Die homerischen und die altindischen Epen


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Sitzungsbericl1te der Akademie der Wissenschaften der DDR 1973

Walter Ruhen

Die homerischen und die altindischen Epen

AKADEMIE-VERLAG· BERl,IN

Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der.DDR

Jahrgang 1973- Nr. 24

Walter Ruhen

DIE HOMERISCHEN UND DIE ALTINDISCHEN EPEN.

AKADEMIE

1975

-VERLAG·

BERLIN

Vortrag von Walter Ruhen, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, vor der Klasse Gesellschaftswissenschaften II am 13. Dezember 1973 Herausgegeben im Auhrage des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der DDR von Vizepräsident Prof. Dr. Heinrich Scheel

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3-4 (C)1975 by Akademie-Verlag Berlin Lizenznummer: 202 • 100/227 /75 Gesamtherstellung: IV/2/14. VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4.45 Gräfenhainichen • 4534. Bestellnummer: 752 796 9 (2010/73/24.) , LSV 7375 Printed in GDR EVP 4.,-

Inhaltsveneichnis

Vorbemerkung • . . • . . . . . . . • • I. Die Problematik . . . • . • . . . . II. Einige auffallende Gemeinsamkeiten und Besonderheiten . . • • • • . • III. Entwicklung der beiden Gesellschaften und ihrer Epen . . . . . . . • IV. Probleme der Religion . • V. Probleme des Friedens . . VI. Probleme der Demokratie VII. Probleme des Humanismus VIII. Probleme der Form IX. Die vier Epen im Rahmen der Weltgeschichte der Heldenepik . . • . . . • • X. Bewertung der Epen • . . . . . . • • • . Anhang: Das mythologische Motiv der Überlastung der Erde Anmerkungen

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Vorbemerkung

Der vorliegende Band enthält die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der führende Vertreter der Indologie in der DDR, Walter Ruhen, im Dezember 1973 vor der Klasse Gesellschaftswissenschaften II gehalten hat. Ruhen behandelt in · seinem Vortrag ein grundlegendes literaturwissenschaftliches Problem, das bei den Völkern des südasiatischen Subkontinents und darüber hinaus in der ganzen wissenschaftlichen Welt zunehmend auf großes Interesse stößt.

I. Die Problematik.

Der Vergleich der altindischen mit den homerischen Epen ist eine aktuelle Aufgabe, die auch politisch Relevanz besitzt. Ihr Vergleich, das heißt die Herausarbeitung sowohl der Gemeinsamkeiten wie Besonderheiten beider Epengruppen, ermöglicht es, die historische Entwicklung der Kultur im Altertum einerseits der Griechen, andererseits der Inder und der Menschheit überhaupt besser zu erkennen und zu verstehen. Er schafft auch Voraussetzungen zum besseren Verständnis der heutigen Kulturen, zu deren Erbe diese Epengruppen jeweils gehören, und ist wichtig für die Aneignung der Epenliteratur durch die Inder und Griechen als deren spezielles und durch alle Völker als ihr allgemeines kulturelles Erbe. Damit sind wichtige, schon lange in Angriff genommene, aber noch ungelöste Aufgaben gestellt, nicht nur für die Sanskritisten und Gräzisten der Indischen Union. Auch die Sanskritisten und Gräzisten der DDR sollten sich, von ihrer marxistischen Position her, dieser Aufgabe annehmen. Wenn die Indologie der DDR mit ihrer Sanskritistik in der aufgezeigten Richtung überzeugende und der Kritik standhaltende Analysen und Bewertungen der Epik und des übrigen kulturellen Erbes aus dem alten Indien zu erbringen vermag, werden wir damit nicht nur den kulturell-gesellschaftlichen Bedürfnissen unseres eigenen Volkes gerecht. Wir werden auch das Vertrauen der fortschrittlichen Inder zu uns festigen, die gegen die Reaktion im eigenen Lande um die Ausschöpfung und Fruchtbarmachung ihres kulturellen Erbes kämpfen und sich damit in den weltweiten ideologischen Kampf unserer Epoche gegen den Imperialismus einreihen, in dem wir, jeder auf seinem Gebiet für sein Land und zugleich für die Zukunft der Menschheit, stehen. Im internationalen Ringen um die Durchsetzung marxistisch-leninistischer Geschichtsbetrachtung lernen wir die Probleme des heutigen indischen Klassenkampfes verstehen, richten wir unsere Sanskritistik immer erneut auf die aktuellen Probleme Indiens aus und tragen damit auch dazu bei, die Notwendigkeit der Sanskritforschung in der DDR zu unterstreichen. 7

Mit den in Indien noch heute weitgehend lebendigen altindischen Epen lernen wir die Inder besser verstehen und festigen damit die Freundschaft unserer Völker. Große, inhaltlich und formal ähnliche, volkstümliche Heldenversepen 1 des Altertums sind bisher nur bei Griechen und Indern bekannt geworden, nicht in anderen altorientalischen Gesellschaften. Auch Erlösungsreligion, Dramen und Philosophie besaßen nur diese beiden Gesellschaften in analoger Weise.2 Die Ähnlichkeit der beiden Epiken, Dramen usw. gehört zu dem umfassenden Problem der Stellung der indischen Geschichte in der Weltgeschichte. Indien war nämlich im 3. Jahrtausend v. u. Z. mit seiner altorientalischen Indusgesellschaft dem damaligen Sumer als z. T. genetisches Analogon sehr ähnlich. Von etwa 900 v. u. Z. an war es mit seiner Gangesgesellschaft, die nach der Indusgesellschaft die zweite Variante der altorientalischen Klassengesellschaft in Indien war, dem ungefähr gleichzeitigen Griechenland erstaunlich ähnlich. Da Arya und Griechen Indoeuropäer waren, bildete dies eine genetische Analogie, aber in der Entwicklung der beiden Gesellschaften, auch der Epiken, handelt es sich überwiegend um typologische Analogien, deren Gesetzmäßigkeit wir aufzudecken haben. Die Gangesgesellschaft wurde in ihrer 3. Hauptperiode von etwa 500 oder 700 u. Z. an schließlich dem europäischen Feudalismus ungemein ähnlich, wiederum als vor allem typologische Analogie.3 Dabei blieb in Indien ein und dieselbe Produktionsweise, die „asiatische" oder altorientalische, in diesen 5000 Jahren bis heute oder gestern die herrschende. Seit einem Jahrhundert etwa setzt sich der Kapitalismus durch, von Europa importiert. In diesem historischen Rahmen muß der Vergleich der altindischen und homerischen Epen in den systematischen Vergleich der beiden Gesellschaften auf allen Gebieten von Basis und Überbau eingebaut werden. Er wird in eine vergleichende Weltgeschichte der Heldenepik als Teil einer Weltkulturgeschichte einmünden. Mit diesem historischen Problem hängt das der ästhetischen Bewertung der beiden Epiken zusammen. Das Problem der Bewertung der altindischen Epen durch Europäer ist so alt wie die .europäische Indologie. Der Engländer William Jones kam 1783 als Richter nach Calcutta, begründete 1784 die Asiatic Society of Bengal und begann in demselben Jahr mit der Herausgabe der Asiatic Researches. In deren 1. Band beschäftigte er sich mit einem ersten (er schrieb: superficial) Vergleich der Götter Griechenlands, Roms und Indiens, z.B. des Indra und Jupiter, des Phoebus und Sürya, aber auch des Dionysos und Räma.4 Er schätzte das RämäyaTJ,a, das er nach altindischer Tradition als das Werk des „ersten Dichters" der Inder, des Välmiki, charakterisierte, hoch ein: An Einheit der Handlung, Großartigkeit der Einbildung und Eleganz 8

des Stils überschreite es bei weitem das gelehrte und ausgearbeitete Werk des Nonnos5, d. h. der Dionysiaka. Dieser Vergleich war für diesen großen Vertreter der Aufklärung eine Leistung, aber erstens ist Dionysos nicht mit Räma, sondern mit Siva zu vergleichen, wie es schon Griechen vor N onnos taten 6, und zweitens sind die beiden altindischen Epen historisch Gegenstücke der homerischen, selbst wenn sie erst im 5. Jahrhundert u. Z., also ungefähr zur Zeit des Nonnos, ihre endgültige Form erhalten haben. Fr. Schlegel war der erste Deutsche, der Sanskrit lernte. Er übersetzte 1808 den Anfang des Rämäya1J,ains Deutsche und urteilte, daß die indische Poesie (er sprach von der „mythologischen Heldenfabel") ihrem eigentlichen \Vesen nach von der älteren griechischen so sehr verschieden nicht sei.7 Schlegel versprach sich vom Studium des alten Indien Aufschluß über die älteste menschliche Kultur, ein Romantiker, der Herders Anregungen aufgriff.S Gegen solche Verehrer des alten Indien wandte sich 1820 James Mill; er kritisierte die beiden altindischen Epen zweieinhalb Seiten lang auf das schärfste und behauptete, wegen ihrer Phantastik seien sie schlechter sogar als die Dichtungen der rohesten Völker, mit denen die Engländer bekannt geworden seien. Er wies William Jones' Begeisterung zurück mit der Vermutung, er habe das Rämäya1J,a nie gelesen, allenfalls ein paar Teilchen.9 Da sprach der britische Kolonialist der Zeit, als in Bengalen das indische Bürgertum sich die europäische Aufklärung anzueignen und damit die ersten Anzeichen erwachenden Selbstbewußtseins zu zeigen begann.10 An Mill kann man Max Müller anschließen, den in Oxford lehrenden Deutschen, der seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik wieder viel zitiert wird. Er meinte 1882, daß das menschliche Interesse an den beiden indischen Epen gering sei; sie enthielten zwar einige Elemente nationaler Literatur, seien aber als Ganzes erst Werke der Zeit nach der „turanischen Eroberung" Indiens. Damit meinte er die Einwanderung der Indoskythen (1. Jahrhundert v. u. Z. bis 3. Jahrhundert u. Z.). Die Werke dieser späten Zeit seien „künstlich" im Gegensatz zu der urwüchsigen und deswegen wertvollen vedischen und buddhistischen Literatur.11 Müller wollte in Indien nur das als wertvoll anerkennen, was seiner Meinung nach sozusagen den reinen Aryas, diesem indischen Gegenstück der Germanen, gehörte. Dies war der Standpunkt eines romantisch-rassistischen Kolonialisten. Er wurde von einem der gi:ößten und gebildetsten deutschen Indologen, Hermann Oldenberg, insofern zum Teil fortgeführt, als dieser die Aryas im indischen tropischen Klima und durch die Mischung mit den vorarischen Völkern als degeneriert ansah (1908).12 Dementsprechend stellte er 1920 die homerischen Epen hoch über die indischen und untermauerte dies mit einem eingehenden Vergleich der Szene, wie Odysseus und Penelope bzw. Nala und Damayanti sich nach langer Trennung wiedersehen. In der Tat sind diese 9

beiden Szenen genetisch verwandt, gehören sie doch beide zum alten Märchentyp des heimkehrenden Gatten. 13 Räma freilich traf Sitä nicht zu Hause, sondern nach seinem Sieg über Räval}a in Lankä unter ganz anderen Umständen wieder, analog Menelaos und Helena. Oldenherg fand, daß Homer die unaussprechliche einherfließende Anmut jeder Bewegung der beiden Lieben· den ganz anders sichtbar mache als der Inder, dessen Gestalten ärmer an Lehen seien, wenn auch beide Dichter das schmerzliche überschwengliche Glück ihres Gattenpaares gleich tief empfunden hätten; er wolle den indischen Dichtern keinen Vorwurf daraus machen, daß sie fraglos keine Homere seien, eben Inder, keine Griechen.14 Diesen Europazentrismus gilt es zu überwinden, aber auch den entsprechenden indischen Nationalismus, auf den wir im letzten Abschnitt zu sprechen kommen werden, ebenso wie Positivismus und Agnostizismus. Diese Problematik ist wichtig für den heute sich in Indien abspielenden ideologischen Klassenkampf und für die Auseinandersetzung zwischen den Auffassungen der sozialistischen und imperialistischen Weltkulturgeschichte. Die Epik der einen oder der aderen Gesellschaft pauschal für schöner oder besser zu erklären, ist subjektiv oder nationalistisch. Es gilt, soweit es heute schon möglich ist, ein wissenschaftlich begründetes Bewerten anzustreben, und dies in dem Bewußtsein, daß dieses wie alles Forschen ein unendlicher Prozeß ist, in dem jeder erfolgreiche Schritt neue Probleme aufwirft. In diesem Bewußtsein der Notwendigkeit der Diskussion wird das Problem der bewertenden Epenvergleichung hier provozierend, dem künftigen Kritiker zuarbeitend, behandelt.

II. Einige auffallende Gemeinsamkeiten und Besonderheiten Die merkwürdige Ähnlichkeit der beiden Epiken zeigt sich bei gebührender Beachtung ihrer Gemeinsamkeiten und Besonderheiten. An wichtigen Gemeinsamkeiten, die sich bei hoher Abstraktion ergeben, seien hier zunächst folgende sieben angeführt: 1. Es handelt sich in beiden Gesellschaften um je zwei Epen.15 Eines, Ilias bzw. Mahabhärata, ist ein auf einen historischen, panhellenischen bzw. gesamtindischen 16 Krieg zurückgehendes, mehr sagenhaftes Epos. Das andere, Odyssee bzw. RamayaTJ,a, ist ein mehr märchenhaftes Epos über die zehn- bzw. vierzehnjährige Reihe phantastischer Abenteuer eines Wanderhelden, endend mit seiner Heimkehr. Das eine Epos feiert ein großes Ereignis, das andere einen großen Mann. Die Inder charakterisieren das sagenhafte Mahäbharata zugleich als ein Lehrbuch der Moral (dharma), das märchenhafte RamayaTJ,a als Kunstdichtung (kävya), eine wichtige Unterscheidung.

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2. Beide Epenpaare gehören in je einen großen Zusammenhang, den Kyklos bzw. das ltihäsapuräTJ,a11 (eine riesige Sammlung indischer Epen und Mythen mit theologischen Traktaten in den Fassungen vieler Sekten). 3. llias und Mahäbhärata sind ungefähr gleichzeitig (s. Kap. III), d. h. die ihnen zugrunde liegenden Kämpfe um Troja bzw. auf dem Kurufeld18 gehen auf je ein Ereignis um etwa 1200 v. u. Z. zurück. 4. Diese beiden kriegerischen Ereignisse fielen noch in die militärische Demokratie der Griechen bzw. Arya. Dementsprechend spiegeln beide Epen im Grunde zwei Formen der militärischen Demokratie wider. 5. Die vier Epen sind Dokumente einer mythologischen (nicht einer wissenschaftlichen oder philosophischen) 19 Weltanschauung als Ideologie eines gentilen Kriegeradels. Als solche waren sie nicht mehr Volksepen, waren aber volkstümlich, wie es die Heldenversepik seit der militärischen Demokratie, die Epik der Barden der Heerführer-Könige, die sich an das Volk wandte, gewesen war. 6. Einander ähnlich war in beiden Gesellschaften die lange Entwicklung von epischen Liedern, die letztlich auf die Zeit der historischen Ereignisse zurückgehen und für Feste gebraucht wurden, über Bearbeitungen durch je zwei große Dichter (die beiden Homere bzw. Vyäsa und Välmiki) bis zu Redaktionen, schriftlichen Fixierungen der Epen und zu den Archetypen unserer Handschriften samt Kommentierungen. Wieweit es sich um Volksepik handelt, ist in beiden Gesellschaften in analoger Weise fraglich. Die Epen wurden in beiden Gesellschaften wesentliche Grundlagen der allgemeinen, panhellenischen bzw. gesamtindischen Bildung. Nach jenen beiden schufen andere Dichter literarische Epen mit anderen Themen. 7. Entsprechend dem Inhalt und der Entwicklung der Epen ist auch ihre Form weitgehend ähnlich. Zu jeder dieser Gemeinsamkeiten lassen sich vor allem mit steigender Konkretisierung entsprechende Besonderheiten stellen: 1. Es gab in beiden Gesellschaften noch andere Epen, die griechischen des Kyklos, ferner z. B. den Margit,es, den Froschmäusekrieg oder das des Hephäst und seiner Rache an Aphrodite und Ares (Od. 8, 266ff.), in Indien das des Lebens des Krishna, des Buddha, des Kampfes Skandas gegen Täraka und andere in Sanskrit, schließlich in dravidischen Sprachen die der Gond, die erst von Ethnographen aufgezeichnet wurden 20, und der Tamilen 21 in Texten, die man der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends u. Z. zurechnet. 2. Der Kyklos umfaßte die Epen um Troja und Theben. Das ltihäsapuräTJ,a faßte die Traditionen der Sonnen- und Monddynastie, des Kriegeradels um Ayodhyä und Delhi-Mathurä in einer mythologisch-theologischen Weltgeschichte zusammen. 3. Die Heimkehr des Odysseus schließt an die Zerstörung Trojas dank

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Odysseus' List des hölzernen Pferdes an. Die Wanderung Rämas aber hat mit dem Krieg des Mahabhärata nichts zu tun, gehört vielmehr an den Anfang des heroischen Weltalters, an dessen Ende der Krieg des Mahabharata gehört.22 4. In den homerischen Epen findet man bisher fast keine Elemente, die nicht zur militärischen Demokratie gehörten. Die indischen Epen setzen den Despotismus voraus (s. Kap. VI). 5. Die homerische Weltanschauung setzt die der eben erst überwundenen militärischen Demokratie fort, bevor a) Erlösungsreligion, b) Wissenschaft und c) Philosophie begannen. Die der indischen Epen hielt an der Weltanschauung der militärischen Demokratie weitgehend fest, obgleich diese drei schon während der Entwicklung der Epen voll ausgebildet wurden. 6. Griechen und Arya waren im 2. Jahrtausend v. u. Z. mit ihrer militärischen Demokratie in Räume der altorientalischen Klassengesellschaft eingefallen, in die der Ägäis bzw. der Indusgesellschaft. Die Griechen entwickelten im 1. Jahrtausend die Kraft, über Urgesellschaft und altorientalische Klassengesellschaft zur antiken Gesellschaft hinauszuwachsen, während die Arya damals in der Gangesgesellschaft nur eine neue Variante der altorientalischen Klassengesellschaft entwickeln konnten. 7. Zur Form s. Kap. VIII.

III. Entwicklung der beiden Gesellschaften und ihrer Epen Über Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der beiden Entwicklungen läßt sich noch nicht zusammenhängend berichten, sondern sie müssen erst durch verschiedene Fragestellungen geklärt werden. Das beginnt bei der großen, aber noch nicht ausreichend untersuchten Bedeutung des lndoeuropäertums für alles das, was die Gangesgesellschaft mit der Antike gemeinsam hat. Was die beiden Epenpaare angeht, so gehen sie sicher nicht auf ein indoeuropäisches Epenpaar zurück. Man hat schon bei mehreren indoeuropäischen Völkern Barden und Reste einer Art epischer Dichtersprache nachgewiesen 23, aber noch keine Urformen der llias und Odyssee, selbst wenn die Entführungen der Helena, Sitä und Gudrun gewisse Ähnlichkeiten haben.24 llias und Mahäbhärata können nicht vor 1200 v. u. Z., vor Trojas Zerstörung und der Zehnkönigsschlacht des EJgveda,der Urform der Schlacht auf dem Kurufeld, begonnen haben. Beide Kämpfe gehören den ungefähr gleichzeitig nach Griechenland und Indien einwandernden Griechen und Aryas, aber beide Wanderungen kann man noch nicht in Verbindung bringen, nicht erklären, warum beide Völker ungefähr gleichzeitig in Räume der altorientalischen Klassengesellschaft einbrachen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß die Aryas 12

als Satem- und die Griechen als Centumsprecher irgendwann und -wo derart benachbart gewesen wären, daß sie sich gegenseitig hätten stärker beeinflussen können. Andererseits haben die den Aryas und Griechen in vielen Hinsichten am nächsten stehenden indoeuropäischen Stämme der Iranier und Römer keine analoge Heldenversepik entwickelt. Auch die Hebräer sind etwa gleichzeitig auf der Stufe der militärischen Demokratie in ein Teilgebiet der altorientalischen Klassengesellschaft eingewandert25, ohne eine entsprechende Epik zu schaffen. Wahrscheinlich kann man einige Mythen-, Sagen- und Märchenmotive als indoeuropäisches Erbe nachweisen.26 Es kann aber keine Rede davon sein, daß die Inder ihre Epen von den Griechen übernommen hätten27 oder umgekehrt (das hat noch niemand behauptet) oder daß beide aus einer dritten Gesellschaft, etwa dem Alten Orient28, stammten, daß sie etwa vom Gilgameschepos herzuleiten wären, weder nach dem Inhalt noch nach der Form.29 Die homerischen Epen entwickelten sich ungefähr zwischen 900 und 700 v. u. Z. in der ersten oder frühgriechischen Periode der antiken Gesellschaft. Damals war dergroßgrundbesitzende „stadt"sässige Adel die vorwärts treibende Schicht, die die Urgesellschaft überwand, sich nicht allein durch Ausnutzung der neuen Produktivkraft der Sklaven zur Ausbeuterklasse entwickelte, sondern zugleich die Bauern (noch nicht die zunächst nur wenigen Sklaven) zur ausgebeuteten Klasse machte. Der Adel konnte aber nur fortschrittlich wirken, weil die Bauern und Handwerker die Produktivkräfte u. a. dank dem Eisen dafür ausreichend entwickelten. Für den Fortschritt war aber auch die Stadt mit ihren Händlern wichtig, die mit ihrer Warenwirtschaft Metalle und Sklaven beschafften, vom Adel aber verachtet wurden (Od. 8,160ff.). Im 7. Jahrhundert war die Stadt noch nicht zu dem Zentrum der Kultur geworden, das die spätere polis war, aber die Entwicklung ging doch in dieser Richtung. Auf dem Marktplatz der Stadt focht der homerische Adel seine Sportkämpfe aus und ließ sich und dem Volk zur Harfe Kurzepen vortragen; auf ihm fand auch die Volksversammlung statt und das Gericht, beide mit Redewettstreiten, bei denen der „ tüchtige" Mann siegte, wie beim Sport der starke, ,,schöne". Der „schöne und treffliche" Mann war das aristokratische Ideal. In und bei der Stadt war der Palast des Königs mit vielen Sklavinnen und mit dem Saal für die Gastmähler des Adels, bei denen der Sänger ebenfalls epische Dichtung vortrug, die möglichst aktuelle Heldentaten möglichst richtig besingen sollte, wie es von Odysseus dem Sänger bestätigt wird (Od. 8, 83ff., 486ff.). So etwa schilderte Homer um 700 die ideale Stadt der Phäaken. Alkinoos, der treffliche König der Phäaken, sandte Odysseus nach I thaka heim und ließ ihm von seinen Adligen Gastgeschenke mitgeben, die etwa als Gegenstücke. zu den Beuteanteilen des Adels im Krieg aufzufassen sind und 13

ohne Murren gespendet wurden. Die Bias aber beginnt mit der Kritik an Agamemnon als einem unmoralischen König, der die kriegsgefangene Tochter des Priesters Chryses aus seinem Beuteanteil nicht dem Vater zurückgibt, obgleich dieser das übliche Lösegeld zu zahlen bereit ist. Der Seher Kalchas tadelt Agamemnon deswegen, und Achill wirft es ihm mit großer Heftigkeit in der Heeresversammlung vor. Agamemnon hört zu spät auf beide, Achill grollt und zieht sich vom Kampf zurück, Unglück droht den Griechen, Zeus täuscht Agamemnon durch einen Traum und lockt ihn zu neuem Kampf, auch ohne Achill, und die Griechen erleiden grausame Verluste. Agamemnon will Chryseis behalten, weil er sie, wie er schamlos in der Heeresversammlung gesteht, mehr liebt als Klytämnestra (II. 1. 113). Damit ist der Hörer vorbereitet auf die Klage der Totenseele des Agamemnon in der Nekyia, daß Klytämnestra ihn erschlagen hat, als er heimkehrte (Od. 11, 387ff.). Achill nennt vor versammeltem Heer Agamemnon wegen seiner Beutegier einen völkerfressenden König (11. 1,331). Aber Penelope betont bei Odysseus, daß dieser gegen sein Volk ein rechtlicher König gewesen sei, keinen· willkürlich verfolgt oder vorgezgen habe (Od. 4, 690ff.). Indessen wird auch Odysseus in der Volksversammlung getadelt, weil er schuld daran ist, daß seine ganze Gefolgschaft bei der Heimkehr umgekommen ist.30 Zu dieser Kritik paßt, daß nach der Odyssee Odysseus, Menelaos und Nestor ihre Länder am Ende glücklich regieren, während Agamemnon wie Achill getötet sind. Diese seltene, aber scharfe Kritik an Königen wurde von den beiden Homeren geübt, kurz bevor das Königtum abgeschafft wurde. Vielleicht war dafür ein Grund, daß einige Könige vom Heerführer der militärischen Demokratie zum altorientalischen Despoten absanken (oder fortschritten?); dies wird in der Ilias gerade an Agamemnon gezeigt, dem König von Mykene. In Mykene aber möchte man Reste des altorientalischen Despotismus vermuten31, die Griechen hätten ja ohne das Erlebnis der altorientalischen Klassengesellschaft diese nicht mit ihrer Antike überwinden können. Tyrannische Könige gab es allerdings schon in der militärischen Demokratie, wie es die Heldenepik der Polynesier zeigt (s. Kap. IX, unter 3.). Wenn andererseits Priamos von Homer nicht als altorientalischer Despot dargestellt wird, kann man fragen, ob Homer einen solchen nicht kannte oder nicht darstellen wollte, vielleicht seines Humanismus wegen. Man kann weiter annehmen, daß die Homere, weil sie solche Fehler mancher Könige sahen, die militärische Demokratie heroisierten, sie ihren Epen mit überwiegend gerechten Königen zu Grunde legten, um im 8. und 7. Jahrhundert das Königtum zu retten. Der frühe griechische Adel ging um 800 etwa schon über den Humanismus der Urgesellschaft und der altorientalischen Klassengesellschaft hinaus und legte die Grundlagen für eine neue Qualität des Humanismus, des antiken, der in den homerischen Epen bereits greifbar ist. Die Epen Homers und des

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Adels dienten damit in dieser Hinsicht dem Fortschritt. Sie idealisierten aber zugleich die damals zerfallende militärische Demokratie, gewissermaßen „romantisch" zurückblickend, als heroische Vergangenheit, um die Herrschaft des Adels und der Könige über den sich herausbildenden Demos zu rechtfertigen und zu sichern, offenbar weil sie gefährdet war. Diese zwiespältige Haltung Homers und des Adels wurde um 700 herum bereits konservativ.32 Ab 700 wurde nämlich in der zweiten Periode der griechischen Antike der Demos die Kraft, die im Kampf gegen den Adel das Königtum abschaffte und die SklavenhaJterdemokratie schuf. Der Demos vollendete um 500 bereits die griechische Antike in ihrer Klassik, bis diese um 400 etwa zerfiel. Um 700 dichtete Hesiod schon im Gegensatz zu Homer als Ideologe der ausgebeuteten Bauern gegen den Adel im Sinne der neuen, über Homer hinausgehenden Fortschrittlichkeit, und der Druck der Bauern zeigt sich immerhin schon an zwei kurzen Stellen der Odyssee um etwa 700.33Damals hörte mit der Fortschrittlichkeit des Adels auch die homerische Epik auf, als Volksdichtung weiter zu wachsen34, und das war sicher kein ZufalJ. Die Führer des revolutionären Demos, die Tyrannen, haben dann die Epen z. T. wie die Ortbagoriden von Sikyon verboten, weil sie sie als so reaktionär erkannten wie den Adel; z. T. aber haben sie sie öffentlich vortragen lassen wie Pisistratus von Athen, offenbar weil sie die grundlegenden Dokumente des neuen Humanismus und damit der griechischen Bildung geworden waren und blieben. Die Sklavenhalter brauchten die Epen offenbar wegen deren Humanismus, der sich für sie u. a. in der Darstellung der Polisreligion bewährte. Damit eigneten sie sich auch nach 700 noch für die Hebung des Selbstbewußtseins der Staatsbürger, auch des Demos, und zugleich für die Unterdrückung der Sklavenklasse. Die altindischen Epen entwickelten sich als typologische Analoga der homerischen Epen aus analogen, nicht identischen Entwicklungen in Basis und Überbau des alten Indien, die man schon anfangen kann zu beschreiben. Bei immer weiterer Konkretisierung wird sich ein Komplex von Entwicklungen ergeben, der nur in diesen beiden Gesellschaften des Altertums dank ähnlichem Druck von unten und oben ähnlich genug war, daß in ihnen und nur in ihnen die großen Heldenversepen geschaffen werden konnten und mußten. Die anderen altorientalischen Gesellschaften sind daraufhin noch nicht untersucht worden; sie entwickelten sich vermutlich etwas anders. So erlaubt das Vergleichen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Die altindischen Epen wuchsen zwischen 900 v. u. Z. und 500 u. Z. heran, also wesentlich langsamer als die griechischen Epen; so tat es die indische Gesellschaft überhaupt, denn sie erreichte z.B. erst um 500. u. Z. ihren Gipfel, der der griechischen Klassik des 5. Jahrhunderts v. u. Z. gegenübersteht. Beim Übergang von der militärischen Demokratie, die im Panjab bis etwa

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1000 v. u. Z. lebte, zur Gangesgesellschaft, dieser zweiten indischen Variante der altorientalischen Klassengesellschaft, war ab 900 v, u. Z. der K~atriyastand, der Kriegeradel, mit dem Brahmanenstand als seinem Ideologen, der für Indien im Gegensatz zu Griechenland immer bezeichnend blieb, die treibende Kraft. Mit der Eroberung des Gangesgebiets machten diese beiden Stände die nichtarische Vorbevölkerung, die aus gentilen Bauern bestand und zum Teil bis zur militärischen Demokratie hin entwickelt war, zum rechtlosen, ausgebeuteten Stand der Südras. Diese Bauern entwickelten ihre Produktion damals gerade durch Verbindung der Produktion der vorarischen Munda-Dravida (Reis), der Indusgesellschaft (Weizen) und der Arya (Gerste), so daß ihre Ausbeutung lohnend wurde, nicht aber durch Ausnutzung des Eisens oder der Sklaven. Wie in Griechenland waren ab 900 die beiden Haupt· klassen der Gentiladel und die Bauern, aber der indische Kriegeradel hatte keinen Großgrundbesitz, den er hätte mit Sklaven bearbeiten können, und die Bauern waren nichtarische, mit dem eroberten Boden erbeutete Kriegsgefangene, denen der Eroberer ihr Leben ließ, damit sie ihren angestammten Boden weiter bestellten, beherrschten doch die Eroberer den einheimischen Reisanbau nicht. Die griechischen Eroberer waren nicht in solcher Notlage und erschlugen die männliche Vorbevölkerung oder machten sie zu relativ rechtlosen „Fremden". Die nichtarischen Südrabauern wurden ähnlich barbarisch, im Grunde rassistisch, ausgebeutet wie die griechischen, von fremden Völkern geraubten Sklaven, wenn die Südras auch keine Sklaven waren. Während die griechischen Bauern sich als kleine Grundeigentümer dank dem Eisen und der Sklaven in der sich entwickelnden Warenwirtschaft zu einem Teil des Sklaven ausbeutenden Demos entwickelten, wurden die indischen vorarischen Bauern in ihren Dorfgemeinden mit äußerst unentwickeltem privatem Grundeigentum ohne Eisen oder Sklaven und, ohne an der sich in einigen Städten langsam entwickelnden Warenwirtschaft teilzunehmen, zum helotenartig ausgebeuteten untersten Stand hinabgedrückt. Während bei den Griechen der antike Widerspruch der Sklavenhalter und Sklaven von etwa 700 v. u. Z. an relativ schnell grundlegend wurde, blieb es in Indien bis zum Beginn des Kapitalismus der des privilegierten Adels und der Bauern, der Südras, dieser typisch altorientalische Widerspruch. Damit blieben die großen Heldenversepen in Indien im Unterschied zu den homerischen lebendig, und zwar von der Guptazeit an relativ stagnierend, wie es für die Gangesgesellschaft allgemein bezeichnend war. Von etwa 600 an begann auch in Indien die Stadt eine Rolle zu spielen, mit einem prächtigen Palast voll Sklavinnen und mit einer „Halle" für die Gastmäler des Königs und ausgewählter Adliger. In der Stadt gab es eine „Würfelhalle", in der Diskussionen über theologisch-philosophische Fragen stattfanden, vielleicht auch Gerichtsverhandlungen. Aber es gab keinen Markt-

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platz, keinen Sportwettkampf des Adels und keine Volksversammlung. Wenn im Mahäbhärata ausführlich geschildert wird, wie die Prinzen um Yudhi![ithira und Duryodhana gegeneinander einen Wettkampf ausfochten, so geschah dies als Abschluß ihrer Ausbildung in allen Waffenarten (Pfeil, Schwert, Keule) vor dem Hof, dem Adel und den Frauen auf eigens erbauten Tribünen und vor dem Volk (1, 124 f. ). - Das RämäyarJ,a wurde auf den Straßen der Stadt, im Palast, in den Häusern des Adels und der Priester (Räm. 1, 4, 21) und zugleich auf dem Platz des Roßopfers des Königs Räma im N aimishawald (Räm. VIII, 93, 5) zu Saitenmusik vorgetragen, das Mahäbhärata in demselben Wald heim zwölfjährigen Opfer des Saunaka bzw. beim Schlangenopfer des Königs Janamejaya (Mhh. I, 1). Daß das RämäyarJ,a die Erlebnisse Rämas richtig widerspiegelte, wurde bei dessen erstem Vortragen ausdrücklich bestätigt. Aber die Opfer in diesem Wald sind sicher sagenhafte Fiktion. Auch etwas der Lage der griechischen Könige Ähnliches gab es in Indien zwischen 900 und 550 v. u. Z. Dort begannen damals die ersten Despoten altorientalischen Typs und deren Ideologen, vom „Essen" der Völker durch die Könige (Despoten) zu sprechen.35 Es gibt bisher nur wenige Zeugnisse der damaligen altindischen Heldenepik, aber Spuren von Gestalten der beiden späteren Epen haben sich in damaligen Texten gefunden.36 Da die altindischen Epiker später als fortschrittliche Gegner der Despotenwillkür, als Propagandisten eines moralischen Despotismus, auftraten37, kann man annehmen, daß schon von 900 an in Indien und Griechenland analoge Spannungen auf politischem Gebiet aufkamen, die auf analoge Verhältnisse in der geschichtlichen Entwicklung und in der Basis zurückgingen und den Beginn der Heldenepik bedingten. Das Vergleichen der homerischen und altindischen Epen ermöglicht es damit, das Entstehen der großen Heldenversepik in beiden Gesellschaften als eine Gesetzmäßigkeit zu verstehen, als eine Entwicklung von kurzen epischen Liedern des Volkes zu gewaltigen Volksepen. In Indien entwickelten sich die beiden Epen dann allerdings langsamer und z. T. anders zu Kunstwerken der Gebildeten. Die Zeit um 700 v. u. Z., als die Odyssee vollendet wurde und die erste Periode der griechischen Antike endete, würde in der Gangesgesellschaft phaseologisch etwa dem Jahr 325 v. u. Z. entsprechen. Man kann für das damalige RämäyarJ,a eine Kurzform von etwa 2000 Hexametern erschließen, die noch nicht von Välmiki, dem indischen Homer, bearbeitet worden war. Sie war im indischen Sinne noch Volks- oder besser Bardenepos, keine literarische Dichtung. 38 Indien entwickelte sich eben langsam. Um das Jahr 600 v. u. Z., das dem Jahr 800 v. u. Z. in Griechenland, also der ungefähren Zeit der llias, etwa entspricht, sind uns in Indien nur einzelne Strophen, die Taten der epischen Helden besingen, erhalten, und zwar als Zitate in damaligen theologischen Texten, und Könige des RämäyarJ,a werden wie lebende oder historische Männer in diesen Texten 2

Ruhen, Epen

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angeführt.39 Die Höhe der Entwicklung der beiden indischen Epen läßt sich für diese Zeit noch nicht bestimmen, sie war aber hinter der von Homers llias sicher weit zurück. Der Übergang von Königen der militärischen Demokratie zu altorientalischen Despoten begann indessen damals in Indien und damit vermutlich eine Idealisierung der vergangenen Zeiten durch Barden. Deren eben erwähnte Spuren sind in den Brähma7J,as und Upanishada erhalten. Diese ausgedehnte Prosa des Brahmanenstandes steht am Anfang der Gangesgesellschaft, die homerische Epik des Kriegeradels aber am Anfang der griechischen Antike. Um etwa 400 v. u. Z. kann man vielleicht ein buddhistisches Kurzepos über einen „bösen", kannibalischen, vom Volk verjagten, später bekehrten König ansetzen. Es hatte etwa 200 Hexameter Umfang.40 Daneben ließe sich das Kurzepos des Hephäst stellen, das etwa 100 Hexameter umfaßt (Od. 8, 265-365). So kurze griechische Epen müßten, wenn das Längerwerden der Heldenepen in beiden Gesellschaften analog verlief, vor Homer, vor 800 angesetzt werden. Das Hephästepos ist zumindest älter als 700, da es in die Odyssee eingefügt wurde. Aber Kurzepen können sich einzeln oder als Typ in beiden Gesellschaften auch länger gehalten haben, wie späte Einschübe in den indischen Epen zeigen. Der Vortrag epischer Lieder durch Mitglieder des Kriegerstandes und daneben anderer durch solche des Brahmanenstandes beim Roßopf er, das ein ganzes Jahr dauerte, ist für diese alte Zeit um 700 etwa bezeugt. 41 Diese kultische Verwendung der Epen war wichtig für deren Länge, für ihren reli1, Brahmanen, Vyäsa giösen Charakter und dafür, daß später, um das Jahr und Välmiki sie bearbeiteten, keine Rhapsoden wie Homer. Im Despotismus Indiens spielte die Religion nun einmal eine wesentlich größere Rolle als in der griechischen Demokratie, ja, schon in der frühgriechischen Aristokatie. Die typisch indische Dorfgemeinde wurde ab 900 v. u. Z. die Grundlage des Despotismus. Der Despot, d. h. der keiner gesellschaftlichen Institution verantwortliche Herrscher, war der Vertreter des Adels. Aber gewisse Teile des Adels lehnten Despotismus in ihren Staaten und Städten ab, in den Zentren ihrer Adelsrepubliken. Sie wollten die Abgaben der Bauern ohne die Despoten für sich einziehen. Sie waren in diesem Sinne antidespotisch. Diese und einige andere vom Handel lebende Städte (s. unten) ähnelten damaligen griechischen Städten. In anderem Sinne antidespotisch waren andere Adlige in Despotien, die sich nicht in den Dienstadel des Despoten einreihten, aber auch Händler einiger Städte, die ab 600 langsam eine blühende Warenwirtschaft mit einem privaten und einem staatlichen Sektor, ähnlich der griechischen, entwickelten, dies als Inseln innerhalb der herrschend bleibenden agrarischen, altorientalischen Produktionsweise. Um die Wende der Zeitrechnung wuchsen diese Städte in den Welthandel zwischen Rom und China hinein und wurden für

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die letzte Phase der Entwicklung der Epen bedeutsam. Weiter errangen die zunächst rechtlosen Bauern, die Südras, dank ihrem unablässigen, wenn auch sanften Druck von unten einen langsamen sozialen Aufstieg. (Dieser mündete aber nicht in den objektiven gesellschaftlichen Fortschritt wie der Aufstieg der griechischen Bauern, die sich aus der ausgebeuteten zu einem Teil der ausbeutenden Klasse entwickelten und mithalfen, die Sklavenhalterdemokratie zu errichten.) Schließlich traten einige Priester der Brahmanen, Buddhisten und Jinisten als Ideologen solcher antidespotischen Schichten in Städten und Dörfern für eine moralische, wenn auch nicht für eine juristische, verfassungsmäßige Einschränkung der Willkür der Despoten ein: Für die Despoten sollte dieselbe Moral verbindlich sein wie für ihre Untertanen, eine demokratische und damit im Sinne der geschichtlichen Entwicklung liegende Haltung. Diese verschiedenen, gegenüber dem Despotismus kritischen Schichten von Bauern, Händlern, Priestern und Adligen wollten und erreichten hier und da verschiedene Arten einer gewissen Vermenschlichung des Despotismus, eine gesellschaftliche Verantwortlichkeit des Despoten, eine moralisch-religiösutopische, eine vernüftige oder gar eine wissenschaftliche Einschränkung der despotischen Willkür durch eine Morallehre, die die Kasten in die Hierarchie der vier Stände einordnete und damit etwas erreichen wollte (oder sollte), was wir als Klassenharmonie bezeichnen würden.42 Ein Despot wie Asoka zeigt, daß im 3. Jahrhundert v. u. Z. dieser Druck von unten praktische Erfolge zeitigte. Zwischen Asoka und Yudhi~thira besteht eine gewisse Verwandtschaft. Andererseits hat diese utopische Ideologie die Volksmassen, die nicht revolutionär waren, nicht zu revolutionären Handlungen bringen können. Die Epiker heroisierten in diesem Sinne die überwundene militärische Demokratie. Die angeführten Schichten waren bis zum 5. Jahrhundert u. Z., bis zum Gipfel der Gangesgesellschaft antidespotische und damit fortschrittliche volkstümliche Kräfte, und wesentliche Dokumente des moralisierten und damit demokratisierten Despotismus waren die beiden Heldenepen. Sie wuchsen als Bardenepen 43 bis etwa zum Jahr± 1 langsam heran. Damals wurden sie von Vyäsa und Välmiki dichterisch bearbeitet, von diesen beiden Analoga der Homere. Sie waren aber keine Rhapsoden, sondern gelehrte Dichter des Brahmanenstandes, Theologen, analog dem weitgehend theologisch denkenden und dichtenden Bauern Hesiod. Sie wirkten am Anfang der Blütezeit der Gangesgesellschaft. Man male sich aus, wie ein Zeitgenosse des Aischylos die homerischen Epen fortgeführt hätte. Diese indischen Dichter ließen ihre Epen von Sängern besonderer Art vortragen. An diesen Bearbeitungen schrieben dann anonyme Epigonen noch 500 Jahre lang weiter, schwemmten sie auf, u. a. durch riesige moralisch-theologische Dialoge wie die des XII. und



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XIII. Buches des Mahäbhärata (Die BhagaYadgitä ist älter, gehört bereits dem 3. Jahrhundert v. u. Z. an). 44 Dabei wurde die grundsätzliche Fortschrittlichkeit der Epen aber nicht aufgehoben.45 Erst um 500 u. Z. entstanden die Archetypen unserer Handschriften der beiden Epen. 1, um das die ursprüngliche Bearbeitung erfolgte, lag im zweiten Das Jahr Drittel der 2. Hauptperiode der Gangesgesellschaft; diese 2. Hauptperiode dauerte von 300 v. u. Z. bis 500 u. Z. Pisistratos aber ließ um 550 v. u. Z. die Epen redigieren, d. h. in der Mitte der 2. Periode der griechischen Antike, die von 700-400 dauerte; Pisistratos' abschließende Redaktion erfolgte also um 550 v. u. Z. schon in derjenigen Periode der Antike, deren indische Ent1 erst die Analoga der beiden Homere am Werke sah. Die absprechung um schließende Redaktion des Pisistratos um 550 v. u. Z. lag ein Jahrtausend vor der Redaktion der beiden Archetypen der indischen Epen um 500 u. Z. Damit hängt es zusammen, daß Pisistratos' Redaktion über den Text der beiden Homere kaum hinausgegangen ist, während die Archetypen der indischen Epen sich von den Urtexten des Vyäsa und Välmiki stark unterscheiden. Aber ob die beiden großen indischen Dichter wirkten, ehe das städtische Händlertum nennenswerten ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Einfluß bekam, ist bisher noch nicht deutlich genug. Bei den beiden Homeren ist es nicht sicher, wohl aber ist es bei Pisistratos anzunehmen. Hier ist noch einmal auf die Frage der militärischen Demokratie zurückzukommen. Homer lebte um 800 und 700 noch in ihrer Zerfallsperiode. Er übernahm - auf welche Weise, wissen wir noch kaum - vor allem heroische Traditionen von Barden der Könige der militärischen Demokratie, Traditionen, die letztlich bis auf Agamemnon, den sagenhaften König der mykenischen altorientalischen Klassengesellschaft und der achäischen militärischen Demokratie zurückgingen, bereichert um Traditionen der dorischen und ionischen militärischen Demokratie, Traditionen aus dem Zeitraum etwa zwischen 2000 und 900 v. u. Z., deren Ursprünge innerhalb dieses langen Zeitraumes wir noch nicht recht ermitteln können. Vor den einwandernden Achäern gab es ja in Mykenä schon Elemente der altorientalischen Klassengesellschaft, 46 vor allem gewaltige Burgen der Könige, die vielleicht eine Art altorientalischer Despoten waren. Darin könnte kretisches, ägäisches altorientalisches Erbe stecken. Ebenso im temenos, der Domäne des Despoten, einem bei Homer belegten Begriff, der auch in mykenischen Inschriften bezeugt zu sein scheint. 47 Im alten Indien spielten Domänen aber keine Rolle. Agamemnon soll ferner als orientalischer Despot reden, wenn er dem Achill zu dessen Versöhnung eine seiner Töchter und eine Mitgift von sieben Städten anbietet, die ihn ,,wie einen Gott" mit Geschenken ehren würden (11. 9, 147ff.). 48 Diese Gesch~nke sind Abgaben, die aber auch denen der militärischen Demokratie des

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JJ,gveda ähnlich sehen, dem bali, einer freiwilligen Abgabe, die nicht vom Herrscher der Höhe oder dem Termin nach festgelegt wurde und die ebenso heißt wie das Geschenk an die Götter, die Opfergabe. 49 Sonst spiegelt sich die altorientalische Klassengesellschaft Mykenäs (oder Trojas) in den homerischen Epen nicht wider. F. Engels schöpfte sein Material für die Darstellung der militärischen Demokratie noch im wesentlichen aus dem Homer.SO In Indien läßt sich die militärische Demokratie der Arya im Panjab von etwa 1200-1000 v. u. Z. nach dem damaligen JJ,gvedaweit besser beschreiben als nach den altindischen Epen, und die betreffenden Angaben des l;lgveda lassen sich gut mit denen Homers zusammenstellen; dies ist für die Produktion, Staat, Recht, Religion, vorphilosophisches Denken und Dichtung der drei Gattungen bereits in Angriff genommen worden51, ein Versuch, dessen Brauchbarkeit für die Rekonstruktion der frühgriechischen Geschichte geprüft werden sollte. Ein Vergleich der altindischen und homerischen Epen aber kann nur bei großer Vorsicht der Erkenntnis des Wesens der militärischen Demokratie dienen. 52 Er ist indessen für das Verständnis der Epen und ihrer Stellung zur militärischen Demokratie aufschlußreich.

IV. Probleme der Religion Die altindischen Epen sind nach allgemeiner Ansicht die grundlegenden Dokumente nicht der Religion des JJ,gveda, sondern des Hinduismus53, insbesondere, so kann man konkretisieren, des Vishnuismus54, einer erst im Despotismus entwickelten mehr oder weniger monotheistischen Erlösungsreligion. Aber Erlösung spielt für die epischen Helden keine Rolle. Ebensowenig ist erstaunlicherweise für die Handlung der Epen - von eingefügten Episoden sei hier abgesehen - das für den Hinduismus und seinen Erlösungsglauben grundlegende Dogma der Seelenwanderung und Tatvergeltung von Bedeutung. Aber Erlösung und Seelenwanderung werden in den Epen nicht etwa geleugnet. Die beiden Epen - aber auch die klassischen Dramen und das Pancatantra - haben damit eine optimistische Weltanschauung beibehalten, daß nämlich gemäß der Weltordnung das „Gute" am Ende über das „Böse" siegt, ein Glaube, der im Grunde für die rgvedische Religion der arischen militärischen Demokratie bezeichnend gewesen war, vielleicht schon für die indoeuropäische Religion und von daher auch für die griechische und iranische. Dieser urgesellschaftliche Optimismus lebte offenbar im indischen Volk weiter, aber auch in den oben gestreiften antidespotischen Kreisen der Gangesgesellschaft. Diese hielten diesen optimistischen Hinduismus bewußt in den Epen bis 500 u. Z. lebendig. Er war volkstümlich und wurde zugleich ini Volk

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propagiert. Die Volksmassen werden die Diesseitsfreudigkeit der Epen unbewußt geglaubt und genossen haben, obgleich der Pessimismus der Tatvergeltungs- und Erlösungsreligion der Grundzug der herrschenden hinduistischen Religion geworden war. Die Massen konnten diese urtümliche Eigenart der Epen, diesen Rest der militärischen Demokratie, diesen Unterschied zum sonstigen, orthodoxen Hinduismus gar nicht bemerken. Die indischen Kommentatoren, Poeten, Theologen und Philosophen aber wollten dies offenbar nicht sehen. Selbst modernen indischen und außerindischen Interpreten der Epen fiel es nicht auf, daß die „Guten" und die „Bösen" der beiden Epen nicht auf Grund ihrer Tatvergeltung, sondern als Inkarnationen der Götter und Dämonen „gut" oder „böse" sind, daß damit die Moral in der Welt siegt und daß die epischen Helden nicht nach Erlösung streben. Dies gilt übrigens auch für Krishnas epische Biographie, nicht aber für die Buddhas. Diese Eigenart der indischen Religion, wie sie die Epen widerspiegeln, geht letztlich auf den indoeuropäischen Mythos des ewigen Kampfes der Götter gegen die Widergötter zurück, der im iranischen Dualismus in anderer Form weiterlebte, bei den Griechen im Mythos des Kampfes der Götter gegen die Giganten und Titanen; in der Odyssee gehören die Kyklopen zu solchen Götterfeinden, ohne daß diese Feindschaft für die homerischen Epen wesentlich wäre. Dieser uralte Mythos ist besonders im Mahäbhärata erhalten. Dort werden auf Vishnus Anordnung hin Götter und Dämonen auf Erden als die „Guten" und „Bösen" inkarniert. 55 Im Rämäya'TJ,ainkarniert sich Vishnu als der „gute" Räma zum Kampf gegen den „bösen" Despoten RävaQa, einen räk~asa, d. h. einen übermenschlichen menschenfressenden Despoten, aber dieser ist keine Inkarnation eines Dämons, sondern ist „böse" geworden durch eine komplizierte Genealogie; die Bosheit der räk~asas soll durch mehrfaches Verführen ihrer Ahnen, Asketen, die tapas, nicht yoga trieben, durch Frauen entstanden sein, nicht etwa durch Tatvergeltung. Im Rämäya'TJ,a klingt also der Kampf der Götter und Dämonen nur noch entfernt an. Die Bosheit der räk~asas mußte in einem Nachtrag zu Välmikis Dichtung ausführlich dargelegt werden {Räm. 7, 4ff.), da sie dem durchschnittlichen Hindu damals offenbar nicht mehr geläufig war.56 Wohl aber „wußte" (d. h. glaubte) jeder Hindu, daß Vishnu stets für den Sieg der Moral eintrat; er war ein an den Himmel projizierter moralischer Weltdespot. Dieser optimistische epische Hinduismus dürfte sich seit etwa 600 v. u. Z. in gewissen antidespotischen Kreisen neben dem dem Diesseits gegenüber pessimistischen, Tatvergeltung, Erlösung und yoga predigenden, herrschend gewordenen Hinduismus entwickelt haben, und wenn die Hindus traditionsgemäß bis heute glauben, daß Vyäsa, der Redaktor des Mahäbhärata, derselbe gewesen sei wie der Sammler der Götterlieder des l;lgPeda,so könnte darin die Ahnung einer solchen religionsgeschichtlichen Beziehung zwischen l;lg'1eda

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und Mahäbhärata anklingen. Im IJ.gveda gibt es ja auch Lieder, die die Zehnkönigsschlacht behandeln, die der Schlacht des Mahäbhärata zugrunde liegt. In analoger Weise glaubten die Griechen, daß Homer auch die homerischen Hymnen verfaßt habe, die allerdings weitgehend anders und jünger sind als der {lgveda. Homer entwickelte die Religion der olympischen Götter, die eine ähnliche Genesis haben wie die Götter der rgvedischen militärischen Demokratie, zur herrschenden, zur Polisreligion. Diese lebte neben der für die homerischen Epen unwichtigen Erlösungsreligion der Orphiker und Mysterien von Eleusis. Darin liegt ein typologisches Analogon zum epischen Hinduismus. Die beiden indischen Epen kümmerten sich auch nicht um Buddhismus, Jainismus und Ajivikas. Der trojanische Krieg und alles Geschehen überhaupt wird bei Homer von Zeus gelenkt, der indessen wie ein menschliches Oberhaupt einer patriarchalischen Familie des Adels oder der Könige der frühgriechischen Gesellschaft mit den Streitigkeiten in seiner Götterfamilie zu rechnen hat. Vishnu dagegen ist der göttliche moralische und die Moral durchsetzende Weltdespot, das Vorbild des irdischen Despoten, wie er das Ideal der antidespotischen Epik war. Neben Vishnu ist im Hinduismus Siva der Despot, dessen Tanz als sein launisches, lustvolles, unberechenbares, aber zugleich rhythmisches und damit sozusagen gesetzmäßiges „Spiel" der Lauf der Welt ist. Brahmä schließlich ist die personifizierte Weltvernunft, der weise Urmagier und -mystiker. Alle drei tragen die Verantwortung für die Moral im kosmischen, gesellschaftlichen und individuellen Geschehen. Der homerischen Kritik an den sich ständig streitenden Göttern in ihrer patriarchalischen Sippe ist die ungefähr gleichzeitige spätvedische bzw. frühhinduistische Kritik besonders an lndra, dem rgvedischen Götterkönig, in der ersten Periode der Gangesgesellschaft an die Seite zu stellen.57 Sie ist eine Voraussetzung für die Epen gewesen. Trotz solcher Unterschiede auf dem Gebiet der Religion gibt es im Mahäbhärata ein Analogon zur Hadesfahrt des Odysseus (nicht im RämäyarJ,a, dem Analogon der Odyssee). Am Ende des Epos beschwört Vyäsa die Totenseelen der gefallenen Helden und ihrer Frauen, so daß sie aus einem walhallartigen Himmel kommen und die Überlebenden um Yudhi~thira, den indischen Agamemnon, herum trösten (Mbh. XV, 35-42). Der im Kern vermutlich indoeuropäische Walhallhimmel wurde von Homer als dem Ideologen des lebensfrohen Kriegeradels durch das trostlose Reich des Hades ersetzt, vielleicht um der Abwertung des Diesseits in der keimenden Erlösungsreligion, diesem Trost der Bauern, entgegenzuwirken. Vor der Erlösung war auch bei den Griechen das religiöse Ziel wohl Unsterblichkeit, wie in Indien.58 In Indien wurde der Walhallhimmel in die vishnuitische Erlösungsreligion eingebaut, so gut es ging, meist mittels des Tatvergeltungsglaubens.

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In der Nekyia opferte Odysseus am Eingang der Unterwelt Blut für die Seelen der Toten, ließ sich von der Seele seiner Mutter über die traurige Lage in der Heimat berichten, dann von Teiresias weissagen (das Wahrsagen war ja eines der Hauptthemen der homerischen Religion) und hörte die Klagen des Agamemnon und Achill über das Lehen im Jenseits (Od. 10, 490ff.; 11, iff.). Yudhi~thira und die Seinen aber sahen und sprachen die Totengeister der Gefallenen, die Vyäsa aus dem \Vasser des Ganges heraus erscheinen ließ59 und die alle frühere Feindschaft, Selbstsucht und Zorn vergessen hatten, von Nymphen (apsaras) umhegt, selige Himmelsbewohner. Dabei grübelte der Epiker als Theologe darüber, was da erschien, was die ewige Gestalt der Toten bei verfallenem und verbranntem Leib eigentlich sei. - Bei aller Gemeinsamkeit des Themas ist der bedrückende Charakter der griechischen und der beglückende Charakter der indischen Schau der Toten bezeichnend für die beiden diesseitsfrohen Weltanschauungen. In beiden Epiken gibt es weiter das Motiv der Insel der Seligen, für Menelaos als Eidam des Zeus, als Auserwählten (Od. 4, 561-7), im Mahäbhärata (wieder nicht im RämayaTJ,a) für ganz andere Menschen, nicht für epische Helden, sondern für asketische „vollendete" Verehrer des Vishnu-NäräyaQa, eine Insel im - wir würden sagen - nördlichen Eismeer. Diese „weiße Insel" im Norden des Milchozeans ist von völlig asketischen, ,,erlösten" Männern bewohnt, die weiß wie der Mond sind (Mhh. XII, 322, 9; 14; 323, 24; 31). Der Gott dieser Insel ist die strahlende Sonne (323, 25; 34f.; 49; 326, 117) oder vielmehr: Sie verdeckt mit ihren Strahlen (323, 29; 38) den einzigen, eigentlichen Gott, Vishnu-NäräyaQa. Die Sonne ist die mäyä, der Zauhertrug des Gottes (42), der ihn verhüllt. Die NäräyaQaverehrer dieser Insel aber können ihren Gott trotz der Strahlen sehen (323, 49), sie sehen ihn dank ihrem „Wissen" (Glauben; 326, 23), sie gehen in den Gott ein und sind damit im Diesseits (iha) schon erlöst (326, 24), sie sind im Lehen bereits dank ihrer mystischen Schau mit ihrem Gott eins. Keiner von ihnen steht höher als der andere, alle sind von demselben Glanz (oder Glut; 323, 34) umgeben. Es ist sozusagen eine ewige, unsterbliche, egalitäre, rein männliche Mönchsgemeinde, ein utopisches Ideal. 60 Eine Wurzel dieses Glaubens ist der rgvedische Glaube an Yama, den Urmenschen, der den Weg zur Sonne, zur Unsterblichkeit (die manchmal walhallartig gedacht wurde) mit dem im Leichenbrand ,,gargekochten" Leibe fand.61 Im späten Veda hatte dieser Glaube die Form, daß die Sonne gleich brahman gleich Wahrheit ist, oder daß sie die Wahrheit verhüllt, daß aber der Gläubige im Sterben die Wahrheit trotz des „Deckels" der Sonne sehen könne. Damals, d. h. in einer Upanishad um 600 v. u. Z., galt dem AruQa die Sonne als das Ziel des Sterbenden, als der Sitz des ewigen Lichts in seinem seligen fünften Weltalter, für den bestimmt, der die Upanishad und die Epen und Puranen kennt, diesen fünften Veda. Dieser Glaube der 24

Epen an die weiße Insel blieb bis ins Mittelalter lebendig. Das Glaubensmotiv der Insel der Seligen geht auf eine weit verbreitete uralte Religion, den Universismus, zurück und ist schon im Gilgameschepos, im Daoismus und im JJ,g1,1eda gefunden worden.62 Die beiden Religionen der griechischen und indischen Epen sind also genetische Analogien, insofern sie letztlich aus urgesellschaftlichem indoeuropäischem Glauben an Kämpfe der Götter und Widergötter stammen, die das Geschehen in Kosmos, Gesellschaft und Einzelmensch lenken. Sie sind aber typologische Analogien, insofern beide in den jeweiligen Klassengesellschaften für die Bedürfnisse eines lebensfrohen Kriegeradels zur Beeindruckung der Volksmassen beträchtlich entwickelt wurden.

V. Probleme des Friedens Nicht nachweislich indoeuropäisch ist das mythologische Motiv der Überlastung der Erde63, daß nämlich der trojanische Krieg von Zeus entfacht wurde, weil die Erde unter der Last der „hin und her wandernden Menschen" litt. So stand es am Anfang der Kyprien, des ersten Epos des Trojazyklus. Das Mahäbhärata aber, das ja ein Analogon des ganzen Trojazyklus, nicht nur der Ilias ist, beginnt damit, daß die Erde unter der Überlastung durch die bösenM Menschen im Ozean unterzugehen drohte. Die Erdgöttin wandte sich auf den Rat der vedischen Götter hin an Vishnu um Hilfe, und dieser veranlaßte auf ihre Klage hin, daß die Götter als gute, die Widergötter als böse Despoten geboren wurden, daß diese den Kriegeradel ganz Indiens umfassenden beiden Parteien gegeneinander kämpften und daß auf dem Kurufeld viele Menschen niedergemetzelt wurden, vor allem die bösen. 65 Zeus mußte aus kosmischer Notwendigkeit der Erde helfen; er galt in dieser Hinsicht schon dem Homer um 800 als eine Art gerechter König, als der er in ausgesprochener Form um 700 dem Hesiod erschien. Zeus veranlaßte daraufhin66 das Parisurteil, Aphrodite veranlaßte den Raub der Helena durch Paris, und dann folgte der Rachekrieg aller Griechen gegen die Trojaner und ihre Bundesgenossen. Schon zu Homers Zeiten spürte der griechische Adel offenbar die Bedrohung von Kleinasien her, die in neuer Qualität nach den Perserkriegen das Geschichtsbild eines Herodot bestimmte. - Homer dichtete in der Tradition der Wanderungen der griechischen Stämme in der militärischen Demokratie und der verarmten Bauern in der großen Kolonisation. Damals war es die geschichtliche Aufgabe des Adels, regionale Staaten mit seßhaften Bauern zu gründen. Ihm mußte das Wandern als abzuschaffende Sitte er25

scheinen, und der Epiker der Kyprien als sein Ideologe stellte es den Volksmassen als Sünde dar, auf die hin Zeus den Krieg entfesselte. Der Adel spürte offenbar, daß die Volksmassen den Frieden brauchten, daß Krieg vor ihnen gerechtfertigt werden mußte, u. a. durch das Heldenepos. Er konnte ja als herrschende Klasse ohne Krieg nicht leben, wie es in allen Klassengesellschaften war, seit militärische Demokratie den Krieg zur „regelrechten Erwerbsquelle" des Kriegeradels gemacht hatte.67 Krieg gegen Asiaten war für die Griechen nicht nur zu Homers Zeiten unumgänglich, insbesondere für die Ionier an der kleinasiatischen Küste, selbst wenn die Völker unter den Kriegen litten. Die in den Epen gegebene Begründung des Krieges mit der Entführung Helenas und dem Rachebedürfnis der Könige oder diejenige mit der Überlastung der Erde werden den griechischen Volksmassen der homerischen Zeit, soweit sie selbständig denken konnten, kaum eingeleuchtet haben. Ihre Meinung drückte Thersites aus, wenn er in der Heeresversammlung vor Troja die Könige verurteilte, weil sie die Beute an sich brachten, die der kleine Mann ihnen erkämpfte. Er und das ganze Heer wollten den Krieg abbrechen. Aber der Adel ließ in der llias, also für die Hörer des Epos, nicht für die vor Troja versammelten Krieger, den Krieg um Troja als einen kosmisch notwendigen, mit einem marxistischen Ausdruck als einen gerechten Krieg hinstellen, als Entlastung der Erde und als panhellenische Rache an Paris und dessen Stadtstaat, der nicht als altorientalische Despotie dargestellt ist. Hier steht der berechtigte Friedenswunsch der Massen gegen die damals bei der Staatwerdung der Griechen vielleicht objektive Notwendigkeit des Krieges gegen die Nichtgriechen Kleinasiens. So erscheint uns der Krieg um Troja als eine tragische Notwendigkeit, geboren aus Widersprüchen, die die Entwicklung vorwärts trieben. Homer konnte als Ideologe des Adels dies nicht sehen, konnte gerechte und ungerechte Kriege nicht in unserem Sinne unterscheiden, ungerechte nicht vermeidbar machen, die schon damals wesentliche Ungleichartigkeit der Entwicklung der Staaten und damit den damaligen „Nationalismus" nicht aufheben und den Friedenswunsch der Völker gegen die damalige ständige Kriegsdrohung nicht zum Erfolg führen.68 Auch die altindischen Völker, vor allen Dingen die Bauernmassen, brauchten keinen Krieg, wohl aber gewisse Kreise des Kriegeradels und deren Despoten, deren jeder seit der Staatwerdung der Gangesgesellschaft, wenn nicht gar schon der Indusgesellschaft69, das altorientalische politische Ideal des Weltherrschers, d. h. in Indien des Beherrschers des ganzen Indien, vor Augen hatte. Den antidespotischen Adelsrepubliken lag dagegen solche Eroberungspolitik über die Grenzen ihrer Adelssippensitze hinaus fern. Ihre Friedensliebe, die sich in der der Buddhisten und Jainas widerspiegelt, war volkstümlich, und auch die Fernhändler brauchten gesamtindischen Frieden. Der Friede 26

war aber bei der staatlichen Zersplitterung Indiens ständig in Gefahr. In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. hatte die Dynastie der Nandas von Magadha um die Oberherrschaft über das ganze damals von der Gangesgesellschaft erfaßte Nordindien blutige, aber erfolgreiche Kriege geführt. Staatslehrer wie Kautalya, die eine vernünftige oder, wie sie meinten, wissenschaftliche Einschätzung des Risikos jedes Krieges vertraten, wollten friedliche Einheitlichkeit Indiens durch vertragliche Einigung zwischen allen Staaten in Form einer Staatenkonföderation unter Führung von Magadha erreichen, als die Mauryadynastie um 325 die Nandadynastie gestürzt hatte.70 Asoka predigte demzuliebe Buddhismus. Yudhi~thira, der Führer der „Guten", sonst an sich das indische Analogon zu Agamemnon, trägt Züge Asokas und versucht, den Krieg zu vermeiden. Einerseits aber muß er J aräsandha von Magadha überwinden, den teuflischen Despoten, der schon fast ganz Nordindien unterworfen hat und damit eine mythische Gestaltung der N andas ist. Andererseits bringt ihn sein Vetter Duryodhana, das Haupt der „Bösen", um seinen Thron, reizt ihn zum Würfelspiel, nutzt Yudhi~thiras moralisch verderbliche Spielleidenschaft aus, siegt und verbannt ihn in den Wald. Diese Spielleidenschaft steht der Liebesleidenschaft des Paris (aber auch des Agamemnon beim Streit um Chryseis und Briseis) gegenüber.71 Beide Kriege werden - abgesehen von der inneren Notwendigkeit - mit persönlichen Schwächen der Könige motiviert, die als unmoralische Despoten handeln, nicht mit politischen Notwendigkeiten, glaubte der Adel damals doch schon unbewußt an die großen Männer, die die Geschichte machen. Während der Verbannungszeit rüstet die Partei der „Bösen" zum Kriege, Yudhi~thira aber sucht, durch Verhandlungen den Frieden mit den „Bösen" und damit gesamtindischen Frieden zu erhalten. Alle Völker bzw. Despoten Indiens ergreifen Partei, und es kommt zur großen Schlacht, in der Yudhi~thira siegt und sozusagen wider Willen Weltherrscher wird, obgleich er im Grunde lieber als friedlicher Waldeinsiedler leben möchte und von seinen Freunden davon abgebracht werden muß. Auch dieser indische Krieg war ein tragischer, einerseits wegen der Überlastung der Erde und der Bosheit der „Bösen" notwendig, andererseits ein Übel, das Yudhi~thira {und das Volk) mit Recht vermeiden wollte. Man sieht, das Epos stand in einer aktuellen Auseinandersetzung, die in einer schwierigen politischen Lage stattfand, auf der Seite der antidespotischen Kreise. Das Ideal des Yudhi~thira, des Krishna in der Bhagavadgitä und des Kautalya in seiner Staatslehre ist der moralische \Veltherrscher72, eine Form des volkstümlichen moralischen Despoten. Als ein solcher wird auch Räma hingestellt, wenn er nach der Tötung RävaQ.as, des „bösen" Despoten, dessen ,,guten" Bruder Vibhi~aQ.a auf den Thron von Lankä setzt, ohne Kriegsentschädigung zu fordern. In gewissem Sinne ist der friedliebende Yudhi~thira,

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sonst der indische Agamemnon, die Inkarnation des Gottes der Moral, ein Gegenstück des Thersites. Beide wollen einen dem Mythos und den Umständen nach unvermeidbaren, tragischen Krieg umgehen. Dabei schildert Vyäsa den Beginn des Krieges als Verteidigung Yudhi![lthiras seiner gerechten Sache gegen den Angriff der „Bösen". Man kann seinen Krieg also mit gewissem Recht als einen im Sinne des Marxismus gerechten Krieg charakterisieren, den trojanischen Krieg aber kaum als Abwehr trojanischer Angreifer, sondern nur als Rache für Menelaos. Vishnu spielte seine Rolle als Retter der auf Erden gefährdeten Moral nach dem Hinduismus bzw. Vishnuismus nicht nur diesmal, sondern immer wieder in den verschiedenen Weltaltern, u. a. auch als Räma. Krishna deutete dies kurz in der BhagaPadgitä an.73 Dieser Glaube gehörte zum Optimismus der epischen Religion. Moral bedeutete im Hinduismus geradezu eine kosmische Macht74 und zugleich Streben nach dem brahmanischen Ideal der Ständehierarchie 75, daß jeder Brahmane, K~atriya, Vaisya und Südra sich an die Rechte und vor allem Pflichten seines Standes hielt. Wir denken dabei an das utopische Ideal der Klassenharmonie. Moral ist in diesem Sinne ein in der Klassengesellschaft utopisches, einerseits volkstümliches, fortschrittliches, die Despotenwillkür einschränkendes Ideal, andererseits wurde es demagogisch mißbraucht. Es blieb neben der Erlösung der nächsthöchste Wert des Hindu bis heute oder gestern. Der altindische Despotismus brauchte eine solche ständische Morallehre zur Manipulierung der Volksmassen und konnte es nicht hindern, daß diese oder ihre Parteigänger in der Intelligenz gewisser höherer Stände diese ideologische Waffe gegen den brutalen Despotismus wendeten, von ihm Befolgung und Schutz der angeblich allgemein menschlichen bzw. ständischen Moral forderten, ohne aber den Despotismus als rohe Form des Staates der ersten Klassenherrschaft stürzen zu können oder es auch nur zu wollen. Trotzdem war dieses Ideal der moralischen Klassenharmonie innerhalb des Despotismus ein Ansatz zu Demokratie, war aber zugleich den nichtarischen Volksmassen der Südras und „Unberührbaren" gegenüber eine Handhabe geradezu rassistischer Unterdrückung. Indessen war auch die griechische Sklavenhalterdemokratie den überwiegend nichtgriechischen Sklaven gegenüber eine weitgehend rassistische Diktatur der Ausbeuter. Dieses Ideal der Ständehierarchie u~d deren allgemeingültiger Moral paßte zum Optimismus der Epen. Die Ständehierarchie im Diesseits war volkstümlicher und lebensnäher als das in gewisser Weise egalitäre Ideal der Erlösung aller Individuen in einer unendlich fernen Zukunft in einem eigenschaftslosen Jenseits, das alle Individualität ausschloß, ähnlich der „weißen Insel" der Seligen.

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VI. Probleme der Demokratie Seit der militärischen Demokratie war nicht nur der Friede ständig gefährdet, sondern auch die Demokratie. Die alten Heerführerkönige drohten oder begannen, zu Despoten zu werden (s.o.). Aber nicht nur das: Solange Aryas und Griechen noch wanderten, werden bei ihnen Versammlungen des Stammes, des Stammesbundes und des Heeres so üblich gewesen sein, wie sie im Alten Testament für die Stämme Israel bezeugt sind. In ihnen wurden Fragen der weiteren Wanderung besprochen, aber auch Mosis Gesetze verkündet.76 Bei den homerischen, eben erst seßhaft gewordenen Griechen gab es solche Versammlungen noch. Die llias beginnt mit mehreren Heeresversammlungen 77, in denen Agamemnon, um Apollon zu versöhnen, dem Chryses seine Tochter zurückgeben mußte und dafür von Achill Briseis verlangte. Als Achill sich dann in seinem Zorn vom Kampf zurückzog, mußte Agamemnon das dadurch völlig verstörte Griechenheer für die Fortführung des Krieges zu gewinnen suchen und verabredete im Rat der Heerführer-Könige der Stämme, er wolle sich verstellen und dem Heer in einer neuen Heeresversammlung sofortige Heimkehr empfehlen. Die Könige sollten dann in einer Scheindiskussion die Massen für die Fortführung des Krieges gewinnen. In der Versammlung war dann aber kein Raum für eine Diskussion dieses Vorschlages, sondern das von der Aussicht auf Frieden und Heimkehr begeisterte Heer brach sofort zu den Schiffen auf. Odysseus aber trieb es mit Gewalt zu eine neuen Versammlung zusammen. In ihr vertrat Thersites den Friedenswunsch der Volksmassen und kritisierte die Könige, daß sie die Beute an sich rissen (s. o.). Odysseus schlug ihn nieder, denn nur einer solle herrschen, nicht viele, und das Heer verlachte Thersites deswegen. Es hatte seine Meinung durch Thersites' Niederknüppelung völlig geändert, deutet der Epiker an, der als Ideologe des Adels das kriegsmüde und daher opponierende Volk verachtete. Einerseits wird dem Heer die Notwendigkeit des Krieges nicht erklärt. Ihm wird in der llias nicht von dem Motiv der Kyprien, von Zeus' Ent· fachung des Krieges zur Entlastung der Erde, berichtet. Andererseits muß der l leerführer schon in der militärischen Demokratie befehlen können. 78 Odysseus will ja sicher nicht für eine Herrschaft nach Art der altorientalischen Despotie eintreten, auch nicht für solche das Volk unterdrückende Könige, wie sie von Homer zweimal tadelnd charakterisiert werden.79 Odysseus trat ja in Ithaka im Frieden in der Volksversammlung undespotisch auf (s. u.). Eine andere Seite des Königtums wird in der Odyssee geschildert. Hier handelt es sich darum, daß zwischen dem König und seiner kleinen Gefolgschaft von rudernden Kriegern keine ausreichende Einigkeit besteht. Odysseus ruft siez. B. zu Beginn des Polyphemabenteuers zusammen, berät mit ihnen, befolgt aber ihren Rat nicht. Umgekehrt befolgte die Gefolgschaft weder 29

beim Sack der Winde des Äolus noch bei den Rindern des Helios oder bei Kirke die klugen Anweisungen ihres Königs. Gerade durch diese Uneinigkeit, die seit der militärischen Demokratie ein Problem war und auch im ].lgveda kritisiert wird, geht die gesamte Gefolgschaft zu Grunde. Dem König wird aber in der Volksversammlung in Ithaka daraus ein schwerer Vorwurf gemacht80, allerdings von Eupeithes, der die Sache der Freier der Penelope vertritt. Aus dem Mahabhärata läßt sich der llias keine Heeresversammlung gegenüberstellen. Da beraten nur die Heerführer, wie es auch in der llias immer wieder vorkommt. Im RamäyaTJ,a andererseits gibt es keine Gefolgschaft des Räma, die der des Odysseus entspräche, aber bei Rämas Kriegszug gegen Lankä durch die Wälder Südindiens hindurch helfen ihm auf märchenhafte Weise die Affen des Affenstaates Kishkindhä unter ihrem König Sugli':a. In diesem Affenheer werden, scheint es, ganz kurz Heeresversammlungen erwähnt.Si In ihnen bleibt das Heer aber stumm; reden, diskutieren tun nur die Heerführer im Anblick des Heeres. Der Epiker drückte sich nicht eindeutig aus, wunderte sich offenbar nicht über solchen Brauch, hat ihn sicher nicht erdacht, d. h. etwa das Benehmen von Affenherden so gedeutet, sondern stand hier vielleicht unter dem Eindruck ihm bekannter Heeresversammlungen, die er bei gentilen Stämmen Südindiens erlebt haben könnte, oder unter dem Druck der Erinnerung an Heeresversammlungen der arischen militärischen Demokratie, die in Volkstradition noch lebendig gewesen sein kann, etwa in Bardenepik. Im Falle der Volksversammlung ist dies mit Sicherheit anzunehmen (s. u.). Gerade bei den helfenden Affen, die so märchenhaft waren wie in ganz anderer Weise die Phäaken, mochte der große Välmiki diese Erinnerung an längst vergangene Demokratie wohl nicht missen. Die eben erwähnte Volksversammlung am Anfang des RämäyaTJ,a wird recht breit geschildert (Räm. II, 1 f.). Der greise König Dasaratha, Rämas Vater, bespricht sich erst mit seinen Räten, um Räma als Thronfolger einzusetzen. Es findet dann keine eigentliche Wahl statt, wie sie in der militärischen Demokratie des ].lgveda Sitte gewesen zu sein scheintB2, sondern nur eine Bestätigung des versammelten Volkes aus Stadt und Land.83 Wie Agamemnon in jener Heeresversammlung, so verstellte sich Dasaratha, als verübele er es dem Volk, daß es Räma als König wolle, solange er doch noch lebe. Er provoziert damit Lobreden auf die Tugenden Rämas und erreicht im Unterschied zu Agamemnon sein Ziel. Solche Tricks waren wohl in irgendwelchen Versammlungen noch in den späten Zeiten der indischen und griechischen Epen üblich. Daß im Volk Erinnerungen an die im Despotismus verschwundenen Volksversammlungen aber noch lebten, bezeugt diese wertvolle Stelle. 30

In der Odyssee werden Volks- und Adelsversammlungen mit lebendigen Diskussionen geschildert. Da gibt es zwei Parteien, die Minderheit des Adels sind die Freier der Penelope, die Mehrzahl hält mit einigen weisen Wahrsagern zusammen treu zu dem seit 20 Jahren abwesenden König. Da wird diskutiert, wenn auch nicht abgestimmt. In einer solchen Versammlung schließt der heimkehrende König, der gerade die Freier, die „böse" Minderheit des Adels, erschlagen hat, mit seinem Volk einen Vertrag, um den inneren Frieden zu sichern. Damit schließt das Epos. Solche Verträge gab es auch im alten Indien, belegt für die Zeit des sich gerade eben aus der militärischen Demokratie entwickelnden Despotismus.84 In der Odyssee wird schließlich zweimal ganz kurz darauf hingewiesen, daß das Volk sich versammeln, gegen die „bösen" Freier, diese unmoralische Minderheit des Adels, aufstehen und sie verjagen könnte.85 Der Adel und der Homer der Odyssee spürten um 700 schon den Druck der bäuerlichen Massen, der nur wenig später zur Entmachtung des Adels, aber auch zur Entthronung der Könige führte85 und damit zur Demokratie der Sklavenhalter. Die Griechen waren eben auf dem Wege von der militärischen zur antiken Demokratie. Bei ihnen blieb eine gewisse Demokratie lebendig, vermutlich im politisch gewollten Gegensatz zum altorientalischen Despotismus, den sie kennenlernten und überwanden. In Indien wurde die militärische Demokratie durch den Despotismus ersetzt. Dort führte die Sehnsucht der Volksmassen nach Demokratie zur Utopie der Klassenharmonie und moralischen Beschränkung der despotischen Willkür.86 Es ist erstaunlich, daß sich trotzdem in den indischen Epen noch Erinnerungen an militärische Demokratie mit Heeres- und Volksversammlungen erhalten haben, wenn es auch nur wenige waren. Gerade bei dem idealen Despotenprinzen Räma betonte Välmiki seine Volkswahl zum Thronfolger, waren doch unter den Despoten üblicherweise Väter und Söhne Konkurrenten, die einer den anderen umzubringen trachteten, worüber in der vernünftigen Staatslehre diskutiert wurde.87 Der demokratische Dasaratha aber fiel unmittelbar nach jener Volksversammlung durch eine Haremsintrige um und verbannte als grausamer Despot Räma für 14 Jahre in den Wald. So gestaltete Välmiki den Anfang der Rämageschichte ungemein dramatisch mit deutlicher demokratischer Tendenz. Dies zeigt sich auch gegen das Ende: Räma lebt glücklich, mit Sitä vereint, als König. Da erkundigt er sich - als Demokrat- nach dem Urteil des Volkes über seine Regierung, und seine Späher melden ihm, daß das Volk nicht versteht, daß er Sitä, nachdem sie ein Jahr bei Räva:r;ia geweilt hat, wieder zu sich genommen hat; das sei ein moralisch schlechtes Vorbild für das Volk. Räma verstößt daraufhin sofort Sitä ohne Gerichtsverhandlung oder Beratung, handelt als Despot, aber als geradezu übermenschlich-moralischer, und es ist tragisch, daß er als solcher so handeln muß.88- Alles dieses fehlt bei Menelaos und Helena.

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Välmikis Nachfolger versuchten, das glückliche Königreich Rämas am Ende seines Lebens auszumalen, und konnten das nur in märchenhafter Weise tun. Räma thronte mit seinen Ratgebern in der Halle seines Palastes auf dem Richterstuhl, aber es kam kein Kläger, weil Räma nach den Geboten der Moral und damit gerecht regierte. Nur ein am Kopf verwundeter Hund kam und klagte einen Brahmanen an, der ihn im Zorn geschlagen habe. Dieser sah ein, daß er im Zorn schlecht gehandelt hat. Bestraft wird er aber als sakrosankter Brahmane nicht.89 Als später ein Südra begann, im Walde Askese zu treiben, obwohl dieses nach der Standesmoral den Nichtäryas nicht zustand, schlug Räma ihm, um die Ständegesellschaft zu erhalten, ohne Gerichtsverhandlung den Kopf ab.90 Yudhi~thiras 35 Jahre gerechter Regierung werden nicht geschildert, eben· sowenig das selige Friedensreich der letzten Lebensjahre des Odysseus (Od. II, 134ff.). Aber einige seiner Sklaven wie der Schweinehirt Eumäus (Einige wenige Hirtensklaven bezeugt auch der 1,lgvedaanscheinend für die militärische Demokratie)91 halten mit solcher patriarchalischen· Treue zu ihm, daß er sich auf ihre Hilfe beim Kampf gegen die Freier verlassen kann. Selbst wenn es sich hier noch nicht um Massensklaverei handelt, möchte man dies als ein dichterisches Idyll, das aristokratische Ideal des Oberhirten, als einen entfernten Vorläufer der späteren Hirtensklavenbukolik (natürlich ohne deren Liebeslyrik) ansehen. Die griechische Geschichte war ungemein bewegt: Könige und Adel ver· loren durch Tyrannen im 6. Jahrhundert ihre Macht zugunsten der kurzlebigen Sklavenhalterdemokratie, deren Zerstörer im 4. Jahrhundert hellenistische Despoten und später römische und dann feudale Kaiser wurden. Die Despoten der ungemein stagnierenden Gangesgesellschaft dagegen begannen sich vom 9. Jahrhundert v. u. Z. an herauszubilden und blieben bis zum Kapitalismus im wesentlichen unverändert. Das altindische Ideal eines moralisch gezügelten Despotismus blieb demgemäß durch fast drei Jahrtausende ein volkstümlicher Wunschtraum (bzw. ein demagogisches Opium des Volkes) in der latenten Sklaverei aller Untertanen. In Griechenland aber war das Ideal eines moralischen Königs, wie ihn etwa Penelope in Odysseus sah, war eine Idealisierung des Heerführerkönigs der militärischen Demokratie spätestens vom 6. Jahrhundert an nicht mehr volkstümlich-fortschrittlich. Es ist nicht leicht, die Rolle des Bewußtseins des Demos sowohl wie der Aristokraten bzw. ihrer Ideologen bei der Herausbildung der antiken Demo· kratie bzw. Gesellschaftsformation zu beschreiben. Politisch wußte der Demos eher, was er nicht wollte (ein Königtum als Form der Adelsherrschaft oder gar altorientalischen Despotismus), als was er wollte (Demokratie). Die neue Basis, die Ausbeutung der Sklaven (bzw. Südras) aber haben die Griechen (bzw. Inder) wohl ohne bewußtes Überwinden der gentilen Produktionsweise

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geschaffen. - Wie dem auch sei, das homerische Griechenland entwickelte sich zur Sklavenhalterdemokratie, die als die Negation des altorientalischen Despotismus zugleich die Negation der Negation der urgesellschaftlichen und militärischen Demokratie war. Die geringen Spuren von Demokratie in den altindischen Epen aber bezeugen, daß Indien in dieser Hinsicht wie auf allen Gebieten von Basis und Überbau zwischen den übrigen altorientalischen Gesellschaften und der griechischen Antike stand.

VII. Probleme des Humanismus Durch Vergleichen der beiden Epenpaare ist zu untersuchen, wieweit der Humanismus im kulturgeschichtlichen Prozeß der sich entwickelnden Selbstverwirklichung des Menschen, seiner Selbsterkenntnis und seines Könnens, sich in der Kunst widerzuspiegeln, in beiden alten Gesellschaften und deren Epen gediehen war. Man kann z.B. die beiden märchenhaften Wanderhelden Räma und Odysseus nebeneinander stellen. Wenn an Räma sein kraftvolles Heldentum und seine Tugendhaftigkeit hervorgehoben wird,92 so ist dem das griechische aristokratische Ideal des „schönen und trefflichen" Menschen gegenüberzustellen, das auch auf Odysseus zutrifft. Räma zeichnet sich zwar nicht wie Odysseus bei den Phäaken beim Sport aus (das gehörte zur Schönheit des griechischen Aristokraten), aber er zeigte seine Kunst des Bogenschießens bei der Gattenwahl der Sitä, vergleichbar der des Odysseus, als er mit den Freiern der Penelope im Bogenwettkampf siegt. Als die Haupttugend Rämas gilt seine unbedingte Wahrhaftigkeit; diese steht im Gegensatz zur Lüge, mit der der listenreiche Odysseus den Kampf gegen Polyphem besteht (Er nennt sich Niemand). Oder, wenn Odysseus die Einnahme Trojas durch die List des hölzernen Pferdes ermöglicht, so erschlägt Räma Räva,;ia in ehrlichem Kampf und braucht Lankä nicht mehr zu erobern. Während die Griechen das eroberte Troja völlig zerstören und alle überlebenden Trojanerinnen als Sklavinnen fortführten (die Männer sind gefallen), setzt Räma Vibhi~a,;ia, den tugendhaften Bruder Räva,;ias, auf dessen Thron und behält ihn als Freund. Er handelt als moralischer Sieger nach der vernünftigen Staatslehre (s. o.). Er hat Sitä wiedergewonnen. Er hat neben diesem praktischen Erfolg seines Sieges (artha) und der Betätigung der Moral (dharma) gegenüber Vibhi~a,;ia auch seine Sehnsucht, seine Liebe (käma) zu Sitä zum Ziele geführt, d. h. alle drei Ziele des Menschen in harmonischer Verbindung erreicht, ohne daß eines das andere störte. Diese drei Ziele (sowie die Erlösung im orthodoxen Hinduismus) umschreiben in Indien wie die Begriffe schön und trefflich in Griechenland das Ideal der Persönlichkeit der herrschenden 3

Ruben, Epen

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Klasse. Aber im Kampf gegen den starken Affenkönig Välin kam auch ein Räma nicht ohne List aus, was seinen Verehrern von Välmiki bis heute Schwierigkeiten macht. Räma und Odysseus sind monogam, was in Indien ein seltener Sonderfall ist (auch Siva ist es!). Odysseus wird durch Kirke, Kalypso und vielleicht auch ein wenig durch N ausikaa erregt, aber selbst wenn er mit Kirke und Kalypso schläft, liebt er nur Penelope. Aber bei Homer gibt es noch keine Liebeslyrik. Räma wird durch SürpaQakhä, die seine Liebe fordert, nur zum Lachen gereizt. Während Odysseus, auf Kalypsos Insel gefangen, wehmütig der Heimat gedenkt (von Penelope ist keine Rede), so gedenkt Räma der ihm entführten Sitä in den Wäldern Südindiens derart leidvoll, daß sein treuer Bruder Lak~maQa ihn mahnt, sich nicht wie ein gemeiner Mann zu benehmen. Räma wird bei dieser Gelegenheit an dieser späten Stelle des Välmiki zum Dichter und legt seinen Schmerz in eine Lyrik, die die Schönheit des Waldes im Herbst und Winter besingt.93 Er, die Inkarnation Vishnus, ist eben ein Mensch, hoch gebildet, wie es das Lehrbuch der Lust (Kämasutra) vom wohlhabenden Städter verlangte. Andererseits verstößt Räma Sitä der moralischen Erwartung des Volkes wegen mit einer Härte, die der spätere Klassiker Kälidäsa rügte.94 Der Widerspruch zwischen seinem moralischen Despotismus und seiner Liebe macht ihn im Gegensatz zu Odysseus zu einer tragischen Gestalt, und es gehört zu den großen Seiten des Välmiki, daß er neben Räma auch dessen Vater Dasaratha, Rämas Gegner RävaQa und den König der ihm helfenden Affen, Välin, in Liebestragödien verwickelte.95 Die Verstoßung Sitäs war eine Vertiefung des Märchenmotivs der Martenehe, daß die übermenschliche Frau (Sitä, die Tochter der Erde) den menschlichen Gatten verläßt (sie geht in die Erde ein), nachdem sie ihm einen Sohn (bzw. die Zwillinge Kusa und Lava) geboren hat. Rämas Tragik paßt also zu seinem märchenhaften Heldentum. Er ist zwar eine Inkarnation Vishnus, aber doch im Epos ein leidender und zugleich erfolgreicher Mensch. Und sein Gegner Rävaqa ist zwar ein dämonischer Despot, aber er stirbt als tragischer Held, der die Liebe der entführten Sitä nicht gewinnen kann und deshalb in stummer Verzweiflung den Tod von Rämas Hand im Kampf sucht. Räma ist gerade wegen seiner Fehler, seiner allzu wehmütigen Liebe zur geraubten Sitä und seiner Härte gegen die zurückgewonnene ein echter Mensch, aber er ist im Verhältnis zur „realistisch" dargestellten Menschlichkeit des Odysseus so idealisiert, wie es für den altorientalischen Despotismus charakteristisch zu sein scheint. So ist auch Sitä ihrem Gatten in der langen Zeit ihrer Entführung absolut treu, während Helena, ihr Analogon, getrieben von Aphrodite, der vergött· lichten Leidenschaft, sich dem Paris hingibt, und das, obgleich sie ihren heldischen Gatten Menelaos immer noch liebt und dies sogar Paris sagt, während sie sich in dessen Bett ziehen läßt (11.3, 390ff.).

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Sogar Polyphem, der riesige Kannibale, den Odysseus zu bestehen hat, wird als Hirt in seiner Höhle mit seinen Herden und der Milchwirtschaft wie ein Mensch geschildert; Kalypso, die Versucherin, die Nymphe, webt und ist gastfrei wie eine griechische Hausfrau, während Virädha, der riesige Kannibale, und SürpaQakhä, die dämonische Versucherin, diese beiden Gegner Rämas, als „Böse" s~hlechthin verketzert werden. Für den Alten Orient mit seinem Despotismus und seiner Orthodoxie war solche Schwarzweißmalerei offenbar ebenso bezeichnend wie für die zur Demokratie hinstrebenden Griechen der fortgeschrittenere Humanismus ihres frühen Gentiladels, der auch Trojaner nicht als altorientalische Barbaren, sondern als im Grunde den Griechen ebenbürtige Gegner auffaßte. Odysseus belog den Polyphem, er ließ durch seine List Troja fallen, und die Hörer bewunderten ihn deswegen. Krishna verteidigte gelegentlich mit einer Parabel die Berechtigung der Notlüge dem „Bösen" gegenüber, er riet dem moralischen König Yudh~thira und dem Helden Bhima zu regelrechten Gemeinheiten im Kampf gegen den „bösen" Duryodhana und dessen Partei, und er rechtfertigte dies mit der Unvermeidlichkeit einem sonst unüberwindlichen Feinde gegenüber (wie Räma Välin gegenüber96). Im indischen Despotismus war theoretische Rechtfertigung notwendig, während griechische Demokratie mit Selbstverständlichkeit Ungerades gerade sein ließ. Das ging so weit, daß Krishna als Ethiker, als der einzige Philosoph der epischen Helden (wenn man von den Bhi~ma in den Mund gelegten Interpolationen absieht), die Berechtigung des Kämpfens und des Handelns überhaupt seinem Freund, dem grübelnden Helden Arjuna gegenüber in der Bhagavadgitä nachweisen mußte; so sehr mußte die herrschende Weltanschauung sogar im Despotismus der Friedenssehnsucht der Völker nachgeben. Krishna hat aber im übrigen nichts mit der Gestalt des listenreichen Odysseus gemein, allenfalls eines mit der des Achill; sie beide verbindet u. a. das vermutlich indoeuropäische Motiv des tödlichen Pfeilschusses in die Ferse bzw. Fußsohle, die durch ein menschliches Versehen nicht magisch gefeit ist wie doch der übrige Leib.97 Das ist aber auch die einzige genetische Analogie zwischen ihnen. Sie sind im Grunde die Haupthelden der beiden mehr sagenhaften Epen. Achill ist der Sohn der Göttin Thetis; er wäre beinahe der Sohn des Zeus, aber dieser war vor dem Zeugen eines Sohnes mit dieser Göttin gewarnt worden, daß er von diesem gestürzt werden würde, wie es in der Genealogie der Götter Uranos, Kronos und Zeus üblich gewesen war.98 Krishna aber ist eine Inkarnation Vishnus. Er bläst als Hirt die Hirtenflöte und läßt die verliebten Hirtinnen dazu in Mondnächten tanzen, während Achill sein Herz damit erfreut, daß er vor Patroklos als einzigem Zuhörer zur Leier Siegestaten der Männer in epischen Liedern besingt (II. 9. 185ff.). Von dem jungen Krishna wird nur berichtet, daß er einmal zusammen mit Arjuna und mit

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schönen Mädchen zu einem Ausflug in den Wald ging und, während die Mädchen (Hetären) musizierten, sich mit Arjuna viele schöne Geschichten der Vergangenheit erzählte, anscheinend in Prosa, ähnlich viele Jahre später in der königlichen Halle bunte Geschichten von Kämpfen und Mühsal.99 Diese beiden übermenschlichen, tragisch getöteten und musischen Helden, Achill und Krishna, sind gänzlich verschieden. Achill lügt nicht und philosophiert nicht, und Krishna hat weit mehr mit dem Wanderhelden Herakles als mit Achill gemeinsam. 100 Es kommt also nicht nur auf Gegenüberstellungen solcher Analoga an, sondern auch auf das einzelner Motive, wie z. B. der Abschied Hektors von Andromache mit dem Välins von Tärä zusammenzustellen ist. Es gab eben typische Gestalten von Helden, Ratgebern und Frauen wie die Stammesbundführer Agamemnon-Yudhi~t;hira, die weisen greisen Ratgeber Bhi~ma-Nestor101 und die Königinnen Penelope-Kausalyä, deren systematischer Vergleich ein volleres Bild der beiden heroischen Gesell• schaften, ihrer Kultur und der Kunst ihrer Widerspiegelung ergeben würde. Zweifellos ist die Selbstbeobachtung der antiken Menschen gegenüber der der altorientalischen entwickelter gewesen, eben antik und nicht altorien· talisch. Haben sie doch schon in den homerischen Epen bei der Vermensch· lichung der Helden, der Götter und der Feinde der Helden dahin tendiert, den Menschen, wie sie ihn kannten und wünschten, zum Maßstab aller Dinge, und auch der Götter, zu machen, weil sie auf ihr Menschtum stolz waren, in der heranwachsenden Demokratie Menschen werden konnten. Die Hindus aber konnten in ihrem Despotismus und bei der Macht der Orthodoxie nur die „Guten" idealisieren, die „Bösen" aber verurteilen. Dennoch konnten sie, u. a. in den Liebestragödien des Rämäya7J,a, z. B. in der Todesnacht des Königs Dasaratha, der, in die Arme siner ersten Frau, Kausalyä, zurückgekehrt, die Verbannung Rämas bereut und stirbt, Perlen der Dichtkunst schaffen, die in der Barbarei des Despotismus die Menschenwürde wahrten, weil die Epen ausdrückten, was die Massen und die Gegner des unmoralischen Despotismus empfanden und ersehnten. Dasaratha scheitert an seinen Widersprüchen, daran, daß er die drei Ziele des Menschen nicht in Einklang bringen kann, die Liebe zu der guten und der bösen Königin, die Politik, Räma als Thronfolger einzusetzen, und die Moral, insofern die böse Königin ihn zwingen kann, gegen seine politisch richtige Absicht und die Volksversammlung zum Despoten zu werden und Räma zu verbannen, weil er ihr früher einmal einen Wunsch freigestellt hatte, den er jetzt einlösen muß.

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VIII. Probleme der Form Sollten die Epen entsprechend der erreichten Höhe der Kultur der beiden Gesellschaften ihren Inhalt den Volksmassen, ja möglichst allen Schichten der beiden Völker tief einprägen, so mußte die Form dem Inhalt entsprechen. Die Form war u. a. dadurch bestimmt, daß die Epen zunächst nicht niedergeschrieben wurden, nicht gelesen, sondern gehört wurden, solange sie sich entwickelten. Es kam darauf an, bei welchen Gelegenheiten sie vorgetragen werden sollten, um zu wirken. Im despotisch regierten Indien geschah dies bei seltenen, großen, langwierigen Opferfesten von Despoten, wie die Epen selber angeben, im undespotischen Griechenland beim festlichen Mahl am Königshof und nach sportlichem Wettkampf auf dem Markt wie bei den Phäaken in der Odyssee, und nach späteren Berichten bei relativ kurzen staatlich-kultischen Festen wie den Panathenäen. Dieser Unterschied wirkte sich auch auf den Umfang der Epen aus. Aber sie wurden natürlich in beiden Gesellschaften auch bei anderen Gelegenheiten ganz oder teilweise, wörtlich oder in freier Wiedergabe vorgetragen. Das Mahäbhärata hat z.B. mit seinen rund 100000 sloken den Umfang von 200000, die llias nur den von rund 16000 Hexametern; ähnlich ist es bei RämäyarJ,a und Odyssee. Man muß aber das Mahäbhärata nicht nur der llias gegenüberstellen, sondern dem gesamten Trojazyklus von den Kyprien bis zur Heimkehr der Helden oder gar bis zu deren Tod. Ebenso steht dem RämäyarJ,a nicht nur die Odyssee gegenüber, sondern wiederum der ganze Trojazyklus. Beide indischen Epen beginnen ja mit der Inkarnierung der Götter und Widergötter und gipfeln in der Schlacht auf dem Kurufeld bzw. in der um Lankä, ja, gerade diese ist ein ausgesprochenes, wenn auch märchenhaftes, vermutlich typologisches Analogon zum Kampf um Troja mit der Rückgewinnung der Helena-Sitä und der Erschlagung von Paris-RävaQa. Den Umfang des Trojazyklus kennen wir allerdings für einen Vergleich nicht genau genug. Im Kyklos wurden die Ereignisse um Agamemnon und Odysseus gemeinsam gestaltet, in Indien aber wurden die um YudhiHhira und Räma in zwei Epen gesondert, denn diese beiden Helden lebten in ganz verschiedenen Zeiten, am Anfang und am Ende des heroischen Weltalters.102 Es ist also noch schwierig, Verwendungszweck und Umfang der Epen in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Diesen Unterschied der beiden Epiken muß man berücksichtigen, wenn man überlegt, daß beide Gesellschaften offenbar nach uralter epischer Tradition, die sich schon für die Urgesellschaft nachweisen läßt1°3, ein mehr sagenhaftes und ein mehr märchenhaftes Epos brauchten, die bei den Griechen aber beide in den einen Trojazyklus eingeordnet waren. War dies Bedürfnis nach zwei Epenarten einer der Gründe, warum die Griechen gerade diese beiden Epen

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aus dem Kyklos herausretteten? Oder schätzten sie etwa gerade diese beiden Epen aus künstlerischen Gründen, weil z. B. ihre Handlung in wenigen Tagen ablief? 104Die Hindus unterschieden das l\fahäbhärala als Epos und Morallehrbuch vom Rämäya1J,a als Kunstdichtung. Das sagenhafte Epos erschien ihnen mit gewissem Recht als sachliche, zu moralischer Belehrung berichtete Geschichte, das märchenhafte Epos als phantasievolle Dichtung schönster Form über einen ihnen ebenfalls als historisch geltenden Zug nach Süden bis Ceylon. Eine analoge Unterscheidung dürfte für die homerischen Epen kaum in Frage gekommen sein bzw. in Frage kommen. Der Umfang der griechischen Epen kam durch Verbinden der Epen des Troja- und Thebenzyklus zustande. Die Hindus schwemmten für den Vortrag bei langwährenden Opferfesten ihre beiden Epen, und zwar das ,l!ahäbhärata etwa doppelt soviel wie das Rämäya1J,a, auf zweierlei Weise auf, durch Ausweitung der Problemepen zu Biographien und durch Einfügen von Episoden. Beim Rämäya1J,a hat man schon längst 105 gezeigt, daß es ursprünglich nur Rämas vierzehnjährige Verbannung in den \\'ald umfaßte und daß erst nach Välmiki Rämas magische Zeugung, Geburt, Jugend und Heirat einerseits, seine Herrschaft und sein Tod andererseits hinzugefügt wurden. Beim Mahäbhärata kann man Entsprechendes annehmen, was die Biographie YudhiHhiras angeht; dort ist ferner, vielleicht schon von Vyäsa, Krishna als Helfer Yudhi~thiras in die Handlung eingefügt worden, und zugleich sind dessen magische Geburt, Jugend, 16008 Heiraten und zahlreiche Heldentaten des \Vanderhelden, die nicht in die Handlung des l\Jahäbhärata hineinpaßten, im HariYamsa nachgetragen worden, der als ebenfalls von Vyäsa verfaßtes Nachtragsepos zum 1l!ahäbhärata gilt. Er ist indessen eher als frühe Form eines Puräi;ia anzusehen. Durch ihn bekamen die Vishnuiten neben der epischen Biographie Rämas eine des Krishna, vielleicht beide angeregt durch die Buddhabiographie. Buddha war ja ein \Vanderheld wie Räma und Krishna, nur ein geistlicher, zwar historischer; aber seine epische Biographie war mit phantasievollen mythischen Elementen durchsetzt. In der altorientalischen Klassengesellschaft brauchten die Priester offenbar solche Heilandsbiographien wie u. a. das Neue Testament, das an die Geschichte der Hebräer, die mit der Kosmogonie beginnt, angeschlossen ist wie die Krishnabiographie an Kosmogonie und Genealogie der Adelsgeschlechter. Die alten Griechen aber haben keine solchen biographischen Epen gedichtet, wohl aus theologischen sowohl wie aus ästhetischen Gründen. Sie haben z. B. kein Leben des Herakles als ein Epos gedichtet, aber auch kein Leben des Theseus, dieser beiden Wanderhelden uralten Typs. Dabei sind die Taten des Herakles denen des Krishna z. T. ungemein ähnlich. Schon der Grieche !\legasthenes hat im 3. Jahrhundert v. u. Z. Krishna als indischen Herakles aufgefaßt.106 Beide wurden ausgesetzt und wuchsen unter

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Hirten heran, kämpften gegen eine Schlange (Hydra, Käliya), gefährliche Vögel (die stymphalischen, Bakäsura), einen Stier (von Kreta, Ari~ta), böse Pferde (menschenfressende, Kesin), den Hüter eines Haines (Hesperiden, Dhenuka), einen Despoten (Busiris, Jaräsandha), drangen in die Unterwelt (Krishna zu den Toten im Ozean), kämpften gelegentlich gegen Götter (Ares, Indra), starben in Einsamkeit, stiegen zum Himmel auf und wurden kultisch verehrt (aber Krishna ist Vishnu und kein Heros griechischer Art). Krishna wanderte als Held durch Nord- und Südindien, Herakles durch die Länder des Mittelmeeres von Kleinasien bis zum Atlas. Beide Helden sind typologische Analoga, entsprungen urgesellschaftlichen Traditionen und einem Bedürfnis nach einem volkstümlichen Trost der leidenden griechischen und indischen Bauern-Hirten, nach einem Muster an Enthaltsamkeit (dem Herakles der Kyniker bzw. dem selbstbeherrschten Krishna der Bhagavadgitä). Die vis~nuitischen Theologen erbten von den vorarischen Bauern Heldenmärchen eines solchen Wanderhelden ebenso wie des Räma, gaben beiden den Namen „Schwarzer" (Räma, Krishna), fügten Räma in die Sonnen- und Krishna in die Mondgenealogie des Kriegeradels ein und damit in ihre Heldenepik. In der griechischen Antike gab es ein solches Bedürfnis, an vorachäische Bauerntradition für das Heldenversepos anzuknüpfen, offenbar nicht, man dichtete weder ein Herakles- noch ein Theseusepos, während die vishnuitischen Brahmanen die Sage des Bhimasena, des Gegenstücks zum Theseus, in das 1lfahäbhärata einarbeiteten.107 Die Brahmanen haben schließlich die Biographien Rämas und Krishnas ins Purä7J,a, in die theologische Weltgeschichte von der Kosmogonie an, mit allen anderen Inkarnationen Vishnus durch die vier Weltalter hindurch mit Ausblick auf den Heiland der Zukunft, Kalkin, eingearbeitet. Dem stelle man die kurze Theogonie Hesiods, des theologisch grübelnden kämpferischen Bauern, gegenüber. Die Brahmanen erreichten den Umfang ihrer Epen, insbesondere des Mahäbhärata, weiter durch Einfügen von Episoden, u. a. von Kurzepen wie dem des N ala, das genetisch mit der Odyssee zusammenhängt, wenn die Art des Zusammenhanges auch noch nicht ausreichend geklärt ist10S, weiter der Sävitri und sogar des Räma, dessen Geschichte in einer altertümlichen Version 109 dem in den Wald verbannten Yudhi~thira als Trost erzählt wird. Im Rämäya1J,a wird u. a. die Vorgeschichte Räva1,1as, seine Abstammung und seine Welteroberung, die ihn als Despoten unerträglich macht, nachgetragen. Ein homerisches Analogon ist das Kurzepos des Hephäst in der Odyssee. Das Mahabhärata wurde weiter so umfangreich dadurch, daß Y udhi~thira und die Seinen zu einer vierzehnjährigen Waldwanderung verbannt werden wie Räma. \Veiter werden insbesondere nach der großen Schlacht zwei Bücher mit didaktischen Dialogen und Erzählungen eingefügt (Buch XII und XIII), die etwa ein Drittel des Epos ausmachen wie die \Valdwanderung ein Sechstel, beide zu-

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sammen etwa die Hälfte des Epos in seiner letzten Fassung. Dem entspricht nichts in der Ilias. Die didaktischen Bücher behandeln moralische und theologische, ja philosophische Fragen 110, teils orthodox, teils liberal, ja fast materialistisch, auch Erlösungsglauben. Sie korrigieren damit geradezu im Sinne des Brahmanenstandes die volkstümliche Religiosität der Epen. Die Fiktion ist, daß Bhi~ma, der indische Nestor, als höchste Autorität auf dem Totenbett nach der Schlacht den um Moral besorgten Yudhi~thira, den indischen Agamemnon, auf dessen Bitten und Fragen hin belehrt. 111 Die Handlung der llias spielt sich in 49 Tagen ab, die der Odyssee in 40. 112 Dies ist sicher künstlerische Absicht gewesen. Bei der Odyssee gelang dies dadurch, daß die vorangegangenen zehn Jahre der Irrfahrten des Odysseus von ihm selber, kurz zusammengerafft, am Phäakenhof erzählt werden, ein frühes Beispiel der in heutigen Romanen so beliebten Rückblendung. Dabei erzählt der Held nicht etwa als Rhapsode, er trägt kein Versepos vor, obgleich Homer nicht umhin konnte, ihn seine Icherzählung in der Form des übrigen Epos vortragen zu lassen. Der Hörer erhielt dabei die Gewißheit, daß die Ereignisse richtig wiedergegeben waren, war Odysseus doch der einzige überlebende Augenzeuge. Während dieser zehn Jahre sind ja seine Männer umgekommen. Damit wird es zusammenhängen, daß Odysseus vor allem bei den Abenteuern mit Polyphem, Äolus und den Rindern des Helios berichtet, daß die Uneinigkeit am Untergang der Gefolgschaft schuld war113, ein politisches Problem der frühgriechischen Antike, wurde ihm doch der Untergang der Gefolgschaft vorgeworfen. 114 Diesem Grundtenor der Icherzählung steht es zu, daß Odysseus bei Kirke keine Liebesgefühle erwähnt, während in dem anderen Teil des Epos der Anfang mit der verliebten Kalypso zur Mitte mit der reizenden Nausikaa und zum Schluß mit seiner Wiedervereinigung mit Penelope paßt. Da spielt die Liebe in dem märchenhaften Epos eine Rolle, die man wiederum mit der im Ramäyana zusammenhalten muß, in dem vier Liebestragödien bei Dasaratha, Välin-Sugriva, Räva1.1aund Rämt, wesentlich sind.115 Was aber die Richtigkeit der epischen Wiedergabe der Taten Rämas angeht, so hat das Epos im Anfang ausführlich geschildert, wie Välmiki in Versenkung die Wahrheit des Rämalebens schaute, und am Ende, wie zuerst Satrughna und seine Männer, dann Räma selber den Vortrag des Epos durch Välmikis Schüler, Kusa und Lava, die Söhne Rämas, hörte und sich an ihm freute. Was die Komposition angeht, so ist das Mahäbhärata in drei verschieden lange Drittel von je sechs, zusammen achtzehn Büchern eingeteilt (eine späte Einteilung). Das erste behandelt die Zeiten vor, das zweite die während und das dritte die nach der Schlacht, und die Schlacht hat zu Anfang Krishnas Bhagavadgitä, die ihrerseits in 18 Gesänge geteilt oder zu ihnen aufgeschwemmt ist. Im Rämäya?J,a hat diese Künstlichkeit keine Entsprechung, ebensowenig bei Homer. 40

Die Sprache der indischen Epen ist eie Art des Sanskrit, dieser priesterlichen Gelehrtensprache, die dem Volk, zumindest den Aryas, noch ausreichend verständlich war und den unterworfenen Vorariern langsam verständlich wurde, während sie ihre eigenen Sprachen verloren. Zugleich war dieses Sanskrit für die epischen Zwecke gehoben genug. Die ionisch-äolische Kunstsprache Homers war das griechische Analogon zum Sanskrit, eine unpriesterliche panhellenische Hochsprache der Epen. Beide Sprachen wurden von Barden lange Zeit gepflegt, und in beiden sammelte sich ein gewisser Schatz von traditionellen epischen Floskeln an.

IX. Die vier Epen im Rahmen der Weltgeschichte der Heldenepik Nach den Überlegungen einzelner Problemgebiete, wie sie oben angedeutet sind, sind die beiden Epenpaare in eine Weltgeschichte der Heldenepik einzuordnen, die als ein Teil einer Weltkulturgeschichte zu denken ist. In sehr hoher Abstraktion soll versucht werden, die Entwicklung der Heldenepik der Urgesellschaft116, der militärischen Demokratie, der altorientalischen Klassengesellschaft und der griechischen Antike nachzuzeichnen und dabei ganz kurz das Verhältnis der altindischen Epen zu den homerischen und den übrigen altorientalischen zu bestimmen. 1. Schon in früher Urgesellschaft erzählten gemäß ihrer Lebensweise Jäger Heldenmärchen117 von „guten" Jägern, unter Umständen von Wanderhelden, von „guten" Menschen mit magischen Kräften, mit phantastischen Abenteuern, Kämpfen gegen „böse" Feinde, Tiere in Menschengestalt. So erzählen Eskimos in Alaska von dem Jäger „Wanderfalke" eine Reihe von Märchen, die sich als Biographie ordnen lassen, von seiner magischen Zeugung über seine Wanderung zu Fuß und im Kanu, um die Menschen von den „Bösen", Tieren in Gestalt unfreundlicher, dummer, so sogar menschenfresserischer Menschen zu befreien, Kinder zu zeugen und, zum Wanderfalken geworden, in die Wälder zu entschwinden, aus denen einst sein Vater gekommen war.118 - Australische Jäger erzählen von einer Frau, die ihrem allzualten Manne entläuft, entführt von einem jungen Manne ihres eigenen Stammes zu einem anderen Stamm. Ihr „böser" alter Mann reizt den Stamm zum Rachekrieg und ermordet nachts feige den anderen Stamm samt der Frau, deren neuem Manne und Sohn, während sie schlafen. Dies ist eine ihrer Lokalsagen um einen Fels, in den der „Böse" verwandelt wurde, und rote Blumen dort, „Blutsblumen".119 Schon bei Jägern kann man also Märchen von Sagen (hier eine Lokalsage) mit mehr oder weniger historischem Kern unterscheiden, frühe Vorstufen von Epen der Art der Odyssee und der Ilias. Bei mehreren

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vorarischen Stämmen Indiens haben Ethnographen Heldenmärchen von Jägern, von Wanderhelden u. a. mit Frauenentführungen gesammelt, die als Vorläufer der Räma- und Krishnaepen gelten können.120 Australier, Melanesier und andere Südseeinsulaner erzählen Ätiologien, warum die Menschen sterben müssen1 21, ein Motiv, das die Menschen bis zum Glauben an Inseln der Seligen im Gilgameschepos und in den homerischen und altindischen Epen bewegte. Auch eine Geschichte solcher Motive gehört zu einer Weltgeschichte der Heldenepik. 2. In der militärischen Demokratie, z. B. der indischen Santal, erzählen besonders ausgebildete Kenner bei der Initiationsfeier die mit einer Kosmogonie beginnende Stammessage oder -geschichte, die bis in historische Zeiten reicht, in Prosa, mit eingestreuten kurzen epischen Liedern. Sie idealisieren die alten Zeiten als Ideologen des sich allmählich herausbildenden Kriegeradels und kritisieren schon einen zu Despotismus neigenden König.122 Jeder aber, der will und kann, erzählt Märchen, auch Heldenmärchen, an Erzählabenden, abgesehen von den alltäglichen Erzählungen der Mütter und Großmütter in der Familie.1 23 Polynesier haben Traditionen, die u. a. erlauben, die Wanderungen der Stämme bis zu der Osterinsel hin zu rekonstruieren. Daneben haben sie Märchen, z. B. ihres Helden Maui, die sich zu dessen Biographie ordnen lassen. Er ist ein Stammesahn, Kulturheros, der u. a. gegen den Sonnengott kämpft, um ihn zu regelmäßigem Gang zu zwingen, und Wanderheld, der als Taube in die Unterwelt fliegen kann, um dort seine Mutter zu finden, und der sterben muß (hier klingt die Sehnsucht nach Unsterblichkeit an), weil sein Vater ihn nicht vollständig gegen den Tod gefeit hat 123& (was an Achill und Krishna denken läßt). - Polynesier der Insel Tonga erzählen Heldenmärchen, eine Art Biographie ihres einäugigen Wanderhelden Matandua, der sich und seine Adoptiveltern gegen seinen eigenen Vater, den kannibalischen und alle schönen Mädchen mit Gewalt heiratenden König 124 seiner Heimatinsel Tonga, dann gegen den in seiner Sorglosigkeit ungerechten König der Insel Ono und dessen ränkevollen Sohn, danach aber, heimgekehrt, sein Tonga, sein Volk, dessen gealterten kannibalischen König, seinen Vater (s.o.) und sich gegen einen menschenfressenden Riesen und schließlich seine Insel unter dem jungen guten König gegen einen Bund von Nachbarinseln schützen muß. Er stirbt in Frieden. 125 3. Die ersten Schritte der Heldenepik beim Übergang zur ersten, altorientalischen Klassengesellschaft bezeugen die für Spanier von Spaniern gesammelten und nicht in ihrer originalen epischen Form niedergeschriebenen Texte von den Azteken und Mayas bis zu den Inkas. In ihnen sind Sage, Mythos, Geschichte und Märchen noch nicht differenziert, und die Verwendung, Vortragsweise und Form ist noch nicht zu erkennen. Der junge Kriegeradel

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delegierte alle Macht an den Despoten, wurde dessen Machtapparat und hatte den Priesteradel als seine Ideologen. Diese bauten die seit der militärischen Demokratie traditionelle Stammesgeschichte aus, ohne die Entwicklung des Staates aus dem Stamm zu begreifen, wohl aber fabelten sie von einer glücklichen, romantisch idealisierten Urzeit oder mehreren, so daß auf die Kosmound Theogonie die Anthropogonie mit mehreren Weltaltern (primitiven Vorformen der zeitlich älteren hesiodischen und indischen) vor der eigentlichen Stammesgeschichte folgten. 126 Diese Epiker-Theologen schufen aber kein Heldenversepos, sondern eine weitgehend theologisch-mythologische \Veltgeschichte, die Keimform dessen, was in anderen altorientalischen Varianten, im indischen Purä1J,a, im iranischen Bundahisn und im hebräischen Alten Testament auf uns gekommen ist. Für die Theologen der Azteken z.B. war die Zeit der Tolteken eine paradiesische Zeit, aber durch Alkohol und Liebe gingen sie langsam zugrunde; dabei werden die Wanderungen und die Taten einiger Herrscher der Tolteken wie nach einer Chronik erzählt, in Prosa, aber mit wenigen eingestreuten Versen. Diese mythologischen Ideologen des aztekischen Kriegeradels hatten schon ein gesellschaftliches Bedürfnis, den Krieg und zugleich seinen Kult vor den Massen zu rechtfertigen. Sie erklärten, daß in der Urzeit die Wolkenschlangen geschaffen wurden, um die Sterne zu erschießen, damit die Sonne, ihr höchster Gott, vom Blut ihrer Herzen ernährt werden könnte; deswegen seien ständige Kriege für Opfer kriegsgefangener Menschen notwendig.127 Ein Mythos der Maya erzählt davon, wie zwei Helden nach Kämpfen gegen die dämonischen Herren der Unterwelt, in denen sie ihre Väter rächten, zu Sonne und Mond, diesen hohen Göttern, wurden.1 28 - Inkas erzählten in zusammensetzbaren Stücken von phantastischen Kämpfen eines „guten" Wesens, Pariacacas, eines Wanderhelden, der am Ende zu einem Vulkan wurde, nachdem er u. a. gegen einen barbarischen despotischen Gott gekämpft hatte, und flochten sozial-interessierte Märchen ein, u. a. von einem armen Weisen, der einem Reichen, der in der Zeit vor dem Königtum zum Oberhaupt gewählt worden war, dank der Liebe zu dessen Tochter gegen seine ehebrecherische Frau half .129 4. An solche Heldenepik ist die reife altorientalische, u. a. die des Gilgamesch, anzuschließen, die sumerisch, akkadisch und hethitisch überliefert ist, aber in Bruchstücken, so daß das Ganze und seine Entwicklung für die verschiedenen Zeiten und Gesellschaften bisher nicht mit Sicherheit rekonstruiert ist. Dieses Epos könnte von den Hethitern zu den Joniern und von den Sumerern in die Indusgesellschaft gewandert und damit ein Erbe für die homerischen und altindischen Epen gewesen sein. Aber das ist bisher nicht wahrscheinlich gemacht worden, und es würde weder, was den Inhalt, noch was die Form angeht, die erstaunlichen Gemeinsamkeiten der beiden Epen-

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paare erklären helfen. Es beginnt damit, daß die Götter den Untertanen, die unter den ständigen Kriegen des Despoten leiden, helfen wollen. Aber das Epos zeigt nicht, daß es ihnen gelang. Es handelt sich hier weder um eine mythische, ätiologische, theologische und so brutale Erklärung der Unvermeidbarkeit der Kriege überhaupt wie bei den Azteken in ihrem altorientalischen Despotismus, noch um eine kosmisch-mythologische Erklärung der Notwendigkeit des Krieges um Troja bzw. auf dem Kurufeld, weder um Beschränkung der Willkür des Despoten durch Moral wie in Indien, noch um Idealisierung der „guten" Könige der militärischen Demokratie wie in Griechenland und Indien, sondern um Pessimismus, der schließlich im Leben der altorientalischen Klassengesellschaft keinen anderen Sinn sieht, als daß der Despot sich einen ewigen Namen macht, was für den Untertan gar nicht in Frage kommt. Selbst der Despot kann eine seltene Freundschaft nicht dauerhaft machen und kann die von der Urgesellschaft an ersehnte Unsterblichkeit auf der Insel des seligen Utnapischtim nicht gewinnen. Hedonismus, das Gegenstück zum Pessimismus 130, wird dem Gilgamesch auf seiner Wanderung zu Utnapischtim von einer Schankwirtin vorgeschlagen, aber er bzw. der Epiker lehnt diesen weder ab, noch nimmt er ihn an. Die priesterlichen Ideologen des Despotismus suggerierten den Volksmassen, dabei auch dem Adel, daß das Leben sogar des Despoten leidvoll sei, daß auch seine Freundschaft und seine Heldentaten sinnlos und vergänglich seien, nur Ruhm sei der Sinn seines Lebens, Friede sei unmöglich und Hedonismus reizlos. Solch ein im Despotismus für die Massen natürlicher und zugleich in dieser Weise unter ihnen propagierter Pessimismus war in urtümlicherer Heldenepik wie noch in Lateinamerika nicht so ausgeprägt gewesen, wenn man dort auch schon an ein paradiesisches Weltalter geglaubt hatte. Er wurde grundlegend für die altindische und griechische Erlösungsreligion, diese spielte aber in den Heldenversepen dieser beiden Gesellschaften keine Rolle. Gilgamesch tritt als Wanderheld auf, der gegen den riesigen Chumbaba (einen Ogre wie Polyphem-Virädha) und den Himmelsstier siegreich kämpft und der Versucherin, der Liebesgöttin Ishtar (statt der Kalypso-SürpaQakhä) widersteht. Er gehört als solcher zu den märchenhaften Helden vom Typ des „Wanderfalken", des Maui, des Pariacaca, des Theseus und Herakles, des Räma und Odysseus. Die Geschichte des Typs des Wanderhelden wäre ein besonderes Kapitel einer Weltgeschichte der Heldenepik. Gilgamesch ist nur ein Drittel Mensch, während Räma eine Menschwerdung Vishnus ist, im Rämäyaf),a freilich nur Mensch, wie Odysseus reiner Mensch ist, selbst wenn er wie alle homerischen Helden göttlich genannt wird. Das Leben des Gilgamesch ist abhängig von den Kämpfen der Götter untereinander, ähnlich wie das des Odysseus und Räma. Meint man, es sei möglich, die Handlung der homerischen Epen darzustellen, ohne die Götter eingreifen zu lassen,

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und dies bezeuge die Größe Homers, so gehört zum Homer doch gerade dies Verhalten der Götter. Analog könnte man das Heldentum der indischen Helden erzählen, ohne die Inkarnation der Götter und Dämonen zu erwähnen. In älterer Epik dachte man anscheinend noch an nichts dieser Art. Den Gilgameschepikern aber ist menschliches Geschehen, d. h. das des Despoten, des einzig eposwürdigen Helden, abhängig von den Kämpfen der Götter, dieser an den Himmel projizierten, nach Willkür und Macht handelnden Himmelsdespoten, die nicht wie die indischen und griechischen Götter in das Weltschicksal, das moralische Geschehen des Kosmos, eingespannt sind. Im Gilgameschepos spiegelt sich der altorientalische Despotismus rein und eindringlich wieder, bei Homer wird er gerade überwunden, in den indischen Epen wird ihm ein moralischer Despotismus gegenübergestellt. In dieser Weise ist jede Heldenepik von den Jägern der frühen Urgesellschaft bis zu den Griechen und Indern aus ihrer jeweiligen Gesellschaftsordnung zu verstehen und läßt sich eine Entwicklung der Heldenepik in großen Linien andeuten. Aber es gibt bisher keine direkte Entwicklungslinie, die von einem älteren Epos der Urgesellschaft zu dem des Gilgamesch oder von diesem weiter zu den altindischen und homerischen führte. Zur allgemeinen Entwicklungslinie gehört, daß das Gilgameschepos nicht von einem Gegenstück zu Homer-Vyäsa-Välmiki eine neue dichterische Qualität erhielt und daß es noch nicht in epischen Versen, sondern in rhythmischer Prosa verfaßt 131 und sehr kurz erzählt ist. Leider kann man noch nicht sagen, wer es bei welchen Gelegenheiten für wen vortrug, vermutlich im Tempel. Man kann den epischen Gilgamesch neben die altbabylonischen Statuen und Reliefs kraftstrotzender Despoten stellen, die homerischen Helden neben die etwas späteren archaischen, sportlichen Gestalten von Jünglingen und Jungfrauen13 2, die altindischen neben die besinnlichen, etwas weichen Ehepaare auf Reliefs der letzten Jahrhunderte v. u. Z. In beiden Künsten ließ der Adel, der mehr oder weniger fortschrittlich war, sein Ideal, sein Menschenbild in charakteristischer Weise prägen und trug damit entscheidend zur Selbstverwirklichung des Menschen bei. Auch den Despotismus und Pessimismus des alten Orients zu gestalten war eine Leistung. Es kommt dabei darauf an zu zeigen, wie die altindische Gesellschaft und ihre Heldenepik sich von der sonstigen altorientalischen abhob und der griechischen nahe kam. Dafür ließe sich vieles anführen, z. B. das, was sich aus einem Vergleich der Wanderhelden Gilgamesch, Räma und Odysseus ergeben würde. Von ihnen ist nur Gilgamesch ein Despot, während sich bei den beiden anderen manches Gemeinsame bei den Problemen des Friedens und der Demokratie anführen ließe. Dabei standen sich in allen drei Gesellschaften Kriegeradel und Bauern als die wesentlichen Klassen gegen-

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über, aber der babylonische Adel blieb beim Despotismus, den der altindische moralisieren, der homerische vermeiden wollte. Dem Gilgamesch wurde kein seliges Friedensreich am Ende verheißen. Da klingt bei Griechen und Indern etwas von dem kommenden oder wiederkommenden paradiesischen Weltalter an, eine, wenn auch utopische Hoffnung, natürlich keine wissenschaftliche Überzeugung oder auch nur Ahnung historischer Entwicklung zu einer klassenlosen Gesellschaft als Wiederherstellung der Urgesellschaft auf höherer Stufe. Auch in bezug auf die einzelnen Menschen gab es keine Vorstellung ihrer Entwicklung. Im alten Indien gelang dies erst dem Klassiker Kälidäsa. Weiter ist das menschliche Verhältnis Rämas und Odysseus' zu ihren Frauen Sitä und Penelope ohne Analogie bei Gilgamesch, allenfalls dessen Mutter läßt sich den Müttern der beiden anderen Wanderhelden gegenüberstellen. Gilgameschs zeitweiliger Freund Enkidu ist der wilde Jäger der Steppe, der am Ende verzweifelt und die Stadtkultur verflucht, in die eine Hierodule ihn gelockt hat, wie in Indien mehrfach in Legenden und Märchen von Hetären und Waldasketen mit der Romantik und oft mit dem Humor der hochgebildeten Städter erzählt wurde.133 Rämas märchenhafter Freund aber ist Hanumän, der Affe des Urwaldes, der weise, in Not und Erfolg treue Helfer, dessen Freundschaft kein Ende findet. Odysseus hatte eigentlich nur Athene als ständige Helferin. Sie ist wiederum der Ishtar gegenüberzustellen, die als wild verliebte Liebesgöttin nicht Gilgameschs Freundschaft, sondern Liebe möchte, in dieser Hinsicht ein Gegenstück zu Kalypso und SürpaQ.akhä; aber Aphrodite ist keine Versucherin des Odysseus, Devi keine des Räma. Solch Vergleichen hat unausschöpfliche Möglichkeiten. Grundlegend aber ist doch wohl, daß es sich im Alten Vorderen Orient vor allem um Mythen handelt wie um den der drei Götterkönigsgenerationen (Uranos-KronosZeus der Griechen) mit ihrem typisch despotischen Vatermord™ oder um die Mythen, wie verschiedene Baale Ungeheuer erschlugen. Im Alten Testament dagegen ist ein Heerführer der auf der Stufe der militärischen Demokratie ungefähr gleichzeitig mit Griechen und Äryas nach Kanaan einwandernden, landnehmenden Hebräerstämme, der wie Josua Jericho belagert und zerstört, einem Agamemnon an die Seite zu stellen. Er wurde aber ebensowenig wie Simson oder David der Held eines großen Heldenversepos. Man kann wohl annehmen, daß der hebräische Gentiladel 135 so wenig wie der babylonische den Despotismus verändern oder umgehen konnte oder wollte und daß er und die militärische Demokratie von den Leviten, den Ideologen des Despotismus, nicht in Heldenversepen heroisiert wurden, sollte das Volk doch glauben, daß nur die Treue zum Bund mit Jahwe einen Menschen, einen Stamm oder das ganze Volk erfolgreich mache oder nicht. Nur Propheten blieben in einer gewissen Opposition und hielten an Idealen der militärischen Demokratie fest. Das Alte Testament war eben eine theologische Weltgeschichte altorien-

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talischer Art und das Neue Testament eine angehängte Heilandsbiographie, wie das Leben Buddhas oder Krishnas. Im großen ganzen entwickelte sich von der Urgesellschaft an mit der Produktion die Gesellschaft, der Mensch, sein Selbstverständnis und seine künstlerische Selbstdarstellung. Zugleich differenzierte sich die Heldenepik von Märchen, Sage und Mythus wie u. a. von der mythologischen Weltgeschichte zur großen Heldenversepik der alten Inder und Griechen, und von ihr differenzierte sich mit Hekatäus und Herodot die nach Wissenschaftlichkeit strebende Geschichte (wenn man hier einmal von der chinesischen Geschichte absieht, die mehr moralisch-politisch ausgerichtet war). Im Feudalismus traten andere Völker aus ihrer militärischen Demokratie in die neue Klassengesellschaft über und entwickelten ihre neue Heldenversepik.

X. Bewertung der Epen Der Wert der altindischen und homerischen Heldenepen für die heutige allgemeine Bildung der Bürger der DDR und der Indischen Union, für das Verständnis dessen, was Menschen vor vielen Jahrhunderten leisten konnten, ist hoch. Jedes dieser vier Epen ist ein einzigartiges Kunstwerk. Die beiden homerischen Epen sind als Werke der antiken Gesellschaftsformation fortgeschrittener als die altindischen Epen, die Werke der altorientalischen Klassengesellschaft sind. Damit ist der humanistische Inhalt und die „realistische" Darstellung der homerischen Epen entwickelter als die der altindischen Epen, einerlei, ob die Epen der ersten oder zweiten Periode ihrer Gesellschaft angehören. Gerade weil die homerischen Epen die ersten uns erhaltenen Werke des griechischen Humanismus sind, gehören sie zum unvergänglichen Kulturerbe der Menschheit. Ob die beiden Homere als Rhapsoden der Aristokraten größere Dichterpersönlichkeiten als die brahmanischen Theologen Vyäsa und Välmiki waren, kann man noch nicht beurteilen, aber die 500jährige religiös-moralische Bearbeitung durch Epigonen hat die altindischen Epen im großen ganzen nicht verbessert. Andererseits sind die homerischen Epen Dokumente der Ideologie des gerade konservativ werdenden Adels, die altindischen aber die eines Adels und anderer Schichten, die für vernünftig-moralisch eingeschränkten Despotismus eintraten und insofem volkstümlich-utopisch dachten und zugleich objektiv fortschrittlich waren. Das Verhältnis zum gesellschaftlichen Fortschritt ist für die Bewertung des kulturellen Erbes aber grundlegend. Damit gehören auch die altindischen Epen zum Kulturerbe aller Sozialisten. Diese und sicher noch andere erst zu findende Gesichtspunkte sind anzuführen, wenn man sich über den Wert dieser Helden-

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epen vergleichend ein Urteil bilden will. Es ist unwissenschaftlich, die einen oder die anderen abstrakt als besser oder schöner zu bezeichnen. Das gilt auch für das Gilgameschepos. Andererseits sind die homerischen Epen Dichtungen der Griechen und damit unserer Kindheit, die indischen Epen solche der indischen Kindheit. Daher sind beide Epiken ihren direkten Erben besonders verständlich und erscheinen ihnen als besonders wertvoll. Dabei werden sie subjektiv-nationalistisch bewertet. Aber Homers Epen stagnierten im Hellenismus und in Byzanz beim Übergang zum Feudalismus mit seinem Christentum, wurden in der Renaissance durch die frühbürgerliche Wissenschaft neu entdeckt und den humanistisch Gebildeten Europas als Erbe übergeben. Die altindischen Epen dagegen lebten in den indischen Völkern kontinuierlich weiter, weil die altindische Produktionsweise fortbestand. Im Gegensatz zum Vorderen Orient zerstörten weder Hellenismus noch römisches Imperium, weder Islam noch Feudalismus die altindische Gesellschaft und deren Kultur. So wurden die beiden altindischen Epen im Mittelalter in ungezählten Handschriften mehr oder weniger verändert, an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse angepaßt, von Dichtern der sich entwickelnden Nationalitäten in die sich entwickelnden regionalen (heute nationalen) Sprachen übertragen, daneben in Kunstepen und Dramen umgedichtet, interpretiert und popularisiert, und ihr Stoff wurde mündlich mit unendlichen Abweichungen in allerlei Erzählungen überliefert und in pantomimischen Tänzen gestaltet, alles im Rahmen und im Geiste der zahllosen hinduistischen Sekten. Die Geschichte der Epen gehört wesentlich zur Geschichte der Sekten. Wegen ihres kontinuierlichen Weiterlebens werden die Stoffe der Heldenepen noch der heutigen Jugend Indiens durch ihre Mütter und Großmütter erzählt136, wird die Jugend mit den Gestalten der Epen als scheinbar zeitlosen Idealen großgezogen. Der in Indien noch junge Kapitalismus hat solche traditionellen Werte bis heute nicht ernsthaft untergraben. Einerseits sucht die Reaktion sie in ihrem Sinne zu erhalten, andererseits steht vor dem fortschrittlichen Indien die Aufgabe, sie in seinem Geiste auszulegen, um sie für das bessere Indien der Zukunft nutzbringend zu machen. Dank dieser Kontinuität kam es, daß Jawaharlal Nehru, als er 1924 im Gefängnis der Kolonialherren saß, schrieb, der noch heute beständige und nachhaltige Einfluß der beiden Epen auf die Massen, die meist analphabetisch sind, sei in kultureller und ethischer Hinsicht bedeutsam. ,,Sie lehren das Festhalten ... am gegebenen Wort, ganz gleich, welche Folgen sich daraus ergeben mögen; sie lehren Treue bis zum Tod ... Mut, gute Taten und Aufopferung für das Allgemeinwohl." 137 Noch 1971 erklärte ein so großer Gelehrter wie Suniti Kumar Chatterji das Mahäbhärata für die größte Dichtung der Menschheit und meinte dies nicht nur im Sinne des Umfangs; er sprach

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von „dem erwiesenen Wert der beiden Epen im ästhetischen, sozialen, moralischen und religiösen Leben des Menschen" 138(nicht nur des Hindu) und berief sich auf den großen und gelehrten Freiheitskämpfer Romesh Chander Dutt139, der 1899 erklärt hatte, daß das Mahäbhärata mit noch größerem Recht für eine Enzyklopädie des Lebens erklärt werden könne, als es von den homerischen Gedichten gesagt werde.140 Dagegen hat V. Räghavan, ein berühmter konservativer Brahmane und Indologe in Madras, 1956 in seinem Buch über das kulturelle Erbe Indiens geschrieben, wenn man die beiden indischen Epen denen des Homer oder Vergil gleichsetze, übersehe man, wie die indischen Epen den Charakter und den Glauben des Volkes (er meint: des indischen Volkes) geprägt haben.141 Erstens haben die homerischen Epen in analoger Weise den griechischen Menschen mitgeformt, auch seinen Glauben, zweitens hebt Räghavan zwar als besonders wichtig den „populären" Hinduismus des Mahäbhiirata hervor, erklärt aber für besonders wertvoll die orthodoxen didaktischen Diskussionen in dessen XII. und XIII. Buch, darunter die Verherrlichung der „weißen Insel" der Seligen. Es ist für uns nicht leicht, die neuere indische Sekundärliteratur über die altindischen Epen zu übersehen. Einerseits versucht z.B. H. D. Sankalia, ein bekannter Archäologe, wie viele Interpreten vor ihm, das relativ märchenhafte Rämäya1J,a als eine historische Dichtung zu deuten, um es den Indern besonders wertvoll erscheinen zu lassen; er ist beinahe ein indischer Schliemann, nur hatte dieser das im 19. Jahrhundert mit Erfolg für die relativ historische llias unternommen. Andererseits sucht eine recht fortschrittliche Sekte, das Rämliya1J,afür die moralische Erziehung der Kinder nachzuerzählen, während ein Verlag die Epen zu Comics verunstaltet.1'2 Es ist dringend notwendig, daß sich progressive indische Gelehrte eingehend mit ihren eigenen Epen befassen, progressive indische Gräzisten sich mit den homerischen Epen auseinandersetzen, aber auch außerindische Literaturwissenschaftler mit den altindischen Epen, schließlich Kulturhistoriker aller Völker mit den Heldenepiken aller Völker, damit eine weltweite und immer tiefere und konkretere Diskussion beginnt. Hier und heute kann nur ein Schritt in der Richtung gegangen werden, die zu Anfang dieses Vortrages skizzierte innereuropäische Diskussion mit der eben angedeuteten innerindischen Diskussion über die homerischen und altindischen Epen zusammenzubringen und fortzuführen.

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Ruben, Epen

Anhang: Das mythologischeMotivder Oberlastung der Erde

Das Motiv der Überbelastung der Erde t'3 als Grund für die Entfachung von Kriegen ist in der griechischen Literatur m. W. nur am Anfang der Kyprien ganz kurz belegt, in der indischen dagegen mehrmals, in mehreren Varianten und sehr viel ausführlicher. 1. Am Anfang des Mahäbhärata (I, 58-61) heißt es, daß, als Parasuräma alle k~atriyas, weil sie schlecht waren, vernichtet hatte, Brahmanen und K~atriyafrauen neue, gute K'ilatriyas zeugten und daß ein glückliches Weltalter (krta) begann. - Dieser Anfang rührt wohl daher, daß das Epos von Bhärgava-Brahmanen bearbeitet worden ist, deren Hauptheld Parasuräma war.144 In diesem glücklichen Weltalter füllte sich die Erde mit Menschen. Zugleich besiegten die Götter die Dämonen (Daityas), so daß diese ihre Herrschaft in ihren Bereichen verloren, auf Erden (hier) in Tieren und Menschen geboren wurden, die Erde füllten und die vier Stände machttrunken unterdrückten. Die von deren (der inkarnierten Daityas) Last gequälte Erde ging zu Brahma in dessen Götterversammlung, um Schutz zu suchen; Brahmä wußte schon, um was es ihr ging (sie brauchte nicht erst zu klagen), und wies alle Himmelsbewohner an, sich mit einem Teil ihrer selbst in Menschen zu inkarnieren (ein anderer Teil eines jeden sollte im Himmel bleiben). Das Epos holt dann recht ausführlich aus, wie in Urzeiten alle Wesen aus Brahmä hervorgingen, Götter, Dämonen, Menschen, Tiere aller Art und Geister, wie dann die einzelnen Dämonen als die bösen Helden inkarniert wurden, die im Epos als die Widersacher der guten Helden auftreten. Das geschah noch vor der Klage der Erde. Diese lange Liste endet mit Kali, dem dämonischen Herrn des bevorstehenden bösen Weltalters, des vierten und letzten vor seligem Neubeginn. Kali wurde Duryodhana, der feindliche Vetter des moralischen Herrschers Yudhi~thira. Dieser war die Teilinkarnation des Gottes der Moral. Mit ihm beginnt die Liste der auf Brahmäs Anweisung hin als gute Helden inkarnierten Götter, die weit kürzer ist als die der bösen; in ihr wird Krishna als Inkarnation Näräya:i;ias (Vishnus) aufgeführt.

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2. Nach der großen Schlacht bedenkt der greise König Dhrtarättra den Tod vieler Helden, und der mythische Verfasser des Epos, Vyäsa, der ihm verwandt ist, tröstet ihn: Er sei einst zu Indra in dessen Himmel gelangt und habe dort in der Versammlung der mythischen Weisen gesehen, wie die Erde vor den Göttern klagte, sie könne ihre Pflicht, das All zu tragen, nicht erfüllen, Da habe Vishnu lachend gesagt: Duryodhana wird dir helfen, wenn er dein Herr (als Weltherrscher) geworden ist. Seinetwegen werden sich die Könige auf dem Kurufeld erschlagen und deine Last vernichten; bis dahin trage die Welten (XI, 8, 20-26). Vyäsa fuhr fort: Duryodhana ist die Teilinkarnation des Kali (s.o. Nr. 1). Er ist schwer zu ertragen (ist ein böser Despot), und seine Brüder und Freunde sind seinesgleichen. Närada hat dies schon bei YudhiHhiras Königsweihe gesagt (ib. 27-32). Dies bezieht sich darauf, daß Närada damals ganz kurz geweissagt hatte, in vierzehn Jahren würde durch Duryodhanas Schuld sein ganzes Geschlecht untergehen (II, 71, 29 f.). Neben diesen beiden Stellen des Mahäbhärata, die die Inkarnationen der beiden Hauptgegner des Epos betreffen, stehen zwei, die Kamsas Inkarnation mit der Überbelastung der Erde verbinden, dieses Gegners Krishnas: 3. Im BrahmapuräTJ,a, und zwar in dessen sehr altem Krishnaleben, wird die Erde von der Last bedrückt, insofern jetzt viele Dämonen in Menschen inkarniert sind, wie Kälanemi in Kamsa, andere in den dämonischen Tieren, gegen die Krishna später im Walde seine Hirten beschützen wird. Die Erde ging zur Götterversammlung auf den Meru (Weltberg), klagte und bat um Erleichterung ihrer Last. Brahmä ging mit den Göttern deswegen zu Vishnu am Nordufer des Milchozeans. 145 Vishnu riß sich zwei Haare aus, die als Krishna und dessen Bruder Balaräma geboren werden sollten, alle Götter aber sollten als Helden geboren werden, damit die Erde die Qual der Last verliere (181, 1-29). 4. Im HariYamsa, dem epischen Krishnaleben, erwacht Vishnu am Ende des dritten Weltalters aus seinem äonenlangen Schlaf, weil er spürt, daß die Welt leidet. Brahmä kommt und berichtet, an sich sei die Welt glücklich, weil alle Herrscher moralisch seien, z. B. nur die gesetzliche Abgabe (das Ertragssechstel) von den Bauern verlangten und allgemein das glückliche Weltalter zu verwirklichen strebten. Gerade durch die Macht der Herrscher, durch diese Last bedrückt, wanke die Erde wie ein Schiff im Sturm, ein Zeichen, daß das dritte (das heroische) Weltalter zu Ende gehe. Die Herrscher müßten erschlagen werden, damit die Last der Erde getilgt werde. - Diese Version ähnelt ein wenig der der Kyprien, die die Last aus den Menschen selber bestehen läßt, allerdings aus den hin- und herwandernden. Daß gerade die Gerechtigkeit der Herrscher zur Überlastung der Erde führte, soll vielleicht die Ausgebeuteten des historischen, des schlechten Weltalters trösten. - Die

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Götter sollten mit der Erde beraten. In der Versammlung der Götter bat dann die Erde Vishnu um seinen gewohnten Schutz, er erleichtere ihre Last ja in jedem Weltalter.146 Jetzt sei sie durch die Dämonen - das war vorher nicht gesagt (s. u. Nr. 7) -, die Dänavas und Räk~asas, gequält. Alle Götter beschließen ihre Teilinkarnationen. Närada macht sie darauf aufmerksam, daß in Mathurä der Dämon Kälanemi als Kamsa geboren worden ist (54, 64) und andere Dämonen als böse Tiere und andere künftige Feinde Krishnas (s. o. Nr. 3). Brahmä weist Vishnu auf Vasudeva und Devaki in Mathurä als seine Eltern in seiner künftigen Teilinkarnation als Krishna (55, 36ff.). Dies ist ein später und weitschweifiger Text. Aber er hängt mit dem obigen 1. Text des Mahäbhärata und dem des Brahmapurä'l)a genetisch zusammen. Im Brahmapurä7J,a entspricht nämlich der 8. Vers über die Daityas hier auf Erden wörtlich einem des Mahäbhärata (l, 59, 26), der 7. über Näräyar.ia als Herr (guru) der Erde und der 9. über Kälanemis Inkarnation als Kamsa aber sind wörtlich ähnlich den Versen 52, 44 und 54, 64 des Hari11amsa. In dieser Gruppe von clrei Versen ist im Brahmapurä'l)a anscheinend ·der Rest eines kurzen Urtextes dieser drei sehr aufgeschwemmten Texte erhalten. Text 1) ist überhaupt als Ganzes als älteste Form der Tradition anzusehen, die zu einem noch weitgehend rekonstruierbaren Urtext erweitert wurde, der seinerseits zu den in Handschriften vorliegenden Texten 3) und 4) erweitert wurde. 5. Im l\fahäbhärata XII, 49, 61-79 wird von Parasuräma berichtet: Als er ane K~atriyas erschlagen hatte (s.o.), war die Erde ohne Könige (ohne Schützer von Ruhe und Ordnung, d. h. in Anarchie), und die Südras und Vaisyas (die beiden ausgebeuteten Stände) taten, was sie wollten147, so daß die Schwachen unter den Starken litten und es kein Eigentum irgend jemandes mehr gab. Daraufhin versank die von keinem K~atriya beschützte Erde in die Unterwelt; aber der mythische \Veise Kasyapa trug sie auf seinem Schenkel, als sie untertauchte, so daß sie nicht versank. Sie bat ihn um K~atriyas als Schützer; sie wußte noch einige übriggebliebene, und Kasyapa weihte diese zu Herrschern. Durch sie wollte die Erde bewegungslos (ohne zu schwanken) dauerhaft feststehen (75). Von Überlastung wird in diesem Text nicht eigentlich gesprochen. 6. Im Mahäbhärata III, 142 (= App. 16)1'8 ist von Vishnus Sieg über den Dämon Naraka die Rede, und an diesen Sieg wird in einer Version des Epos folgender Mythos angeschlossen: Im ersten glücklichen Weltalter (krta) nahm Vishnu Yama die Rolle des Todesgottes ab; daher starb niemand, kein Tier, Vogel oder Mensch. Sie wurden viele, und in diesem schrecklichen Durcheinander ging die Erde 100 Meilen (tief ins Wasser oder in die Unterwelt). Bekümmert über ihre Last ging sie zu Näräyai;ia und bat um Wegnahme der Last. Der Gott versprach Hilfe und entließ die Erde. Dann nahm er die

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Gestalt eines riesigen Ebers an und hob die Erde die 100 Meilen empor. Die Götter und Weisen, verwirrt, gingen zu Brahmä, und dieser erklärte, daß diese Tat des Ebers die des Vishnu war. Danach müßte eigentlich berichtet werden, daß jetzt die Sterblichkeit der Menschen begann, so daß die Erde nicht wieder überlastet wurde. Ursprünglich hatte der Mythos gelautet, daß die Menschen unsterblich waren, die Erde überlasteten, daß dann Yama (der erste Mensch) den Überschuß der unsterblichen Menschen in sein Totenreich (die Insel der Seligen) führte und die Wesen sterblich wurden. 149 Dies war eine indoiranische Ätiologie der Sterblichkeit der Menschen, noch aus der Zeit der arischen militärischen Demokratie, als Sterbenmüssen als das große Leid galt, noch nicht das Leben im leidvollen Diesseits. Dieser späte epische Text (itihäsa) leitet zum puranischen Thema der Eberinkarnation Vishnus über, von dem viele Versionen vorliegen:150 7. Harivamsa 111, 33f.: Aus dem goldenen Weltei entstand die Welt, und die goldene Eimitte (Eidotter?) bedeckte die ganze Erde wie beim Ende der vier Weltalter (bei der Sintflut). Durch die Wasser bedrückt, schwankte die Erde; sie konnte sie nicht tragen und sank nach unten. Sie flehte Vis~nu an, ihr die Last zum Heil der Welt zu nehmen. Von den Dämonen, Daityas und Dänavas (von denen war vorher nicht die Rede), gequält, bäte sie ihn immer wieder um Schutz. Darauf sann Vishnu nach und nahm die Gestalt eines mystischen Ebers an, dessen Füße die vier Veden, dessen einziger Zahn das Opfer, dessen Zunge das (Opfer)feuer und dessen Augen Sonne und Mond waren. Mit seinem Eberzahn holte er die in die Unterwelt versunkene Erde empor. - Die Belastung durch das Wasser wird hier einmal durch die Last der Dämonen ersetzt. Diese ist auch in Text 4) sozusagen nachgetragen, wohl weil sie allgemein bekannt war. - Vishnu ließ dann durch den Weltschöpfer die Erde mit ihren vier Himmelsrichtungen, Bergen und Flüssen einrichten, die Wesen gemäß den vier Weltaltern schaffen, für alle Bereiche Könige einsetzen, darunter Indra als \Veltherrn, HiraQyäk~a aber als Herrn der Dämonen (Daityas). 8. Einst flogen die Berge, die damals noch Flügel hatten,151 in die Unterwelt im Westen zu Hira:r:iyäk~a und den Dämonen, wie Elefanten in einen See tauchen, und priesen ihnen die Herrlichkeit der Götter. Daraufhin entbrannte der Krieg der Dämonen und Götter, in dem bei der Niederlage der Götter diese samt Indra gelähmt wurden (Hv. III, 35-36). Deswegen nahm Vishnu die Ebergestalt an, reizte den Dämon Hira:r:iyäk~a und dessen Heer mit dem Blasen seines Muschelhorns und stellte sich dem angreifenden Heer entgegen. Hira:r:iyäk~as Lanze lenkte er mit dem magischen Laut hum fehl und spaltete ihm mit seinem Diskus das Haupt. Das Heer zerstreute sich in alle Winde, die Götter wurden von ihren Bindungen befreit und priesen samt 53

Indra den Vishnu. Dieser ließ sie die kosmische Ordnung wiederherstellen, so daß die Guten in den Himmel, die bösen, materialistischen, auf Gewinn und Lust ausgehenden Menschen in die Hölle kamen. Über dieses „Leben des Ebers" staunten die Götter und gingen in ihren Himmel zurück. Die Erde kam wieder zu ihrer alten Natur. Indra aber schnitt den Bergen mit seinem Donnerkeil die Flügel ab (Hv. III, 39-40). Hier ist von der Last der Erde keine Rede, im Gegenteil, die Berge, die die Erde festzuhalten haben, daß sie nicht schwankt, 152 tun ihre Pflicht nicht, sondern tauchen in die Unterwelt, bis der Gott als Eber zwar nicht die Berge heraufholt (wie sonst die Erde), aber die Feinde der kosmischen Ordnung vernichtet, so daß Indra den Bergen das künftige Verletzen ihrer Pflicht unmöglich machen kann. In einer anderen Version dieses Mythos der Eberinkarnation Vishnus wird die Erde durch die Last der Dämonen (Dänava) bedrückt, die die Götter ,aufessen'.153 Die Götter sahen diese Belastung der Erde, fragten Brahmä nach einem Hilfsmittel, und dieser verwies sie an Vishnu in der Gestalt des Ebers, der dann in der Tat in die Unterwelt stieg und dort die Dämonen mit seinem Gebrüll in Angst versetzte, so daß sie tot umfielen. Zum Staunen der Götter kam er dann als Eber wieder aus der Unterwelt hervor (Mbh. XII, 202, 7-28).™ Oder der Dämon (räk~asa) Sindhusena besiegt die Götter und raubt das Opfer in die Unterwelt. Ohne Opfer kann die Welt nicht bestehen. Die Götter können es nicht wiedergewinnen. Sie bitten Vishnu, der die Eber· gestalt annimmt und das Opfer heraufholt (Bp. 79). Ganz kurz: Die Erde, die rings vom Ozean umgeben ist, ist im „einzigen" (die Erde bedeckenden, allbedeckenden) Ozean untergegangen, und Vishnu holt sie als Eber wieder hervor (Bp. 213, 40-42). Ausführlich: Vishnu verbrennt am Ende der vier Weltalter die Welt (Sindbrand). Dann regnen gewaltige Wolken, und die Erde wird von Wasser bedeckt (Sintflut); in dem „einzigen" Ozean hören Sonne, Mond und \Vind, alles Bewegliche und Unbewegliche auf. Vishnu legt sich in der Weltnacht auf der Schlange Se~a als seinem Bett auf dem Ozean zum Schlaf nieder. Aus seinem Nabel wächst der Lotus, aus dem Gott Brahmä wächst. Dieser soll die Welt neu schaffen, und Vishnu als Eber holt sie dafür aus dem einzigen Ozean hervor (Mbh. III, 265, App. 27).148 · Hier ist nach dem Sindbrand statt vom Versinken der überlasteten Erde von der Sintflut die Rede, und das Hervorholen der Erde aus dem Ozean durch den Eber ist hier im Grunde eine Kosmogonie am Anfang eines neuen Zyklus der vier Weltalter. Es handelt sich offenbar um eine hinduistische Version der Taucherkosmogonie,155 die von den vorarischen Mundas bekannt ist. In dieser schickt der Gott als Weltschöpfer verschiedene Tiere in das Urmeer, um von dessen Grund die Erde oder etwas Erde hervorzuholen und auf dem Ozean (bzw. einer Schildkröte) auszubreiten. Bei den Santals versuchen

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es ein Aligator, ein bestimmter Fisch (Silurus glavis) und ein Krebs vergeblich, aber einem Erdwurm gelingt es. 156 Man kann also wohl annehmen, daß die hinduistischen, vishnuitischen Theologen, als sie in Jahrhunderten die komplizierte Gestalt Vishnus aufbauten, unter anderem auch solche vorarischen Mythen aufnahmen, wie die Vorstellung der Schildkröte als Grundlage der Erde zur Schildkröteninkarnation Vishnus führte und Vishnus Inkarnation als Fisch in der Sintflut aus dem Vorderen Orient stammt. Bei der Eberinkarnation157 kommt hinzu, daß Schweinefleisch nicht von Aryas, sondern von Mundas gegessen und geopfert wird und der die Erde aus dem Wasser holende Eber als Opfereber geschildert wird. Die Last der Erde sahen die puranischen Theologen in der Herrschaft der Dämonen, der Widergötter, die schon in indoeuropäischer Mythologie den Göttern gegenüberstanden. Von ihr befreite im puranischen Mythos der ebergestaltige Vishnu die im Meer versunkene Erde. Das Rämäya1J,a kam mit jenem indoeuropäischen Mythos des Kampfes der Götter ohne das Motiv der Last der Erde in der Form aus, daß der eine Vishnu als Räma gegen den einen RävaQa kämpfte. Das Mahäbhärata aber brauchte für den männermordenden Krieg die Überlastung der Erde und die Inkarnation der Götter, vor allem des Rechtsgottes in Yudhi~thira, und der Dämonen, vor allem des Kali in Duryodhana; der Harivamsa ließ Vishnu als Krishna und Balaräma, Kälanemi aber als Kamsa geboren werden. Das Motiv der Last der Erde als Grund für den Krieg ist so eigenartig, daß es unwahrscheinlich ist, daß ungefähr gleichzeitig indische und griechische Epiker es unabhängig voneinander erdacht und es als typologische Analogie an den Anfang des Epos gestellt haben sollten. Immerhin sei aber daran erinnert, daß die Azteken schon eine Ätiologie des Krieges erzählten und das Gilgameschepos mit der Klage über die Kriege begann. Mythen der Sintflut, die von Göttern wegen der Schlechtigkeit der Menschen ausgelöst wird, findet man von den Griechen und Indern bis zu den lnkas.158 Weiter ist der Gedanke der Überlastung der Erde schon in indoiranische Zeiten zurückzuverfolgen. Deswegen braucht er aber nicht indoeuropäisch zu sein, ist aber auch nicht als indisch-vorarisch nachweisbar, und daß er aus dem vorderen Orient (etwa dem Gilgameschepos) nach Indien und Griechenland gewandert sein sollte, ist ebenso unwahrscheinlich. So steht es auch mit den Möglichkeiten der Wanderung des Motivs von den Indern, bei denen es vielfach belegt ist, zu den Griechen oder umgekehrt.

Anmerkungen

Über Heldenepik von der Urgesellschaft an s. Kap. IX; für den Begriff Volks• epik s. u. A. 34, 38 und 43. Von der Heldenepik des Mittelalters ist hier abgesehen, für die indische vgl. Ruhen (s. A. 2) V. 294 ff. 2 Ein Vergleich der Inder und Griechen ist für jede Periode angedeutet in: Ruhen, Die gesellschaftliche Entwicklung im alten Indien, I: Die Entwicklung der Produktionsverhältnisse (Berlin 1967), II: Die Entwicklung von Staat und Recht (1968), III: Die Entwicklung der Religion (1971), IV: Die Entwicklung der Philosophie (1971), V: Die Entwicklung der Dichtung (1973), VI: Die Entwicklung der Gangesgesellschaft ( 1973). 3 Darüber Ruhen, Bemerkungen zu einer Periodisierung der Geschichte Indiens im Rahmen der Universalgeschichte, in: Asien, Afrika, Lateinamerika, I, 1, 1973, 117-127, bes. 121. ~ E. Windisch, Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde I, Straßburg 1917, 25. 5 Asiatic Researches I, 258, zit. von James Mill, The History of British lndia, 2. ed. London 1820, vol. II, 47, Anmerkung. 6 Ruhen, IV, 135. 7 F. Schlegel, Über die Sprache und \Veisheit der Indier, Heidelberg 1808, 163f.; vgl. Ruhen V, 24f. 8 M. \Vinternitz, A History of Indian Literature, Calcutta 1959, I, 12f. 9 Mill a. a. 0. 46-48. 10 Ruhen VI, 299ff. 11 Max Müller, Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, Leipzig 1884, 69 ff. 12 Ruhen V, 26. 13 Ebenda 248ff. 14 H. Oldenherg, Das Mahahharata, Göttingen 1922 (nach seinem Tode heraus· gegeben), 162ff. Über Europazentrismus von A. Weher und V. Pisani s, u. A. 27. 15 Kautalya hat bereits kurz vor 300 v. u. Z. beide indischen Epen zusammengestellt: Ruhen V, 186; VI, 198. Gegen Troja verbanden sich alle Griechenvölker, auf dem Kurufeld kämpften 16 alle indischen Völker. Die Haltung der Epiker war panhellenisch bzw. gesamt· indisch. 7 1 Das Itihäsapurä1,1a wurde schätzungsweise schon 550 v. u. Z. erwähnt (Ruhen Y, 117), dann von Kautalya und anderen (ebenda A. 304); vgl. Ruhen I, 60f.: die puranische Tradition war so alt wie die vedische. 18 Diese Schlacht geht auf die Zehnkönigsschlacht im B,gveda zurück: Ruhen II, 18; V, 67, 77, 109f.; Cambridge History of India 1, 1922, 81f. (A. B. Reith); D. D. Kosamhi, An Introduction to the Study of Indian History, Bombay 1956, 89 f.; K. M. Panikkar, A Survey of Indian History, Bangalore 1947; dt.: Geschichte Indiens, Düsseldorf 1957, 22; K. Chaitanya, A New History of Sanskrit Literature, Bomhay-Calcutta-New York-Madras 1962, 95f. 1

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Über solche Unterschiede: Ruhen, Der Charakter der Weltanschauung im alten China, in Indien und in Griechenland, Klio 55, 1973, 5-41. 20 Ruhen V, 45. 21 Kailasapathy, K., Tamil Heroic Poetry, Oxford-London 1968. Zwelehil, K., The Smile of Murugan, Leiden 1973. 22 S. Text zu A. 102: Mhh. XII, 326, 78 ff. 23 Ruhen V, 55f. 24 Frauenraub und Krieg in llias und RämäyaJ.)a: W. Pax, Zum RämäyaJ.)a, ZDMG 90, 1936, 616-25. Helena-Sitä-Gudrun: J. Ward in J. Puhvel, Myth and Law Among the Indo-Europeans, Berkeley-London 1970, 237. Dagegen Ruhen, Vier Liebestragödien des RämäyaJ.la, ZDMG 100, 1950, 287 ff. 25 Ruhen I, 48ff. 26 Ruhen V, 56f. Tl Gegen A. Weher vgl. H. J acohi, Das Ramayana, Bonn 1893, 94 ff.: Sitä nicht von Helena herleiten. - V. Pisani (Storia delle Letterature Antiehe dell'lndia, Milano 1954, 911.) meinte, die Darstellungsweise des RämäyaJ.)a ähnele dermaßen der der homerischen Epen, daß Välmiki als erster Dichter (ädikavi) Indiens zu seinem Epos, das kein Volksepos sei, von Homer angeregt worden sei. Dieser letztlich kolonialistische Standpunkt (s. o. A. 14) wird durch das, was wir über die Entstehungsgeschichte des RämäyaJ.)a und Mahähhärata wissen, widerlegt. Vgl. Ruhen in OLZ 1956, 455. Die griechischen Einflüsse auf Indien sind relativ gering: Ruhen, Die Griechen in Indien, in L. Welskopf, Hellenische Poleis II, Berlin 1974. 28 Aus dem Vorderen Orient sind mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl nach Indien wie nach Griechenland Mythen gewandert wie der der Sintflut (Ruhen VI, 38, 96), der der vier Weltalter (Ruhen VI, 309ff.) und vielleicht der der drei Götterkönigsgenerationen (s. u. A. 66, 98, 134; Puhvel a. a. 0. 83ff., dazu Ruhen OLZ 1972, 3: Auch ~gveda IV, 18, 12 die Andeutung, daß lndra seinen Vater tötete, und ebenda X, 28; I, 53, 10 und VI, 18, 13, daß Indras Sohn ihm feindlich war (nach Geldners Interpretation), weiter Motive wie das der Eva-PandoraYami (1. Trenscenyi-Waldapfel, Töchter der Erinnerung, Berlin 1966, 29; über Yami: Ruhen VI, 66), Potiphars Weib (Trenscenyi-Waldapfel, Untersuchungen zur Religionsgeschichte, Berlin 1966, 108; St. Thompson, The Folktale, New York 1946, 279; Indien: Asokävadäna in H. Oldenberg, Buddha, Göttingen 1920, 340f.), das Kind als prophezeiter Heiland (Ruhen, Die Erlebnisse der zehn Prinzen, Berlin 1952, 46; Trenscenyi-W aldapfel a. a. 0. 366 ff.), das verhinderte Opfer des eigenen Kindes (Iphigenie, Isaak, Suna9sepa: Ruhen, Die Philosophen der Upanishaden, Bern 1947, 74f.), die Rangstreitfabel (ebenda 611., 335) und sicher noch manche andere. Eine solche Wanderung ist zu vermuten, wenn ein Märchen wie das des Esels ohne Ohren und Herz (Th. Benfey, Pantschatantra, Leipzig 1859, 1, 430ff.; K. Krohn, Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung, Helsinki 1931, 13 ff.; M. Winternitz, Geschichte der indischen Literatur III, Leipzig 1923, 308) bei Indern und Griechen belegt ist oder wenn die Gestalt des Ikarus in der des Sampäti (Räm. IV, 57) wiederkehrt, das Motiv der Zopyrus-List im Paiicatantra und Mudräräkshasa (Ruhen, Das Paiicatantra, Berlin 1959, 166) 19

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und sicher noch manche andere. Der Riesenraum zwischen Indien und dem Mittelmeer wurde von Karawanen durchzogen, die viel Erzählgut, aber auch religiöse Vorstellungen durch Jahrtausende hin und her trugen. Dies Problem bedarf systematischer Untersuchung. 29 S. Kap. IX. Daß das Gilgameschepos, das zu den Hethitern gelangt ist, von dort zu den Griechen (Homer) gewandert sei, dürfte sich inhaltlich und formal kaum wahrscheinlich machen lassen. Gilgamesch ähnelt als Wanderheld, der als Typ von der Urgesellschaft an lebte, mehr dem Herakles als dem Seefahrer Odysseus. 30 Ruhen II, 43; s. auch Texte zu A. 77, 79, 80, 114, 153 31 S. Text zu A. 46. 32 S. Text zu A. 37 und 45: Indische Epen blieben fortschrittlich. 33 Od. 16, 381f. und 428f.; s. Text zu A. 85. MS. o. A. 1. 35 Ruhen II, 67. 38 Ruhen V, 105ff.; VI, 113f. 37 S. Text zu A. 32. 38 So lang wie das Vessantarajätaka mit seinen 786 Versen: Ruhen V, 193f.; über Volksepos s. o. A. 1. 39 Ruhen V, 107ff., 177f., vgl. Ruhen, Die Philosophen der Upanishaden, Bern 1947, 1441. über Asvapati und Janaka in den Upanishaden und im Rämäya9a. Ruhen V, 154: 537. Jätaka. '1 Ebenda 110. 42 S. u. A. 74 und Text zu A. 86. 43 S. o. A. 1. « Ruhen IV, 131ff. 45 S. Text zu A. 32. '6 S. Text zu A. 31. ,1 G. Bockisch und H. Geiss, Beginn und Entwicklung des mykenischen Staates in: Beiträge zur Entstehung des Staates, Berlin 1973, 116f. '8 G. Bockisch mündlich. '9 Ruhen II, 23(. 60 Marx-Engels, Werke 21, 34: besonders Ilias, aber auch Thukydides, Aristoteles, Irokesen, Azteken und Germanen. Vgl. Ruhen I, 44ff.: Inder, Griechen, Hebräer und südafrikanische Hirten; s. u. Kap. IX: Polynesier. 51 Ruhen 1-VI. 52 N. K. Siddhanta hat in seinem berühmten Buch „The Heroic Age of India", London 1929, als indischer Patriot die homerischen und altindischen, aber auch der germanischen feudalen Heldenepen miteinander verglichen, um auch für Indien ein heroisches Zeitalter wiederzufinden als Analogon zu denen der Antike und des Feudalismus, auf die die Kolonialherren stolz waren. Er verwendete dafür vornehmlich das Mahähhärata, nur selten das märchenhahe Rämäyal}a. Er war sich dabei bewußt, daß die Epen relativ spät waren und daß er deswegen nicht auf dem direkten Zeugnis der Epen fußen konnte, die heroischen Zustände vielmehr mühsam rekonstruieren mußte (119). Sowohl das Fortlassen des ~gveda wie das Heranziehen der europäischen feudalen Epen erschwerten ihm die Arbeit.



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Als bürgerlichem Historiker fehlte ihm ein ausreichender Zugang zu den Problemen der Geschichte, insbesondere war ihm die Vorstellung der militärischen Demokratie fremd und gelang ihm die Schilderung des Überganges von Urgesellschaft zur Gangesgesellschaft bzw. zur griechischen Antike nicht. Für Vergleiche von Einzelheiten ist sein Buch indessen noch heute nützlich. Es folgte den Methoden H. Munro Chadwicks, The Heroic Age, Cambridge 1912. Siddhanta errechnete aus den Puranen das 11. Jahrhundert v. u. Z. als die Zeit, die das Mahäbhärata behandelt (41; s. o.: 1200 v. u. Z. bei A. 7). Die Historiker der indischen Dichtung waren sich des nachvedischen Alters der Epen zumindest seit F. Schlegel (1808) bewußt (Ruhen V, 24f.), die lndienhistoriker zumindest seit Chr. Lassen (Indische Altertumskunde, Leipzig 1847, I, 713ff.: vgl. E. W. Hopkins, Cambridge History of lndia I, 1922, 251ff.; Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens, 1942-45, deutsch Berlin 1959, 120ff.; K. M. Panikkar a. a. 0. 109ff.). 5' War Vishnuismus die Form des Hinduismus, die für das Ideal des moralischen Despoten eintrat, während Sivas lilä (Tanz-Spiel) mehr die Willkür des Despoten andeutet? 53 J. Gonda, Die Religionen Indiens, I, Stuttgart 1960, 218ff.; Ruhen III, 121ff.; 162ff.; IV, 193ff. 55 S. Text zu A. 65. 56 Kamsas Boshaftigkeit wurde geradezu mit einer Art Vererbungsgeschichte erklärt: Ruhen, Krishna, Istanbul 1943, 126f. 57 Ruhen III, 47 f.; VI, 65; 95. 58 Ruhen III, 46; VI. 66. 59 Krishna dringt in das Totenreich im Ozean: Ruhen, Krishna a. a. 0. 133f.: vgl. Vetälapaiicavimsati XIX: Die Hand des Totengeistes reckt sich aus dem \Vasser, um die Totenspende in Empfang zu nehmen. 60 Gonda a. a. 0. I, 246 ist recht unklar. 61 Dies und das Folgende nach Ruhen, Die ersten indischen Philosophen (demnächst) im Abschnitt über Sonnenverehrer. 62 Ruhen Klio (s. A. 19), 7 ff. 63 S. u. Anhang. Das Motiv ist nur bei Indern und Griechen, allenfalls Iraniern belegt und braucht deswegen nicht indoeuropäisch zu sein, wie von Ruhen V, 56 angenommen. 64 Dr. J. Ebert (Halle) machte mich dankenswerterweise darauf aufmerksam, daß in der indirekten Überlieferung der Kyprien auch das Fehlen der euseheia als Grund der Überlastung der Erde angegeben wird (Schol. Iliad. A 5 Dindorff; vgl. Euripides Orest 1642). Ich bin ihm für eine Reihe von Verbesserungen sehr verpflichtet. 65 S. Text zu A. 55. 66 Zunächst ließ Zeus Peleus Thetis heiraten, die er selber liebte, von der er aber keinen Sohn wollte, weil ein solcher ihn stürzen würde (wie es bei Uranos und Kronos geschehen war, s.o. A. 28). Zu dieser Hochzeit ließ er Eris, den Gott des Streits, nicht einladen. Dieser warf aber den Zankapfel „für die Schönste" in die Festversammlung; daraufhin bestimmte Zeus Paris zum Richter über die Schönheit der Aphrodite, Hera und Athene.

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F. Engels in MEW 21, 105. 68 Für die entsprechende heutige Problematik vgl. L. Padilla und M. Rossi, Wille der Völker, Sache der Völker, Probleme des Friedens und des Sozialismus 16, 1973, Heft 12, 1587 ff. 69 Ruhen IV, 37. 70 Ruhen II, 130 ff.; bes. 133. 71 R. Lannoy, The Speaking Tree, London 1971, 298ff. mystifiziert dieses ,vürfelspiel ohne ausreichende Gründe. 72 Ruhen III, 122f. 73 Ruhen III, 123; s. Text zu A. 146. 76 Ruhen VI, 220, 227: adrna. 75 Ruhen VI, 134, 137. S. o. A. 42. 76 Ruhen II, 49f. 77 S. Text zu A. 30. 78 F. Engels MEW 21, 104; Ruhen II, 331.; Siddhanta a. a. 0. 172.: tyranny; 175; irresponsible monarchy. 79 S. Text zu A. 30. 80 S. Text zu A. 30. 81 Versammlungen der Heerführer: Räm. IV, 39; 56; 64; V. 58; aller Affen: IV, 55; vielleicht IV, 52, 16; 65, 33; 35; 66, 2; V. 55, 11; 59,1. 82 Ruhen II, 37 f. 83 Ruhen, Studien zur Textgeschichte des Ramayana, Stuttgart 1936, 65ff., 203. 86 Ruhen II, 66. 85 S. Text zu A. 33. 86 S. Text zu A. 42. Zur Moral vgl. Ruhen VI, 176. 87 Ruhen II, 129. 88 Räm. VII, 42ff. Diese Tragödie Rämas steht im VII. Buch, braucht deswegen aber nicht unbedingt später als Välmiki zu sein. 89 Räm. VII, 63A, 62B, 59C prak~. 1-3. Das Alter dieses Stückes ist noch nicht bestimmt. oo Räm. VII, 76A, 79B, 73C. 91 }:lgveda X, 10: däsä goparii;iasä: zwei mit Kühnen versehene Sklaven. Diese Stelle ist bei Ruhen II, 47 und VI, 74 übersehen. 92 Ruhen (s. o. A. 83) 185: virya (Kraft) und sila (Tugend). 93 Ruhen V, 214f. 9~ Ebenda 275. 95 Ruhen V, 223. 96 Ruhen, Das Pancatantra und seine Morallehre, Berlin 1959, 227f. - V. S. Srinivasa Sastri, Lectures on the Ramayama, Madras 1961, 144 ff. - Swami Chinmayayananda (s. u. A. 144) sieht hier keine Schwierigkeit (95). 97 Ruhen (s. o. A. 56) 236f., 244 S. und Text zu A. 123. 98 S.o. A. 27. 99 Mhh. I, 214, 28; XIV, 15,5f.; Siddhanta a. a. 0. 52, 58. 100 S. Text zu A. 106. 101 S. Text zu A. 111. 67

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S. Text zu A. 22. S. u. Kap. IX. 104 S. Text zu A. 112. 105 Jacobi (s.o. A. 27) 64f. 10, S. Text zu A. 100; Ruben (s.o. A. 56) 278ff. 107 Ruben V. 48ff. 108 Ruben V, 248ff. nach Schirmunski (s. u. A. 117). 109 Ruben (s. o. A. 83) 53ff. 110 Wie z. B. die Insel der Seligen, s. o. A. 60. 111 S. Text zu A. 101 und 32; Mhh XII f. 112 S. Text zu A. 104. 113 Ruhen V, 91. 114 S. Text zu A. 30. 115 S. o. A. 95. 116 Alle drei Gattungen der Dichtung lebten schon in der Urgesellschaft: Ruben V, 12. 117 V. Schirmunski, Vergleichende Epenforschung. Berlin 1961, 17; 54ff.: Heldenepen gehen auf Heldenmärchen zurück. Für unsere vier Epen ist dies freilich noch nicht nachgewiesen, m. E. auch nicht für die Odyssee, bei der Sch. es versucht. Daß das Märchen des Alpamysh bzw. der Rückkehr des Gatten älter als Homer ist, ist fraglich. 118 K. Rasmussen, Die Gabe des Adlers, Frankfurt a. M. 1937, 59-104. 119 P. Harnbruch, Südseemärchen, Jena 1921, 6-13. - Die nächtliche Tötung ähnelt Asvatthämans Tat im Mahäbhärata. 120 Ruhen, Über die Literatur der vorarischen Stämme Indiens, Berlin 1952, 38ff. 121 Harnbruch a. a. 0. 341. 122 Ruhen V, 36ff. 123 P. 0. Bodding, Traditions and lnstitutions of the Santals, Oslo 1942, 12f. und 21f.; Mando Sin droht, allen Mädchen Gewalt anzutun bzw. sie zu heiraten, ohne nach Sippenverwandtschaft (Totem) zu fragen (s. Text zu A. 124). Die Väter entziehen sich der Gewalt durch Flucht. 123&Hambruch a. a. 0. 289-314. Zur Feiung Krishna-Achills s. Text zu A. 97. 12' S. Text zu 122: dasselbe Motiv in zwei militärischen Demokratien. 125 Harnbruch a. a. 0. 119-149. 126 W. Krickeberg, Märchen der Azteken und Inkaperuaner, Maya und Muiska, Jena 1928, 41ff. 127 Ebenda 22 f. 128 Ebenda 143-191. 129 Ebenda 257-270. 130 H. Klengel (,,Die Rolle der Persönlichkeit in der altbabylonischen Gesellschaft" - Vortrag auf der Humanismuskonferenz, Halle 1973) bringt dies mit der altbabylonischen „Weisheitsliteratur" zusammen. Er zitiert u. a. F. R. Kraus, Vom mesopotamischen Menschen der altbabylonischen Zeit und seiner Welt, Amsterdam-London 1973. 131 H. Sauren, Das Lugalbandaepos, OLZ 1973, Sp. 580-6: Dieses sumerische Epos besteht aus 12zeiligen Strophen. - Herr Dr. J. Oelsner (Leipzig) machte 102

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mich dankenswerterweise darauf aufmerksam, daß das Kurzepos des Gilga· mesch und seines Kampfes gegen Kisch sagenhaft ist, die übrige Gilgameschepik aber mirchenhaft, daß manche Orientalisten vom heroischen Zeitalter Gilga· meschs reden (wie Chadwick und Siddhanta, s. o. A. 52, aber nicht wie diese von militärischer Demokratie), daß der Pessimismus dieser Epik umstritten ist und daß insbesondere die episch-mythischen Dichtungen aus dem syrischen Ugarit häufig für einen Vergleich mit den homerischen Epen herangezogen worden sind. Die Gilgameschepik wird aber bisher nicht als Dokument der Ideologie eines „antidespotischen" Adels aufgefaßt. 132 G. Zinserling, (Realismusprobleme antiker Rundplastik, Bildende Kunst 11, 1973, 529-34) versucht, die Fortschritte von diesen Statuen bis zu den klassischen, etwa des Doryphoros, der Achill sein soll, zu fassen. Man sollte aber dabei vom homerischen Achill ausgehen und untersuchen, wieweit bei diesem schon Huma· nismus und Realismus ausgebildet sind. 133 Ruhen, Die Erlebnisse der zehn Prinzen, Berlin 1952, 57ff. 13' S.o. A. 27. 136 Vgl. H. Kreissig, Richterzeit und Staatsentstehung bei den Hebriern, in Beiträge (s.o. A. 47) 82ff. 136 J. Nehru, Entdeckung Indiens, Berlin 1959, 120, 122. S. K. Chatterji, World Llterature and Tagore, Santiniketan 1971, 51. 137 Nehru a. a. 0. 122. 138 Chatterji a. a. 0. 47. 239 Der große bengalische Patriot, Ökonom, Historiker und Romansehreiher um die Jahrhundertwende (1848-1909) (Ruhen, Indische Romane I, Berlin 1964, 44, 107ff. (sein Lebenslauf, verfaßt von R. Jung), 115-131 (Analyse zweier Romane). 140 Chatterji a. a. 0. 51. 1'1 V. Raghavan, The Indian Heritage, Bangalore 1956, Einl. S. L. 142 H. D. Sankalia, Ramayana, Myth or Reality, New Delhi 1973. Gegen solche Versuche hatte sich bereits H. Jacohi (s.o. A. 27) 126ff. bei der Frage von dichterischer Erfindung, Mythus, Sage und Geschichte gewandt. Zu Schliemann vgl. J. Herrmann, Heinrich Schliemann, Wegbereiter einer neuen Wissenschaft, Berlin 1974. - Zur Sekte: Swami Chinmayananda and Kumari Bharati Naik, Bala Ramayana, Madras o. J. (1968). - Comics u. a. in der Serie: Amar Chitra Katha, Indian Book House, Secundarabad: u. a. Mahabharata, The Pandava Princes, Tales the Ramayana tells. Diese Serie „lmmortal Pictorial Classics from Indian History and Mythology" ist in Englisch geschrieben, also nicht an die Volksmassen gerichtet. Das Mahabharata z. B. wird auf 32 Seiten in banaler Weise erzählt und im Hollywood-Sensationsstil illustriert. 1'3 S. o. A. 63. 14' V. S. Sukthankar, The Bhrgus and the Bhärata, Annals of the Bhandarkar Oriental Research Institute XVIII, 1936, 1-76, bes. 7f. unsere Stelle. 1'5 Das heißt zur „weißen Insel", s.o. A. 60ff. 146 S. Text zu A. 73. 147 Dabei galt Gehorsam als die erste Pflicht der Südras (Ruhen VI, 83; 127). 148 D. h. in einer mittelalterlichen Interpolation.

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P. Horsch, Die vedische Gäthä- und Sloka-Literatur, Bern 1966, 264 nach J. Hertel. - Zur Insel der Seligen s. o. A. 60ff. 150 Gonda (s.o. A. 53) I, 251; Ruhen, Eisenschmiede und Dämonen, Leiden 1939, 243ff. 151 J. Hertel, Indische Märchen, Jena 1925, 15. 152 M. Herrmanns, Die religiös-magische Anschauung der Primitivstämme Indiens, II, Wiesbaden 1966, 32: Bhillamythos. 153 D. h. ausbeuten, s. Text zu A. 30. S5' Kurz nacherzählt: A. Hohenberger, Die indische Flugsage und das MatsyapuräJ}.a, Leipzig 1930, 1291. t55 Ruhen III, 11. 156 Bodding (s.o. A. 122) 3f. 157 Ruhen (s. o. A. 150) 234: Die Erdgöttin war die Gattin Vishnus, vielleicht des Sonnengottes schon in vorarischer Mythologie; als solcher hilh er ihr. 158 Ruhen VI, 48. 1'9