mendelssohn war ein Weiser des Judenthums, ein Kämpfer für Geistesfreiheit, ein Erlöser der Gewissen, ein Lehrer der Menschheit, der Erbauer der Welt- und Gottesstadt Jerusalem, der Stadt der Freiheit und des Friedens!", ebenda, S. 7-8. 75 Rosenmann, Jellinek, S. 86. 76 Ebenda, S. 152-140. 77 Ebenda, S. 158-140; siehe Jellinek, Schma Jisrael: Fünf Reden über das israelitische Glaubensbekenntnis, Wien 1869; Rezelem Elohim: Fünf Reden über die israelitische Menschenlehre und Weltanschauung, Wien 1871; Zur Feier desfünfzigjährigen Jubiläums des israelitischen Tempels in der innem Stadt Wien, Wien 1876; Dr. Adolfo Jellinek, Dio, il mondo e l'uomo secondo le dottrine delgiudaismo, Triest 1890. 78 Siehe Jellinek, Studien und Skizzen. Derjüdische Stamm: Ethnographische Studie, Wien 1869, wo ein Sinn für modernes Stammesbewußtsein neben universalistischen humanitären Idealen auftaucht, jedoch letzteren stark untergeordnet ist. 79 Altmann, „The New Style of Preaching", S. 87, behauptet in bezug auf Jellineks Predigten über die Idee von „Zion", Predigten, II, Wien 1865, S. 155ff., S. 167ff., daß „he preched a pre-Zionist humanistic Zionism", er einen vorzionistischen humanistischen Zionismus predigte. Dies scheint etwas übertrieben. 80 Jellinek, Derjüdische Stamm. S. 14. 81 Ebenda, S. 10-11; Schma Jisrael. Jellinek wies die Antithesen über „arische" und „semitische" Merkmale scharf zurück, die erstmals von demfranzösischenliberalen Gelehrten Ernest Renan in seiner Histoire ginerale des langues simitiques, Paris 1855) entwickelt wurden. Siehe A. J., „Eine neue Judenfrage", in: JahrbuchfürIsraeliten, 1865/66, S. 140.

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Anmerkungen

82 Siehe jedoch Derjüdische Stamm, S. 6: „Die Art und Weise wie ein Volk denkt, zeigt seine Sprache; wie es fühlt, seine Religion; wie es schafft, sein Schrifttum; wie es sich entwickelt, seine Geschichte; wie es handelt, sein Charakter; wie es lebt, seine Sitten." Diese und andere Passagen zeigen den Einfluß der deutschen romantischen Schule auf Jellineks Gedankenwelt. 85 Ebenda, S. 47-48. 84 Ebenda, S. 11 85 Ebenda, S. 220-221, „Die Zukunft des jüdischen Stammes". Jellinek war von der „Feminität des jüdischen Volkes" (siehe ebenda, S. 8ff, vor allem S. 92-95) fasziniert, und stellte in seinen Predigten und Schriften ständig Parallelen zwischen den seiner Meinung nach „jüdischen" und „femininen" Eigenschaften an. Allgemein bewunderte er Frauen, zu den negativeren Eigenschaften, die bei beiden Gruppen häufig vorkommen, d. h. Juden und Frauen, zählte er jedoch Rachsucht, Eifersucht, die Fähigkeit zu starkem Haß, eine Neigung zu Eitelkeit und Oberflächlichkeit, das Fehlen echter Ursprünglichkeit und Kreativität in den Wissenschaften und die Liebe zu Luxus und Zurschaustellung. Von den deutschen und österreichischen Antisemiten (viele von ihnen waren auch frauenfeindlich) wurden diese Stereotypen oft zu ganz anderen und makabren Zwecken verwendet. 86 Ebenda, S. 222: „Er, der Jude, ist der prädestinirte Vermittler zweier Welten: des Orients und Occidents, deren Versöhnung zu einer höheren Einheit im Schosse der Zukunft ruht!" 87 Jellinek, Predigten, I, Wien 1862, S. 29. 88 Ebenda, S. 156. 89 Uber Die Neuzeit und ihre journalistische Bedeutung siehe Jacob Touiy, Die jüdische Presse im österreichischen Kaiserreich, 1802-1918, Tübingen 1983, S. 669ff., 39ff. 90 Rosenmann, Jellinek, S. 92. 91 Grunwald, Vienna, S. 407 92 Uber den Klassenhintergrund zu den Konflikten zwischen Orthodoxie und Reform siehe Häusler, S. 49. 95 Simon Szänto, „Staat und Synagoge in Osterreich", Jahrbuch fiir Israeliten, 1862/63, S. 220. SzäntxS gab auch das Jahrbuch von 1865 bis 1868 heraus. Siehe auch Peter Landesmann, Rabbiner aus Wien. Ihre Ausbildung, ihre religiösen und nationalen Konflikte, Wien 1997, S. 57-122, über die Bet ha-Midrasch und ihre Lehrer, besonders Jellinek, Isaak Hirsch Weiß, Meir Friedmann und Simon Szänto. 94 Komperts erste Sammlung von Ghettogeschichten, Aus dem Ghetto, erschien bei Ausbruch der Revolution von 1848, die er begeistert begrüßte. Da er jedoch bestürzt über die antijüdischen Ausschreitungen des gleichen Jahres war, hatte er die österreichischen Juden gedrängt, nach Amerika auszuwandern: siehe sein „Auf, Nach Amerika!", Österreichisches Central-Organ, I, Nr. 6, 6. Mai 1848. Kompert selbst ließ sich jedoch in Wien nieder und veröffentlichte weitere Sammlungen von Erzählungen wie „Boehmische Juden" (1851) und Neue Geschichte aus dem Ghetto, 2 Bde., Wien 1860, die ihm den internationalen Ruf als mitfühlender, meisterhafter Erzähler des Ghettolebens verschafften, eine Fähigkeit, die auf seinen Kindheitserinnerungen in Böhmen basierte. Ein in vielen seiner Geschichten wiederkehrendes Thema war die Gegenüberstellung von Juden und Nichtjuden sowie die

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liberale Haltung des Schriftstellers zum Problem der Mischehe. Siehe „Dr. Leopold Kompert's Schriften", Die Neuzeit, 5. Okt. 1883; ebenso Grunwald, Vienna, S. 527-328, 551355; Guido Kisch, In Search ofFreedom, London 1849, S. 215-229, für den Text von 1848 „Auf, Nach Amerika!", und Paul Amann, Leopold. Komperts literarische Anfange, Prag 1907. 95 „Der Prozess Kompert", Die Neuzeit, 1. Jän. 1864; siehe auch Grunwald, Vienna, S. 351-352; Tietze, Die Juden Wiens, S. 220. 96 Königswarter wurde vom Kaiser geadelt und 1879 in das Herrenhaus berufen. Als Direktor eines bedeutenden Bankhauses hatte er 1855 die Rothschilds bei der Gründung der Creditanstalt, der größten österreichischen Bank, unterstützt. & spielte auch bei der Entwicklung der österreichischen Eisenbahnen eine Rolle, eine Aufgabe, die von seinem Sohn, Moritz Baron von Königswarter, 1837-93, einem der führenden Finanziers Österreichs, fortgesetzt wurde; siehe Jüdisches Weltblatt, 15. Juli 1882, S. 5. 97 Bis 1868 gab es in der Leopoldstadt elf orthodoxe rituelle Badehäuser, und es wird geschätzt, daß ungefähr 25 Prozent der Beitragszahler in der Gemeinde Orthodoxe waren; siehe dazu Hetze, Die Juden Wiens, S. 222. 98 Obwohl Jellinek und Güdemann in einigen wichtigen religiösen Fragen nicht übereinstimmten, vermieden sie im allgemeinen eine offene Konfrontation; siehe Ismar Schorsch, „Moritz Güdemann: Rabbi, Historian, Apologist", Leo Baeck Yearbook, Π, 1966, S. 46-47. 99 Ebenda, S. 46; Rosenmann, Jellinek, S. 121-122; Häusler, S. 48-4«. 100 Siehe seine anonymen Beiträge „Reform und Reformschwindel" und „Die Gebetmacherei", veröffentlicht in Zacharias Frankels Monatsschriftfiir Geschichte und Wissenschaft des Judentums 18,1869, S. 81-88,122-150. 101 Josef Fraenkel, „Between Herzl and Güdemann", Hebräisch, ShivatZion, 4 1956-57, S. 100-115, bes. S. 100-101. 102 Schorsch, S. 45. 103 Ebenda, S. 42. 104 Güdemann, Die Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden, I, Wien 1880, S. 109-115, 128ff., 161. 105 Schorsch, S. 61, zitiert Güdemann aus einen Artikel von 1898: „Unsere Geschichte ist an sich religiös. Nicht nur drehte sich unser inneres Leben einstmals und auch heute teilweise um die Religion als ihr Zentrum, sondern auch unser äußeres Leben zeigt dieses Verhältnis." Güdemann war davon überzeugt, daß nur die Gegner der Juden diese als Nation bezeichneten. 106 In Güdemanns vierbändigen Erinnerungen „Aus meinem Leben" (ohne Jahresangabe) im Archiv des Leo Baeck Institutes, New York, wird auf diese Begebenheit, die ihn noch immer ärgerte, ausführlich eingegangen. 107 Allerhand, S. 12. 108 Güdemann, Jerusalem: Opfer und die Orgel, Wien 1871; Rosenmann, Jellinek, S. 129; Fraenkel, „Between Herzl and Güdemann", S. 112-115. 109 Rosenmann, Jellinek·, Häusler, S. 55.

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Anmerkungen

110 Geschichte des Erziehungswesens, I, S. Iff. 111 Ebenda, Π, S. 4. 112 Schorsch, S. 65 115 Güdemann, Jüdische Apologetik, Glogau 1906, S. VII. 114 Ebenda, S. 40, 124-125,133,139. 115 Ebenda, S. 50-51, 74,205ff., 211-222. 116 Ebenda, S. 88-90. 117 Ebenda, S. 205-218. 118 Allerhand, S. 19: „Die Gabe des Polemisierens im wissenschaftlichen sowie im praktischen Bereich war Güdemann nicht gegeben." 119 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke in fiinf Bänden, Bd. II, Berlin 1923, Tagebücher I, S. 362. Zur gesamten Geschichte siehe Fraenkel, „Güdemann and Herzl", S. 67ff., und, von der anderen Seite, Mordechai Eliav, „Herzl und der Zionismus aus der Sicht Moritz Güdemanns", Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Nr. 56/57,1980, S. 135-168, basiert auf Güdemanns eigenen Erinnerungen. 120 Schorsch, S. 53. 121 Fraenkel, „Güdemann and Herzl", S. 74-75. 122 Ebenda, S. 80. 123 Μ. Güdemann, Aus meinem Leben, S. 243. 124 Ν. H. Tur-Sinai, „Viennese Jewiy", in: Fraenkel, Hg., Jews of Austria.

5 . LIBERALISMUS, DEUTSCHTUM UND ASSIMILATION

1 Für ein typisches Beispiel dieses Kults unter österreichischen Juden siehe Heinrich Jaques, Denkschrift über die Stellung der Juden in Österreich, Wien 1859, S. CXVII-CXVIII, in der er ein mächtiges, geeintes, freies Osterreich fordert, das stark genug ist, seinen Nachbarn zu widerstehen und dem der engste Anschluß an Deutschland zugrundeliegt. 2 George L. Mosse, German Jews beyond Judaism, Hebrew Union College, Cincinnati, 1985, S. 3-4. 3 Ebenda, S. 4-8. 4 Ruth Kestenberg-Gladstein, „The Jews between Czechs and Germans in the Historic Lands, 1848-1918", in: The Jews of Czechoslovakia, Philadelphia 1968, S. 32-35; Guido Kisch, In Search of Freedom, London 1949, S. 58-66. 5 Gary B. Cohen, „Jews in German Society: Prague, 1860-1914", in: Central European History 10,1977, S. 28-54. 6 Hans Kohn, „Before 1918 in the Historic Lands", Jews of Czechoslovakia, S. 17. Herzl sprach und schrieb jedoch auch einwandfrei Ungarisch. Einige seiner frühen Aufsätze zeigen „große Begeisterung und tiefes Verständnis für den ungarischen Nationalismus, seine literarischen Grundlagen und seine politischen Ziele"; siehe Andrew Handler, Don: The Life and Times of Theodor Herzl in Budapest, 1860-1878, Univ. von Alabama 1983, S. 72-75.

Liberalismus, Deutschtum und Assimilation

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7 Nathaniel Katzburg, „Assimilation in Hungaiy during the Nineteenth Century: Orthodox Positions", in: B£la Vago, Hg., Jewish Assimilation in Modern Times, Boulder, Colorado, 1981, S. 49-55; auch George Schöpflin, „Jewish Assimilation in Hungaiy: A Moot Point?", in: Ebenda, S. 75-87, der die zentrale Rolle betont, welche die Juden mit den stark urbanisierten Deutschen bei der kapitalistischen Umwandlung im Ungarn des 19. Jahrhunderts gespielt hatten, das über kein einheimisches Bürgertum verfügte. 8 Ezra Mendelsohn, „A Note on Jewish Assimilation in the Polish Lands", in: ebenda, S. 141-149.1869 war Polnisch die Amtssprache Galiziens geworden, und 1873 erhielt die Provinz einen vollen Autonomiestatus. 9 Ebenda, Mendelsohn weist daraufhin, daß die jüdische Gesellschaft in Galizien allgemein viel weniger assimiliert war als in Ungarn. Die Größe der jüdischen Gemeinde in Ostgalizien war in dieser Hinsicht ein Verzögerungsfaktor. Gleiches gilt für die Tatsache, daß die polnische Elite, der wachsende Mittelstand und die Bauernschaft nach außen hin deutlicher antisemitisch waren als in Ungarn und daß sie die Juden nicht als gleichberechtigte Partner ansahen. 10 Hugo Gold, Hg., Geschichte der Juden in der Bukowina, 2 Bde., Tel Aviv 1958-1962; Martin Broszat, „Von der Kulturnation zur Volksgruppe - Die nationale Stellung der Juden in der Bukowina im 19. und 20. Jahrhundert", Historische Zeitschrift 200, 1965, S. 572ff. 11 Karl-Emil Franzos, Aus Halb-Asien: Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Süd Russland und Rumänien, I, Leipzig 1876, S. 115. 12 Gerald Stourzh, „Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs?", Prag-Czernowitz-Jerusalem: Studio Judaica Austriaca, X, Eisenstadt 1984, S. 75-116. 15 Robert S. Wistrich, „The Modernization of Viennese Jewry: The impact of German culture in a multi-ethnic State", in: Jacob Katz, Hg., Towards Modernity: The European Jewish Model, Rutgers, NJ, 1986. 14 Siehe die Dissertation von Kopel Blum, „Aufklärung und Reform bei den Wiener Juden", Univ. Wien 1935. 15 Bernhard Wachstein, Die Hebräische Publizistik in Wien. In drei Teilen, Wien 1950; M. Gilboa, Nitzanei ha'itonuth ha'ivrit 1691-1856, Univ. Tel Aviv 1977; R. Mahler, A History ofModem Jewry, 1780-1815, London 1971, S. 240-241. 16 Für nähere Einzelheiten über die zwölf aufeinanderfolgenden Bände von BikureiHa'Ittim siehe Wachstein, S. ΧΙΠ-ΧΧ, Einf. Siehe auch Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 244-246; zu Cohen siehe Eisig Silberschlag, „Parapoetic Attitudes and Values in Early Nineteenth Century Hebrew Poetiy", in: A. Altmann, Hg., Studies in Nineteenth Century Jewish Intellectual History, Harvard 1964, S. 122-124. 17 Grunwald, Vienna, S. 250. 18 Ebenda, S. 505; ebenso Meir Henisch, „Galician Jews in Vienna", in: Josef Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life and Destruction, London 1967, S. 562ff. 19 R. Fahn, Tekufat ha-haskalah be-Vinah, 1919, S. 58-46. 20 Grunwald, Vienna, S. 248; auch A. Mayer, Wiens Buchdruckergeschichte, Π, Wien 1887. 21 Henisch, S. 362.

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Anmerkungen

22 Zu Lettens' journalistischer Tätigkeit in Wien siehe Jacob Toury, Die jüdische Presse im österreichischen Kaiserreich, 1802-1918, Tubingen 1983, S. 12ff. 23 Ebenda, S. 21. 24 Grunwald, Vienna, S. 251. 25 Jellinek, Die hebräische Sprache: Ein Ehrenzeugnis des jüdischen Geistes, Wien 1881, S. 12. 26 Ebenda, S. 4. 27 A. J., „Assimilatio", Die Neuzeit, 19. Dez. 1884, S. 482. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 481. 30 A. J., „Assimilatio", Die Neuzeit, 19. Dez. 1884, S. 481. 31 Ebenda. 32 W. O. McCagg, „The Assimilation of Jews in Austria", in: Bela Vago, Hg., Jewish Assimilation, S. 127-140. 33 Michael Pollak, Vienne 1900: Une identiti blessee, Paris 1984, S. 38f. 34 Uber Kurandas politische Laufbahn siehe „Dr. Ignaz Kuranda", Die Neuzeit, 29. April 1881, S. 133-135, und die Todesanzeige in: ebenda, 11. April 1884, S. 139-140; A. Kohut, Allgemeine Zeitung des Judentums 76, 1912, S. 273-275, 282-284, 292-294; Georg Franz, Liberalismus: Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955; und Grunwald, Vienna, S. 365-371. 35 „Dr. Ignaz Kuranda", Die Neuzeit, 29. April 1881, S. 134. 36 Richard Grunberger, „Jews in Austrian Journalism", in: Fraenkel, Hg., Jews of Austria, S. 86. 37 Grunwald, Vienna, S. 368-369. 38 Ebenda, siehe auch Wolfgang Häusler, „Orthodoxie und Reform im Wiener Judentum in der Epoche des Hochliberalismus", StudiaJudaica Austriaca 6,1978, S. 39-40. 39 Jaques, Denkschrift, S. IX. 40 Ebenda, S. ΧΕΠ. 41 Ebenda, S. XIV-XV. 42 Ebenda, S. ΧΧΠ. 43 Ebenda, S. XXIX-XXX. 44 Ebenda, S. CIX-CX, CXIV. 45 Ebenda, S. C. 46 Ebenda, S. 1-10. 47 Ebenda, S. 14-15. 48 Ebenda, S. 26. 49 Ebenda, S. 37. 50 Ebenda, S. 50ff. 51 Siehe Dennis B. Klein, „Assimilation and the Demise of Liberal Political Tradition in Vienna: 1860-1914", in: D. Bronsen, Hg., Jews and Germansfrom1860 to 193): The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, S. 234-261, fur einen informativen Überblick. 52 Grunwald, Vienna, S. 406-407. 53 A. J., „Jüdisch-Österreichisch", Die Neuzeit, 15. Juni 1883.

Liberalismus, Deutschtum und Assimilation

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54 Oscar Jäszi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago und London 1971, S. 171., Kap. VII, behandelt den Kapitalismus und das Judentum als eine zentripetale Kraft in der Monarchie. Für eine Allianz zwischen der magyarischen Feudalaristokratie und dem jüdischen Finanzkapitalismus bei der Modernisierung von Transleithanien siehe William 0. McCagg, jun., Jewish Notables and Geniuses in Modem Hungary, New York 1972. 55 Siehe Ν. T. Gross, „The Habsburg Monarchy 1750-1914", in: Carlo M. Cipolla, TheFonatana Economic History ofEurope, London 1980, S. 228-278. 56 Ebenda, S. 250-251. 57 Siehe Bernard Michel, Banques et bartquiers en Autriche au dibut du XXe Sücle, Paris 1976, für einen umfassenden Bericht über die entscheidende Rolle des Bankwesens im Wirtschaftsleben Österreichs des Fin de Siicle. Michel unterstreicht die Bedeutung der Juden in der Wiener Finanzwelt. 58 Gross, S. 250. 59 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Sikcle, Frankfurt/Mai 1982, S. 5. 60 Siehe John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins ofthe Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 1-40, über die österreichische liberale Politik. Boyer gibt einen Überblick sowohl über die von den Liberalen mit der kaiserlichen Bürokratie erzielte Entspannung als auch über deren Verrat an den Idealen von 1848 - insbesondere über das Ideal des einheitlichen Bürgertums. 61 Ebenda, S. 156ff, über den Säkularismus und Antiklerikalismus der liberalen Kultur Wiens, was wiederum den Antagonismus der katholischen Politiker zum Austroliberalismus verstärkte. 62 Zum Fall Ofenheim siehe Richard Charmatz, Oesterreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, Leipzig 1909, S. 118. Für eine differenzierte Analyse der Verbindung zwischen dem Börsenkrach von 1873 und dem Anstieg antisemitischer Bewegungen in Deutschland und Österreich siehe Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 17001933, München 1980, S. 287ff. 65 A. J., „Zur Wahlcampagne", Die Neuzeit, 6. Juni 1879. 64 Ebenda. 65 P. G. J. Pulzer, „The Austrian Liberals and the Jewish Question, 1867-1914", Journal of Central European Affairs 35,1965, S. 131-142. 66 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 576, 477. 67 Franz Kobler, „The Contribution of Austrian Jews to Jurisprudence", in: Fraenkel, Hg., Jews of Austria, S. 29. 68 Ebenda, S. 30-51. 69 Grunwald, Vienna, S. 414-415. 70 Die wichtigsten Quellen über Fischhofs Karriere und seine politischen Ansichten sind: Richard Charmatz' Biographie, Adolf Fischhof: Das Lebensbild eines österreichischen Politikers, Stuttgart und Berlin 1910; Werner J. Cahnman, „Adolf Fischhof and his Jewish Followers", LeoBaeck Yearbook4,1959, S. 111-139; Grunwald, Vienna, S. 255-264; und N. M. Gelber, Aus zwei Jahrhunderten, Leipzig 1924, S. 126-151. Siehe auch R. A. Kann, Das

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Anmerkungen

Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2. erweiterte Auflage, 2 Bde., Graz-Köln 1964, fiir den Hintergrund zum Nationalitätenproblem; Rabbi Josef Samuel Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, 2 Bde., Wien und Leipzig 1922, Bd.l, S. 55-58, fiir den jüdischen Aspekt; und Die Neuzeit, 31. März 1893, S. 1-2. 71 Charmatz, Fischhof, S. 10-11. 72 Ebenda, S. 20; Grunwald, Vienna, S. 256-257. 73 Grunwald, Vienna, S. 262. 74 Siehe Dr. Ferdinand Kronawetter. Rede vom 9. April 1898 zu Ehren von Fischhof, Mittheilungen der Österreichisch-Israelitischen Union, 10, Nr. 104, S. 6. 75 Ebenda S. 7. 76 Ebenda-, siehe auch Charmatz, Fischhof, S. 198. 77 Charmatz, Fischhof S. 205. 78 Ebenda, S. 214; Kronawetter, Mittheilungen, S. 8. 79 Siehe die hervorragende Diskussion dieses Widerspruchs durch Cahnman, S. 11 Iff. 80 Für die Statistik der österreichischen Bevölkerungszahlen siehe Robert A. Kann, Nationalitätenproblem, Π, S. 299ff. 81 Für die Verzweigungen der österreichischen Nationalitätenfrage siehe Kann, Nationalitätenproblem·, A. J. P. Taylor, The Habsburg Monarchy, 1809-1918, London 1891; C. A. Macartney, The Habsburg Empire, 1790-1918, London 1969; auch die mehrbändige Geschichte Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Hgg., Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Wien 1975ff., insbes. Band ΠΙ, „Die Völker des Reiches", Wien 1980. 82 Taylor, S. 286. 83 Charmatz, Fischhof S. 223ff. 84 Ebenda, S. 235-236; Kronawetter, Mittheilungen, S. 11. 85 Charmatz, Fischhof S. 227. 86 Ebenda, S. 225. 87 Ebenda, S. 237,270. In einem Brief an den Anführer der Tschechen erklärt Fischhof: „Die nationale Kurie ist die Festung, innerhalb welcher die nationale Minorität sich erfolgreich gegen die Angriffe der nationalen Majorität verteidigen kann ..." 88 Cahnman, S. 120-121; Kronawetter, Mittheilungen, S. 14-15. 89 Siehe Karl Renner (unter dem Pseudonym Rudolf Springer), Staat und Nation, Wien 1899; ebenso sein Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, Leipzig 1902. 90 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, Wien 1918, S. 232. 91 Zitiert in Grunwald, Vienna, S. 304, und Charmatz, Fischhof S. 298-299 (Zitat S. 296). 92 Charmatz, Fischhof S. 262. In Budapest hatte jedes Klassenzimmer im Gymnasium zur damaligen Zeit eine besondere „Judenbank". Siehe Dr. Ferdinand Kronawetter, „Adolf Fischhof und die Verfassungskämpfe der Gegenwart", Mittheilungen der Österreichisch-Israelitischen Union 10, Nr. 104, 9. 4. 1898, S. 4. 93 „Gratulationsschreiben des Herrn Dr. Adolf Fischhof an Herrn Dr. Adolf Jellinek", Die Neuzeit, 3. Juli 1891, S. 262. 94 Ebenda.

Liberalismus, Deutschtum und Assimilation

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95 Ebenda. 96 Grunwald, Vienna, S. 262-263. 97 Charmatz, Fischhof, S. 278-281. 98 Grunwald , Vienna, S. 505; auch Kronawetter, Mittheilungen 10, über Fischhofs frühere Zurückweisung eines Angebots, einem klerikal-konservativen Kabinett anzugehören. 99 JosefS. Bloch, Erinnerung aus meinem Leben, Wien und Leipzig 1922, S. 25ff., 55. 100 Für Hinweise auf seine Korrespondenz mit Fischhof siehe Bloch, Erinnerungen, I, S. 55ff., 79, 270. 101 Bloch, Erinnerungen, S. 197ff. Zum Hintergrund siehe Jacob Touiy, „Troubled Beginnings: The Emergence of the Österreichisch-Israelitische Union", in: Leo Baeck Yearbook 50,1985, S. 475-745. 102 Cahnman, S. 128-129. 105 Österreichische Wochenschrift, 28. April 1895. Der Redner war Dr. Marcus Spitzer. 104 Mittheilungen der Österreichisch-Israelitischen Union9, Nr. 92, März 1897. 105 Kronawetter, „Adolf Fischhof und die Verfassungskämpfe der Gegenwart", Mittheilungen Nr. 104, 9. 4. 1898, S. 5. 106 Boyer, Political Radicalism, S. 16-17. 107 Cahnman, S. 122ff. 108 Siehe Theodor Hertzka, Freiland: Ein soziales Zukunftsbild, Leipzig 1890. Seine sozialutopische Vision kann durchaus Theodor Herzl, den Begründer des politischen Zionismus, beeinflußt haben, der Freiland in der Einführung zu seinem Judenstaat (Wien 1896) erwähnt. Sowohl Hertzka als auch Herzl wuchsen in Budapest auf, kamen als junge Männer nach Wien und machten anfangs Karriere im Journalismus. Beide waren auf ihr Judentum stolz, stark beunruhigt durch den Antisemitismus und vertraten ähnliche Ansichten über wirtschaftliche Gerechtigkeit und soziale Organisation. Für Hertzkas Ideen eines Mittelweges zwischen Kapitalismus und Sozialismus siehe sein Werk Sozialdemokratie und Sozialliberalismus, Dresden und Leipzig 1891. 109 Charmatz, Fischhof, S. 582-584. 110 Ebenda, S. 542-544, über das tiefe Mißtrauen in deutschen liberalen Kreisen gegenüber Taaffes Regierung und die wachsende Radikalisierung der Deutsch-Österreicher nach 1880.

111 Cahnman, S. 121. 112 Grunwald, Vienna, S. 429. Um die Wiener Juden von ihrer Unterstützung der Verfassungspartei abzubringen, finanzierte Taaffe den Druck von Blochs Flugschrift aus dem Jahr 1886, Der nationale Zwist und die Juden in Österreich. 113 Bloch, Erinnerungen, S. 167; auch Grunwald, Vienna, S. 429. 114 Cahnman, S. 128; Charmatz, Fischhof, S. 586; Isidor Schallt, „Kadimah: Aus meinen Erinnerungen", MS, Central Zionist Archives, A 196/25, Jerusalem. 115 Charmatz, Fischhof S. 591. 116 Ebenda, S. 585. 117 Grunwald, Vienna, S. 426. 118 Pulzer, S. 127.

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Anmerkungen

119 Siehe Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866, Stuttgart 1897-1898. 120 William J. McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven und London 1974, S. 75. 121 Zitiert in ebenda. 122 Taylor, Einfuhrung zur engl. Übersetzung von Heinrich Friedjung, The Strugglefor Supremacy in Germany, 1859-1806, New York 1966, S. IV. 125 Ebenda, S. XIV. 124 Für parallele Phänomene in Ungarn siehe Jäszi, S. 171. 125 Deutsche Wochenschrift, 18. Jän. 1885. Siehe auch Taylor, Einf. zur engl. Ubersetzung von Friedjung, S. XXVII, der Friedjungs Vorwort zu den Historical Essays (eines seiner letzten Werke) zitiert, worin dieser seinen jugendlichen Glauben an das Alldeutschtum wiederholt und ausfuhrt, daß „wir letztlich zu unserem Vaterland (d. h. Deutschland) zurückkehren werden, von wo die Besten nach Südosten gewandert sind, um eine historische Mission zu erfüllen". 126 Siehe George L. Mosse, „The Influence of the Völkisch Idea on German Jewry", Leo Baeck Yearbook 12, 1967, S. 84-86. 127 Zur Reaktion von Friedjungs engstem Mitarbeiter, dem jungen Victor Adler, auf den Antisemitismus siehe Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 232-261. 128 Deutsche Wochenschrift, Nr. 45, 25. Okt. 1885: „Der einzige Ausgleich liegt... in dem vollständigen Verlassen der Sonderstellung, welche die Juden vielfach einnehmen, in dem radikalen Aufgehen in den modernen Völkern, verstehe in das Deutschtum, unter denen sie leben. Denn die weltgeschichtliche Aufgabe, welche ihnen zugeteilt wurde, haben sie gelöst." Friedjungs „Assimilationismus" wurde von Dr. Josef Samuel Bloch in der Österreichischen Wochenschrift am 16. Jän. 1885, am 16. Juli 1885 und am 14. Nov. 1885 scharf als eine Form des „semitischen Antisemitismus" angegriffen. 129 Siehe Pulzer, S. 116ff., über die veränderte Haltung Juden gegenüber in den nationalistischen Kreisen. Zur Thematik Friedjung als Herausgeber der Deutschen Zeitung siehe ebenda, S. 114-116. 150 McGrath, S. 206-207.

6 . EMPORKÖMMLINGE, PATRIOTEN UND SCHUTZJUDEN

1 Siehe die sorgfaltige statistische Analyse von Sigmund Mayer, „Der Reichtum der Juden", in: Die Neuzeit, 2. April 1886, S. 129-151, der auf die irreführende Aussage einer wirtschaftlichen Analyse hinweist, die sich auf die Familie Rothschild oder „die Handvoll in Wien concentrirter jüdischer Financiers ..." stützt. 2 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1955, S. 251. 5 Josef C. Pick, „The Economy", in: The Jews of Czechoslovakia, Philadelphia 1968, I, S. 572-574.

Emporkömmlinge, Patrioten und Schutzjuden

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4 Allan Janik und Stephen Tbulmin, Wittgensteins Wien, München-Wien 1984, S. 229-235. Die Wittgensteins betrachteten sich „als ihrer Herkunft nach jüdisch", obwohl der Vater die protestantische Arbeitsethik ganz übernommen hatte und keinerlei religiöse Verbindung zum Judentum hatte (S. 233). 5 Zu den prominentesten geadelten Mitgliedern des jüdischen Gemeindevorstands nach 1880 gehörten ζ. B. Wilhelm Ritter von Gutmann, David Ritter von Gutmann, Julius Ritter von Goldschmidt, Theodor Ritter von Goldschmidt, Arthur Edler von Mises, Leopold von Lieben, Dr. Philipp Ritter von Mauthner, Ignaz Ritter von Ephrussy, Moritz Ritter von Borkenau und Theodor Ritter von Taussig. 6 Siehe Moritz Güdemann, Grabreden während der letztenfiinfundzwanzigJahre in der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, Wien 1894, S. 5. 7 „Moritz Ritter von Goldschmidt", Österreichische Wochenschrift, 13. April 1888, S. 230231; siehe auch „Galerie berühmter Männer des Judenthums", Jüdisches Weltblatt, 15. Juni 1882, S. 3. 8 Siehe „Die vierzigjährige Jubelfeier des Geschäftshauses der Herren Wilhelm und David Ritter von Gutmann", in: Die Neuzeit, 8. Jän. 1892, S. 11, die „die außerordentliche humanitäre Wirksamkeit der Firma" auf dem Gebiet der allgemeinen Philanthropie pries. Siehe auch den Leitartikel „Wilhelm und David Ritter von Gutmann", ebenda, 20. Okt. 1889, S. 397-398, der in dieser „Großzügigkeit ohne Unterschied der Confession" einen Ausdruck „jüdischer" Werte und eine Rechtfertigung des „modernen Princips der Gleichberechtigung aller Confessionen" sah. 9 Siehe „Erinnerungen von Herrn Wilhelm Ritter von Gutmann", in: Die Neuzeit, 1. Jän. 1892, wo sich der berühmte Industrielle erinnert: „Das Leben eines damaligen Israeliten war ja ein fortläufendes Martyrium ..." Gutmann hob die Bedeutung seiner religiösen Erziehung, besonders das frühe Studium der „wissenschaftlichen Werke der hebräischen Literatur" und den Wert, der den Almosen für die Armen und dem Mitleid für den Mitmenschen beigemessen wurde, als Ausgangspunkt für seine spätere philanthropische Tätigkeit und seine Schirmherrschaft über die jüdischer Wissenschaft hervor. 10 Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 499. 11 Ebenda, siehe auch den Nachruf auf Wilhelm Ritter von Gutmann, in: Die Neuzeit, 24. Mai 1895, S. 120. 12 Der Anstoß zu dieser Lehranstalt ging zum Teil von der Bedeutung aus, die Gutmann und andere jüdische Philanthropen in Wien der jüdischen Verteidigung und Apologetik gegen die Welle des Antisemitismus beimaßen. Ihrem Lehrkörper gehörten viele fuhrende jüdische Gelehrte an, wie Meir Friedmann und Adolf Schwarz. Die meisten Studenten kamen von außerhalb Wiens, insbesondere aus Galizien. 13 Autriche IA S. 1-3 Vienne, sowie IIA S. 4-7, Archiv der Alliance Isra61ite Universelle, Paris. Siehe ζ. B. einen Brief vom 24. Okt. 1895, wo David Gutmann über die Lage in Wien schreibt: „Die sociale und politische Lage unserer Glaubensgenossen hier ist derzeit eine derart penible, dass man es sich sehr wohl überlegen muss, Situationen zu schaffen, die der gehässigen Deutung der Internationalität des Judentums neue Nahrung geben könnten."

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Anmerkungen

14 Autriche ΠΑ, S. 4, David von Gutmann an die Alliance Isra61ite Universelle in Paris, 6. Nov. 1895. 15 Autriche IIA, S. 6, „Für den Vorstand der israelitischen Allianz zu Wien' [Gutmann] an die Alliance Isra01ite Universelle", 11. Mai 1908. 16 Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, Littman Library; London und Toronto 1982, S. 283-285, 287,290. 17 Siehe Bernard Michel, Banques et banquiers en Autriche au debut du XXe sücle, Paris 1976, S. 52-54, über die Bedeutung der beiden großen Banken der Rothschild-Gruppe, der Creditanstalt und der Boden-Creditanstalt, bei der Ausgabe von Staatsanleihen, der Verwaltung der Privatveimögen der Habsburger, von Fürsten, Erzherzögen und aristokratischen Familien sowie bei der Förderung des industriellen Wachstums. 18 Siehe Rudolf Sieghart, Die letzten Jahrzehnte einer Grossmacht, Berlin 1932; Michel, S. 140ff.,344; ebenso W. O. McCagg, „The Assimilation of the Jews in Austria", in: Böla Vago, Hg., Jewish Assimilation in Modern Times, Boulder, Colorado, 1981, S. 127ff. 19 Michel, S. 312. 20 Ebenda, S. 351. 21 William A. Jenks, „The Jews in the Habsburg Empire, 1879-1918", Leo Baeck Yearbook 16, 1971, S. 155-162, schreibt: „Fünfzig große Familien, die Mehrheit von ihnen jüdischer Abstammung, beherrschten die ungarische Industrie, das Bankenwesen und - sehr wirkungsvoll - die Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dank ihrer Verbindungen zu Wien und Deutschland waren sie ein äußerst wichtiger Teil der ungarischen Gesellschaft, eine Tatsache, die eher von den Magnaten als vom niederen Adel oder der Bauernschaft erkannt wurde." 22 Joseph Ritter von Wertheimer, Brief vom 22. Jän. 1873 an die Alliance Isra61ite Universelle, Archiv der AIV, Autriche IA, S. 1-3, Paris. 23 Tietze, S. 232-233. 24 Henry Wickham Steed, The Habsburg Monarchy, London 1913, S. 145. 25 Ebenda, S. 187. 26 Ebenda, S. 189: „Herausgegeben und hauptsächlich, wenn auch nicht zur Gänze, von Juden für ein im wesentlichen christliches Publikum geschrieben, verteidigte es jüdische Interessen eher durch Auslassung als durch Auftrag." 27 Siehe Kronprinz Rudolf, Schriften, hg. von Brigitte Hamann, Wien und München 1979, S. 107-112, für den Artikel des Kronprinzen Rudolf über den ungarischen Antisemitismus, der von Szeps im August 1883 veröffentlicht wurde. In ihrer Einführung kommentiert Brigitte Hamann: „Kronprinz Rudolf verteidigte die Rechte der Juden so lange, bis er selbst in den schmutzigen Kampf als , Judenknecht' hineingezogen wurde und einen Gutteil seiner frühreren Popularität verlor." 28 Wickham Steed, S. 135. 29 Ebenda. 30 Siehe Richard Grünberger, „Jews in Austrian Journalism", in: Josef Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life and Destruction, London 1967, S. 83-95.

Emporkömmlinge, Patrioten und Schutzjuden

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51 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 398 ff. 52 Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921, zit. nach Aufl. 1987, S. 107f. 55 Ebenda. 54 Marsha Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien-KölnGraz 1989, S. 112-115. 55 Siehe Jacob Thon, Die Juden in Österreich, Berlin 1908, S. 95-98; Tietze, S. 252. 56 Tietze, S. 252, weist daraufhin, daß die große Mehrheit der jüdischen Universitätslehrer Privatdozenten waren. Rabbi Josef Bloch wies in einer Parlamentsrede die Behauptung des deutschnationalen Abgeordneten Turk zurück, daß es an den Fakultäten für Medizin und Rechtswissenschaften 55 jüdische Professoren gebe; seines Wissens nach waren 21 von diesen Professoren Konvertiten und von den restlichen nur 2 Ordinarien (Bloch, Erinnerungen, Wien und Leipzig 1922, Bd.l., S. 261). 57 Österreichische Wochenschrift, 51. Aug. 1894, S. 673. 38 Mayer, Die Wiener Juden, S. 471. 59 Siehe Rozenblit, Die Juden Wiens, Kap. 5, „Vom Händler zum Angestellten: Der Berufswandel der Wiener Juden", S. 55-79, für den statistischen Hintergrund. Zur Reaktion der Nichtjuden siehe John Boyer, Political Radicalism in late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 82, der anfuhrt, daß „der Antisemitismus eine ungeheure Unterstützung bei tausenden nichtjüdischen Angestellten erfuhr, die bei Ernennungen, Beförderungen, Gehaltserhöhungen und Stellungen in Einrichtungen wie der Handelsakademie in Konkurrenz zu ihren jüdischen Kollegen standen." 40 Vortrag von Erwin A. Schmidl, „Jews in the Austro-Hungarian Army", gehalten am 28. Okt. 1984 bei einer Konferenz über Juden in der habsburgischen Politik und Kultur, Hebräische Universität, Jerusalem. Ich beziehe mich hier auf die sorgfaltigen Daten aus seiner Veröffentlichung, Juden in der k. (u.) k. Armee 1788-1918 (= Studia Judaica Austriaca, XI), 1989 (mit eng. Ubersetzung). Siehe auch Wolfgang von Weisl, Die Juden in der Armee Österreich-Ungarns, Tel Aviv 1971. 41 Schmidl, S. 9. 42 Joseph Ritter von Wertheimer, Brief vom 22. Jän. 1873 an das Zentralkomitee der Alliance Israelite Universelle; er stellt die Einstellung Juden gegenüber in der österreichischen Armee im Vergleich zu jener in Preußen in ein positives Licht. Siehe auch Jewish Chronicle, 20. Nov. 1891, S. 14. 45 Schmidl, S. 10. 44 „27.945", Leitartikel von Adolf Jellinek über die jüdischen Soldaten in der österreichischen Armee, in: Die Neuzeit, 5. Juni 1885, S. 215. Jellinek zufolge mußten die österreichischen Juden ihren Glaubensgenossen in der Armee fiir die Tatsache danken, „dass der Antisemitismus in dem massgebendsten und einflussreichsten Kreisen öffentlich verdammt wurde". 45 Ebenda: „Da fragt man nicht, ob das Blut arisch oder semitisch, deutsch oder slavisch, son-

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Anmerkungen

d e m ob es bereit sei, auf dem Altar des Vaterlandes zu fliessen." Siehe auch „Die Juden in der Armee", Österreichische Wochenschrift, 23. Aug. 1901, S. 564. 46 „Sie [Die Juden] sind kaiserlich und königlich gesinnt, wollen nicht, dass die Machtfülle unseres Monarchen auf den König von Böhmen, den Herzog von Steiermark, auf ein slovenisches und polnisches Reich vertheilt werde, sondern dass sie in einer Hand concentriert bleibe", Österreichische Wochenschrift, 25. Aug. 1901. 47 Jellinek, „Der Patriotismus der Juden in Osterreich", in: Die Neuzeit, 2. Okt. 1891, S. 581: „Die Worte des Kaisers sind unsere Burg, eine kaiserliche Burg, der wir vertrauen ..."; siehe auch Jewish Chronicle, 2. Okt.1891, S. 18. 48 „Franz Joseph I. und das Judentum in Österreich", in: Österreichische Wochenschrift, 28. Dez. 1888, S. 817. 49 Ebenda. 50 „Das Wort des Kaisers", in: Die Neuzeit, 19. Okt. 1885, S. 599. Der Leitartikel Schloß mit den Worten: „Unter der Regierung Franz Joseph I wird den Ausschreitungen des Antisemitismus immer ein Damm gesetzt sein durch die Menschenliebe und Milde unseres Kaisers, welchen die Lippen von Tausenden segnen!" 51 „Ein Wort unseres Kaisers", in: Die Neuzeit, 5. Juli 1885, S. 251; Österreichische Wochenschrift, 28. Dez. 1888, S. 818. 52 Österreichische Wochenschrift, 28. Dez. 1888. 55 Ebenda. Der Rabbiner von Baden, der diesen Artikel schrieb, fand darin Trost, daß „ in dieser gefahrvollen Zeit, in der besonders wir Israeliten von der Finsternis des Mittelalters bedroht werden, daß wenigstens wir in Osterreich unter dem Szepter Habsburgs lebenden Juden von dräuend sich zusammenziehenden Gewitterwolken nicht zu fürchten haben..." 54 Adolf Jellinek, Rede zur Feier des sechshundertjährigen Habsburg-Jubiläums im israelitischen Bethause derinnem Stadt Wien, Wien 1885, S. 4-5. 55 Ebenda. Jellinek wies darauf hin, daß die Geschichte den Kaiser „als den edelsten, den erlesenen und auserwählten unter den Fürsten Europas" in Erinnerung behalten werde. 56 „Zwei Toaste", Die Neuzeit, 13. März 1885, S. 104-105. 57 Ebenda, S. 105. In dieser Rede wurden die Zustände in Österreich im Vergleich zu jenen in Ungarn positiv herausgestrichen, und die Tatsache, daß ein orthodoxer jüdischer Finanzmann, Moritz Freiherr von Königswarter, im österreichischen Herrenhaus saß, als handfester Beweis für das Wohlwollen des Kaisers dargestellt. 58 Für einen detaillierten Vergleich Österreichs mit Ungarn aus jüdisch-liberaler Sicht siehe „Der Dualismus in Österreich-Ungarn", in: Die Neuzeit, 3. April 1885, S. 151. Hier wurde die liberale ungarische Regierung kritisiert, den Antisemitismus lediglich verbal zu verurteilen, im Gegensatz zu Graf Taaffe, dem österreichischen Ministerpräsidenten, der angeblich entschiedener handle. Wahr dürfte vermutlich das Gegenteil dieser Behauptung gewesen sein. 59 „Zum Regierungs-Jubiläum Sr. Majestät des Kaisers", in: Österreichische Wochenschrift, 50. März 1888, S. 196. 60 Jewish Chronicle, 6. Sept. 1889, S. 5.

Emporkömmlinge, Patrioten und Schutzjuden

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61 Ebenda, 25. April 1890, S. 6, „Anti-Jewish Excesses in Vienna". 62 Ebenda, 19. Sept. 1890, S. 15. 65 Ebenda, 7. Okt. 1892, S. 8, „The Emperor of Austria on Anti-Semitism". Siehe auch Die Neuzeit, 7. Okt. 1892, „Der Kaiser über den n.-ö. Landtag". 64 Ebenda. 65 Siehe „The Emperor of Austria and the Jewish Theological Seminary", in: Jewish Chronicle, 5. Jan. 1894, S. 17; auch ebenda, 18. Aug. 1895, S. 15, wo über die Verärgerung Prinz Alois Liechtensteins, eines führenden christlichsozialen Antisemiten, über die Verleihung des Ordens der Eisernen Krone Erster Klasse an Baron Albert von Rothschild für seine Hilfe bei der Durchführung der österreichisch-ungarischen Währungsreform berichtet wird. Siehe auch ebenda, 4. Aug. 1895, S. 7. 66 Adolf Kessler, „Die Juden in Österreich unter Kaiser Franz Joseph I., Univ. Wien, Diss. 1952, S. 125: „Die Juden sind tapfere und patriotische Männer und setzen ihr Leben mit Freuden ein für Kaiser und Vaterland." 67 Georg Nostitz-Rieneck, Hg., Briefe Kaiser Franz Josephs an Kaiserin Elisabeth, 1859-1898, 2 Bde., Wien und München 1966, Π, S. 111. 68 Arthur J. May, The Habsburg Monarchy, 1867-1914, Cambridge, Mass., 1951, S. 510. 69 „The Emperor of Austria's Jubilee", in: Jewish Chronicle, 2. Dez. 1898. 70 Zwei Jubiläums-Reden gehalten am 2. December 1898 anlässlich der Feier der 50-jährigen Regierung Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I. von Dr. M. Rosenmann, Wien 1898. 71 Dr. A. Schmiedl, „Zum 2. December", in: Die Neuzeit, 2. Dez. 1898, S. 502; siehe auch „Kaiserliche Worte", ebenda, S. 502-505, wo Kaiser Franz Joseph als Befreier der österreichischen Juden tituliert wurde, „der die Ketten gebrochen, welche unsere Glaubensgenossen noch fesselten, als allen Völkern des Reiches die Sonne der Freiheit aufgegangen war". 72 „Zu des Kaisers 70. Geburtstag", ebenda, 17. Aug. 1900, S. 545. 75 „Kaiserin und Königin", ebenda, 25. Sept. 1887, S. 555; ebenso „Ein Wort der Kaiserin", ebenda, 15. Mai 1887, S. 181. Das Zauberwort der Kaiserin Elisabeth an ihre Tochter lautete diesem etwas servilen Leitartikel zufolge „Sie möge religiös, aber nicht zelotisch werden!"; siehe auch ebenda, 11. Nov. 1898, über die Eigenschaften der Kaiserin, S. 469. 74 A. Jellinek, Das vierzigste Passahfest unter der Regierung Sr. Majestät Franz Josef [sic!] I.: Rede am I. Tage des Passah festes im israelitischen Tempel der innern Stadt Wien gehalten, Wien 1888, S. 5. 75 Ebenda, S. 7. 76 „Rede auf den durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf am 5. Feb. 1889 bei der Trauerfeier im Bethause der inneren Stadt Wien geheilten von Dr. Ad. Jellinek", in: Die Neuzeit, 15. Feb. 1889, S. 62. 77 „Kronprinz Rudolf", ebenda, 8. Feb.1889, S. 55: „Ein Winter ist über Österreich hereingebrochen, ein Winter, wie ihn grausiger und eisiger die Natur nicht zu erzeugen vermag ... die Herzen aller Österreicher sind zu E s erstarrt..."

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Anmerkungen

78 Für weitere Einzelheiten siehe Oskar Freiherr von Mitis, Das Leben des Kronprinzen Rudolf, Wien 1928, und Brigitte Hamann, Rudolf: Kronprinz und Rebell, Wien 1978. 79 Richard Berkeley, The Road to Mayerling, London 1958, S. 121-122. 80 Brigitte Hamann (Hg.), Kronprinz Rudolf. Schriften, München 1979, S. 114 (Zeitungsartikel über Koloman Tisza, „Die Wacht an der Leitha", Ende 1885) 81 Lucian O. Meysels, In Meinem Salon ist Österreich. Berta Zuckerkandl und ihre Zeit, Wien 1994, S. 47. Im Okt. 1886 sagte der Kronprinz zu Szeps: „Österreich darf sich von Deutschland nicht ins Schlepptau nehmen lassen. Das republikanische Frankreich soll an Stelle des reaktionären Preußen treten. Westliche Orientierung! Dies ist unser Programm!" (Zit. nach: Berta Szeps-Zuckerkandl, Ich erlebtefünfzig Jahre Weltgeschichte, Stockholm 1939, S. 154) 82 Zu Szeps siehe Grünberger, S. 91-92. 85 Berkeley, S. 200. 84 Central Archives of the History of the Jewish People, Jerusalem, A/W 515 (= Akten der Wiener Kultusgemeinde), Akte über Antisemitismus. Ebenso die persönliche Akte über den zukünftigen Präsidenten der Gemeinde, Dr. Alfred Stern, A/W 744; handschriftlicher Entwurf von März 1889. 85 „The Jews in Austria", Jewish Chronicle, 19. April 1889, S. 14. 86 „Notes of the Week", ebenda, 26. April 1889, S. 5. 87 The Times, 24. April 1889. 88 „Les D£sordres de Vienne", Le Matin, 25. April 1889, S. 14ff.,bemerkte zum Memorandum der jüdischen Gemeinde wie folgt: „Les auteurs du m£moire faisaient ressortir les dangers sociaux de la croisade döplorable engagee contre eux, et insistaient sur le prejudice considerable qui rösulterait pour l'Empire de la disparition des capitalistes juifs." 89 Ebenda, 20. April 1889. 90 The Jewish Question in Vienna" („Standard" Telegramm), Jewish Chronicle, 10. Mai 1889, S. 7. 91 Ebenda. 92 „The Austrian Premier on Anti-Semitism", ebenda, 14. Juni 1889, S. 7; 6. Dez. 1889, S. 18; 28. Feb. 1890, S. 11. 95 „The Anti-Semites in Vienna", ebenda, 25. März 1892, S. 11; 25. Dez. 1891, S. 6, zur Verurteilung des Antisemitismus durch Taaffe im österreichischen Parlament als „unpatriotisch". 94 „The Anti-Semitic Agitation in Vienna", ebenda, 14. Dez. 1892, S. 9. 95 Ebenda, 21. und 28. Aug. 1891, vermerkte die Unterstützung der nationalistischen Jungtschechen fiir den Wiener Antisemiten Ernst Schneider, wobei er mit dem Ausspruch zitiert wird „daß der Antisemitismus das einzige Band ist, das alle Rassen der österreichischen Monarchie zusammengehalten hat". 96 „Ein neuer Verein in Wien", Die Neuzeit, 20. März 1891; „Verein gegen den Antisemitismus"; ebenda, 22. Mai 1891; Jewish Chronicle, 29. Mai 1891. 97 Ebenda, 20. März 1891. Der Leitartikel in der Neuzeit bemerkte, daß der Wiener Antisemitismus schlimmer und „gemeinschädlicher als in irgend einer Stadt in der öster-

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reichisch-ungarischen Monarchie oder in Deutschland" sei. Siehe auch „Die Nichtgewählten", ebenda, wo die antisemitischen Wahlerfolge in Wien als „eine Schmach für die Stadt, welche das Haupt der Österreichischen Monarchie ist", bezeichnet werden. 98 „Verein gegen den Antisemitismus", ebenda, 22. Mai 1891, S. 202. In seiner Eröffnungsrede betonte Professor Nothnagel: „Was wir vorhaben, hat mit der Politik absolut nichts zu thun; es ist nur ein Act der Menschlichkeit und der Humanität, welcher nicht auf irgend einem Partei-Standpunkte basiert"; siehe auch „Zur Abwehr des Antisemitismus", 2. Feb. 1894, S. 45. 99 Ebenda, 22. Mai 1891, S. 202; 20. April 1894, S. 158; 1. Juni 1894, S. 222. 100 Ebenda, 24. Juli 1891, S. 290. 101 Siehe Jewish Chronicle, 1892, S. 16. 102 „The Anti-Semitic Agitation - Vienna", ebenda, 24. März 1893, S. 10. 103 Siehe Ismar Schorsch, Jewish Reactions to German Antisemitism, New York 1972, S. 83. 104 „Die Protestversammlungen gegen die Antisemiten", Die Neuzeit, 21. Okt. 1892, S. 417. Baron von Suttner betonte in seiner Rede die Bedeutung der Verurteilung des Antisemitismus durch den Kaiser und die Notwendigkeit, das Parlament durch die Wahl von Abgeordneten, die gegen den Antisemitismus eingestellt waren, zu säubern. 105 Chaim Bloch, „Herzl's First Years of Struggle. Unknown Episodes and Personal Recollections", Herd Year BookS, New York 1960, S. 83. 106 „Die Demonstrationen an der Universität", Volkstribiine, 6. Juli 1894, S. 1. 107 Bloch, „Herzl's First Years", S. 86-87. 108 Ebenda, S. 88. 109 Ebenda, S. 89. 110 Ebenda. 111 Für den vollen Wortlaut des Briefes siehe Alex Bein et al. (Hgg.), Theodor Herd. Briefe und Tagebücher, Berlin-Frankiurt/Main-Wien 1983, 6 Bde., I, S. 517. 112 Ebenda, S. 518. 113 Ebenda, S. 519. 114 Saul Raphael Landau, Sturm und Drang im Zionismus: Rückblicke eines Zionisten, Wien 1937, S. 79ff.Siehe auch Die Web, 1. Juni 1897, S. 4-5, für eine Kritik an der Abwehrstrategie. 115 Schon im April 1895 notierte Herzl in sein Tagebuch: „Der Antisemitismus ist gewachsen, wächst weiter - und ich auch", Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke in fiinf Bänden, Bd. Π, Berlin 1923, Tagebücherl, S. 7. In seiner Aufzeichnung eines Gesprächs mit dem Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann in München bemerkte Herzl am 18. Aug. 1895: „So enthält wohl auch der Antisemitismus den götdichen Willen zum Guten, weil er uns zusammendrängt, im Druck einig, und durch die Einigkeit frei machen wird". (Ebenda, S. 263) 116 Ebenda, S. 7. Dem Industriellen Friedrich Leitenberger gegenüber, einem der Initiatoren des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus", bekannte er in einem langen Brief Anfang 1893, daß „die in die Enge getriebenen Juden schließlich keinen anderen Ausweg mehr haben werden, als nach dem Sozialismus". 117 Schorsch, S. 65-66.

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Anmerkungen

118 Ebenda, S. 68. 119 Sanford Ragins, Jewish Responses to Anti-Semitism in Germany, 1870-1914, Cincinatti 1980, S. 17. 120 Michael R. Marrus, The Politics of Assimilation: The French Jewish Community at the time of the Dreyfus Affair, Oxford 1971. 121 Ebenda, S. 200, 225, 251. 122 Für eine österreichische Variation dieses Themas siehe J., „Anarchismus und Antisemitismus", Die Neuzeit, 22. Dez. 1895, S. 507, der Bomben, Dynamit, Gewalt und Terror der Anarchisten mit dem „älteren Bruder" - dem Rassenhaß, der Hexenjagd, den Lügen, der Verleumdung und dem Verfolgungswahn der Antisemiten verglich. Beide wurden als verschworene Feinde der europäischen Kultur, des Liberalismus, des sozialen Friedens und der Moral gebrandmarkt. 125 „Unsere Politik", Die Neuzeit, 16. Okt. 1891, S. 591. 124 Jellinek, „Die Juden in Österreich", Der Orient, Nr. 17, 22. April 1848, S. 129-150. 125 Schorsch, S. 207-208. 126 Ragins, S. 89. 127 Ebenda, S. 64. 128 Schorsch, S. 208. 129 Ebenda, S. 104 ff.; siehe auch M. R. Marrus, „European Jewry and the Politics of Assimilation: Assessment and Reassessment", in: Vago, Hg., Jewish Assimilation, S. 5-25. 150 Siehe Jacob Toury, „Troubled Beginnings: The Emergence of the Österreichisch-Israelitische Union", LeoBaeck Year Booked, 1985, S. 457-475, der meiner Meinung nach den Konservatismus der Origanisation in ihrer Anfangsphase überbetont, auch wenn ihr späterer Schwenk nach rechts weitgehend außer Zweifel steht. 151 DieNeuzeit, 50. Dez. 1881, S. 417. 152 Ebenda. 155 „Jüdischer Bürgerverein", Österreichische Wochenschrift, 1885, Nr. 14, S. 1. 154 Siehe Josef Bloch, Der nationale Zwist und die Juden in Osterreich, Wien 1886, S. 28, 40, 45-55. In einer anderen Fassung schrieb Bloch: „Wir sind weder Germanen noch Slaven, sondern österreichische Juden oder jüdische Österreicher". 155 Siehe William A. Jenks, Austria under the Iron Ring, 1879-1893, Charlottesville, Va., 1965, über die politischen Ausrichtungen dieser Zeit. Siehe auch Österreichische Wochenschrift, 50. April 1886, S. 195-194, und Bloch, Erinnerungen, I, S. 159. 156 Bloch, Der nationale Zwist, S. 40-41. 157 Für Blochs Angriffe auf Friedjungs Deutschtum als eine Form des „semitischen Antisemitismus" siehe Österreichische Wochenschrift, 16. Jän. 1885,16. Juli 1885,14. Nov. 1885. Friedjungs extrem assimilationistische Haltung und seine Abscheu vor dem Talmud kamen bei zahlreichen Gelegenheiten zum Ausdruck; siehe Deutsche Wochenschrift, Nr. 45, Okt. 1885. 158 Siehe Bloch, Aus der Vergangenheitfür die Gegenwart, Wien 1886, S. 15-25; siehe auch Erinnerungen , I., S. 24. Siehe die kritischen, wenn auch respektvollen Kommentare in DieNeuzeit, 5. Dez. 1886, S. 459, „Literarische Nachrichten".

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139 Die Neuzeit, 3. Dez. 1886, S. 459-460. 140 Isidor Schallt, „Erinnerungen" in: Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen VerbindungKadimah, Mödling 1933, S. 53. 141 Siehe Grunwald, Vienna, S. 370,441. Uber Kurandas Haltung gegenüber dem neuen Antisemitismus siehe Naama Magnus, „Ignaz Kuranda", Die Gemeinde, Wien, 7. Juni 1984, S. 19. Schon 1881 warnte Kuranda, daß die antisemitische Bewegung „All das, was wir insgesamt geschaffen haben ..." zerstören könnte. 142 Grunwald, Vienna, S. 441-442. 143 Siehe Österreichische Wochenschrift, 15. Okt. 1884, S. 1-3; ebenso 10. April 1885, S. 1. 144 Festschrift des Kadimah, S. 54; Bloch, Erinnerungen, I, S. 163. 145 „Kolomea-Buczacz-Sniatyn", Die Neuzeit, 13. Feb. 1891, S. 62-63. Siehe auch „Dr. Bloch hat das Wort!" 2. Dez. 1892, S. 477, wo mit den Worten geendet wird, die Wahler von Kolomea „haben sich durch ihre Wahl des Dr. Bloch in den österreichischen Reichsrath um die gesammte österreichische Judenheit verdient gemacht. Er vertritt und vertheidigt die Sache der Juden muthig und mit rednerischer Gewandtheit". 146 „Kolomea-Buczacz-Sniatyn", ebenda, 13. Feb. 1891, S. 62. Sogar Jellinek war nun der Ansicht, daß die österreichischen Juden im Reichsrat „durch einen Mann unseres Glaubens ... welcher die Fähigkeit und die Kraft besitzt, für das Judenthum, dessen Lehre und Ehre zu kämpfen und der antisemitischen Frechheit, Verlogenheit, Verfolgungs- und Verleumdungssucht entgegenzutreten", repräsentiert werden müßten. Jellinek unterstützte Blochs Kandidatur gegen Leon Meiseis, einen reichen Juden und Neffen des Warschauer Rabbiners gleichen Namens. Siehe Dr. M. Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek: Sein Leben und Schaffen, Wien 1931, S. 176 ff. 147 Zur Deckert-Mayer-Affare, siehe Bloch, Erinnerungen, II., für die Kommentare der führenden Wiener Tageszeitungen über das Gerichtsverfahren, das eine Sensation hervorrief. 148 Siehe Dr. Alfred Stern, „Der Hüsner Prozess", Ost und West, Nr. 10, 1910, S. 615-620. Siehe auch die persönlichen Akten von Stern in den Central Archives of the Histoiy of the Jewish People, Jerusalejn, A/W 744.1, für weitere wertvolle Texte. 149 Rosenmann, Jellinek, S. 160-161. 150 Stern, S. 615; siehe auch Die Neuzeit, 2. Okt. 1899. 151 Österreichische Wochenschrift, 23. Aug. 1901, S. 562-563; ebenso Die Neuzeit, 2. Okt. 1899; „Dr. Alfred Stern", Die Wahrheit, Nr. 34, 30. Aug. 1901, S. 3. 152 Neue Freie Presse, 29. Aug. 1901, S. 2, 3 und 5. 153 Achive der Alliance Israölite Universelle, Autriche ΠΑ 4, (Hilsner-Affäre). Briefe von Kuranda an die Alliance ... Paris, 29. Sept., 4. Okt., 15. Okt., 10. Nov. 1899. Siehe auch „Der Mord in Polna", Die Neuzeit, 19. Mai 1899, S. 197. 154 Siehe Rozenblit, S. 159: „Die Österreichisch-Israelitische Union setzte sich vor allem aus Geschäftsleuten und Industriellen derselben Kreise zusammen, die auch die Führung der IKG (ohne die Geadelten) versorgten..." Siehe auch Touiy, S. 474-475, der anmerkt, daß der Vorstand der Union 1886 „eine Vorherrschaft der freien Berufe" widerspiegelte, und der schreibt, daß „ein neuer kulturinteressierter, politisch liberaler, aber nicht überaktiver Klub gebildet worden war, der sich aus den neueren, aufstrebenden Schichten der

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Anmerkungen

Wiener jüdischen Mittelklassen zusammensetzte". Toury weist daraufhin, daß dieses soziologische Profil deren Bereitschaft gebremst haben könnte, „sich offen mit dem antisemitischen Feind anzulegen". 155 Siehe Österreichische Wochenschrift, 50. April 1886, S. 195-194. Schon bei der Eröffhungsversammlung der Union im April 1886 hatte Dr. Sigmund Zins die immerwährende Loyalität gegenüber den Habsburgern proponiert, die mit der deutschen, tschechischen oder polnischen Identifikation der Juden und mit deren Festhalten am jüdischen Bewußtsein in Einklang gebracht werden könnte. Dies entsprach praktisch der klassischen liberalen Haltung. 156 Zur Zusammenarbeit der Union mit dem Gemeindevorstand am Ende des Jahrhunderts siehe ζ. B. „Zu den Cultuswahlen", Die Neuzeit, 11. Nov. 1898. 157 Monatsschrift der Österreichisch-Israelitischen Union, Feb./März 1903, S. 9-10; ebenso 2. Feb. 1910, S. 1-3. 1910 hatte das Rechtsschutzbureau schon in rund 5.000 Fällen österreichische Juden vertreten. Siehe Ber Borochov, „Socher yehudi naor", Ketavim, Tel Aviv 1966, ΙΠ, S. 95-96, für ein erstaunlich sympathisches Bild Mayers und der Union aus der Sicht des linksgerichteten Zionismus. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Wien geschrieben und im Dez. 1911 veröffentlicht. 158 Ein Beispiel für dieses neue jüdische Bewußtsein war der scharfe Protest der Union gegen die Beteiligung von Theodor Ritter von Taussig, einem führenden Mitglied der Kultusgemeinde und einer der wichtigsten Bankiers Wiens, bei der Beschaffung einer Anleihe für die antisemitische russische Regierung im Jahr 1906. Aufgrund der Kampagne der Union wurde Taussig im Herbst 1906 nicht mehr in den Gemeindevorstand gewählt. Siehe Borochov, S. 96. 159 Sigmund Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, 1831 bis 1811, Leipzig 1911, S. 289. 7. D E R NEUE ÖSTERREICHISCHE ANTISEMITISMUS

1 Siehe Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, München 1980, S. 146-235, für einen wertvollen Vergleich zwischen Deutschland, Österreich und Ungarn. Nicht teilen kann ich jedoch Katz' Meinung, daß dem österreichischen Antisemitismus „ein Grundprinzip fehlte" wie in Deutschland oder daß er sich langsamer entwickelte. 2 Zu Stöcker siehe Walter Frank, Hofprediger Stöcker und die christlichsoziale Bewegung, Hamburg 1955, und Uriel Tal, Christians and Jews in Germany: Religion, Politics and Ideology in the Second Reich, 1870-1914, New York 1975, S. 225ff. Über die schlechten Wahlergebnisse des deutschen Antisemitismus vor 1914 siehe Richard S. Levy, The Downfall of the Anti-Semite Political Parties in Imperial Germany, New Haven 1975. 5 Zu diesem Einfluß siehe Adam Wandruszka, „Österreichs politische Struktur", Kap. 1: „Die drei Lager", in: H. Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, S. 29 Iff. 4 Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, 1861-1914, Princeton 1981, S. 82; Guido Kisch, In Search of Freedom, London 1949, S. 42-43.

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5 Siehe Oscar Jäszi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Paperback-Ausg., Chicago und London 1971, S. 174-175. 6 Für die von einem Abgeordneten im Verlauf einer Debatte über antijüdische Ausschreitungen in Mähren gemachte Bemerkung siehe P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-194, Gütersloh 1966, S. 118. 7 Siehe Thomas G. Masaiyk, Die Notwendigkeit der Revision des Polnaer Prozesses, Wien 1899. Masaryk, damals Professor an der tschechischen Universität in Prag, sprach sich lautstark gegen die Ritualmordgeschichte sowie gegen die Abwicklung des Hilsner-Prozesses aus. 8 Michael Riff, „Czech Antisemitism and the Jewish Response before 1914", in: Robert S. Wistrich (Hg.), European Antisemitism 1890-1945 (Sonderausgabe fiir The Wiener Library Bulletin 29 [1976]), NS Nr. 39/40, S. 8-19. Riff weist daraufhin, daß der wachsende tschechische Antisemitismus die seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts unternommenen Bemühungen einer tschechisch-jüdischen Assimilation erschwerten. 9 Zu den Unruhen von 1898 in Galizien siehe „Die Judenverfolgung in Galizien", Arbeiterzeitung, 18. Juni 1898, S. 1; auch „Die Judenhetze in Galizien", 26. Juni 1898, S. 2. 10 Wilhelm Feldman, Geschichte der politischen Ideen in Polen seit dessen Teilungen, München 1917, S. 548ff. 11 Siehe Riff, S. 18. Diese Schwierigkeit wurde schon vor 1848 von dem nationalen tschechischen Anführer Karel Havliöek dargelegt, der bezweifelte, ob die jüdischen Liebeserklärungen gegenüber den Tschechen ernst genommen und akzeptiert würden. Siehe Eduard Goldstücker, „Jews between Czechs and Germans around 1848, Leo Baeck Yearbook 17 (1972), S. 67-71; auch Kisch, S. 56-42. 12 Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 120. 13 Nathaniel Katzburg, Ha-Antishemiut be-Hungaria, 1867-1914, Tel Aviv 1969, S. 86-90. 14 Katz, S. 250-235. 15 Siehe Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/Mai 1955, S. 286. 16 Benedikt Kautsky (Hg.), Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, Den Haag 1960, S.530-531. 17 Kautsky (Hg.), Karl Kautsky, S. 530-551. 18 Ebenda. 19 Seinem engsten Mitarbeiter, Engelbert Pernerstorfer, „Aus jungen Tagen", Der Strom Nr. 2, Juli 1912, S. 98, zufolge war von Schönerer 1882 noch nicht offen antisemitisch. 20 Zum Linzer Programm siehe E. Pichl, Georg von Schönerer und die Entwicklung des Alldeutschtums in der Ostmark, Oldenburg 1958,1, S. 111 ff; siehe auch Klaus Berchthold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, München 1967, S. 198-205. 21 Siehe William J. McGrath, „Student Radicalism in Vienna", Journal of Contemporary History 2, Nr. 5, Juli 1967, S. 185-201. 22 Heinrich Friedjung, Der Ausgleich mit Ungarn, Wien 1877, S. 28. 25 Unverfälschte deutsche Worte, 1. Juli 1885. 24 Pichl, I, S. 516.

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Anmerkungen

25 Zur herausragenden Stellung von Juden im Deutschen Schulverein und dessen zunehmend antisemitische Politik siehe P. G. J. Pulzer, „The Austrian Liberals and the Jewish Question, 1867-1914", in: Journal of Central European Affairs 55 (1963), S. 137ff. 26 Siehe Erich Zailer, „Heinrich Friedjung unter besonderer Berücksichtigung seiner politischen Entwicklung", Univ. Wien, Diss., 1949, S. 51-52; William J. McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven und London 1974, S. 74-77, 198-207, 31 Off. 27 Österreichische Wochenschrift, 20. März 1891. 28 Robert S. Wistrich, „Georg von Schönerer and the genesis ofmodern Austrian antisemitism", in: Wistrich (Hg.), European Antisemitism, S. 20-29. 29 Arendt, Kap. 2. 30 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Sikcle, Frankfurt/Main 1982, S. 123. Radikale Nationalisten wie Friedjung und Adler waren in dieser Hinsicht ehrgeizig, obwohl sie letztlich einen Anschluß an Deutschland anstrebten. 31 Ebenda, S. 123. 32 Siehe Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1975, zu diesen Spaltungen. Siehe auch P. G. J. Pulzer, „The Development of Political Antisemitism in Austria", in: Josef Fraenkel (Hg.), The Jews ofAustria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 435-36. 33 Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. 34 Pulzer, „Development of Political Antisemitism", S. 435; Wistrich, „Georg von Schönerer", S. 26-28. 35 E. von Rudolf, Georg Ritter von Schönerer: Der Vater des politischen Antisemitismus, München 1936, S. 33-34. 36 Zitiertin: F. L. Carsten, Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977, S. 15. 37 Rudolf, S. 34. 38 Ebenda-, siehe auch Pichl, I, S. 316-317. 39 Pichl, I, S. 84-87. 40 Ebenda, II, S. 25-26; Schorske, S. 122. 41 Neue Freie Presse, 22. April 1884. Schönerers Vater hatte die Rothschilds viele Jahre zuvor beim Bau der Eisenbahn beraten. Zu den psychoanalytischen Auswirkungen - d. h. Antisemitismus als Form der ödipalen Rebellion - siehe Schorske, S. 121-128. Für Details der Kampagnen siehe William A. Jenks, Austria under the Iron Ring, 1879-1893, Charlottesville, Val., 1965, S. 141-157. 42 Pichl, I, S. 115; Rudolf, S. 56. 43 Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 128-129. 44 Für den Wortlaut dieses Gesetzes siehe Rudolf, S. 58; wiedergegeben in: L. Graf von Westphalen (Hg.), Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, Stuttgart 1967, S. 49-50. 45 Ebenda. 46 Ebenda. 47 Zum Rassenantisemitismus unter den österreichischen Universitätsstudenten siehe Karl

Der neue österreichische Antisemitismus

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Beurle, Beiträge zur Geschichte der deutschen Studentenschaft Wiens, Wien 1892, S. 50ff.; O. Scheuer, Burschenschaft und Judenfrage: Der Rassenantisemitismus in der deutschen Studentenschaft, Berlin 1927, S. 45; Paul Molisch, Die deutschen Hochschulen in Österreich und die politisch-nationale Entwicklung nach 1848, München 1922. 48 Careten, S. 10-11,15-16. 49 Für eine detaillierte Aufschlüsselung der Wählerschaft Schönerers nach Berufen siehe Dirk van Arkel, Antisemitism in Austria, Leiden 1966, S. 156ff. 50 Pichl, I, S. 85, Π, S. 320; siehe auch Paul Molisch, Geschichte der deutsch-nationalen Bewegungin Österreich von ihren Anfängen bis zum Zerfall der Monarchie, Jena 1926. 51 Carsten, S. 36-57; Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 181; Pichl, VI, S. 314. 52 Carsten, S. 11. 53 Theodor Billroth, Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, Wien 1876, S. 153. 54 Zum Rassenantisemitismus gibt es eine äußerst umfangreiche Literatur. Siehe insbesondere Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern-Stuttgart-Wien 1963; Uriel Tal, Christians and Jews in the „SecondReich" (1870-1914), hebr. Ausgabe: Jerusalem 1969, S. 205-224; Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 307-315. 55 Wistrich, „Georg von Schönerer", S. 26-27. 56 Zitiert nach: Peter Pulzer, „Spezifische Momente und Spielarten des österreichischen und des Wiener Antisemitismus", in: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak, Hgg., Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 129 57 Henry Wickham Steed, The Habsburg Monarchy, London 1913, S. 176. 58 Siehe John Haag, „Blood on the Ringstrasse: Vienna's Students 1918-33", in: Wistrich, Hg., European Antisemitism, S. 29ff. 59 Rudolf, S. 87. 60 Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 197ff. 61 Wistrich, „Georg von Schönerer", S. 26. 62 Für das Original des „Los-von-Rom"-Manifests von November 1898 siehe Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 274. 63 Ebenda, S. 208. 64 Siehe „Die Affaire Schönerer", Gleichheit, 17. März 1888, S. 1. 65 John Boyer, „Karl Lueger and the Viennese Jews", Leo Baeck Yearbook 26,1981, S. 137140; Robert S. Wistrich, „Karl Lueger and the Ambiguities of Viennese Antisemitism", in: Jewish Social Studies 45 (1983), S. 251-262. 66 Für einen der frühesten kritischen Berichte über die Unterschiede zwischen den beiden Bewegungen siehe Oskar Karbach, „The Founder of Political Antisemitism: Georg von Schönerer", in: Jewish Social Studies 7,1945, S. 3-31. 67 Schorske, S. 126. 68 Kurt Skalnik, Dr. Karl Lueger: Der Mann zwischen den Zeiten, Wien und München 1954, S. 43. 69 Siehe ζ. B. Josef Deckerts Flugschriften, Der ewige Jude „Ahasver", Wien 1894, und Semi-

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Anmerkungen

tische und antisemitische Schlagworte in Doppelbeleuchtung, Wien 1897; siehe auch Arkel, S. 88-90, und JosefS. Bloch, Erinnerungen, Wien und Leipzig 1922, Bd.II, S. 1-3,131-153. 70 Wistrich, „Georg von Schönerer", S. 28. 71 Arkel, S. 88-90. 72 „Ein Streit über,Rassenantisemitismus' und ,christlichen Antisemitismus'", Arbeiterzeitung, 9. Juli 1897, S. 2; 25. Juli 1897, S. 2; 15. Aug. 1897, S. 4-5; ebenso „Gessmann, Vergani und Friedmann", 9. Juni 1911, S. 1-2. 73 I. A. Hellwing, Der konfessionelle Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Österreich, Wien 1972, S. 185ff. 74 Zitiertin: RudolfKuppe, Karl Lueger und seine Zeit, Wien 1933, S. 216f. 75 Siehe Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 6 Bde., Leipzig 1902-1914, VI, S. 408. 76 Zitiert in: Richard Kralik, Karl Lueger und der christliche Sozialismus, Wien 1925, I, S. 52ff. 77 Zu Abraham a Sancta Clara siehe Robert A. Kann, Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik, Wien-Freiburg-Basel 1962, S. 59ff. 78 Erika Weinzierl, „Antisemitismus als österreichisches Phänomen", Die Republik (Wien), 3, 1970, S. 28-35. 79 „Wo wird die Judenemanzipation enden?", Wiener Kirchenzeitung, 25. Jän. 1860, S. 59. 80 Siehe die Flugschrift von Albert Wiesinger, Arme Christen und Hungerleider, jüdische Kapitalisten und Geldvergeuder, Wien 1870. 81 Zur Affäre Rohling siehe Hellwing, S. 71-183, für einschlägige Dokumente, und Bloch, Erinnerungen, Bd.I, S. 22ff. 82 Arkel, S. 20; Hellwing, S. 105-09. Rohling meldete sich freiwillig, um beim ungarischen Prozeß zu bezeugen, daß die Juden christliches Blut fur das Passah-Fest benötigten. 83 Siehe Bloch, Erinnerungen, Bd.I, S. 59ff. Bei einer Versammlung in Wien im April 1882, die von etwa 500 Teilnehmern besucht wurde, sagte Holubek seinen Zuhörern, nachdem er behauptet hatte, daß sich die Juden der Emanzipation unwürdig erwiesen hätten: „Beurteilet, ob ein solches Volk [die Juden] inmitten einer zivilisierten Gesellschaft noch eine Existenzberechtigung hat? ... Dieses Buch, der Talmud! Wißt Ihr, was in diesem Buch steht? Die Wahrheit! Und wißt Ihr, wie Ihr in diesem Buch bezeichnet seid? Als eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln!" (S. 59-60). Beim Prozeß wurde er von dem deutschnationalen Anwalt Dr. Robert Pattai verteidigt, und sein Freispruch schien die von ihm gegen den Talmud vorgebrachten Anschuldigungen zu bestätigen. 84 Die wichtigste Quelle fur Vogelsangs Lehren ist die Arbeit seines Schwiegersohns, Wiard Klopp, Die sozialen Lehren des Freiherrn von Vogelsang: Grundzüge einer christlichen Geseüschafts- und Volkswirtschaftslehre, St. Pölten 1894. 85 Ebenda, S. 631. 86 Das Vaterland, lO.Okt. 1875. 87 Otto Bauer, „Das Ende des Christlichen Socialismus", Der Kampf (1910-11), IV, S. 393398.

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88 Klopp, S. 194. 89 Ebenda, S. 187. 90 Klopp, S. 436. 91 Siehe Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 115. 92 Friedrich Funder, Von Gestern ins Heute, Wien 1952, S. 95. 95 Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 140-144. 94 M. Weiss, „Der politische Antisemitismus im Wiener Kleinbürgertum 1867-1895", Emuna 8, Nr. 2, März/April 1975, S. 94-105. 95 Österreichischer Ingenieur- und Architektenverein, Wien 1910, S. 563. 96 Dsa Barea, Vienna: Legend and Reality, London 1966, S. 332-333. 97 Ludwig Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Wien 1922, ΙΠ, S. 293. 98 Siehe William A. Jenks, The Austrian Electoral Reform of1907, New York 1950. 99 Siehe Heinrich Waentig, Gewerbliche Mittelstandspolitik: Eine rechtshistorisch-wirtschaftspolitische Studie auf Grund österreichischer Quellen, Leipzig 1898, S. 136ff., für einen zeitgenössischen Bericht, der den Mittelstandscharakter der Wiener Bewegung beleuchtet. 100 Luegers Rede vom 23.Sept. 1889, ausführlich zitiert in: Kralik, I, S. 42-43. 101 Luegers Rede vor dem Christlichsozialen Verein in Währing am 26. Sept. 1889, ebenda, S. 43. 102 Ebenda, S. 53. 105 Ebenda, S. 54. 104 Luegers Rede am 27. Juli 1891, ebenda, S. 75-76. 105 Ebenda, S. 141; Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 151. 106 Kralik, S. 162,175. 107 Kralik, S. 190-191. 108 Siehe John Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 110-112 zum Antisozialismus der Handwerksmeister. 109 Ebenda, S. 113ff. 110 Ebenda, S. 140ff. 111 Josef Deckert, Türkennoth und Judenherrschaft, Wien 1894, S. 15. 112 Boyer, Political Radicalism, S. 162. 115 Schorske, S. 143-144. 114 Neue Freie Presse, 30. Mai 1895. Zur sozialdemokratischen Befriedigung angesichts der liberalen Desorientierung und deren Ablehnung des kaiserlichen Vetos siehe Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and AustriaHungary, Littman Library, London und Toronto 1982, S. 255-258. 115 Boyer, Political Radicalism, S. 575-376. 116 Ebenda, S. 58 Iff. 117 Ebenda, S. 402. 118 Ebenda, S. 405. 119 Ebenda. Diese Beurteilung trifft wohl weitestgehend auf die Christlichsoziale Partei vor

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Anmerkungen

1914 zu, kann aber nicht auf den österreichischen Antisemitismus insgesamt angewendet werden. 120 Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 153: „Niemals war der Wilddieb so rasch und so erfolgreich zum Förster gemacht." 121 Arbeiterzeitung, 15. Aug. 1897, S. 4-5. 122 Arbeiterzeitung, 1. Mai 1897, S. 2, sowie 14. Mai 1897. 123 Verhandlungen des sechsten österreichischen Sozialdemokratischen Parteitages, abgehalten zu Wien vom 6. bis einschliesslich 12. Juni 1897, Wien 1897, S. 77. 124 „Vom Tage", Arbeiterzeitung, 5. Jän. 1898, S. 1; auch „Herr Lueger als Verteidiger Rothschilds", 15. Mai 1898. 125 Wilhelm Ellenbogen, „Der Wiener Antisemitismus", Sozialistische Monatshefte, Nr. 1, Sept. 1899, S. 421. 126 Arbeiterzeitung, 6. April 1900. 127 „Der Antisemitismus der Luegerei - Um das goldene Kalb - das jüdische Großkapital tanzen nun die Parteifreunde Luegers", Volkstribüne, 1. Juli 1908, S. 2. 128 „Antisemitische Praxis", Arbeiterzeitung, 3. Juni 1900, S. 2; „Antisemitisch-jüdische Solidarität", 23. Nov. 1900, S. 4. 129 „Jüdischer und christlicher Klerikalismus", ebenda, 15. Mai 1900, S. 2. 130 „Rothschild, Gutmann und Vergani", ebenda, 31. Jän. 1900. 131 „Die Lüge des Antisemitismus", ebenda, 18. März 1907, S. 1-2. 132 Volkstribüne, 1. Juli 1908, S. 2. 133 „Die Christlich-Sozialen und die Beamtenschaft", 24. Mai 1911, S. 4. 134 Hitler, S. 131; siehe auch Robert S. Wistrich, „Karl Lueger", S. 251-262, und Hitler's Apocalypse: Jews and the Nazi Legacy, London 1985, S. 12-26. 135 Boyer, Political Radicalism, S. 93. 136 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 475. 137 Siehe Richard S. Geehr (Hg.), „I Decide who is a Jew!"' The Papers ofDr. Karl Lueger, Washington, DC, 1982, S. 321-325, der einige Beweise vorlegt, daß Lueger selbst seit den frühen 80er Jahren ein überzeugter Antisemit war, in welchem Ausmaß bleibt eine offene Frage. 138 Ebenda, S. 323. Geehr weist daraufhin, daß Lueger als Führer einer Partei von kaiserlichem Format ein „angesehener Politiker" war, so daß seine Verantwortung bei der Legitimierung des Antisemitismus umso größer war. 8 . ADOLF JELLINEK U N D DIE LIBERALE REAKTION

1 Siehe Central Archives of the History of the Jewish People, Jerusalem, A/W 315, Akte über Antisemitismus. 2 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1933, S. 239ff.; P. G. J. Pulzer, DieEntstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966, S. 111-112.

Adolf Jellinek und die liberale Reaktion

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5 Jacob Toury, Die jüdische Presse im österreichischen Kaiserreich, 1820-1918, Tübingen 1985, S. 69-70. 4 Toury, S. 71, erwähnt zu Recht, daß Jellineks Beitrag zum Kampf gegen den Antisemitismus nicht genügend gewürdigt worden ist, analysiert ihn aber leider nicht im Detail. 5 Jellinek, „Eine neue Judenfrage", Jahrbuchfür Israeliten, 1865-1866, S. 145; siehe auch M. Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek: Sein Leben und Schaffen, Wien 1951, S. 115. 6 Siehe Rosenmann, S. 155, über Jellineks bedeutenden Beitrag zur Schaffung der modernen jüdischen Apologetik; siehe auch Jellinek, Franzosen über Juden: Urteile und Aussprüche berühmterfranzösischerStaatsmänner und Gelehrter über Juden und Judentum, Wien 1880. 7 Siehe „Ein Wort über unsere Publizistik", Die Neuzeit, 50. Dez. 1881, S. 415-416; der Artikel behandelt das allgemeinere Problem der Daseinsberechtigung der jüdischen Presse in der modernen Zeit. 8 Die Neuzeit, 50. Dez. 1881, S. 416. 9 Jellinek, Aus derZeit: Tagesfragen und Tagesbegebenheiten, Budapest 1886, S. 7. 10 Siehe Jellineks offenen Brief an Rabbi Josef Samuel Bloch vom 5. Okt. 1892, ebenda, S. 89. 11 Ebenda, S. 25ff. Dies war die Reaktion auf einen Artikel in Das Vaterland vom 29. Juli 1885. 12 Jellinek, Aus derZeit, S. 24-25. 15 Jellinek, Aus derZeit, S. 8-9. 14 Ebenda, S. 55, „Das Judenthum den Juden, das Christenthum den Christen". Jellinek anerkannte den historischen Beitrag des Christentums bei der Uberwindung des Heidentums. Die christliche Missionierung der Juden wurde jedoch heftig abgelehnt. 15 Ebenda, S. 60-61, 68. Er betonte das Unwissen über jüdische Religionslehren unter den österreichischen Staatsmännern, Soldaten, Professoren und Intellektuellen. 16 Ebenda, S. 10. 17 Ebenda, S. 19. 18 Ebenda, S. 55. 19 Ebenda, S. 57. 20 „Völker-Pädagogik", ebenda, S. 5-18. 21 Ebenda, S. 6. 22 Siehe „Ein Zwiegespräch", ebenda, S. 70-80; Die Neuzeit, 51. März, 7. und 14. April 1882. Siehe auch „Leo Pinskers Begegnung mit Adolf Jellinek: zur Wiederkehr des 100. Geburtstages Pinskers", in: Ν. M. Gelber, Aus zwei Jahrhunderten, Wien und Leizpig 1924, S. 195-201. 25 „Ein Zwiegespräch", Aus der Zeit, S. 76. 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 77. 26 Ebenda. 27 Ebenda, S. 78. 28 Ebenda.

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Anmerkungen

29 Ebenda, S. 80. 30 „Ein Zwiegespräch", Die Neuzeit, 14. April 1882, S. 124. 51 Siehe Robert S. Wistrich, „Anti-Semitism and the Origins of Jewish Nationalism", Midstream, Nov. 1982, S. 10-15. 52 „Ein Zwiegespräch", Aus der Zeit, S. 74. 53 Birnbaum, „Gegen die Selbstverständlichkeit", in: Ludwig Rosenhek, Hg., Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen VerbindungKadimah, Mödling 1933, S. 50. 54 Birnbaum, ebenda, wies darauf hin, daß „die jungen Leute aus dem Osten noch aus einem lebendigen jüdischen Volksmilieu kamen, wo es schon eine Bewegung der Selbstemanzipation oder der nationalen Wiedergeburt gab..." Jene nationalistischen Studenten, die aus einem deutschen kulturellen Hintergrund stammten, hatten kein lebendiges „Volksjudentum", das sie beseelen konnte. 35 Siehe Nathan Birnbaum, Die Assimilationssucht: Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren mosaischer Confession, Wien 1884, S. 9-10. 36 Julius H. Schoeps, „Modern Heirs of the Maccabees: The Beginnings of the Vienna Kadimah, 1882-1897", LeoBaeck Yearbook, 27, 1982, S. 155-170. 37 Siehe Dennis B. Klein, Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement, New York 1981, S. 16-20. 38 Theodor Herzl, „Zionismus", in seinen Gesammelte Zionistischen Schriften in 5 Bdn., I, 3. Aufl., Tel Aviv 1954, S. 575. Der Artikel erschien erstmals in der North American Review, 1899. 59 Siehe Fritz Stern, Gold and Iron: Bismarck, Bleichröder and the Building of the German Empire, London 1977, S. 494-551, für eine hervorragende Analyse des „Neuen Antisemitismus" in Deutschland und Bismarcks ambivalente Reaktion darauf. 40 Josef Popper-Lynkeus, Fürst Bismarck und der Antisemitismus, 2. Aufl., Wien und Leipzig 1925, S. 146. Für seine Erörterung über Wagner siehe S. 42-43, und über Dühring, S. 46-74. Ingrid Belke, Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus, 18381921, Tübingen 1978, S. 111-120, beinhaltet eine aufschlußreiche Erörterung seiner Haltung gegenüber den Juden, dem Judentum und dem Zionismus. 41 Popper-Lynkeus, S. 145. 42 Ebenda, S. 146. 45 Ebenda, S. 124-126. 44 Ebenda, S. 126: „Nichts anderes als das Bewußtsein, daß hinter den in der Welt versprengten Juden kein sich ihrer annehmender jüdischer Staat steht, der völkerrechtlich zu respektieren wäre, machte alle bisherigen judenfeindlichen Bewegungen möglich..." 45 „Kleine Chronik", Die Neuzeit, 7. Jän. 1881, S. 4. 46 Josef Ritter von Wertheimer, „Zur neuen Zeit an die ,Neuzeit'", Brief vom 20. Feb. 1882, veröffentlicht in Die Neuzeit, 24. Feb. 1882, S. 61. 47 Ebenda. Siehe auch Kurandas Hinweis auf die tschechische Verärgerung über „die deutsche Gesinnung der vaterländischen Juden", ebenda, 7. Jan. 1881, S. 4. 48 „Czechischer Antisemitismus in Wien", ebenda, 7. Nov. 1884, S. 421. 49 „Jüdisch-czechisch", ebenda, 8. Juni 1883, S. 215-216.

Adolf Jellinek und die liberale Reaktion

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50 Ebenda, S. 216. Jellineks pro-deutsche Haltung in der Nationalitätenfrage in Böhmen hatte sich seit seinen Artikeln in Der Orient während der Revolution von 1848 nie geändert. 51 „Czechischer Antisemitismus in Wien", ebenda, 7. Nov. 1884, S. 421. 52 „Wiener Stimmen", ebenda, 14. April 1882, S. 124-125. 55 Ebenda, S. 125. 54 „Wiener Briefe", ebenda, 21. Okt. 1881, S. 328: „Im Ganzen und Grossen bleibt aber Wien die Schutzstadt des Friedens und der Duldung." 55 Ebenda. 56 „Zur Naturgeschichte des Antisemitismus: I. Antisemitisch-Antiösterreichisch", ebenda, 20. Okt. 1882, S. 367. 57 „Der Mann von Blut und Thränen", I, ebenda, 6. Okt. 1882, S. 338-339, für eine Bewertung von Adolf Stöckers schädlichem Einfluß. 58 „Berlin's Ehrenrettung und Wien's Beschimpfung", ebenda, 21. Nov. 1884, S. 442. 59 Ebenda, 21. Okt. 1881, S. 328. 60 Ebenda. 61 „Diese 255.000 Unterschriften, welche ihm einige Tage vor Ostern übergeben wurden, sind das untrüglichste Zeugniss, daß das deutsche Volk durchaus nicht gegen seine Mitbrüder jüdischen Bekenntnisses antipathisch gestimmt ist..." Siehe „Deutsche Ostern", ebenda, 22. Apr. 1881, S. 125. 62 „Berlin's Ehrenrettung", ebenda, 21. Nov. 1884, S. 442. Über den Hintergrund von Stöckers Niederlage siehe Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: the Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 90-97. 65 Ebenda. 64 Isidor Singer, Berlin, Wien und der Antisemitismus, Wien 1882, S. 51. 65 Ebenda, S. 27. Singer hob hervor, daß in den einfachen Arbeitern ein „gesunder und unverfälschter Kern reiner Menschlichkeit ruhe" im Vergleich zur Haltung der österreichischen Aristokratie und dem katholischen Klerus. 66 Friedrich Elbogen, Ein Mahnruf an das arbeitende Volk: Die Arbeiter und der Antisemitismus, Wien 1885, S. 13. 67 Siehe Gleichheit, 17. Mai 1889, S. 1. Für eine detaillierte Analyse der österreichischen sozialistischen „Neutralität" gegenüber der Judenfrage siehe Wistrich, Socialism and the Jews, S. 242ff. 68 Siehe, ζ. B., „Die Kaiserstadt", Die Neuzeit, 10. Feb. 1882, S. 45: „Nein, in Wien ist für derartige perverse Bestrebungen kein Boden." 69 „Antisemitisch-Antiösterreichisch", ebenda, 20. Okt. 1882, S. 367. 70 Ebenda. 71 Ebenda, 15. Dez. 1882, S. 536. 72 Jellinek, „Die Jahresbilanz des Antisemitismus", ebenda, 22. Dez. 1882, S. 543-544. 75 „Zurückweisungen des Antisemitismus", ebenda, 11. Mai 1883, S. 177. 74 Ebenda·, auch „Der Tisza-Eszlarer Process", ebenda, 20. Juli 1883, S. 278. 75 „Die Filiation der Ideen", ebenda, 17. Aug. 1883, S. 313-514; „Die Anarchie im Osten", ebenda, 31. Aug. 1885, S. 330.

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Anmerkungen

76 „Der Antisemitismus in Ungarn", ebenda, 24. Juni 1886. 77 Siehe „Herr von Tisza in Wien", ebenda, 31. Aug. 1883, S. 350: „Allerdings hat Herr von Tisza sowohl durch entschiedene Erklärungen im ungarischen Reichstag als durch sein thatkräftiges Einschreiten gegen die wilden Ausbrüche des Antisemitismus bewiesen, dass es ihm nicht an Willen und Kraft fehlt, der Schande des Jahrhunderts mit allem Nachdrucke entgegenzutreten." 78 „Ein probates Mittel gegen den Antisemitismus", Die Neuzeit, 17. Juni 1887, S. 230. 79 Ebenda, 14. Sept. 1883, S. 350. 80 Jellinek, „Unser Österreich", ebenda, 5. März 1886, S. 89-90, stellt die menschliche Behandlung der russisch-jüdischen Emigranten durch die österreichische Regierung den brutalen Ausweisungen der Ostjuden aus dem Gebiet Ostpreußens durch die deutschen Behörden gegenüber. Siehe auch J., „Die wahre, Alles versöhnende Humanität", ebenda, 10. Dez. 1886, S. 466, wo er die von Kronprinz Rudolf gegenüber der akademischen Jugend Österreichs gemachten Bemerkungen lobt; auch „Von unserem Kronprinzen", 3. Dez. 1886, S. 455-456. 81 „Verschämter Antisemitismus", ebenda, 20. Juli 1883, S. 277-278. Jellinek charakterisiert Lueger folgendermaßen: „Derselbe ist ein Wiener Kind, hat Bekannte, Freunde und Studiengenossen unter den Juden, mit denen er verkehrt und ist von der antisemitischen Krankheit unserer Zeit angesteckt." 82 Carl Löwy, „Zur Beleuchtung der Mariahilfer Reichsrathswahl", ebenda, 13. Juni 1884, S. 224. Siehe auch „Der Antisemitismus vor der Wahlurne", 30. Mai 1884, S. 207-208. 83 „Zu den Wahlen", ebenda, 8. Mai 1885, S. 180, hier werden so optimistische Vorhersagen gemacht wie: „Kein Candidat kann in Wien einer Niederlage sicherer sein, als einer, der sich zum Antisemitismus bekennt." 84 Ebenda, 5. Juni 1885, S. 216. 85 Jellinek, „Der deutsche Schulverein", ebenda, 10. Juli 1885, S. 261, auch „Die deutsch-nationalen Antisemiten. Fremde in Österreich", ebenda, 25. Feb. 1887, S. 71. 86 „Der Niedergang des Antisemitismus", ebenda, 27. Nov. 1885, S. 441. 87 Ebenda. 88 „Das unverfälschte Deutschtum im österreichischen Reichsrath", ebenda, 18. Feb. 1887, S. 6162; auch „Antisemitisches Feuerwerk", 3. Juni 1887, S. 212, wobei der Artikel die Gegnerschaft des Deutschen Klubs zum parlamentarischen Gesetzesentwurf von Schönerer unterstrich, wo vorgeschlagen wird, die österreichischen Juden schlußendlich unter eine „besondere Gesetzgebung" zu stellen. Jellinek erwähnt jedoch die Zustimmung von 11 klerikalen Abgeordneten und von dem sogenannten „Demokraten" Dr. Lueger zu dem rassistischen Gesetz. 89 „Der Process Schönerer", Die Neuzeit, 11. Mai 1888, S. 184-185. 90 A. Jellinek, „Jüdisch-österreichisch", ebenda, 15. Juni 1883. 91 Jellinek, „Der enthüllte Antisemitismus in Wien", ebenda, 25. Mai 1888, S. 204. 92 „Graf Taaffe über den Antisemitismus", ebenda, 10. Mai 1889, S. 183-184. 93 „Wien und seine Umgebung", ebenda, 29. Juni 1888, S. 253. 94 „Religion und Race", ebenda, 24. Sept. 1888, S. 359-360. 95 Ebenda, 20. Jän. 1888, S. 22: „Die Clericalen wollen in der Schule herrschen und die An-

Adolf Jellinek und die liberale Reaktion

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tisemiten sollen die Juden verdrängen. Um dieses erhabene Ziel zu erreichen, gehen sie ein Bündnis mit einander ein. Dahin also fuhren Herrschsucht und Racenhass!" 96 Ebenda; auch Jellinek, „Die Vaterland-Christen", 16. März 1888, S. 104-105. 97 Siehe Sigmund Mayers „Offener Brief an den Herrn Dr. Joh. Nepomuk Prix, Bürgermeister der Stadt Wien!", ebenda, 24. Jän. 1890, S. 53. 98 Jellinek, „Deutschnationale in Berlin und in Wien", ebenda, 27. Feb. 1891. 99 Wortlaut von Fischhofs Brief unter der Überschrift „Ein scharfes Urtheil", in: Die Neuzeit, 6. März 1891. 100 Jellinek, „Die Stadt der Scandale", ebenda, 1. April 1892, S. 153-154. 101 „Antisemitische hohe Politik", ebenda, 28. Aug. 1891. 102 „Caveant!", ebenda, 5. Mai 1895. In diesem Leitartikel unterstrich Jellinek nochmals die Wirksamkeit der von der ungarischen Regierung durchgeführten Maßnahmen als Vorbild für die Österreicher. 105 „Vom niederösterreichischen Landtage", ebenda. 104 „Reichskanzler Caprivi gegen den Antisemitismus", ebenda, 8. Dez. 1895. 105 Jellinek, „Sociale Fragen", I., ebenda, 5. April 1891, S. 152-155. 106 „Ein Jahr Coalition", ebenda, 16. Nov. 1894, S. 459. 107 Justus, „Antisemitische Jugend", ebenda, 6. Juli 1894, S. 270. 108 Emes, „Asiatische Eindringlinge", ebenda, 9. Nov. 1894, S. 449. 109 „Aus dem antisemitischen Lager", ebenda, 14. Sept. 1894, S. 570. 110 „Auf gesetzlichem Wege", ebenda, 16. Nov. 1894, S. 461. 111 Emes, „Die Partei der Verleumder", ebenda, S. 461. 112 Emes, „Eine Absage", ebenda, 18. Jän. 1895. 115 „Papst und Antisemitismus", DieNeuzeit, 1. März 1895, S. 81. Über die Rolle Rampollas und des päpstlichen Nuntius in Wien, Antonio Agliardi, bei der Unterstützung der Christlichsozialen siehe Josef S. Bloch, Erinnerungen, Wien und Berlin 1922, S. 168-178, sowie John Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 340-549. 114 „Die Wiener Gemeinderathswahlen", DieNeuzeit, 5. April 1895, S. 145. 115 Siehe Boyer, S. 559ff; Pulzer, Politischer Antisemitismus, S. 146-151. 116 Neue Freie Presse, 18. Sept. 1895. 117 „Coalition und Judenthum", DieNeuzeit, 15. Feb. 1895; auch X.Y., „Das Judenthum und die verschiedenen Parteien Österreichs", ebenda, 26. April 1895, S. 177, der sich für eine „neue social-liberale Volkspartei" stark machte, die den bankrotten Scheinliberalismus, den die Juden bis dahin unterstützt hatten, ersetzen würde. 118 Siehe P. G. J. Pulzer, „The Austrian Liberals and the Jewish Question 1867-1914", in: Journal of Central European Affairs, 55, 1965, S. 151-142; auch Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien 1949, S. 5-12. 119 Siehe „Coalition und Judenthum", DieNeuzeit, 15. Feb. 1895, S. 64, für kritische Kommentare von Mayer, Friedjung und anderen bezüglich der passiven liberalen Reaktion auf den Antisemitismus; auch „Generalversammlung der ,Österreichisch-Israelitischen Union' ebenda, 26. April 1895.

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Anmerkungen

120 „Der Regierungswechsel", ebenda, 28. Juni 1895; „Das Judenthum und die verschiedenen Parteien Österreich's", VI, ebenda, S. 284. 121 „,Das Vaterland' für und gegen den Antisemitismus", ebenda, 18. Nov. 1895, S. 459. 122 „Secession in der Vereinigten Linken", Die Neuzeit, 29. Mai 1896, S. 230-251; 5. Juni 1896, S. 238-259. 123 „Österreichisch-israelitische Union", ebenda, 1. Mai 1896, S. 185. 124 „Versammlung der österr.-israel. Union", ebenda, 29. Mai 1896, S. 227-228. 125 Sigmund Mayer, „Die Stellung der Juden zu der actuellen ,Wiener Frage'", in: Mittheilungen der Österr.-Israeli. Union, VHI, 23. Mai 1896, S. 8. 126 „Nach den Wahlen und vor den Wahlen", Die Neuzeit, 13. Mai 1896. 127 „Zu den Landtagswahlen", ebenda, 2. Okt. 1896, S. 405-407. 128 „Das Judenthum und die verschiedenen Parteien Österreichs", V, ebenda, 7. Juni 1895, S. 248. 129 X. Y., ebenda, 10. Mai 1895, S. 198-199. 130 X. Y., Die Neuzeit, 17. Mai 1895, S. 213-214; auch S. 248-249. 131 Siehe Wistrich, Socialism and the Jews, S. 250ff. 132 Victor Adler, Aufsätze, Reden und Briefe, 11 Bde., Wien 1922-1929, XI, S. 108. 133 Die Neuzeit, 17. Mai 1895, S. 214. 134 „Über den wirtschaftlichen Einfluß der Juden in Österreich", ebenda, 9. Okt. 1896, S. 417-418. 135 „Das Parlament und die jüdische Wählerschaft", ebenda, 5. Feb. 1897, S. 54; auch „Ein Mahnwort in letzter Stunde", S. 54-55. 136 Ebenda, 12. Feb. 1897, S. 65-66. 157 „Die Führung der galizischen Juden", ebenda, 10. April 1897, S. 151-152. 138 Siehe die Rede des Abgeordneten des Polenklubs, Dr. Emil Byk, am 24. Nov. 1897 im österreichischen Parlament, Bericht in Die Neuzeit, am 6. Jan. 1898, S. 3-4. 159 „Die antisemitischen Excesse in Galizien", ebenda, 17. Juni 1898, S. 251; „Das Standrecht in Galizien", 1. Juli 1898; „Das Judenelend in Galizien", 25. Dez. 1898, S. 558; „Vollkommen gleichberechtigt", 25. Nov. 1898, S. 498-490; „Die Judenhetzen in Österreich", 17. Nov. 1899, Auszüge aus der Parlamentsrede von Dr. Byk vom 16. Nov.. 140 „Die Juden in Böhmen und der Nationalitätenstreit", Die Neuzeit, 15. Okt. 1897, S. 423424; 22. Okt. 1897, S. 432-455, 454-455. 141 Ebenda, 22. Okt. 1897, S. 432. 142 „Der Mord in Polna", ebenda, 21. April 1899, S. 155; „Das ,Geständnis' Hilsner's", 29. Sept. 1899; „Die Judenhetzen in Österreich", 17. Nov. 1899; „Professor Masaiyk über den Mord in Polna", ebenda-, und der Nachdruck eines Artikels von Masaiyk, „Das Wesen und die Entstehung des Ritualaberglaubens", 50. Mäiz 1900, S. 125-126. 145 „Aus dem Protokolle", Mittheäungen der Osterr.-Israel. Union, Nr. 111, 14. Jan. 1899, S. 4-5, über die Bemühungen von Dr. Fleischer, dem Vorsitzenden des Rechtsschutzbureaus der Union, der Ausbreitung der Ritualmordagitation nach Galizien zu begegnen. 144 „Die Stellung der Juden in Österreich in den letzten fünfzig Jahren", ebenda, Nr. 110,

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29. Dez. 1898, S. 10-11; siehe auch „Goldene Worte", Die Neuzeit, 31. Aug. 1900, S. 364; „Das Wort des Kaisers", ebenda, 15. Dez. 1899, S. 495. 145 Siehe die Anmerkungen von Dr. Fialla, „Plenarversammlung des politischen Volksvereines", Die Neuzeit, 29. Okt. 1897, S. 443-444; „Zur politischen Stellung der Juden", ebenda, 6. April 1900, S. 135. 146 „Reflexionen über die Reichsrathswahlen", ebenda, 19. März 1897, S. 116. 147 „Jüdische Politik", ebenda, 5. Nov. 1897, S. 452-453; auch „Jüdische Realpolitik in Österreich", ebenda, 2. Feb. 1900, fur eine wohlwollende Besprechung einer gleichnamigen Broschüre des Floridsdorfer Rabbiners Dr. M. Rosenmann, welche die Schaffung einer jüdischen Partei befürwortet. Rosenmanns Kritik am palästinozentrischen Zionismus wurde besonders betont. Siehe auch „Nochmals die Frage der Organisation", ebenda, 19. Okt. 1900, S. 434. 148 „Die Antisemiten und die Lehrer", ebenda, YJ. März 1899, S. 106-107; auch die Bemerkungen von Dr. Alfred Stern und dem Landtagsabgeordneten Julius Ofner, „Eine Protestversammlung", ebenda, 28. Mai 1897, S. 225-226. 149 Ebenda, S. 226; auch „Die Machthaber im Rathause", ebenda, 2. April 1897, S. 142; „Aus der antisemitischen Gemeindewirtschaft.", ebenda, 10. März 1899, S. 95-96. 150 „Der politische Seilkünstler", ebenda, 15. Okt. 1897, S. 422-423. 151 „Die Vorgänge der jüngsten Zeit", Die Neuzeit, 26. Nov. 1897, S. 482-483; „Dr. Lueger contra Dr. Stern", ebenda, 24. Dez. 1897, S. 523; „Das Kind des Volkes", ebenda, 7. Juli 1899, S. 266; „Die antisemitische Pest", ebenda, 28. Okt. 1898. 152 „Anarchisten in Amt und Würden", ebenda, 12. Mai 1899. 153 „Kronawetter und Lueger", ebenda, 4. März 1898. 154 „Lueger ein Ausnahms-Antisemit", ebenda, 7. Jän. 1898, S. 1; „Dr. Lueger und die confessionelle Gleichberechtigung", ebenda, 14. Sept. 1900, S. 384. 155 „Der Triumph der Gerechtigkeit", ebenda, 2. Juni 1899, S. 217. 156 „Paris und Wien", ebenda, 9. Juni 1899, S. 227. 157 „Der Sieg der Unschuld, Wahrheit und Gerechtigkeit", ebenda, 23. Juni 1899, S. 246-247. 158 „Das Judenthum und die Jahrhundertwende", ebenda, 29. Dez. 1899, S. 517. 159 Ebenda. 160 Für eine ähnliche Analyse siehe Mittheilungen der Österr.-Israel. Union, Nr. 114, 22. April 1899, S. 3-4. Hier wird angemerkt, daß die kleriko-feudale Verschwörung nur in Wien, der Stadt des „kleinen Mannes", mit seiner sozio-ökonomischen und intellektuellen Rückständigkeit erfolgreich sein konnte. In Ungarn war der Antisemitismus rasch zusammengebrochen, in Deutschland war er schon ein politischer Anachronismus und in Frankreich steckte der Klerikalismus gerade eine Niederlage ein. Es sei daher unwahrscheinlich, daß „eine überall versiegte Strömung sich in Wien wie in einer Insel aufrecht erhalten sollte". Andererseits warnte die Union vor der Illusion, „diesen Zusammenbruch in Wien bald zu erhoffen". 161 „Das Judenthum und die Jahrhundertwende", Neuzeit, 29. Dez. 1899, S. 517.

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Anmerkungen

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1 Siehe G. Wolf, Vom ersten bis zum zweiten Tempel: Geschichte der israelitschen Cultusgemeinde in Wien (1820-1860), Wien 1861, S. 93-98. 2 Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1936, S. 420-421. 3 Für die verschiedenen Formulierungen von Gemeindesatzungen, siehe Akten A/W 24, 1-5; 24,7 und 26, 1-14 in: Central Archives of the History of the Jewish People, Jerusalem. 4 Siehe Avraham Palmon, „The Jewish Community of Vienna between the Two World Wars, 1918-1938: Continuity and Change in Internal Political Life", Hebräische Universität Jerusalem, Doktorarbeit auf hebräisch, 1985, S. 10ff., für eine Zusammenfassimg der Veränderungen in den Satzungen vor 1914 und den Hintergrund für manche dieser Spannungen. 5 Siehe Jüdisches Weltblatt, 9. Dez. 1885, „Dr. Maximilian Steiner, Vorstand der isr. Cultusgemeinde". Der Leitartikel behauptete, daß die armen Juden Wiens kaum von der Philanthropie der Gemeinde profitiert hätten, und klagte „Wien hat kein Waisenhaus für jüdische Knaben, Wien hat kein jüdisches Versorgungshaus, Wien hat kein Asyl für jüdische Obachlose, kurz und gut, Wien hat keine einzigen jener jüdischen Armenanstalten, die in anderen Gemeinden sich vorfinden." 6 Ebenda·, siehe auch „Jüdische Gymnasien", Österreichische Wochenschrift, 2. Juli 1886, S. 302-303. 7 Siehe „Unser Programm!", Jüdisches Weltblatt, 1. Juni 1882. 8 Ebenda. Für den liberalen Kult um Franz Joseph, vgl. Mittheilungen der Österr.-Israel. Union, Nr. 100, 30. Nov. 1898, S. 3ff., „Heil dem Kaiser!" 9 „Jahresrevue 5643-5644", Jüdisches Weltblatt (Social-politisches Organ des gesetzestreuen Judenthums), 14. Sept. 1883. 10 Ebenda. 11 „Die Versöhnungs-Aera und die Juden", ebenda, Nr. 79, 4. Okt. 1885. 12 „Unser Programm!", Jüdisches Weltblatt, 1. Juni 1882. 13 Siehe „Politische Wandlungen", Österreichische Wochenschrift, 2. Juli 1886, S. 302. Auch Grunwald, Vienna, S. 429: „Die jüdische Gemeindefiihrung lehnte jeden Vorschlag, sich selbst an Taaffe zu wenden, als ,Verrat an der deutschen Sache' ab. - ,Zum Taaffe gehen wir nicht', sagten sie." 14 „Das Ministerium Taaffe und die Juden", Jüdisches Weltblatt, 1. Juni 1882, beginnt mit dem Zitat einer Bemerkung des fuhrenden Wiener orthodoxen Rabbiners Salomon Spitzer, die lautete: „Wir Juden sind die glücklichsten unter allen Juden der Welt." 15 Ebenda. 16 „Die Stellung der Juden dem Anti-Semitismus gegenüber", ebenda, 1. Sept. 1883. 17 „Rückblick auf das Jahr 1883", ebenda, 1. Jän. 1884. 18 Ebenda. 19 „Die Stellung der Juden", ebenda, 1. Sept. 1883. 20 Ebenda. 21 Ebenda. Siehe auch „Juden und Judenthum in Berlin und Wien", Österreichische Wo-

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chenschrift, 5. Dez. 1884, S. 1-2, für eine ähnliche Analyse, die „die geistige Verkümmerung des Wiener Judenthums, die sündhafte Vernachlässigung der Pflege des jüdischen Geistes in Wien" beklagt. „Die Stellung der Juden dem Anti-Semitismus gegenüber", Jüdisches Weltblatt, 1. Sept. 1883. „Das Ministerium Taaffe und die Juden", ebenda, 1. Juni 1882. „Hände weg!" Jüdisches Weltblatt, 18. Feb. 1885. „Die Politische Aufgabe der Juden Österreichs", ebenda, 1. Feb. 1883. Siehe „Die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Judenthums und deren Wirkung", I, ebenda, 15. April 1884, für eine Kritik an Ignaz Kuranda und „der ganzen fortschrittlichen Judenschaft Wiens". „Seien wir einig!", ebenda, 25. Mai 1885. „Dr. Maximilian Steiner, Vorstand der isr. Cultusgemeinde", ebenda, 9. Dez. 1885. „Die Versöhnungs-Aera und die Juden", ebenda, 4. Okt. 1885, S. 2. Ebenda. „Ergänzungswahlen in den Vorstand der Wiener Cultusgemeinde", ebenda, 20. Nov. 1885. „Die Neuzeit über das orthodoxe Judenthum", ebenda, 8. Jän. 1885. „Dr. Jellinek contra Dr. Bloch", ebenda, 23. Juni 1884. Ebenda. Siehe auch Isidor Schallt in: Ludwig Rosenhek, Hg., Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, Mödling 1933, S. 53, über Taaffes Unterstützung von Bloch und einer orthodoxen jüdischen Zeitung „Der Wiener Israelit" als Gegengewicht zur deutschliberalen Partei. Siehe JosefS. Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien und Berlin 1922, S. 15. Im Alter von 17 Jahren konnte Bloch noch nicht deutsch lesen. Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 19. J. S. Bloch, „Arbeiter bei den alten Völkern", Vortrag gehalten am 12. 8. 1882 vor den Arbeitern der Lokomotiv-Fabriken in Floridsdorf und am 28. 8.1882 vor den Eisen-, Metallund deren Hilfsarbeitern Wiens und Niederösterreichs im Saale „Zum Grünen Jäger, V. Bezirk in Wien". Nachdruck bei J. S. Bloch, Aus der Vergangenheitfiir die Gegenwart, Wien 1886, S. 13ff. Siehe auch „Das Rechtauf Arbeit", Österreichische Wochenschrift, 1. Okt. 1884, S. 1-4. Siehe Erinnerungen aus meinem Leben, S. 25-48, für den vollen Wortlaut seiner Rede. Für einen kritischen Überblick über Blochs Reden über die „soziale Frage" und den Talmud siehe Die Neuzeit, 3. Dez. 1886, S. 459-460. Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 29. Ebenda, S. 30, 31 und 53. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 54, 36, 58. „In den Bestrebungen zur Emanzipation des Arbeiterstandes hatte Ferdinand Lasalle in seinen Ahnen vor 2000 Jahren geistesverwandte Vorgänger." Ebenda, S. 45-47. Ebenda, S. 46.

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Anmerkungen

Ebenda, S. 45, 46. Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 49. Dieser Brief wird bei Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 53, zitiert. Siehe ebenda, S. 53-58, für Blochs überaus große Bewunderung der moralischen Autorität Adolf Fischhofs, seine Identifikation mit dessen Bemühungen zur Lösung der Nationalitätenfrage in Osterreich und dessen sozialreformistischem Programm. Bloch beklagte die Tatsache, daß die Eröffhungsversammlung von Fischhofs Deutscher Volkspartei am 16. Juli 1882 von jungdeutschen Nationalisten und „jüdischen Studenten unter der Führung Heinrich Friedjungs" unterbrochen worden war. Bloch bemerkte, nicht nur die deutsche liberale Presse, sondern „auch die gesamte Wiener jüdische Bevölkerung sprach in den feindseligsten Ausdrücken von diesem Versuch Fischhofs, angeblich die bevorrechtete Stellung der Deutschen in Österreich zu schädigen", ebenda, S. 57.

50 Siehe Werner J. Cahnmann, „Adolf Fischhof and his Jewish Followers", Leo Baeck Yearbook4,1959, S. 126ff. 51 Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 57. Bei einem Vortrag im Jahr 1898 vor der Österreichisch-Israelitischen Union erinnert sich Dr. Ferdinand Kronawetter, der nichtjüdische Führer der kleinen Wiener Demokratischen Partei und ebenfalls Schüler Fischhofs, an die schicksalhafte Entscheidung der österreichischen Judenschaft, sich 1882 gegen die Gründung einer neuen Partei auszusprechen: „Ich muß aber offen sagen, daß die Deutsche Volkspartei gerade bei den Israeliten keine Aufinunterung gefunden, und daß wir von dieser Seite geradezu auf das heftigste angegriffen worden sind. Ob sie daran gut getan haben oder nicht, können Sie heute, im Jahre 1898, beurteilen. Ich glaube, sie werden heute anders denken als im Jahre 1882.", ebenda, S. 58. 52 Siehe „Der Antisemitismus in Nöthen", Österreichische Wochenschrift, 7. Nov. 1884, S. 2-5, und Blochs Artikel, „Dr. Adolf Fischhof', ebenda, 4. Juli 1888, S. 419-420. „Aus Adolf Fischhof spricht unbewußt das Judenthum mit dessen Mission, wenn er seit vierzig Jahren bei jeder Gelegenheit seine Stimme für die Versöhnung der Nationalitäten in Österreich erhebt. Er will, dass der Nationalitätenkampf in dem Kampf um die gesetzliche Freiheit aufgehe. Er verkündet damit nur das ewige Wort Moses! Ein Recht und Ein Gesetz soll Allen sein." 55 Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 71ff. 54 Ebenda, S. 74-75. 55 Ebenda, S. 75, 64. 56 Ebenda, S. 71, Grunwald, Vienna, S. 434. 57 Bloch, Aus meinen Erinnerungen, S. 76. 58 In seinen Erinnerungen gedenkt Bloch mit Bitterkeit der Undankbarkeit des Kultusgemeindevorstandes nach seinem langen Kampf gegen Rohling: „..., mir wurde nicht einmal eine Zeile der Anerkennung gewidmet von Seiten des Wiener Kultusvorstandes", Erinnerungen aus meinem Leben, S. 141. Wertheimer „schleppte noch immer das geistige Erbe der Aufklärungsepoche und der ,Haskala' mit sich fort und empfand darum über meine Art den Antisemiten gegenüber schließlich Unbehagen", S. 144. Baumgarten und

Josef Bloch: Rabbiner, Parlamentarier und Publizist

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Baron Königswarter, welche die Ostjuden heißten, waren richtige Feinde, aber „Kuranda war mir wohl gesinnt, auf dessen Zustimmung konnte ich bei allen meinen Schritten rechnen". (S. 144) 59 Bloch, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 80, 79. „Daß ich mich der Regierung des Grafen Taaffe ohne Bedenken zur Verfügung gestellt, hat in den obersten Kreisen der Wiener Juden Empörung hervorgerufen und mir alle Sympathien verscherzt." 60 Bloch sah in Taaffes Politik die Verwirklichung von Fischhofs Prinzipien und bemerkte, da letzterer frei von jeder Art nationaler Trunkenheit war, „galt er als eine außer Kurs gesetzte Münze, wurde er von der,Neuen Freien Presse' vielfach geschmäht.", ebenda S. 80. 61 Cahnmann, S. 127; Isidor Schallt, „Erinnerungen", in: Rosenhek, Hg., Festschrift, S. 53. 62 Siehe J. S. Bloch, Der nationale Zwist und die Juden in Österreich, Wien 1886, S. 28-53; siehe auch S. 45-55 für seine Angriffe auf Heinrich Friedjung zu dieser Frage. Bloch sah Friedjungs deutschen Nationalismus als politischen Selbstmord an, sogar als eine Form „semitischen Antisemitismus". Siehe auch Österreichische Wochenschrift, 21. Nov. 1884, 9. Jän. 1885,16. Jan. 1885,16. Juli 1885 und 14. Nov. 1885. 63 Aus Der nationale Zwist, zitiert in: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 166. 64 Ebenda, S. 90, Erinnerungen aus meinem Leben, S. 165. 65 Diesbezüglich symptomatisch war die Haltung des Kohlenbarons Wilhelm Ritter von Gutmann, dem „die politischen Dogmen der deutschliberalen Großbourgeoisie als unantastbares Heiligtum" erschienen. (S. 89) Auch wenn Gutmann schlußendlich die Gerichtskosten gegen Rohling trug, sprach er voller Geringschätzung von Bloch, „daß ihn mein persönliches Geschick völlig gleichgültig lasse"; S. 89. Insbesondere war er mit den Vorträgen des Rabbiners vor Wiener Arbeitern unzufrieden. Dr. Bloch erinnert sich vor allem, daß „mein politischer Anschluß an die galizischen und slawischen Abgeordneten in seinen Augen ein Crimen" war. Erinnerungen aus meinem Leben, S. 89. 66 Schallt, S. 54. Für Blochs eigene Beurteilung dieser Angelegenheiten siehe Erinnerungen aus meinem Leben, S. 162-164. Bloch berichtet sowohl von der „unverhohlenen Sympathie" des orthodoxen Rabbiners Güdemann in bezug auf seine Anstellung sowie auch von Jellineks Versuchen zur Wiedergutmachung. Klerikale und deutsche chauvinistische Kreise waren ebenfalls gegen die Ernennung gewesen. 67 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 159. 68 Siehe Österreichische Wochenschrift, 14. Mai 1886, S. 225; ebenso Erinnerungen aus meinem Leben, S. 167. Bloch merkte an, daß erst 1889 Dr. Alfred Stern im Namen der Kultusgemeinde der Regierung offiziell und verspätet ein Memorandum zu dieser Frage überreichte, zu dieser Zeit war die antisemitische Flut „durch die Untätigkeit der Juden und die Passivität der Regierung" enorm angewachsen. (S. 167) 69 „Unsere Situation. Ein Mahn- und Weckruf, Österreichische Wochenschrift, 15. Okt. 1884, S. 1-3. 70 Österreichische Wochenschrift, 15. Okt. 1884, S. 2. 71 Ebenda. Siehe auch Erinnerungen aus meinem Leben, S. 197ff. über die „Gründung einer Österreichisch-Israelitischen Union".

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Anmerkungen

72 Österreichische Wochenschrift, 15. Okt. 1884, S. 3: „Bilden wir einen jüdischen Bürgerverein zur Vertheidigung unserer arg bedrohten politischen und sozialen Rechte!" Siehe auch Gerson Wolfs „Jüdische Bürgervereine" in ebenda, 7. Nov. 1884, S. 3-4, und die darauffolgenden Auseinandersetzungen. 73 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 186,194. 74 Ebenda, S. 190. 75 Ebenda, S. 187. 76 Der nationale Zwist, S. 29; Gerson Wolf, „Jüdische Bürgervereine", argumentierte gleich. 77 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 190, 191,194. 78 Central Zionist Archives ZI/I, Jerusalem. Briefe von Dr. Bloch an die Kadimah, 10. Mai 1883,28. April und 5. Juni 1884. 79 Zitiert in: Julius H. Schöps, „Modern Heirs of the Maccabees: The Beginnings of the Vienna Kadimah, 1882-1897", in: LeoBaeck Yearbook27,1982, S. 159. 80 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 191. 81 Siehe „Chronik", Die Wiederwahl des Dr. Bloch, Selbstemanzipation, I, Nr. 10, 17. Juni 1885, S. 3. 82 „Volkswille", ebenda, S. 3. Siehe auch „Correspondenzen", Osterreichische Wochenschrift, 1. Mai 1885, für die warmherzige Grußadresse an Dr. Bloch vom Akademischen Verein Kadimah zu seiner mutigen Verteidung jüdischer Interessen. 83 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 222-225. 84 Österreichische Wochenschrift, 10. April 1885, S. 1. 85 „Das Vereinsprogramm", ebenda, 17. April 1885, S. 1-2. 86 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 198. 87 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 199. Dr. Bloch lehnte den Vorsitz in dem neuen Verein angesichts seiner „prononzierten politischen Stellung, die vielen Anfechtungen ausgesetzt ist" ab. Siehe ebenda, S. 198. 88 Siehe Jacob Toury, „Troubled Beginnings: The Emergence of the Osterreichisch-Israelitische Union", in: Leo Baeck Yearbook 30,1985, S. 467. Tourys Vergleich der ursprünglichen Ziele des Bürgervereins, wie sie von Bloch konzipiert worden waren, mit den endgültigen Statuten der Union unterstreicht die Verwässerung der politischen Stoßrichtung und die Gefahren des Antisemitismus. 89 Ebenda, S. 472-475. 90 Österreichische Wochenschrift, 30. April 1886, S. 193. In seinen Erinnerungen aus meinem Leben, S. 201, führt Dr. Bloch auch eine Aufeählung von Würdenträgern an, die bei dem Treffen anwesend waren, so ζ. B. Stadtrat Dr. Alfred Stern, Landschulrat Dr. Fürth und Professor Adam Politzer von der Universität Wien. 91 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 201. 92 Österreichische Wochenschrift, 30. April 1886, S. 194. 93 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 202; Touiy, S. 475. 94 Touiy, S. 475. 95 Vgl. die Dissertation von A. Palmon (wie Anm. 4) für einen anschaulichen Bericht über die interne Geschichte der Union und die Auswirkungen auf das Wiener Judentum.

Josef Bloch: Rabbiner, Parlamentarier und Publizist

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96 Marsha Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien-KölnGraz 1989, S. 158ff., beschreibt die Geisteshaltung der Union als im wesentlichen „integrationistisch", während sie gleichzeitig deren „beherzten Kampf gegen den Antisemitismus" und deren Eintreten für eine Stärkung der jüdischen Identität unterstreicht. 97 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 203. Nach Bloch war „der Verein" ihm bis 1896 „Beistand und Stütze gegen viele Anfeindungen jüdischerseits". „Später fühlte die Vereinsleitung das Bedürfnis, sich von mir zu emanzipieren, und ich verlor immer mehr die Verbindung mit dem von mir ins Leben gerufenen Verein." 98 Ebenda, S. 205. 99 Ebenda, S. 168. Bloch fuhrt in seinen Erinnerungen an, daß der Sieg der Unionskandidaten bei den Kultusvorstandswahlen im Jahr 1889 (wo Baumgarten seinen Sitz verlor) „ein erstes Symptom des Wechsels in den Anschauungen der jüdischen Volksmehrheit in Wien" war. Dieser Umschwung kam jedoch zu spät, um dem klerikalen Antisemitismus in Österreich Einhalt zu bieten. 100 Zum außerordentlichen Eindruck auf seine galizischen Wähler siehe Bloch, Auswahl aus seiner Briefoammlung, Hg. Max Grunwald, Wien 1950, 4, S. 20-21. 101 Zitiert bei Bloch, Israel und die Völker. Nach jüdischer Lehre, Berlin und Wien 1922, S. ΧΧΧΠΙ. 102 „Sitzung des Osterreichischen Abgeordnetenhauses am 11. Feb. 1890", in Dokumente zur Aufklärung: Talmud und Judenthum in der Österr. Volksvertretung, Blochs Parlamentsreden, Wien, o.J., S. 26-27, 29. 105 Dr. Bloch hatte die Antisemiten natürlich seit seinem ersten Auftreten im Parlament im Jahr 1885 angegriffen, und in der Österreichischen Wochenschrift zog er regelmäßig gegen sie zu Felde. Siehe bes. seine brillanten polemischen Analysen, „Das Problem des Antisemitismus", 2. Jän. 1885, S. 1-4, und „Assimilation und Antisemitismus", 16. Jän. 1885. 104 Zitiert in Erinnerungen aus meinem Leben, S. 282. Siehe auch das Vorwort zu Bloch, Israel und die Völker, S. ΧΧΧΠ, wo ein Brief Jellineks vom 11. Aug 1895 zitiert wird, der Bloch als „den Herkules im antisemitischen Augiasstall" bezeichnet und ihn auffordert, „wenigstens den Teil der Apologetik zu bearbeiten, welcher die schmachvolle Gegenwart betrifft" und „die antisemitischen Häuptlinge in ihrer Erbärmlichkeit" bloßzustellen. Jellinek fugte hinzu, jeder jüdische Geistliche, vor allem in kleineren Gemeinden, „muß in den Stand gesetzt werden, die antisemitischen Verdammungen rasch zu widerlegen, was nur dann möglich ist, wenn ihm ein Werk zur Verfügung steht, das ihm ... das Material in diesem unseligen Kampfe liefert... Herr Dr. Bloch ist im Besitze der erforderlichen literarischen Mittel; er ist ein ausgezeichneter Taktiker und Strategiker auf dem antisemitischen Kriegsschauplatz. An Munition oder materiellen Mitteln wird es hoffentlich nicht fehlen." 105 Zu seinem Beitrag zu dieser Debatte in der Parlamentssitzung vom 22. Juni 1891 siehe Dokumente zur Aufklärung: Talmud und Judentum, S. 92-94. 106 Ebenda, S. 75ff.; siehe auch Erinnerungen aus meinem Leben, S. 509. 107 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 511. Siehe S. 516-322 für positive Reaktionen auf

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Anmerkungen

Blochs Rede seitens Wiener Zeitungen, wie Presse, Deutsche Zeitung, Wiener Tagblatt und sogar im klerikalen Das Vaterland. Siehe auch Jellineks Kommentar in Die Neuzeit, 6. Nov. 1891. 108 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 529; Dokumente zur Aufklärung: Talmud und Judentum, S. 54-55. 109 „Sitzung des Österreichischen Abgeordnetenhauses am 5. 11. 1894", Dokumente zur Aufklärung: Talmud und Judentum, S. 40ff. 110 Ebenda, S. 48ff; auch Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. II. 111 Der mit „Rabbi Bloch und der Ritualmord" betitelte Artikel erschien in Das Vaterland, 5. Mai 1893. 112 Für Details des Rechtsstreits und alle diesbezüglichen Dokumente siehe Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. II, S. X. 115 Ebenda, II, S. 224; siehe auch Wiener Tagblatt, 16. Sept. 1893, S. 2. 114 Ebenda, I, S. 352f. 115 „Freiherr von Chlumecky, Dr. Bloch und die Antisemiten", Die Neuzeit, 29. Nov. 1895, S. 520-521. Bloch hatte sein Mandat zurückgelegt, im Wahlkreis Kolomea-BuczaczSniatyn jedoch - wenn auch erfolglos - eine Wiederwahl gegen mächtige polnische und assimilationistische Opposition versucht. Siehe auch Isidor Schallt, „Erinnerungen", bei Rosenhek, Hg., Festschrift, S. 63-64, zum Verrat an Dr. Bloch durch den Polenklub. 116 Schallt, S. 61-62. 117 Siehe „Dr. Jaques", Österreichische Wochenschrift, 1. Mai 1885, für einen feindseligen, ja beleidigenden Leitartikel, in dem Heinrich Jaques als jemand bezeichnet wird, dem „Sinn, Herz und Verständnis" für das „Judenthum und für die gefahrvolle Situation seiner Stammesgenossen fehlt". „Er schämt sich seiner Abstammung ... alle Fäden zwischen sich und dem Judenthum hat er zerschnitten." Nach Dr. Blochs Meinung wäre dessen Wiederwahl „ein beschämendes Armuthszeugnis für das gesammte Judenthum der österreichischen Residenz"; Dr. Jaques Vortrag vom 7. Feb. 1891 in den Mittheilungen der Österr.-Israel. Union, Nr. 10, S. 2-11, legt nahe, daß dieses Bild modifiziert werden sollte. Der viel respektvollere Nachruf in der Wochenschrift vom 2. Feb. 1894 schien dieser Veränderung Rechnung zu tragen und vermied eine derartige Kritik. 118 Grunwald, Vienna, S. 444. 119 Siehe der Artikel von Dr. Bernhard Münz, „Die ideale Mission des österreichischen Kaiserstaates", Österreichische Wochenschrift, 20. Feb. 1885, S. 1-2. 120 „Zum 2. Dezember 1888", ebenda, 30. Nov. 1888: „er ist nur der wahrhafte, der einzige Friedensfürst Europas"; ebenso „Eine Jubelschrift zum Kaiser-Jubiläum", ebenda, 9. Nov. 1888, S. 696-697. 121 „Der Antisemitismus in Deutschland und Osterreich", ebenda, 6. Jän. 1888. 122 „Die Stellungnahme der Regierung", ebenda, 5. Okt. 1888, S. 611-612. 123 „Wie lange noch?", ebenda, 21. Dez. 1888; „Antisemitismus und Hochverrath", 28. Dez. 1888.

124 Leo Hutschneker, stud, med., „Der Antisemitismus an den Wiener Hochschulen",

Josef Bloch: Rabbiner, Parlamentarierund Publizist

607

ebenda, 19. Dez. 1884, S. 3; „Die deutsch-nationalen Blüthen", ebenda, 20. April 1888; „Arische Studenten als jüdische Erzieher", ebenda, 25. Mai 1888. 125 „Die Katastrophe Schönerers", ebenda, 25. März 1888; ebenso „Glossen zum Prozess Schönerer", ebenda, 11. Mai 1888: „Dem Judenthume jedoch war Schönerer in seiner Vollkraft, wenn auch eine widerliche, doch aber keine gefahrliche Erscheinung." 126 „Das Vaterland in Nöthen", ebenda, 25. Mai 1888, S. 324. 127 „Eine Felonie", ebenda, 15. April 1888, S. 228. 128 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 248. 129 Erinnerungen aus meinem Leben, S. 244,249. 130 Ebenda, S. 250. 131 „Assimilation und Antisemitismus", Österreichische Wochenschrift, 16. Jän. 1885, S. 1-2. 152 „Zum Jahresschlüsse", ebenda, 7. Sept. 1888, S. 565-564. 155 „Ein Erfolg des Antisemitismus", ebenda, 50. Nov. 1888, S. 749: „Aber die Wiener Juden ließen sich von dem Strudel der Vergnügungen mitreißen, assimilierten sich mit dem Volke der Phäaken. Und was war der Dank? ... Die Ballsäle wurden Brutstätten des Antisemitismus, weil bei Frauen sich der Haß gegen Andersgläubige mit grösserer Schärfe als bei Männern entwickelt." 154 „Semitischer Antisemitismus", ebenda, 9. Jän. 1885, S. 1-2; siehe auch „Aus dem Protokolle", Mittheilungen der Österr.-Israel. Union, Nr. 12, 14. März 1891, S. 2-4. 155 „Das Problem des Antisemitismus", ebenda, 2. Jan. 1885, S. 1-4. 156 Ebenda, S. 5. 157 Ebenda, S. 4. 158 „Denken wir an uns", ebenda, Nr. 25,8. Juni 1888, S. 355-556. 159 Siehe „Der Conferenzvorschlag", ebenda, 5. Jän. 1894, mit seinem Aufruf zum gemeinsamen Handeln der jüdischen Gemeinden von Wien, Prag, Lemberg usw., um entscheidendere Schritte gegen den Antisemitismus und die Beeinträchtigung jüdischer Rechte zu unternehmen. 140 Eduard Beer, „Der Gesetzentwurf gegen die Hausirer", ebenda, 2. März 1894. 141 „Wie lange noch?", ebenda, 19. Jän. 1894. 142 Ebenda·, ebenso „Pan Verganew gegen die ,Österreichische Wochenschrift"', ebenda, 2. Feb. 1894, S. 85. 145 „Die Enunciationen der Regierung", ebenda, Nr. 6,9. Feb. 1894. 144 Ebenda; auch „Wo bleibt der Staatsanwalt?", ebenda, 25. Feb. 1894. 145 Siehe S. Hammerschlag, „Organisierte Abwehr", ebenda, 9. März 1894, für eine Besprechung der Ratlosigkeit in den Wiener jüdischen Kreisen. 146 Siehe ζ. B. den Aufruf zu massiver Wahlbeteiligung jüdischer Wähler an den Gemeindewahlen für die Dritte Kurie in Wien, „Glaubensgenossen!", Mittheilungen, 5, Nr. 15, April 1891, S. 1-2. 147 „Glaubensgenossen", ebenda, Nr. 14, April 1891. 148 „Aus dem Protokolle", ebenda, Nr. 15,25. April 1891, S. 5-4. 149 „Aus dem Protokolle", ebenda, Nr. 16,9. Mai 1891, S. 2-5. 150 Maximilian Steiner, „Einiges über die Geschäftsfähigkeit des Cultus-Vorstandes 1890-

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Anmerkungen

1896", ebenda, Nr. 89, 12. Dez. 1896, S. 2-12. Steiner führte detailliert die zahlreichen Interventionen in Regierungskreisen seitens des Vorstandes im Laufe der 80er Jahre an, die seiner Meinung nach letztlich kontraproduktiv waren. Diskretion, taktvolles Vorgehen und wohl durchdachte, ruhige Proteste waren nach seinem Dafürhalten wirkungsvoller. 151 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, 5, Nr. 48,4. Feb. 1895, S. 11-12. 152 Ebenda, S. 15-17. 155 „Vereinsversammlung der Osterr.-Israel. Union", ebenda, 8. Feb. 1896. 154 Ebenda, Nr. 85, S. 12. 155 Ebenda, Nr. 92,20. Feb. 1897, S. 6-7. 156 Siehe seine Bemerkungen in der Debatte „Zur Reform der Armenpflege in der Wiener Cultusgemeinde", Die Neuzeit, 19. Nov. 1897, S. 474. 157 Siehe Ν. M. Gelber, „Herzl's Polish Contacts", Herd Yearbook, I, New York, 1958, S. 211-219. Biünski war Katholik jüdischer Herkunft. In Galizien aufgewachsen, studierte er in Lemberg, 1885 war er in das österreichische Parlament gewählt worden. Seine Treffen mit Herzl zu einer Zeit, als er Finanzminister der Monarchie war, waren streng vertraulich. Danach überreichte er Dr. Bloch, der diese Gespräche vermittelt hatte, 1.200 maschingeschriebene Seiten über diese Treffen. 158 Siehe Österreichische Wochenschrift, 1904, S. 455, fiir den von Bloch verfaßten HerzlNachruf, der ihn trotz ihrer Meinungsunterschiede als eine „historische Persönlichkeit" würdigte. Von Herzl wurde diese Entfremdung durch seine Ablehnung von Blochs Kampf gegen den Antisemitismus, den er in privatem Rahmen als eine moderne Form des „theologischen" Disputs charakterisierte, und durch seine Verärgerung, daß die Wochenschrift so bereitwillig Kritik am politischen Zionismus publizierte, verursacht. 159 Siehe Chaim Bloch, „Theodor Herzl and JosefS. Bloch", Herzl Yearbook, I, S. 154-164. 160 Ebenda, S. 156. 161 Siehe Central Zionist Archives, Jerusalem, A 80/8 Stiassny, für einen Artikel von Klothilde Benedikt, eine Freundin von Stiassnys Frau, mit dem Titel „Erinnerungen an Theodor Herzl", der am 26. Mai 1918 erschien und anführte, „daß Baurat Wilhelm Stiassny erst in Herzl die zionistische Idee entzündet hat, während dieser ursprünglich weit praktischer an ein anderes Land für Verwirklichung seines Judenstaates gedacht hat". Gemeinderat Stiassny war viele Jahre lang ein wichtiges Mitglied des IKG-Vorstands und 1888 Mitbegründer des Vereins zur Unterstützung jüdischer Handwerker und Kleingewerbetreibender in Wien gewesen. Siehe auch sein Vortrag „Wienerisches, Jüdisches", in: Mittheilungen der Österr.-Israel. Union, Nr. 102, 5. März 1898, S. 5ff., für eine gute Beschreibung des Wiener Stadtrates unter christlichsozialer Dominanz und dessen kleinliche Diskriminierung der Juden. 162 Chaim Bloch, „Theodor Herzl and JosefS. Bloch", in: Herzl Yearbook, I, New York 1958, S. 158-159. 165 Ebenda, S. 161. 164 Siehe Th. Herzl, „Judentum", Österreichische Wochenschrift, 15. Nov. 1896. 165 Rede in der Osterreichisch-Israelit. Union, 7. Nov. 1896, in: Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, I, Tel Aviv 1954, S. 125.

Die Österreichisch-Israelitische Union

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166 Chaim Bloch, „Theodor Herzl and JosefS. Bloch", in: Herzl Yearbook, I, New York 1958, S. 154-155. 167 Für den Wortlaut von Dr. Blochs Vortrag siehe Mittheilungen, Nr. 3, 18. Okt. 1890, S. 2-13. 168 Mittheilungen, Nr. 3, 18. Okt. 1890, S. 6: „Nach dem harten Gebot der eisernen N o t wendigkeit, welchem der Kampf um's Dasein eine Race unterwirft, entwickeln sich die Qualitäten ihrer Gehirnmassen." 169 Siehe die Eintragung vom 6. Aug. 1895 in Theodor Herzl, Gesammelte Werke/Tagebücher, 1. Band, Jüdischer Verlag, Berlin 1934, S. 257, über Blochs Wochenzeitung. Ebenso den in Paris um Pfingsten 1895 begonnenen Eintrag, ebenda, S. 7ff. 170 Herzl-Güdemann, 22. Aug. 1895, Theodor Herzl, Gesammelte Werke/Tagebücher, 1. Band, Jüdischer Verlag, Berlin 1934, S. 268-273 (Zitat S. 271). 171 Österreichische Wochenschrift, 22. Feb. 1907, S. 121-127; 29. Marc 1907, S. 213-217. 172 Ebenda, 21. Juni 1907, S. 405-406. 1 0 . D I E ÖSTERREICHISCH-ISRAELITISCHE U N I O N

1 Jacob Touiy, „Troubled Beginnings: The Emergence of the Österreichisch-Israelitische Union", LeoBaeck Yearbook 30, 1985, S. 461. 2 Marsha Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien-KölnGraz 1989, S. 158ff. 3 Siehe J. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement 1848-1897, Chicago und London 1981, S. 321ff., über die Koalition und den Niedergang des österreichischen Liberalismus nach 1893. 4 Ernst von Plener, Erinnerungen, Stuttgart und Leipzig 1911-1921, ΙΠ, S. 92. 5 Herbert Matis, „Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848-1918", in: Hans-Ulrich Wehler, Hg., Sozialgeschichte Heute: Festschriftfür Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 243-265; Georg Franz, Liberalismus: Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955; Richard Charmatz, Deutsch-österreichische Politik: Studien über den Liberalismus und über die auswärtige Politik Österreichs, Leipzig 1907. 6 Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien 1949, S. 6ff. 7 Boyer, S. 321. 8 Ebenda, S. 334. 9 Carl Wrabetz hatte den Ruf, sich für jüdische Interessen einzusetzen. Bei den Reichsratswahlen von 1867 war er im Bezirk Innere Stadt einer der drei erfolgreichen liberalen Kandidaten, da er den Wählern der Union empfohlen worden war; siehe Neue Freie Presse, 23. März 1897, S. 2. Bei den Wahlen 1901 war er mit 3.021 Stimmen im 1. Bezirk wiedergewählt worden, gemeinsam mit zwei liberalen, deutschfortschrittlichen Kollegen und einem Sozialpolitiker, siehe Julius Ofner, ebenda, 15. Jän. 1901, S. 2. 10 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen der Österreichisch-Israelitischen Union, Nr. 57, Jän. 1894, S. 3.

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Anmerkungen

11 Wrabetz antwortete mit dem Vorwurf an die Demokraten, „es sei durch ihre Schuld der einzige Jude aus dem Stadtrathe eliminiert worden ...", ebenda, S. 5. 12 „Aus dem Protokolle", ebenda, Nr. 59, Märe 1894, S. 13. 13 Ebenda, S. 14. 14 Ebenda, S. 15. 15 „Aus dem Protokolle", ebenda, Nr. 60, 14. März 1894, S. 3. 16 Ebenda, S. 4. 17 Ebenda, S. 6-7. 18 Zu Ofher siehe Fuchs, S. 135ff.; Werner J. Cahnman, „Adolf Fischhof and his Jewish Followers", in: LeoBaeck Yearbook 4, 1959, S. 125-126; und Eva Holleis, Die Sozialpolitische Partei: Sozialliberale Bestrebungen in Wien um 1900, Wien 1978, S. 22ff. Ofher wurde als Sozialpolitiker 1896 in den NiederösteiTeichischen Landtag und 1901 in den Reichsrat gewählt. Später Schloß er sich der Osterreichischen Liberalen Partei an. Als hervorragender Jurist leitete er die Lex Ofher in die Wege - ein Gesetz, das eine strafrechtliche Verfolgung bei einfachem Diebstahl verhinderte - und befürwortete eine Reform des Eherechts im Sinne der obligatorischen Zivilehe. Daß sich ein Jude für eine derartige Maßnahme einsetzte, wurde von den katholischen Antisemiten in Wien natürlich ausgiebig ausgeschlachtet. 19 Cahnman, S. 124. Zu den Wiener Fabiern gehörten eine Reihe jüdischer Intellektueller, darunter der Erfinder und Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus (ein Freund und Mentor von Ofher), der Philosoph Wilhelm Jerusalem, der Sozialist Victor Adler, der Dichter Siegfried Lipiner usw. Die wichtigsten christlichen Mitglieder waren Engelbert Pernerstorfer, Michael Hainisch, Otto Wittelshofer, Professor Max von Grüber und der Wirtschaftswissenschaftler Professor Eugen von Philippovich. 20 Holleis, S. 37: „... sie war eine freisinnige Partei, die zwar die Grundgedanken des Liberalismus vertrat, aber in Opposition zur Liberalen Partei stand." 21 Ebenda, S. 36-37. Die Sozialpolitiker versuchten die Besorgnis und Angst des Bürgertums vor dem Aufstieg der Sozialdemokratie zu neutralisieren. Sie argumentierten, daß der Hauptfeind des Volkes nicht der Sozialismus sei, sondern die Reaktion und der schleichende Klerikalismus in der Maske des Antisemitismus. Letzterer stellte nicht nur für die Juden, sondern auch für das ethische und erzieherische Niveau der breiten Masse eine Gefahr dar. 22 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 60, 14. März 1894, S. 5. Ähnliche Aussagen zum sozial-fortschrittlichen Charakter der alten hebräischen Gesetzgebung können in den Schriften von Josef Bloch und Josef Popper-Lynkeus gefunden werden. Über letzteren siehe Ingrid Belke, Die sozialreformerischen Ideen von JosefPopper-Lynkeus (1838-1921), Tübingen 1978; auch Israel Dorion, Popper-Lynkeus, Jerusalem 1981, auf hebräisch, S. 112-135. 23 Die Sozialliberalen wiederholten diesen Vorwurf häufig, der von den jüdischen Wahlern gern gehört wurde. Siehe Österreichische Wochenschrift, 29. März 1895, S. 235-237; 5. April 1895, S. 249; 2. Juni 1896, S. 785-788. Auch Boyer, S. 334-335. 24 Siehe ζ. B. Mittheilungen, Nr. 59, S. 15, für Anmerkungen des liberalen Gemeinderats,

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Dr. Alfred Mittler: „Dr. Ofiier selbst stellt nicht in Abrede, daß er ein ausgeprägter Socialist ist, dass er ausgesprochen socialistischen Ideen huldige. Wenn wir die Wahl haben, so wählen wir den, der uns in wirtschaftlicher Beziehung am nächsten ist." Mittheilungen, Nr. 60, S. 5. Ebenda, S. 6-7. Neue Freie Presse, 16. März 1894, S. 5; 50. Märe 1894, S. 2-3; für Wahlergebnisse, ebenda, 5. April 1894, S. 3. „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 68, 9. Feb. 1895, „Herr Hof- und Gerichtsadvocat Dr. Heinrich Steger, „Die politische Situation in Österreich und die Stellung der Juden", S. 2ff. Der erste Teil von Stegers Rede war eine typisch liberale Verteidigung des privilegierten Kuriensystems, d. h. eines Wahlsystems, das auf der Vertretung von Interessengruppen basierte zur Wahrung des deutschen nationalen Besitzstands. Als der Sprecher dann auf die Laxheit der Liberalen in der „Judenfrage" einging, wurde er viel kritischer.

29 Ebenda, S. 6-7. 50 Ebenda, S. 8. 31 Ebenda, S. 9: „Wir müssen uns aufraffen und unsere Sache, wo und wie wir es können, selbst führen. Wir dürfen in der Folge nicht mehr den Eindruck machen, daß wir uns feige verkriechen und zufrieden scheinen - wie im Zeitalter des gelben Flecks - noch geduldet zu werden ..." 32 Ebenda, S. 10-11. 33 Ebenda, S. 12. 54 Mittheilungen, Nr. 69, 25. Feb. 1895, S. 12. Zur Entwicklung von Mayers Überzeugungen siehe seine Autobiographie Ein jüdischer Kau/mann, 1831 bis 1911, Leipzig 1911, S. 317ff. 1890 hatte er vorgeschlagen, daß die Juden sich jeder Betätigung in städtischen Gremien, Bildungsausschüssen, Bürgerorganisationen und Handelskammern enthalten sollten, bis der antisemitische Sturm sich gelegt hätte. 1894 hatte er diese Position modifiziert und befürwortete organisierte politische Aktionen gegen den Antisemitismus. 35 Mittheilungen, S. 15. 36 Ebenda, S. 14-15: „Herr v. Plener ist ganz und durchaus Parteimann - ihm steht die ,deutschliberale Partei' weit über dem Liberalismus, und wenn es das Interesse der,Partei' verlangt, so müssen sich die Juden eben damit begnügen, für die Partei geopfert zu werden." 57 Ebenda, S. 15. 58 Ebenda, S. 16. Siehe auch Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, S. 510, wo er über die Verhandlungen zwischen der Union und den Sozialpolitikern kurz vor den Wahlen zum Niederösterreichischen Landtag im Nov. 1896 schreibt. Die Union versprach, jüdische Wahlerstimmen im 1. Bezirk zu mobilisieren im Gegenzug zur Verpflichtung der Sozialpolitiker sowohl die Antisemiten als auch die alte Liberale Partei zu bekämpfen. 39 Mittheihwgen, Nr. 69, S. 17-18. Ofner war bei der Debatte am 25. Feb. 1895 nicht anwesend, sein demokratischer Verbündeter, Ferdinand Kronawetter, aber mischte sich ein und erklärte: „Die Juden werden aber nie ihre Rechte erreichen, wenn sie sich wieder an pri-

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Anmerkungen

vilegierte Klassen wenden." Kronawetters Einsatz für die Arbeiterklasse und das allgemeine Wahlrecht als einzige Garantie für jüdische Rechte stieß in der Union trotz seiner persönlichen Popularität bei den Wiener Juden auf einigen Widerstand. 40 Boyer, S. 350. 41 Ebenda, S. 367. 42 Ebenda, S. 378-379. 43 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 72, 20. April 1895, S. 5. 44 Ebenda, Nr. 76, 7. Dez. 1895, S. 7. 45 „Aus dem Protokolle", ebenda, 8. Feb. 1896. 46 Ebenda. 47 Ebenda. Für eine wertvolle zeitgenössische Diskussion der Widersprüche zwischen der Judenschaft und der Sozialdemokratischen Partei siehe Dr. M. Rosenmann, Jüdische Realpolitik in Österreich, Wien 1900, S. 12-15; Rosenmann war Bezirksrabbiner in Floridsdorf. 48 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 81, 25. April 1896. In der ersten Hälfte seiner Rede gab Fuchs einen kurzen Uberblick über die Geschichte der Union und deren Bemühungen, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die jüdische Solidarität angesichts äußerer Angriffe zu stärken. Die Union existierte, um Juden mit unterschiedlicher politischer Überzeugung einen gemeinsamen Rahmen zu bieten, sich zusammenzuschließen und ihren Feinden Widerstand zu leisten. Aktuelle Entwicklungen in Osterreich hätten die Notwendigkeit für dieses politische Forum bestätigt, im Gegensatz zu jenen, die behauptet hatten, daß die bestehenden Gesetze zum Schutz jüdischer Rechte ausreichten. 49 Ebenda, S. 5. 50 Mittheilungen, Nr. 76, 7. Dez. 1895, S. 6: „Als unsere Hauptaufgabe haben wir es aber betrachtet, ausserhalb unserer Tätigkeit in den einzelnen Bezirks-Comit6s eine Einigung zwischen allen freisinnigen Vereinen herbeizuführen." 51 Sigmund Mayer, „Die Stellung der Juden zu der actuellen ,Wiener Frage"1, in: Mittheilungen, Nr. 83, 23. Mai 1896, S. 4. 52 Ebenda. An dieser Stelle seiner Rede betonte Mayer die Bedeutung des neu geschaffenen Rechtsschutzbureaus. Das Büro unternahm rechtliche Schritte zum Wohle jüdischer Einzelpersonen oder für die Juden als Gesamtheit, um in Zeitungen, bei öffentlichen Versammlungen oder gesetzgebenden Organen einzuschreiten. „Hier beginnt für das von Ihrem Vorstande seinerzeit eingesetzte Rechtsschutz-Comitö jene Bedeutung, welche dasselbe, wenn die rechten Männer in seiner Mitte sitzen, erlangen muß" (im Protokoll unterstrichen). 53 Ebenda, S. 5. 54 Ebenda, S. 6-7: „Was ist der innerste Kern alles und jedes Liberalismus? Nichts weiter als die,Gerechtigkeit', die Gerechtigkeit für Jeden und gegen Jeden. Keine,nationale? Partei aber kann gerecht sein oder bleiben." 55 Ebenda, S. 8. Mayer faßte Fischhofs Programm so zusammen, daß Freiheit und Gleichheit für alle Nationen darin vor allen anderen Überlegungen den Vorrang haben. „Jede Nationalität muss ihr Recht und ihre Entwicklung innerhalb des weiten Rahmens der Freiheit und Gleichheit suchen und finden."

Die Österreichisch-Israelitische Union

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56 Mittheilungen, Nr. 85,25. Mai 1896, S. 10: „Daß der Sohn des letzten Arbeiters das ganz gleiche Recht hat, die gleiche Fürsorge des Staates genießt wie der Sohn des reichsten Juden, das ist wahrlich zu ertragen. Nicht zu ertragen ist, dass das bravste unserer Kinder weniger Rechte haben soll wie jenes des letzten Vagabunden, daß wir Kinder zeugen sollen, die schon bei Geburt einen gelben Fleck mitbringen." 57 Sigmund Mayer, „Die politische Stellung der Juden", „Aus dem Protokolle", in: Mittheilungen, Nr. 85,26. Sept. 1896, S. 5. 58 Ebenda, S. 4: „Ohne die Juden wird die Verwaltung slavisch. Jetzt eilen diese braven Juden zu Hilfe, jetzt wird die Verwaltung mit ihrer Hilfe antisemitisch!" 59 Ebenda, S. 5. 60 Ebenda: „Aber speciell bei uns in Österreich ist die Nationalitätenhetze jene für tins Juden allergefahrlichste Atmospäre." 61 Ebenda. Mayer stellte klar: „... eine solche specielle jüdische Politik darf es nicht geben und gibt es auch nicht." 62 Ebenda, S. 7: „Ein Staat, in dem keine einzige Partei mehr Staatspartei, keine mehr die Partei des Staates nehmen will, ist kein Staat mehr, sondern thatsächlich ein politisches Narrenhaus." 63 Ebenda, S. 11. 64 Ebenda. Gemeinderat Dr. Alfred Mitder erklärte: „Deutschthum und Freisinn seien immer Hand in Hand gegangen., Rufe: Niemals Deutsche Männer seien es gewesen, die diejenigen Gesetze schufen, welchen die Juden ihre heutige Gleichberechtigung verdanken." 65 Siehe Bemerkungen des Hof- und Gerichtsadvocaten Dr. Elias, ebenda, S. 12. 66 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 89, 12. Dez. 1896, S. 13. Dr. Elbogen reagierte auf eine etwas selbstgefällige Verteidigung von Maximilian Steiner zur Kultusgemeindepolitik der vergangenen sechs Jahre. Letzterer hatte angeführt, daß die internen Gemeindeangelegenheiten und der Kampf gegen „Indifferentismus in unserem eigenen Lager" viel wichtiger seien als äußere Abwehraktivitäten gegen den Antisemitismus. Die zwei wichtigsten Problemkreise der Wiener Judenschaft, so stellte er fest, seien mangelnde jüdische Erziehung und unzureichende Armenunterstützung. Elbogen erwiderte, daß der Gemeindevorstand dem Problem des Antisemitismus immer ausgewichen wäre und es verabsäumt hätte, eine praktische Wohlfahrtspolitik für die jüdischen Armen zu betreiben. 67 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 92,20. Feb. 1897, S. 5. 68 Siehe S. Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, S. 322, für eine Kritik an der Naivität der Sozialpolitiker: „Diese Leute waren brav, aber keine praktischen Politiker. Sie kannten weder die Psychologie der Massen, noch hatten sie überhaupt Menschenkenntnis ... Zwiespältig in ihrem Herzen und schwankend nach aussen hatten sie keine Haltung und gelangten zu keiner Stellung." Die sozialistische Arbeiterzeitung, 5. Nov. 1896, S. 1, schlug einen typisch antisemitischen Ton an. Sie behauptete, daß die Sozialpolitiker im 1. Bezirk ihre Stimmen bei den Landtagswahlen von Nov. 1896 allein der Israelitischen Union und der „Börse" verdankten. Nicht ihre Sozialpolitik, sondern allein die Hoffnung, daß sie dem Antisemitismus Paroli bieten würden, hatte die jüdischen Wähler angezogen. Die Neue Freie Presse

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Anmerkungen

hingegen war begeistert und unterstützte die neue Partei; siehe 1. Nov. 1896, S. 4. 69 Mittheilungen, Nr. 92, S. 4-5. 70 Ebenda, S. 6-7. 71 Ebenda, S. 7. Siehe auch Rosenmann, S. 14-15. 72 Mittheilungen, Nr. 92, S. 6. 75 Ebenda, S. 6 74 Ebenda, Nr. 96,29. April 1897, S. 4. 75 Ebenda, S. 6: „Wir sind keine Bundesgenossen der Sozialdemokraten, aber wir halten fest an dem allgemeinen Wahlrechte, weil es das einzige Mittel ist, um diesen politischen Monopolbestrebungen entgegenzuwirken ..." 76 Ebenda, S. 9. 77 „Vortrag des Herrn Landtags-Abgeordenten Dr. Julius Ofner über ,Das Wesen des Antisemitismus'", ebenda, Nr. 97, 29. April 1897, S. 9. 78 Ebenda, S. 10. 79 Ebenda, S. 11. 80 Ebenda, S. 12. 81 Mittheilungen, Nr. 97, 29. April 1897, S. 15: „Alles, was modern denkt, wird Jude genannt; deshalb spricht man von Judenliberalen und Juden-socialen." 82 Ebenda, S. 14-15. 85 Siehe Cahnman, S. 125, der schreibt: „the poor Galizianer of the Leopoldstadt adored him" (die armen Galizianer aus der Leopoldstadt himmelten ihn an). Bei einer Wählerversammlung der Union am 25. Feb. 1907 in der Leopoldstadt bekräftigte Ofner, „daß er wie bisher für die Interessen der Juden mit aller Kraft eintreten werde ... Sie haben mich überall dort gesehen, wo es sich um den Schutz der Schwachen und Entrechteten gehandelt hat, und ich glaube, daß gerade wir Juden auf den Standpunkt der vollen Gleichberechtigung stehen müssen." (Monatsschrift der Österreichisch-Israelitischen Union, 19. Jahrgang, März 1907, Nr. 5) 84 Holleis, S. 95-104. 85 Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 552ff. 86 In der Zwischenkriegszeit gab es auch eine viel massivere jüdische Wahlunterstützung für die Sozialdemokraten in Wien, als dies in der habsburgischen Zeit der Fall gewesen war. Siehe Walter B. Simon, „The Jewish Vote in Austria", in: Leo Baeck Yearbook 16, 1971, S. 97-125. 87 Wistrich, S. 254ff. 88 Brod an Kautsky, 9. Feb. 1897, Kautsky Nachlaß im Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, K, DVI, Nr. 675, zitiert bei ebenda, S. 260-261. 89 Verhandlungen des sechsten österreichischen Sozialdemokratischen Parteitages, Wien 1897, S.87. 90 Ebenda, S. 91-92. 91 Ebenda, S. 89. 92 Ebenda, S. 105.

Die Österreichisch-Israelitische Union

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95 Ebenda. 94 „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 115,14. Nov. 1899, Herr Sigmund Mayer, „Die Lage der österreichischen Judenschaft", S. 3ff. 95 Ebenda, S. 8-9. 96 Mittheilungen, Nr. 115, 14. Nov. 1899: „Wenn die Kohlen theurer geworden sind, haben diese kleinen Juden, die Kleider-, Leder- und Schnittwarenhändler, die jüdischen Handwerker die Montanwerke? Oder bekommen sie die Rothschild-Gutmannschen Kohlen billiger als jene des Grafen Larisch? ... wenn in Nachod die Arbeiter der großen jüdischen Spinner und Weber streiken, um bessere Löhne zu erzielen, hatten die kleinen jüdischen Händler, Handwerker, Hausirer in Nachod und Umgebung vielleicht das geringste Interesse an dem Siege der Fabrikanten? Im Gegenteile!" 97 Ebenda. 98 Ebenda, S. 10: „Fürchten Sie nicht die Socialisten! Fürchten Sie nicht das Unmögliche ... Aber fürchten Sie die Antisemiten! Die Gesetze der Gleichberechtigung - die können aufgehoben werden, fürchten Sie das Mögliche! Alles was schwarz und reaktionär ist in Österreich, ist gegen uns. Die Socialisten sind nur mehr die einzige Kampfpartei gegen diese Mächte." 99 Ebenda, S. 5-6. Für eine differenzierte Sicht, die die Union wegen ihrer Geheimniskrämerei kritisierte und „die jüdischen Großen" verteidigte, siehe Rosenmann, S. 18-19. 100 Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, S. 6. 101 Mayers Kritik wurde in der Diskussion vom jüdischen nationalistischen Abgeordneten der Bukowina, Dr. Benno Straucher, wiederholt, ebenda, S. 12.: „Als er nach Wien kam, glaubte er, daß die Wiener Judenschaft der ganzen Judenschaft voranleuchten könne. & habe sich aber bitter getäuscht. Die großen Juden, die in ihren Salons keine jüdischen Gesellschaften empfangen, haben kein Herz für die Leiden ihres Volkes." 102 Mittheilungen, Nr. 114, 22. Aprü 1899, S. 14-15. Zum damaligen Zeitpunkt betrug das laufende Defizit 2.000 Gulden. 103 Ebenda, S. 15. 1910 hatte die Organisation jedoch 7.000 Mitglieder; siehe Rozenblit, S. 162. 104 Mittheilungen, Nr. 114, S. 15. 105 Ebenda, Nr. 105,23. April 1898, S. 4, aus dem Bericht des Unionssekretärs, Josef Fuchs, bei der ΧΠ. Vollversammlung. 106 Ebenda. 107 Siehe ebenda, S. 3, für ein Beispiel der Zurückhaltung seitens der Union, da sie erkannte, daß die Nationalitätenkämpfe die Existenz Österreichs bedrohten. Fuchs sah jede jüdische Bindung an die eine oder andere Seite in diesen Konflikten als „einen Act der Selbstvernichtung" an. 108 Ebenda, S. 4. 109 Ebenda. 110 Mittheilungen, Nr. 105,25. April 1898. 111 Ebenda, S. 4, und Nr. 107, Okt. 1898, S. 2. 112 „25 Jahre Österreichisch-Israelitische Union", Monatsschrift der Österreichisch-Israeliti-

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Anmerkungen

sehen Union, YJ. April 1910, S. 20; siehe auch in: Monatsschrift, Feb. 1910, S. 1-3. 115 Mittheilungen, Nr. 105, S. 8: „Der Werth dieser Berichtigungen liegt in dem Umstände, dass der antisemitische Leserkreis selbst allmälig und unausgesetzt auf die Presse aufmerksam gemacht w i r d . . . " 114 115 116 117 118

S. Mayer, Ein jüdischer Kaufmann, S. 514. „Aus dem Protokolle", Mittheilungen, Nr. 114,22. April 1899, S. 10. Österreichische Wochenschrift, 1898, Nr. 6, S. 101-102. Siehe „25 Jahre", Monatsschrift, 17. April 1910, S. 52. Michael A. Riff, „Czech Antisemitism and the Jewish Response before 1914", The Wiener Library Bulletin, Hg. Robert S. Wistrich, 29, Nr. 39, 40, 1976, S. 12. 119 Mittheilungen, Nr. 114,22. April 1899, S. 8-9. 120 „Aus dem Protokolle", ebenda, 22. April 1899, S. 10. 121 Mittheilungen, Nr. 105, S. 8: „Das Gefühl der Schutzlosigkeit und Rechtsunsicherheit schwindet in dem Masse, als die Erfolge unserer Thätigkeit öffentlich, sichtbar und auch in der Provinz mehr und mehr bekannt werden." 122 Ebenda, S. 8-9. 125 Mittheilungen, Nr. 108, Nov. 1898, S. 3ff. 124 „Unsere Rechtsschutz- und Abwehr-Action. Bericht erstattet vom Vorstande in der Plenarversammlung vom 29. October 1898", in: Mittheilungen, Nr. 108, S. 7-8; siehe auch Siegfried Fleischer, „Enquete über die Lage der jüdischen Bevölkerung Galiziens", in: A. Nossig, Hg., Jüdische Statistik, Berlin 1905, S. 219ff. 125 Mittheilungen, Nr. 108, Nov. 1898, S. 5ff. 126 „25 Jahre", Monatsschrift, 17. April 1910, S. 54ff. 127 Mittheilungen, Nr. 108, S. 15. 128 Ebenda. 129 Ebenda, S. 17-18. 150 Siehe die harsche Kritik an dem neuen Kastenwesen durch Gemeinderat Lucien Brunner „nach dem Maßstabe des Geldsackes", veröffentlicht unter der Überschrift „Zur Wahlreform der Cultusgemeinde", in: Die Neuzeit, 19. Jän. 1900, S. 25. Siehe auch die freie Debatte in der Union am 12. Feb. 1900, „Aus dem Protokolle", in: Mittheilungen, Nr. 117, S. 2-6. 151 Ebenda, S. 5. 152 Ebenda, S. 2-3. 155 Es trifft zu, daß die Union 1896 einen repräsentativeren Vorstand wollte und daß sie auch Wert darauf legte, daß die Kultusgemeinde sich mehr der jüdischen Bildung widme. Siehe „Wahlprogramm der OIU, 1896", in: Central Archives of the History of the Jewish People, A/W 48/5. Dies hielt sie jedoch nicht ab, IKG-Kandidaten zu unterstützten. 154 Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 464ff. 155 Ebenda, S. 467; auch Ein jüdischer Kaufmann, S. 548ff., und „Die Agitation fiir die jüdische Kurie", Monatsschrift, Jän. 1906, S. 1-2

Kadimah und der Nationalismus jüdischer Studenten

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136 Die Wiener Juden, S. 480-481,490. 137 S. Fleischer, „Die Juden und das allgemeine Wahlrecht", in: Monatsschrift, Dez. 1906, S. 1-2; auch Dr. Alexander Minlz, „Die politische Lage der Juden", ebenda, Nov. 1906, S. 1-11. 138 Die Wahrheit, 22. März 1907, S. 3-4; 14. Mai 1907, S. 43-44. Diese Zeitung hatte Die Neuzeit als das quasi-offizielle Sprachrohr der IKG ersetzt. Der verdiente sozialpolitische Kandidat Julius Ofner, der aus der Leopoldstadt stammte und bei den Galiziern sehr beliebt war, wurde in der Wahrheit als zu wenig „jüdisch" dargestellt. Dessen erfolgreiche Kandidatur wurde jedoch gerade deshalb von Sigmund Mayer unterstützt; siehe Monatsschrift, Mai 1907, S. 1-2. Der bekannte Sozialist Friedrich Austerlitz, der von jüdischen Eltern abstammende Herausgeber der Arbeiterzeitung, kandidierte ebenfalls und attakkierte die Zionisten aufs schärfste als jene, „die die Juden wieder ins Ghetto sperren wollen". Siehe „Wiener Wahlbewegung: Die erste Wahlversammlung in der Leopoldstadt", in: Arbeiterzeitung, 28. März 1907, S. 6. Seine Konfessionslosigkeit und Religionsfeindlichkeit machte ihn für die jüdische Führung ziemlich inakzeptabel. 139 Österreichische Wochenschrift, 21. Juni 1907, S. 405-406. 140 Ebenda, 7. Nov. 1902, S. 723ff.; 2. Okt. 1908, S. 697-698. 141 Dieser Punkt wird bei Rozenblit, S. 191f., gut herausgearbeitet.

11. KADIMAH UND DER NATIONAUSMUS JÜDISCHER STUDENTEN

1 Es gibt bislang noch keine autorisierte Geschichte der Kadimah. Die wertvollsten einzelnen Quellen sind die Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, Mödling 1933, Hg. Ludwig Rosenhek, sowie das Archivmaterial in den Central Zionist Archives (CZA) in Jerusalem. Weiters gibt es einen Artikel von Harriet Ζ. Pass, „Kadimah: Jewish Nationalism in Vienna before Herzl", Columbia University Essays in International Affairs: The Dean's Papers, 1969, S. 119-136, und wertvolle Hinweise in G. Kresseis hebräischem Aufsatz, „Selbstemanzipation", ShivatZion 4, 1956, S. 55-99. Der beste Versuch einer Synthese stammt bis dato von Julius H. Schöps, „Modern Heirs of the Maccabees. The Beginning of the Vienna Kadimah 1882-1897", in: Leo Baeck Yearbook 27, 1982, S. 155-170, zu dem Marsha L. Rozenblit, „The Assertion of Identity. Jewish Student Nationalism at the University of Vienna before the First World War", ebenda, S. 171-186, wertvolle Zusatzinformation für das Jahrzehnt nach 1900 beisteuert. 2 Siehe ζ. Β. Ν. M. Gelbers hebräischen Aufsatz „The First Organization of the Russian-Jewish students in Berlin", He-Awar, IV, 1956, S. 47-55; Jehuda L. Weinberg, Aus der Frühzeit des Zionismus, Heinrich Löwe, Jerusalem 1946, S. 98 ff; Richard Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954; Moses Landau, „Der Zionismus in Österreich-Ungarn", Universität Wien, Diss., 1932. Siehe auch Festschrift, „Kadimah. IV. 1890 bis 1904: Erinnerungen vom Ehrenburschen Medizinalrat Dr. Isidor Schallt, Wien" (künftig: Schallt, „Erinnerungen"), S. 49ff.

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Anmerkungen

5 Schallt, „Erinnerungen", S. 106: „Ohne Kadimah kein Zionismus in Westeuropa, ohne diesen kein Herzl, ohne Herzl kein Judenstaat." 4 Ebenda, S. 41. 5 Siehe „25 Jahre Kadimah", Die Welt, Nr. 6, 1908, S. 6-8: „Festrede, gehalten von Μ. T. Schnirer auf dem Jubiläumskommers der Kadimah". Ebenso Dr. Μ. T. Schnirer, „Gründung der Kadimah", Festschrift, S. 15ff. 6 Zu Bierer liegt leider keine detaillierte Studie und kein wissenschaftlicher Aufsatz vor. Siehe jedoch Die Welt, Nr. 11, 1897, S. 6; G. Kressel, „Selbstemanzipation", und sein kurzer Eintrag in der Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, IV, S. 984-985; Ν. M. Gelber, Toldot Ha-Tnuah ha-Zijonit be-Galitziah, Tel Aviv 1958 zum galizischen Hintergrund, und Bierers Brief an die Akademische Verbindung Kadimah, kein Datum, CZA Ζ I / I . Interessanterweise schrieb Bierer von Sofia aus in den 90er Jahren eine Reihe zionistischer Artikel für die liberale und antizionistische Die Neuzeit. Siehe ζ. B. „Nationale Lebenszeichen", 23. Juli 1897, S. 304-505, in dem er die Α. I. U. kritisiert und die Errichtung einer hebräischen Universität in Jerusalem voraussieht; und „Der projectirte Gemeindebund der Juden Österreichs und seine Separatisten im Lichte des Zionismus", 21. Jän. 1898, S. 24-25, eine scharfe Polemik gegen den Polenklub und den „pseudo-polnischen Chauvinismus" von dessen jüdischen Vertretern vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Niedergangs der galizischen Judenschaft. 7 Bierer hielt seine Verbindungen zu orthodoxen und Chibbath Zion-Kreisen auch noch aufrecht, nachdem er ein treuer Anhänger des Herzischen Zionismus geworden war. Nach 1896 verbreitete er aktiv Herzls Gedankengut in Bulgarien, wo er als Hofarzt arbeitete. Herzl schickte ihm das erste Exemplar seines Der Judenstaat, das er „dem ersten Vorkämpfer des Zionismus" widmete (Kressel, in: Encyclopaedia Judaica, IV, S. 985). 8 Bierers Brief, CZA Ζ I/I. Zu der von Bierer einberufenen und von etwa 15 Personen, hauptsächlich Studenten aus Galizien, Rumänien und Rußland, besuchten Gründungsversammlung, bei der ein Entwurf der Statuten ausgearbeitet wurde, siehe Schöps, S. 156157. Auch „Statuten des akademischen Vereines ,Kadimah' 19. Jän. 1883", CZA Ζ I/I, A/568/8-I, und Schnirer, „Gründung der Kadimah", in: Festschrift, S. 16-17. 9 Zitiert bei Schöps, S. 156. Schnirer, in: Festschrift, S. 16, sah in dem Namen „eine Synthese des Fortschrittsgedankens und der zionistischen Idee". Siehe auch den langen Nachruf von Nathan Birnbaum, „Perez Smolenskin", in: Selbstemanzipation, 17. März 1886, S. 6-9. 10 Siehe Arthur Hertzberg, Hg., The Zionist Idea: A Historical Analysis and Reader, New York 1975, S. 142-157. Kol SifreiPerez Smolenskin, 6 Bde., 1905-1910, einschließlich einer Biographie von Reuben Brainin, und Ma'amarim, 4 Bde., Jerusalem, 1925-1926, sind die wichtigsten Sammlungen von Smolenskins hebräischen Schriften. Für die Bewertung seines Stellenwerts als Erzähler siehe David Patterson, The Hebrew Novel in Czarist Russia, 1964, und den bewundernswert knappen und präzisen Artikel von Patterson in der Encyclopaedia Judaica, XV, S. 7-11. 11 Smolenskins umfangreichste Arbeit ist sein autobiographischer Roman Ha-Töh be-Darche ha-Hayim (Der Wanderer auf den Wegen des Lebens), 1876, in dem er anschaulich seine

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Wanderjahre und das jüdische Leben seiner Zeit, insbesondere in Osteuropa, schilderte. Teile davon wurden ursprünglich in Ha-Schachar {1868/1869) und 2 (1871) publiziert. 12 Birnbaums Nachruf in der Selbstemanzipation, S. 7, weist ganz richtig daraufhin, daß Smolenskin von der ersten Ausgabe der Ha-Schachar an seine eindeutige Opposition zur Assimilation und den Glauben an die jüdische nationale Wiedergeburt kundgetan hat. Sein kultureller Nationalismus war keine Folge des neuen Antisemitismus oder der russischen Pogrome von 1881, sondern in einer tiefen Treue zur hebräischen Sprache und Literatur verwurzelt, die in seinen Augen beim Fehlen eines Staates oder eines nationalen Territoriums die wahre Basis der jüdischen Nationalität bildete. So sagte Smolenskin: „ ... die Sprache faßt in sich die Festigkeit einer Nation (ha-leum) und wenn die Sprache in Vergessenheit geräth, dann verschwindet das Andenken des Volkes selbst von der Erde." Schon 1868 hatte Smolenskin geschrieben: „Die Liebe zu unserem Volke sei die Leuchte unserer Schritte und unter dem Banner unserer Sprache mögen wir wachsen!" 13 Selbstemanzipation, 17. März 1886, S. 8: „In allen seinen Werken aber, selbst in den Romanen und Novellen, erscheint eine Tendenz und diese Tendenz ist der Kampf gegen die ,haskalah berlinith', die ,Berliner Aufklärung', gegen die Mendelssohn'sche Schule, gegen diejenige Richtung, die dem Judenthume als Volk Vernichtung geschworen hat." 14 Von den führenden Persönlichkeiten der Wiener jüdischen Gemeinde fühlte sich Smolenskin nur Dr. Ignaz Kuranda nahe, der an seinem Lebensende von seinen Argumenten gegen die „Assimilationssucht" scheinbar halb überzeugt war. Siehe Ha-Schachar, 1884, S. 135-142. Zu seiner Kritik gegenüber der Mannheimer-Jellinek-Schule siehe ζ. B. „BetSefer le-rabbanim be-Austria", Ha-Schachar, 1877, S. 57-61. Zur außerordentlichen Wirkung der Ha-Schachar auf die Jeschiwah-Studenten im Siedlungsgebiet im Westen des russischen Reiches und der sich daraus ergebenden feindseligen Haltung der Orthodoxie in Osteuropa gegenüber Smolenskin siehe die Erinnerungen von Samuel Leib Citron, „A Pilgrimage to Peretz Smolenskin", in: Lucy S. Dawidowicz, Hg., The Golden Tradition, London 1967, S. 138-142. 15 „The Haskalah of Berlin", 1883, in: Heetberg, S. 156. 16 Ebenda. 17 Ebenda, S. 156. 18 Als Smolenskins Nationalismus nach dem Trauma der Pogrome von 1881 immer konkreter, greifbarer und auf Palästina zentriert wurde, nahm auch seine Kriegserklärung gegen die Assimilation an Intensität zu. „Nur ein Hund hat und will auch kein Zuhause. Ein Mensch, der es vorzieht, sein ganzes Leben lang als Passant zu leben, ohne an die Gründung eines dauerhaften Heimes für seine Kinder zu denken, wird immer als ein Hund betrachtet werden", Hertzberg, S. 157. 19 Baruch Kurzweil, „The German Jew in Modern Hebrew Literature", in: LeoBaeck Yearbook, 1961, S. 173-175, lobt Smolenskins differenzierte, komplexe Sicht der westlichen Juden - die vielleicht „durch seinen langen Aufenthalt in Wien und anderen Zentren der westeuropäischen Kultur gefordert worden war" -, die einseitige Vereinfachungen des „westjüdischen Problems" vermeidet. Während er sich nicht für die Neuerungen der westlichen Juden zu erwärmen mochte, leugnete er dennoch nicht die Notwendigkeit von Reformen.

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Anmerkungen

20 „Et Lataat" (Es ist Zeit zu pflanzen), in: Ha-Schachar, 6, 8, 9, 1875, 1876/77, 1878; für Smolenskins allgemeine Ansichten zur Bedeutung von Sprache, gemeinsamen Geschichtserinnerungen und emotionalen subjektiven Faktoren im Nationalismus siehe Ha-Schachar; 1877, S. 359ff. 21 Hertzberg, S. 146, „Et Lataat" (Es ist Zeit zu pflanzen), 1877. 22 Siehe David Vital, The Origins ofZionism, Oxford 1975, S. 47. 23 Zitiert bei Patterson, S. 164. 24 Die letzten drei Bände von Ha-Schachar (1880/82,1883,1884) enthielten 25 Artikel über die Notwendigkeit einer physischen Rückkehr nach Zion und die Gründung eines wirtschaftlichen und politischen sowie geistigen Zentrums in Eretz Israel. Dies sei als Zufluchtsort äußerst wichtig, um cille verstreuten Stämme Israels, die durch diefiihlbareund physische Gefahr bedroht waren, an einem Ort zu sammeln. 25 „Let us Search our Ways" (1881), in: Hertzberg, S. 148. 26 Ebenda, S. 152. 27 Ebenda, S. 153. 28 Siehe Kressel, „Selbstemanzipation", S. 57ff.; auch Ludwig Rosenhek, „Die Juden zu Anfang der Achtzigerjahre", in: Festschrift, S. 14. 29 Schnirer, „Gründung der Kadimah", S. 15ff. 30 Siehe Joachim Doron, „The Impact of German Ideologies on Central European Zionism, 1885-1914", Univ. Tel Aviv, Diss., 1977, auf hebräisch, S. 346ff. 31 Nathan Birnbaum, Die Assimilationssucht: Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Sloven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität, Wien 1884, S. 10. Auch Ν. B., „Pflege der geistigen Güter unseres Volkes", in: Selbstemanzipation, 1. Juni 1893, S. 1. 32 Siehe Vital, The Origins of Zionism, S. 221-222. Vital beschreibt Birnbaum treffend als einen jungen Mann „in process of emerging into the educated bourgeoisie, but not yet of it" („der im Begriff steht, im gebüdeten Bürgertum aufzugehen, aber noch nicht dazugehört"). Siehe auch Joachim Doron, „Social Concepts Prevalent in German Zionism: 1883-1914", Studies in Zionism, April 1982, S. 1-31, zum allgemeinen intellektuellen Hintergrund des mitteleuropäischen Zionismus. 33 Festschrift, S. 40. 34 „Die Juden zu Anfang der Achtzigeijahre", ebenda, S. 12ff. 35 Schnirer, „Gründung der Kadimah", ebenda, S. 15. 36 Max Nordau, „Speech to the First Zionist Congress", in: Hertzberg, S. 23. 37 Ebenda. 38 Doron, „The Impact of German Ideologies", S. 343ff. 39 Für eine Zusammenfassung von Pinskers Gedanken siehe Vital, S. 126ff. 40 L. Pinsker, „Auto-Emancipation", in: Hertzberg, S. 184-185. 41 L. Pinsker, „Auto-Emancipation", in: Hertzberg, ebenda, S. 187. 42 Ebenda, S. 198. 43 Siehe Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, I, Stuttgart 1980, S. 278-279.

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44 Vital, S. 152. 45 Siehe Kapitel 4 in S. Aschheim, Brothers and. Strangers: The East European Jews in German and German Jewish Consciousness, i800-1923, Madison 1983, S. 80ff.; dort werden einige der komplexen Doppeldeutigkeiten in der Beziehung zwischen Zionismus, Westjudentum und den Ostjuden erörtert. 46 Birnbaum, Die Assimilationssucht, S. 8ff. 47 Pinskers Brief an die Kadimah, 5. Sept. 1885, CZA Ζ 1/1, A 568/8, und Pinskers Brief an den Präsidenten der Kadimah, 11. Dez. 1884, abgedruckt in: Schallt, „Erinnerungen", S. 58. 48 Ebenda, S. 58. Pinsker fügte hinzu: „Möge der Jude seinem nichtjüdischen Bruder in Treue beide Hände reichen, sein Blut für ihn vergießen, nur tue er es als Jude. Denn daß er einer anderen Nation als der jüdischen angehört, wie ihm zu sagen zugemutet wird, wird ihm von niemandem geglaubt werden." 49 Siehe Pinskers Brief an die Kadimah vom 10. Dez. 1885 und 26. Jän. 1884, CZA Ζ 1/1, A 568/8. 50 Kressel, „Selbstemanzipation", S. 61-62. 51 Siehe Josef Meisl, „Selbst-Emanzipation", bei Α. E. Kaplan und Max Landau, Hgg., Vom Sinn des Judentums: Ein Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums, Frankfurt 1925, S. 20ff.; siehe auch Selbstemanzipation, Nr. 1, 1892, zu Pinskers Tod, und den Supplementband zu Davar, 1957, Nr. 25. 52 Isaak Rülf, Aruchas Bas-Ammi, Israels Heilung: Ein ernstes Wort an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen, Frankfurt 1883; Kressel, „Selbstemanzipation", S. 61; Schöps, S. 165. Auch der ältere Artikel von Reuwen Michael, „Israels Heilung, Isaak Rülf und die Anfänge des Zionismus in Deutschland", in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 6, Nr. 22,1965, S. 126-147. 55 Schnirer, „Gründung der Kadimah", Festschrift, S. 17. Nathan Birnbaum definierte das Programm der Vereinigung mit ähnlichen Begriffen in: Selbstemanzipation, 16. Feb. 1886, S. 1: „Kampf gegen die Sucht, sich mit anderen Völkern zu assimilieren; Pflege der eigentümlichen Literatur und Sprache; Ansiedlung von Stammesgenossen in Palästina; Schaffung eines Jüdischen Ackerbaustandes." 54 „Statuten des akademischen Vereines,,Kadimah 1 , 19. Jän. 1885" (CZA Ζ 1/1), A 568/8-1; siehe auch Kressel, „Selbstemanzipation", S. 58; Schnirer, S. 17. 55 Kressel, „Selbstemanzipation", S. 58. 56 Siehe Μ. T. Schnirer, „25 Jahre,Kadimah'", in: Die Welt, Nr. 6, 1908, S. 7. 57 Festschrift, S. 18. 58 Schnirer, „25 Jahre,Kadimah'", S. 8. 59 Siehe Nathan Birnbaum, „Jehuda Makkabi", in: Selbstemanzipation, Nr. 21 und 22, 1885, sowie „Festschrift der Kadimah 1885-1955", Wien 1955, S. 19f. 60 Siehe „Festrede gehalten von Dr. med. Max Rosenthal am 15. Dez. 1890 bei der Makkabäer-Feier des akademischen Vereines ,Kadimah'", in: Selbstemanzipation, Nr. 1, 2. Jän. 1891, S. 4. Siehe auch die Rede von A. Horwitz am 21. Dez. 1891 in: ebenda, Nr. 1, 5. Jän. 1892, S. 13fT. 61 Siehe Schnirer, „Gründung der Kadimah", S. 25. Ein gutes Beispiel für Jellineks Meinimg

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Anmerkungen

ist sein Leitartikel „Weihfest oder Makkabäerfest?", Die Neuzeit, 18. Dez. 1891, S. 491-492. Bei dieser Polemik sprach er sich vehement gegen zionistische politische Bestrebungen aus, während er gleichzeitig das Recht der Juden verteidigte, sich in Palästina niederzulassen. Er warf den Anhängern der Makkabäer-Feier vor, sie seien „Schwärmer ohne jedes politische Verständnis", die die jüdische Geschichte für ihre eigenen Zwecke verzerrten. Zu Birnbaums Verteidigung gegen den Vorwurf des „neuen Heidentums" siehe Selbstemanzipation Nr. 1,1892, S. 5-6 und Nr. 5, 1893, S. 6; siehe auch „Chanukkah", Jüdische Volkszeitung, 26. Dez. 1894. 62 Schnirer „Gründung der Kadimah", S. 19, berichtet, daß Jellinek Birnbaum und Schnirer im Jahr 1883 gesagt hatte, „es sei seine politische Uberzeugung, daß die Juden einst Zion haben würden, aber sie mögen warten, bis Moschiach komme. Dessenungeachtet entließ er die jungen Studenten mit Segenssprüchen und der Versicherung seines Wohlwollens." 63 Siehe Shmuel Almog, Zionut ve-historia, Jerusalem 1982, S. 36-37 für eine allgemeine Erörterung des Rückgriffs auf die jüdische Geschichte bei der Gestaltung des zionistischen Nationalismus. 64 Siehe Schnirer „Gründung der Kadimah", S. 20-25, zum Wortlaut der Rede Moritz Schnirers. 65 Ebenda, S. 20-21. 66 Ebenda, S. 20. 67 Ebenda, S. 24. 68 Ebenda, S. 24-25. 69 Siehe Selbstemanzipation, 1. Feb. 1885, S. 1; siehe auch „Assimilation", in: Jüdische Volkszeitung, 12. Dez. 1894. 70 Alois Gaisbauer, „Eine Jugendbewegung. Zur Geschichte der jüdisch-nationalen Studentenbewegung in Österreich 1882-1914", in: Zeitgeschichte 2, Nr. 6, März 1975, S. 135ff. 71 Schöps, S. 161. 72 Schallt, „Erinnerungen", S. 38-39: „Wir lebten in der Glanzzeit des Liberalismus. Zwischen den Idealen des deutschen Liberalismus vom Jahre 1848 und dem neuaufstrebenden sozialistischen Evangelium suchten wir tastend ein Lebensziel." 73 Ebenda, S. 39. 74 Ebenda, S. 40. 75 Bericht über die am 17. Dezember 1884 vom akdemischen Verein ,Kadimah' veranstaltete Makkabäer-Feier, sammt Ansprache des Reichsraths-Abg. und Rabbiners Dr. J.S. Bloch: Anschliessend Jahres-Bericht des Vereins, Wien 1885, S. 14ff.; siehe auch Doron, S. 350; Schöps, S. 158. 76 Schallt, „Erinnerungen", S. 41. 77 Bericht, S. 17. 78 Ebenda, S. 16ff. 79 Doron, S. 349. 80 Österreichische Wochenschrift, 20. Dez. 1884, S. 7. 81 Schallt, „Erinnerungen", S. 43ff. 82 Siehe William J. McGrath, „Student Radicalism in Vienna", in: Journal of Contemporary History2, Nr. 3, Juli 1967, S. 183-201 zum allgemeinen geistigen Hintergrund.

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85 Schallt, „Erinnerungen", S. 66. 84 Siehe Ebenda, S. 67, für den Wortlaut eines mitfühlenden Briefes vom März 1891, den der britische Kabinettsminister Lord Aberdeen an die Kadimah anläßlich der Verfolgung der russischen Juden sandte. 85 Schallt, „Erinnerungen", S. 69. Der Wiener Kultusvorstand entzog der Bibliothek der Kadimah seine finanzielle Hilfe mit der Begründung, „dass er die zionistische Tendenz des Vereines nicht unterstützen könne..." Der Gemeindevorstand hatte einige Jahre zuvor ein von dem Studentenverein verfaßtes Memorandum für finanzielle Hilfe (datiert 22. Juli 1884) abgelehnt, in dem die „kühle Art" und die „Verteidigungshaltung" der Mehrzahl der Angehörigen der Kultusgemeinde gegenüber ihren Aktivitäten beklagt wurde; siehe Schöps, S. 159. 86 Schallt, „Erinnerungen", S. 72: Otto Abeles, „Dreißig Jahre Kadimah", in: Die Welt, Nr. 5, 1915, S. 146ff.; und Schöps, S. 165. 87 Schallt, „Erinnerungen", S. 72: „Die erste ,Kadimah' warb um die Seele der Juden, wir kämpften um diese Seele. Wir hatten eine andere Einstellung. Jene glaubten an die Macht des Geistes, wir, voll Trotz und überschäumender Lebenslust, vertrauten wohl der Macht der Idee, aber auch der Kraft unserer Fäuste." 88 Siehe Gaisbauer, S. 156, Schöps, S. 164. 89 Ebenda {bis). Schallt, „Erinnerungen", S. 72, erwähnt auch die von den Kadimah-Studenten 1891 mit der polnischen Burschenschaft Ognisko ausgefochtenen Duelle. 90 Schallt, „Erinnerungen", S. 75. 91 Ebenda. 92 Nathan Birnbaum, „Das assimilierte Nationaljudentum", in: Selbstemanzipation, Nr. 6/7, 1892, S. 55ff. 95 Ebenda, 4. März 1892. 94 Österreichische Wochenschrift, 19. Nov. 1897, S. 942, behauptete: „... das Gehaben der nationalthümelnden jüdischen Studenten mit ihren Schlägern, farbigen Bändern und Aufzügen ist durch und durch unjüdisch, eine Nachaffung fremder Sitte und Unsitte..." 95 ,„Przyszlosc' und Kadimah", in: Jüdische Volkszeitung, Nr. 54,21. Aug. 1894, S. 5. 96 Schallt, „Erinnerungen", S. 77. 97 Siehe auch „Die Satisfactions-Frage", in: Österreichische Wochenschrift, 15. März 1896, und die Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums in: Harald Seewann (Hg.), Zirkel und Zionsstem. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden, Graz 1990, Begleitband. 98 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Schriften in 5 Bdn., Π, Berlin 1954, S. 556-557. 99 Schallt, „Erinnerungen, S. 74-75. 100 Ebenda, S. 75. Sowohl Unitas als auch Ivria wie auch Libanonia und Hasmonea waren schlagende Verbindungen. Nach 1894 hatte nach Schalit „fast die ganze jüdische Studentenschaft das Schlagen aufgenommen". In diesem Jahr hatte allein die Kadimah 50 Studentenduelle mit der deutschnationalen Burschenschaft Gothia mit beträchtlichem Erfolg gefochten, was andere jüdische Studenten ermutigte. Dennoch folgte eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Mitglieder der Kadimah Siegmund Werner in die nicht-schlagende

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Anmerkungen

Gamalah-Burschenschaft, die 1894 gegründet wurde und eine stark sozialistische Ausrichtung hatte. 101 Ebenda, S. 75-76. 102 Ebenda, S. 77. 103 Siehe in diesem Zusammenhang die interessanten Aufsätze von Ber Borochov, dem fiihrenden Theoretiker des marxistischen Poale-Zion (der vor 1914 einige Jahre in Wien lebte), in: Bd. ΠΙ von Ketavim, Tel Aviv 1955-1966, zum Antisemitismus in den deutschen Studentenverbindungen und die jüdische Reaktion. Insbesondere „Noch ah Sin'at Jisrael bajn Kotlei ha-universita", S. 122ff., und „Studentim Germanim ve-jehudim be-Vinah", S. 165-175, die beide 1913 während seines Wiener Aufenthalts geschrieben worden waren. 104 Schallt, „Erinnerungen", S. 47-48. 105 Ebenda, S. 49-50. Für eine vollständige Aufzählung der zu dieser Zeit in Osterreich gegründeten jüdischen Burschenschaften siehe Gaisbauer, S. 158ff. 106 Siehe Felix Weltsch, Hg., Pragve-Jeruschalaim: Sefer le-Sekher Leo Herman, Jerusalem, keine Datumsangabe, S. 48-49, aus einem Aufsatz von Ν. M. Gelber, „Kavim le-Kidmat Toldoteah schel Ha-Zionut be-Bohemia ve-Moravia". Der Text trägt die Überschrift „Aufruf der Prager ,Makkabäa"' und wurde von einem Sondervertretungsausschuß der nationaljüdischen Studentschaft in Prag unterzeichnet. 107 Ebenda. 108 Schallt, „Erinnerungen", S. 81-82: „Der Nationalismus, den wir für uns konstruierten, war ein ethischer Nationalismus, erfüllt von Sittlichkeit und Humanität..." 109 Ebenda, S. 69-70. WO Jahresbericht der Jüdisch-Akademischen Lesehalle in Wien fiir das Verwaltungsjahr 1894/95, in: Central Archives of the History of the Jewish People, AW/1787. Die Lesehalle wurde von der IKG finanziell unterstützt; siehe Archives, AW 1536/1. 111 Selbstemanzipation, Nr. 6, 1890, S. 7. 112 Kressel, „Selbstemanzipation", S. 91; siehe auch Selbstemanzipation, 15. März 1892. 113 Selbstemanzipation, 23. Feb. 1892, S. 39ff., und 4.Märc 1892, S. 52-54. 114 Siehe Schallt, „Erinnerungen", S. 71, der sich damals besonders an der zionistischen Agitation in Prag, Brünn und den schlesischen Städten beteiligte. 115 „Statuten des Zion: Verband der österreichischen Vereine für die Colonisation Palästinas und Syriens, 1892" (Central Archives of the.History of the Jewish People AW/2884); siehe auch Selbstemanzipation, 1. Juni 1893, S. 4-5. 116 Schallt, „Erinnerungen", S. 71. Eintragung vom 5. April in den Tagebüchern von Theodor Herzl, in: Gesammelte Zionistische Schriften, Π, S. 363-364: „Dr. Schnirerund Dr. Kokesch, vom hiesigen Verein ,Zion', überbringen mir die Resolution, ich möge im Vertrauen auf die Unterstützung der Zionisten im Werke fortfahren. Schnirer will einen Aufruf an alle akademisch gebildeten Juden in der Welt zirkulieren lassen. Hier soll sich ein Komitee von 15-20 Leuten bilden, von denen jeder den Aufruf an drei, vier Freunde in anderen Städten schicken soll. So will man Tausende von Unterschriften sammeln. Das wäre für mich ein bedeutender Rückhalt."

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117 Schallt, „Erinnerungen", S. 84. 118 Theodor Herzl, Tagebücher, in: Gesammelte Zionistische Schriften, Π, S. 350. 119 Ebenda, S. 407 (Pfingstsonntag 1896). 120 Siehe A. Friedemann, Das Leben Theodor Herd's, Berlin 1914, S. 128. 121 Friedemann, Das lieben Theodor Herzl's, S. 128; die vollständige Aufzählung und der komplette Wortlaut finden sich auch in: Schallt, „Erinnerungen", S. 85. 122 Siehe Zion: Monatsschrift fiir die nationalen Interessen des jüdischen Volkes, Berlin, 2, Nr. 5,31. März 1896, S. 101-102. 123 Ebenda. 124 A. Friedemann, Das Leben Theodor Herd's, S. 31. 125 Schallt, „Erinnerungen", S. 84. 126 Schallt, „Erinnerungen", S. 105-106. 127 Ebenda, S. 89-90,93-94. 128 David Vital, Zionism: The Formative Years, Oxford 1982, S. 166. 129 Ebenda, S. 418-419. 130 Siehe Mascha Hoff, Johann Kremenetzky und die Gründung des KKL, Frankfurt 1986, für die erste Biographie dieser faszinierenden Persönlichkeit, die in Herzls utopischem Roman Altneuland als Ingenieur und Erbauer der neuen Gesellschaft auftritt. 131 Hoff, Johann Kremenetzky, S. 13. Schirers Gedenkworte fur Kremenetzky in: Central Zionist Archives Μ 23. Zum Cafe Louvre siehe Tullo Nussenblatt, Hg., Zeitgenossen über Herd, Brünn 1899, S. 133; siehe auch Alex Bein, Theodore Herd, Philadelphia 1962, S. 210-211. Außer Kremenetzky gehörten diesem ersten Bataillon des politischen Zionismus auch der Rechtsanwalt Kokesch, Moritz Schnirer, York-Steiner und der Shakespeare-Gelehrte Leon Kellner an. 132 Zitiertin: Bein, S. 186-187. 133 Schallt, „Erinnerungen", S. 88: „Die ersten und kräftigsten Mitarbeiter Herzls waren wir zionistischen Akademiker." 134 Ebenda, S. 100-101,105-106. 135 Borochov, „Studentim Germanim ve-yehudim be-Vinah", in: Ketavim, ΙΠ, S. 165ff. 136 Siehe Central Zionist Archives Ζ 2/433, „Programm der zionistischen Partei der Juden in Osterreich" und den Brief von Isidor Schallt vom März 1907 an den Präsidenten der zionistischen Weltorganisation, in dem er große Hoffnungen auf die bevorstehende Reichsratswahl setzte: „Es ist unsere Pflicht bis dahin zu sorgen, daß die jüdische Bevölkerung in ihrer überwiegenden Mehrheit auch für sich die Autonomie verlange, sonst wird über das jüdische Volk sicherlich zur Tagesordnung übergegangen, und die Juden unter die deutschen, polnischen, tschechischen etc., nationalen Gemeinschaften aufgetheilt werden." 137 Zu den österreichischen sozialistischen Theorien der kulturell-nationalen Autonomie, welche die jüdischen Autonomisten und Zionisten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beeinflußten, siehe Karl Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, Leipzig und Wien 1902. Der Austromaixist Otto Bauer negierte in seiner klassischen Studie Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, die Rechtmäßigkeit jüdischer Forderungen nach nationaler Autonomie in Galizien. Siehe Robert

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Anmerkungen

S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany andAustria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 335ff.; siehe auch ders., „Marxism and Jewish Nationalism. The Theoretical Roots of Confrontation, in: Journal of Jewish Sociology 17, Nr. 1, Juni 1975, S. 43-54. 138 Schalit, Central Zionist Archives Z2/455: „Als officielle Leiter ihrer Nation würden die Zionisten auf das Nationalselbstbewußtsein der 1 V2 Millionen Juden Österreichs, sowie von der durchwegs national erzogenen Jugend unterstützt, den Zionismus leicht zur Ehrensache der ganzen Nation, zum Endziel aller nationalen Bestrebungen machen können." 139 Ebenda, „An Österreichs Judenschaft". 140 Rozenblit, „The Assertion of Identity", S. 178ff. 141 Ebenda, S. 180. 142 Ebenda, S. 179. 143 Siehe Tabelle III in Rozenblits Aufsatz, S. 186. 1 2 . D I E M E T A M O R P H O S E N D E S NATHAN B I R N B A U M

1 Nathan Birnbaum, The Bridge: Selected Essays, London 1956, S. 11. 2 Nathan Birnbaum, „Gegen die Selbstverständlichkeit", in: L. Rosenhek (Hg.), Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, Mödling 1933, S. 29, und „Iberblik iber Majn Lebn", Jubilewn-Buch (auf jiddisch), Warschau 1925, S. 10. 3 „Gegen die Selbstverständlichkeit", S. 29. Birnbaum, der diesen Aufsatz am 19. April 1932 schrieb, erinnerte daran, daß es zu seiner Mittelschulzeit in Wien für einen jungen Juden undenkbar war, „sich nicht der deutschen Nation zuzuzählen". Diesem autobiographischen Bericht zufolge erlebte er seine jüdisch-nationalistische Offenbarung in den Jahren 1879/80 (in der fünften oder sechsten Form). In einem Gespräch mit einem Freund unterstrich er, daß die Juden sich als Angehörige der jüdischen Nation mit ihrer eigenen einzigartigen Vergangenheit deklarieren und den Blick in die Zukunft auf Palästina richten sollten. 4 Siehe J. Klausner, Historija schel ha-sifrut ha-ivrit ha-hadascha, Tel Aviv 1955, S. 14-231; Emmanuel S. Goldsmith, „Nathan Birnbaum", in seinem Buch Architects ofYiddishism at the Beginning of the Twentieth Century: A Study in Jewish Cultural History, London und New York 1976, S. 100; seiner Ansicht nach können „die verschiedenen Phasen in Birnbaums ideologischer Odyssee, einschließlich des Diaspora-Nationalismus, auf bestimmte Aspekte der Schriften von Smolenskin zurückverfolgt werden". Goldsmith folgert schlüssig, daß Birnbaum auch von hebräischen radikal-sozialistischen Autoren der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts wie Aron Lieberman (seine Zeitschrift Ha-Emet wurde 1877 in Wien herausgegeben), Morris Winchevsky oder Moses Leib Lilienblum sowie von Smolenskin und Pinsker beeinflußt war. 5 „Gegen die Selbstverständlichkeit", S. 30. Birnbaum erinnerte, wie schwierig es in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war, die assimilierten Juden in Wien fur die Kadimah zu gewinnen, verfügten sie doch über keinerlei lebendiges Volksjudentum, das ih-

Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum

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nen eine Anregung geboten hätte. Die Ostjuden auf der anderen Seite kamen „aus einem lebendigen jüdischen Volksmilieu ... wo es auch schon eine Bewegung der Selbstemanzipation oder der nationalen Wiedergeburt gab ..." 6 G. Kressel, „Selbstemanzipation", in: SchivatZion 4, 1956, S. 58-62. Die erste Ausgabe der Selbstemanzipation erschien am selben Tag, an dem Perez Smolenskin starb, am 1. Feb. 1885, mit einem Aufruf an die Stammesgenossen, der mit den Worten begann: „Die Lebenskraft, die im Körper des jüdischen Volkes wohnt, ist unvergänglich, unzerstörbar! Weder das haßerfüllte Walten des wildesten Rassenhasses, der von Außen an unserem Untergange arbeitet, noch der innen fressende Wurm des nationalen Überdrusses werden je im Stande sein, die zähe Natur unseres ewigen Volkes zu erschüttern!" Die zweite Ausgabe vom 16. Feb. 1885 enthielt eine überschwengliche Würdigung Smolenskins, die unter anderem beklagte: „In Wien selbst, wo der große Todte lebte und seine Zeitschrift herausgab, da war er freilich verhältnismäßig wenig bekannt..." 7 Siehe „Eröffnungsrede auf der Jüdischen Sprachkonferenz in Czernowitz", gehalten am 30. Aug. 1908 (von Birnbaum selbst aus der jiddischen Originalfassung übersetzt), in: Dr. Nathan Birnbaum, Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage, Czernowitz 1910, Π, S. 41-45. Siehe auch in derselben Sammlung: „Der ,Jargon"', ebenda, S. 46-51 und „Zum Sprachenstreit. Eine Entgegnung an Achad Ha'am", ebenda, S. 52-74. 8 Α. E. Kaplan und Max Landau (Hgg.), Vom Sinn des Judentums: Ein Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums, Frankfurt 1924, dokumentieren diese letzte Metamorphose oder „Rückkehr" zum Judentum; siehe v. a. Samuel Rapoport, „Der Gottsucher", S. 54-43, und Josef Carlebach, „Stil und Persönlichkeit", S. 70ff. Letzterer sieht in Birnbaum die Verkörperung „eines grandiosen Kampfes gegen den neujüdischen Intellektualismus, gegen die jüdische ,Aufklärungsperiode'..." (S. 70). Max Landau, „Nathan Birnbaum und das jüdische Volk", S. 83, macht aus dem verstorbenen Birnbaum einen Kreuzfahrer gegen „die maskilsche Mentalität im jüdischen Volke" und deren verächtliche Arroganz gegenüber den wahren geistigen Werten des Judentums. 9 Zu Chaim Zhitlovsky siehe Jonathan Frankel, Prophecy and Politics: Socialsm, Nationalism and the Russian Jews, 1862-1917, Cambridge 1981, S. 258-287. Wie Zhitlovsky konnte auch Birnbaum als Mensch mit wechselnden Launen beschrieben werden, der zwar einigen Kernkonzepten treu blieb (dem Anti-Assimilationismus, dem Glauben an den ewigen und unzerstörbaren Charakter des jüdischen Geistes, an die Einzigartigkeit der jüdischen Nation usw.), sie aber zu den verschiedenen Zeiten in völlig anderer Weise auf die Wirklichkeit übertrug. Trotz seiner frühen Sympathien für gewisse Aspekte der sozialistischen Lehre war Birnbaum jedoch nie ein revolutionärer Sozialist. 10 D. Vital, The Origins of Zionism, Oxford 1975, S. 225. 11 Birnbaum, Die Assimilationssucht, Wien 1884, S. 4, 8-9. In seinem Nachruf für Perez Smolenskin, in: Selbstemanzipation, 16. Feb. 1885, S. 1, griff Birnbaum erneut „die ganze Erbärmlichkeit der assimilatorischen Selbstmordtheorie" an, eine Formulierung, auf die er in zahllosen Variationen immer wieder zurückgreifen sollte. 12 Die Assimilationssucht, S. 4-5. 15 Ebenda, S. 9-11.

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Anmerkungen

14 Ebenda, S. 14. 15 Die Assimilationssucht, S. 14; siehe auch Birnbaum, „Die Ziele der jüdisch-nationalen Bestrebungen, Teil Π", in: Selbstemanzipation, Nr. 4, 16. Mai 1890, S. 1-2. 16 Die Assimilationssucht, S. 14-15. 17 Ebenda. Schon 1884 meinte Birnbaum, daß dem Hebräischen in Osteuropa „zu einer vollständigen Nationalsprache sehr wenig fehlt und dies wenige würde und müßte eine territoriale Concentration alsbald nachholen. Ein von Hebräern bevölkertes Judäa schüfe auch ein von Juden gesprochenes Hebräisch." 18 „Die Prinzipien des Zionismus", in: Selbstemanzipation, Nr. 5, 4. März 1892, S. 55. Birnbaums bedeutender Vortrag wurde in drei Ausgaben am 1. Feb., am 4. März und am 7. April 1892 veröffentlicht. 19 Ebenda, S. 58. 20 Siehe Kressel, „Selbstemanzipation", S. 79-89, zur Geschichte der Zeitschrift und deren Schwierigkeiten. 21 Siehe J. Fraenkel, „Halifat Hamikhtavim Bejn Nathan Birnbaum levejn Siegmund Werner", Schivat Zion 2-3, Jerusalem 1955, S. 275 (auf hebräisch); vom selben Autor, „Mathias Acher's Fight for the Crown of Zion", in: Jewish Social Studies (Apr.1954), S. 115-134. 22 Mathias Acher war das Pseudonym, das Birnbaum an einem Seder-Abend der KadimahStudentenvereinigung im Jahre 1891 annahm, als er in einer Rede die /«ziwe-Tradition verurteilte. Der Name Mathias erinnerte an den Aufstand der Hasmonäer (Makkabäer) gegen den Hellenismus. Acher war der hebräische Name, den Rabbiner einem verehrten Weisen und Häretiker der jüdischen Tradition, Elisa ben Abuja, verliehen hatten und der soviel wie „ein Fremder" bedeutete. Elisa ben Abuja war ein Gelehrter des 2. Jahrhunderts, der zu einem Anhänger des sich von der griechischen Philosophie ableitenden gnostischen Dualismus wurde und sich später vom Judentum abwandte. Diese Kombination von Zelotentum, Idealismus und Häresie, die bei der Wahl dieses Pseudonyms deutlich wurde, zeigt wohl die psychologische Ambivalenz, die hinter Birnbaums ideologischen Positionen steckte. 23 Siehe „Antisemiten, Assimilanten, Nationaljuden", in: Selbstemanzipation, 3. April 1885, S. 2-3, mit heftigen Angriffen auf die Bewegung Schönerers - „jene unsaubere, fanatisch blinde Partei" -, weil sie die „unauslöschlichen Rassenunterschiede zwischen den Juden und den arischen Völkern" derart verzerrte, daß eine ganze Nation diffamiert wurde. 24 „Ist Wahrhaftigkeit Zugeständnis?", ebenda, Nr. 5, 2. März 1886, S. 1-2. Siehe auch andere frühe Artikel von Birnbaum, die sich mit diesem Thema beschäftigen: „Verjudung Entjudung", ebenda, Nr. 7, 1. Mai 1885; „Der Judenhaß", Nr. 1, 1. Jän. 1886; „Antisemitismus und Nationaljudenthum", 3, Nr. 2,16. Apr. 1890. 25 „Nationalität und Sprache", ebenda, 16. Feb. 1886. In diesem Artikel behauptete Birnbaum: „Vermöge des Rassengegensatzes denkt und fühlt auch der Deutsche oder Slave anders ills der Jude." 26 Siehe „Volkstum und Weltbürgertum", ebenda, 16. April 1890, S. 1, wo Birnbaum einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volksgeist ortet. 27 „Ist Wahrhaftigkeit Zugeständnis ?", S. 1 -2.

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28 „Erlöschung - Erlösung", ebenda, Nr. 1, 1. Feb. 1885, S. 2: „Dieser instinctive Ekel vor der moralischen Unselbständigkeit eines Stammes, der von dem merkwürdigen Wahne befallen ist, sich selbst vernichten zu wollen, ist der Keim des modernen Antisemitismus." 29 „Unsere Mängel", ebenda, S. 2-5. 30 Birnbaum in: Ost und West, 2, Nr. 8, Aug. 1902, S. 517-518; abgedruckt als „Einige Gedanken über den Antisemitismus", in: Ausgewählte Schriften, I, S. 154. 51 Siehe die Bemerkungen von Sanford Ragins, Jewish Responses to Anti-Semitisms in Germany, 1870-1914, Cincinnati 1980, S. 125ff. 52 Birnbaum, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, Wien 1985, abgedruckt in: Ausgewählte Schriften, I, S. 41. 55 Birnbaum, Ausgewählte Schriften, I, S. 26. Aus Birnbaums Vortrag mit dem Titel Die jüdische Moderne, Wien 1896, den er im Juni 1896 vor der Kadimah hielt. 54 Kressel, „Selbstemanzipation", S. 64-65. 55 Siehe Birnbaum, „Die Colonisation Palästinas", in: Selbstemanzipation, 2, Nr. 4, 16. Feb. 1886; Colonisationspläne", 5, Nr. 10, 15. Mai 1892; „Organisation der Colonisationstätigkeit", 6, Nr. 6,18. Mai 1895. 56 „Die Principien des Zionismus", ebenda, Nr. 5,4. März 1892, S. 55. 57 „Osten oder Westen", ebenda, 17. Okt. 1890, S. 1-5. 38 „Colonisationspläne", ebenda, 15. Mai 1892; auch Kressel, „Selbstemanzipation", S. 91. 59 „Die wichtigste Frage", in: Jüdische Volkszeitung, 30. Jän. 1894, S. 4-5; siehe auch „So lange es Zeit ist!", ebenda, 3. April 1894, S. 2. 40 „Die Principien des Zionismus", in: Selbstemanzipation, 7. April 1892. 41 Zitiert nach Nathan Birnbaum, Die jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften, Augsburg 1989, S. 27. 42 Shmuel Almog, Zionutve-historia, Jerusalem 1982, S. 104-105 und 109. 45 „,Die Heilung des jüdischen Volkes', Vortrag von N. Birnbaum in Lemberg", in: Selbstemanzipation, 15. Nov. 1892, S. 202. 44 „Die Türkei und die Palästina-Colonisation", ebenda, Nr. 17, 1891, abgedruckt im Anhang zu seinem Werk Die nationale Wiedergeburt, S. 58-40. 45 Ebenda, S. 40. Birnbaum glaubte, der Selbsterhaltungstrieb würde die Juden veranlassen, „ein übrigens friedliches und im versöhnenden Geiste wirkendes Gegengewicht gegen das Araberthum abzugeben, und für den osmanischen Staatsgedanken immer und überall einzutreten". 46 Ausgewählte Schriften, I, S. 18. Birnbaum zitierte, wie vor ihm schon Moses Hess, gerne aus der futuristischen Vision des französischen nichtjüdischen Zionisten Ernst Laharanne, dessen La Nouvelle Question d'Orient: Reconstitution de la nation Juive, Paris 1860, von der großen Berufung der Juden sprach, „ein lebendiger Kommunikationskanal zwischen drei Kontinenten zu sein". Birnbaums Auffassung vom Judentum als dem Vermittler zwischen Europa und dem Orient enthielt vielleicht von beidem etwas: von Laharannes kulturellem Imperialismus und von Hess' weltlichem jüdischem Messianismus. 47 Die nationale Wiedergeburt (1895), in: Ausgewählte Schriften, I, S. 9. Sobald der Prozentsatz der Juden unter den Sättigungspunkt fällt, bei dem sich Intoleranz zu regen beginnt,

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Anmerkungen

so schreibt Birnbaum, „würde [das] natürlich eben so sehr ein beträchtliches Nachlassen der antisemitischen Spannung, als Milderung des Daseinskampfes der jüdischen - und übrigens auch der nichtjüdischen - Volksmassen bedeuten". 48 Ebenda, S. 9. 49 Ebenda, S. 10: „Ein Volk ohne völkerrechtliche Geltung ist vogelfrei. Je rascher und gründlicher die zivilisierte Welt diese Vogelfreiheit bezüglich der Juden aufheben will, desto früher und radikaler wird sie von dem Judenhasse ... befreit werden." 50 Ebenda, S. 15. 51 Ebenda, S. 18-20. 52 Birnbaum schlug bei seiner Prophezeiung einen weltlich-messianischen Ton an: „Im eigenen Heim wird die jüdische Nation wieder ihre gewaltigen sittlichen, d. i. sozialen Anlagen entfalten und kraft derselben die endliche soziale Erlösung des Menschengeschlechtes herbeifuhren helfen. Der seiner Ketten ledige jüdische Genius wird den Weg zum allgemeinen Menschheitsglück verkürzen." {Ebenda, S. 20) 55 Brief von Dr. Solomon Birnbaum (Sohn von Nathan Birnbaum) an den Autor vom 24. Februar 1980. Dr. Birnbaum schreibt, daß „[N.B.] während seiner zionistischen Phase vom Sozialismus beeinflußt war", aber „nie der Sozialistischen Partei angehört hatte". Solomon Birnbaum wies mir gegenüber auch darauf hin, daß sein Vater den österreichischen Sozialdemokraten gegenüber größte Vorbehalte hegte, hatten sie doch 1905 die neu gegründete „Jüdische sozialdemokratische Partei in Galizien" aus ihren Reihen ausgeschlossen. Zu diesem Vorfall, der in Birnbaums nationalistische Diaspora-Phase fiel, siehe Robert S. Wistrich, „Austrian Social Democracy and the Problem of Galician Jewry 1890- 1914", in: LeoBaeck Yearbook 26,1981, S. 89-124. 54 „Die Principien des Zionismus", in: Selbstemanzipation, Nr. 5, 4. März 1892, S. 54. 55 Ebenda. Eine ähnlich prophetische Formulierung findet sich in: Ausgewählte Schriften, I, S. 21: „Greift der Zionismus nicht durch, so wird nach einem allfälligen, scheinbar völligen Siege der Gleichheitsidee die Judenfrage als ungelöstes Residuum, der Judenhaß als ein verhängnisvoller Keil im Fleische der neuen Gesellschaft zurückbleiben." 56 „Die jüdische Moderne. Vortrag gehalten im Akademischen Vereine ,Kadimah' in Wien von Mathias Acher", Wien und Leipzig 1896, S. 10: „Die landläufige Geschichtsauffassung vernachlässigt die Geschichte des Menschen als Rassewesen und berücksichtigt ausschließlich die Geschichte des Menschen als Gattungswesen." 57 Ebenda, S. 13. 58 Ebenda. 59 Ebenda, S. 15-14. „Gehören nun aber Staat und Sprache nicht zum eisernen Bestände der Nationalität, dann gibt es keinen Zweifel an der gegenwärtigen Existenz der jüdischen Nationalität. Denn ihre Rassequalität kann ihr Niemand bestreiten." 60 Ebenda, S. 24. 61 Birnbaums antikapitalistische Vision führte zu Meinungsverschiedenheiten mit dem galizischen Zionisten Abraham Salz, der seine emotionale Bindung an das sozialistische Gedankengut nicht teilte; siehe A. Salz, „Socialismus oder Colonisation Palästinas", in: Selbstemanzipation, Nr. 9,1891, S. 2.

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62 „Die Ziele der jüdisch-natioalen Bestrebungen, Pt. Π", ebenda, Nr. 4, 16. März 1890, S. 2. Für Birnbaum waren die Vereinigten Staaten der Inbegriff des kapitalistischen Profitstrebens. Sein Widerstand gegenüber einer Ansiedlung in Amerika leitete sich gleichermaßen von „sozialen" wie nationalen Überlegungen ab. 63 „Die Ziele der jüdisch-nationalen Bestrebungen, Pt. ΙΠ, Ethischer Teil", ebenda, 2. Juni 1890. 64 Bei der Sicht des Sozialismus gibt es eine gewisse Parallele zwischen Birnbaum und Theodor Hertzka, dem Herausgeber der Wiener Allgemeinen Zeitung. Siehe Birnbaums langen Bericht über einen Vortrag, den Hertzka am 14. Jän. 1895 vor der ÖsterreichischIsraelitischen Union hielt, veröffentlicht in: Selbstemanzipation, Nr. 5, 28. Feb. 1895, S. 2-4, unter dem Titel „Arischer und semitischer Geist". Birnbaum schrieb: „Dr. Hertzka sprach als Socialist - ein Wort, das man nicht mit der Parteibezeichnung Socialdemocrat verwechseln darf - und als Jude. Er ist ein Mann, der die Eigenart des jüdischen Wesens erkannt hat und diese Eigenart vollständig und mit Bewusstsein in sich verkörpert." 65 „Die Socialdemokratie und die Juden", ebenda, Nr. 6, 16. Juni 1890, S. 1-2. 66 Ebenda, S. 1. Siehe auch den Bericht „Der internationale Arbeitercongreß in Brüssel", ebenda, Nr. 17, 2. Sept. 1891, S. 5, in dem auf die Ambivalenz der Sozialistischen Internationale gegenüber der „Judenfrage" hingewiesen und die extrem assimilationistische Position des österreichischen Sozialistenführers Victor Adler kritisiert wird. 67 Saul Raphael Landau, „Der Socialismus und die Juden in Galizien", ebenda, Nr. 6 und 7., 7. April 1892, S. 54-56. 68 Birnbaum, „Zum ersten Mal", Nr. 9,1. Mai 1892, S. 79-81. 69 Ebenda, S. 80. 70 Birnbaum, „Die Tallisweber von Kolomea", ebenda, Nr. 16 und 17,29. Aug. 1892, S. 166167. 71 „Der jüdische Weberstreik", in: Arbeiterzeitung, 5. Aug. 1892; siehe auch „Zum Kolomaer Weberstreik", ebenda, 16. Sept. 1892; und Max Zetterbaum, „Klassengegensätze bei den Juden", in: Die Neue Zeit, Π (1892-1895), S. 39. 72 „Die Tallisweber...", S. 167; „Der Strike [sic] der Tallisweber von Kolomea kann der Socialdemocratie die schönste Gelegenheit geben, sich unter der galizischen Judenheit einzunisten." 75 Ebenda: „...auch im sozialistischen Zukunftsstaate wird die Judenhetze nicht aufhören, wenn die Juden wie heute und damals allerwärts die abhängige und schutzlose Minorität sein werden." 74 Siehe Nathan Gelber, ToldotHa-Tnuah ha-Zijonit be-Galitziah, Tel Aviv 1958, S. 15. 75 Ν. B., „Parteiprogramme", in: Selbstemanzipation, 21. Juni 1892, S. 116; „Die Zionistische Partei", 25. Feb. 1892, S. 41. 76 Die erste Konferenz jüdischer Nationalisten trat zwischen 25. und 25. Aug. 1895 zusammen und wurde von Vertretern aller bestehenden zionistischen Vereinigungen in Galizien besucht. Nathan Birnbaum, als Vertreter der österreichischen Zionisten, wurde zum Ehrenvorsitzenden der Konferenz gewählt.

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Anmerkungen

77 Siehe Selbstemanzipation, Nr. 18, 15. Nov. 1893, S. 3-5. 78 Siehe „Corporationen und Versammungen", ebenda, Nr. 20, 15. Dez. 1893, S. 7, zur Namensänderung der Organisation in „Die Osterreichische Jüdische Nationalpartei", wie sie von Birnbaum vorgeschlagen wurde. 79 Selbstemanzipation, 15. Nov. 1893; auch Kressel, „Selbstemanzipation", S. 90. Zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere maß Birnbaum - vielleicht unter dem Einfluß des hebräischen Schriftstellers Reuben Brainin (1862-1939), der kurz zuvor nach Wien übersiedelt war der Rolle der hebräischen Sprache für die westlichen Juden beim Vorantreiben der nationalen Wiedergeburt große Bedeutung bei. Andererseits sah er im Jiddischen weiterhin die Sprache des Ghettos und des Galut, die für eine nach Selbstemanzipation strebende zivilisierte Nation nicht geeignet war. 80 Ν. B., „Politischer Zionismus", in: Selbstemanzipation, Nr. 23, 19. Dez.1892: „Jüdische Politik", Nr. 8,15. Juni 1893: „Die Wahlreform und die Zionisten", Nr. 16, 15. Okt. 1893; Nr. 17,1. Nov. 1893. Auch Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes, Wien 1893. 81 N. B., „Der neue Cours" („Ein Wort an alle Zionisten"), ebenda, Nr. 21,2. Nov. 1891, S. 1-2. 82 Ν. B., „Die zionistische Partei", ebenda, Nr. 4, 23. Feb. 1892, S. 40. 83 Ebenda, S. 41. Birnbaum verglich hier den Widerstand der Neuen Freien Presse gegenüber den slawischen und irischen Nationalbewegungen mit ihrer widerstrebenden Kapitulation vor den ungarischen Forderungen. 84 Ebenda: „...die Politik, die wir wünschen, soll eben mehr eine innere, als eine äußere, mehr Selbsterziehung als Diplomatik sein." 85 „Der gegenwärtige Stand unserer Sache in Österreich", ebenda, Nr. 21, 15. Nov. 1892, S. 199-200. 86 Ebenda. 87 Ebenda, S. 199. Birnbaum gestand allerings ein, daß die Situation außerhalb Galiziens finden Zionismus wesentlich weniger vielversprechend war. Er machte dafür in erster Linie die Verwicklung der Juden in den Kampf zwischen Deutschen und Slawen verantwortlich, durch den ein allzu „hohes Maße von Entfremdung gegenüber der eigenen Nationalität" eingetreten sei. 88 Ebenda: „Das Wort Wien hat einen guten Klang bei den österreichischen Juden, man muß ihn daher den Leuten vorspielen können." 89 Ν. B., „Pflege der geistigen Güter unseres Volkes, ebenda, Nr. 7, 1. Juni 1893, S. 1-2, zu Birnbaums Kritik an der „materialistischen Trockenheit des österreichischen Judenthums", die er negativ mit den Errungenschaften des deutschen Judentums im Bereich der jüdischen Wissenschaft verglich. 90 „Das neue Statut der jüdischen Gemeinde", ebenda, Nr. 17, 1. Nov. 1893, S. 1-2. Birnbaum kritisierte insbesondere die Unzulänglichkheit des Unterrichts der hebräischen Sprache im Erziehungsprogramm der Wiener Kultusgemeinde. 91 Almog, S. 133. 92 Ν. B., „Zu den Reichsrathswahlen", in: Selbstemanzipation, 16. Feb. 1891, S. 2-3. 93 Ebenda, S. 2. „Nur die Schaffung eines Heims für unser Volk kann dessen Unglück beheben; alle andern Versuche sind Flickwerk." Siehe auch Die jüdische Moderne, S. 26.

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94 Siehe „Die Wahlreform und die Zionisten", in: Selbstemanzipation, Nr. 16,15. Okt. 1893, S. 5: „... die zu erwartenden Wahlen müssen wenigstens benützt werden, um die Todtschweigerei, welche von der deutsch geschriebenen Tagespresse gegenüber unseren Bestrebungen betrieben wird und unsere Fortschritte bedeutend verlangsamt, entgegenzuwirken." 95 Birnbaum, „Jüdische Politik", ebenda, Nr. 18,15. Juni 1895, S. 1-2. 96 Mathias Acher, Die jüdische Moderne, S. 5. 97 Siehe ebenda, S. 51 zu Birnbaums Ablehnung des politischen „Partei-Zionismus" als reine Abstraktion; eine „Schmalspur"-Kolonisierung Palästinas angesichts des türkischen Widerstandes hielt er fur unangebracht. 98 Siehe seine Besprechung von Herzls Der Judenstaat in Hermann Bahrs Zeitschrift Die Zeit, 6, Nr. 873 (Wien), 22. Feb. 1896; siehe auch Die jüdische Moderne, S. 31-38. 99 Mathias Acher, Zwei Vorträge über den Zionismus, Berlin 1898, S. 1-12.: „Der Zionismus als Culturbewegung: Referat, gehalten auf dem Zionisten-Congress in Basel am 29. Aug. 1897". 100 Ebenda, S. 5. Birnbaum unterstrich in seiner Rede das unauflösliche Band zwischen dem Zionismus, der Zukunft des jüdischen Volkes und der europäischen Kultur. Der Zionismus hätte im „Ghetto" nicht blühen können. „Erst durch den Massenaufstieg zum Europäismus im Westen wie im Osten eine Generation erstand, die von der abendländischen Civilisation mit ihren großen thatkräftigen Nationen das Wollen erlernt hatte, war die Bahn für den Zionismus geebnet." (Ebenda, S. 5-6). 101 Ebenda, S. 6.

102 Ebenda, S. 9. 103 Ebenda, S. 10-11. 104 Alex Bein, Die Judenfrage: Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980, Π, S. 280. 105 Josef Fraenkel, Mathias Achers Kampf um die „Zionskrone", Beisel 1959, S. 10.

106 Ebenda, S. 12-13. 107 Ebenda, S. 22: „Wir können uns gegen den Wagen nicht stemmen. Es heißt allenfalls in der Partei Platz und Einfluss gewinnen. Dann wird sich alles geben." 108 Siehe Zion, 31. Mai 1897, S. 382. Diese 1895 in Berlin gegründete zionistische Monatsschrift wurde von Birnbaum mit der Hilfe von Mitarbeitern wie Dr. Oskar Kokesch, Dr. Hirsch Hildesheimner, Dr. Heinrich Löwe und einigen anderen führenden Berliner Zionisten herausgegeben. Birnbaum, der sich in einer verzweifeltenfinanziellenLage befand, war 1896 von Wien nach Berlin übersiedelt, um die Position des Herausgebers zu übernehmen. 109 Josef Fraenkel, Mathias Acher Kampf, S. 31-36. 110 Ebenda, S. 41-42. 111 Ebenda, S. 46.

112 Siehe auch Werners Brief vom 13. Aug. 1897 an Birnbaum, in: ebenda, S. 49ff. 113 Ebenda, S. 55. 114 Ebenda, S. 56.

115 Ebenda, S. 60-61. Siehe auch Birnbaums Brief vom 19. Aug. 1897 an Werner, S. 66-67:

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Anmerkungen

„Ich lebe seit Jahren in den furchtbarsten Verhältnissen. Deshalb ging ich ja auch aus Wien weg. In Berlin ging's noch ärger." 116 Ebenda, S. 67. Birnbaum fuhr mit einer Beschreibung der verzweifelten Situation seiner Familie fort, mit seiner chronisch kranken Frau und seinen kleinen Kindern, die an Bronchitis litten. (Ebenda, S. 69) 117 Ebenda, S. 69-70. 118 Ebenda, S. 70. 119 Fraenkel, Mathias Achers Kampf, S. 75-78. 120 Theodor Herzl, Tagebücher, in: Gesammelte Zionistische Schriften in 5 Bdn., II, Berlin 1954, S. 594. 121 Ebenda. 122 Fraenkel, Mathias Achers Kampf, S. 83. Schallt vertrat die Ansicht: „Bei den Sozialdemokraten ist es auch so. Wir sind keine Bourgeois-Partei", ein Satz, der von mehreren Delegierten wiederholt wurde, was Herzl besonders irritierte. 123 Alex Bein etal. (Hgg.), Theodor Herzl. Briefe und Tagebücher, Berlin-Frankfurt/MainWien 1983, 6 Bde., I, S. 541: Herzl spricht von dem Antrag als dem einzigen „Mißton des Congresses, provozirt durch Schallt, einen jungen Menschen den ich mit Wohlwollen überschüttet hatte". 124 Fraenkel, Mathias Achers Kampf, S. 85-84. 125 Alex Bein etal. (Hgg), Herd. Briefe und Tagebücher, S. 541. 126 Goldsmith, S. 105. 127 Ebenda, S. 106. 128 „Der Zionismus als Kulturbewegung: Referat, gehalten auf dem Zionisten-Kongress in Basel am 29. Aug. 1897", in: Ausgewählte Schriften, I, S. 70. 129 N. Birnbaum, Die jüdische Moderne, S. 147 („Ostjüdische Aufgaben", 8. Juli 1905) 130 „Ostjüdische Aufgaben: Vortrag, gehalten am 8. Juli 1905 in der akademischen Verbindung ,Zephirah' in Czernowitz", in: Ausgewählte Schriften, I, S. 260-275; siehe auch „Etwas über Ost- und Westjuden", ebenda, S. 276-282, erstm. veröff. in: Jüdischer Volkskalender fiir das Jahr 5665 (1904-1905). 131 Zur Theorie und Praxis des Autonomismus siehe Simon Dubnow, Nationalism and History: Essays on Old and New Judaism, Hg. und Einf. von K. S. Pinson, Philadelphia 1958; Oscar Janowsky, The Jews and Minority Rights, 1898-1919, New York 1955; Kurt Stillschweig, „Nationalism and Autonomy among East European Jewry: Origin and Historical Development up to 1959", in: Jewish Social Studies, April 1944, S. 27-68; Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 299-348; und Frankel, Politics, S. 162-167, 217-224. 152 „Nationale Autonomie, in: Neue Zeitung, 2, Nr. 9, 9. Aug. 1907, S. 1. Birnbaum hatte diese Wochenzeitschrift 1906 gegründet, um seine autonomistischen politischen Ziele zu fördern. 155 Dr. Kadisch, „Rück- und Ausbücke", ebenda, 1, Nr. 11, 16. Nov. 1906, S. 1: „Jede Nation und jede Religion hat wohl das unveräußerliche Recht auf Autonomie, keine aber kann das Recht auf Herrschaft über alle anderen beanspruchen ..."

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154 Ebenda: „Eine Einigung aller auf national-sozialem Boden fußenden österreichischen Juden und weiters eine Verständigung mit den nationalen Autonomisten der übrigen Völker, welche die Juden als gleichberechtigte Nation anerkennen, ist unbedingt notwendig." 135 Goldsmith, S. 108. 156 „Jüdische Polen", Neue Zeitung, 1, Nr. 7, 19. Okt. 1906, S. 2-5; „Juden und Ruthenen", ebenda, 1, Nr. 4,28. Sept. 1906; auch ebenda, 28. Juni 1907, S. 1. 137 „Galizische Wahlen", Arbeiterzeitung, 11. Juni 1907, S. 1-5; Janowsky, S. 156-140. 158 Siehe „Wie eine strahlende Welt!" (erstmals veröff. 7. Juni 1907), in: Ausgewählte Schriften, II, S. 3-5, Birnbaums persönlicher Bericht über seine Wahlerfahrungen, voll der lyrischen Begeisterung über den Mut und die Selbstaufopferung der galizischen Ostjuden. Zu den Wahlschikanen siehe Ν. B., „Die galizischen Raubwählen", Neue Zeitung, 2, 12. Juni 1907, S. 1-2. Goldsmith, S. 109, behauptet jedoch: „Viele Juden lehnten es ab, fiir ihn zu stimmen, fürchteten sie doch, sein jüdisches Aussehen würde im Falle seiner Wahl eine neue Welle des antisemitischen Spotts und der Verleumdung auslösen." 139 „Die Sprachenfrage in der Bukowina und die Juden", in: Neue Zeitung, 2,26. Juli 1907, S. 1-2. Zur jüdischen Nationalbewegung in der Bukowina siehe den ausgezeichneten Artikel von Gerald Stourzh, „Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs?", Prag-Czernowitz-Jerusalem, in: Studio Judaica Austriaca X, 1984, S. 73-98; zu Birnbaums Rolle in dieser Bewegung siehe ebenda, S. 80. 140 Siehe „Für die jüdische Sprache", 29. Nov. 1907 und „Der ,Jargon'", in: Ausgewählte Schriften, Π, S. 54-40,46-51; auch Goldsmith, S. 109-118. 141 „Zum Sprachenstreit. Eine Entgegnung an Achad Ha'am", in: Ausgewählte Schriften, Π, S. 71. 142 „Die Emanzipation des Ostjudentums vom Westjudentum" (Herbst 1909), ebenda, S. 15-33. 143 Ebenda, S. 30: „... nicht Sympathien und Antipathieen, nicht vorgefaßte Meinungen über den ,faulen Westen' und den,gesunden Osten' liegen dem Wunsche und der Hoffnung zugrunde, dass sich das Ostjudentum gegenüber dem Westjudentum durchsetzt, sondern die Einsicht in die Todesgefahr des ganzen jüdischen Volkstums, wenn dies nicht geschieht." 144 Siehe Stillschweig, S. 50ff.; auch Max Rosenfeld, „Die jüdischen Gemeinden in Österreich", Der Jude (1916/17), S. 152-162, zur zionisten Sichtweise. 145 Leila P. Everett, „The Rise of Jewish National Politics in Galicia, 1905-1907", in: Andrei S. Markovits und Frank Ε. Sysyn (Hgg.), Nationbuilding and the Politics ofNationalism: Essays on Austrian Galicia, Harvard 1982, S. 149-177. 146 Nathan Birnbaum, „Die nationale Autonomie der Juden", Der Weg, 1, Nr. 14, S. 50, Dez. 1905, in: J. Fraenkel (Hg.), The Jews ofAustria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 154. 147 Ebenda, S. 155. In diesem Artikel polemisierte Birnbaum gegen die assimilationistische Kritik, derzufolge die Annerkennung der jüdischen Nationalität eine Rückkehr zum Ghetto und die Akzeptanz der antisemitischen Theorien bedeuten würde. Dieser Be-

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Anmerkungen

hauptung hielt er entgegen: „Kein Ghetto kann geschlossener sein als diese Atmosphäre von Zwielicht und Zweideutigkeit..." - d. h. als jenes Ghetto, das durch das Scheitern der Assimilation geschaffen wurde. „Jüdische Autonomie", Ost und West, 6, Nr. 11, 1906, in: Fraenkel, Jews of Austria, S. 146. „Die Autonomiebestrebungen der Juden in Österreich", ebenda, S. 143: „Die nationale Autonomie wird uns den neuen Juden schaffen helfen, nach dem unsere Seelen so lechzen." Siehe Nathan Birnbaum, Gottes Volk, Wien und Berlin 1918. Vom Sinn des Judentums, S. 9. Ebenda, S. 41ff. Carl Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siäcle, Frankfurt/Main 1985, S. 114. Nathan Birnbaum, „From Freethinker to Believer" (1927), in: Lucy S. Dawidowicz (Hg.), The Golden Tradition: Jewish Life and Thought in Eastern Europe, London 1967, S. 215224. Ebenda, S. 217. Ebenda, S. 219. Ebenda, S. 222. 1 3 . THEODOR H E R Z L : DAS W E R D E N EINES POLITISCHEN M E S S I A S

1 Jewish Chronicle, London, 14. Jän. 1898. 2 Siehe Josef Patai, „Herzl's School Years", in: Herzl Year Book 3, New York 1960, S. 54; er schreibt, daß Salomon Kohn, der Lehrer dieser Schule „mit der hebräischen Erneuerungsbewegung sympathisierte und begeisterte Grußschreiben sandte, als die beiden Zeitschriften Hatzefirahund Havatzelet in Jerusalem erschienen". 3 Jewish Chronicle, London, 14. Jän. 1898. 4 Reuben Brainin, Heyye Herzl, New York 1919, S. 17-18; Alex Bein, Theodor Herzl, Wien 1974, S. 21. 5 Für eine psychoanalytische Deutung nach Jung siehe Grete Mahrer, „Herzl's Return to Judaism", in: Herzl Year Book 2, New York 1959, S. 28-33. 6 Brainin; zitiert auch in: Alex Bein, Theodor Herzl, S. 25. 7 Patai, S. 60. 8 Patai, S. 68; siehe auch Andrew Händler, Don: The Life and Times of Theodor Herzl in Budapest, 1860-1878, Univ. of Alabama 1983, S. ΧΠ, der Herzl „große Begeisterung und ein tiefes Verständnis für den ungarischen Nationalismus, dessen literarische Grundlagen und politischen Ziele" bestätigt. 9 In seiner in der Jewish Chronicle (14. Jän. 1898) veröffentlichten Autobiographie bezeichnete Herzl den Antisemitismus als Grund für seine schlechten Noten und seinen Abschied von der technischen Schule. „Ich verlor bald all meine frühere Begeisterung für Logarithmen und Trigonometrie, herrschte doch damals eine betont anti-jüdische Tendenz in der Realschule." Herzl beschloß, stattdessen ein humanistisches Studium zu ver-

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folgen: „Im Gymnasium, das den Namen Evangelisches Gymnasium trug, stellten die jüdischen Burschen die Mehrheit, und daher hatten wir keinerlei Judenhetze zu beklagen." 10 Zu Istöczy siehe Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 17001933, München 1989, S. 230-235; siehe auch N. Katzburg, Ha-Antischemiut be-Hungaria, 1867-1914, Tel Aviv 1969, und Handler, S. 114-115. 11 Handler, S. 115. 12 Ebenda. 13 Diese Ähnlichkeit erklärt vielleicht die begeisterte Aufnahme von Herzls Der Judenstaat durch den antisemitischen ungarischen Abgeordneten Ivan Simonyi, 1836-1904, einen der engsten Mitarbeiter Istöczys. Als Verfasser von Die Wahrheit über die Judenfrage, 1882, hatte Simonyi sieben Jahre zuvor den Westungarischen Grenzboten mitbegründet. Auf einen in „ritterlichem Ton" gehaltenen Leitartikel in dieser Zeitschrift bezog sich Herzl in seiner Tagebucheintragung vom 26. Feb. 1896. Siehe die Tagebücher von Theodor Herzl, in: Gesammelte Zionistische Schriften in 5Bdn., Π, S. 352. Am 4. März 1896 schrieb Herzl: „Mein wärmster Anhänger ist bisher - der Preßburger Antisemit Ivan v. Simonyi, der mich mit schmeichelhaften Leitartikeln bombardiert und mir jeden Aufsatz in zwei Exemplaren zuschickt", Tagebücher, Π, S. 354. 14 Arnos Elon, Herzl, New York 1975, S. 24ff. Siehe auch Handler, S. 65-66, dessen Meinung nach die Magyarisierung Ungarns schon unmittelbar nach dem Ausgleich, also zur Zeit von Herzls Kindheit und Jugend, eingesetzt hatte. Handler räumt ein, daß Heizl die deutsche Kultur von ferne liebte und bewunderte, bleibt aber bei der Behauptung, daß er sich bestens ein die glühend patriotischen Einrichtungen seiner Budapester Jahre angepaßt hätte. 15 Für Herzls tief verwurzelte pro-preußische Gefühle gibt es zahlreiche Hinweise in seinen Tagebüchern und in seiner diplomatischen Ausrichung als zionistischer Staatsmann. Siehe die Eintragung vom 22. Juni 1895 über seine heldengleiche Verehrung des politischen Genies Bismarcks, Tagebücher, S. 143-144; siehe auch seinen Brief an Rabbi Moritz Güdemann, 22. Aug. 1895, ebenda, Π, S. 268-273, und die Eintragung vom 5. Juli 1895, ebenda, S. 223: „Wenn ich etwas sein möchte", so schreibt Herzl in sein Tagebuch, „wär's ein preußischer Altadeliger". In einer mit Berlin, 8. Okt. 1898, datierten Eintragung {ebenda, ΙΠ, S. 150-151) schrieb er die folgende Lobeshymne auf das Wilhelminische Reich: „Unter dem Protektorate dieses starken, großen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten Deutschland zu stehen, kann nur die heilsamsten Wirkungen für den jüdischen Volkscharakter haben." In seinem Roman Altneuland, Wien 1902, segelt der Protagonist Friedrich Löwenberg, d. h. Herzl selbst, als ergebener Begleiter eines aristokratischen Junkers namens Königshoff in den Südpazifik. Bezeichnenderweise war nicht eine der heroischen Phantasiefiguren oder Vorbilder ein Österreicher, eine ganze Reihe hingegen waren Preußen. 16 Siehe William M. Johnston, Österreichische Kultur-und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien-Köln-Graz 1980, 2. Aufl., S. 359-366, der sich in dem Unterkapitel „Utopisten aus Ungarn" kurz mit Herzl auseinandersetzt und auf Parallelen mit Hertzka und Nordau hinweist.

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Anmerkungen

17 Ebenda, S. 362. Zu Herzls Einstellung gegenüber dem deutschen Nationalgefiihl siehe seinen Brief an Baron Hirsch vom 3. Juni 1895: „Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.", Tagebücher; Π, S. 33. 18 Desmond Stewart, Theodor Herd: Artist and Politician, London 1974, S. 26-27. 19 Siehe Yehuda Alkalai, The Third Redemption, 1834, in Auszügen abgedruckt in: A. Hertzberg (Hg.), The Zionist Idea: A Historical Analysis and Reader, New York 1973, S. 105107. Alkalai unterstrich, daß die Erlösung „mit Anstrengungen der Juden selbst" beginnen müsse, die „sich organisieren und vereinigen, Führer wählen und ihre Exilländer verlassen müssen". Er sprach sich für die Gründung einer internationalen jüdischen Organisation aus, einer Gesellschaft, die „an den Sultan herantreten sollte, uns das Land unserer Vorväter gegen eine jährliche Rente zurückzugeben". Alkalai wanderte nach Palästina aus und ließ sich 1874 in Jerusalem nieder, als Theodor Herzl gerade 14 Jahre alt war. 20 Handler, S. 32-33. Natonek verhandelte mit der türkischen Regierung in Konstantinopel 1867 über einen Freibrief für die jüdische Ansiedlung in Palästina. 1872 wurde er mit seiner Zeitschrift Das einige Israel, in der er für eine jüdische nationale Emanzipation eintrat, zu einem Pionier-Publizisten der zionistischen Idee in Budapest. Siehe Zev. Y. Zahavi, Meha-ChatamSoferve-ad Herzl, Jerusalem 1966, S. 196-216, auf hebräisch. 21 Ein weiterer prä-Herzlscher „Zionist" in der Familie war Samuel Bilitz, 1796-1885, der Bruder von Herzls Großmutter väterlicherseits, dessen Aktivitären in bezug auf Palästina bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichten. Als österreichischer Konsularbeamter in verschiedenen Städten des Balkans siedelte er sich gegen Ende seines Lebens in Jerusalem an, in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, VIII, S. 421. 22 Ludwig Lewisohn (Hg.), Theodor Herd: Α Portrait for This Age, New York 1955, S. 3435, überzeichnet meiner Ansicht nach die assimilatiomstischen Anstöße von Jeanette Herzl und die Halbherzigkeit des jüdischen Glaubens in der Familie. Gleiches gilt für Alex Bein und alle folgenden Biographen Herzls, die die deutsche Bildung in einen allzu starken Kontrast zur jüdischen Welt jener Zeit rücken; siehe ζ. B. Stewart, S. 26. 23 Siehe Alex Bein, Theodore Herd, Philadelphia 1962, S. 64, 68-69. Zur psychosexuellen Dynamik siehe Peter Löwenberg, „Theodor Herzl: A Psychoanalytic Study in Charismatic Political Leadership", in: Benjamin B.Wolman (Hg.), The Psycho-analytic Interpretation of History, New York 1971, S. 150-191. 24 Löwenberg, S. 176, 179, 183-184. Siehe auch David Litwaks bewegenden Tribut an seine Mutter am Ende von Altneuland, in: Gesammelte Zionistische Schriften, V, Tel Aviv 1935, S. 418-419. 25 „Theodor Herzl, An Autobiography", Jewish Chronicle, 14. Jän. 1898. 26 Elon, S. 54. Diese Identifikation galt damals auch für andere jüdische Zeitgenossen wie Heinrich Friedjung, Victor Adler, Sigmund Freud, Gustav Mahler und Siegfried Lipiner, die später zu führenden Persönlichkeiten in Osterreich wurden; siehe William J. McGrath, „Student Radicalism in Vienna", in: Journal of Contemporary History 2, Nr. 3, Juli 1967, S. 183-202.

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27 Zu den Auswirkungen des durchaus unliberalen Rückschlags in den frühen 80er Jahren auf die Wiener Kultur siehe Carl E. Schorske, „Generational Tension and Cultural Change: Reflections on the Case of Vienna", Daedalus, Herbst 1978, S. 111-122. 28 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien: Eine Autobiographie, Frankfurt 1981, S. 153. 29 „Excerpts form the Correspondence between Schnitzler and Herzl", in: Midstream 6, Nr. 1, 1960, S. 348-49, Schnitzler an Herd, 5. Aug. 1892. 30 Stewart, S. 84-85. 31 Im Tancredfindet sich auch ein charakteristisches Beispiel fur Disraelis „Zionismus": „Die Weingärten Israels existieren nicht mehr, aber das ewige Gesetz schreibt den Kindern Israels vor, immer noch die Weinlese zu feiern. Eine Rasse, die weiterhin ihre Lese feiert, während sie keine Früchte mehr zu sammeln hat, wird ihre Weingärten zurückgewinnen." Der Roman entwickelt auch eine umfassende Politik für den Mittleren Osten, mit einem Wiedererstehen von Palästina-Syrien unter britischem Einfluß, der Verteidigung des Ostjudentums, der Krönung Königin Viktorias zur Kaiserin von Indien und der britischen Annexion Zyperns. Siehe Benjamin Jaffe, „A Reassessment of Benjamin Disraeli's Jewish Aspects", in: Transactions of the Jewish Historical Society ofEngland, 1975, S. 115-123. 32 Herzl war sich Disraelis Zionismus zweifellos durchaus bewußt; siehe seine Tagebücher, Π, S. 628, 15. Mai 1897: „Ich regte Kellner dazu an, eine Serie literarischer Charakterköpfe von Vertretern des Zionismus zu schreiben: Disraeli, G. Eliot, Moses Hess usw. Er ging mit Enthusiasmus darauf ein und wird mit Disraeli in der ersten Nummer beginnen." 33 Alex Bein, Theodor Herzl, Wien 1974, S. 66-67; Stewart, S. 94-95; Elon, S. 60-61. 34 Jugendtagebuch, 8./9. Feb. 1882, in: Tullo Nussenblatt (Hg.), Theodor Herzl Jahrbuch, Wien 1937, S. 22ff. 35 Ebenda, 9. Feb. 1882; siehe auch Leon Kellner, Theodor Herzk Lehrjahre, 1860-1895, Wien 1920, S. 127-134. 36 Kellner, S. 133. 37 Ebenda, S. 132. 38 Ebenda, S. 132. 39 Ebenda, S. 128. 40 Ebenda, S. 131. 41 Ebenda, S. 134. Lewisohn sieht in Theodor Herzl: Α Portrait for This Age in diesem Kommentar zu Unrecht das Echo auf das „Geschwätz der Aufklärung" (S. 39). 42 Siehe Jewish Chronicle, 14. Jän. 1898, für seine kurze Autobiographie, wo Herzl lakonisch seinen kurzfristigen Aufenthalt in Salzburg als Rechtspraktikant im Jahre 1884 mit den folgenden Worten beschreibt: „Ich wäre gerne in dieser wunderschönen Stadt geblieben, aber als Jude hätte ich nie den Posten eines Richters bekleiden können. So sagte ich Salzburg und der Juristerei gleichzeitig Lebewohl." 43 Carl E.Schorske, Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Sücle, Frankfurt/Main 1985, S. 108-109. 44 Tagebücher, Π, S. 4 45 Ebenda, S. 5. 46 Ebenda, S. 6.

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Anmerkungen

47 Zitiert nach Julius H. Schöps, Theodor Herzl und die Dreyfits-Affäre, Wien 1995, S. 12-13. 48 Carl E. Schorske, Fin de Siecle, S. 144-148. 49 Chaim Bloch, „Herzl's First Years of Struggle", in: Herd Year Book 3, New York 1960, S. 79; Julius H. Schöps, Theodor Herzl 1860-1914. Eine Text-Bild-Monographie, Wien 1995, S. 67. 50 Siehe ebenda, S. 79-82; auch Tagebücher, Π, S. 7. 51 Schorske, FindeSücle, S. 151; Bein, Theodor Herd, S. 144-145. 52 Tagebücher, Π, S. 8. Zu Herzls Ansichten hinsichtlich einer Konversion siehe Central Zionist Archives A, CZAJ ΗΝ ΠΙ, 305, Herzls Brief an Moriz Benedikt, 27. Dez. 1892, abgedruckt in: Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher: Briefe 1866-1895, Frankfurt und Wien 1983, S. 507-508. „Ich billige die Taufe jedes einzelnen Juden, der Kinder hat." Herzl informierte Benedikt, daß er beabsichtige, seinen eigenen Sohn zu taufen, „...damit er die Kränkungen und Zurücksetzungen nicht habe, die ich hatte und noch haben werde aus dem Titel meiner Judenschaft". Was ihn zurückhielt, war die Loyalität und die Dankbarkeit gegenüber seinem Vater. Weiters fühlte er, daß es eine Ehrensache war, das Judentum nicht aufzugeben, „wenn es angefeindet ist". (S. 508) 53 Tagebücher, Π, S. 9. 54 Ebenda, Π, S. 11. 55 Ebenda, II, S. 12. 56 Herzl zeichnete in seinen dramatischen Arbeiten häufig wenig schmeichelhafte Abbilder seiner Frau Julia Naschauer. Nach dem August 1891 trennte sich Herzl, nachdem seine Ehe bereits völlig zerrüttet war, von seiner Frau und den Kindern. Siehe Stewart, S. 127131, 147-151. 57 Siehe Das neue Ghetto in: Klaus Dethloff (Hg.), Theodor Herd oder Der Moses des Fin de Sücle, Wien-Köln-Graz 1986, S. 155. 58 Ebenda, S. 116. 59 Ebenda, S. 117. 60 Ebenda, S. 117; siehe auch Stewart, S. 149-150. 61 Ebenda, S. 117. 62 Zur Korrespondenz zwischen Herzl und Schnitzler bezüglich des Stückes siehe Olga Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962, S. 90ff. 63 Lewisohn, S. 46-49; Harry Zohn, „Three Austrian Jews in German Literature: Schnitzler, Zweig, Herzl", in: J. Fraenkel (Hg.), The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 79. 64 Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Schriften, V, Tel Aviv 1935, S. 100. 65 Oskar K. Rabinowicz, „Herzl the Playwright", Jewish Book Annual 18 (1960-61), S. 100-115. 66 Tagebücher, Π, S. 10. 67 Ebenda, II, S. 30. Herzl stellte sich selbst als Condottiere des Geistes Baron Hirsch ids Condottiere des Geldes gegenüber. Aber dennoch wußte er zwischen großen Philantropen wie Hirsch und Baron Edmond de Rothschild - auch wenn sie ihm die Unterstützung sei-

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ner Pläne verweigerten - und jener Schicht reicher Emporkömmlinge unter den Juden der Mittelklasse zu unterscheiden, die er verabscheute. 68 Löwenberg, S. 169-171. Siehe auch A. Hertzbergs Einführung zu The Zionist Idea, S. 47-48, in der er auf den „Nietzscheschen Zug bei Herzl" hinweist - insbesondere in bezug auf die Prometheus'schen Untertöne hinsichtlich seiner Auffassung von Mission, seinen Willen zur Veränderung und seine Fähigkeit, allein zu handeln. 69 Tagebücher, Π, S. 52. 70 Ebenda, Π, S. 25. 71 Ebenda, Π, S. 25. 72 Ebenda, Π, S. 52. Siehe auch Schorske, Fin de Sikcle, S. 155, der Bismarck als Herzls „Meister und Vorbild" bei der Manipulation der geheimnisvollen Tiefen der Volksseele bezeichnet. 73 Siehe Robert S. Wistrich, „Theodor Herzl: Between Theatre and Politics", Jewish Frontier, Juli-Aug. 1982, S. 12-13. 74 Tagebücher, Π, S. 75. Herzl fugte hinzu: „Ich operiere nicht mehr mit einzelnen Personen, sondern mit Massen: der Klerus, das Heer, die Verwaltung, die Akademie usw., für mich lauter Massenunitäten." 75 Bei seinem genialen Versuch eines Vergleichs zwischen Herzl, Schönerer und Lueger als österreichischen Meistern des politischen Gesamtkunstwerkes - zu denen man natürlich noch Adolf Hitler hinzufugen könnte - unterscheidet Carl Schorske leider nicht zwischen konstruktiven und destruktiven Zielen. Die Pioniere des Massenantisemitismus und den Vorreiter einer nationalen jüdischen Heimat als „politische Künstler" - wenn auch nur implizit - auf gleiche Ebene zu stellen, ist gefahrlich irreführend. Dennoch sind Schorskes Erkenntnisse über Herzl sehr aufschlußreich und interessant, siehe Fin de Siicle, S. 138-164. 76 Zitiert in: Löwenberg, S. 167. Siehe auch Tagebücher, Π, S. 33., 7. Juni 1895. Am 5. Juni 1895 war Herzl bei dem Besuch einer Aufführung von Wagners Tannhäuser in der Pariser Oper fasziniert von der Fähigkeit der Masse, stundenlang „dichtgedrängt, regungslos, körperlich gequält..." zu sitzen, und all das für ein Imponderabile - „für Töne! für Musik und Bilder!" (Tagebücher; II, S. 39) Dies bestätigte offensichtlich seine Auffassung von der Bedeutung der Symbolik. 77 Ebenda, ΙΠ, S. 25, 3. Sept. 1897: „Die Leute sollen sich daran gewöhnen, in diesem Kongreß das Höchste und Feierlichste zu sehen!" 78 Löwenberg, S. 166. 79 Herzl plante die Massenauswanderung der Juden bis ins letzte Detail wie eine Aufführung. Siehe ζ. B. Tagebücher, II, S. 68, 9. Juni 1895, wo er schreibt: „Folglich werde ich drüben hin auch Wiener Cafes treu verpflanzen. Mit solchen kleinen Mitteln erreiche ich die erstrebte Illusion der alten Heimat. Hinhorchen nach solchen kleinen Bedürfnissen. Sie sind sehr wichtig." Andererseits schreibt Herzl in einer Eintragung vom 4. Juni 1902 mit einer gewissen Ironie, daß er „auf dem Felde, auf dem ich geistig fast nichts geleistet habe ... als Agitator weltberühmt" geworden sei. „Obwohl ich fühle, weiß, daß ich ein Schriftsteller von großer Rasse bin oder war, der nur sein volles

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Anmerkungen

Maß nicht gegeben hat, weil er angeekelt und entmutigt wurde." (Tagebücher, IV, S. 207-208). Löwenberg, S. 167. Alain Boyer, „Assimilation et sionisme chez Herzl", in: Aspects du Sionisme: Theorie - Utopie - histoire (Actes de l'Atelier International INALCO, abgehalten am College de France, Paris 1982), S. 66-77. Theodor Herzl, Der Judenstaat, 11. Aufl., Jerusalem 1946, S . l l . Siehe Benjamin Seif (Herzls Pseudonym, das er von seinem hebräischen Neimen Binjamin Ze'ev ableitete), „Französische Zustände", in: Die Welt, Nr. 30, 24. Dez. 1897: „Nicht Nieder mit Dreyfiis' johlten sie, sondern ,Nieder mit den Juden!' Das war's vom ersten Augenblick an, und das ist es geblieben." (Siehe auch bei Julius H. Schöps, Theodor Herzl und die Dreyfus-Affäre, Wien 1955, S. 53-59)

84 Siehe ζ. B. Herzls Artikel über die Wiederaufnahme des Falles in Die mit 5, Nr. 23, 9. Juni 1899, die als Sieg des liberalen Banners der Wahrheit und Gerechtigkeit gefeiert wird. Die universalistische Schlußfolgerung lautet: „Zu den Festen der Menschlichkeit sind alle Menschen eingeladen." (Siehe Julius H. Schöps, Theodor Herzl und die Dreyfus-Affare, S. 67.) 85 Benjamin Seff, „Fünf gegen Zwei", in: Die Welt, Nr. 37, 15. Sept. 1899; auch Julius H. Schöps, Theodor Herzl und die Dreyfiis-Affäre, S. 67-73. 86 „Zionismus", in seinen Gesammelten Zionistischen Schriften, I, Tel Aviv 1934, S. 374-376. „Zum Zionisten hat mich nämlich - der Prozeß Dreyfiis gemacht. Nicht der jetzige in Rennes, sondern der ursprüngliche in Paris, dessen Zeuge ich 1894 war." 87 Ebenda, S. 375. 88 Ebenda, I, S. 376. 89 Die Argumente dagegen, der Dreyfus-Affäre eine allzu große Bedeutung beizumessen, werden angeführt bei: Henry J. Cohn, „Theodor Herzl's Conversion to Zionism", Jewish Social Studies {April 1970), S. 101-110. 90 In Der Judenstaat, S. 19, wird Österreich, wo „die Antisemiten das ganze öffentliche Leben terrorisieren", Deutschland, wo „man sie [die Juden] gelegentlich durchprügelt", Rußland, wo man „Judendörfer brandschatzt" und Frankreich gegenübergestellt - „in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schliessen sich gegen die Juden ab." Sogar in seiner Autobiographie in der Jewish Chronicle vom 14. Jän. 1898, wo es heißt „während der letzten beiden Monate meines Aufenthaltes in Paris schrieb ich das Buch ,Der Judenstaat'", werden weder Dreyfiis noch der französische Antisemitismus erwähnt. 91 Für eines von vielen Beispielen siehe Tagebücher, Π, S. 278-279: Am 20. Sept.1895 schreibt Herzl: „Die Stimmung ist eine verzweifelte unter den Juden. Die Christen sind schwer verhetzt... Dabei sieht man überall Bücke des Hasses, auch wenn man sie nicht mit der lauernden Angst eines Verfolgungswahnsinnigen in den Augen der Leute sucht... Gegen Abend ging ich auf die Landstraße. Vor dem Wahlhaus eine stumme, aufgeregte Menge. Plötzlich kam Dr. Lueger heraus auf den Platz. Begeisterte Hochrufe; aus den Fenstern schwenkten Frauen weiße Tucher. Die Polizei hielt die Leute zurück. Neben mir

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sagte einer mit zärtlicher Warme, aber in stillem Ton: Das ist unser Führer! Mehr eigentlich als alle Deklamationen und Schimpfereien hat mir dieses Wort gezeigt, wie tief der Antisemitismus in den Herzen dieser Bevölkerung wurzelt." 92 „Theodor Herzl, An Autobiography", in: Jewish Chronicle, 14. Jän. 1898: „Ich erinnere mich nicht, je irgend etwas in einer solch gehobenen Stimmung geschrieben zu haben wie dieses Buch." Seine einzige Erholung war es, der Musik Wagners zu lauschen, vor allem jener aus der Oper Tannhäuser, doch macht diese Koinzidenz den Zionismus trotz Schorskes phatasievoller Argumentation nicht zu einem Wagnerianerischen Gesamtkunstwerk; siehe Fin de Sücle, S. 157. 93 Zitiert in: David Vital, The Origins ofZionism, Oxford 1975, S. 245. 94 Der Judenstaat, S. 20-21. 95 Ebenda, S. 20-21. 96 Ebenda, S. 11. 97 Ebenda, S. 12. 98 Ebenda, S. 13. 99 Ebenda, S. 14: „Die Volkspersönlichkeit der Juden kann, will und muß aber nicht untergehen." 100 Ebenda, S. 11. 101 Ebenda, S. 30-50. In diesem Kapitel schlug Herzl einen siebenstündigen Arbeitstag, gesunde Unterkünfte, gute Schulen sowie eine Beschränkung der Frauenarbeit vor und betonte, daß der Judenstaat auf den fortschrittlichen Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit gegründet werden müsse. 102 Siehe Vital, The Origins ofZionism, S. 267-375, Zionism: The Formative Years, Oxford 1982, bietet den besten Überblick. 103 Siehe Tagebücher, I, S. 329, zur verblüffenden Reaktion von Theodor Lieben, dem Sekretär der Wiener jüdischen Gemeinde, auf Herzls „Utopia"; siehe auch „Die Wahlen in der österreichischen Cultusgemeinde", in: Die Welt, 9. Nov. 1900. Siehe auch „Wiener Wahlen", in: Die Welt, Nr. 46,14. Nov. 1902, S. 1-2, und „Die Wahlen in die Wiener Kultusgemeinde", Nr. 47, 21. Nov. 1902, S. 1-2, zu Herzls Programm einer Demokratisierung des Gemeindelebens. 104 Stefan Zweig, „König der Juden", in: Theodor Herzl: Α Memorial, Meyer W. Weisgal (Hg.), New York 1929, S. 55; abgedruckt in Herzl Year Book 3, New York 1960, S. 110. 105 Raoul Auernheimers Autobiographie Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit, Wien 1948, S. 40-41. Obwohl Auernheimer selbst an den aufgeklärten Kosmopolitismus glaubte, sah er Herzls Zionismus als eine logische und realistische Antwort auf die europäischen Nationalismen des 19. Jahrhunderts, sozusagen als „das letzte Glied in der Kette". Es sei nicht überraschend, fugte er hinzu, „daß diese nationale Protestbewegung in Österreich entsprang, wo ihr die magyarischen, tschechischen, polnischen, südslawischen und italienischen - von den deutschen nicht zu reden - Beteuerungen nationaler Unabhängigkeit vorangegangen waren." 106 Tagebücher, Π, S. 9. 107 Ebenda, Π, S. 274. In einem Brief an Rabbi Moritz Güdemann vom 22. Aug. 1895 hatte

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Anmerkungen

Herzl gesagt, „er werde ihm [Bacher] alles erklären; und er soll entscheiden, ob er das für Tat oder Schrift hält... hält er's für einen Roman, so wird es ein Roman". 108 Ebenda, Π, S. 274. 109 Ebenda, Π, S. 285; siehe auch Bein, Theodor Herzl, S. 239-242. Herzl war zu dieser Zeit vom neuen österreichischen Ministerpräsidenten Graf Kasimir Badeni der Posten eines Chefredakteurs der alten Wiener „Presse" (20. Sept. 1895) angeboten worden, eine verlockende, wenn auch mehr oder weniger „offizielle" Stellung, die er letztlich ablehnte. Sein Versuch, dieses Angebot zu nützen, um die Linie der Neuen Freien Presse gegen den Zionismus abzuschwächen, schlug fehl. Nur ungern bewilligten ihm die Eigentümer der Zeitung aber wenigstens einen Urlaub, um durch eine „Studienkommission", die in Paris oder London eingrichtet werden sollte, eine Evaluierung der zionistischen Pläne vornehmen zu lassen. 110 Tagebücher, II, S. 351, Eintragung vom 1. Feb. 1896: „Ich fiihle schon jetzt, daß ich ungeachtet meiner Leistungen unbehaglich bin."(S. 554-335) 111 Ebenda, II, S. 555. 112 Tagebücher, Π, S. 556, Eintragung vom 4. Feb. 1896. 115 Siehe Herzl, „The Solution of the Jewish Question", in: Jewish Chronicle, 17. Jän. 1896. Der deutsche Text erschien in Dr. Blochs Österreichischer Wochenschrift, 21. Feb. 1896. 114 Tagebücher, Π, S. 556-557. Einmal rief Benedikt sogar aus: „Sie sind ja gar kein Österreicher, sondern ein Ungar", worauf Herzl entschieden antwortete: „Ich bin österreichischer Staatsbürger." 115 Ebenda, ΙΠ, S. 7-8 (18. Juni 1897). 116 Ebenda, ΠΙ, S. 8. Herzl bemerkte mit kühler Ironie, daß es Liberale wie Benedikt seien, die „sich in Leitartikeln entrüsten, wenn ein Minister die Meinungsfreiheit seiner Beamten beschränkt". 117 Ebenda, ΙΠ, S. 10-11, Eintragung vom 25. Aug. 1897. 118 Ebenda, II, S. 601-605, Eintragung vom 19. März 1897. 119 Ebenda, ΙΠ, S. 544-545, Eintragung vom 24. Aug. 1899. 120 Ebenda, IV, S. 581-582, Eintragung vom 2. Mai 1904. Graf Goluchowski begegnete dem Zionismus mit Sympathie, sah es aber lieber, wenn eine andere Großmacht, allen voran England, hier die Initiative übernahm. Er riet Herzl auch, unbedingt die ungarische Regierung für sich zu gewinnen. Die positive Antwort Goluchowskis an Herzl war weitgehend durch das Interesse der russischen Regierung am Zionismus begründet. Darin unterschied er sich von zwei früheren österreichischen Ministerpräsidenten, Graf Badeni (1895-1897) und Ernest von Körber (1900-1904), die Herzls innenpolitischen Rat gesucht und gehofft hatten, seine journalistischen Dienste nutzen zu können, um das Monopol der Neuen Freien Presse zu brechen, am Zionismus aber nicht interessiert waren. Siehe Isaiah Friedman, „The Austro-Hungarian Government and Zionism: 1897-1918", in: Jewish Social Studies {Mi 1965), S. 147-167. 121 Siehe Josef Fraenkel, „Herzl and the Rothschild Familiy", in: Herzl Year Book 5, New York 1960, S. 217-256. Herzl dachte an den Wiener Oberrabbiner Güdemann, der Kontakt zu Albert von Rothschild aufnehmen sollte; Zadok Kahn (der Oberrabbiner von

Theodor Herzl: Das Werden eines politischen Messias

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Frankreich) und Nordau sollten bei Edmond de Rothschild in Paris vorstellig werden; und Joseph Cowen, J. L. Greenberg und Zangwill sollten in London an Nathan Meyer Rothschild herantreten. 122 Tagebücher, Π, S. 490-494, Eintragung vom 19. Juli 1896, wo er von „zwei Stunden dieser Kampfunterredung" mit Baron Edmond de Rothschild in Paris berichtet. Herzl sagte dem Baron, er sei „der Bogenschlüssel der ganzen Kombination" und daß er ihm, „dem philantropischen Zionisten, die Führung der ganzen Sache übergeben und sich zurückziehen wollte". Er machte auch deutlich, daß eine Weigerung Rothschilds ihn zwingen würde, „eine große Agitation an[zu]fangen, wobei die Massen noch schwerer in Ordnung zu halten sein werden, und das sei genau das, was er zu verhindern versuche. 123 Fraenkel, „Hercl and the Rothschild Family", S. 218-219; Tagebücher, Π, S. 144ff. 124 Siehe jedoch die Schlußfolgerung in Herzls Eintragung vom 18. Aug. 1895, nachdem er Rabbi Güdemann und dem Berliner Philantropen Heinrich Meyer-Cohn in einem Münchner Gasthaus seine „Rede" vorgelesen hatte. „Wir kamen zu dem Resultat, daß die Rede nicht an die Rothschilds kommen dürfe, die niedere, schnöde, eigensüchtige Menschen seien. Es müsse die Bewegung gleich ins Volk hinausgetragen werden, und zwar in Form eines Romans ... Ich muß Güdemann und M.-Cohn glauben, wenn sie mir sagen, daß die,Großen' nicht dafiir zu haben sind." (Tagebücher, Π, S. 266) 125 Fraenkel, „Herzl and the Rothschild Family", S. 219; sowie Tagebücher, Π, S. 217. 126 Siehe Tagebücher, I1,S. 45, 7. Juni 1895: „Ich bring den R's und großen Juden ihre historische Mission. J'accueillerai toutes les bonnes volontis - wir müssen einig sein - et £craserai les mauvaises (sage ich drohend dem Familienrat)." 127 Für Herzls Brief vom 26. Juli 1896 an den Oberrabbiner von Frankreich, Zadok Kahn, siehe Tagebücher, Π, S. 507. „Ich bin ein Gegner des Hauses Rothschild, weil ich es für ein Nationalunglück der Juden halte." Am 11. Juli 1896 hatte Herzl in London gesagt, daß er „keine demagogische Bewegung wolle, aber im schlimmsten Fall - wenn die Vornehmen zu vornehm sein sollten - auch die Massen in Bewegung setzen würde" (Tagebücher, Π, S. 479). 128 Für einen Artikel, in dem Herzl das „Börsenelend" analysiert, siehe Benjamin Seff in: Die Welt, 12. Nov. 1897; siehe dazu auch A. Bein, in : Theodor Herzl, Wien 1954, S. 575. 129 Siehe Moshe Schaerf, „Herzl's Social Thinking", in: Herzl Year Book 5, New York 1960, S. 199-206. 150 Siehe die Kolumne „Die Woche" in: Die Welt, 11. Juni 1897. 151 Tagebücher, Π, S. 75, Eintragung vom 11. Juni 1895. 152 Ebenda, S. 106-107. 133 Ebenda, S. 110. 154 Der Judenstaat, S. 52-59. 155 Joachim Doron, „Social Concepts Prevalent in German Zionism: 1885-1914", in: Studies in Zionism, Nr. 5, April 1982, S. 1-51. Für eine Diskussion von Herzls Ansichten siehe S.25ff. 156 Altneuland, in: Herzl, Gesammelte Zionistische Schriften in 5 Bdn., V, Tel Aviv 1955, S. 200.

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Anmerkungen

137 Ebenda, V, S. 408. Die Gesellschaft ist genossenschaftlich; man hat keinen eigentlichen Staat gebildet, sondern die „Neue Gesellschaft". 138 Ebenda, V, S. 267-268. 139 Ebenda, V, S. 270-274: „Die neue Gesellschaft beruht... auf den Ideen, die ein gemeinsames Produkt aller Kulturvölker sind." 140 Ebenda, V, S. 209-213. Der zionistische Held der Neuen Gesellschaft, David Litwak, unterstreicht, daß es keine Bevormundung des einzelnen gäbe. „Der Einzelne wird bei uns weder zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von sozialistischer Gleichmacherei geköpft. Wir kennen und schätzen die Entwicklung des Individuums, so wie wir seine wirtschaftliche Basis, das Privateigentum, respektieren und schützen" (S. 213). 141 Der „Böse" in diesem Roman, ein opportunistischer Rabbiner namens Dr. Geyer, wird in grellen Farben als der Patriot geschildert, „der Nationaljude", der „die Fremden" zu diskriminieren und gegen sie zu intrigieren sucht (V, S. 262). Ebenda, V, S. 246. 142 Ebenda, V, S. 247-248. 143 144 Ebenda, V, S. 414. Kulturelle Zionisten wie Achad Ha'am und Nathan Birnbaum kritisierten Herzl gerade aus diesem Grund, weil ihrer Ansicht nach diese „Neue Gesellschaft" keinen authentisch jüdischen Inhalt mehr hatte und die humanistischen Ideale der verwestlichten jüdischen Mittelklassenintelligenz naiv nach Palästina übertrug. Siehe Nathan Birnbaum, „Altneuland", in: Ausgewählte Schraten zurjüdischen Frage, Czernowitz 1910, Π, S. 272-276. 145 Altneuland, V, S. 144. 146 Siehe Alex Bein, Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934, S. 313, und Tagebücher, II, S. 485. 147 Zitiert nach Harry Zohn, „Die Rezeption Herzls in der jüdischen Umwelt", in: Norbert Leser (Hg.), Theodor Herzl und Das Wien des Fin de Siecle, Wien-Köln-Graz 1987, S. 101-102. 148 Stefan Zweig, Die Weltvon Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Wien 1948, S. 148. Ebenda, S. 156. 149

1 4 . D E R ZIONISMUS UND SEINE JÜDISCHEN KRITIKER

Siehe Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, Wien 1975, S. 404ff., der eine sehr informative Zusammenfassung der unterschiedlichen antizionisti1 schen Argumente bietet, die noch vor der Gründung des jüdischen Staates in Europa vorgebracht wurden. Michael Selzer (Hg.), Zionism Reconsidered: The Rejection of Jewish Normalcy, New York 1970, enthält eine Vielzahl früher religiöser Texte, die den Zionismus verurteilen, wie 2 etwa die Stellungnahme des Lubavitscher Rebbe, Rabbi Schalom Dov Baer Schneersohn (1903), oder von Nathan Birnbaum (1919). Birnbaums Schrift „In Bondage to our Fellow Jews", S. 1-9, in der er dem Zionismus vorwirft, dem Thora-Judentum gänzlich entfremdet und von der „bösen Sehnsucht" geleitet zu sein, „uns nach europäischen Vorbild

Der Zionismus und seine jüdischen Kritiker

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umzubilden,,Menschen aus uns zu machen'..." ist vor allem angesichts von Birnbaums Vorreiterrolle bei der Entstehung des österreichischen Zionismus interessant. 5 Für eine Zusammenfassung der orthodoxen Position siehe Emile Marmorstein, Heaven at Bay, London 1969, S. 79-80, der einen Brief von Rabbi Josef Chyim Sonnenfeld (18481932), geschrieben 1898, zitiert, in dem es heißt, die Zionisten glaubten, daß „der ganze Unterschied zwischen Israel und den Nationen in Nationalismus, Blut und Rasse liegt, und daß der Glaube und die Religion überflüssig sind ... Dr. Herzl kommt nicht von Gott, sondern von der Seite der Verschmutzimg ..." 4 Zu klassischen Beispielen für eine universalistische Interpretation des Judentums in einem antizionistischen Geist siehe Hermann Cohen, Religion und Zionismus, Crefeld 1916, und C. G. Montefiore, Liberal Judaism and Jewish Nationalism, London 1917. Theodor Herzl hatte sich bereits in der Frühzeit des politischen Zionismus mit vielen dieser Einwände befaßt. Siehe seinen Artikel in: Die Welt, 16. Juli 1897, und seine Kritik von Claude Montefiores Ansichten, 6. Mai 1898. 5 Martin Freud, „Who was Freud?", in: J. Fraenkel (Hg.), The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 207. 6 Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 299ff. 7 Otto Bauer, Die Nationalitäterfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 366ff. 8 Josef Ritter von Weitheimer, Zur Emancipation unserer Glaubensgenossen, Wien 1882, S.9. 9 Ebenda, S. 8. 10 Ebenda, S. 10-11. 11 „Mysteres de Vienne" (Der israelitischen Allianz zur Beachtung empfohlen), Die Neuzeit, 6. Jän. 1882, S. 2: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß von jenen Antisemiten, welche die Juden gerne als fremde Elemente verschreien möchten, ein Verein zur Deportation unserer Glaubensbrüder nach Palästina mit Jubel begrüßt werden würde." 12 Ebenda, S. 2 13 Die Neuzeit, 6. Jän. 1882, S. 3. Ganz besonders verurteilte Die Neuzeit „unberufene hebräistische Phrasenhelden, die von dem literarischen Schacher - oder was dasselbe ist, Schachar-Geiste besessen sind ..." Die Anspielung bezog sich eindeutig auf Perez Smolenskins Propaganda für Palästina im Rahmen der Wiener Hachschara. 14 „Das ,heilige' Land", in: Die Neuzeit, 9. Sept. 1881, S. 287. In diesem Leitartikel hieß es, die Hauptsponsoren des Zionismus seien christliche Missionsgesellschaften, die in der Rückkehr der Juden in das „sogenannte Land ihrer Väter" die Vorstufe zu deren Bekehrung zum Christentum sahen. 15 Zum Gespräch zwischen Pinsker (genannt „der Arzt Dr. Ν. N. aus Rußland") und Jellinek siehe Die Neuzeit, 31. März, 7. April und 14. April 1882; siehe auch Adolf Jellinek, Aus der Zeit: Tagesfragen und Tagesbegebenheiten, Budapest 1886, S. 20-81. 16 Ebenda. 17 J., „Jüdische Colonial-Politik", in: Die Neuzeit, 9. Jän. 1885, S. 12. 18 Ebenda.

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Anmerkungen

19 Ebenda. Eine Anspielung auf Jellineks anhaltende Polemik gegen die makkabäischen Bemühungen der Kadimah. 20 Die Neuzeit, 9. Jän. 1885, S. 12. 21 Ebenda. Jellineks Ausspruch „Emigration, Kolonisation, aber keine Restauration oder Restauration-Phantasien!" war die Quintessenz seiner Einstellung zu Palästina. Siehe auch M. Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek: sein lieben und Schaffen, Wien 1931, S. 215, der von einem Gespräch Jellineks mit Nathan Birnbaum und Mitgliedern der Kadimah im Frühjahr 1883 berichtet, in dem dieser seine Ablehnung des Zionismus bekräftigte, aber erklärte: „Ich glaube, daß Zion einmal wieder aufgebaut werden wird." 22 A. J., „Weihfest oder Makkabäerfest?", Die Neuzeit, 18. Dez. 1891. 23 Ebenda. „Was die Erfüllung der höchsten jüdischen Ideale, die Zukunft des jüdischen Stammes, die Ehrenrettung Zions betrifft, so können auch eine Million Makkabäer nichts dazu beitragen." 24 Birnbaum, „Angriff und Abwehr", Selbstemanzipation, Nr. 1, 5. Jän. 1892, S. 3-6. Birnbaum wies darauf hin, welche Ironie es sei, daß der religiöse Reformer Jellinek die Bezeichnung Chanukka nun im Namen der Tradition ganz fromm gegenüber ChagHa-Makkabijim (Makkabäerfest) verteidigte! 25 Ebenda, S. 4. 26 Ebenda, S. 5. 27 Ebenda. Birnbaum merkt auch an, daß gerade jene Eigenschaften, die Jellinek besonders fördern wolle, spezifisch nationale Eigenschaften seien, wodurch es töricht anmute, daß er die jüdische „Nationalität" leugne. 28 Ebenda, S. 6. Siehe auch den Artikel von Gustav Seidemann, „Unsere Legitimation", in: Selbstemanzipation, Nr. 5, 4. März 1892, S. 54-55, zu einer Polemik gegen Jellineks Argumentation gegen die jüdische nationale Causa. 29 Siehe „Die Antwort der Zionisten an das ,Freie Blatt'", in: Selbstemanzipation, 6, Nr. 4, 20. März 1893, S. 1-2. Das Freie Blatt war die Wochenzeitschrift des Christlichen Vereins zur Abwehr des Antisemitismus in Wien. Am 12. März hatte sie einen kritischen Artikel zum Zionismus veröffentlicht. Birnbaum zeigte in seiner Antwort die Oberflächlichkeit der darin vorgebrachten Argumente auf und bekräftigte: „... auch in Westeuropa und dem westlichen Mitteleuropa ist die Erlösungshoffnung im jüdischen Volke noch nicht todt... (Selbstemanzipation, 20. März 1893, S. 2) 30 Ebenda, S. 2: „Die Quelle des Antisemitismus ist der Heiß gegen das jüdische Volk, die des Zionismus die Liebe zu demselben; das Ziel des Antisemitismus ist das Unglück Israels, dasjenige des Zionismus das Glück unseres Stammes." 31 J., „Das Judenthum - eine Nationalität", ebenda, Nr. 10,10. März 1893, S. 1. Diese Polemik wurde nicht durch den Zionismus, sondern durch ein Memorandum von Kardinal Vaszary anläßlich der ungarischen Bischofskonferenz in Budapest ausgelöst, „in welchem das Judenthum nicht bloß als eine Religion, sondern auch als eine Nationalität bezeichnet wird ..." Nach Ansicht Jellineks schadete diese Erklärung den ungarischen Juden, deren glühenden magyarischen Patriotismus er überschwenglich lobte. 32 Ebenda.

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35 J., „Die Einheit des Judenthums", ebenda, Nr. 52, 11. Aug. 1895, S. 1. Siehe die Antwort Birnbaums unter dem Titel „Einheit", in: Selbstemanzipation, Nr. 13,1. Sept. 1895, S. 1-3. 34 Birnbaum, ebenda, S. 2. 35 Ebenda·. „Die jüdische Jugend lacht heute nicht mehr allein über die frommen Juden vom eilten Schlag, sie spottet auch über den ,Mosaismus'. Auch der steht der Assimilation im Wege." 56 Ebenda. 57 D. Löwy, „Literarische Nachrichten", Die Neuzeit, 28. Feb. 1896, S. 89: „Dennoch aber ist sein nüchtern entworfener und auf gesunder Grundlage combinirter Plan beachtens- u. schätzenswerth..." 58 Ebenda. 59 D. Löwy, „Zionismus", ebenda, 25. Juni 1897, S. 256-266. 40 Ebenda, S. 266: „.. .beide Männer vom Licht und Glanz ausgezeichneter Bildung, klaren Denkens, Umsicht, Einsicht und Vorsicht umstrahlt..." 41 „Judenstaat und Zukunftsstaat", ebenda, 20. Aug. 1897, S. 346. 42 Dr. Rubin Bierer, „Von dem Congress", ebenda, 27. Aug. 1897, S. 555; siehe auch „Zadoc Kahn über den Zionismus", 8. Okt. 1897, S. 412-414. 45 „Thoraund Zionismus", ebenda, 15. Jän. 1899, S. 15-14. 44 „Aus dem heiligen Lande", ebenda, 10. März 1899, S. 99; S. Fl., „Die jüdische Colonialbank", ebenda, 51. März 1899: „Der Zionisten-Congress in London", ebenda, S. 24, Aug. 1900. 45 Siehe Lucien Brunner, „Die Noth des jüdischen Volkes", ΠΙ, ebenda, 14. Sept. 1900, S. 588. 46 R., „National Judenthum", ebenda, 50. April 1897, S. 185-184. 47 Ebenda, S. 184. 48 Moritz Güdemann, „Aus meinem Leben", 4 Bde. (o. J.), im Archiv des Leo Baeck Instituts, New York, II, S. 142; III, S. 118ff., 128ff., 185-195. Der Abschnitt mit dem Titel „Meine Stellung zum Zionismus" ist auch abgedruckt in: Mordechai Eliav, „Herzl und der Zionismus aus der Sicht Moritz Güdemanns", in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, Nr. 56/57,1980, S. 160-168. 49 Herzl-Archiv, Central Zionist Archives, Η VIII509, Güdemann an Herzl, Brief vom 14. Juni 1895. Güdemann schreibt, selbst sehr positiv überrascht gewesen zu sein, „als ich bei Ihnen ein so warmes Interesse für unsere Sache wahrnehme". 50 J. Fraenkel, „The Chief Rabbi and the Visionary", The Jews of Austria, S. 119. 51 Μ. Güdemann, „Meine Stellung zum Zionismus", S. 161. 52 J. Fraenkel, S. 120. 55 Herzl Archive, CZA Η VIII509, Güdemann an Herzl, 17. Juli 1895. 54 Ebenda. 55 Ebenda. 56 CZA Η Vm 309, Güdemann an Herzl, 23. Juli 1895. 57 Güdemann, „Meine Stellung zum Zionismus", S. 162, behauptet in seinen Erinnerungen, Herzls Absichten immer nur als „eine den Wiener Juden, die damals gerade unter dem

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Anmerkungen

aufkommenden Antisemitismus heftig zu leiden hatten, hilfreiche journalistische Aktion" gesehen zu haben. 58 Ebenda, S. 165. Diese Erklärung erscheint nach ihrem Treffen in München allerdings nur wenig glaubwürdig. 59 Theodor Herzl, Tagebücher, in: Gesammelte Zionistische Schriften, Π, S. 264, Eintragung vom 18. Aug. 1895; siehe auch Alex Bein, Theodor Herzl, Wien 1974, S. 237. 60 Tagebucheintragung vom 18. 8. 1895, Tagebücher, Π, S. 266. 61 Güdemann, „Meine Stellung zum Zionismus", S. 163: „Herzl ist ein Poet, aber die Sache, so interessant sie ist, undurchführbar." 62 Siehe Tagebücher, II, S. 271, und Bein, S. 151-152, zu einem Brief Herzls vom 22. Aug. 1895 an Güdemann. 63 Herzl-Archiv, CZA Η VIII309, Güdemann an Herzl, 30. Aug. 1895. 64 Siehe Tagebücher, Π, S. 298-299, Eintragung vom 3. Nov. 1895. Als Güdemann Herzl Vorhaltungen machte, weil dieser das Angebot von Ministerpräsident Badeni zur Herausgabe einer Regierungszeitung nicht annehmen wollte, bezeichnete dieser den Oberrabbiner verärgert als „Schutzjude". 65 Herzl-Archiv, CZA Η Vm 309 (20), Güdemann an Herzl 26. Dez. 1895. 66 Siehe Herzl-Archiv, CZA Η VIII, 309, Güdemann an Herzl, 27. Jän. 1896. 67 Siehe Tagebücher, II, S. 332, 2. Feb. 1896: „,Eben hab ich an Sie gedacht', sagte er. ,Sie wissen gar nicht, welch ein großes Werk sie gemacht haben.'" Siehe auch Herzl-Archiv, CZA Η VIII 309, 2. Feb. 1896. Güdemann schrieb an Herzl: „Ich habe alles gelesen und finde nichts zu monieren." 68 Siehe Tagebücher, Π, S. 335-338, 4. Feb. 1896. 69 Ebenda, II, S. 362, 26. März 1896: „...er hat Angst vor den reichen Juden, die dagegen sind [d. h. gegen den Judenstaat]." 70 Ebenda, II, S. 601. 71 Tagebücher, II, S. 614-615. Für Herzl war es offenkundig, daß Güdemanns Schrift Nationaljudenthum „auf Wunsch der hiesigen ,upper Jews'" geschrieben worden war. Und er notierte sarkastisch: „Rothschild habe gleich nach dem Erscheinen dreißig Exemplare holen lassen". 72 Ebenda, II, S. 614. Herzls Antwort erschien in Dr. Blochs Österreichischer Wochenschrift, 23. April 1897; siehe auch in Herzl, Zionistische Schriften, I, Tel Aviv 1934, S. 140ff. 73 Güdemann, „Meine Stellung zum Zionismus", S. 164. Herzl wandte sich auch nach dieser Begegnung noch wiederholt an Güdemann, um mit ihm über den Zionismus zu diskutieren, und die beiden unterhielten noch einige Monate lang freundschaftliche Beziehungen. 74 Ebenda, S. 166. 75 Ebenda. 76 Ebenda 77 Ebenda, S. 166-167. 78 Dr. M. Güdemann, Nationaljudenthum, Leipzig und Wien 1897, S. 3. 79 Ebenda, S. 5.

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Ebenda, S. 7ff. Ebenda, S. 13-14. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 27: „Wir glauben gezeigt zu haben, daß die jüdische Religion geradezu antinational ist." Güdemann zitiert Theodor Mommsens berühmten Ausspruch, die Juden seien ein Ferment des nationalen Zerfalls in der Antike, unterstellte ihm aber, die positive Seite der Idee des Weltbürgertums nicht hinreichend zu verstehen. 86 Ebenda, S. 32-33. 87 Ebenda, S. 37. 88 Ebenda, S. 38. 89 Ebenda, S. 39. 90 Ebenda, S. 41: „Zion galt und gilt den Juden als das Symbol ihrer eigenen, aber auch die ganze Menschheit umfassenden Zukunft." 91 Ebenda, S. 42. 92 „Dr. Güdemann's National-Judentum", in: Herzl, Zionistische Schriften, I, Tel Aviv 1934, S. 144ff. 93 Ebenda, I, S. 144. 94 Ebenda, I, S. 145. 95 Ebenda, I, S. 145. 96 Ebenda, I, S. 146. 97 Ebenda, I, S. 146-147. 98 Güdemann, „Meine Stellung zum Zionismus", S. 167. 99 Ebenda. „Herzl hatte eine zu feine Natur, als daß er sich zum Haudegen geeignet hätte. Ich glaube auch, dass diese Ausartung seiner Umgebung ihm Kummer bereitete und mit zu seinem frühzeitigen Tode beigetragen hat. Ehre seinem Andenken!" 100 Ebenda, S. 168. 101 „Aus einem Briefe von Sr. Ehrw. Ob-Rabbiner Dr. Güdemann an Frau Camilla Theimer v. 19. December 1907", in: Central Archives of the History of the Jewish People, A/W 731.5. Der Brief wurde auch abgedruckt in: J. Fraenkels Artikel „The Chief Rabbi and the Visionary", Jews of Austria, S. 115-117. 102 Ebenda. 103 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700-1900, Wien und Berlin 1917, S. 465. 104 Ebenda, S. 492. 105 Ebenda, S. 493: „Die Juden als Gegner des Nationalismus waren sozusagen die frühesten Bürger der kommenden politischen Welt." 106 Siehe Robert S. Wistrich, „Austrian Social Democracy and the problem of Galician Jewry 1890-1914, LeoBaeck Yearbook 16,1981, S. 89-124. 107 Nathan Birnbaum, Ausgewählte Schriften zurjüdischen Frage, Czernowitz 1910,1, S. 298: „Oder schreckt sie etwa schon der Gedanke, sich in Zukunft mit ihrem Judentum nicht

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Anmerkungen

mehr so gut verbergen zu können wie bisher. Daß der Sturm aus dem Osten den Nebel zerreissen könnte und sie dann nackt dastehen müssten vor aller Welt, in der von ihnen geheißtesten, eigenen, in der Haut der Juden." 108 Wistrich, „Austrian Social Democracy", S. 116ff. 109 Siehe David Balakan, Die Sozialdemokratie und dasjüdische Proletariat, Czernowitz 1905, geschrieben aus der Sicht des „Bund", der sowohl den österreichischen als auch den galizischen Sozialisten aufgrund ihrer Ablehnung der jüdischen Forderungen nach Autonomie äußerst kritisch gegenübersteht. Siehe auch Mathias Acher (Nathan Birnbaum), Das Stiefkind der Sozialdemokratie, Wien 1905. Zu Diamand siehe Wistrich, „Austrian Social Democracy", S. 105ff. 110 Siehe Wistrich, Socialism and the Jews, S. 314ff., zum Wettstreit zwischen den polnischen Sozialdemokraten und den Zionisten in Galizien um die Gunst der breiten Masse der Juden. Die zionistischen Gewerkschaften, die von einem von Herzls Mitarbeitern, Saul Raphael Landau, organisiert wurden, verzeichneten in den 90er Jahren allmählich Fortschritte bei der Verbreitung zionistischer Ideen unter den jüdischen Arbeitern. Siehe S. R. Landau, Sturm und Drang im Zionismus: Rückblicke eines Zionisten, Wien 1957, S. 147-158. Auch in Wien kam es 1898 und 1899 zu Zusammenstößen zwischen Sozialdemokraten und Zionisten. 111 Max Zetterbaums Kritik erschien Anfang 1896 in Karl Kautskys einflußreicher marxistischer Zeitschrift Die Neue Zeit. Siehe auch Johann Pollak, „Der Politische Zionismus", in: Die Neue Zeit (1897-98), S. 597. „Man hat alles in Allem keine Veranlassung, den Zionismus des Dr. Herzl für mehr zu nehmen alsfiireine ephemere Erscheinung; wenn aber für mehr, so wäre dieses Mehr das Suchen nach einer schönen Pose, mit der eine nicht mehr lebende Nation zum letzten Male auf die Bühne der Geschichte tritt, tun dann gänzlich zu verschwinden." 112 „Eine Studentenprügelei", in: Arbeiterzeitung (Wien), 18. Nov. 1898, S. 4; siehe auch „ein zionistisches Gespräch", ebenda, 23. Feb. 1899, S. 6. 113 Siehe Gustav Ecksteins Rezension von Ignaz Zollschans umfangreicher Abhandlung Das Rassenproblem unter besonderer Rerücksichtigung der theoretischen Grundlagen derjüdischen Rassenfrage, Wien 1909, in: Neue Zeit (Stuttgart, 1910-1911), I, S. 60. Zollschan war ein mit dem Zionismus sympathisierender österreichisch-jüdischer Anthropologe, der vom zeitgenössischen Rassedenken in Mitteleuropa beeinflußt war, auch wenn er die Schlußfolgerung der physischen und intellektuellen „Degeneration" der Juden in Frage stellte. 114 „Der Zionismus - staatsgefahrlich", in: Arbeiterzeitung, 29. Dez. 1900, S. 5. 115 „Wiener Wahlversammlung in der Leopoldstadt", ebenda, 28. März 1907, S. 6. 116 „Der Zionisten Kongreß in Wien", in: Arbeiterzeitung, 4. Sept. 1913, S. 6-7. 117 Ebenda. 118 Ebenda. 119 Ebenda. 120 Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 370. 121 Ebenda, S. 379.

Der Zionismus und seine jüdischen Kritiker

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122 Ebenda. 123 Siehe Syrkins Artikel in der österreichischen Zeitschrift Deutsche Worte, herausgegeben von dem Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer, 18. Juli 1898, S. 298-355; siehe auch Auszüge aus seiner klassischen Abhandlung „The Jewish Problem and the Socialist-Jewish State", 1898, in: Α. Hertzberg (Hg.), The Zionist Idea: A Historical Analysis and Reader, New York 1975, S. 540ff. 124 Syrkin, „The Jewish problem", S. 345. 125 Eine seltene Ausnahme war der Schriftsteller und Dichter Richard Beer-Hofinann (18661945), ein Freund Hofinannsthals und Schnilzlers, dessen Stolz auf das Erbe seiner Vorfahren ihn dazu veranlaßte, Herzls Zionismus glühend zu unterstützen. Bereits 1898 vertrat Beer-Hofinann die Ansicht, das Experiment in Palästina solle mit der Gründung einer großen medizinischen Universität beginnen, um die Gesundheitsbedingungen im Orient zu verbessern. Siehe die Eintragung vom 9. April 1896 in den Tagebüchern von Theodor Herzl, in: Zionistische Schriften, Π, S. 564; siehe auch Sol Liptzin, „Richard Beer-Hofmann, in: J. Fraenkel (Hg.), Jews of Austria, S. 213-219. 126 Eine Krone fiirZion, Wien 1898, Abdruck in: Karl Kraus, Frühe Schriften, 1892-1900, II, München 1979, S. 298ff. 127 Ebenda, S. 314. 128 Ebenda, S. 298-299. Kraus bezog sich dabei auf Herzls Artikel „Mauschel", der am 15. Okt. 1897 in der Welt erschienen war. Mauschel (vom deutschen Wort mauscheln) war der Name, den Herzl seinen antizionistischen Gegnern gab. Der Artikel war ein beißender Angriff auf diese Kritiker, nicht ohne eine gewisse eigene antisemitische Färbung. Das Mauschel-Bild, wie Herzl es darstellte, schien den spöttischen, anklagenden Ton von Kraus' eigenem Pamphlet geradezu vorwegzunehmen. 129 Ebenda, S. 299. 150 Ebenda, S. 301: „Die den Hunger gemeinsam haben sollten, werden nach nationalen Merkmalen getrennt und gegeneinander ausgespielt." 131 Kraus, Frühe Schriften, Π, S. 505-504. 152 Ebenda, S. 304. 155 Ebenda. 134 Ebenda, S. 305. 155 Ebenda, S. 506. 136 Ebenda, S. 108-109. 137 Ebenda, S. 109: „Bestimmt, in allen umgebenden Culturen unlösbar aufzugehen und dem noch immerdar Ferment zu bleiben, erweist sich diese Wesensart stärker als ihre übereifrigen Verkünder." 138 Ebenda, S. 310. 139 Ebenda, S. 511. 140 Ebenda, S. 512. 141 Ebenda, S. 515-514. 142 Ebenda, S. 314.

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Anmerkungen

143 Harry Zohn, „Karl Kraus: Jüdischer Selbsthasser' oder ,Erzjude'?", in: Modern Austrian Literature, Bd. 8, Nr. 1/2, 1975, S. 7. 144 Stefan Zweig, „King of the Jews", in: Herd Yearbook, 1960, New York, S. 110-111. 145 Ebenda, S. 115. 1 5 . PROPHETEN DES UNTERGANGS: KARL KRAUS UND OTTO WEININGER

1 Robert Scheu, Karl Kraus, Wien 1909, S. 4-5. Ein Auszug wird in Sidney Rosenfelds interessantem Aufsatz zitiert, „Karl Kraus: the Future of a Legacy", Midstream, April 1974, S. 71-72. 2 Henry Wickham Steed, The Habsburg Monarchy, London 1913, S. 184ff. Steed beschreibt die österreichische Presse als „eine halb private, halb öffentliche Institution, in der vor allem Juden beschäftigt waren und die unter einer doppelten Kontrolle durch das offizielle Pressebüro und den Staatsanwalt steht". Dieser führende Reporter der Londoner Times sah die Neue Freie Presse als eine „Zeitung, die in konzentrierter Form und manchmal mit dämonischer Kraft die am wenigsten lobenswerten Merkmale der deutsch-österreichischen Juden verkörpert". Wie Karl Kraus vertrat auch er die Meinung, daß dieser überaus starke Einfluß ein Schlüsselfaktor für die Zunahme des österreichischen politischen Antisemitismus war. 3 Siehe J. P. Stern, „Karl Kraus and the Idea of Literature", Encounter, Aug. 1975, S. 5748, für eine interessante Analyse der Relevanz der Kraus'schen Literaturkritik der modernen Zivilisation und eine eingehende Erörterung seiner satirischen Methode. Siehe auch den Aufsatz von Erich Heller in seinem zukunftsweisenden Werk Enterbter Geist, Frankfurt/Main 1954, S. 331-370. 4 D. J. Enright, „Pure poison and blunt instruments", in: Times Literary Supplement, 5. Okt. 1984. 5 Siehe Kapitel 3, „Sprache und Gesellschaft. Karl Kraus und die letzten Tage Wiens", in: Allan Janik und Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München-Wien 1984, S. 83-117, für eine wertvolle Darstellung von Kraus' Meinung über die Sprache und deren Einfluß auf andere Wiener Intellektuelle. 6 Karl Kraus, Werke, Hg. Heinrich Fischer, 14 Bde., München 1952-1967, VII, S. 83, ΙΠ, S. 134, 326. Auch Karl Kraus, Anderthalb Wahrheiten. Aphorismen, München 1969, S. 69-80. 7 Harry Zohn, Karl Kraus, Frankfurt/Main 1990, S. 72. 8 Ebenda. 9 Siehe Nike Wagner, „Karl Kraus", in: Critique, Aug./Sept. 1975, S. 998-1010, wo auf die erotische Dimension in der Einstellung von Kraus zur Sprache eingegangen wird. 10 Janik und Toulmin, S. 94ff. Der Prototyp und Pionier dieses Genres in der deutschen Sprache war Heinrich Heine, gegen den Kraus in einem seiner Epigramme eine ätzende Polemik schrieb. Siehe Jacques le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität,Wien 1990, S. 367-371. 11 Siehe Carl Schorske, „Revolt in Vienna", in: The New York Review of Books, 29. Mai 1986, S. 25.

Propheten des Untergangs: Karl Kraus und Otto Weininger

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12 Siehe Hennann Czech und Wolfgang Mistelbauer, DasLooshaus, Wien 1977. Kraus hatte Loos im Zuge des Aufsehens, das dessen Haus am Michaelerplatz erregte, als erster verteidigt; siehe Die Fackel, Nr. 315-514,1. Dez. 1910. 15 Schorske, S. 25. 14 Ebenda, Stern, S. 41. Siehe auch Elias Canetti, Das Gewissen der Worte, München und Wien, 1975, S. 39-49, 234-256, der die außerordentliche Macht dieser Lesungen heraufbeschwört. „Es hat, zu meinen Lebzeiten, nie einen solchen Sprecher gegeben, in keinem der europäischen Sprachbereiche, die mir vertraut sind." 15 Siehe Karl Kraus, Frühe Schriften, 1892-1900,2 Bde., München 1979. 16 Nike Wagner, „Flegeljahre eines Moralisten", in: Die Zeit, Hamburg, 6. April 1979, S. 11. 17 Zu Kraus' Meinung über die weibliche Sinnlichkeit als Hauptquelle der männlichen Kreativität siehe J. Le Rider, Das Ende der Illusion, Wien 1990, S. 157-160, und Nike Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt/Mai 1986. 18 Die Fackel, Nr. 400-403, 1914, S. 92. Kraus sagte von sich selbst, daß er nicht nur gegen das Bürgertum sei, sondern auch gegen die Menschenrechte, das Wahlrecht, die Pressefreiheit, die Psychoanalyse, die Juden und das Telefon! 19 Harry Zohn, „The Stature of Karl Kraus", in: Midstream, Mäiz 1986, S. 42-48. 20 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit: Tragödie in fiinf Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien und Leipzig 1922. Mit fast 800 Seiten und insgesamt 200 Szenen ist das Werk praktisch unspielbar, wie Kraus selbst erkannte. 21 Siehe Frank Field, The Last Days ofMankind: Karl Kraus and his Vienna, London 1967; Hans Weigel, Karl Kraus oder die Macht der Ohnmacht, Wien 1968; und das Karl Kraus Lesebuch, Hg. Harry Zohn, In These Great Times, Montreal 1976. 22 Essays von Karl Kraus von 1908 bis zum Ersten Weltkrieg wurden in ein Buch aufgenommen, das unter dem Titel Untergang der Welt durch schwarze Magie, Wien 1922, erschien; darin wird die Presse als Hauptursache für das kommende Verderben bezeichnet, das Kraus schon lange vorhersah. 23 Siehe Harry Zohn, „Karl Kraus: Jüdischer Selbsthasser oder Erzjude?, in: Modern Austrian Literature 8, Nr. 1/2,1975, S. 1-15; und Robert S. Wistrich, „Karl Kraus: Jewish Prophet or Renegade?", in: European Judaism 9, Nr. 2, Sommer 1975, S. 32-38. 24 Rosenfeld, S. 79, argumentiert dahingehend, daß es „kein Ungleichgewicht" bei seinen Angriffen gegen einzelne Juden oder die Rolle der Juden im öffentlichen Leben Wiens gegeben habe. 25 Werner Kraft, Franz Kafka: Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt 1968, S. 199ff. (Zitat S. 206). Siehe auch Karl Kraus: Beiträge mm Verständnis seines Werkes, Salzburg 1956, vom selben Autor, einem leidenschaftlichen Bewunderer von Kraus, der in Jerusalem lebt. Harry Zohn, „Karl Kraus", S. 9, merkt die interessante Tatsache an, daß die positivsten Beurteilungen des Kraus'schen Werkes jüngeren Datums von Juden verfaßt wurden. 26 Kraft, Karl Kraus, S. 81ff. 27 Siehe ζ. B. Caroline Kohn, Karl Kraus, Stuttgart 1966, S. 61. 28 Berthold Viertel, „Karl Kraus: ein Charakter und die Zeit", in: Dichtungen und Dokumente, Hg. Ernst Ginsberg, München 1956, S. 261-262.

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Anmerkungen

29 Paul Neumarkt, „Kraus, Tucholsky, F. Mendelssohn: A Trio of Apostates", Jewish Currents XXVII, 11. Dez. 1973, S. 39ff; auch Erich Heller in New York Review of Books 9, Aug. 1973, S. 37: „Kraus' Antisemitismus mit all seiner problembeladenen Komplexität war eine neue Form des Unwillens des Propheten über die Anbeter des Goldenen Kalbs." 30 Sogar Rosenfeld, S. 79, der Kraus wohlwollend beurteilt, gibt zu, daß dieser dazu neigte, „zu interpretieren, was er als jüdische Überschreitungen sah, als ob diese der Ausdruck eines unveränderlichen Charakters wären und nicht die Folgen einer spezifischen sozio-historischen Entwicklung in der Diaspora". 31 Max Brod, Streitbares Leben. Autobiographie, München 1960, S. 87ff. Brod, ein Zeitgenosse von Kraus, warf ihm besonders die Bosheit seiner Angriffe auf die Ostjuden in Wien vor. 32 Theodor Lessing, Derjüdische Selbsthaß, Berlin 1930, S. 43-44: „Wohl in keiner zweiten Gestalt des gegenwärtigen Deutschland offenbart sich der geniale Selbsthaß des sittlichen Menschen in gleich unerlösbarer Tragik, denn hier war eine schöne und reine Naturkraft an ein zu guter letzt völlig fruchtloses Werk vertan, von dem nach zwei, drei Geschlechtern nichts übrigbleiben kann als ein Berg bedrucktes Papier." 33 Ebenda. Lessing interpretierte Kraus' Selbsthaß, seinen allgemeinen „Menschenhaß" und seinen „keuchenden Haß gegen Literatur" als perverse Ausdrucksformen eines „unerbittlichen und puritanischen Sittlichkeitseifers..." 34 Sol Liptzin weist im Jewish Spectator, Okt. 1972, S. 14-15, auf den „masochistischen Antisemitismus" hin, der Kraus veranlaßte, „Heine zu schmähen, Otto Weininger zu applaudieren, die Verteidiger von Dreyius zu attackieren und sich zu weigern, 1933 deutlich gegen Hitler zu sprechen". 35 Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien und Leipzig 1933, S. 269-270. Siehe auch Robert S. Wistrich, Revolutionary Jewsfrom Marx to Trotsky, London 1976, für eine Interpretation des modernen jüdischen Radikalismus in Wien und der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts insgesamt. 36 Tietze, S. 269-270. 37 Siehe Zohn, „Karl Kraus", S. 6, für ein Zitat aus Marcel Reich-Ranickis Über Ruhestörer, München 1973: „Der stets verbissene und zuweilen tragikomische Krieg, den Karl Kraus ein Leben lang gegen die österreichische Presse geführt hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als sein geheimer Kampf gegen das Jüdische oder, richtiger gesagt, gegen das, was er für das Jüdische hielt. Dieser Kampf war nichts anderes als eine schmerzhafte und hochdramatische Selbstauseinandersetzung." 38 Siehe Wistrich, „Karl Kraus", S. 32ff., und Wilma Abeles Iggers, Karl Kraus: A Viennese Critic ofthe Twentieth Century, Den Haag 1967, S. 180ff.,fiirVersuche, dieses Problem in einem historischen Kontext zu bearbeiten. 39 Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921. 40 Friedrich Austerlitz, „Karl Lueger", in: Neue Zeit, II, Stuttgart 1900-1901, S. 40. 41 Ebenda, S. 40-41. 42 Siehe J. W. Bruegel, „The Antisemitism of the Austrian Socialists. A Reassessment", in: The Wiener Library Bulletin 25, 1971/1972, Nr. 3/4, NS Nr. 24, S. 39-43, und die Replik

Propheten des Untergangs: Karl Kraus und Otto Weininger

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von Avraham Barkai, ebenda, S. 43-45. Für eine umfassende Behandlung dieser Frage siehe Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas ofAssimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 242-298. 45 Siehe „Wiener-Brief, Breslauer Zeitung 78, Nr. 202, 21. März 1897, in: Kraus, Frühe Schriften, Π, S. 31-52. 44 Artikel in der Wiener Rundschau, Nr. 12, 1. Mai 1897, ebenda, S. 53ff: „Er nähert sich insofeme dem socialdemokratischen Programme, als die Geistesarmuth fortan nicht mehr ein Privilegium gewisser bevorzügter Classen sein soll, vielmehr die allgemeine Dummheit auf der Grundlage der Gleichberechtigung angestrebt wird." 45 Ebenda, S. 65-66; auch „Wiener Brief, 19. Aug. 1897, ebenda, S. 92-95: „... der Antisemitismus, dieser irregeleitete Sozialismus der Beschränkten, dessen höchste geistige Quintessenz in dem Ausruf, Jud' gegeben ist, er hat auch Herrn Ernst Vergani zu einer Persönlichkeit gemacht..." 46 Kraus, Frühe Schriften, Π, S. 99: „Auf die Dauer wird mit der Konstatirung, daß ein anderer Mensch israelitischer Abstammung ist, kein Geschäft zu machen sein..." 47 Iggers, S. 107-109. 48 Die Fackel, Mai 1899. 49 Siehe ebenda, 19. Sept. 1915, für einen Beweis der Wertschätzung Lanz' für Karl Kraus, den er in den Rang eines Ehrenariers erhob. Eine interessante zusätzliche Information neben dieser Bewunderung ist die Tatsache, daß die Schriften von Kraus bei den Bücherverbrennungen der Nazis im Jahre 1955 verschont blieben. Neumarkt, S. 59, schreibt: „Aus einer paradoxen Laune des Schicksals heraus wurde er zu Hitlers ,anständigem Juden', dessen Schriften verschont wurden, weil er die internationale Verschwörung der jüdischen Weltfinanz aufgedeckt hatte". 50 Zu H. S. Chamberlains Artikeln über Mommsen und über katholische Universitäten siehe Die Fackel, Nov./Dez. 1901, und Nr. 92., Jän.1902, S. 1-52. Zur engen Beziehung zwischen Kraus und Chamberlain siehe Edward Timms, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse, Wien 1995, S. 325-527, und Le Rider, Das Ende der Illusion, S. 557-560. Kraus akzeptierte Chamberlains Sicht der Juden als welthistorische Kraft, die die christlich-germanische Kultur und die traditionelle europäische Zivilisation insgesamt unterminierte. 51 Die Fackel, Nr. 52, Feb. 1900, S. 22-25. 52 Ebenda, S. 12ff. 55 Ebenda, S. 22-23. 54 Ebenda, Nr. 40, Mai 1900, S. 5. 55 Ebenda·. „Wahr ist, daß in jenen Häusern, in denen die,Arbeiter-Zeitung' seit ihren täglichen Beschimpfungen der Antisemiten gerne gelesen wird, die ,Fackel' keinen Zutritt hat." 56 Für ähnlich feindselige, sozialistische Kommentare in Wien siehe „Vom Tage", in: Arbeiterzeitung, 25. Jän.1898, S. lf: „Das ganze Gelichter von der mehr oder weniger jüdischen Finanz kämpft mit fiir Dreyfus und hofft, mit dieser guten Sache seine schlechte Sache zu retten, und erwartet, wenn die Unschuld von Dreyfus erwiesen wäre, von den Verbrechen des Wuchers und der Ausbeutungfreigesprochenzu werden." Wie Kraus vermuteten auch

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Anmerkungen

die Wiener Sozialdemokraten, daß hinter der Dreyfus-Kampagne „die ganze verdächtige Bande der jüdischen Schmarotzer" Rehabilitierung suchte. 57 Du Fackel, Nr. 14, Aug. 1899, S. 3. 58 Wilhelm Liebknecht, „Nachträgliches zur „Affaire"", ebenda, Nr. 18, Sept.1899, S. 1-10; Nr. 19, Okt. 1899, S. 11-20; Nr. 21, Dez.1899, S. 1-12; und Juni 1900. 59 Für Reaktionen von Wiens antisemitischer Presse siehe „Zum Dreyfus-Scandale", in: Deutsches Volksblatt, 13. Jän.1898, S. lf.; „Der Dreyfus-Rummel", in: Ostdeutsche Rundschau, 26. Jän. 1898; „Die Juden und Zola als Vertheidiger des Dreyfus", in: Reichspost, 15. Jän.1898, S. lf. 60 „Der Prozess Esterhazy und das Judentum", in: Deutsches Volksblatt, 12. Jän.1898, S. 1. 61 Die Fackel, Nr. 14, Aug.1899, S. 3. 62 Ebenda, Nr. 11, Juli 1899, S. 6. 63 Ebenda, April 1899; siehe auch „Achtung vor dem König von Zion", ebenda, Nr. 80, Juni 1901 und Nr. 91, Jän.1902, S. 11-12. Zitiert auch in: Nike Wagner, „Theodor Herzl und Karl Kraus", in: Norbert Leser, Hg., Theodor Herzl und das Wien des Fin de Sücle, WienKöln-Graz 1987, S. 177. 64 Ebenda, Nr. 11, Juli 1899, S. 5. 65 Die Fackel, Nr. 11, Juli 1899, S. 5. 66 Ebenda, Nr. 23, Nov. 1899, S. 5ff. 67 Iggers, S. 136-137. 68 Siehe Frantisek Cervinka, „The Hilsner Affair", in: LeoBaeck Yearbook 18,1968, S. 142-161. 69 Die Fackel, Nov.1899, S. 5ff.; Nov.1900, S. 62; April 1901. 70 Iggers, S. 188-190. 71 Für eine Ubersicht der Traditionen des Kulturpessimismus in Osterreich, siehe auch Iggers, S. 204ff. 72 Die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen Kraus und Weininger werden von Hans Mayer in seiner klassischen Studie Außenseiter, Frankfurt, 1976, S. 124, sehr prägnant angerissen: „Gemeinsam der jüdische Selbsthaß. Sehr ähnlich Intonationen der konkreten Kulturkritik. Moralische Kantianer sind sie beide. Allein die Metaphysik bei Kraus ist eine solche des Untergangs, während Weininger immer noch das Bild einer emanzipierten Humanität im Sinne des 18. Jahrhunderts entwirft..." 73 Die Fackel, Nr. 165, Juli 1904. 74 Chamberlains Bestseller Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München 1899/1900, war schon in Wien, wo der Autor lebte, zu einer Zeit publiziert worden, als Weininger die Arbeit an seiner Dissertation begonnen hatte. Die beiden hatten einander bei Sitzungen der Wiener philosophischen Gesellschaft getroffen; siehe Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien- München 1985, S. 201-202. 75 Weiningers Neigung zum rassischen Gedankengut war unter den intellektuellen Juden im Wien der Jahrhundertwende keineswegs eine Ausnahme. Siehe Hans Kohn, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Otto Weininger: Aus dem jüdischen Wien der Jahrhundertwende, Tübingen 1962, S. 69: „Man kann von dem Wien der Jahrhundertwende und der Stellung jüdi-

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scher Menschen in ihm nicht sprechen, ohne zu betonen, wie sie alle von dem Nationalund Rassedenken, das um jene Zeit in Mitteleuropa und gerade in Wien überhand nahm, beeindruckt und bedrängt wurden..." 76 Dennis B. Klein, Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement, Chicago und London 1985, S. 29-30. 77 Siehe L e Rider, Der Fall Otto Weininger; S. 146-170, fur den Hintergrund zum Antisemitismus um die Jahrhundertwende. Zu der weitgehend anderen Einstellung Kraus' zur Sexualität, der in Weininger allerdings einen Verbündeten in seinem Kampf gegen die heuchlerische Moral des bürgerlichen Wien sah, siehe ebenda, S. 148ff, und Die Fackel, Nr. 157, März 1904. Kraus' etwas rätselhafte Reaktion auf Geschlecht und Charakter bestand darin, daß er begeistert Weiningers Argumente für die Misogynie unterstützte, jedoch gleichzeitig ein „Bewunderer der Frauen" blieb. Siehe auch Nike Wagner, Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt 1982, S. 168, die trotz Weiningers Misogynie dessen zahlreiche subtile psychologische Frauenbeobachtungen in seinem Buch lobt. 78 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, München 1980, S. 418. 79 Ebenda, S. 418. 80 Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 194. Dieser apolitische Charakter von Weiningers Reflexionen war für die Wiener Intellektuellen, ob jüdisch oder deutsch, im späten 19. Jahrhundert durchaus typisch. 81 Weiningers gesellschaftliche Stellung als jüdischer Intellektueller in Wien spielte bei der Richtung, die seine moralische Entrüstung nahm, dennoch eine Rolle. Siehe Michael Pollak, „Otto Weiningers Antisemitismus - eine gegen sich selbst gerichtete moralische Verurteilung des intellektuellen Spiels", in: Jacques L e Rider und Norbert Leser, Hgg., Otto Weininger, Werk und Wirkung, Wien 1984, S. 120. 82 Siehe Karl Kraus, Die Fackel, Nr. 144, Okt. 1905, S. 1-3, 15-22; und die Bücher seiner engen Freunde, Emil Lucka, Otto Weininger: Sein Werk und seine Persönlichkeit, Wien 1905, und Hermann Swoboda, Otto Weiningers Tod, Leipzig 1910; siehe auch Carl Dallago, Otto Weininger und sein Werk, Innsbruck 1912, und die sehr wertvolle Studie des norwegischen Psychiaters David Abrahamsen, The Mind and Death of α Genius, New York 1946. 83 Brief von Emil Lucka aus Wien, vom 10. Sept. 1938, abgedruckt bei Abrahamsen, S. 204-205. 84 Siehe Abrahamsen, S. 214-215, für Leopold Weiningers Brief aus Bayreuth an seine Tochter Rosa, vom 20. Aug. 1902, in dem er seine Bewunderung fur Richard Wagner ausdrückt und anmerkt, daß er in der Erziehung seiner Kinder immer größten Wert auf die Hinfuhrung zu allem Ästhetischem gelegt habe. 85 Emil Lucka, „Erinnerungen an Leopold Weininger", Der Tag, Wien, 3. Jän. 1923; siehe auch Abrahamsen, S. 14-15. 86 Im Alter von 18 Jahren sprach Otto Weininger englisch, französisch und italienisch so gut wie deutsch; außerdem beherrschte er fließend Spanisch und Norwegisch (das er lernte, um Ibsen im Original zu lesen) und konnte Lateinisch und Griechisch. Sein Wissen über das Judentum jedoch war minimal (Abrahamsen, S. 14).

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Anmerkungen

87 Brief VI, im Anhang zu ebenda, S. 204. In einem anderen Brief vom 27. Juli 1939 betont Rosa den jüdischen Hintergrund der Familie Weininger. Otto Weiningers Ubertritt zum Protestantismus am 21. Juli 1902 wurde von seinem Vater jedoch gutgeheißen. Die ganze Familie trat später zum Christentum über. 88 Briefe vom 27. Aug. 1938 und 27. Juni 1939, ebenda, S. 204, 208. 89 Abrahamsen, S. 184: „Im Grunde war die Verleugnung seiner mütterlichen Religion auch gegen seine Mutter gerichtet, die er haßte." Es gibt jedoch keinen direkten Beweis für diese Annahme. 90 William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschchte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum. 1848 bis 1938, Graz 1974, S. 169. 91 L e Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 23. 92 Ebenda, S. 35-36. 93 Siehe H. Swoboda, Die gemeinnützige Forschung und der eigennützige Forscher, Wien 1906, S. 6-7. Siehe auch den Brief Freuds vom 11. Juni 1939, bei Abrahamsen, S. 207-208, in dem Freud darauf verweist, daß Weininger selbst nie sein Patient gewesen war. Vielmehr habe er über einen seiner Freunde, der bei Freud in Behandlung stand, über seine (Freuds) durch Fließ beeinflußten Ansichten zur Bisexualität erfahren. Zu Fließ siehe Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Frankfurt/Mai 1986, S. 504, 508f., 511. Fließ warf Weininger und Swoboda vor, seine Theorie über Bisexualität zu plagiieren. Freuds eigene Beziehung zu Fließ wurde durch diesen Skandal negativ beeinflußt. 94 Abrahamsen, S. 52ff. 95 Ebenda, S. 54-55, 208; Swoboda, S. 21-22. Dennoch machte Weininger, der hagere junge Mann, den ein Hauch von Genie umgab, auf Freud einen starken persönlichen Eindruck. (Abrahamsen, S. 55). 96 L e Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 31. 97 Michel Pollak, Vienne 1900: Une identite blessSe, Paris 1984, S. 103: „ L a conversion de Weininger au protestantisme, choix d'assimilation rare dans l'Autriche catholique, se propose comme une sorte de rattachement spirituel ä l'esprit prussien et k la philosophie de Kant, 6trang&re a la tradition culturelle viennoise." 98 Leopold Thaler, „Weininger's Weltanschauung im Lichte der Kantischen Lehre", Universität Wien, Diss. 1923, S. 75: „Mit Kant hat er also gemein die Ethizität der Weltanschauung, das Primat der praktischen Vernunft... Kant war ihm ein innerer Imperativ, der Kritizismus ein Ideal der Forschung und der Philosophie .. Kant war der innere Richter semes Denkens." 99 David Luft, „Otto Weininger als Figur des fin de si£cle", in: L e Rider und Leser, Otto Weininger, S. 74-75. 100 Paul-Laurent Assoun, „Der perverse Diskurs über die Weiblichkeit", in: ebenda, S. 189190. 101 Weininger, Geschlecht und Character, S. 401. 102 Ebenda, S. 400. 103 Ebenda, S. 400-402. 104 Siehe „Essai sur Henrik Ibsen et son ,Peer Gynt'", (anläßlich des 75. Geburtstages des

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Dichters), in: Weininger, Über die letzten Dinge, Wien-Leipzig 1904, S. 26-54. Weininger fühlte sich stark zu skandinavischen Schriftstellern wie Ibsen, Strindberg und Knut Hamsun hingezogen. 105 Ebenda, S. 31-35. 106 Der volle Wortlaut ist bei Abrahamsen, S. 215, abgedruckt. 107 Ebenda. 108 Weininger, Taschenbuch und Briefe an einen Freund, Wien 1919, S. 66: „Der Haß gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Haß gegen die eigene Sexualität." 109 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 407. 110 Ebenda, S. 406. 111 Eine rassische Definition hätte, wie Weininger klar erkannte, die Möglichkeit einer Flucht vor der eigenen Herkunft ausgeschlossen und war für ihn daher inakzeptabel. Eine nationale Definition schien ebensowenig überzeugend, behaupteten doch die Juden seiner Bekanntschaft, Teil des deutschen Volkes zu sein. Außerdem sah Weininger den Zionismus als die Negation des Judentums an, zumindest nach seinem Verständnis dieses Begriffs. Solomon Liptzin deutet in seinem aufschlußreichen Buch Germany's Stepchildren, Philadelphia 1961, S. 186, an, daß Weininger das Judentum nicht als Glaube definieren konnte, „da die Wiener Juden insgesamt nicht religiöser waren als er selbst". 112 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 406. 113 Ebenda, S. 407. In einer Anmerkung behauptete Weininger jedoch auch, daß die größten Genies (Tacitus, Pascal, Voltaire, Herder, Goethe, Kant, Jean Paul, Schopenhauer, Grillparzer, Wagner) „fast stets Antisemiten waren", was darauf zurückgeht, daß „sie von allem etwas in ihrer Natur haben, und daher das Judentum verstehen können" (S. 406407). 114 Ebenda. Aus dieser Einteüung Schloß Weininger ausdrücklich „die ganz jüdischen Juden" wie die „völlig arischen Arier" aus. 115 Ebenda, S. 407-408. 116 Ebenda, S. 409. 117 Ebenda, S. 458-459. 118 Ebenda, S. 440. 119 Liptzin, S. 188-189. 120 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 441. 121 Ebenda, S. 441. 122 Mayer, S. 118-126. 123 Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 218-222. 124 Siehe Dietrich Eckart, „Das Judentum in und außer uns", Auf gut deutsch, Jän.-April 1919, in: Barbara Miller Lane und Leila J. Rupp, Nazi Ideology before 1933: A Documentation, Manchester 1978, S. 18-26; siehe auch Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, 1941-1944, Hg. W. Jochmann, Hamburg 1980, S. 148. Sowohl Eckart als auch Hitler sahen in Weininger das beste Beispiel eines „anständigen Juden", der nach der Erkenntnis der Parasitenrolle, welche die Juden unter den Völkern spielten, Selbstmord begangen hatte. Zu Weiningers Einfluß in Italien siehe Alberto Cavaglion, Otto Weininger

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Anmerkungen

in Italia, Rom 1982, und seinen Aufsatz (in Zusammenarbeit mit Michel David) „Weininger und die italienische Kultur", in: Le Rider und Leser, Otto Weininger, S. 57-48. 125 Cavaglion, S. 47; Le Rider, Otto Weininger, S. 217-219. 126 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 410. 127 Pollak, Vienne 1900, S. 103, deutet an, daß Weiningers Bemerkungen zum Staat in Zusammenhang mit seiner „... mepris pour les traditions culturelles antiphilosophiques autrichiennes et son idolatrie pour la pens£e issue des universites prussiennes" gesehen werden sollten. 128 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 411. 129 Ebenda, S. 418. 130 Siehe Robert S. Wistrich, Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum heiligen Krieg gegen Israel, Isman. b. München 1987, S. 166ff., für eine Studie des Antizionismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten. Weiningers Einstellung zum Zionismus war positiver als jene der Nationalsozialisten, seiner Ansicht nach aber war er vollkommen unrealisierbar. Für eine moderne israelische dramatisierte Darstellung der Spannung zwischen Zionismus und Judentum, wie sie sich in Weiningers Leben widerspiegelt, siehe Joshua Sobols Theaterstück, Soul of a Jew: The Death of Otto Weininger (übersetzt aus dem hebräischen Original, Nefesch Jehudi, 1982). 131 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 412. 132 Ebenda, S. 417. 133 Ebenda, S. 420. 134 Ebenda, S. 420-421. 155 Ebenda, S. 421. Weininger meinte von sich selbst, in diesem Punkt die Theorien von Richard Wagners Das Judentum in der Musik (1850) auf den angeblich antiphilosophischen und zutiefst materialistischen „jüdischen" Wissenschaftsbegriff anzuwenden. 156 Ebenda, S. 425-424. 157 Nach Weininger offenbarte sich „Echtheit" von Spinozas „Judentum" in seiner Ablehnung des freien Willens, seiner Verwendung der mathematischen Methode und seinem fehlenden Staatsverständnis, ebenda, S. 425. 158 Ebenda, S. 425. 159 Weiningers Schilderung des Nationalcharakters resultierte überwiegend in einer subjektiven und romantischen Einschätzung des „Genius". Für ihn waren die größten Namen in der britischen Philosophie die Schotten Hume und Adam Smith. Mit Ehrerbietung erwähnte er auch drei weitere Schotten, Carlyle, Hamilton und Robert Burns, sowie die Iren Bishop, Berkeley, Swift und Sterne. 140 Ebenda, S. 426-427. 141 Ebenda, S. 450. 142 Ebenda, S. 451. 145 Ebenda, S. 454-455. 144 Ebenda, S. 455.. 145 Ebenda, S. 455-456. 146 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 419.

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147 Zu Kommentaren in Wiener Zeitungen zu seinem Selbstmord siehe Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 50ff. Eine zweite Auflage seines Buches erschien im Nov. 1905. Im Dez. 1904 erschien bereits die 6. Auflage. 148 Ein gutes Beispiel für diesen Kult war vielleicht der berühmteste Wiener Philosoph des 20. Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, der selbst aus einer protestantischen jüdischen Familie stammte; er schrieb an G. E. Moore: „Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie Weininger nicht sehr bewundern... Es stimmt, daß er phantastisch ist, aber er ist großartig und phantastisch", in: Ludwig Wittgenstein, Letters to Russell, Keynes and Moore, Hg. Georg Henrik von Wright, New York 1973, S. 159. 149 A. Janik und S. Toulmin, Wittgensteins Wien, München-Wien 1984, S. 91. Siehe Dallago, S. 3ff., und den wichtigen Aufsatz von Gerald Stieg, „Otto Weiningers ,Blendung', Weininger, Karl Kraus und der Brenner-Kreis", in: Le Rider und Leser, Otto Weininger. Werk und Wirkung, Wien 1984, S. 59-70. 150 Siehe Die Fackel, Nr. 152, Jän. 1904; Nr. 212, Nov.1906; Nr. 216, Jän. 1907 für Vorwürfe des Plagiatentums, die hinsichtlich des Themas Bisexualität von Wilhelm Fließ und Richard Pfennig gegen Weininger und seinen Freund Swoboda vorgebracht wurden. 151 Ebenda, Nr. 144, Okt. 1905. Für den vollständigen Wortlaut, siehe Le Rider, Otto Weininger, S. 51-52. 152 Ebenda, Nr. 157, März 1904. 155 Siehe Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 151-152, der erwähnt, daß Kraus die polygame Sexualität als das höchste Attribut der Weiblichkeit und die Erotik als die Berufung der Frau feierte. 154 Hans Kohn, S. 34. 155 Ebenda, S. 45. Zu Weininger bemerkt Heins Kohn: „Von dem Wien der spielerischen Oberfläche, des Leichtseins, hatte er nichts, auch nichts von verbindlichem und verständnisvollem Leben mit Menschen. Seine Ethik war eine kriegerische, kompromißlose Forderung." 156 Weiningers Versuch, die grundlegende Gottlosigkeit und Unzulänglichkeit des Judentums als Glaube aufzuzeigen, beruhte auf einer erstaunlichen Unkenntnis über dessen Lehren. Siehe die detaillierte Rezension und Ablehnung seines Buchs in der Österreichischen Wochenschrift, 31. Juli 1905, S. 489-492. 157 Zu den methodologischen Problemen, den jüdischen Selbsthaß zu definieren, siehe Kurt Lewins wichtigen Aufsatz aus dem Jahr 1941 in: Resolving Social Conflicts: Selected Papers on Group Dynamics, Hg. Gertrude Weiss, New York 1948, S. 186-200. 158 Erwähnenswert ist, daß im Dritten Reich ein Kommentar zu Weininger veröffentlicht wurde, um die Gültigkeit der nationalsozialistischen Rassentheorien über die Unmöglichkeit der jüdischen Assimilation zu beweisen. Siehe die Flugschrift von Dr. Alexander Centgraf, Ein Jude treibt Philosophie, Berlin 1945, der zustimmend Theodor Lessings quasi-rassistischen Ausspruch zitiert: „Kein Mensch hat sich je von dem Zwang seines Blutes befreit." Siehe auch Nancy A. Harrowitz und Barbara Hyams, Hgg., Jews and Gender. Responses to Otto Weininger, Philadelphia 1995, und besonders B. Hyams, „Weininger and Nazi Ideology", S. 155-170.

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Anmerkungen

159 Siehe Weininger, Taschenbuch, S. 39: „Jüdische Gemeinheit und Dummheit. Der Jude ist moralisch das, was die Dummheit intellektuell ist. Er ist die Fliege, die den Esel blutig schindet." Siehe auch S. 63 für eine Fortsetzung dieser Verumglimpfung. 160 Siehe Weininger, Über die letzten Dinge, Wien und Leipzig 1904, S. 183; Abrahamsen, S. 183. 161 Sigmund Freud, „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben" (1909), in: Gesammelte Werke in achtzehn Bänden, Bd. VII, London 1940-1952, S. 271.

16. D I E JÜDISCHE IDENTITÄT SIGMUND FREUDS

1 Sigmund Freud an Marie Bonaparte, 10. Mai 1926, in: Sigmund Freud, Briefe 1873-1939, hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt/Mai 1960, S. 365 (in Hinkunft: Briefe). 2 Ebenda. 3 Ludwig Braun, „Die Persönlichkeit Freuds und seine Bedeutung Eils Bruder", in: B'nai B'rith Mittheilungen für Österreich, Mai 1926, S. 118-131. 4 Ebenda, S. 126ff. 5 Ebenda, S. 128ff. (Zitat S. 127) 6 Zitiert nach Martin Freud, „Wer war Sigmund Freud?", in: Das Jüdische Erbe, Wien, Sept. 1984, S. 79-83. 7 Siehe John Murray Cuddihy, The Ordeal of Civility: Freud, Marx, Levi-Strauss, and the Jewish Struggle with Modernity, New York 1974, S. 17-108, für eine bizarre, aber bedenkenswerte Sicht des Freudianismus als eine moderne Strategie für „Schteü"-Juden, die in die nichtjüdische Gesellschaft der Mittelschicht aufsteigen wollen. Cuddihy zufolge war die Psychoanalyse eine spezifisch jüdische Art, die „Qual der Artigkeit" zu überwinden, sich mit dem voremanzipatorischen jüdischen Selbst, dem unbezähmbaren „Es" zu versöhnen, dessen Vulgarität unterdrückt und von der bürgerlich-christlichen Respektabilität zensiert worden war. Leider wird seine Deutung durch die unhistorische Annäherung und eine Reihe von groben Ubertreibungen beeinträchtigt. 8 In einem Brief an den Bürgermeister von Pribor (Freiberg) schrieb Freud am 25. Okt. 1931: „Ich habe Freiberg im Alter von drei Jahren verlassen, es mit sechzehn Jahren als Gymnasiast auf Ferien, Gast der Familie Fluß, wiederbesucht und seither nicht wieder ... [aber] tief in mir, überlagert, lebt noch immer fort das glückliche Freiberger Kind, der erstgeborene Sohn einer jugendlichen Mutter, der aus dieser Luft, aus diesem Boden die ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hat." Briefe, S. 403. 9 Brief vom 20. Feb. 1930 an Α. A. Roback, in: Briefe, S. 391. 10 Judith Bernays Heller, „Freud's Mother and Father", in: Commentary (Mai 1956), S. 418- 421; Einest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, 3 Bde., Bern-Stuttgart 1960-1962,1, S. 19; Π, S. 219. 11 Ebenda, I, S. 38-39. Zur Zeit, als Jakob Freud diese Widmung schrieb, hatte Sigmund auf dem von ihm gewählten beruflichen Gebiet bereits viel erreicht, auch wenn er noch keinen größeren wissenschaftlichen Erfolg verzeichnen konnte. Für den vollständigen Text auf hebräisch siehe Josef Chayim Jeruschalem, Freud's Moses: Judaism Terminable and Interminable, New Haven/London 1991, S. 104-106.

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12 Ernest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, I, S. 38-59. 13 Siehe Franz Kafka, Briefe, 1902-1924, New York 1958; Marthe Robert, Sigmund Freud Zwischen Moses und Ödipus. Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse, München 1975, S. 1 Iff. Bei der Beschreibung seines eigenen Vaterkomplexes und desjenigen seiner Generation schrieb Kafka: „Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, daß dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration." Franz Kafka, Brief an Max Brod vom Juni 1912, in: Franz Kafka Briefe 1902-1924 (in: Gesammelte Werke, hg. von Max Brod), New York-Frankfurt/Mai 1958, S. 556f. 14 Robert, S. 15: „... Jakob, der Jude aus Galizien, und nicht ein sagenhafter griechischer König war zunächst für Freud der erschlagene Vater." Siehe aber auch den Brief vom 2. Nov. 1896 in: Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, Frankfurt/Main 1962, S. 149, für Freuds unmittelbare Reaktion auf den Tod seines Vaters: „Auf irgendeinem der dunklen Wege hinter dem offiziellen Bewußtsein hat mich der Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr genau verstanden und er hat viel in meinem Leben gemacht, mit der ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn ... Ich habe nun ein recht entwurzeltes Gefühl." Aber bereits am 15. Okt. 1897 sagte Freud zu Fließ: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit..." Für Freud erklärte dies die „packende" Macht des Dramas von König Ödipus, da jeder im Zuschauerraum einmal „in der Phantasie ein solcher Öedipus war..." 15 Sigmund Freud, Traumdeutung, in: Gesammelte Werke (in Hinkunft: GW), London 1940-1952,17 Bde., Bd.n/ffl, S. 205. 16 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW, IV, S. 245. 17 Martin Freud, „Wer war Sigmund Freud?", in: Das Jüdische Erbe, Wien, Sept. 1984, S. 79. Siehe auch Franz Kobler, „Die Mutter Sigmund Freuds", in: Bulletin des Leo Baeck Instituts Nr. 19,1962, S. 149-170. 18 Zitiert bei Cuddihy, S. 100-101. 19 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: GW, Bd. VI, ζ. B. S. 125-124 u. a. 20 Ebenda, S. 125. 21 Ebenda, S. 86, 125. 22 Ebenda, S. 86. Siehe die zutreffende Bemerkung von Cuddihy, S. 21: „Die plötzliche Preisgabe einer gemeinsamen Ethnizität stellte die vormoderne Gemeinschaft wieder her, die keine (öffentlichen Plätze' mit ihren ,situationsbedingten Schicklichkeiten' kannte, in der es keine Fremden gab, die keinen Unterschied zwischen Privatem und Öffentlichem machte."

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Anmerkungen

25 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Berlin 1952, S. 174. 24 Cuddihy, S. 29, vereinfacht Freuds unausgesprochene Prämisse wie folgt: „Das Es des ,Jud' ist unter dem Deckmantel westlicher Ehrbarkeit verborgen (dem,Überich')." Durch die psychoanalytische Strategie wurde die Judenfrage, im wesentlichen „ein politisch-sozialer Umstand, zu einem persönlichen Problem des einzelnen" und ein geschichtliches Unglück zu einer „universalistischen Wissenschaft des Menschen". (S. 65) Nach Cuddihy verhielt sich Freud letztlich neutral zu den nichtjüdischen Bemühungen, die Juden zu „zivilisieren". Er war für „Aufklärung", aber gegen Assimilation oder Bekehrung. 25 Freud, Selbstdarstellung, 2. Aufl., Wien 1936, S. 6-7. 26 William J. McGrath, Freud's Discovery of Psychoanalysis: The Politics of Hysteria, Cornell 1986, S. 40ff., zeigt überzeugend, daß die Josefslegende im Gefühlsleben Freuds eine zentrale Rolle spielte und Philippsons Deutung wahrscheinlich Freuds Verständnis ihrer Bedeutung beeinflußte. Siehe auch Leonard Shengold, „Freud and Josef, in: Mark Kanzer und Julius Glenn, Hgg., Freud and His Self-Analysis, New York 1979, S. 67-86. In einer Fußnote der Traumdeutung unterstreicht Freud selbst, „daß der Name Josefeine so große Rolle in meinen Träumen spielt... Hinter den Personen, die so heißen, kann ich mein Ich im Traume besonders leicht verbergen, denn Josef hieß auch der aus der Bibel bekannte Traumdeuter.u Freud, Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Π/ΙΠ, S. 488, Anm. 1. 27 Traumdeutung, in: Freud, GW, London 1940-1952, 17 Bde., Π/ΙΠ, S. 198-199. 28 Ebenda. 29 McGrath, S. 32. 50 Freud, Selbstdarstellung, S. 6, beginnt mit einer kurzen Erinnerung an diese Wanderungen: „Meine Eltern waren Juden, auch ich bin Jude geblieben. Von meiner väterlichen Familie glaube ich zu wissen, daß sie lange Zeiten am Rhein (in Köln) gelebt hat, aus Anlaß einer Judenverfolgung im 14. und 15. Jahrhundert nach dem Osten floh und im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rückwanderung von Litauen über Galizien nach dem deutschen Österreich antrat." 31 McGrath, S. 47. Siehe auch Freuds Brief vom 29. Nov. 1956 an Thomas Mann, nach dem „schönen Erlebnis" der Lektüre von Manns neuem Band Josefin Ägypten. In diesem Brief erörtert Freud detailliert „die Josefsphantasie als der geheime dämonische Motor" hinter dem Leben Napoleon Bonapartes - eines weiteren Helden seiner Kindheit (Briefe, S. 425). 52 Heinrich Braun wurde später zum Mitbegründer der Neuen Zeit (der wichtigsten marxistischen Zeitschrift in Deutschland). In einem Brief an Julie Braun-Vogelstein vom 30. 10. 1927 schreibt Freud: „Ich glaube, er bestärkte mich in der Abneigung gegen die Schule und was in ihr gelehrt wurde, weckte eine Menge von revolutionären Regungen in mir, und wir bestärkten uns gegenseitig in der Überschätzung unserer Kritik und der besseren Einsicht... Unter seinem Einfluß war ich damals entschlossen, an der Universität Jus zu studieren." (Briefe, S. 575); siehe auch Susann Heenen-Wolff, „Wenn ich Oberhuber hieße ...", in: Die Freudsche Psychoanalyse zwischen Assimilation und Antisemitismus, Frankfurt/Mai 1987, S. 41. 35 Ebenda, S. 41 sowie Briefe, S. 575. 54 Briefe, S. 575.

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55 Ebenda. 56 Freud, Selbstdarstellung, S. 7. 57 Freud berichtete über diesen seltsamen Zufall in seinem Brief an Julie Braun-Vogelstein, Briefe, S. 575. In seiner Traumdeutung, erinnert Freud sich an eine Meinungsverschiedenheit, die er mit Victor Adler im deutschen Studentenklub über die Beziehung zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften gehabt hatte: „Ich grüner Junge, der materialistischen Lehre voll, drängte mich vor, um einen höchst einseitigen Standpunkt zu vertreten. Da erhob sich ein überlegener älterer Kollege, der seitdem seine Fähigkeit erwiesen hat, Menschen zu lenken und Massen zu organisieren ... und machte uns tüchtig herunter." Siehe Freud, Traumdeutung, GW, Π/Π, S. 218. Obwohl Freud Adler beleidigte und sich trotz des allgemeinen Aufruhrs weigerte, seine Bemerkungen zurückzunehmen, erinnerte er sich, daß letzterer „zu verständig [war], um das Ansinnen einer Herausforderung ... einzunehmen, und ließ die Sache an sich beruhen". Freuds Vorliebe für die Berggasse 19, wo der viel bewunderte Adler vor ihm eine medizinische Praxis hatte, kann daher kein Zufall gewesen sein. 58 Siehe McGrath, S. 97ff. 59 Ebenda, S. 105-107. 40 Ebenda, S. 107-108. Siehe auch Sigmund Freud. Jugendbriefe an Eduard Silberstein 18711881, Hg. Walter Böhlich, Frankfurt/Main 1989. 41 McGrath, S. 109. 42 Einen starken philosophischen Einfluß übte zu dieser Zeit der aus Deutschland stammende Professor Franz Brentano (1858-1917) auf ihn aus, der eine wichtige Abhandlung über die Psychologie geschrieben hatte, die Freuds einseitigen Materialismus stark modizilierte. Zu Brentanos Einfluß in Wien nach 1874 siehe William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien-Köln-Graz 1972, S. 294ff. 45 Johnston, S. 257-244. Siehe auch Erna Lesky, Die Wiener medizinische Schule, Graz 1965; Dora Stockert-Meynert, Theodor Meynert und seine Zeit: Zur Geistesgeschichte Österreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wien 1950; und Berta Szeps-Zuckerkandl, Ich erlebte 50 Jahre Weltgeschichte, Stockholm 1959, S. 165. 44 Freud, Selbstdarstellung, S. 8-9: „Im physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke fand ich endlich Ruhe und volle Befriedigung, auch die Personen, die ich respektieren und zu Vorbildern nehmen konnte." 45 Freud, Selbstdarstellung, S. 8. 46 Freud, Traumdeutung, in: GW, Bd. Π/ΙΠ, S. 202. 47 Ebenda, S. 202. Wahrend der Gymnasialzeit Freuds stieg der Anteil der Juden sprunghaft an, von 44 % im Jahr 1865 auf 75 % 1875, dem Jahr seiner Matura; siehe Dennis B. Klein, Jewish Origins ofthe Psychoanalytic Movement, Chicago und London 1985, S. 48. 48 Freud, Traumdeutung, in: GW, Bd. Π/ΙΠ, S. 202. In dieser Selbstanalyse von 1899 untersuchte Freud natürlich die tieferen Wurzeln seines zwanghaften Wunsches, nach Rom zu fahren, und die Gründe fiir seine neurotischen Bemühungen, in Hannibals Fußstapfen zu treten. Über den Zusammenhang zwischen Rom und dem katholischen Antisemitismus in

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Anmerkungen

Österreich siehe Sebastiane» Timpanaro, „Freud's Roman Phobia", New Left Review (Sept./Okt. 1984), S. 4-32. 4 9 Stanescu, S. 1 9 9 - 2 0 0 ; Freud, „Some Early Unpublished Letters", übers, von Dse Schneider, in: International Journal ofPsychoanalysis, 5 0 , N R . 4 , 1 9 6 9 , S. 4 2 2 - 4 2 4 ; Klein, S. 4 5 . 50 Freud, „Some Early Unpublished Letters", S. 420; Klein, S. 46. 51 Freuds Brief an Emil Fluss vom 16. Juni 1873, in: Briefe, S. 5-8, in dem er seinen deutschen Stil rühmt, legt dieses assimilationistische Ziel nahe. Freud wirft seinem Freund vor, traurig über die Abreise aus Freiberg zu sein, und schreibt: „Ach, warum sind Sie ein prosaischer Jude, Emil? Handwerksburschen von christlich germanischer Innigkeit haben in solchen Lagen die schönsten Lieder gedichtet." 52 Klein, S. 46ff., merkt an, daß Freud schon 1869 oder 1870 in aller Form den deutsch klingenden christlichen Vornamen Sigmund statt des polnischen „Sigismund" annahm, den ihm sein Vater gegeben hatte. Dies war in gewisser Weise eine Ablehnung seines osteuropäischen Hintergrunds, insbesondere da der Name „Sigismund" ein beliebtes Ziel in antisemitischen Witzen war. 53 Theodor Billroth, Über das Lehren und Lernen der medianischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, Wien 1876, S. 148-152. 54 Ebenda, S. 153-154. 55 Klein, S. 51-52; Wistrich, Socialism and the Jews, S. 235. 56 Jones, I, S. 116. 57 Freud an Martha Bernays, 23. Juli 1882, in: Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jakren 1882-1886, hg. und mit einem Vorwort von Ernst L. Freud, Frankfurt 1968, S. 20. 58 Ebenda. 59 Ebenda, S. 21. 60 Ebenda, S. 21-22. Von diesem „lebensbejahenden Judentum" scheint nur wenig an Freuds Kinder weitergegeben worden zu sein. Siehe Martin Freud, „Wer war Sigmund Freud?", in: Das Jüdische Erbe, Wien, Sept. 1984, S. 79-80: „Wir wurden in unserem Elternhaus ohne Spuren eines jüdischen Rituals erzogen. Unsere Feste waren Weihnachten mit Geschenken unter einem mit Kerzen erleuchteten Weihnachtsbaum und Ostern mit bunt bemalten Ostereiern. Ich war nie in einer Syngagoge, auch meine Brüder und meine Schwestern nicht. Aber in einer Beziehung blieben wir alle Juden. Wir verkehrten in jüdischen Kreisen, unsere Freunde waren Juden, unser Doktor, unser Rechtsanwalt. Wir fuhren zum Urlaub an Orte, an denen Juden in der Mehrheit waren." 61 Siehe Freud, Totem und Tabu, in: GW, Bd. IX, und Zukunft einer Illusion, in: GW, Bd. XIV, S. 323. Im zweiten Buch bestand er darauf, daß wissenschaftliche Arbeit der einzige Weg zur Kenntnis von Realität außerhalb von uns selbst sei. Die Religion wurde andererseits als eine Illusion gesehen, die im Vaterkomplex und dem Bedürfnis nach einer Verteidigung angesichts der kindlichen Hilflosigkeit basierte. 62 Siehe Philip Rieff, Freud: The Mind of α Moralist, Berkeley 1959, Kap. 8, „The Religion of the Fathers", zu Freuds Religionspsychologie als „die letzte große Formulierung des Säkularismus im 19. Jahrhundert". 63 Robert, S. 32.

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64 Gerade dieses kompromißlos rationalistische Element sah Freud später als grundlegenden Unterschied zwischen ihm und Carl Gustav Jung an, der sich von den Resten der Religion und archaischen Bildern nicht lösen konnte. Aus dem gleichen Grund war Freud der Meinung, daß die Juden zunächst weniger Schwierigkeiten hatten als die Nichtjuden, die Psychoanalyse aufzunehmen. Freud teilte die Ansicht seines Berliner Kollegen: „Die talmudische Denkweise kann ja nicht plötzlich aus uns verschwunden sein". (SigmundFreud, Karl Abraham, Briefe, 1907-1926, hg. von Hilda C. Abraham und Ernst L. Freud, Frankfurt/ Main 1965, S. 48f.) 65 Hammerschlag war zwischen 1857 und 1875 Leiter der Religionsschule der Kultusgemeinde und ein hervorragender Pädagoge, der die Vorstellungskraft der Jugend stimulieren und zum Leben erwecken wollte, indem er auf die moralische und geistige Seite des biblischen Heldentums anspielte; siehe Klein, S. 43-44. 66 Nach Hammerschlags Tod im Jahr 1904 schrieb Freud einen Nachruf fiir die Neue Freie Presse, 11. Nov. 1904, S. 8. 67 Ebenda. 68 Siehe Samuel Hammerschlag, „Das Programm der Israel [itischen] Religionsschule in Wien", Bericht der Religionsschule der Israelitischen Cultusgemeinde in Wien über die Schuljahre 1868 und 1869, Wien 1869, für seine Meinung zum Religionsunterricht. 69 Ebenda, S. 11-12. 70 Freud an Martha Bernays, 10. Jän. 1884, in: Brautbriefe, S. 66. 71 Ebenda, S. 67. Im gleichen Brief schrieb Freud von der Tochter des Lehrers, Anna Hammerschlag, als „einem vortrefflichen Mädchen". Seine eigene Tochter Anna Freud wurde später nach ihr benannt. Eine weitere Tochter, Sophie Freud, wurde nach Samuel Hammerschlags Nichte genannt. 72 Jones, I, S. 258; Robert, S. 83. 75 Jones, I, S. 205. 74 Klein, S. 58-59. 75 Siehe den Brief an Martha Bernays vom 16. Sept.1885, in: Brautbriefe, S. 43-49. 76 Ebenda, S. 44. 77 Ebenda. 78 Der aus Mähren stammende Isaak Hirsch Weiß (1815-1905) war seit 1864 DozentfiirTalmudliteratur an der Wiener Bet ha-Midrasch gewesen. Sein Hauptwerk, das fiinfbändige DorDorve-Dorschav (1871-1891) - auf hebräisch verfaßt - beschrieb die mündliche Lehre und deren Geschichte. Weiß war sich dessen bewußt, daß er mit manchen seiner Schriften Widerspruch bei der Orthodoxie erregen würde. In seiner Autobiographie, Meine Lehrjahre (aus Sichronotaj, übers, von M. Zobel, Berlin 1956), greift er die Preßburger Jeschiwa und deren geistigen Vertreter in Wien, Rabbi Salomon Spitzer, vehement an; siehe Österreichische Wochenschrift 15,1895, S. 499f. und Peter Landesmann, Rabbiner aus Wien. Ihre Ausbildung, ihre religiösen und nationalen Konflikte, Wien 1997, S. 111-115. Einer seiner Schüler schildert ihn als abweisend und ungerecht, sogar als grob zu seinen Schülern, „wenn diese während des Unterrichtes Fragen stellten, die er für dumm hielt". (Siehe P. Landesmann, Rabbiner, S. 115)

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Anmerkungen

79 Brautbiefe, S. 45. 80 Ebenda, S. 46-47. 81 Ebenda, S. 48. 82 Ebenda. 83 Meir Friedmann (auf hebräisch Isch-Schalom) stammte aus der Slowakei, galt als außergewöhnlich belesener jüdischer Gelehrter, als populärer Redner und als ein trefflicher Pädagoge an der Bet ha-Midrasch und nach 1894 am Rabbinerseminar in Wien. Der Talmud galt für ihn als die Grundlage des Judentums, wer immer ihn verläßt, verläßt das Leben - diese Grundeinstellung hielt ihn aber nicht davon ab, ein positives Gutachten über die Möglichkeit der Mitwirkung von Frauen beim Gottesdienst abzugeben. Er bekannte sich als einziger der Lehrer der Bet ha-Midrasch zum Zionismus und forderte auch die hebräische Sprache und Kultur in der zionistischen Bewegung. Siehe sein Artikel „Die jüdische Nationalität", in: Wahrheit 3,1901, Nr. 1, S. 24; Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, VH, S. 191-192; und P. Landesmann, Rabbiner, S. 113-115. 84 Brautbriefe, S. 49. 85 S. Ε, XXI, S. 169. 86 Peter Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, München 1989, S. 111-112. Aus dem Gespräch mit Viereck schließt Gay irrtümlicherweise, daß Freud sich erst 1926 als Jude und nicht als Deutscher bezeichnet. Meiner Meinung nach besteht Professor Gay etwas zu stark auf Freuds Selbstbestimmung als Deutscher und unterschätzt das Ausmaß von dessen jüdischem Zugehörigkeitsgefühl, das nicht bloß „eine Art Trotzreaktion" war. 87 Siehe den Brief an Martha Bernays vom 23. Okt.1883, in: Brautbriefe, S. 52-53, in dem er die Laufbahn von Dr. Benedikt Stilling, 1810-1879, eines deutsch-jüdischen Anatomen, beschreibt, der die Theorie des vasomotorischen Nervensystems entwickelt hatte. Freud sah in Stillings Entschlossenheit „den Fleiß, die zähe Begeisterung des Juden, nicht einmal mit so viel Talent gepaart, als sonst beim Juden nicht selten ist". 88 Ebenda, S. 58-62. 89 Ebenda, S. 59. 90 Dr. Carl Koller (1858-1944) hatte Berühmtheit erlangt, weil er die betäubende Wirkung von Kokain bei Augenoperationen zu einer Zeit, als Freud selbst Experimente zu dessen Eigenschaften durchführte, entdeckt hatte; siehe Freud, Selbstdarstellung, S. 16. 91 Brautbriefe, S. 80. 92 Ebenda, S. 80-81. 93 Zum Einfluß von Charcot auf Freud siehe McGrath, S. 152-170. Zu seiner Reaktion auf Paris als „eine Stadt der Gefahr, des Fragwürdigen, des Irrationalen" siehe Carl E. Schorske, „Freud: The Psycho-Archaeology of Civilizations", Proceedings of the Massachusetts Historical Society 92,1980, S. 57-58. 94 Brautbriefe, S. 107; von Paris aus am 21. Okt. 1885 an Martha Bernays geschrieben. 95 Brief vom 24. Nov. 1885, ebenda, S. 111. 96 Ebenda, S. 124. 97 Ebenda, 124-125.

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98 Ebenda, S. 126. 99 Selbstdarstellung, S. 17. 100 Freud an Fließ, 4. Feb. 1888, bei Freud, Aus den Anfangen der Psychoanalyse, Freud/ Fliess Briefwechsel 1887-1902, Frankfurt/Main 1962, S. 54. 101 Siehe den ungünstigen Vergleich von Wien mit Berlin in seinem Brief vom 29. Aug. 1888, ebenda, S. 55; ebenso sein Brief vom 22. Sept. 1898, ebenda, S. 227: „Eis ist ein Elend hier zu leben, keine Atmosphäre, in der die Hoffnung, etwas Schweres zu Ende zu bringen, sich erhalten kann." Zur Komplexität seiner Beziehung zu Wien siehe Marie-Louise Testenoire, „Freud et Vienne en 1900", in: Critique 31, Nr. 359-340, Aug.-Sept. 1975, S. 819-836. 102 Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 267-268. 103 Brief vom 21. Mai 1894 an Fließ, ebenda, S. 77: „... Ich bin hier ziemlich allein mit der Aufklärung der Neurosen. Sie betrachten mich so ziemlich als einen Monomanen ein, während ich das deutliche Gefühl habe, an eines der großen Geheimnisse der Natur gerührt zu haben." 104 Brief vom 22. Juni 1894 an Fließ, ebenda, S. 86. 105 Ebenda, S. 111. 106 Brief vom 8. Nov. 1895, ebenda, S. 118-119. 107 Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Frankfurt/Main 1986, S. 385. 108 In einem Brief an Fließ vom 24. Jän. 1897 erwähnt er fälschlicherweise, daß er zugunsten eines jüngeren Kollegen übergangen worden sei. „Es läßt mich ganz kalt, wird aber vielleicht meinen definitiven Bruch mit der Universität beschleunigen." (Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 164.) 109 Ebenda, S. 165. 110 Zur Frage des Antisemitismus als Faktor bei der Verzögerung von Freuds Ernennung zum außerordentlichen Professor siehe Josef und Ren6e Gicklhorn, Sigmund Freud's akademische Laufbahn, Wien 1960, und die Entgegnung von K. R. Eissler, Sigmund Freud und die Wiener Universität, Bern 1966. 111 Siehe McGrath, S. 176ff., und Robert, S. 159, 165-166, zu Deutungen dieses Traums. 112 Traumdeutung, in: GW, Π/ΙΠ, S. 199. 113 Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 278. 114 Freud an Karl Abraham, Brief vom 23. Juli 1908, in: S. Freud/K. Abraham, Briefe 19071926, Frankfurt/Main 1980. 115 Freud, „Die Widerstände gegen die Psychoanalyse" (1925), in: Freud, GW, XIV, S. 97ff. 116 Psycho-Analysis and Faith: The Letters ofSigmund Freud and Oskar Pfister, London und New York, 1963, S. 65. 117 Siehe Briefe, S. 362-364. 118 Siehe Brief an Wilhelm Fließ, 12. Dez.1897, in: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 204, in dem Freud schreibt: „Ich habe letzten Dienstag einen Vortrag über den Traum in meinem jüdischen Verein (vor Laien) gehalten, der eine begeisterte Aufnahme fand. Nächsten Dienstag die Fortsetzung..."; siehe auch den Brief vom 11. März 1900, ebenda, S. 267-268.

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Anmerkungen

119 Klein, S. 76ff. 120 Siehe ebenda, S. 78ff, für eine Besprechung der verschiedenen Meinungen innerhalb des Vereins, wie der Wunsch nach einer unabhängigen jüdischen Gemeinde mit universellen Idealen zu vereinbaren sei. 121 Ebenda, S. 86ff. 122 Ebenda, S. 87-88. 125 Siehe Brief vom 9. Feb. 1898 an Wilhelm Fließ, in: Aus den Anfangen der Psychoanalyse, S. 210. „Zola hält uns sehr in Atem. Der brave Kerl, das wär' einer, mit dem man sich verständigen könnte." 124 Freud an Karl Abraham, 5. Mai 1908, in: Sigmund Freud, Karl Abraham, Briefe 19071926, Frankfurt/Main 1965, S. 47. 125 126 127 128 129

Ebenda. Abraham an Freud, 11. Mai 1908, ebenda, S. 48-49. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 75. Freud an Jung, 2. Sept. 1907, in: Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefwechsel, William McGuire und Wolfgang Sauerländer, Hgg., Frankfurt/Mai 1974, S. 90-91. 130 Jones, Π, S. 50. 151 Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefivechsel, S. 186. 132 Freud war der Meinung, es stünde der Psychoanalyse gut an, wenn nicht nur Juden mit ihr assoziiert würden. Dies unter anderem wegen des offenen Antisemitismus in seiner Zeit. Schon 1908 schreibt er Karl Abraham: „Unsere arischen Genossen sind uns doch ganz unentbehrlich, sonst verfiele die Psychoanalyse dem Antisemitismus." (S. Freud/K. Abraham, Briefe 1907-1926, Frankfurt 1980, S. 75) 135 Fritz Wittels, Sigmund Freud: Der Mann, dieLehre, die Schule, Wien 1924, S.124. 154 Freud, „Die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", in: GW, Bd. X, S. 45ff. (Zit.: S. 85) 135 Jung an Freud, Brief vom 31. März 1907, in: Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefivechsel, S. 27. 136 Jung an Freud, Brief vom 2. April 1909, ebenda, S. 240. 157 Freud an Jung, 13. Jän. 1910, ebenda, S. 517; siehe auch Erich Fromm, Sigmund Freuds Sendung. Persönlichkeit, geschichtlicher Standort und Wirkung, Frankfurt/Main 1959, S. 125. 138 Jung ein Freud, Brief vom ll.Feb.1910, in: Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefwechsel, S. 525- 524. 159 Ebenda, S. 524. 140 Ebenda. 141 Stefan Zweig, Die Heilung durch den Geist. Mesmer, Mary Baker-Eddy, Freud, Leipzig 1951. 142 Jones, Π, S. 199. Jones, der treueste nichtjüdische Schüler Freuds, äußerte sich erstaunt, „wie ungeheuer groß das Mißtrauen der Juden beim geringsten Anzeichen von Antisemitismus sein konnte ..." Für ihn zeigten Ferenczi wie auch Hanns Sachs diesbezüglich

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ein besonders ausgeprägtes Verhalten. Freud ortete er in dieser Frage auch als „recht empfindlich" 145 Ebenda, Π, S. 185. 144 Zu Otto Rank und dem Judentum siehe Klein, S. 103-155, für eine ausgezeichnete Zusammenfassung. Ebenso die Biographie von E. James Lieberman, Acts of Will: The Life and Work of Otto Rank, New York 1985, S. 64-65, 93-94, 220-221, 407-408, die auf Ranks jüdisches Wesen eingeht. 145 Ranks Aufsatz, „Das Wesen des Judentums", 13. Dez. 1905. 146 Rank war nicht nur der Sekretär von Freuds psychoanalytischem Kreis nach 1906, sondern auch Mitbegründer und Herausgeber von Imago (gemeinsam mit Hanns Sachs) und der Internationalen Zeitschriftfür Psychoanalyse (gemeinsam mit Ferenczi und Jones). Er war äußerst produktiv und wurde von Freud hochgeschätzt, brach mit ihm aber nach Erscheinen seines Buch Das Trauma der Geburt (1925). Siehe Freuds Brief vom 25. Aug. 1924 (zur Zeit des Bruchs) an Rank, in: Briefe, S. 553-554. 147 Klein, S. 171, 173, Anm. 6 (Anhang C). 148 Siehe Brief an James J. Putnam, vom 8. Juli 1915, der sich auf Fragen der persönlichen und gesellschaftlichen Moral bezieht, in: Briefe, S. 305. 149 Siehe Klein, S. 138ff., der einen interessanten Gedanken einbringt, indem er die Psychoanalyse als „jüdische" Bewegung sieht. 150 Fromm, S. 156. 151 Wittels, S. 134. In bezug auf Freud schrieb Wittels, dieser wollte in ein Kaleidoskop blicken, das mit Spiegeln verkleidet war, die die Bilder, die er einführte, vervielfachen würden. 152 Siehe Josef Rattner, Alfred Adler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1972, S. 9-10. 153 Ebenda, S. 26-27. 154 Siehe Hertha Olger, Alfred Adler: The Man and His Work, 4. Aufl., London 1973. 155 Manfes Sperber, Alfred Adler oder das Elend der Psychologie, Wien-München-Zürich 1970, S. 50-51. 156 Ebenda, S. 50. 157 Ebenda, S. 51. 158 Sigmund Freud, Briefwechsel mit Arnold Zweig, Frankfurt 1968, S. 155; Rattner, S. 52. 159 Gay, S. 54. 160 Freud, „Die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", in: GW, Bd. X, S. 80; siehe auch Gay, S. 51-55; Jones, S. 525. 161 Freud, „Die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", S. 80. 162 Einer von Freuds erbittertesten Gegnern war der Satiriker Karl Kraus, der das Epigramm prägte, die Psychoanalyse sei die Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich selbst halte. Kraus sah die Psychoanalyse als „jüdisch" an und wetterte oft gegen deren Verbindung zum „Ghetto". Kraus' Kommentar, daß die Juden die Presse, die Börse, und nun auch das Unbewußte hätten, konnte leicht als antisemtisch ausgelegt werden. Siehe Karl Kraus, Selected Aphorisms, hg. und übers, von Harry Zohn, Montreal 1976, S. 76-80.

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Anmerkungen

163 Freud, Zur Geschichte derpsychoanalystischert Bewegung, in: GW, X, S. 80. 164 Jones, II, S. 145. 165 Brief an Abraham, 26. Juli 1914, in: Sigmund Freud - Karl Abraham. Britfe, S. 180. Zu Jahresende schrieb Freud an Ferenczi, er würde dem Schicksal Österreichs oder Deutschlands keine einzige Träne nachweinen. 166 Ernest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, 3 Bde., Bern-Stuttgart 1960-1962, Π, S. 242. 167 Martin Freud, „Wer war Sigmund Freud?", in: Das Jüdische Erbe, Wien, Sept. 1984, S. 79-83. 168 Ebenda, S. 80. „Eine Delegation von Kadimah-Mitgliedern besuchte ihn in unserem Haus und brachte ihm das farbige Band ihrer Verbindung, welches wir ihm mit ihrer Hilfe anhefteten." 169 Ebenda, S. 80. Martin Freud liefert eine lebendige Schilderung einer gewalttätigen antisemtischen Agitation um die Jahrhundertwende während seiner Studentenzeit in Wien. Der Mut der Kadimah-Mitglieder veranlaßte ihn zum Beitritt, statt ein „bloßer Zuschauer" der ständigen Kämpfe innerhalb der Universität zu sein. Uber seinen Vater erzählt Martin Freud, daß er sehr scharf auf antisemitische Erscheinungen reagierte (während eines Sommerurlaubs sogar mit seinem Stock schwang) und seinen Kindern erklärte, „wie wir standhaft und mutig sein müssen". 170 Ebenda, S. 80-81. In einem persönlichen, dem Autor in London im Sommer 1979 gewährten Gespräch bestätigte Anna Freud diesen Bericht und ihre Kinderfreundschaft mit Trude Herzl. 171 Brief an Fließ, in dem Zolas Rolle in der Dreyfus-Aflare erwähnt wird, in: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 210-211. 172 Siehe Avner Falk, „Freud and Herzl", in: Midstream 28, Jän. 1977, S. 3-24. 173 Freud an Herzl, 28. Sept. 1902, in: Central Zionist Archives, Jerusalem. Siehe Peter Löwenberg, „Sigmund Freud as a Jew: A Study in Ambivalence and Courage", in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 7, Nr. 4, Okt. 1971, S. 367, der ids erster mein Interesse an diesem Brief weckte. 174 Sigmund Freud, „Die Traumdeutung", GW, Bd. II/III, London 1940-1952, S. 443ff. Siehe auch Peter Löwenberg, „A Hidden Zionist Theme in Freud's My Son, the Myops ... Dream", in: Journal of the History of Ideas 31, Nr. 1, Jän.-März 1970, S. 129-132. 175 Traumdeutung, in: GW, Bd. Π/ΙΠ, S. 444. 176 Löwenberg, „A Hidden Zionist Theme", S. 132, deutet ein, daß Freud Herzl angesichts der unterdrückten politischen Ambitionen in seiner eigenen Jugend unbewußt beneidet haben könnte. Gleichzeitig sollte sein eigenes Neuland ein universelleres Reich im Geist der ganzen Menschheit sein. Freuds Erlösungskonzept bestünde in der Erkenntnis, nicht in der politischen Tat. 177 Leo Goldhammer, „Herzl and Freud", in: Herzl YearBookl, New York 1958, S. 195. 178 Falk, S. 19; siehe auch die kurze Erörterung bei McGrath, S. 314-316. 179 Siehe Carl E. Schorske, „Politics and Patricide in Freud's Interpretation of Dreams", The American Historical Review 78, Nr. 2, April 1973, S. 328-347, fiir eine meisterhafte Er-

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klärung von Freuds Einstellung zur soziopolitischen Realität in Österreich und deren Auswirkung auf die Entstehung der Psychoanalyse. Auf diesen Aspekt wurde in McGraths Buch näher eingegangen. 180 McGrath, S. 317. 181 Ebenda, S. 295ff.; siehe auch Martin S. Bergmann, „Moses and the Evolution of Freud's Jewish Identity", in: The Israel Annals ofPsychiatry and Related Disciplines 14, März 1976, S. 5-26. 182 Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion, S. 346. 183 Timpanaro, S. 7ff. 184 Siehe Schorske, „Politics and Patricide", S. 556ff., zu dieser Deutung von Freuds RomTräumen. 185 Robert Gordis, „The Two Faces of Freud", in: Judaism 24, Nr. 94, Frühling 1975, S. 194-200, kommt in seinem Aufsatz auf dieses vernachlässigte Thema zu sprechen. 186 Brief zitiert in Ernst Simons Aufsatz „Sigmund Freud, The Jew", in: LeoBaeck Yearbook 2, 1957, S. 275. 187 Brief an Enrico Morseiii, datiert mit 18. Feb. 1926, in: Briefe, S. 362. Morselli war der Autor von La Psicanalisi, Turin 1926, wo behauptet wurde, daß die Psychoanalyse ein direktes Produkt des jüdischen Geistes sei. Freud betonte, daß er sich nicht „beschämt fühlen" würde, wäre dies wahr, auch wenn er keine eindeutige Meinung dazu abgab. 188 Ebenda, S. 362. 189 In diesem Zusammenhang ist Wilhelm Reichs negative Sicht von Freuds jüdischem Wesen erhellend; siehe Wilhelm Reich, Reich Speaks of Freud, Harmondsworth 1975, S. 64ff. Reich, der politisch von den Schülern Freuds die radikalste Meinung vertrat, unterstrich, daß Freud im Stil, Denken und in seinen Interessen „wirklich deutsch" war. Dennoch beschrieb er Freud als einen Zionisten, der sich von dem Jüdischen nicht losreißen konnte, das er von Herzen verabscheute. Reich war der Meinung, daß Freud „charakterlich, religiös oder national" überhaupt nicht jüdisch war. Diese Beurteilung mag vielleicht eine Projektion von Reichs eigenem radikalem Assimilationismus und seinen antijüdischen Gefühlen gewesen sein. 190 Vorrede zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu, in: GW, Bd. XIX, S. 569. Das Vorwort wurde von Freud in Wien im Dez. 1930 geschrieben. 191 Ebenda. 192 Gay, S. 60ff. betont zu Recht Freuds enormes Interesse an der klassischen Archäologie, die sich in seiner Sammlung von Statuetten, Bronzen und Terrakotten, wie auch in seinen Schriften äußerte. Daß er den Archäologen Schliemann beneidete, der Schicht um Schicht das antike Troja entdeckte, war in dieser Hinsicht symptomatisch. 193 Das Thema des Vatermords und der Aggression gegen Vaterfiguren war bei Freud zwanghaft und schon lange vor seinem Interesse an Moses vorhanden. Für diese Verbindung zu Freuds unsicherem und feindseligem Verhältnis zum Judentum siehe Lion Vogel, „Freud's Judaism: An Analysis in the Light of his Correspondence", in: Judaism 24, Nr. 94, Frühling 1975, S. 181-193, und David Aberbach, „Freud's Jewish Problem", in: Commentary, Juni 1980, S. 35-39. Marthe Roberts D'CEdipe ά Moise enthält die detaillierte-

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Anmerkungen

ste Interpretation seines Vaterkomplexes und der Rolle, die dieser bei der Ausformung seiner jüdischen Identität spielte. 194 Freud, „Der Moses des Michelangelo", in: GW, Bd. X, S. 172-201. 195 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: GW, Bd. XVI, S. 146,215. 196 Ebenda, S. 197. 197 Ebenda, S. 213. 198 Ebenda, S. 213-214. Siehe auch der Brief von Freud an Arnold Zweig vom 50. Sept. 1934, in dem die äußere Motivation zu dem Buch erklärt wird. „Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel gefunden: Moses hat den Juden geschaffen" {Sigmund Freud, Arnold Zweig. Briefwechsel, Ernst L. Freud, Hg. Frankfurt/Main 1968, S. 102). 199 Freud, Der Mann Moses, S. 218-219. 200 Siehe seinen Brief an Charles Singer vom 31. Okt. 1958, in: Briefe, S. 445-446. 17. ARTHUR SCHNITZLERS W E G INS FREIE

1 Siehe Hans Kohn, „Eros and Sorrow. Notes on the Life and Work of Arthur Schnitzler and Otto Weininger", in: LeoBaeck Yearbook 6, 1961, S. 152ff. 2 Siehe William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien-Köln-Graz 1974, S. 175ff., zu Schnitzler, dem Wiener Impressionismus und der Faszination des Todes. 5 Sigmund Freud an Arthur Schnitzler, 8. Mai 1906, in: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, hg. von Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg, Stuttgart 1981, S. 651. 4 Ebenda. 5 Ebenda, S. 651-653. 6 Ebenda, S. 652-653. 7 Zitiert in der Einführung zu Kurt Bergel, Hg., Georg Brandes und Arthur Schnitzler: Ein Briefwechsel, Bern 1956, S. 29. 8 Siehe Schnitzlers Gespräch mit George Sylvester Viereck in Vierecks Buch, Glimpses of the Great, London 1953, S. 53. 9 Es war kein Zufall, daß einige von Freuds frühen Anhängern Schnitzlers QLuvre schätzten. Siehe v.a. Hanns Sachs, „Die Motivgestaltung bei Schnitzler", Imago 2, 1913, S. 302-318, und Theodor Reiks Buch Arthur Schnitzler als Psychologe, München 1913. Zu Schnitzlers kritischer Antwort auf Reiks Analyse siehe Nata Minor, „Capitales de nonlieu: Vienne, Freud, Schnitzler", Critique 51, Nr. 559-540, August/Sept. 1975, S. 857-845. 10 Meynert hielt nichts von Freuds Experimenten mit Kokain und seiner Begeisterung für die Hypnose und die französische Psychiatrie; siehe Johnston, S. 259. 11 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Wien-München-Zürich 1968, S. 318.

Arthur Schnitzlers Weg ins Freie

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12 Minor, S. 843. 15 Schnitzler, Jugend in Wien, S. 15, zeigte wenig Interesse für den provinziellen ungarischen Hintergrund seines Vaters: „Sicher ist nur, daß mich weder Sehnsucht noch Heimweh jemals nach Groß-Kanizsa gelockt haben." Für seine ersten Erinnerungen an das Theater siehe ebenda, S. 19f. 14 Hartmut Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1976, S. 15-14, sieht in der Tatsache, daß Schnitzlers Mutter in seiner Autobiographie praktisch kaum vorkommt, ein Spiegelbild der patriarchalischen gesellschaftlichen Normen, in denen er erzogen wurde, und nicht so sehr einen Hinweis auf eine gestörte Beziehung. 15 Jugend in Wien, S. 15. 16 Ebenda, S. 17. 17 Ebenda, S. 17-18. 18 Ebenda, S. 19. 19 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien, S. 78. 20 Siehe ebenda, S. 29ff. zur Karriere seines Vaters und dessen Freundschaften. Als Gymnasiast hatte Johann Schnitzler einige Stücke geschrieben und einer seiner Lehrer prophezeite sogar „dem kleinen Judenbuben, er würde einmal der ungarische Shakespeare" werden. Später, als sein Sohn Arthur den Drang zu einer ähnlichen literarischen Berufung zeigte, widersetzte sich Johann Schnitzler vehement dessen Absichten. Aber „ins Theater ging er oft und gern, schon seinen Patienten zuliebe". (S. 52) 21 Ebenda, S. 31-52. Die Toleranz und das Verständnis in diesem und anderen Urteilen Schnitzlers sind ein Beispiel für die Unterschiede zwischen seiner Einstellung zur Mittelschichtsgesellschaf!: und zum Wiener Judentum und jener von Karl Kraus und Otto Weininger. Schnitzler lehnte sein Milieu oder die Lebensumstände nicht radikal ab, obwohl er seinen Zeitgenossen oft sehr kritisch gegenüberstand. Was ihn interessierte, waren die Komplexität und die Widersprüche im menschlichen Verhalten. Siehe Kohn, S. 154-155. 22 Ebenda, S. 75-78. 23 Ebenda, S. 78. 24 Ebenda, S. 96. 25 Ebenda. Schnitzler unterstrich, daß seine Reaktion „nicht ausschließlich wegen meiner jüdischen Stammeszugehörigkeit, oder gar wegen persönlicher Erfahrungen" erfolgte. Angriffe auf Schnitzler als Jude, würde er „erst später im reichsten Maße" sammeln, als er bereits ein arrivierter Schriftsteller war. 26 Ebenda, S. 96-97. Schnitzlers negative Sicht des Judentums leitete sich von denselben freidenkerisch- nationalistischen Prämissen der Aufklärung her wie jene Freuds. Sein Unmut über das Zelotentum des katholischen Klerus war indes noch um vieles bitterer. 27 Ebenda, S. 141. 28 Ebenda, S. 146. 29 Ebenda, S. 146. 50 Ebenda, S. 155. 51 Ebenda, S. 155-156.

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Anmerkungen

52 Ebenda, S. 157. Schnitzlers Animosität gegenüber getauften Juden kommt in seinen Schriften häufig zum Ausdruck. Wie Freud sah er in ihnen opportunistische Uberläufer, deren Versuche, sich bei der „kompakten Majorität" lieb Kind zu machen, ihn abstießen. 35 Scheible, S. 29. 34 Jugend in Wien, S. 276: „... aber die Heimat war eben nur Tummelplatz und Kulisse des eigenen Schicksals; das Vaterland, ein Gebilde des Zufalls, - eine völlig gleichgültige, administrative Angelegenheit, - und das Weben und Walten der Geschichte drang doch nur, wie es uns Gegenwärtigen meist passiert, in der mißtönigen Melodie der Politik ans Ohr..." 35 Scheible, S. 37ff. 56 Für die Auswirkungen von Anatol als „Symbolfigur" der bürgerlichen Gesellschaft im Wien zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts siehe Hellmut Andics, Luegerzeit: Das schwarze Wien bis 1918, Wien 1984, S. 159ff. 57 Rolf-Peter Janz und Klaus Laermann, Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de Sücle, Stuttgart 1977, S. 1-16. 58 Ebenda, S. 55-75; Scheible, S. 65-70. Der Reigen wurde in Wien vor dem Ersten Weltkrieg verboten, und in vielen anderen Städten wurde er vom Klerus als Inbegriff der Unmoral und von den Deutschnationalen als „jüdische" Pornographie angeprangert. 59 Zu einer Analyse des Leutnant Gustl sowie zur Soziologie des Duells im Osterreich des Fin de Sücle siehe Janz und Laermann, S. 110-154. Die Erzählung wurde erstmals in der Neuen Freien Presse veröffentlicht. 40 Zu Schnitzlers Beschreibung von Gustls Antisemitismus als Reaktion aus Angst um seine Stellung siehe ebenda, S. 121, 125. 41 Siehe Carl E. Schorske, „Politics and Psyche in fin de siecle Vienna: Schnitzler and Hofmannsthal", in: The American Historical Review 66, 1960-1961, S. 950-940. 42 Hans Kohn, Karl Kraus. Arthur Schnitzler. Otto Weininger. Aus dem jüdischen Wien der Jahrhundertwende, Tübingen 1962, S. 20. 45 Ebenda-, siehe auch Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, S. 175ff. 44 Schorske, S. 956. 45 A. Schnitzler, Jugend in Wien, S. 528f. 46 In seinen Tagebüchern finden sich Eintragungen, die diese Hilflosigkeit angesichts der antisemitischen Irrationalität widerspiegeln; ζ. B.: „Die Antisemiten sind straflos, unangreifbar", oder Bemerkungen am 4. Nov. 1904: „Wie schön ist es ein Arier zu sein, man hat sein Talent so ungestört". Siehe auch den interessanten Artikel von Egon Schwarz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 112, 14. Mai 1977, über die damals noch unveröffentlichten Tagebücher Arthur Schnitzlers. Seither sind neun Bände seiner Tagebücher erschienen: Arthur Schnitzler, Tagebuch 1879-1931, Werner Welzig (Hg.), Wien 1987. 47 Siehe Schnitzlers Brief an Olga Waissnix vom 29. Mai 1897, veröff. in ihrem Briefwechsel Liebe, die starb vor der Zeit: Ein Briefivechsel, Wien 1970, S. 519: „In der letzten Zeit verstimmt mich auch der Antisemitismus sehr stark - man sieht doch eigentlich mit merkwürdiger Ruhe zu, wie man einfach aus dem Geburtsgrunde von Millionen von Menschen nicht für voll genommen wird." Siehe auch Schnitzler, Briefe, 1875-1912, Frankfurt 1981, S. 516.

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48 0 . Waissnix, Liebe, die starb vor der Zeit, S. 319: „Es wird bald wieder Zeit, die Tragödie der Juden zu schreiben." 49 Siehe die Tagebucheintragung vom 13. Nov. 1902: „Juden, die in kriecherisch stinkender Weise sich bei den Antisemiten anbiedern und mit vornehmem Spott über das ,undeutsche' bei Wassermann losziehen." Zitiert in: Norbert Abel, Sicherheit ist nirgends: Judentum und Aufklärung bei Arthur Schnitzler, Königstein/Taunus 1982, S. 98. 50 Siehe Schnitzlers Briefwechsel mit Herzl in: Midstream 6, Nr. 1, Nov. 1960; siehe auch Schnitzler, Briefe, 1875-1912, S. 237-239. 51 Olga Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962, S. 83. 52 Ebenda, S. 84. 53 Ebenda, S. 85. 54 Ebenda, S. 86-87. 55 Ebenda, S. 87. 56 Ebenda, S. 88-89. 57 Ebenda, S. 89. 58 Ebenda, S. 90. 59 Ebenda. 60 Zu seinem Brief an Schnitzler vom 14. Feb. 1895 siehe ebenda, S. 92. 61 Ebenda, S. 94. Herzl machte keinerlei Andeutung, daß ihm die Idee eines jüdischen Staates gekommen sei, sondern schrieb stattdessen geheimnisvoll: „Dieses Werk ist jedenfalls für mich und mein ferneres Leben von der größten Bedeutung - vielleicht auch für andere Menschen." 62 Ebenda, S. 95. 63 Ebenda. Herzl antwortete, die Stücke würden in allen Kultursprachen aufgeführt werden. In dem jüdischen Staat sollte ein sprachlicher Föderalismus nach schweizerischem oder österreichischem Vorbild eingeführt werden. 64 Siehe den undatierten Brief, der zitiert wird in Harry Zohn, „The Austrian Jews in German Literature", in: J. Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 73. Für Schnitzler waren er selbst, Beer-Hofmann, Werfel, Wassermann und Dutzende andere Schriftsteller jüdischer Herkunft wesentlich mehr deutsch als die antisemitischen Autoren. Siehe auch Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Berlin 1929, S. 129. 65 A. Schnitzler, Der Weg ins Freie, Berlin 1932, S. 129 66 Selbst Herzl scheint dies nach anfänglicher Enttäuschung über das Zögern des Freundes zur Kenntnis genommen zu haben. „Schnitzler? - Er gehört hierher, auf diesen Boden ganz ebenso wie Schubert", siehe Olga Schnitzler, S. 100. 67 Abels, S. 69, zitiert aus einem Aphorismus Schnitzlers aus dem Jahre 1904: „Ich habe Heimatgefühl, aber keinen Patriotismus." 68 Olga Schnitzler, S. 96: „Vaterland, das war ja überhaupt eine Fiktion, ein Begriff der Politik, schwebend, veränderlich, nicht zu fassen." Siehe auch A. Schnitzler, Der Weg ins Freie, S. 127-128. 69 Jugend in Wien, S. 15.

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Anmerkungen

70 Schnitzler, Der Weg ins Freie, S. 126. 71 Ebenda, S. 126-127. 72 Ebenda, S. 127-128. 75 Ebenda, S. 128. 74 Ebenda, S. 129. 75 Ebenda. 76 Ebenda. 77 Ebenda, S. 130. 78 Für Analysen des sozialen Panoramas in dem Roman siehe Robert S. Wistrich, „Arthur Schnitzler's .Jewish Problem'", in: The Jewish Quarterly 22, Nr. 4, 82, Winter 1975, S. 27-50; Willhad Paul Eckert, „Arthur Schnitzler und das Wiener Judentum", in: Emuna, Nr. 2, März/April 1973, S. 120-126; und Janz und Laermann, S. 155ff. 79 Schnitzler, Der Weg ins Freie, S. 210. 80 Ebenda, S. 85. 81 Ebenda, S. 85-86. 82 Ebenda, S. 86. 85 Ebenda, S. 87. 84 Ebenda, S. 96. 85 Ebenda, S. 245. 86 Ebenda, S. 154. 87 Ebenda, S. 276. Georg von Wergenthins Reaktion auf Heinrichs Überlegungen zur „Judenfrage" wird als ein gewisses Unbehagen beschrieben. „Mit allen Juden fühlt er sich zusammengehörig, und mit dem letzten von ihnen noch immer enger als mit mir." (S. 257) Erstaunlicherweise fand Schnitzlers Credo der Suche nach dem Weg in die Freiheit durch sich selbst Widerhall in einer „zionistischen" Formulierung in Herzls Tagebucheintragung vom 16. Juni 1895: „Niemand dachte daran, das gelobte Land dort zu suchen, wo es ist - und doch liegt es so nah. Da ist es: in uns selbst!" (TheodorHerzl. Briefe und Tagebücher, Alex Bein et ed., Hgg., 2. Bd., Berlin-Frankfurt/Main-Wien 1985, S. 131) 88 Schorske, „Politics and Psyche", (wie Anm. 41), S. 959, sieht in dem Bruch von Georgs Liaison „das Ende der Bemühungen eines halben Jahrhunderts, Bürgertum und Aristokratie durch die ästhetische Kultur zu verbinden". Von Wergenthin verkörpert für ihn den Zusammenbruch des aristokratischen Ideals; er kann die Realität einer irrationalen Gesellschaft und die Ohnmacht des Künstlers „in einer bürgerlichen Welt, die aus ihrer Bahn geworfen wird", nicht mehr länger kontrollieren oder verstehen. 89 Ebenda, S. 958. Schorske weist zu Recht auf den Generationskonflikt hin, der sich durch den ganzen Roman zieht und eine Art Bindeglied zwischen Juden und Nichtjuden darstellt. Die ältere Generation mit ihrer Stabilität und ihrem Glauben an eine zweckdienliche moralisch-wissenschaftliche Kultur repräsentiert nun anachronistische, aussterbende Werte. Andererseits fehlt es der jüngeren Generation der Ästheten, Aristokraten und Juden der höheren Mittelschicht an Vitalität; sie verliert durch das Aufkommen einer kleinbürgerlichen, antiliberalen Massenpolitik, die in dem Roman durch Anna Rosers Bruder

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Josef symbolisiert wird, einen engagierten christlich-sozialen Antisemiten, völlig ihre Orientierung. 90 Wistrich, S. 27. 91 Schnitzler, Der Weg ins Freie, S. 49-50. 92 Ebenda, S. 110. 93 Ebenda, S. 273. 94 Ebenda, S. 274. 95 Ebenda. 96 Einmal meint Georg, Heinrich Bermann sei „ein ärgerer Antisemit als die meisten Christen, die ich kenne". (S. 174) 97 Ebenda, S. 174-175. 98 Ebenda, S. 175. 99 Salomon Liptzin, Germany's Stepchildren, Philadelphia 1961, S. 126-127; Wistrich, S. 29. 100 Schnitzler, Der WeginsFreie, S. 291. 101 Wistrich, S. 30 102 Schnitzler, Der Wegins Freie, S. 255. 103 Ebenda, S. 25-26. 104 Ebenda, S. 45. 105 Siehe den Brief des bekannten dänischen Literaturkritikers Georg Brandes, eines assimilierten Juden und guten Freundes Schnitzlers, der Ende Juni 1908 bedauert, daß die notwendige künstlerische Beziehung zwischen der Liebesaffare des Barons und dem jüdischen Thema des Romans fehle. „Das Verhältnis des jungen Barons zu seiner Geliebten ist eine Sache, und die neue Lage der jüdischen Bevölkerung in Wien durch den Antisemitismus eine andere ..." {Georg Brandes und Arthur Schnitzler: Ein Briefwechsel, S. 95). 106 Ebenda, S. 97, Schnitzler an Brandes, Brief vom 4. Juli 1908: „...es kam mir ja schließlich nicht darauf an, irgendwas nachzuweisen, weder daß Christ und Jude sich nicht vertragen - oder daß sie sich doch vertragen können - sondern ich wollte, ohne Tendenz, Menschen und Beziehungen darstellen - die ich gesehen habe (ob in der Welt draußen oder in der Phantasie bliebe sich gleich)." 107 Dieses Fehlen epischer Totalität und vielleicht auch der jüdische Stoff erklären, warum Hugo von Hofmannsthal dieser Roman nicht gefiel, weis zur Abkühlung ihrer Beziehung beitrug; siehe Hofmannsthal an Schnitzler, 19. Okt. 1910, in: Hofmannsthals Britfwechsel mit Arthur Schnitzler, Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Hgg., Frankfurt 1964, S. 95. 108 Abels, S. 76. 109 Ebenda, S. 84. 110 Ebenda, S. 96. Schnitzlers starkes Mißtrauen gegenüber jeglicher Art kollektiver Identifikation zeigt sich in dem folgenden Aphorismus: „Ich fühle mich mit niemandem solidarisch, weil er zufallig derselben Nation, derselben Rasse, derselben Familie angehört wie ich." Sein Mitgefühl mit den Juden entwuchs keiner angeborenen Verpflichtung, sondern vielmehr einer Gemeinschaft im Leid. 111 Ebenda, S.97.

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Anmerkungen

112 Siehe S. Melchinger, „Das Jüdische in Professor Bernhardi", Theater heute 5, 1964, 7-12, S. 35; und Schnitzler, Briefe, 1913-19)1, Frankfurt 1984, S. 2-4. 115 Bereits 1899 hatte Schnitzler die Idee eines Stückes niedergeschrieben, das sich mit dem Konflikt zwischen religiöser und wissenschaftlicher Einstellung zu einem Kranken beschäftigen sollte; siehe Sol Liptzin, „The Genesis of Schnitzler's Professor Bernhardi", in: Philological Quarterly 10 (1931), S. 349. 114 Schnitzler, Professor Bernhardi, in: Gesammelte Werke. Die Dramatischen Werke, Bd. 2, Franklurt/Main 1962, S. 575-380. 115 Ebenda, S. 407-409. Flints Rede im Parlament beginnt damit, daß er Bernhardis Tugenden hervorhebt und das Recht verteidigt, daß öffentliche Bestellungen allein aufgrund der Verdienste vorzunehmen sind. Gegen Ende seiner Rede zieht er sich infolge der antisemitischen Zwischenrufe und Proteste völlig zurück. 116 Ebenda, S. 441: „Als Rechtsfall war die Sache schon unerquicklich genug; nun soll sie gar ein Politikum werden, davor furcht' ich mich, und war' es ins Gefängnis. Meine Sach ist es, Leute gesund zu machen - oder ihnen wenigstens einzureden, daß ich es kann." 117 Ebenda, S. 465. Winkler meint, daß weder er noch Bernhardi das Temperament eines Reformers hätten - daher sollten sie sich in solche Angelegenheiten nicht einmischen. „Das dürfte wohl daran liegen, daß wir uns doch innerlich nicht bereit fühlen, bis in die letzten Konsequenzen zu gehn - und eventuell selbst unser Leben einzusetzen für unsere Überzeugung." 118 Siehe die interessante Einführung von Martin Swales zu A. Schnitzler, Professor Bernhardi, Oxford 1972, S. 16-17. 119 Schnitzler, Professor Bernhardi, S. 342-346. 120 Ebenda, S. 395. 121 Ebenda; sehr zu Schreimanns Arger spöttelt Ebenwald: „Schon möglich. Eine Professur in Jerusalem wär dir sicher gewesen."(S. 395) 122 Ebenda. 123 Ebenda, S. 352. 124 Ebenda, S. 424, 426. 125 Ebenda, S. 427-428. 126 Ebenda, S. 432. Der Priester sagt Bernhardi: „Eine höhere [Wahrheit] als die meiner Kirche vermag ich nicht anzuerkennen, Herr Professor. Und meiner Kirche höchstes Gesetz heißt Einordnung und Gehorsam." 127 Ebenda, S. 454-455. 128 Ebenda, S. 455. 129 Ebenda, S. 465. Im 5. Akt erzählt Bernhardi Winkler, daß er „nicht im entferntesten daran gedacht habe, irgend eine Frage lösen zu wollen. Ich habe einfach in einem ganz speziellen Fall getan, was ich für das Richtige hielt." 150 Ebenda, S. 440. „Ja, verstehen Sie denn noch immer nicht, meine Herren, daß ich mit den Leuten absolut nichts zu tun haben will, die eine politische Affäre aus meiner Angelegenheit machen wollen." 151 Schnitzler, Jugend in Wien, S. 51.

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132 Ebenda, S. 198-199. 153 Ebenda, S. 200. 154 Ebenda. 155 Ebenda, S. 201,205. 156 Ebenda, S. 203. 137 Siehe Professor Bernhardt, S. 566. Der militante jüdische Dozent fiir Kinderkrankheiten, Dr. Löwenstein, vertritt die Ansicht, wenn ein christlicher Arzt sich so verhalten hätte wie Bernhardi, „dann wären hinter diesem Christen Tausende oder Hunderttausende gestanden, die sich jetzt nicht rühren oder sich sogar gegen ihn stellen werden." 158 Ebenda, S. 400. 139 Ebenda. 140 Siehe ζ. B. Deutsches Volksblatt, Wien, 20. Okt.1898, S. Iff., und 28. Okt.1898, wo der Abgeordnete Schneider zitiert wird: „Die Regierung soll der Schweinerei ein Ende machen, daß die Juden an arischen Leibern herumarbeiten; sie sollen die Juden nehmen zum Sezieren, aber es sollen nicht unsere Frauen und Mädchen der Sezierung durch diese Juden verfallen und dazu benützt werden, um Studien zu machen und noch andere Dinge zu vollfuhren." 141 Liebe, die starb vor der Zeit, S. 319. 142 BriefS 15 in: Georg Brandes an Arthur Schnitzler: Ein Briefwechsel, S. 71. Schnitzler fügt ironisch hinzu: „Wie merkwürdig, daß die offenbaren Mängel, Fehler, meinetwegen Verbrechen der Judenpresse, die man als so spezifisch jüdisch hinstellen wollte, von der Antisemitenpresse ins ungeheuerliche ausgebildet worden sind." 143 Brief S i l , ebenda, S. 68: „Insbesondere die antisemitischen Blätter leisten Unglaubliches in Denunziationen." 144 Deutsches Volksblatt, 2. Sept. 1900, S. 7. 145 Ebenda, 28. Jän.1908. Die deutschnationale Zeitung stellte Grillparzers Puritanisnus in Gegensatz zu den Schriften Schnitzlers und bezeichnete diesen als „Pornograph, der die schlecht parfümierten Kanapeegeschichten und Sexualanekdoten seines ,Reigens' aus ersichtlicher Lust am Gemeinen verfaßte ..." Sie prangert auch die „schimpfliche Verletzung der Standesehre" in Schnitzlers Erzählung Leutnant Gustl und die „jüdische Erfindung des ,süßen Mädels"' an, die in seinem gesamten Werk verfolgt werden kann. 146 Siehe die überzeugende Rekonstruktion von Adolf Gaisbauer, „Der historische Hintergrund von Arthur Schnitzlers ,Professor Bernhardi'", in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 15, Nr. 50,1974, S. 139-152, zu den Parallelen zwischen dem Elisabethinum und der Poliklinik von Johann Schnitzler. 147 Siehe ebenda, S. 152-162, zum politischen Kampf zwischen den klerikalen und den freidenkerischen Kräften in Österreich (Liberale, Sozialdemokraten usw.) um die Kontrolle der Erziehungseinrichtungen, der zu der Zeit, da Schnitzler an seinem Professor Bernhardi schrieb, auf seinem Höhepunkt stand. 148 Siehe Professor Bernhardi, S. 385, wo der Unterrichtsminister, Prof. Dr. Flint, den jüdischen Arzt erinnert: „Und so hast du in deinem Auftreten gegenüber Seiner Hochwürden eine Kleinigkeit vergessen, nämlich, daß wir in einem christlichen Staate leben."

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Anmerkungen

149 Die Erstaufführung in Wien fand 1920 am Deutschen Volkstheater statt; siehe W. P. Eckert, „Arthur Schnitzler und das Wiener Judentum", S. 129. 150 Der Briefwechsel Arthur Schnitzler - Otto Brahm, Hg. und Einf. von Oskar Seidlin, Schriften der Gesellschaftfür Theatergeschichte 57, Berlin 1955, S. 256. 151 Siehe das Urteil des Wiener Kritikers Manfred Vogel, zitiert in Zohn, S. 74. 152 Für Scheible, S. 106, bringt Professor Bernhardt das Scheitern von Schnitzlers Bemühungen zum Ausdruck, den privaten Bereich der Freiheit vor der Durchdringung kollektivistischer Werte zu bewahren. 1 8 . KAISERLICHER SCHWANENGESANG: VON STEFAN ZWEIG ZU JOSEPH ROTH

1 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Wien 1948, S. 17. 2 Ebenda, S. 18. 5 Siehe Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der östereichischen Literatur, Salzburg 1966, und die Diskussion bei Wendelin Schmidt-Dengler,, „Habsburg myth, Republican reality", in: The Times Literary Supplement, 11. Juni 1976, S. 712-715. 4 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 19. 5 Ebenda,S. 21. 6 Siehe Manfred Durzak, Hermann Broch: Der Dichter und seine Zeit, Stuttgart 1968, und Hermann Broch, Schriften zur Literatur, I, Frankfurt 1975, S. 111-275, für den zukunftsweisenden Aufsatz „Hofmannsthal und seine Zeit". 7 Siehe Broch, Schriften, I, Abschnitt 4, S. 145ff.: „Die fröhliche Apokalypse Wiens um 1900". 8 Siehe Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, für eine glänzende Darlegung der Doppeldeutigkeiten und Paradoxa des versunkenen Habsburgerreiches. 9 Broch, „Hofmannsthal und seine Zeit", S. 155ff. 10 Broch, „Hofmannsthal und seine Zeit", S. 170. 11 Ebenda, S. 175-175. Brochs Beschreibung Wiens als Metropole des Kitsches beruhte auf der Annahme, daß in dieser Stadt ein Minimum an ethischen (moralischen) Werten durch ein Maximum an „ästhetischen Werten" überdeckt wurde. 12 Zu Isaac Low Hofmann siehe Österreichische Wochenschrift, Nr. 18, 1911, S. 265-167; H. Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, 5 Bde., Berlin 1955-1955, IV, S. 555; Max Grunwald, Vienna, Philadelphia 1956, S. 207-208. 15 Grunwald, S. 208. 14 Ebenda, S. 574. 15 Broch, S. 179-185. 16 Ebenda, S. 186. Broch bemerkte, daß der kollektive Narzißmus einer assimilierten Minderheit häufig jenen der herrschenden Klasse oder Nation übertraf, gleichzeitig aber ein gewisses Element wissender Selbstironie beibehielt. „... Der Assimilierte empfindet sich damit als ein Auserwählter höhern Grades; er ist aus dem auserwählten Volk auserwählt worden." 17 Hugo von Hofinannsthal, Briefe, 1890-1901, Wien 1957,1, S. 184-186, 4.-5. Mai 1896.

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18 Siehe die eingehende und ausgewogene Studie von Ernst Simon, „Hugo von Hofmannsthal: seine jüdischen Freunde und seine Stellung zum Judentum", in: Mitteilungsblatt, Tel Aviv, Nr. 58,14. Okt. 1977, S. 5-5. 19 Ebenda, S. 4. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, daß Hofinannsthal den Zionismus ablehnte. 20 Mitteilungsblatt, Nr. 58,14. Okt. 1977, S. 4. 21 Hugo von Hofinannsthal, Briefivechsel mit Leopold von Andrian, Frankfurt 1968, S. 176. 22 Zu der engen Beziehung zwischen ihnen siehe Hofmannsthal, Briefivechsel mit R. BeerHofmann, Frankfurt 1972; Olga Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962; und Michael Pollak, Vienne 1900: Une identiU blessie, Paris 1984, S. 155,146-147, 176-178. 25 Siehe Hofmannsthals Brief vom 20. April 1919, in: Briefwechsel mit Beer-Hofinann, S. 145. 24 Brief vom 25. Mai 1919, ebenda, S. 167. 25 Ebenda, S. 176. 26 Siehe Hans Tramer, „Einiges über Hugo von Hofinannsthal", in: Mitteilungsblatt, Nr. 59, 21. Okt. 1977, S. 5, zur Bestätigung, daß Schnitzler Hofinannsthals „an Verleugnung grenzende[r] Nichtbeachtung seiner jüdischen Abstammung" mißtraute - eine Haltung, die mit dem Wunsch Hofinannsthals nach sozialer Akzeptanz in aristokratischen Kreisen in Einklang stand. Mein Dank für diesen Hinweis gilt Dr. Eva Reichmann (London). 27 Alma Mahler, Erinnerungen an Gustav Mahler, Frankfurt 1980, S. 50-52. 28 Siehe die Einführung von Donald Mitchell, ebenda, S. 10-11. Freud war von Mahler während seines Besuches in Leiden in den Niederlanden im Sommer des Jahres 1910 konsultiert worden. Er bestätigte die Auswirkungen der unglücklichen frühen Kindheit des Komponisten auf dessen späteres Leben und Werk. 29 Als junger Mann wurde Mahler von Anton Bruckner gefördert, der bald dessen Talent erkannt hatte. Wenn Bruckner sich an die jüdischen Musiker in seinem Kreis wandte, sprach er sie immer höflich mit „die Herren Israeliten" an (ebenda, S. 155). 30 William J. McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven und London 1974, S. 89ff. Mahler war ein regelmäßiger Teilnehmer an den Treffen des Adler-Pernerstorfer-Kreises, in dem philosophische, religiöse und ästhetische Theorien diskutiert wurden. McGraths Buch zeigt den Einfluß von Schopenhauer, Nietzsche und Wagner auf Mahlers Denken in dieser prägenden Zeit auf. 31 McGrath, S. 156-157. Siehe auch Alma Mahler, S. 106: „Mahler und wir alle kämpften fiir Wagner. Mahler liebte Wagner ohne Vorbehalt." 32 McGrath, S. 161. Auch Mahlers charakteristischen Glauben, dem er in einer Auseinandersetzung mit dem deutschnationalen Komponisten Hans Pfitzner Ausdruck verlieh, „daß je größer ein Künstler sei, er desto höher über den Nationen stehen müsse". (Alma Mahler, S. 109)1 55 Alma Mahler, S. 129. 54 Ebenda, S. 45. Seine Frau, eine Freidenkerin, die als Katholikin erzogen worden war, schreibt von dem verblüffenden Paradoxon, daß in einem ihrer ersten Gespräche „ein Jude einer Christin gegenüber sich heftigfiirChristus ereiferte". An anderer Stelle schreibt sie: „Er war christgläubig. Er war Juden-Christ und hatte es schwer. Ich war Heiden-Christin und hatte es leicht."

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Anmerkungen

35 Ebenda, S. 129: „Niemals durfte man vor Mahler jüdische Witze erzählen; er konnte sich darüber ernsthaft erbösen." 36 Ebenda, S. 137. 37 Siehe Hans Redlich, zit.: in McGrath, S. 161. 38 Ulrich Schreiber, „Gustave Mahler: une musique des contradictions sociales", in: Critique 31, Nr. 339-340, Aug.-Sept. 1975, S. 927ff. 39 Siehe ebenda, S. 929 über die Mischung von Volkskunst und Klassik bei Mahler. 40 Ebenda, S. 932ff. Schreiber sieht eine Parallele zwischen Hofinannsthals und Mahlers Antwort auf die Krise des ästhetischen Impressionismus gegen Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Beiden Künstlern geht es um die Wiederherstellung der Einheit der gesamten Schöpfung und die Suche nach Wegen, letzte Werte zum Ausdruck zu bringen, wie etwa den Sinn des Lebens in einer Welt, in der das Medium der Kommunikation vorübergehend zusammengebrochen zu sein scheint. 41 Ebenda, S. 935-936. Adornos Mahler: Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt 1960, folgend, meint Schreiber, daß der Triumphalismus und die prometheusgleiche Größe Mahlers letzter Symphonien einen Kompromiß mit der offiziellen Kunst des christlichen Establishments, die Macht und Größe symbolisiert, durchblicken lassen: „De fait, la monstruosite de cette oeuvre atteste, si l'on considere l'effet produit, l'identification de Mahler avec la bourgeoisie aryenne et chretienne aggressive." 42 Siehe Willi Reich, Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, Wien 1968. 43 Walter Rimler, „Arnold Schönberg's Judaism", in: Midstream, April 1982, S. 43-45. 44 Charles Rosen, „Schönberg et l'expressionisme"; Critique 31, Nr. 339-340, Aug.-Sept. 1975, S. 909-918. 45 Ebenda, S. 911. 46 Siehe „Die Explosion im Garten: Kokoschka und Schönberg", in: Carl Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Sücle, Frankfurt/Main 1985, S. 305-346. 47 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 1911, S. 218. 48 Siehe A. Janik und S. Toulmin, Wittgensteins Wien, München-Wien 1984, S. 144-150. 49 Ebenda, S. 148. 50 Brief an Richard Dehmel, 13. Dez. 1912, in: Arnold Schönberg, Briefe, Erwin Stein, Hg., Mainz 1958. 51 Schorske, Fin de Sücle, S. 340-342, geht in Zusammenhang mit der Oper Moses undAron kurz auf dieses Thema ein, verabsäumt es aber, tiefschürfender auf das jüdische Thema einzugehen. 52 Rimler, S. 44. 53 Brief an Wassily Kandinsky, 20. April 1923, in: Schönberg, Briefe, S. 90. Schönberg, der gehört hatte, daß einige der fuhrenden Mitglieder des Weimarer Bauhauses antisemitische Äußerungen von sich gegeben hatten, lehnte Kandinskys Einladung zur Mitarbeit an diesem Projekt höflich ab. 54 Brief vom 4. Mai 1923, ebenda, S. 91ff. 55 Siehe Peter Gradenwitz, „Gustav Mahler and Arnold Schönberg", in: LeoBaeck Yearbook 5, 1960, S. 269ff. für eine detaillierte Behandlung dieser späten Phase in Schönbergs Ent-

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Wicklung, die über den zeitlichen Horizont unserer Analyse hinausgeht. 56 Die beste kurze Zusammenfassung von Beer-Hofmanns Werk in bezug auf die jüdische Wiedergeburt stammt von Sol Liptzin in: J. Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 215-219. Siehe auch Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne, Wien 1990, S. 575-408. 57 Der Autor hat sich mit dem Archiv der Familie Beer-Hofmann im Leo Baeck Institute, New York, befaßt. Es enthält Briefe an seine Frau, beginnend 1896, Fotografien, persönliche Dokumente und andere Familienkorrespondenz. Siehe Richard Beer-Hofinann Collection und auch die Sammlung seiner Tochter, Miriam Beer-Hofmann Lens, LBI, New York, AR 7258. 58 Siehe Richard Beer-Hofmann, Gesammelte Werke, Frankfurt 1965. Beer-Hofinann hat nicht allzu viel geschrieben (was ihm seine Freunde Schnitzler und Hofmannsthal stets vorwarfen), und es gab lange Schreibpausen zwischen seinen sorgfaltig verfaßten Schriften. 59 Siehe Jacques Le Rider, Die Wiener Moderne, S. 554-555. 60 Siehe Richard Beer-Hofmann, Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1965, S. 615-616, 621-622; siehe auch Hartmut Scheible, Literarischer Jugendstil in Wien, München und Zürich 1984, S. 104. Scheible beschreibt die Hinwendung zur Kontinuität der Vergangenheit durch Träume und symbolische Korrespondenz als einen Versuch der Jung-WienSchriftsteller, die tiefe Spaltung zwischen ihrem Ich und der äußeren Realität zu überwinden. Im Falle Beer-Hofmanns führte die Abkehr von der ästhetischen Selbstkritik an der Suche nach dem Platz des einzelnen in der „Totalität des Lebens" zum „inneren Zionismus". 61 Scheible, S. 157ff. (S. 160). Hofmannsthal kritisierte im nachhinein das „chauvinistische" Thema von Der Tod Georgs, nachdem er 1918 Jaakobs Traum gelesen hatte. Beer-Hofmanns Aufgreifen des Motivs des „auserwählten Volkes" hatte ihn offenkundig durcheinandergebracht. Zur Antwort Beer-Hofmanns siehe Hofinannsthal - Beer-Hofinann: Briefwechsel, S. 148ff. 62 Scheible, S. 160-161. 65 Richard Beer-Hofinann, Der Tod Georgs, Berlin 1900, S. 215-216; Gesammelte Werke, S. 621-622. 64 Siehe Olga Schnitzler, S. 125-155 für ein intimes Portrait Beer-Hofmanns durch Schnitzlers Witwe, das neues Licht auf deren Beziehung wirft. 65 Ebenda, S. 147. Schnitzler war, trotz seines Skeptizismus und seiner Indifferenz gegenüber der Religion, tief beeindruckt von Beer-Hofmanns Persönlichkeit und seiner dichterischen Begabung. „Es gibt kaum einen Anderen, der als Mensch so leuchtet, so einleuchtet. Ich hebe ihn sehr." Zu Jaakobs Traum bemerkte er: „... ein edles reines, hohes Werk, wie es nur ein Mensch höchsten Ranges schreiben konnte." 1917 berichtet Olga Schnitzler: „Er lets das erste Bild Davids vor: schön. Ein wahrhaft adeliger Mensch. Wie viele gibt es noch neben ihm?" 66 Richard Beer-Hofmann, Der Grafvon Charolais, in: Gesammelte Werke, S. 558. 67 R. Beer-Hofmann, Jaakobs Traum, in: Die Historie von König David, in: Gesammelte Werke, S. 79.

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Anmerkungen

68 Ebenda, S. 79. 69 Ebenda, S. 85. 70 Siehe das Kapitel über Buber in Solomon Liptzins Germany's Stepchildren, Philadelphia 1961, S. 255ff., das sehr kurz einige Parallelen zu Beer-Hofinann berührt. Bezeichnenderweise schrieb Buber die Einführung zu Beer-Hofinanns Gesammelten Werken und wies auf die Verwandtschaft in ihrem Ansatz bei jüdischen Fragen hin. 71 Siehe das Kapitel über Buber in Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers: The Elast European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800-1923, Madison 1983, S. 121-158, und den aufschlußreichen Artikel von Paul Mendes-Flohr, „Fin-de-sücle Orientalisme, the Ostjuden and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation", in: Studies in Contemporary Jewryl, 1984, S. 96-158. 72 Siehe William M. Johnston, „Martin Buber's Literary Debut: ,On Viennese Literature' (1897)", in: The German Quarterly 47, Nov. 1974, S. 556-566, zur engl. Übersetzung dieses polnischen Artikels. Ich danke Professor Johnston dafür, meine Aufmerksamkeit auf diese interessanten Artikel gelenkt zu haben. 75 Ebenda, S. 565. 74 Siehe Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, I, 1897-1918, Heidelberg 1972, S. 160-165, 166, 170-175, 192-195, 199-200, zur Korrespondenz zwischen Buber und Herzl in der Zeit zwischen 1898 und 1905. 75 Siehe Bubers kühlen, ja geradezu überheblichen Nachruf „Theodor Herzl" (1904), in: Martin Buber, Die jüdische Bewegung, I, 1900-1914, Berlin 1920, S. 137-151; und die gleichermaßen herbe Kritik in „Herzl und die Historie" (1904), in: ebenda, S. 152-175. 76 Ebenda, S. 167. 77 Ebenda, S. 170: „Fast will es mir erscheinen, dass es zu früh geschah." 78 Ebenda, S. 195ff.: „Er und wir. Zu Theodor Herzls 50. Geburtstag." 79 Siehe Elkana Margalit, „Social and Intellectual Origins of the Hashomer Hatzair Youth Movement, 1913-1920", Journal of Contemporary History4, Nr. 2,1969, S. 25-46. 80 Brief von Hofmannsthal an Buber, 20.Juni 1906, in: Buber, Briefwechsel, I, S. 245. 81 Aschheim, S. 150. 82 Schorske, „Politics and Psyche in Fin-de-sifecle Vienna: Schnitzler und Hofmannsthal", in: The American Historical Review 66 (1960-1961), S. 945ff. 85 Broch, S. 208ff. 84 Zitiert nach Hermann Broch, Schriften zur Literatur I. Kritik, Frankfurt/Mai 1975, S. 220-221. 85 Ebenda, S. 220. 86 Ebenda, S. 210: „Osterreich war fur Hofmannsthal ein Gebilde höchster Realität, ja sogar sittlicher Realität, doch nicht etwa im Sinne der Hegeischen Staatsidee, sondern in einem womöglich noch mystischeren Sinn: der Realitätsgrund lag in der Symbolisierung durch den Kaiser. Als Realität und zugleich deren Symbol war Osterreich zu solcher Symbolkraft geschaffen, gleichsam einer Volksdichtung ... sich selbst dichtendes Österreich, von Vorsehung und Geschichte hierfür gezeugt und einmalig." 87 Hugo v.Hofmannsthal mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Werner

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Volke, Hamburg 1967, S. 144-145: „Die Gegensätze sind scharf herausgearbeitet; Preußen und Österreichern scheint fast nur noch die Sprache gemeinsam." 88 Ebenda. 89 Siehe Zweig, Die Welt von Gestern, S. 75: „In der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrungensein mit poetischer Substanz ... wie in diesem großartigen Genius ..." 90 Siehe George L. Mosse, German Jews beyond Judaism, Hebrew University College 1985, S. 20; siehe auch Leon Botstein, „Stefan Zweig and the Illusion of the Jewish European", in: Marion Sonnenfeld, Hg., Stefan Zweig, Albany, NY, 1985, S. 90ff. 91 Mosse, S. 25, übersieht leider die österreichischen Wurzeln von Zweigs Haltung, indem er in ihn einzig ein Beispiel für das spezifisch deutsch-jüdische Erbe der Bildung sieht. 92 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 51. 95 Ebenda, S. 52. 94 Ebenda, S. 54. 95 Ebenda, S. 44. 96 Ebenda, S. 44. Zweig stellte die jüdische Aktivität in diesen Bereichen der „Indolenz des Hofes, der Aristokratie und der christlichen Millionäre [gegenüber], die sich lieber Rennställe und Jagden hielten, als die Kunst zu fördern ..." 97 Ebenda, S. 42, 45-46. 98 Ebenda, S. 29-50. 99 Ebenda, S. 51. 100 Ebenda, S. 25-24, für Zweigs kurze Beschreibung des mährischen Judentums, dem „völlig die Gedrücktheit und andererseits die geschmeidig vordrängende Ungeduld der galizischen, der östlichen Juden" fehlte. 101 Siehe ebenda, S. 27ff., für Zweigs Ansichten über den pseudo-aristokratischen Snobismus der Familie seiner Mutter 102 Ebenda, S. 92ff., 154-140. Sein Autorenkollege und Journalist Felix Saiten hatte eine wesentlich realistischere Sicht Luegers. Siehe Saltens Rede auf einer Versammlung im Dez. 1905, wo er Luegers Einstellung zu den russischen Pogromen angriff; zitiert in: Jöl Raba, „Reactions of the Jews of Vienna to the Russian Pogroms of 1905", Michael]!, 1975, S. 140-141 (Diaspora Research Institute, Tel Aviv). 105 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 96; siehe auch S. 47: „...ich persönlich muß bekennen, weder in der Schule noch auf der Universität, noch in der Literatur jemals die geringste Hemmung oder Mißachtung als Jude erfahren zu haben." 104 Ebenda, S. 99. 105 Ebenda, S. 99: „Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte." 106 Zitiert in: Josef Leftwich, „Stefan Zweig and the World of Yesterday", Leo Baeck Yearbooks, 1958, S. 91.

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Anmerkungen

107 Ebenda. Zweig erläuterte in einem Gespräch, daß er sich vom Zionismus abgewandt habe, als er das Gefühl bekam; „die Juden waren als Denker und Künstler größer, wenn sie unter der Reibung der äußeren Welt, als wenn sie in einem jüdischen Land isoliert waren". Er bewahrte sich aber eine tiefe Zuneigung und Bewunderung für Herzl, den Menschen und das universelle Spektrum seines Werkes. 108 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 146. 109 Ebenda, S. 152-153. 110 Siehe ebenda, S. 167, und Ε. M. Lilien, Briefe an seine Frau, 1905-1925, in: Otto M. Lilien und Eve Strauss, Hgg., mit einer Einführung von Ekkehard Hieronimus, Königstein/Taunus 1985, S. 9-28. 111 Stefan Zweig, Briefe an Freunde, Richard Freudenthal, Hg., Frankfurt 1978, S. 64. 112 Ebenda, S. 65. 113 Ebenda, S. 65-66. 114 Ebenda, S. 66. 115 Ebenda, S. 66-67. 116 Ebenda. „Ich bin fest überzeugt, dass die Erbitterung, die jetzt schon latent ist, nach dem Kriege sich nicht gegen die Kriegshetzer, die Reichspost-Partei, sondern gegen die Juden entladen wird. Ich bin überzeugt - felsenfest - dass nach dem Kriege der Antisemitismus die Zuflucht dieser,Großösterreicher' sein wird, dass Polen und Wiener da endlich eine Form der Einigkeit haben werden." 117 Ebenda, S. 67: „... dieser Krieg ist die Tragödie des Judentums in Polen ... mehr als jedes andere Volk werden sie leiden, ohne Triumphe zu haben wie jene. Sie leiden nur, ohne Leiden zu machen - und das ist heute in einer Welt der Gewalt die ärgste Sünde." Ebenda, S. 66-67. Zweig kommentierte ironisch Saltens Zionismus („immer Privatsa118 che") und die Tatsache, daß er sich in seinen zahllosen journalistischen Artikeln nie offen als Jude bekannte. Sie waren einander vor dem Krieg entfremdet worden, als Saiten Zweig vorwarf, zu pro-deutsch zu sein: „Jetzt ist er ein Brandenburger bis ins Herz hinab, das nur gelegentlich jüdische." Zu Zweigs Verachtung für „preußisierte" jüdische SuperPatrioten wie Ernst Lissauer siehe Die Welt von Gestern, S. 311-314. 119 Briefe an Freunde, S. 68, Brief an Martin Buber, 24. Jan. 1917. 120 Ebenda. 121 Ebenda, S. 68-69. 122 Ebenda, S. 69. 123 Ebenda. 124 Ebenda, S. 71. 125 Ebenda, S. 75. 126 Ebenda. 127 Ebenda. 128 Ebenda, S. 76. 129 Ebenda, S. 83-84. 130 Ebenda, S. 84. Siehe jedoch Zweigs Brief aus Salzburg an den Maler Hermann Struck, datiert vom 18. Juni 1930, in dem er seine Bewunderung für dessen Entschluß ausdrückt, sich

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in Palästina niederzulassen. „Ich bin überzeugt, daß dies auf die jüngere Generation moralisch stärker gewirkt hätte als alle Reden, Worte, Bücher und Broschüren." {Ebenda, S. 207) 131 Ebenda, S. 64, Brief an Martin Buber vom 8. Mai 1916. 132 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 339. 133 Ebenda, S. 341. 134 Ebenda. 135 Stefan Zweig, Jeremias, Leipzig 1918, S. 200-201. 136 Ebenda, S. 201. 137 Ebenda, S. 213. 138 Ebenda, S. 216. 139 Zu einer etwas polemischen und bisweilen unfairen Kritik von Zweigs politischer Naivität siehe Hannah Arendts Aufsatz, „Juden in der Welt von gestern", in: Die verborgene Tradition: Acht Essays, Frankfurt 1976, S. 74-87. Der interessanteste Teil von Arendts Analyse ist die Diskussion von Zweigs Besessenheit von der Berühmtheit und der Rolle, die dies im Leben des Wiener Judentums spielte. 140 Zitiert in: Harry Zohn, „Three Austrian Jews in German Literatur", in: J. Fraenkel, Hg., The Jews of Austria: Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 77. 141 Für einen begeisterten Bericht über Zweigs Kämpfe und Qualen in der jüdischen Tragödie der 30er Jahre siehe Leftwich, S. 81-99. 142 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 41-43. Zu Zweigs persönlicher Rolle bei der kulturellen Vermittlung auf paneuropäischer Ebene siehe Harry Zohn, „Stefan Zweig, The European and the Jew", in: Leo Baeck Yearbook 27, 1982, S. 323-336. 143 Helmut Nürnberger, Joseph Roth, Hamburg 1981, S. 17-35. David Bronsen, Joseph Roth: Eine Biographie, Köln 1974, und Joseph Roth, Werke, hg. und Einführung von Hermann Kesten, 4 Bde., Köln 1975-1976, sind die wichtigsten Informationsquellen über sein Leben und Werk. 144 Zitiert in: David Bronsen, „Austrian versus Jew: The Torn Identity of Joseph Roth", in: Leo Baeck Yearbook 18,1973, S. 223. 145 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Amsterdam und Köln 1985, S. 22-39, „Das jüdische Städtchen". 146 Ebenda, S. 26-34. 147 Siehe Philip Manger, „TheRadetzky March·. Joseph Roth and the Habsburg Myth", in: Marc Francis, Hg., The Viennese Enlightenment, London und Sydney 1985, S. 40-62. 148 Juden auf Wanderschaft, S. 39-73. Der Abschnitt „Die westlichen Gettos", S. 39-60, beginnt mit einigen denkwürdigen Seiten über die Ansiedlung der Ostjuden in Wien nach 1914, deren Zeuge Roth aus erster Hand war. 149 Ebenda, S. 11, „Ostjuden im Westen". 150 Joseph Roth, Hiob. Roman eines einfachen Mannes, in: Joseph Roth, Romane und Erzählungen, 4 Bde., Amsterdam-Köln 1975, Bd. 1, S. 153. Dieser 1930 erstmals veröffentlichte Roman wurde von Stefan Zweig und Thomas Mann aufs höchste gelobt. Siehe auch Sidney Rosenfeld, „The Chain of Generations - A Jewish Theme in Joseph Roth's Novels", in: Leo Baeck Yearbook 18,1973, S. 228ff.

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Anmerkungen

151 Siehe Nürnberger, S. 20-23. Roths Vater Nachum kam aus Westgalizien und wuchs unter den Chassidim auf. 1892 heiratete er in Brody Maria Grübel (Roths Mutter) und wurde bald darauf geisteskrank. Sein Sohn lernte ihn nie kennen und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Roths Beziehung zu seiner Mutter war mühsam und schwierig. 152 Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: Joseph Roth, Romane und Erzählungen, 4 Bde., Amsterdam-Köln 1975, Bd. 2, S. 219. 153 Joseph Roth, Radetzkpnarsch, S. 312. 154 Ebenda, S. 156. 155 Joseph Roth, Die Kapuzinergruft, in: Joseph Roth, Romane und Erzählungen, 4 Bde., Amsterdam-Köln 1975, Bd. 4, S. 194. 156 Zu Roths antideutschen Ansichten siehe Wolf R. Marchand, Joseph Roth und die völkischnationalistischen Wertbegriffe, Bonn 1974. 157 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Amsterdam-Köln 1985, S. 47: „Nach dem Krieg wurden sie, zum Teil gewaltsam, repatriiert. Ein sozialdemokratischer Landeshauptmann ließ sie ausweisen. Für Christlichsoziale sind's Juden. Für Deutschnationale sind sie Semiten. Für Sozialdemokraten sind sie unproduktive Elemente. Sie aber sind arbeitsloses Proletariat." 158 Ebenda. 159 Nürnberger, S. 7ff.; Bronsen, Joseph Roth, S. 12ff. 160 Siehe Walter H. Sokel, „Franz Kaflsa as a Jew", in: LeoBaeck Yearbook 18, 1973, S. 234238, und die Bemerkungen von Bronsen über Roth, „Austrian versus Jew", S. 224. 161 Juden auf Wanderschaft, S. 20: „Sie haben kein ,Vaterland', die Juden, aber jedes Land, in dem sie wohnen und Steuern zahlen, verlangt von ihnen Patriotismus und Heldentod und wirft ihnen vor, daß sie nicht gerne sterben. In dieser Lage ist der Zionismus wirklich noch der einzige Ausweg: wenn schon Patriotismus, dann lieber einen fiir das eigene Land." 162 Ebenda, S. 17. 163 Ebenda, S. 25. Siehe Roths Bemerkung: „Einem ostjüdischen Chassid und Orthodoxen ist ein Christ näher als ein Zionist." 164 Brief von Joseph Roth an Stefan Zweig aus dem Hotel Foyot in Paris, vom 14. Aug. 1935, in: Roth, Briefe, 1911-1939, Hermann Kesten, Hg., Amsterdam-Köln-Berlin 1970, S. 419422. 165 Brief vom 19. Aug. 1935 von derselben Adresse an Stefan Zweig, ebenda, S. 422-424. Es ist interessant, daß Roth damals glaubte, die Katholiken allein würden heldenhaft gegen das Dritte Reich kämpfen. Zu Roths Exiljahren in Paris (er beging hier im Jahre 1939 im Alter von 44 Jahren Selbstmord) siehe Henri Cell&ier, „Une Patrie pour im βχίΐέ: Joseph Roth", Austriaca 19, Nov. 1984, S. 49-68. 166 Briefe, S. 423. 167 Ebenda, S. 257. Brief von Roth an Stefan Zweig, datiert 22. Mai 1933; ebenda, S. 257: „Man konnte das 6000jährige jüdische Erbe nicht verleugnen, aber ebensowenig kann man das 2000jährige nichtjüdische verleugnen. Wir kommen eher aus der Emanzipation', aus der Humanität, aus dem ,Humanen', als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind

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Goethe, Lessing, Herder nicht minder als Abraham, Isaac und Jakob." Siehe auch S. 260, 263-264. 168 David Bronsen, „Der Jude auf der Suche nach einem Vaterland: Joseph Roth's Verhältnis zur habsburgischen Monarchie", in: Wiener Tagebuch, Juli/Aug. 1979, S. 26-50. 169 Siehe Joseph Roth, Briefe 1911-1939, hg. und eingeleitet von Hermann Kesten, Amsterdam-Köln-Berlin 1970, S. 266. 170 Magris, Der habsburgische Mythos, S. 76, merkt an, daß „... gerade die jüdischen Dichter, von Werfel bis Roth und Zweig, mit der größten Liebe an der Monarchie als ihrem geistigen Vaterland hängen". Wie wir bereits früher gesehen haben, traf man diesen dynastischen Patriotismus in nahezu jeder Schicht der jüdischen Gesellschaft in Österreich an, vor allem nach 1867.

Auswahlbibliographie In dieser Bibliographie sind die zahlreichen Dokumente, Zeitungsartikel und Berichte, die der Autor im Laufe seiner Forschungsarbeit gelesen hat und von denen viele in den Anmerkungen angeführt sind, nicht enthalten. Ebenfalls nicht aufgenommen wurden in den Anmerkungen verzeichnete Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, die gleichfalls zu zahlreich waren, um hier aufgezählt werden zu können. Die vorliegende Bibliographie beschränkt sich ausschließlich auf die wichtigsten Bücher, Erinnerungen und Briefwechsel (Primär- oder Sekundärquellen), die in dieser Arbeit ausdrücklich zitiert werden und von allgemeinem Interesse für den Leser sind.

PRIMÄRQUELLEN ACHER, MATHIAS (N. Birnbaum), Die jüdische Moderne, Wien 1896 - Zwei Vortrüge über den Zionismus, Berlin 1898 - Das Stiefkind der Sozialdemokratie, Wien 1905 ADLER, VICTOR, Außätze, Reden und Briefe, 11 Bde., Wien 1922-1929 BALAKAN, DAVID, Die Sozialdemokratie und das jüdische Proletariat, Czernowitz 1905 BAUER, OTTO, Die Nationalitäten/rage und die Sozialdemokratie, Wien 1907 BEER-HOFMANN, RICHARD, Der Tod Georgs, Berlin 1900 - Jaakobs Traum, Berlin 1920 - Gesammelte Werke, Frankfurt 1965 BERCHTHOLD, KLAUS (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967 BERGEL, KURT (Hg.), Georg Brandes undArthur Schnitzler: Ein Briefwechsel, Bern 1956 BILLROTH, THEODOR, Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, Wien 1876 BIRNBAUM, NATHAN, Die Assimilationssucht: Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität, Wien 1884 - Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Juderfrage, Wien 1895 - Ausgewählte Schriften zurjüdischen Frage, Czernowitz 1910 - Die Jüdische Moderne. Frühe Zionistische Schriften, Augsburg 1889 - Gottes Volk, Wien und Berlin 1918 BLOCH, JOSEF SAMUEL, Aus der Vergangenheit für die Gegenwart, Wien 1886 - Der nationale Zwist und die Juden in Österreich, Wien 1886 - Dokumente zur Aufklärung: Talmud und Judenthum in der Österreichischen Volksvertretung: Parlamentsreden, Wien o. J. - Erinnerungen, 2 Bde., Wien und Leipzig 1922 - Israel und die Völker. Nach jüdischer Lehre, Berlin und Wien 1922

Primärquellen

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BOROCHOV, BER, Ketavim, 3 Bde., Tel Aviv, 1955-1966 (hebräisch) BROCH, HERMANN, Schriften zur Literatur, I, Frankfurt 1975 BUBER, MARTIN, Die jüdische Bewegung, 1,1900-1914, Berlin 1920 - Briefivechsel aus sieben Jahrzehnten, 1,1897-1918, Heidelberg 1972 CHAMBERLAIN, Η. S., Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., München 1899/1900 CHARMATZ, RICHARD, Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, Leipzig 1909 - Adolf Fischhof: Das Lebensbild eines österreichischen Politikers, Stuttgart und Berlin 1910 DALLAGO, CARL, Otto Weininger und sein Werk, Innsbruck 1912 DECKERT, JOSEF, Der ewige Jude „Ahasver", Wien 1894 - TürkennoA undJudenherrschaft, Wien 1894 - Semitische und antisemitische Schlagworte in Doppelbeleuchtung, Wien 1897 DUBNOW, SIMON, Nationalism and History: Essays on Old and New Judaism, Hg. und Einf. K. S. Pinson, Philadelphia 1958 ELBOGEN, FRIEDRICH, Ein Mahnruf an das arbeitende Volk: Die Arbeiter und der Antisemitismus, Wien 1885 ENDLICH, JOHANN QUIRIN, Der Einfluss der Juden auf unsere Civilisation mit besonderer Rücksicht auf Industrial-Anstalten in Österreich, Wien 1848 FRANZOS, KARL-EMIL, Aus Halb-Asien: Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, SüdRußland und Rumänien, I, Leipzig 1876 FREUD, SIGMUND, Gesammelte Werke in achtzehn Bänden, London 1940-1952 - Selbstdarstellung, 2. Aufl., Wien 1936 - Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, Frankfurt/Main 1962 - Briefe an Wilhelm Fließ, 1897-1914, hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt/Main 1986 - Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 1882-1886, hg. und mit einem Vorwort von Ernst L. Freud, Frankfurt/Main 1968. - Sigmund Freud - Karl Abraham, Briefe, 1907-1926, hg. von Hilda C. Abraham und Ernst L. Freud, Frankfurt/Main 1965,1980 - Briefwechsel mit Arnold Zweig, Frankfurt 1968 - Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefwechsel, William McGuire und Wolfgang Sauerländer, Hgg., Frankfurt/Main 1974 - Briefe 1873-1939, hg. von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt/Main 1968 FRIEDJUNG, HEINRICH, Der Ausgeich mit Ungarn, Wien 1877 - Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866, Wien 1897 GEEHR, RICHARD S. (Hg.), „/ Decide who is a Jew!" The Papers of Dr. Karl Lueger, Washington, DC, 1982 GRUNWALD, MAX, Samuel Oppenheimer und sein Kreis, Wien und Leipzig 1913 - Der Kampf um die Orgel in der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, Wien 1919 GÜDEMANN, MORITZ, Jerusalem: Die Opfer und die Orgel, Wien 1871 - Die Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden, I, Wien 1880

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Auswahlbibliographie

- Was bedeutet das Hebräischefür den israelitischen Religions- Unterricht, Wien 1895 - Grabreden während der letztenfünfundzwanzig Jahre in der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, Wien 1894 - Nationaljudentum, Leipzig und Wien 1897 - Jüdische Apologetik, Glogau 1906 - „Aus meinem Leben", 4 Bde., MS, Leo Baeck Institute Archives, New York o. J. HERTZKA, THEODOR, Freiland: Ein soziales Zukunftsbild, Leipzig 1890 - Sozialdemokratie und Sozialliberalismus, Dresden und Leipzig 1891 HERZL, THEODOR, Briefe und Tagebücher: Briefe 1866-1895, Frankfurt und Wien 1985 - Tagebücher, 3 Bde., Berlin 1922 - Der Judenstaat, Wien 1896 - Altneuland, Wien 1902 - Zionistische Schriften, I, 3. Aufl., Tel Aviv 1954 - Gesammelte Zionistische Werke infünf Bänden, Berlin, Tel Aviv 1923 HOFMANNSTHAL, HUGO VON, Selected Prose, Einf. Hermann Broch, London 1952 - Briefwechsel mit Arthur Schnitzler, Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Hgg., Frankfurt 1964 - Briefwechsel mit Leopold von Andrian, Frankfurt 1968 - Briefwechsel mit Richard Beer-Hoftnann, Frankfurt 1972 JAQUES, HEINRICH, Denkschrift über die Stellung der Juden in Österreich, Wien 1859 JEITELES, ISRAEL, Die Kultusgemeinde derlsraeliten in Wien, Wien 1875 JELLINEK, ADOLF, Predigten, 2 Bde., Wien 1862-1865 - Schma Jisrael: Fünf Reden über das israelitische Glaubensbekenntnis, Wien 1869 - Studien und Skizzen. Derjüdische Stamm: Ethnograhpische Studie, Wien 1869 - Bezelem Elohim: Fünf Reden über die israelitische Menschenlehre und Weltanschauung, Wien 1871 - Der israelitische Weltbund: Rede, am 1. Tage des Hüttenfestes 5639gehalten, Wien 1878 - Franzosen über Juden: Urteile und Aussprüche berühmterftanzösischer Staatsmänner und Gelehrter über Juden und Judentum, Wien 1880 - Die hebräische Sprache: Ein Ehrenzeugnis des jüdischen Geistes, Wien 1881 - Der Talmudjude: Vier Reden, Wien 1882 - Aus derZeit: Tagesfragen und Tagesbegebenheiten, Budapest 1886 - Denkrede auf Moses Mendelssohn am 4. Januar 1886 im israelitischen Bethause der innern Stadt Wien, Wien 1886 - Gedenkrede auf Herrn JosefRitter von Wertheimer am 25. März 1887 im israelitischen Bethause der innern Stadt Wien, Wien 1887 - Das vierzigste Passahfest unter der Regierung Sr. Majestät Franz Joseph I.: Rede am 1. Tage des Passahfestes im israelitschen Tempel der innern Stadt Wien gehalten, Wien 1888 - Dio, il mondo e Vuomo secondo le dottrine del giudaismo, Triest 1890 KAFKA, FRANZ, Briefe, 1902-1924, New York-Frankfurt/Main 1958 KAPLAN, Α. E., und LANDAU, MAX (Hgg.), Vom Sinn des Judentums: Ein Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums, Frankfurt 1924

Primärquellen

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Glossar der im Text nicht erklärten Ausdrücke Agada: Jener Teil der mündlichen Lehre, der nicht zur Halacha gehört; eine Sammlung allegorischen Materials, darunter Geschichten, Chroniken, Sprüche der Weisen sowie Ermahnungen der Propheten. Agudat Israel: 1912 gegründete religiös-orthodoxe, nichtzionistische (ursprünglich antizionistische) politische Bewegung. Ba'al Tschuva: Bezeichnung für jemanden, der gesündigt hat und auf den Weg des rechten Lebens zurückkehrt, wie er von orthodoxen Judentum vorgeschrieben wird. Bet ha-Midrasch: Lehrhaus Chacham: Wörtlich „Weiser". Titel des Rabiners in sephardischen Gemeinden. Chalitza: In der Bibel vorgeschriebene Zeremonie, wenn ein Mann sich weigert, die kinderlose Witwe seines Bruders zu heiraten. Chalutzim: Pioniere. Bezeichnung für jene Landarbeiter, die nach der Jahrhundertwende die jüdischen Siedlungen in Palästina aufbauten und eine gemeinschaftliche, sozialistische Idee der Zusammenarbeit vertraten. Cheder: Orthodox-religiöse jüdische Grundschule. Chewra-Kaddischa: Wörtlich „Heiliger Verband". Bezeichnung jüdischer Bruderschaften, die Kranke besuchten, Tote begruben und die Hinterbliebenen trösteten. Golus: Jiddisches Wort für Diaspora, der hebräische Begriff lautet Galut- „Exil". Halacha: Das Gesetz des Judentums, Grundlage und Ergebnis der religiösen Praxis. Haskala: Jüdische Aufklärung. Kaschrut: Vorschriften der jüdischen Speisegesetze. Machzike Hadath: 1879 gegründete jüdische Vereinigung in Galizien und der Bukowina mit dem Ziel, die orthodoxen Juden für den politischen Kampf vor allem gegen säkuläre oder „fortschrittliche" Tendenzen zu einen, die als schädlich für die Tradition der Gemeinde erachtet wurden. Maskilim: Anhänger und Verfechter der Haskala oder jüdischen Aufklärung. Melamed: Hebräischlehrer der Knaben. Keine sehr geachtete Stellung. Im übertragenen Sinn ein Schkmiel oder gutmütiger Mensch. Pijut: Hebräische liturgische Poesie. Schtadlanim: Fürsprecher, Verteidiger und Vertreter der jüdischen Gemeinde, die ihren Zugang zu den hohen Würdenträgern in Staat und Kirche nutzten, um ihre Glaubensbrüder

Glossar der im Text nicht erklärten Ausdrücke

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vor Willkürakten zu schützen. Sie waren die inoffiziellen Repräsentanten einer staatenlosen Gemeinde in vormoderner Zeit. Schied: Kleines Städtchen oder Dorf in Osteuropa mit einer charakteristischen aschkenasischjüdischen sozio-kulturellen Struktur. Schulchan Aruch: Der verbindliche Rechtskodex jüdischer Gesetze redigiert von Josef Karo, verfaßt im 16. Jahrhundert in der Stadt Safed im Norden Israels. Taschlik: Brauch praktizierender Juden, am Neujahrstag Brotkrumen in einem Fluß zu werfen als Symbol dafür, daß der Strom ihre Sünden hinwegschwemmen möge. Jeschiwa: Traditionelle jüdische Hochschule, deren Schüler sich dem Studium des Talmud und der rabbinischen Literatur widmen.

Register Periodika sind kursiv gesetzt.

Aaron, Isaak 17 Abel, Heinrich 183 Abeles, Otto 288, 300 Aberdeen, Lord 623 Abraham a Sancta Clara 13, 185, 590 Abraham, Karl 436,457,459, 460, 466, 671, 672 Abrahamsen, David 422,659 Absolutismus 21,91,101,123,125,128,181 Abuja, Elisa ben 628 Abulaiia, Abraham 95 Achad Ha'am („einer vom Volk", Pseud. Ascher Hirsch Ginsberg) 308, 336, 520, 646 Acher, Mathias (Pseud. Nathan Birnbaum), s.a. dort 318,628 Adler, Alfred 176,463-465 - Friedrich 273 - Leopold 464 - Max 393 - Victor 54, 126,143, 144,174, 175, 194,209, 219,273-275, 393,406,444, 445,447, 510, 576, 610, 631, 638,667 Adler-Pernerstorfer-Kreis 685 Admath Jeschurun 304, 305, 314, 317, 322 Adorno, Theodor 686 Agada 98 Agliardi, Antonio 597 Agudat Israel (Weltorganisation) 315, 342 Aguilar, Baron Diego 14 Ägypten 472,490 Ahavat Zion 304 Ahorn, Marcus 390 Akademische Legion 30,37, 181 - Lesehalle 350,484 - Redehalle 350 Akademischer Leseverein 478 Akademisches Gymnasium 477 Akiba, Rabbi 232 Albia-Burschenschaft 306, 344, 350-352

Albrecht V., Herzog 11 Aleichem, Scholom 339 Alkalai, Jehuda, Rabbi 349, 638 Alldeutschtum in Österreich 118,119,135-137, 152,156,172,174-177, 179-182,195,209, 212,213,215,221,245,247, 351, 393, 398, 466,488,511,526,541,576 Allgemeine Zeitung des Judentums 443 Allgemeines Krankenhaus 126,448, 450,453, 480 - Wahlrecht 82,190, 218, 262,263, 265, 269-271, 341, 363 Alliance Israelite Universelle 3, 65, 67, 73, 76, 140, 374, 375, 392, 556, 557, 577-579, 585 Alljudentum 337, 342 Alpenländer 127,179, 274 Alpentäler 537 Aisergrund 45, 54, 55, 563 Altenberg, Peter 406, 515, 519, 520 Altes Testament 216,412,443,449,451 Altmann, Alexander 86 Amsterdam 48 Andrian, Leopold von 411, 509 Anninger, Wilhelm 279 Anschluß 181 Antifeminismus 421,428 Antiklerikalismus 124,573 antisemitische Presse 277 - Burschenschaften 479 - Massenparteien 406 - Rassenlehre 352 antisemitischer Kongreß in Dresden 1882 174, 210 - Rassismus 216 Antisemitismus 2,3,14, 32, 34,47,50,52, 55, 57, 60, 61, 67, 74, 81-83,90, 91,99,104, 106-109,117,119,122,124,130,131, 133-136,138,140,141,143,145-166, 171-174,176-179,182-186,188-191,194-196,

Register

198-209,211-215,217-223,227- 229,232, 234,237-241,243,246,248-252,254,255, 257,258, 260-263,266-269,271-274, 277, 279, 280,282, 291, 292,295, 298- 300, 303, 304,306, 312, 317, 320, 321, 324- 327, 329, 331, 332,341, 344, 347, 351, 353-363, 365, 366, 373-376, 379-383, 386, 387, 389,390394, 397,398,413-420,426,428, 434,435, 440,442, 445,446,448,453,455, 457,458, 460,466, 468,469,473,477-481,483,484, 487,488,490,492,494-497, 500- 503, 508511, 513, 514, 520, 522, 526, 527, 529, 538, 539,542,575,578,593,599,610,613,619, 636, 642, 659, 662,671, 672, 678, 681 -

biologischer 177 christlichsozialer 197 nationaler 243,247 politischer 146,204,316,654 rassischer, s.a. Rassenantisemitismus 137, 179, 208, 247, 351, 452 - studentischer 145 - völkischer 320 Antizionismus 255 Arany, Jänos 346 Arbeiterbewegung 124, 190, 219, 271,273, 393, 396 Arbeiterklasse 129,133,209, 223,232, 260, 262,270, 374, 612 Arbeiterverbindungen 232 Arbeiterzeitung 62, 143, 194, 199, 372, 394, 413,416 Argentinien 68, 75, 322, 362,488 Armee 145,146 Arnstein, Familie 17,28,220 - Fanny von 17,24,25 - Isaak Aaron 17 - Nathan Adam 17,24 Asch, Scholem 339 Assimilation 50-52, 56,57, 75,109,111,112, 117,137,159-161,173, 205, 226, 254,256, 287,289-293,295, 297, 298, 301, 304, 310, 311,313, 314, 316, 318, 321, 326, 331, 332, 337, 339, 341, 346, 352,359, 363, 373, 376378, 389, 392,395-397,399,421,443, 445447, 452,490,4Ö3, 503, 505, 513, 525, 535, 539,552, 619,636,663,666

709

Assimilationismus 76,136,166,207, 228,, 235, 239,242,282,294, 310, 320,326,327,329, 330,340, 350,362, 373,374,388, 392,395, 418,465, 484,489, 497, 535, 675 assimilatorisch 412,443 assimilierbar 385 assimiliert 300, 387, 417,476, 508, 509, 521, 522 assimilierte Juden 681 Ästheten 409 Ästhetizismus 398,407,433,481, 482, 512, 520, 533 Athen 471 Auemheimer, Raoul 363, 643 aufgeklärter Absolutismus 23 Aufklärer 290 Aufklärung 99, 101, 110, 113, 116,120, 152, 159, 187, 199, 204, 209,214,282, 298,321, 324, 340, 44«, 458, 522, 523, 534, 541, 602, 677 Ausgleich mit Ungarn 126,127 Auspitz, Lazar 24, 26, 28, 139 Austerlitz, Friedrich 273, 393, 394,413,617 Australien 374 Austroliberalismus 124,132,190, 219, 260, 369,415,445,503, 573 Austromarxismus 129, 187, 338, 392, 393, 395, 406,625 Autonomismus 343, 373 Avenarius, Richard 422,423 Axmann, Julius 414 B'nai B'rith-Loge 63,437,458,459,401 Ba'al Tschuva 316 Bacher, Eduard 144,363,364,384 Badeni, Graf Kasimir 192,266, 456, 644, 650 Badeni-Sprachenverordnungen 278 Bahr, Hermann 398,411, 480, 515,519, 633 Balfour-Declaration 530 Balkan 65, 83, 537, 638 Bambus, Willy 334 Binffy, Baron Desider 192 Bar-Kochba, Studentenverbindung 521 Barock 10,123, 522 Baruch, Reuben 106 Basel 307, 364, 399,417, 488

710

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Basler Kongreß, s.a. Zionistenkongreß in Basel 1897 305, 555, 599 Bauer, Bruno 55 - Julius 370 - Otto 187,273,538,395,595,625 Baumgarten, Emmanuel 255, 256,238,242 Bayreuth 422 Bebel, August 525 Becher, Alfred Julius 225 Beer, Friedrich 556 Beer-Hofmann, Familie 687 - Richard 5, 309, 398, 411, 480,482,484, 505, 509, 514, 516-518, 520-522, 541, 653, 679, 687, 688 Beethoven, Ludwig van 420, 431 Bekessy, Imre 411 Belgien 117-119,121, 128, 375, 541 Belgrad 348 Bellamy, Edward 568 Ben-Yehuda, Eliezer 116 Ben-Zeev, Juda Leb 114, 115 Benedikt, Moriz 142, 144, 565, 564, 411,415, 416,419, 640, 644 Benedikt, Moritz 104 BerBorochov 624 Berchtesgaden 460 Berger, Johann Nepomuk 445 Berkeley, George 662 Berlin 16, 20, 25, 42, 75, 84, 96,105,115,115, 124,155,158,159,171,179, 200, 202,205, 208, 209, 212,247,289, 290, 292, 503, 318, 529, 551, 534, 352-354, 574, 585, 445, 455, 465, 502, 525, 528, 554, 540, 561, 565, 655, 657, 645, 669, 671 Berliner Haskala 114 - Kongreß 65, 68 Bemays, Isaak 448 - Jacob 89, 104 - Martha 436, 448,450, 455,454, 668-670 Bernheim, Hippolyte 475 Beschneidung 85, 86 Bet ha-Midrasch 105, 109, 251, 451, 568, 669, 670 Bezalel Kunstschule in Palästina 528 Bibel 85, 520,459, 445,450, 516 Biedermann, Michael Lazar 26, 28, 84

Bielohlawek, Hermann 414 Bierer, Josef 299, 303 - Reuben 287, 288, 292, 300, 501, 504,505, 515, 579, 618 Bikkurei Ha'Ittim 114 Bildung 49, 52, 55, 66, 86, 88, 97,112,117,124, 129, 152,159, 173, 222,240, 259,299, 323, 508, 523, 554, 535, 616, 689 Bilinski, Leon Ritter von 252, 608 Bilitz, Samuel 638 Billroth, Theodor 19, 155, 179,447 Binswanger, Ludwig 459 Birnbaum, Nathan, s.a. Acher, Mathias 3,259, 288, 292, 295,296, 501,304, 305, 307, 315318, 320-327, 329-332, 554-543, 352, 577, 578, 596, 520, 619, 620, 622, 651, 626-655, 646- 648 - Solomon 650 Bismarck, Otto von 10, 136, 155, 174, 175, 179, 180, 182, 206, 208, 212,251, 551, 360, 391, 428, 498, 594, 637, 641 Blanc, Louis 526, 567 Bloch, Josef Samuel, Rabbi 3, 72, 107, 131, 132, 134, 138, 140, 161-166, 176, 186, 198, 218, 225, 230-259, 245-258,267,271,282, 285, 300, 301, 580, 582, 586, 565,579, 584585, 593, 601-605, 605-606, 608, 610 Blume, Ludwig 477 Blutlibell 10 Boden-Creditanstalt 141,195 Böhm, Adolf 544 Böhmen 10, 11,15, 27, 50, 52, 58, 41,45-45, 52, 58, 66, 86, 97, 102, 112,118, 127, 158-140,165,172,175,179,182,185, 207, 221, 245, 261, 265,268,275,277,278,280, 289, 305, 311, 396, 418, 557, 595 Bonaparte, Marie 457, 664 - Napoleon I., Kaiser 10,17,469, 545, 666 Borkenau, Moritz Ritter von 577 Börne, Ludwig 28, 111 Börsenkrach von 1875 124,500,508,575 Bosnien 175 Bossuet, Jacques Benigne 96 Brahm, Otto 502 Brainin, Reuben 504, 505, 545, 618, 632 Brandes, Georg 408, 501, 502, 681

711

Register

Brasilien 68 Bratislava 172 Braun, Heinrich 444, 445, 666 - Ludwig 437 Braun-Vogelstein, Julie 666, 667 Braunthal, Julius 273 Breitenstein, Max 267 Brenner-Kreis 432 Brentano, Franz 667 Breslau 85,105 Breuer, Josef 450,451, 455 Brigittenau 54, 59, 305 Britannien, s.a. England 128 Broch, Hermann 406,432, 505, 507, 508, 522, 684 Brod, Jakob 274, 275 - Max 412,529, 665 Broda, Hirsch 96 Brody 26, 67, 90,115, 374,440, 534,536, 692 Brücke, Ernst Wilhelm 445 Bruckner, Anton 685 Brünn 139,303,624 Brünner Kongreß 129 Brunner, Luden 616 - Sebastian 34,119,185, 187,191 Brüssel 118,484 Buber, Martin 342, 519-522, 528, 529,531, 532,535, 541, 688 - Salomon 519 Budapest 41, 42, 52,113,122, 126, 130, 133, 142,148,154,174,228, 345, 3 « , 574,575, 637, 638, 648 Bukarest 315 Bukowina 50, 56, 59, 61, 63, 65, 69,112,113, 128,163,175,287,299,304,310,311,315, 322, 392, 519, 558 Bulgarien 618 Buonarotti, Michelangelo 431,471 Bürgerministerium 121,443 Burns, Robert 662 Burschenschaften 55,179,181, 205,295, 301, 305,349, 447, 623 Busch, Isidor 30,115 Buschenhagen, Josef 60 Byk, Emil 239,246, 598

Cabet, fitienne 367 Caprivi, Graf Georg Leo 215 Carlyle, Thomas 428, 662 Centraiverein 160 Chaizes, Adolf 30 Chalitza 95 Chalutzim 530 Chamberlain, Houston Stewart 408, 415,420, 421, 426,428,429, 657 Charcot, Jean-Martin 454,475, 670 Charmatz, Richard 496 Chassiden 47,49, 65, 73,113,199, 220, 289, 438-440, 519,521,535 Cheder 229, 558 Chewra Kaddischah 148,244 Chibbat Zion-Bewegung 200,203, 618 Chmielnicki-Massaker 12 Chovevei Zion-Bewegung 252,288, 305, 328, 275 Christina von Schweden, Königin 13 Christliche Volkspartei 173 Christlicher Verein zur Abwehr des Antisemitismus 157,378,648 - Sozialismus 176,186,190,194,273,526 Christlichsoziale 82, 122,141,14«, 154,156, 171, 177, 182, 183, 185, 188, 190-193, 215, 217, 219,220,222, 244,24«, 251,158, 260, 263, 266, 267, 272,273,276,278, 280, 414, 418,456, 538, 591, 592 Christlich-sozialer Verein 188,591 Chrobak, Rudolph 155 Cicero 96 Clemenceau, Georges 152,223 Cohen, Schalom ben Jakob 114 Concordia 370 Cowen, Joseph 645 Creditanstalt, österreichische 28, 92,140, 569 Cremieux, Isaac Adolphe 121 Cromwell, Oliver 469 Czemowitz 52,113,124,199,301, 303, 307, 315, 337, 339,340 Czortkow 50 Dallago, Carl 432 Dalmatien 40,128,175 Dänemark 84, 85

712

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Danneberg, Robert 275, 593 Darwin, Charles 555 Darwinismus 430, 445, 496 Daszynski, Ignacy 527 David, Vital 308 Decken, Josef 164,183,184,215, 216,245,246 Deckert-Mayer-Mare 585 Dehmel, Richard 513, 686 Deutsch, Ignaz 94, 95, 103, 556 - Julius 273 Deutsche Volkspartei 152, 155, 155, 177, 602 Deutsche Wochenschrift 156, 162,249, 555 Deutsche Zeitung 136,176, 576 deutsche Akademische Legion 504 - Aufklärung 496, 503 - Bildung 23,116, 387 - Burschenschaften 298, 302,498 - Kultur 23, 111-115,156,157,207, 229,252 295, 298, 514, 548, 592, 421, 445, 447, 521, 657 - Nationalversammlung in Frankfurt 97, 118 - Romantik 511 - Turnvereine 179 - Verfassungspartei 255 - Wissenschaft 116 Deutsche Worte 655 deutscher Humanismus 120 - Leseverein 447 - Liberalismus 551 - Schulverein 212, 588 Deutsches Reich 180, 500, 558, 525 Deutsches Volksbhtt 155,185,414 Deutschland 10,15, 50, 76, 85, 88, 89, 108, 112, 119, 121, 124, 155, 158-160,171, 172, 180, 200,204, 206,208, 212, 215,249,288, 552, 553, 565, 566, 445,452, 465,466, 518, 519, 523, 599, 642, 667 Deutschliberale, s.a. Verfassungspartei 118, 140,142,152,217,218, 251, 258-260,261, 263-265,267-269 Deutschnationale 156, 156, 171,179, 214, 228, 245, 269, 548-550,480,484,490, 497, 498, 510, 527,558, 678 deutschnationale Burschenschaften 301-303, 350, 625 - Studenten 299, 300, 505,504, 445, 548

deutsch-österreichischer Leseverein 478 Deutschradikale 246 Deutschtum 98, 112,113,125,155,142,165, 164,212,228, 270, 496,498 Diamand, Hermann 595, 652 Diaspora 48, 99,101,108,244,285, 315-317, 321, 524, 551, 557, 558, 540, 542, 572, 580, 585, 588, 590,412,429, 494, 511, 529, 552-554, 650 Disraeli, Benjamin 121, 347, 550, 551,420, 659 Dmowski, Roman 175 Döbling 55, 140, 155 Doderer, Heimito von 452 Doli, Franz 245, 246 Dostojewski, Fjodor 509 Dreißigjähriger Krieg 12, 14 Dresden 445 Dreyfus, Alfred 222, 559, 560, 416-418,467, 642, 658, 674 Dreyfus-Afiare 146,158, 222, 559, 560,416, 459, 642 Dubnow, Simon 538 Dühring, Eugen 180,205,206,551-555 Ebner-Eschenbach, Baronin Marie 155 Eckart, Dietrich 429, 661 Eckstein, Gustav 595 Eduard VII., König 68 Ehrmann, Solomon 458 Einstein, Albert 514 Eisenmenger, Johann Andreas 14, 186,255 Eisenstadt 250 Eiserner Ring 161 Elbogen, Friedrich 209, 240,270, 615 Elisabeth, Kaiserin 150, 581 Ellenbogen, Wilhelm 194,275,274, 595 Emanzipation 56, 51, 91, 101, 105, 110, 121, 122,154,158,144,145,147, 158,159,180, 185,186,199, 202-205, 229, 264,294, 557, 3*0, 346, 555, 557, 561, 590, 592, 406,419, 555 Emmersdorf 151 Endlich, Johann Quirin 54 Engeres Aktions-Komitee (EAC) 508 England, s.a. Britannien 15, 117, 119, 121, 128, 575, 420,468, 522, 644

Register

Ennser Blutlibell 11 Ephrussy, Ignaz Ritter von 577 Epstein, Raissa 464 Eretz Israel 288 Erster Weltkrieg 1,48,85,146, 511, 515, 542, 410,462, 506, 509, 512-514, 517, 521, 529, 551,557,542,655,678 Eskeles, Bernhard 16,17,24,28,220 - Cäcilie 16, 17 - Issachar Berusch (Bernhard Gabriel) 16 Euler, Leonhard 430 Ewen, David 527 Eybeschütz, Rabbi 114 Ezechiel, Prophet 101 Fabier-Gesellschaft 262, 610 Fackel, Die 405,407,408,415-417, 420,435 Faraday, David 450 Farbstein, David 554, 555 Faschisten 428 Favoriten 45, 55, 505 Februar-Patent 101 Ferdinand I., Kaiser 507 Ferdinand Π., Kaiser 12 Ferenczi, Sändor 462, 466, 675, 674 Feudalismus 56,225 Feuerbach, Ludwig 445 Fichte, Johann Gottlieb 428 Fischel, S.G. 240 Fischhof, Adolf 29, 50, 35, 56, 90,118, 126-151,155-155,214,217, 218, 225, 252-254,256,259,248,268,269, 548, 574, 575,602, 605,612 Fleischer, Heinrich 96 - Siegfried 217,260,265,264,271,276,278, 279,282 Fließ, Wilhelm 423,455-457,465, 660, 665, 671, 672, 674 Florenz 522 Floridsdorf 150,162,165,231,253,259,245, 599,601,612 Föderalismus 151,154, 558 Fourier, Charles 526,567 Fraenkl, Wilhelm 155 Franck, Adolphe 95 Frankel, Zacharias 85,97,104

715

Frankfurt (Main) 534 Frankl, Ludwig August 28,29,56,126,145 Frankreich 15, 28,117,119,121, 158,159, 222, 225,298, 552,554, 560, 572,275,416,484, 486, 599, 642 Franz Ferdinand, Erzherzog 141 Franz Joseph I., Kaiser 5, 9, 58,40, 69, 70, 91-95, 97,156,158,147-151,197,217,226, 227,247,410, 507,556, 537,541, 555, 580, 581, 600 Franzos, Karl-Emil 50, 51, 113 Französische Revolution 129,187,481 Frauenberger, Franz 155 Freiberg 446 Freie Blatt, Das 155,157,648 Freud, Amalia 441 - Anna 669, 674 - Jakob 458-440 - Martin 441, 674 - Sigmund 1, 54, 56,406,425, 455-458, 440-476, 482-484,407,506,510, 658, 660, 664-677, 685 - Sophie 669 Friedmann, Meir 451, 568, 577, 670 Friedemann, Adolf 507 Friedjung, Heinrich 155, 162,174-176,217, 238,249, 251,260,264,555, 576,597, 602, 605, 658 Friedländer, Max 144 Friedmann, Meier 251 Friedrich I., Herzog 10 Friedrich I., König 14 Friedrich Π., Herzog 11 Friedrich Π., Kaiser 11 Fuchs, Josef 217, 267,271,276,277, 615 Fürth, Ludwig Lazar 604 Gabel, Heinrich 255 Galilei, Galileo 450 Galizien 19,20,27,50, 52,40,42,45,46,4749,50-52,55,56,58-65, 65,69-72, 74-76, 82,85,92,94,95,97,111,115-115,127,131, 139,140,156,161,165,172,175,179,185, 194,199,205,210, 215,220, 228-230,234, 236-257,239, 242-244,255,267,274-277, 279, 280,288,292,299, 305, 504, 507, 510,

714

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

511, 514, 522, 527, 528, 550, 551, 540, 574, 592, 595, 599,417, 441,447, 4«2, 506, 508, 519, 527, 529, 554, 555, 556, 558, 598, 617, 618, 651, 652, 652 Galut, s.a. Golus 292, 294, 521, 527, 551, 554, 557, 559, 652 Gamalah-Burschenschaft 505, 506, 507, 555, 625 Gambetta, Leon 152,547 Gautsch, Baron Paul 278 Gegenreformation 12 Gegenrevolution 29, 56, 91,125 Geiger, Abraham 85,104,114, 291 Gelobtes Land 151 Gemeinderat (Wien) 118 George, Heniy 526 Germanisierung 44 Gesellschaft der Ärzte 455 Geseres 467, 468 Gessmann, Albert 215 Ghetto 12,14, 25, 56, 58,46, 48, 49, 64, 75, 74, 101, 105, 115,144, 150, 177,200,229, 257, 552, 557, 542, 551, 555, 556, 561, 575, 574, 592, 594, 595, 597, 599,417,418, 459, 475, 404, 525, 555, 617, 652, 655, 655 Giskra, Karl 445 Glaser, Julius 125, 142, 547 Gleichberechtigung, bürgerliche 147,202, 260, 281 Goethe, Johann Wolfgang von 112, 451, 445, 522, 528, 661 Goldhammer, Leo 456,468 Goldmark, Josef 29, 55, 90,126,225 Goldschmidt, Julius Ritter von 577 - Moritz Ritter von 159 - Theodor Ritter von 577 Goluchowski, Graf Agenord.J. 565,644 Golus, s.a. Galut 557, 559, 541, 542 Görz 27,40,115 Gothia-Burschenschaft 625 Goudchaux, Michel 121 Graetz, Heinrich 86, 105-105, 298 Graz 178,214,507 Greenberg, J.L. 645 Gregorig, Josef 222,265,278,414 Grenzboten, Die 118

Grillparzer, Franz 24, 572, 589, 661, 685 Groß-Kanizsa 476,487 Großwardein 148 Grübel, Maria (Mutter Joseph Roths) 692 Grüber, Max 610 Griibl, Raimund 251 Grünfeld, Josef 240 Güdemann, Moritz 5, 72, 76, 84, 105,104-110, 116,165, 255,241, 255, 565, 572, 580-592, 561, 569, 570, 577, 585, 605, 657, 645-644, 645, 649-651 Güns 476 Gutmann, David Ritter von 64, 69,159-141, 275, 565, 577, 605 - Gebrüder 92, 159 - Wilhelm Ritter von 159, 140, 194, 577, 605 Ha-Emet 626 Ha-Ivri 299 Ha-Maggid 299 Ha-Melitz 299 Ha-Schachar 5, 115, 289, 290, 514, 619, 620 Ha Tzefirah 299 Hainisch, Michael 610 Halacha 101 Hamagid 116 Hamburg 84, 88, 89, 448,465 Hameliz. 117 Hamilkar Barkas 440 Hamilton, William 662 Hammerschlag, Anna 669 - Samuel 449,450, 669 Hamsun, Knut 661 Hannibal 440,446, 469, 668 Hannover 104 Hanslick, Eduard 87 Harden, Maximilian 411 Hardenberg, Karl August 24,25 Hartmann, Moritz 28, 29, 174 Harzfeld, Leopold 26 Hasdrubal 440 Hashomer Hatzair 521 Haskala 20,45,49, 98,115, 114,115,289,290, 564,602 Hasmonea-Burschenschaft 501, 505, 507, 625 Hauptmann, Gerhart 409

Register

Havlfiek, Karel 548, 587 Hazefirah 117,656 Heidelberg 303 Heiligenstadt 155 Heiliges Land 347, 374, 579, 589, 394 Heiliges Römisches Reich 10 Heine, Heinrich 25, 28,150, 570,420, 654 Helmholtz, Hermann von 445 Henisch, Meir 115 Herbst, Eduard 155,445 Herder, Johann Gottfried 661 Hernais 53 Hertzka, Theodor 155,154,144,255-235,348, 352, 366, 568, 585, 584,575, 651 Herz, Leopold Edler von 24 Herzegowina 175 Herzl, Familie 45 - Jacob 349, 365 - Jeanette 549, 658 - Simon Löb 548, 549 - Theodor 1, 5,5, 54,58, 62, 69, 74-77, 108, 111,112,144,156,157,205,206, 255-255, 288,504, 506,507-509, 512, 515, 524, 552-556, 544-547, 549-555, 557-570, 378-380,382-586,589-591, 596-599, 400, 401,411,417,428,429,456,466-469,475, 484-487, 509, 515, 519, 520, 527, 528, 542, 562, 575,585,618, 655,654,656-641, 645-645,647, 649, 650, 653, 674,679, 680, 688, 690 - Trade 467, 674 Hess, Moses 352,629 Hietzing 53 Hildesheim 104,109 Hildesheimer, Hirsch 354, 653 - Israel 104 Hillel, Rabbi 232,294 Hilsner, Leopold 140, 165, 280, 419, 172 Hilsner-AfFäre 164,165,172,221,418,585, 587 Hirsch, Baron Moritz 58, 64, 68, 70, 74, 75, 155, 255,522, 357, 558,566, 658, 640 - Baronin Clara 70 Hirsch-Schulen 50, 71, 558 Hirech-Stiftung 3, 69, 70, 83,140, 558 Hitler, Adolf 62,195,429, 527,555, 534, 539-541, 641, 661

715

Hofjuden 14,16,17, 25, 34 Hofmann, Alois 515 - August Emil von 508 - Isaac Loew 507, 684 Hofmannsthal, Hugo von 406,411,481,482, 505, 507, 508, 510-512, 515,521-523, 541, 653,681,685-688 Hofoper (Wien) 510 Hohe Pforte 523 Hohenzollern, Familie 179,182, 529,541 Holdheim, Samuel 85 Holland 28,121 Holocaust 534 Holubek, Franz 162, 186, 231,590 Homberg, Naftali Herz 20 Honigsberg, Familie 24 Horowitz, Lazar 86, 89, 94, 105 Humanismus 25, 107, 152, 250, 504, 348,449, 458, 471, 475, 502, 524, 526 Humanitas-Studentenverbindung 307 Humboldt, Alexander von 112,120 - Wilhelm von 25 Hume, David 662 Ibsen, Henrik 425, 661 Ignatiev-Dekrete 204 IKG, s.a. Kultusgemeinde 81, 85,165,166, 281, 617, 624 Imago 675 Impressionismus 686 Individualpsychologie 464 Industrialisierung 125, 141, 185 Industriellenvereinigung, Österreichische 140 Innere Stadt 12, 45, 54, 55,151,219, 246,260, 265,265,270,285, 609 Internationale Klinische Rundschau 480 Internationale Psychoanalytische Vereinigung 461 Internationale Zeitschriftfür Psychoanalyse 675 Irrationalismus 475 Israel 107,116,143,151,159,201, 202,291, 292,295, 297, 514, 516, 517, 522, 525, 526, 555, 557, 542, 545, 569, 578,380, 387, 388, 415,514,517,518,521 Israeliten 151,587 Israelitisch-Theologische Lehranstalt 106,109, 140, 507

716

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Israelitische Allianz 3, 62, 63, 65, 66-69, 72, 83, 140,164,165,198,229, 234, 241, 276, 374, 578 - Kultusgemeinde, s. Kultusgemeinde - Union, s. Union Israelitischer Ackerbauverein 131 Istöczy, Gyözö von 173, 174, 186,207,210, 211, 346, 347, 374, 637 Istrien 40,128,175 Italien 32, 117, 375 Itzig, Daniel 16,25 Ivria-Burschenschaft 302, 303, 306, 311, 333, 570, 572, 623 Jaffa 203, 306 Jahrbuchfiir Israeliten 103 Jaques, Heinrich 119-121, 138, 199, 246, 260, 606 Jellinek, Adolf 9, 31, 36, 58, 65, 66, 69, 84, 95104, 107, 109, 110, 116,117, 124, 130, 138, 146, 148, 151, 164,165, 198,200-204,212216,230, 235,236, 243, 253, 289, 294,297, 372, 375-377,443,44«, 566-569, 572, 579 - Hermann 28-30, 33, 97, 126, 143 Jensen, Wilhelm 351 Jerusalem 116, 344, 377, 379, 420,437,466, 473,490,491,528, 530, 532, 536, 548, 567-569, 585, 593, 595-597, 638, 647, 648, 655 Jerusalem, Wilhelm 610 Jeschiwa 16, 96,139,230, 289, 669 Jesuiten 10, 152, 181, 416 Jewish Chronicle 148, 149,153, 154, 345, 363 Jewish Colonization Association 563 jiddische Kultur 339, 341 Jodl, Friedrich 422 Jones, Ernest 673 Josef I., Kaiser 14 Josef II., Kaiser 9,17,19,20, 22-24,28,44,48, 111, 122,281,443, 546 - Sprachenverordnung 111 josefinische Refonnen 23,49, 112 Josefslegende 443, 444,471 Josefstadt 54 Judenhaß, s.a. Antisemitismus 316, 320, 325, 391, 478

Judentum, orthodoxes 30, 43, 57, 65, 72, 73, 76, 93-95, 98, 100,102, 159, 163, 199,210, 220,226-230, 233, 236,239, 242, 388, 389, 292,348,34«, 372, 387,390,394,397,399, 438,443, 512, 536, 539, 542, 669 Jüdisch-Akademische Lesehalle 304 Jüdische Nationalpartei 310, 311, 339, 632 Jüdische Volkszeitung 318, 322 jüdische Bürgerrechte 131 - Emanzipation, s.a. Emanzipation 30, 89, 90, 109,112,117,125,131, 206, 443, 542 - Kultur, s.a. Kultur 330, 528 - Marxisten 393 - nationale Autonomisten 310 - Nationalisten 113,255,331,339,377,389, 486 - Nationalität 116, 117 - Presse 222,466 - Selbsthilfe 237, 303, 309, 380 - Selbstkritik 321 - Selbstverachtung 442 - Selbstverteidigung, s.a. Selbstverteidigung 158, 258, 264, 275, 321 - Studenten, s.a. Burschenschaften 302, 303, 312, 333, 382, 398, 624 Jüdischer Nationalfonds 308 Jüdischer Almanach 528 jüdischer Antisemitismus, s.a. Selbsthaß 351, 421, 494, 663 - Nationalismus 56,98,100,107,156,161, 166, 200,203,288,289, 293,296, 304, 318, 333, 337,373, 376-378, 385, 387, 388, 392, 393, 395, 530 - studentischer Nationalismus 311 jüdisches Siedlungsgebiet (in Rußland) 289 Jüdischnationale 538 Jung Wien 362, 363, 397, 398,409,411, 473, 480,515,519 Jung, Carl Gustav 436, 459-462, 669, 672 Jungtschechen 207, 260, 582 Kadimah 56, 180, 205, 238,239, 287-289, 292-305, 307-309,311, 312, 315, 325, 331, 333, 334, 352, 376, 377, 466, 604, 617, 621, 623, 626, 629, 648, 674 Kaffeehausdekadenz 410

Register

Kaffeehäuser 58,254 Kaifeehausgesellschaft 2 Kaffeehausliteraten 598, 407,465 Kafka, Franz 559, 665 Kahn, Zadok 645 Kana, Heinrich 555 Kanada 68, 128, 574 Kandinsky, Wassily 514,686 Kanitz, Alfred 264 - Bernhard 240 Kant, Immanuel 25,112, 421-424,428,450, 452,455, 661 Kapitalismus 125,185-187,251, 247, 266,274, 595,415,427, 575, 575 Kapper, Siegfried 29 Karl VI., Kaiser 17,544 Karlsbader Dekrete 181 Kärnten 52,40, 92,127, 128 Kaschrut 229,448 Kathedersozialisten 526 Katholische Kirche 446,461,469 katholischer Antisemitismus 225, 469,495, 668 Katholizismus 100, 555, 449, 558, 540 Katz, Menachem 96 Kautsky, Karl 174,274 Kellner, Leon 625 Kepler, Johannes 450 Ketr, Alfred 411 Kirchlicher Verein für alle Religionsbekenntnisse 97 Klages, Ludwig 428 Klassenkampf 526 Klerikalismus 119,151,152,181,214, 225, 259,262, 272,275,281, 526,598,468,485, 500,599, 610 Klinger, Heinrich 82 Kohlenreviere 159 Kohn, Gustav 270,285 - Jakob 240 - Salomon 656 Kokesch, Oskar 288, 504-508, 556,624, 625, 655 Kolin 118 Koller, Carl 455,670 Kollonitsch, Leopold 15,15 Kolomea 74,165

717 Kommunismus 428, 450,400 Kompert, Leopold 28,66,102,105,566,569 Konferenz in Waidhofen 1896, s.a. Waidhofener Beschluß 180,502 Königgrätz, s. Niederlage von 1866 Königstein, Leopold 455,456 Königswarter, Jonas Freiherr von 105,159 -, Baron Moritz Freiherr von 28, 159,220, 258,569, 580 Konservative 575,540,542,584 Konsistorien 158 Konstantinopel 658 Konstitutionalimus 119 Kopenhagen 84 Kopernikus, Nikolaus 450 Körber, Ernest von 644 Krafft-Ebing, Richard 445,456,457,464 Krain 52,128,175 Krakau 26,29,42, 52, 76,115,255, 507,514, 527, 528,590 Kraus, Karl 1,144, 570, 572, 596, 597,599,400, 405-421,427,452-454,506, 512, 559, 655-658, 665, 677 Kremenetzky, Johann 504,505, 508, 556, 625 Krochmal, Nachman 114 Kronawetter, Ferdinand 152,155,219, 251, 260,262,602,611,612 Kultur 51,49,51, 66, 67,85, 88,97,108,110, 111,112,116,117,125,127,129, 148,152, 155,156,159,175,180,187,251,248,289, 299, 514, 525, 550-552, 557-559, 547, 577, 578, 592, 595, 599,406, 409,410, 415,417, 419,420,425,427,451,452,452,457, 496, 522-525, 555, 554, 541,584,655, 659,657 Kulturantisemitismus 420 kultureller Nationalismus 291 Kulturgesellschaften 205 Kulturnationalismus von 1848 Kulturzionismus 520,646 Kultusgemeinde, s.a IKG 5,42,47, 77, 78, 8185,89,92-94,102,105,109,110,154,159, 140,162,164,165,198,205,206,215,225, 227,230,254,255,240-242,244,248,251, 296,500,501,504,550,562,581,587,592, 450, 586, 602,605, 615, 616, 625, 652,669 Kultusvorstand 605

718

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Kuranda, Ignaz 28,29, 36, 66, 94,118,126, 145, 574,199,121, 206,207, 229, 235, 383, 585, 594, 601, 619 - Kamillo 283 Kuriensystem 263 Lagarde, Paul de 106,180 Laharanne, Emst 629 Laissez-faire-Kapitalismus 121, 124, 135, 187, 233 Lamarck, Jean-Baptiste 450 Lämel, Simon von 24, 28 Landau, Saul Raphael 157, 504, 307, 327, 554, 555, 596, 652 ländliche Gebiete 182 Landsmannschaften 479 Landsteiner, Leopold 144 Landstraße 45, 450 Lanz von Liebenfels, Adolf Georg (Jörg) 415, 657 Lasker, Eduard 547 Lasker-Schüler Else 408 Lassalle, Ferdinand 554, 420, 601 Latschka, Adam 188 Lazare, Bernard 223 Leibenberg, Familie 24 Leipnik 139 Leipzig 51, 84, 96-98,118,452 Leitenberger, Baron Friedrich 156, 157, 554, 585 Lemberg 26,42, 52, 115, 115, 124,250, 274, 519 Leo XIII., Papst Leon, Moses ben Schemtob de 95 Leopold I., Kaiser 15,14,16 Leopoldstadt 12, 42,45, 46, 54, 55, 59, 74, 94, 95, 98, 101,102,104,212,216, 219,240, 255, 266, 270, 285,505, 578, 594,458,442,477, 512,569, 614,617 Leopoldstädter Gymnasium 449 Leseverein der deutschen Studenten 445 Lesseps, Ferdinand von 545 Lessing, Gotthold Ephraim 25, 112, 115, 120, 208, 656 - Theodor 412,428, 663 Letteris, Meir 30, 115

Libanonia-Burschenschaft 303, 506, 511, 533, 625 Liberale, s.a. Deutschliberale u. Verfassungspartei 20,119,124,125,128-150,152, 155, 157, 159,166, 189,191,199,202, 216,222, 255, 252, 259, 262-272, 554, 563, 573, 592, 397, 399, 490, 542, 575, 610, 644, 685 liberale Ära 142, 144, 147 - Humanisten 484 - Presse 419, 420, 453 Liberalismus 54, 56, 57,91,102,109,119, 125-125, 133, 154, 158,176,177,183,186, 200,203, 214, 222,223, 225, 227, 229,247, 249,258, 260,265, 267,272,274, 318, 546, 562, 566, 367, 415, 419,429,445,446,477, 526, 584, 609 - politischer 255, 254, 406, 481 Lieben, Leopold von 159, 577 - Theodor 645 Lieberman, Aron 626 Liebermann, Hermann 595 Liebknecht, Wilhelm 416 Liechtenstein, Prinz Alois 164, 154, 188,215, 216,244, 246, 554, 581 Lilien, Ephraim Moses 571, 527, 528 Lilienblum, Moses Leib 626 Linneus, Carl 430 Linzer Programm 175, 178 Lipiner, Siegfried 610, 638 Liptzin, Solomon 661 Lissauer, Emst 690 Liszt, Franz 87 Lodz 397 Loewenberg, Peter 559, 467 Lombardei 40 Lombroso, Cesare 470 London 48, 529, 570, 574,469, 644, 645 Loos, Adolf 409, 512, 655 Los-von-Rom-Bewegung 181, 182 Low, Max Anton 195 Löwe, Heinrich 655 Löwy, Carl 211 Lucka, Emil 422 Lueger, Karl 109, 150, 149,156, 171, 176,182185,187-196,211, 215,215-217,219, 222, 244, 247, 248, 258,264, 266, 268, 281, 354,

719

Register

558,560,415-416,418,456,479,526,592, 596, 641, 642 Luzzato, S.D. 114 Lyk 117

Maccabäa-Studentenverein (Prag) 505 Machzike Hadath 48, 75 Mach, Emst 425 Magdeburg 105 magyarischer Nationalismus 112 Magyarisierung 45,112 Mahler, Alma 505 - Arthur 255 - Gustav 406,485, 505, 510-512, 514, 658, 685,686 Mähren 15,27,29-52, 58, 41-45, 44, 52,58, 66,92, 96, 97,112,127,155,158, 159,172, 175,221,265, 245,274,275, 277, 280,282, 287,299, 505, 505, 511, 556, 526, 557,669 Mährisch-Ostrau 159 Maimonides, Rabbi 114,588 Makkabäa-Burschenschaft (Wien) 511 Mammonismus 521,526, 552 Mandl, Ferdinand 479 - Ignaz 248,479 Mann, Thomas 666,692 Mannheimer, Isaak Noah 9, 26,27, 29, 50, 56, 84-95, 95,96,98,102,105,106,107,109, 110,114,116,150 Marcus, Aron 76 Maria Theresia, Kaiserin 9,17-19, 21, 544, 545 Mariahilf 54,207,211,212,565 Markbreiter, Amalia 476 - Louise 476 - Philip 476 Marmorek, Oskar 508 Marr, Wilhelm 180,205 Marx, Karl 28, 55,186,525, 428,464 Marxismus 187,219, 525, 575, 545, 566, 595, 595, 596,427 marxistische Arbeiterbewegung 526 - Sozialdemokratie Masaiyk, Thomas 587 Maskilim 22,111,115-116,289,519 Mass6na, Andre 469

Massenantisemitismus 406, 641 Materialismus 515 Matin, Le 154 Matscheko, Michael 155 Mattsee 515 Mauthner, Philipp Ritter von 577 Maximilian von Mexiko, Kaiser 97 Mayer, Armand 218,265,266,269, 270,275, 282,285, 555,586, 597, 611, 612, 615 - Paulus 164 - Sigmund 166,196,217,258,264,267,268, 275, 278, 282, 592, 617 Medizinische Presse 500 Meiseis, Berusch 29,90 - Leon 585 Memel, Isaak Rülf von 295 Mendelssohn, Moses 20, 25, 99,100,289,572, 588 Mendelssohn-Veit, Dorothea 25 Metternich, Fürst Clemens 24,28, 54, 55,118, 181 - Fürst Richard 155 - Fürstin Pauline 155 Meyer, Paulus 245 Meyer-Cohn, Heinrich 585, 645 Meynert, Theodor 445,464,475, 676 Migazzi, Christoph Anton, Erzbischof 18 Mises, Arthur Edler von 577 Mittler, Alfred 611,615 Moderne 406,407, 410,415,442,555 Mommsen, Theodor 651 Montefiore, Sir Moses 255, 500 - Claude 647 Morfes, Marquis de 555 Morselli, Enrico 470, 675 Moses 546, 585,445,440,469,471,472,675 Müller-Tellering, Eduard von 55 München 144, 250, 585, 584 Münk, Salomon 566 Musil, Robert 452, 507, 684 Nachmanides, Rabbi 114 Nachod 279 NaherOsten 85 Narödnilisty 207 Narödni odbrana 278

720

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Naschauer, Julie 349, 640 Nathanson, Amalia 440 Nationalbewußtsein 351 Nationale Demokratische Partei 175 nationale Frage 172 - Kämpfe 539 Nationalismen 540 Nationalismus 52, 56, 47,48, 55,55, 57,95, 108,114, 116,118,122,156,146,150,151, 155,156,164,172-174,176,177,179,195, 221, 249,270,280,287, 292, 524, 542, 548, 550,589,595,463,466,406,520,523,524, 550, 553, 557, 559, 605, 619 - deutscher 250, 247, 295, 447, 558 - deutschliberaler 299 - völkischer 510 Nationalisten, erste Konferenz jüdischer 651 Nationalitäten 117, 125-125, 129,190, 191 Nationalitätenfrage 155, 595, 574, 595, 602 Nationalitätenkämpfe 162,215, 256,271, 522, 615 Nationalitätenkonflikt 81, 129, 132,208, 218, 221, 249,269,512 Nationalitätenproblem 126, 128, 538,548 Nationalitätenstreit 269,271 Nationaljudentum 390 Nationalsozialisten 2, 428,472, 559, 540, 662 Natonek, Josef 549, 638 neoabsolutistisches Regime 92 Nestroy, Johann 409 Netter, Charles 574 Neubau 54 Neue Freie Presse 50,59,142,157,165,178, 192, 329, 352, 555, 555, 562-565, 572, 582586, 595, 401,405,407, 408,415,416, 419, 455,447,467,477,484, 509, 527, 654, 652, 644,678 Neue Rheinische Zeitung 55 Neue Zeit, Die 652,666 Neue Zeitung 338 Neues Wiener Tageblatt 145,152,182 Neuwall, Familie 24 Neuzeit, Die 58, 67, 102,105,146,161,162, 200,207,208,210-212,214-216, 220-222, 224,245, 246, 574,578-580, 547 New York 48, 68, 529

Newton, Isaac 450 Nichtdeutsche 155 Niederlage von 1866 127, 155,179 Niederlande 522, 685 Niederösterreich 40, 52,58,66,127,179,245,274 Nietzsche, Friedrich 557,422,424,425,428, 685 Nordau, Max 112,295, 548, 565, 579, 591,400, 467, 645 North American Review 560 Noske, Constantin 155,251, 261,265,265 Nothnagel, Hermann 155, 156, 215,456 Nürnberg 461, 540 Nußdorf 155 Oberösterreich 32,40, 66, 92,127,245 Obstruktion 150 Odessa 26, 289,295 Ofenheim, Victor Ritter von 124,445, 575 Oiher, Julius 257, 261-263,265,266, 271-275, 285,599,610,611,614,617 Ognisko 625 Önody, Geza 211 Oppenheimer, Emmanuel 15 - Samuel 14-16,544 Orthodoxie, s. Judentum, orthodoxes Osmanisches Reich, s. Türkei Ost und West 514 Ostdeutsche Post 118 Ostjuden 42, 45,46, 48-51, 59, 64, 67-69, 74-76, 77, 81, 82,153,164,199,233,290, 292,294,299, 311,312, 337,338, 340-342, 592, 594, 417,418,441,447, 519, 521, 535, 556,558, 540, 541, 561,626, 625,691 Otruba, Gustav 33 Ottakring 45, 55 Ottokar Pfemysl, König 10 Owen, Robert 428 Ödipuskomplex 440 Österreichisch-Israelitische Union, s.a. Union 3, 79,106,160,199,131,166,216,217,235, 259,249,250,252-255,257,258, 592,602, 631 österreichische Nationalbank 16,28 österreichische Wochenschrift 5, 72, 79,158, 146,162,165,198,235,237-239,246-2«, 255,255, 257, 500, 586

Register

österreichischer Reform verein 60,177,185 Österreichischer Volksfreund 155 Österreichisches Centrai-Organ fiir Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden 115 Padua 115 Palästina 68, 81,162,200,231,245,255,292, 296, 500, 504, 514, 516, 517,522-524,326, 528-550, 552,557, 541, 547, 562,264, 568, 569,575,574,576-579,589,391-394,399, 426,468, 470,486,487,489^91,495, 537, 559,619, 626,635,658,659,646,648,691 Pappenheim, Bertha 65 Paris 48, 63, 65-67,140,156,159, 255, 329, 552-554, 559,562,266,274, 580, 585,455, 454,484,486, 641,644, 645, 670, 692 Pariser Allianz 165 Pascal, Blaise 424,425 Pattai, Robert 176, 185,188,209,211, 212,245, 590 Paul, Jean 661 Peretz, I.L. 559 Perl, Josef 114 Pernerstorfer, Engelbert 155,176, 274,587, 610, 655 Petschek, Familie 159 Pfennig, Richard 665 Pfitzner, Hans 685 Philippovich, Eugen von 610 Philippson, Ludwig 443,449 Philo 388 Picquart, George 225 Pijut 86 Pilsen 112, 139 Pins, Emil 240 Pinsker, Leo 203-206,253,295-296, 300, 322, 556, 552, 572,575,596, 621, 626, 647 Pirquet, Peter Freiherr von 215 Plener, Ernst von 259, 265,268 Poale-Zion 624 Pogrome 83,172,173,197,220,279, 280,294, 565, 619 - in Rußland, s.a. Rußland 200,205,291,292, 574, 375, 619 Polen 1,11, 32,115,188,287,289,352

721 Polenklub 163,220,228,229,236,246,252, 259,279,382,606,618 Politzer, Adam 604 Pollak, Karl 299, 301 Polna 225 Popper, Isidor 261 Popper-Lynkeus, Josef 206, 610 Porzer, Julius 195,245 Positivismus 406,421,422 Potocki, Alfred Graf 239 Prag 12,18,26, 35,42,45,4«, 52,112,113, 115,118,139,154,172,174,179,192, 233, 278,280, 505, 548, 564,486, 512, 521,529, 624

Preßburg 55,38, 42, 86, 94,115,154,172,174, 512,669 Presse 2,217,219, 235,250, 260,263, 275, 351, 408,409,411,413-416,418,491,502, 654, 655 - sozialistische 232 Pressefreiheit 655 Preußen 18,25,28,104,119,127,211,548, 541 Protektionismus 122 Protestantismus 10,15,119,181,425, 450, 464 Proudhon, Piene-Joseph 567 Przeglgd tygodniowy 519 Pizyszlocs 528 Psenner, Ludwig 188 Psychoanalyse 406,415, 455^157,440,445, 457-465, 465,4€6,468,469, 471, 669, 675, 675 Psychoanalytische Bewegung 461-465 Putnam, James J. 675 Radikaldemokratische Partei 251 Rahaline 568 Raimund, Ferdinand 409 Rampolla, Mariano, Kardinal 216, 597 Rank, Otto 462,465,675 Rapoport (Rappoport), Salomon Juda 96,114, 566 Rashi, Rabbi 514 Rassenantisemitismus, s.a. Antisemitismus, rassischer 180,191,215, 588,589 Rassenlehren 211

722

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Rassentheorien 200 Rassismus 196,205,420, 497, 520 Rathenau, Walter 428 Rationalismus 152,406,423 Reaktion 125,152,200,262,267,268, 272 Rechte, bürgerliche 389 Rechtsschutz-und Abwehr-Bureau 163,198, 240,276-281, 586, 598, 612 Reformen Josefs Π. 20 Reformer 226, 229, 290, 291, 373,44«, 542 Reformjudentum 89,92, 94, 95,159,228,289, 535,556 Reformströmungen 110 Reformsynoden von Leipzig und Augsburg 102 Reformverein 178 Reich, Wilhelm 675 Reichenberg 139 Reik, Theodor 676 Relativismus 407 Renaissance 298 Renan, Ernest 200 Renner, Karl 129,338 Reimes 129,338 Revolution von 1848 28, 29, 31-37, 40, 90, 92, 97,118,125,126,130,147,172,223, 441, 595 - Märzaufstand 29 - Oktoberaufstand 91 Rho, Petronella von 508 Richter, Albert 216 Rie, Oskar 455 Ritualmorde 172,186, 210,280,419 Ritualmördermythos 245 Ritualmordverleumdungen 148,164,166,185, 215,235, 280 Rochdale Equitable Pioneers 368 Rohling, August 134, 140, 162, 164, 165, 186, 211,230, 233-235, 245,256, 590,603 Rom 181,446,469-471,675 Romanfcuk, Julian 339 Rosas, Anton von 89 Rosenberg, Alfred 429 Rosenhek, Ludwig 293 Rosenmann, Moritz, Rabbi 138, 150,599,612 Rosenthal, Max 299 Roth, Joseph 535-540, 691-693 - Nachum 692

Rothschild, Baron Albert 141, 365, 366,581, 645 - Baron Anselm 92, 139 - Baron Edmond 67, 70,253, 641, 645 - Familie 178,183, 194, 365, 366, 381, 577, 588 - Nathan Meyer 645 - Baron Salomon Mayer 16,24, 28, 34, 35,92, 139-141,194, 209, 220,275,416 Rudolf I., König 9, 11 Rudolf II., Kaiser 12 Rudolf, Kronprinz 68,143,151-153, 578, 582, 596 Rülf, Isaak, Rabbi 300 Rumänien 50, 65, 75,113, 205,249, 292, 293, 299, 618 Ruskin, John 428 Rußland, s.a. Pogrome in Rußland 29, 50, 67, 75, 83,121,153,171,188, 202,205, 206, 208, 2 « , 280, 287,289,291,292, 299, 308, 311, 338, 341, 352, 365, 395,618 Sachs, Hans 673 - Michael 96 Saint-Simon, Claude Henri 367 Salomon, Gotthold 88 Solomon (Schlom) 10,543 Saiten, Felix 398,411, 481, 515, 529, 690 Salz, Abraham 305, 307, 328, 630 Salzburg 127,513 Samuel, Jacob 356 Saphir, Moritz 28 Schalek, Alice 411 Schallt, Isidor 31, 287,288,299, 301, 302, 304, 305, 307-309, 335, 336, 625, 634 Scharf, Alexander 144, 194 Scheicher, Josef 191 Scheurer-Kestner, Auguste 223 Schey, Familie 476 Schild und Schwert 33 Schiller, Friedrich 112,120 Schlacht am Weißen Berg 10 Schlachte 47 Schlegel, Friedrich 24,25 Schlesien 40, 92, 97,175,179,245, 305, 311 - österreichisches 127

Register

Schlesinger, Josef 61,244, 245,278 Schliemann, Heinrich 675 Schmerling, Anton von 101 Schmid, Anton von 115 Schmiedl, A. 150 Schneersohn, Schalom Dov Baer 464 Schneider, Ernst 146, 162, 176, 183,184,188, 193,212,215, 216,222,244-246,251,263, 264,278,382, 391,414, 582, 683 - Josef 216 Schnirer, Moritz 288, 292,293, 296-298, 304-308, 315,336, 618, 622, 624, 625 Schnitzler, Amalia 477 - Arthur 11,350, 357, 372, 398,406,411, 442, 473,474-487,489-492,494-498, 500-503, 506,509, 515, 516, 519, 520, 539, 640, 653, 676-684,687 - Familie 477 - Johann 476, 500,502, 677 - Olga 687 Scholastik 101 Schönberg, Arnold 1,406,408, 532, 505, 512-514, 686, 687 - Samuel 512 - Pauline 512 Schönborn, Franz, Kardinal 192 Schönerer, Georg Ritter von 134-137,156. 171,172,175-178,181-183,190,195, 207, 209,2112-213, 227,245, 47, 354,413,527, 589, 596, 628,641 Schopenhauer, Arthur 424,425, 428,430, 661, 685 Schorske, Carl 409 Schreiber, Simon 235 Schtadlanut 78,160 Schted 534,535, 664 Schubert, Franz 87 Schuhmeier, Franz 274 Schulchan Aruch 26,114 Schutzjuden 160,164, 650 Schwadron, Abraham 529 Schwarz, Adolf 577 Schwarzenberg, Fürst Felix 9 Schweiz 128 Selbstemanzipation 3,205, 294, 313, 315, 318, 322, 327,356, 377, 558

723

Selbsthaß, s.a. jüdischer Antisemitismus 1, 161,240,258,412,413,421,425,434,503, 539 Selbstverteidigung, s.a. jüdische Selbstverteidigung 157,159,160,163,164, 209,217,221, 237,241, 250,280, 300, 301,331 Semlin 348 Serbien 65,466 Sezession 406 Shakespeare, William 409, 431 Shelley, Percy Bysshe 431 Sicherheitsausschuß 126 Siebenbürgen 40 Sieghart, Rudolf 141 Silberstein, Eduard 446 Simon, Gustav 244 Simonyi, Ινέη 211,637 Singer, Charles 595, 676 - Isidor 209 - J.H. 240 Slowakei 43,44, 670 Smith, Adam 662 Smolenskin, Perez 3,115,116,287,289-292, 296, 300, 314, 352, 618, 619,626, 627, 647 Smolka, Franz 239 Sofer (Scheiber), Moses 86 - Chatam 94,96,291 Sofia 379 Solferino 537 Sonnenfeld, Josef Chyim 647 Sozialdemokratie 73,122,140,141,157,174, 176,190,191,193-195,209,217,219-221, 252,260,262,267,271-275,281,324-327, 341, 354, 392, 393,395, 396,400,410,416, 428,444, 464,490, 526,538, 610, 652, 653, 658, 683 Sozialismus 133, 176,177,209,231,232,271, 273-275, 318, 325, 326,334, 336, 343, 354, 367, 373, 394-397, 413,414,428,444,463, 490,503, 509,510,513, 542, 575, 583,617, 631, 657 Sozialpolitiker 262, 267, 268, 270,271,273 Sozialreformer 283 Spanien 522,534 Spanischer Erbfolgekrieg 16 Speidel, Ludwig 355, 357

724

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Spinoza, Baruch 430, 662 Spitzer, Daniel 407 - Marcus 251,575 - Karl-Heinz 29, 30 - Salomon 94,95,106,288,600,669 - Samuel 478 Springer, Gustav 139 St. Petersburg 117 Staatsgrundgesetz von 1867 Stael, Madame de 24 Stand, Adolf 255 Steed, HemyWickham 142,180 Steger, Heinrich 263, 611 Steiermark 32,40,92, 128,138,147,245,265, 268 Steiner, Maximilian 613 Steinschneider, Moritz 566 Steinwender, Otto 175-177, 212,227 Stern, Alfred 164,165,198, 214,251, 582, 585, 599, 603, 604 Sterne, Laurence 662 Stiassny, Wilhelm 253,282 Stilling, Benedikt 670 Stöcker, Adolf 171,205,208, 391, 595 Stojalowski, Stanislaw 47, 173, 220 Straucher, Benno 255, 339, 615 Streicher, Julius 540 Strindberg, August 408,433,513, 661 Strobach, Josef 266 Struck, Hermann 691 Studentenverbindungen, s.a. Burschenschaften 179,180,288,299, 349, 351,480 Sturm, Josef 280 Suess, Eduard 149, 155, 381 Suezkanal 333 Sulzer, Salomon 26, 87, 88 Suttner, Baron Arthur 155, 583 - Baronin Bertha 156,157 Swift, Jonathan 662 Swoboda, Hermann 423,660, 663, Synagoge 12,22,26,27, 30, 33, 60, 72, 84, 87, 94,95, 97,104,109,149,151,278 Syrien 323,490, 639 Syrkin, Nachman 335, 396, 653 SzfSntö, Simon 102,103,200, 566, 568 Szeged 147

Szeps, Moritz 143,144,152,153,182,194, 246, 578,582 Taaffe, Graf Eduard 79,134,152-154, 161,163, 164,178,211,213,215,218,227-230,236238,258,259,265, 72,575,580, 601,603 Tacitus 661 Tallisweber, Streik der 74, 327 Talleyrand, Charles Maurice de 24 Tärnopol 374 Taschlik 60 Tausk, Viktor 462 Taussig, Theodor Ritter von 29, 139, 141, 194, 195,577, 586 Tertullian 424 Texas 374 Theimer, Camilla 391 Theologie s. Israelitisch-Theologische Lehranstalt Thieberger, Friedrich 470 Thora-Judentum 159 Thun, Graf Leo 91, 94,279 Tietze, Hans 412, 413 Tilgner, Victor 155 Times, The 142,153,154, 654 Tirol 40, 92, 128, 175 Tiroler Bauernaufstand 17, 545 Tisza, Graf Koloman von 174,207,596 Tisza-Eszlar-AfFäre 86,165,173, 210,233, 347 Todesco, Familie 139,220 Toleranz 148, 159 Toleranzpatent 19,22, 23,28,42, 122 tolerierte Familien 38 - Wiener Juden 65 Trakl, Georg 408, 532 Treitschke, Heinrich von 205,208 Triest 27,40,112,113, 115,128,175 Trotzky, Leon 464 Tschechen 32 tschechische Länder 352 tschechischer Nationalismus 207 Türck [r. Türk], Karl 242 Türk, Karl 212, 579 Türkei 10,15,254, 323, 328, 347, 366, 373,376,· 394, 638 Tiirkenkriege 15

Register

Tumverbände 205 Turnvereine 181 Uhl, Eduard 155 Ukraine 299 Ungarisch-Brod 31 Ungarn 1,10,11,15,27,50, 52, 38, ΉΜ5,4€, 52,62, 75,85,94,95,97,102,112,115,125, 127,145,147,152,165,165,172-174,179, 185,186,188,190,196,200,202,206,208, 211,212,249,299,511, 346,347,352, 353, 445,447,480,487,492, 576, 599, 637 Unger, Josef 29, 125, 126, 142, 347 Union 132,163,218,240-242,251,260-273, 275-277,279, 281-285, 500, 504, 586, 598, 599,604,609,611-616 Unitas-Burschenschaft 302, 305,506,511,625 Universität 456 - Prag 186,211 - Wien 55, 56,59,156,164,179, 204,205, 215, 230,256,247,288, 292, 295,296, 299-503,309-512,515,518,548,552, 595, 422,445,464,475,478, 515, 519, 526, 604 Universitäten, österreichische 179 Unverfälschte Deutsche Worte 175, 177 utopischer Sozialismus 299 Varnhagen, Rahel 24 Vaszary, Kolos, Kardinal 648 Vaterland, Das 155,171,186,187,201,207, 215,245, 247 Venedig 522 Venetien 40 Verband Zion 307 Verein deutscher Studenten 351 - fur Stadt-Interessen und Fremdenverkehr 215 - zur Abwehr des Antisemitismus 155,156, 179,582, 585 - zur Förderung des Handwerks unter den inländischen Isrealiten 63 Vereinigte Christen 185,188,215,247 - Deutsche Linke 258,260-262,264,265 - Staaten von Amerika 44, 68,117,128, 204, 522,535, 536,631

725

- Linke 217, 260 Verfassung von 1867, s.a. Staatsgrundgesez von 1867 122,127,151,154 Verfassungspartei, s.a. Liberale 129, 154,165, 200,575 Vergani, Emst 176,185, 414 Viereck, Georg Sylvester 452, 670,676 Viertel, Berthold 412 Viktoria, Königin 659 Virchow, Rudolf 208 Vogelsang, Baron Karl 186,187,207,247 völkische Ideologie 157 Volkstribüne 195 Voltaire 661 Vorarlberg 40, 127 Vormärz 28,34, 36,38,46,181 Vörösmarty, Mihdly 346 Wagner, Cosima 510 - Richard 180,205, 208, 351,421^25, 426, 428,451,455,478, 510, 512, 515, 525,641, 645, 661, 685 Wahlrecht 655 - Ausweitung des 270 Wahlrechtsreformen 155,190, 189,259,262, 272, 282,328 Wahrheit, Die 617 Währing 55, 565,591 Waidhofener Beschluß, s.a. Konferenz in Waidhofen 502,498,502 Waissnix, Olga 501,678 Warschau 26,41,117,534 Wassermann, Jakob 144, 679 Wedekind, Frank 408 Weimarer Bauhaus 686 Weininger, Adelheid 422 - Familie 660 - Leopold 421,422 - Otto 405-407,419-455,465, 507, 659-664, 677 Weinmann, Familie 159 Weiß Isaak Hirsch 450,451, 568, 669 - Nathan 450-452 - Eisig Hirsch 251 Weizmann, Chaim 559 Wellhausen, Julius 106

726

Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs

Welt, Die 77,157, 301, 335, 336, 364, 391, 520, 653 Werfel, Franz 408, 679 Werner, Julius 299 - Siegmund 288,299, 301, 305, 307, 333-335, 623, 628, 633 Wertheimer, Josef Ritter von 36, 63-66, 69, 85, 134,162,199,207,235, 374, 545, 555, 557, 559, 561, 566, 578,579, 602 - Samson 14, 16 Wertheimstein, Familie 24,220 Wessely, Naftali, Herz 114 Westjuden 76, 164, 621 Westungarischer Grenzbote 637 Wien 12,83,115,159,214 Wiener Allgemeine Zeitung 133,134,233-235, 352,631 Wiener Israeht, Der 601 Wiener Kirchenzeitung 34, 185 Wiener Kongreß 24 Wiener Mitteilungen 116 Wiener Neustadt 13 Wiener Tagblatt 246 „Wiener Ritus" 114 Wiesinger, Albert 34, 185 Wilhelm II., Kaiser 383 Winchevsky, Morris 626 Windischgrätz, Fürst Alfred 29,215 „Wir" (Schülerkreis) 346 Wirtschaftsliberalismus 190 Wissenschaft des Judentums 88, 95, 98,104 Witkowitz 92, 139 Wittels, Fritz 462 Wittelshofer, Otto 610 Wittgenstein, Karl 139 - Ludwig 1, 139, 406,432, 512, 663 Wodianer, Familie 139 Wolf, Karl-Hermann 176 Wrabetz, Carl 260, 609, 610 York-Steiner (Pseud. Heinrich Steiner) 625 Zangwill, Israel 645 Zasche, Theo 370 Zephirah 337 Zetterbaum, Max 393, 652

Zhitlovsky, Chaim 315, 338, 627 Zins, Sigmund 240, 241, 257, 586 Zion (Verband der österreichischen Vereine iur die Colonisation Palästinas und Syriens) 305, 306 Zionismus 1, 3, 37,48, 74-77, 81-83,108,157, 160,166,180, 204,205,223, 226,238,252, 254,282,283,288, 293,294, 301, 304, 307310, 312, 314,315, 317,318, 320-324, 326336, 340, 341, 343, 345, 347, 34«, 350, 352, 357-360, 362-366, 369, 372-374, 377-380, 384, 386-401, 405,406, 413, 417,429,466, 467, 469, 470, 484,486,488,489, 491, 433495,496, 498, 503, 509, 516, 520,521, 527, 528, 530, 539,542, 575, 586, 617, 618, 621, 624, 630, 632, 633, 639, 643, 644, 646-648, 650, 652, 653, 661, 670, 675, 685, 687, 690 - österreichischer 342, 647 - politischer 253,255, 282,288, 308,328, 334, 345, 348, 379, 389, 393,428, 468,487, 520, 539, 608, 647 - religiöser 349 - russischer 336 Zdonistenkongreß in Basel, s.a. Basler Kongreß 75,293, 307, 332-337, 359, 362 zionistische Burschenschaften, s.a. Kadimah 309,311 zionistischer Nationalismus 622 zionistisches Programm 562 Zola, Emile 223,459, 467,674 Zollschan, Ignaz 652 Zunu, Leopold 86, 114, 566 Zürich 230,459,462 Zweig, Arnold 464,676 - Stefan 362, 370, 400,401, 406,462, 505-507, 523-529, 531-534, 539-541, 684, 689-693 Zwi, Sabbatai 253

Abbildungsverzeichnis FOTOS ZWISCHEN DEN SEITEN 556 UND 357 Oberrabbiner Moritz Giidemann (1835-1918) Baron Mauritz von (1851-1896) Dr. Josef Samuel Bloch (1850-1923) Vier Studenten der Wiener Verbindung Kadimah um 1895 Dr. Nathan Birnbaum (1864-1957), der den Ausdruck Zionismus prägte Dr. Theodor Heizl (1860-1904) um 1897 Dr. Julius Ofaer (1845-1924) Dr. Victor Adler (1852-1918), Führer der Österreichischen Sozialdemokratischen Partei Sigmund Freud (1856-1959) im Jahre 1891 (Copyright Maiy Evans/Sigmund Freud) Gustav Mahler (1860-1911) Arthur Schnitzler (1862-1951) Der junge Philosoph Otto Weininger (1880-1905) an seinem Totenbett ABBILDUNGEN Karte von Österreich-Ungarn, 1910, S. 59 Kandidatenliste für die Wahlen der jüdischen Gemeinde in Wien 1906, S. 167 Leitartikel aus Selbstemanzipation (2. Januar 1892), S. 519 Ε. M. Lilien, Illustration für den 5. Zionistischen Kongreß 1902, S. 571

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