Die gute Regierung [2. ed.] 9783868546729, 9783868543018


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German Pages 376 [365] Year 2016

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Die gute Regierung [2. ed.]
 9783868546729, 9783868543018

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Pierre Rosanvallon Die gute Regierung Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt

Hamburger Edition

Die Übersetzung wurde durch das Centre national du livre gefördert.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-672-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-301-8 © der Originalausgabe 2015 by Éditions du Seuil Titel der Originalausgabe: »Le bon gouvernement« Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Satz aus der Minion Pro bei Dörlemann Satz, Lemförde

Inhaltsverzeichnis Von einer Demokratie zur nächsten (Einleitung) Die Präsidialisierung der Demokratien Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive Das parlamentarisch-repräsentative Modell Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten Niedergang und Neudefinition der Parteien Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen Ein anderer demokratischer Universalismus Die vier Demokratien

I

Die exekutive Gewalt: Eine problematische Geschichte Die Inthronisierung des Gesetzes und die Degradierung der Exekutive Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes Eine politische Utopie Die Degradierung der Judikative während der Revolution Die Abqualifizierung der Exekutive Der Kult der Unpersönlichkeit und seine Metamorphosen Die Vorstellung einer »kopflosen« Macht Eine nicht gewählte, kollegiale Macht Bonaparte: Rückkehr eines Eigennamens und neues Regime des Willens Das neue Zeitalter der Unpersönlichkeit Französische Ausnahme oder demokratische Moderne? Das Zeitalter der Rehabilitierung Aufstieg der Massen und Stärkung der Exekutive Der Schock des Ersten Weltkriegs und der Führerkult Die Erweiterung staatlichen Handelns und der Niedergang des Gesetzes Die beiden Versuchungen Das technokratische Ideal Der Ausnahmezustand Kontinuitäten und Brüche

9 10 14 15 19 22 26 28 29 33 35 35 39 40 42 47 47 49 52 56 59 63 63 68 77 81 82 89 96

II

Die Präsidialisierung der Demokratien

99 Wegweisende Experimente: 1848 und Weimar 101 1848 in Frankreich oder der Triumph der Unbesonnenheit 101 Die Weimarer Verfassung 108 Max Weber und die plebiszitäre Demokratie 111 Das Laboratorium der Katastrophe 116 Von der gaullistischen Ausnahme zur allgemeinen Präsidialisierung 121 Die Vorbehalte der Nachkriegszeit 121 Eine amerikanische Ausnahme 125 Das gaullistische Moment 127 Die Verbreitung der Präsidentschaftswahlen 133 Die Personalisierung jenseits der Präsidialisierung 135 Unumgänglich und problematisch 139 Die demokratischen Gründe der Präsidialisierung 139 Die spezifischen Grenzen der Legitimation durch Wahlen 141 Präsidialismus und Neigung zum Illiberalismus 146 Über die »Unmöglichkeit, die Zeit zurückzudrehen« 149 Die Regulierung des Illiberalismus 151 Die Einhegung der Wahlen 151 Reparlamentarisierung der Demokratie? 155 Die neuen Wege der Unpersönlichkeit 160

III Die Aneignungsdemokratie Das Verhältnis von Regierenden und Regierten Die Ratio der Herrn Das Zeitalter der Verführung und der Manipulation Das Verhältnis von Regierten und Regierenden denken Selbstverwaltung, Selbstregierung, Selbstinstitution Die unmögliche Aufhebung der Äußerlichkeit Herrschaft und Asymmetrie Demokratie als Eigenschaft Lesbarkeit Das Auge des Parlaments auf die Regierung Das Auge des Volkes auf seine Repräsentanten Bentham und die Augen der Demokratie Reich der Sichtbarkeit und Elend der Lesbarkeit Die Dämonen der Intransparenz Das Recht auf Wissen und die Institutionen der Lesbarkeit Eine gewisse gesellschaftliche Vorliebe für Intransparenz?

165 167 168 173 176 179 181 187 190 193 194 198 204 207 212 216 224

Verantwortung Eine englische Erfindung Von der Banalisierung zum Versagen Die politische Verantwortung neu begründen Verantwortung als Rechenschaftspflicht Verantwortung als Verpflichtung gegenüber der Zukunft Reaktivität Zuhören und regieren: Lektion in regressiver Geschichte Polarisierung und Regression des staatsbürgerlichen Ausdrucks Die verkümmerte Demokratie Die Konfigurationen einer interaktiven Demokratie

IV Die Vertrauensdemokratie Die Figuren des guten Regierenden Der tugendhafte Fürst Der reine Mandatsträger Der homme-peuple Der Politiker aus Berufung Die Vertrauensperson Wahrsprechen Einige geschichtliche Elemente Utopien und Verrat Die Motive des Wahrsprechens Die Schlachten des Wahrsprechens Integrität Die drei Transparenzen Klärungsversuche Die Institutionen der Integrität Die Sanktionssysteme

Die zweite demokratische Revolution (Schluss) Institutionen und Akteure der Betätigungsdemokratie Funktionale Demokratie und Konkurrenzdemokratie Einen positiven Bezug zur Zukunft wiederfinden Bibliografie Namensregister

Zum Autor

227 228 234 239 240 245 251 251 258 265 267 271 273 273 277 281 286 290 293 294 300 305 309 317 319 327 330 333 341 342 347 348 351 373 377

Von einer Demokratie zur nächsten (Einleitung) Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht. Das ist der große Widerspruch, aus dem die heutige Ernüchterung und Ratlosigkeit resultieren. Deutlicher formuliert: Unsere Systeme werden in dem Sinne als demokratisch betrachtet, als die Macht aus einem Urnengang am Ende eines offenen Wettbewerbs hervorgeht und wir in einem Rechtsstaat leben, der sich zu den individuellen Freiheitsrechten bekennt und diese schützt. Demokratien, die zugegebenermaßen reichlich unvollkommen sind. Die Repräsentierten fühlen sich häufig von ihren nominellen Repräsentanten im Stich gelassen, und das Volk empfindet sich, sind die Wahlen erst einmal vorüber, als wenig souverän. Doch sollte diese Realität nicht über eine andere Tatsache hinwegtäuschen, die in ihrer Besonderheit noch unzureichend erkannt ist: die eines Schlechtregiertwerdens (mal-gouvernement), das unsere Gesellschaften bis in ihre Grundfesten zerrüttet. Die Politik mag durch Institutionen geregelt werden, die für ein bestimmtes System charakteristisch sind, sie ist zugleich aber auch Regierungshandeln, Alltagsmanagement des Gemeinwesens, Entscheidungsinstanz und Kommandostelle. Sie ist der Ort einer Machtausübung, die in der Sprache der Verfassungen »exekutive Gewalt« heißt. Mit ihr sind die Bürger unmittelbar in ihrem Alltag konfrontiert. Gleichzeitig hat sich das Gravitationszentrum des demokratischen Anspruchs unmerklich verschoben. War Letzterer über lange Zeit hinweg vor allem mit der Herstellung eines positiven Bezugs zwischen Repräsentanten und Repräsentierten verbunden, so ist mittlerweile das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten in den Vordergrund gerückt. Diese Verschiebung markiert noch keinen Bruch, solange sich weiter mit Nachdruck die Frage der Repräsentation stellt – im Übrigen ist ständig von einer »Krise der Repräsentation« die Rede 9

(dazu später mehr). Doch das Gefühl mangelnder Demokratie speist sich inzwischen offenkundig auch aus einer anderen Quelle. Demokratiedefizit bedeutet für die Bürger, nicht gehört zu werden, zusehen zu müssen, wie Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg gefällt werden, wie Minister sich ihrer Verantwortung entziehen, führende Politiker ungestraft lügen, die politische Elite in ihrer eigenen Welt lebt und nicht hinreichend Rechenschaft über ihr Tun ablegt, bedeutet, mit einem nach wie vor undurchschaubaren Verwaltungsbetrieb konfrontiert zu sein. Das Problem ist, dass diese Dimension der Politik nie als solche theoretisch erfasst wurde. Demokratie wurde stets als System verstanden, kaum jemals als spezifische Regierungsweise. Das äußert sich übrigens auch in der Tatsache, dass die Worte »System« und »Regierung« historisch gleichbedeutend waren.1 Die Frage konnte in der Tat zweitrangig erscheinen in der ersten historischen Form des demokratischen Systems, dem parlamentarisch-repräsentativen Modell, in dem die gesetzgebende Gewalt alle anderen überwog. Doch inzwischen ist die vollziehende Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt geworden und hat den Umschlag in ein präsidiales Regierungsmodell der Demokratien nach sich gezogen. War es in der Vergangenheit das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens (mal-représentation), das alle Kritiken bündelte, so ist mittlerweile auch das Gefühl des Schlechtregiertwerdens in Betracht zu ziehen. Das vorliegende Buch präsentiert eine Geschichte dieses Umschlags und der vorherigen Tendenz zur Ausblendung der vollziehenden Gewalt. Im Anschluss werden die Grundlagen einer demokratischen Theorie von Regierung formuliert.

Die Präsidialisierung der Demokratien Um das Problem zu erforschen, ist folgende Tatsache der Ausgangspunkt: Die Tendenz zur Präsidialisierung markiert seit etwa drei Jahrzehnten einen grundlegenden Einschnitt in Wesen und Form der De1

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Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Regierung und System eindeutig als Synonyme verwendet, der Begriff der Regierung erstreckte sich also gleichermaßen auf die Legislative wie die Exekutive. Der gängige Ausdruck »repräsentative Regierung« bezeichnete somit das, was ich im Folgenden die parlamentarisch-repräsentative Form des demokratischen Systems nennen werde.

mokratien. Diese Tendenz ist unmittelbar ersichtlich, denn die Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk beschreibt sie auf die einfachste und sinnfälligste Weise. Das politische Geschehen rund um die Welt erinnert ständig daran, welch eine zentrale Bedeutung ihr bei der Gestaltung des politischen Lebens der Völker zukommt. Aber gleichzeitig ist der damit vollzogene Bruch bisher nicht in seiner ganzen Tragweite erfasst worden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In den Demokratien neueren Datums, und sie stellen die Mehrheit – in Asien, Afrika, Lateinamerika, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und der arabischen Welt –, hat sich das Verfahren unreflektiert durchgesetzt, als vermeintlich logische Folge des Austritts aus despotischen Regimen und der Anerkennung der Volkssouveränität; ein Verfahren, dessen Fundiertheit offenbar keiner argumentativen Begründung bedurfte. Selbst dort, wo sich die stärksten antiliberalen Tendenzen bemerkbar machen – erwähnt seien, der Anschaulichkeit halber, Russland oder die Türkei –, denkt niemand daran, es infrage zu stellen. Die Präsidentschaftswahl wird in diesen neuen Demokratien gleichsam zum Ausdruck des allgemeinen Wahlrechts schlechthin. Auf älterem demokratischen Boden wird dieser Bruch, aus anderen Gründen, ebenfalls nicht wahrgenommen. In den Vereinigten Staaten, weil das Amt des Präsidenten bereits mit der Verfassung von 1787 eingeführt wurde und die Wahl zum Chef der Exekutive, obwohl sie formal immer noch zweistufig verläuft, seit nahezu einem Jahrhundert, seit der Einführung des Systems der Vorwahlen in den einzelnen Bundesstaaten, einer Direktwahl durch das Volk gleichkommt. Stets unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Prinzip der Gewaltenteilung, die das amerikanische System charakterisiert und ihm seine Besonderheit verleiht, die Vormachtstellung des Amtes begrenzt. Deshalb stellt sich bei den Amerikanern weniger das Gefühl eines tiefgreifenden Wandels2 als eines schleichenden Prozesses ein, innerhalb dessen Ereignissen wie der Krise der 1930er Jahre oder dem 11. September 2001 eine maßgebliche Rolle bei der Erweiterung des präsidialen Handlungsspielraums zukommt. Die Erfordernisse der Terrorismus2

Und das umso weniger, als sich die Verfassung inzwischen stabilisiert hat und die Verfahren zu ihrer Änderung mittlerweile nahezu unmöglich zusammenzubringen sind (vgl. Artikel V dieser Verfassung).

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bekämpfung, die das Land jüngst dazu veranlassten, sogar ein Abgleiten in Formen des Ausnahmezustands zu billigen, lassen eine Bereitschaft erkennen, die Exekutive in manchen Bereichen mit unbegrenzten Vollmachten auszustatten. In Europa wurde das allgemeine Wahlrecht überall vor mehr als einem Jahrhundert erkämpft. Es ging seinerzeit mit der Bildung repräsentativer Versammlungen einher und wurde, mit Ausnahme der Französischen Republik von 1848 und der Weimarer Republik von 1919, in seiner Frühphase nicht zur Wahl des Staatsoberhauptes verwendet. Das Besondere an der großen Mehrheit der europäischen Staaten ist, dass sie anschließend diesem ersten Stadium des demokratischen Prozesses verfassungsrechtlich treu blieben. Aus verschiedenen Gründen. Zunächst weil konstitutionelle Monarchien in vielen Ländern die demokratische Entwicklung dauerhaft begleiteten. So im Vereinigten Königreich, in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Dänemark, Schweden und Norwegen. Europa fungiert in dieser Hinsicht als regelrechtes Museum der im 19. Jahrhundert entstandenen liberaldemokratischen Institutionen. In diesen Monarchien war es nie eine Option, und wird es nie sein, den Chef der Exekutive, den Premierminister, per Direktwahl zu bestimmen. Denn das hieße, den der Krone zuerkannten Vorrang grundsätzlich infrage zu stellen. Er wird also stets als Führer der Partei oder der Koalition, die die Wahlen gewonnen und folglich die parlamentarische Mehrheit errungen hat, zum Träger dieses Amtes ernannt. Daneben ist der Fall der dem Nationalsozialismus oder Faschismus entronnenen Länder, Deutschland und Italien, zu beachten. Sie sind mit einem Staatspräsidenten versehen, doch wird dieser vom Parlament gewählt und hat eine rein repräsentative Funktion, während der Bundeskanzler bzw. Ministerpräsident von diesem Präsidenten gemäß der aus der Abgeordnetenwahl hervorgegangenen Mehrheit ernannt wird. Deutschland hatte es nach 1919 mit der Direktwahl des Reichspräsidenten versucht, was letztendlich in der Machtübernahme Hitlers endete, und Mussolini hatte 1925 eine Diktatur errichtet. Die Erinnerung an diese tragischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit veranlasste beide Länder nach 1945 zur Einführung der noch heute bestehenden Institutionen. Was die Länder Südeuropas betrifft, Spanien, Griechenland und Portugal – denen erst spät, nämlich in den 1970er Jahren, die Abkehr von der Diktatur ge12

lang –, so machten sie sich ebenfalls eine Sicht zu eigen, die man als »kontrollierte« Rückkehr zur Demokratie bezeichnen könnte. Spanien durch die Wiederherstellung der Monarchie, Griechenland durch die Einführung eines traditionellen parlamentarischen Systems, bei dem der Präsident vom Parlament gewählt wird, ohne aktives Oberhaupt der Exekutive zu sein. Portugal bildete die Ausnahme mit der Einsetzung eines direkt gewählten Präsidenten, der jedoch insofern eine besondere Position einnimmt, als sein Amt durch die Bedeutung der traditionellen liberalen Vorstellung einer vermittelnden Instanz definiert wird (in keinem anderen Land im 20. Jahrhundert wurde Benjamin Constant so intensiv als Quelle für die Gegenwart kommentiert!). Ist die Theorie von dieser Sicht beeinflusst, so war es gleichwohl die Praxis, die diesem Präsidenten ab 1976 eine besondere Stellung zuwies: Relativ zurückhaltend in normalen Perioden und engagierter in Krisenzeiten, ist seine Beziehung zur Regierung durch ausgiebigen Gebrauch seiner moralischen Autorität sowie seiner Legitimation durch den Wähler bestimmt. Die Staaten Osteuropas haben späterhin für das gleiche Modell optiert wie die Länder des Südens, indem sie sich nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks 1989 im Allgemeinen für premierministerielle Systeme3 entschieden (im Unterschied zu den eigentlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion). Auf je verschiedene Weise scheint Europa vom globalen Trend zur Präsidialisierung verschont geblieben zu sein. Mit der großen Ausnahme Frankreichs4 allerdings, von dem man umgekehrt behaupten kann, dass es 1962, mit der per Volksabstimmung eingeführten Direktwahl des Staatspräsidenten, die Geschichte des modernen Präsidialismus begründet hat. Tatsächlich stellte Frankreich ein verallgemeinerbares Modell der Präsidialisierung bereit, während Amerika eine aus der Vergangenheit stammende, nicht auf das 20. Jahrhundert übertragbare verfassungsrechtliche Variante verkörperte.5 Diese seinerzeit 3 4 5

Auch wenn mit Ausnahme Ungarns ihre Staatspräsidenten aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgehen. Und den kleineren Ausnahmen Finnlands (1988), Irlands (1938) und Österreichs (1951), da der Präsident in diesen Ländern nicht wirklich das Oberhaupt der Exekutive ist. Die Besonderheit des amerikanischen Modells beruht auf der Ernennung von Wahlmännern auf bundesstaatlicher Ebene nach je spezifischen Regeln. Das auf

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von den Wählern weithin angenommene, aber von der politischen Klasse lange argwöhnisch beäugte Präsidialisierung der Demokratie trägt in Frankreich nach wie vor Züge einer verfassungsrechtlichen Lösung mit als hoch empfundenem Gefahrenpotenzial. Dieser Verdacht nährt sich aus der Erinnerung an einen Cäsarismus, der seines Antiliberalismus wegen abgelehnt wurde, ohne dass die Gründe reflektiert worden wären, die ihn in den Augen eines Großteils der Bevölkerung als eine Erfüllung des demokratischen Ideals erscheinen ließen. Deshalb ist diese Präsidialisierung im französischen Verständnis häufig eine »unumgängliche, aber problematische« Figur geblieben, sie wird als Nationalkrankheit begriffen, von der man kuriert werden müsse, nicht als erster Entwurf einer neuen demokratischen Form.

Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive Jenseits dieser zumeist historisch bedingten Unterschiede gilt es, das Ausmaß der Tatsache zu erkennen, dass die Präsidialisierung der Demokratien nur die Folge eines tiefer reichenden politischen Wandels ist: des Erstarkens der vollziehenden Gewalt. Denn darin liegt die Ursache der Präsidialisierung: die Gewalt schlechthin, wenn man von ihr im Singular sprechen will, ist fortan die vollziehende Gewalt. Unmittelbar und ununterbrochen tätig, ganz und gar eins mit den Entscheidungen, die sie täglich trifft, permanent in Erscheinung tretend, ist sie diejenige Gewalt, von der die Bürger erwarten, dass sie die Bedingungen ihres beruflichen und privaten Lebens positiv gestaltet. Sie verlangen also von ihr, dass sie sowohl tatkräftigen Einsatz zeigt als auch für ihre Handlungen einsteht.6 Daher die Tendenz zur Polarisierung und Personalisierung der vollziehenden Gewalt. Wenn auch die Präsidialisierung im formalen Sinne – als Direktwahl des Staatsoberhauptes – nicht überall vollzogen wurde, ist das mit der Herrschaft der Exekutive verbundene Phänomen der Polarisierung/Personalisierung gleichwohl universell. Politologen konnten folglich von »versteckten Wahlen«

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diese Weise zustande gekommene Wahlmännergremium wählt den Präsidenten. Aus diesem zweistufigen Verfahren ergibt sich, dass möglicherweise nicht derjenige gewählt wird, der die meisten Wählerstimmen im Land erhalten hat. Die Bedingungen dieses Aufstiegs der Exekutive zur zentralen Größen werden in Teil 1, Kapitel 3, erörtert.

sprechen, um das Ernennungsverfahren der Premierminister im alten Europa zu charakterisieren.7 Es hat also sehr wohl ein globaler Wandel der Demokratien stattgefunden, unabhängig davon, wie dieser sich in den Verfassungen niederschlägt. Um dieses Phänomen adäquat zu erfassen, ist es notwendig, die regierenden Organe in den Blick zu nehmen, jenseits der alleinigen Betrachtung des Präsidentenamtes, auch wenn dieses in den meisten Ländern den Dreh- und Angelpunkt bildet. Diese Organe sind das aktive Zentrum der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie. Der Begriff »vollziehende Gewalt«, obwohl nach wie vor verwendet, entspricht nicht mehr wirklich dem neuen Status dieser Organe, mit der Konnotation mechanischer Passivität, die ihm historisch lange anhaftete. Selbst die gesetzgebende Gewalt ist, wie wir im Folgenden hervorheben werden, de facto zu einer untergeordneten Größe der regierenden Funktion geworden. Man muss diese Regierungsorgane also als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen. Die Vorherrschaft dieser regierenden Funktion erscheint heute derart evident, dass die Feststellung eines solchen Umschlags kaum noch Aufmerksamkeit erregt. Doch wenn man sie mit dem Blick des Historikers betrachtet, wird man unweigerlich konstatieren müssen, dass es sich um eine komplette Umkehrung der Perspektive im Vergleich zur Ursprungsvision der modernen Demokratien handelt, wie sie sich insbesondere in der Amerikanischen und der Französischen Revolution artikulierte. Die These, die diesem Buch zugrunde liegt, lautet, dass wir uns mangels einer klaren Analyse dieses Paradigmenwechsels schwertun, die wahren Ursachen der gegenwärtigen Desillusionierung zu verstehen und folglich die Bedingungen eines neuen demokratischen Fortschritts zu bestimmen.

Das parlamentarisch-repräsentative Modell Kehren wir zum parlamentarisch-repräsentativen Modell, dem historischen Modell der Demokratien, zurück. Die Begründer der ersten Verfassungen in Amerika und Frankreich zielten darauf ab, dieses Modell zu definieren. Es baute auf zwei Prinzipien auf: Herrschaft des 7

Vgl. Teil 2, Kapitel 2.

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Rechts und Entstehung eines gesetzgebenden Volkes.8 Herrschaft des Rechts, weil Letzteres als Medium einer wesentlich nicht dominanten Macht verstanden wurde: der unpersönlichen Regel. Denn Unpersönlichkeit galt als höchste aller politischen Eigenschaften, liberal und demokratisch in einem. Eine Macht konnte nur unter der Bedingung gut sein, dass sie Ausdruck dieser Unpersönlichkeit war. Auf diese Weise äußerte sich im Denken des späten 18. Jahrhunderts zuerst der Bruch mit dem Absolutismus, der seinerseits mit der strukturell willkürlichen Macht eines Einzelnen gleichgesetzt wurde. Dieses grundlegende Merkmal unterstreicht an sich schon den Unterschied zu dem auf Personalisierung beruhenden präsidialen Regierungsmodell. Entstehung eines gesetzgebenden Volkes, weil das Volk fortan als Ausgangspunkt aller Gewalten anerkannt wurde. Man bezeichnete es in Amerika als »Quelle der Macht« (fountain of power) und in Frankreich als »Souverän«. Das Gesetz konnte in diesem Sinne als »Ausdruck des allgemeinen Willens« gelten, wie es in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt, die diesbezüglich ausführt, dass »alle Bürger das Recht haben, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken« (Artikel 6). Die Zentralgewalt war also die Legislative, während die Exekutive als sekundär angesehen wurde, sowohl hinsichtlich dieses Primats als auch der Begrenztheit der staatlichen Handlungssphäre zu jener Zeit. Die Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen für die gesetzgebende Gewalt bildete folglich den Kernpunkt der Debatte über die Einführung der Demokratie im 18. und 19. Jahrhundert und die Art der repräsentativen Beziehung die zentrale Frage. In diesem Zusammenhang konzentrierte sich das damalige Bemühen um einen Ausbau der Demokratie auf drei große Themenbereiche. Zunächst den der Demokratisierung der Wahlen. Beispielsweise durch Verringerung des Einflusses der Apparate und Seilschaften auf die Wahlmöglichkeiten der Bürger. Im Frankreich von 1848 und unter dem Zweiten Kaiserreich etwa wehrten sich Arbeitergruppen vehement gegen die Dominanz von Rechtsanwälten und Journalisten in den Wahlkomitees. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm dieses 8

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Über die Entstehungsbedingungen dieses Modells und die Details seiner Konstituierung vgl. den ersten Teil, Kapitel 1 und 2.

Ziel in Amerika die Form einer letztlich siegreichen Kampagne der Progressiven zur Einführung des Vorwahlsystems und zur Zurückdrängung des Einflusses der strippenziehenden Bosse an. Sehr viel weniger erfolgreiche Schlachten wurden um die Begrenzung der Ämterhäufung und der Mandatsdauer geschlagen, und auch die Einführung des imperativen Mandats war im 19. Jahrhundert ein häufig wiederkehrendes Thema.9 Obwohl in striktem Widerspruch zur klassischen Doktrin des Parlamentarismus, die auf dem Prinzip der Unabhängigkeit von Repräsentanten und Repräsentierten beruhte,10 gewann die Idee indirekt an Boden über die Formulierung von Programmen oder Plattformen, die, ohne juristisch bindend zu sein, gleichwohl die Anerkennung einer gewissen Abhängigkeit der Gewählten von den Wählern implizierten. In eine zweite Richtung ging die Suche nach Wegen einer verbesserten Repräsentativität der Gewählten, und zwar im Sinne der Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen: Das war der Ausgangspunkt für die Bildung von Klassenparteien (das Thema einer »gesonderten Vertretung der Proletarier« war bereits in den 1830er Jahren in Europa aufgetaucht). Die Idee einer proportionalen Vertretung sorgte ihrerseits um die Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Mobilisierung der Kräfte, um die »Ausdrucksfunktion« des Parlaments zu erhöhen, wie man in Großbritannien sagte, wo die Bewegung zuerst theoretisch formuliert wurde und den Schauplatz der intensivsten politischen Kampagnen bildete. 9 Ein Ziel, das auf den europäischen Arbeiterkongressen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ständig bekräftigt wurde, zu einer Zeit, als das allgemeine Wahlrecht gerade erst errungen worden war. Siehe für Frankreich die exemplarischen Formulierungen von Ernest Roche: »Solange das imperative Mandat nicht existiert, kann der Volksvertreter, selbst der proletarische, der bis zur Wahl so bescheiden und gefügig war, zu einem unerbittlichen Herrn und Tyrannen werden« (Roche, Séances du Congrès ouvrier socialiste de France, S. 590). 10 Mit dem Argument, dass die Repräsentanten handlungsunfähig wären, wenn die Umstände, auf denen ihr Mandat basierte, sich ändern würden. Deshalb war eine der ersten Entscheidungen der gesetzgebenden Versammlung von 1789, das imperative Mandat zu verbieten. Ohne dieses Verbot wäre es in der Tat nicht möglich gewesen, mit dem anfänglichen Prozedere der Generalstände zu brechen. Und die Möglichkeit, Positionen aufgrund der Dynamik der Debatten zu verändern, wäre ebenfalls nicht gegeben gewesen.

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Ein dritter Themenschwerpunkt bezog sich auf die Einführung von Volksabstimmungen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entzündete sich in Europa eine große Debatte an der Direktgesetzgebung durch das Volk. Amerikanische Progressive, deutsche und französische Sozialisten, Erben des Bonapartismus, sie alle machten sich für das Thema stark. Selbst konservative Stimmen, vor allem in Großbritannien, mischten sich in den Chor, in der Annahme, dass es unter gewissen Umständen ein nützliches Sicherheitsventil darstellen könne, dem Volk ein Vetorecht einzuräumen. Diese verschiedenen, der parlamentarisch-repräsentativen Perspektive zugehörigen Sichtweisen des demokratischen Fortschritts zeichneten sich bereits zuzeiten der Französischen Revolution ab, während bereits ab Herbst 1789 bissige Kritiken an der »Vertreteraristokratie« laut wurden. Es mag verblüffend sein festzustellen, dass es zwei Jahrhunderte später immer noch dieselben drei großen Problembereiche sind, die vielfach die Unduldsamkeiten und die Erwartungen an einen demokratischen Fortschritt heraufbeschwören. Mit gewissen Anpassungen natürlich. Die Vertretung von Minderheiten oder das Thema der Geschlechterparität haben beispielsweise das Projekt einer Klassenrepräsentation in den Hintergrund gedrängt. Doch ansonsten ist die Kontinuität erstaunlich. Allein die Idee des Losentscheids stellt eine Innovation dar. Doch läuft sie im Kern auf nichts anderes hinaus, als die Wahlen durch ein Selektionsverfahren zu ersetzen, das geeigneter erscheint, die Repräsentativität der Institutionen zu erhöhen, und somit dem parlamentarisch-repräsentativen Paradigma verpflichtet bleibt.11 Und auch das Konzept der partizipativen Demokratie gehört im Wesentlichen dem gleichen Raum der Vervollkommnung/Überwin11 Allerdings wurde der Losentscheid, wie zu betonen ist, nie für exekutive Funktionen vorgeschlagen. Und zwar aus einem einfachen Grund: Der Losentscheid würdigt die Kategorie des X-Beliebigen (die den Umfang einer statistischen Stichprobe annehmen kann) und fällt als solcher in die Rubrik der repräsentativ-abbildenden Verfahren, während die Ausübung von Regierungsfunktionen von vornherein Kompetenzen verlangt, es sich also um eine distinktive Wahl handelt. Der Losentscheid eignet sich somit zur Bildung eines Bürgerforums oder einer Meinungsgruppe, wobei die technischen Formen des Vorgangs variieren können, je nach Größe und Zusammensetzung der Populationen, aus denen gelost wird.

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dung der repräsentativen Demokratie an. In all diesen Fällen werden Art und Eigenschaft der Repräsentationsbeziehung sowie die Möglichkeit direkter Bürgerbeteiligung als die zentralen Elemente des demokratischen Ideals begriffen.

Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten Im Zeitalter der dominierenden Exekutive liegt der Schlüssel zur Demokratie in den Voraussetzungen ihrer Kontrolle durch die Gesellschaft. Folglich wird das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten zum entscheidenden Faktor. Das Ziel kann nicht das einer unmöglichen Selbstregierung sein (auch wenn das Ideal des gesetzgebenden Volkes Sinn macht), solange der Begriff »Regierung« eine funktionale Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt.12 Vielmehr geht es darum, dieses Verhältnis auf das strikt Funktionale zu begrenzen, indem man die Bedingungen eines Regierungshandelns festlegt, unter denen es für die Bürger nutzbar ist und zu keiner Herrschaftsinstanz, keiner von der Gesellschaft entkoppelten oligarchischen Macht wird. Das Problem ist, dass die einzige Lösung, die bisher für diese Anforderung gefunden wurde, sich auf die Wahl des Oberhaupts dieser Exekutive beschränkt. Allerdings wird auf diese Weise lediglich eine Genehmigungsdemokratie installiert, eine Lizenz zum Regieren erteilt. Nicht mehr und nicht weniger. Was nicht genügen kann, solange wir auf der Welt gewählte Präsidenten erleben, die weit davon entfernt sind, sich als Demokraten zu verhalten. Wenn man auch davon ausgehen kann, dass die Wahl sich unter gewissen Umständen eignet, das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten angemessen wiederzugeben,13 so gilt für das Verhältnis von Regierenden und Regierten nicht das Gleiche. Dieser Punkt ist wesentlich. Historisch gesehen ging es bei der Ernennung eines Repräsentanten grundsätzlich darum, eine Identität zum Ausdruck zu bringen oder ein Mandat zu übertragen, alles Dinge, die im Idealfall durch den Wahlakt gewährleistet werden konnten. Letzterem wurde in 12 Genau dieser entscheidende Punkt wird in Teil 3, Kapitel 1 behandelt. 13 Das ist zumindest das ihr theoretisch zugewiesene Ziel, wie Bernard Manin in Erinnerung ruft: »Die zentrale Institution der repräsentativen Demokratie sind die Wahlen« (Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, S. 14).

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der Tat zugetraut, den Repräsentanten in seiner immanenten Qualität und Funktionalität zu begründen, einschließlich der Vorstellung von Permanenz, die dieser Begriff impliziert. Während die Wahl eines Regierenden nur seine institutionelle Position legitimiert und ihm keinerlei Qualität verleiht. Die »demokratische Leistungsfähigkeit« einer solchen Wahl ist insofern geringer als die der Wahl eines Repräsentanten.14 Daher in diesem Fall die zwingende Notwendigkeit, die Genehmigungsdemokratie um eine Betätigungsdemokratie zu erweitern. Letztere hat die Aufgabe, die von den Regierenden erwarteten Eigenschaften zu ermitteln sowie die organisatorischen Regeln ihres Umgangs mit den Regierten festzulegen. Die Errichtung einer solchen Demokratie ist das, worum es fortan im Wesentlichen geht. Und ihr Versagen stellt die Weichen dafür, dass die Wahl eines Exekutivoberhaupts in ein illiberales, wenn nicht in manchen Fällen diktatorisches Regime mündet. Unsere Gegenwart ist voller Beispiele dieser Art, die erstmals durch den französischen Cäsarismus des 19. Jahrhunderts veranschaulicht wurde. Die mörderischen und destruktiven Pathologien des 20. Jahrhunderts waren, neben den Totalitarismen, solche der Repräsentation. Es handelte sich um Mächte, die für sich in Anspruch nahmen, die strukturellen Aporien und Unzulänglichkeiten des Repräsentativsystems durch eine vollkommene Verkörperung der Gesellschaft überwunden zu haben, und ihren Absolutismus aufgrund dieser Deckungsgleichheit für legitim erachteten. Diese alten Pathologien existieren natürlich nach wie vor. Doch sind die neuen Pathologien des 21. Jahrhunderts von anderer Art. Sie resultieren nunmehr aus der Verkürzung der regierenden Demokratie auf ein bloßes Genehmigungsverfahren. Wenn es eine Krankheit des Präsidialismus gibt, dann ist es diese Atrophie.15 Es ist das Hauptanliegen dieses Buches, die Merkmale dieser Betätigungsdemokratie zu definieren. Sie umschreibt, wonach heute in vie14 Auch aufgrund der Tatsache, dass die Wahl von Repräsentanten stets eine plurale ist: Es wird eine Versammlung von Repräsentanten gewählt. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. 15 Was manchen erlaubt, sich im Sinne einer positiven Provokation »gegen Wahlen« auszusprechen (vgl. Van Reybrouck, Contre les Elections).

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len Bereichen der Zivilgesellschaft und in Aktivistenkreisen auf sehr allgemeine und unbestimmte Weise gesucht wird, mit dem Propagieren von Forderungen wie der nach Transparenz, dem Appell zum Aufbau einer Internetdemokratie bzw. der Bezugnahme auf das Konzept der offenen Regierung, um nur einige Schlagworte aufzugreifen, die derzeit allenthalben zu hören und zu lesen sind. Die vorliegende Studie beabsichtigt, diese Bestrebungen und Reflexionen zu ordnen, indem zwischen den von den Regierenden verlangten Eigenschaften und den organisatorischen Regeln im Umgang zwischen Regierenden und Regierten unterschieden wird. Sie bilden zusammengenommen die Prinzipien einer Betätigungsdemokratie als guter Regierung. Dieses Werk unterteilt die Erforschung ihrer Grundelemente in zwei Rubriken. Zunächst das Verständnis der Prinzipien, die den Beziehungen von Regierenden und Regierten in einer Demokratie zugrunde liegen sollten. Derer werden drei angeführt: Lesbarkeit, Verantwortlichkeit und Reaktivität (ein Begriff, der noch am ehesten dem englischen responsiveness entspricht). Diese Prinzipien zeichnen die Umrisse einer Aneignungsdemokratie. Ihre Implementierung würde es dem Bürger ermöglichen, auf direktere Weise die demokratischen Funktionen auszuüben, die die parlamentarische Macht lange für sich vereinnahmte. Sie tragen auch voll und ganz der Tatsache Rechnung, dass die Macht kein Ding, sondern eine Beziehung ist, und dass es folglich die Merkmale dieser Beziehung sind, die die Differenz zwischen einer Herrschaftssituation und einer rein funktionalen Unterscheidung ausmachen, innerhalb derer sich eine staatsbürgerliche Form von Machtaneignung vollziehen kann. Es folgt die Benennung der persönlichen Eigenschaften, die erforderlich sind, um ein »guter Regierender« zu sein – Eigenschaften, die nicht deshalb erfasst werden, um ein idealisiertes Phantombild zu zeichnen, als Summe aller Talente und aller Tugenden, sondern um eine präzisere Vorstellung von jenen Eigenschaften zu gewinnen, die notwendig sind, um ein Vertrauensverhältnis zwischen Regierenden und Regierten zu etablieren und so eine Vertrauensdemokratie zu begründen. Vertrauen gilt in diesem Sinne als eine jener »unsichtbaren Institutionen«, deren Vitalität im Zeitalter der personalisierten Demokratien von entscheidender Bedeutung ist. Wir werden unsere Untersuchung hauptsächlich auf zwei Eigenschaften konzentrieren: Integrität und Wahrsprechen. 21

Der Aufbau einer Vertrauensdemokratie und der einer Aneignungsdemokratie sind die beiden Schlüssel des demokratischen Fortschritts im Zeitalter der präsidialen Regierungsform. Diese Prinzipien der guten Regierung dürfen allerdings nicht allein auf die verschiedenen Instanzen der Exekutive beschränkt bleiben. Sie müssen sich auf den ganzen Komplex der nicht gewählten Institutionen mit regulativer Funktion (die unabhängigen Behörden), die verschiedenen Ebenen der Justiz und den gesamten öffentlichen Dienst erstrecken. Denn es handelt sich um Personen und Institutionen, die irgendeine Form von Befehlsgewalt über andere ausüben und damit zu den regierenden Organen gehören.

Niedergang und Neudefinition der Parteien Die politischen Parteien waren jene Organisationen, die im Rahmen des parlamentarisch-repräsentativen Demokratiemodells die Hauptrolle spielten. Mit dem Aufkommen des allgemeinen (zunächst auf Männer beschränkten) Wahlrechts trugen sie zur Meinungsbildung durch Kanalisierung der Meinungsvielfalt bei. Sie waren eine Organisationsinstanz der »Vielen«, wie man im 19. Jahrhundert sagte. Insbesondere lenkten sie durch den Mechanismus der Kandidatenkür die Wahlkämpfe in geordnete Bahnen. Parallel dazu strukturierten sie den Parlamentsbetrieb durch die Bildung disziplinierter Gruppen, die direkt oder über ein System von Bündnissen das Zustandekommen von Mehrheiten ermöglichten. Mittels dieser beiden Funktionen vollzogen sie den Bruch mit der alten Welt der Honoratiorennetzwerke, die in der Ära des Zensus- oder zweistufigen Wahlrechts die Politik und das Parlament beherrscht hatten. Zugleich waren die Parteien in zunehmenden Maße Massenorganisationen. Jenseits ihres funktionalen Bezugs auf Wahlen und Parlamente spielten sie auch eine Rolle im Bereich der sozialen Repräsentation. Sie sprachen für Klassen und formulierten Ideologien, das heißt, sie brachten Interessen und Visionen der Gesellschaft und ihrer Zukunft zum Ausdruck. Mit ihnen wurde das parlamentarisch-repräsentative System seiner Definition voll und ganz gerecht. Gleichwohl sorgte ihre bürokratisch-hierarchische Dimension schon früh für heftige Kritik. In Frankreich wurden bereits 1848, anlässlich der ersten allgemeinen und direkten Wahlen, Stimmen laut, die sich gegen ihre ers22

ten noch embryonalen Erscheinungsformen wandten (es handelte sich um Wahlkomitees, die Kandidatenlisten erstellten). »Das erste Mal, dass ihr euer politisches Recht ausübt«, wetterte beispielsweise eine der großen Stimmen der Epoche, »versammelt man euch ungefragt, man drückt euch eine Liste in die Hand, die ihr weder diskutieren noch überhaupt habt lesen können, und sagt euch im Befehlston: Werft das in die Urne. Man macht euch zu einer Wahlmaschine.«16 Mit größerer Strenge und auch Härte wurde den Parteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts von zahlreichen Autoren der Prozess gemacht, insbesondere in zwei Grundlagenwerken der Politikwissenschaft, La Démocratie et les partis politiques von Moïseï Ostrogorski (1902), bezogen auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien, und Zur Soziologie des Parteiwesens von Robert Michels (1911), das sich der deutschen Sozialdemokratie widmete. Diese Studien zeigten, wie über das Parteienwesen aristokratische Formen in der Demokratie automatisch wiederaufleben. Die erste legte den Schwerpunkt auf die Verwandlung von Parteien in »Maschinen«, die in den Händen von Berufspolitikern zur Verselbstständigung tendieren, während die zweite die Art und Weise analysierte, wie aus diesen Politikern eine Oligarchie neuen Typs entsteht. Daher die stark zwiespältigen Gefühle ihnen gegenüber. Doch ungeachtet solcher Trägheitsmomente und der daraus potenziell resultierenden Formen der Apparateherrschaft über die Bürger, die sicherlich je nach Gruppierung unterschiedlich ausfielen, mit einer extremen Zuspitzung des Phänomens durch die kommunistische Disziplin, ist zugleich unbestreitbar, dass die Parteien bis dahin politikfernen Bevölkerungsgruppen eine Stimme, ein Gesicht und einen Zugang zum Forum der Öffentlichkeit verschafft haben. Die Parteien mussten mitansehen, wie diese letztere Repräsentativfunktion ab den 1990er Jahren allmählich erodierte, um schließlich ganz zu verschwinden. Aus zwei Gründen. Der erste und offensichtlichste ergibt sich aus der Tatsache, dass die Gesellschaft selber undurchsichtiger, in mancherlei Hinsicht sogar unlesbar und folglich schwerer repräsentierbar geworden ist als die einstige Klassengesellschaft mit ihren klaren Konturen und Merkmalen. Denn wir sind in ein neues Zeitalter eingetreten, das des Individualismus der Singulari16 Lamennais, »Aux ouvriers«, 24. April 1848.

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tät,17 das durch eine komplexer und heterogener werdende soziale Welt charakterisiert ist sowie durch die Tatsache, dass der Einzelne mittlerweile ebenso von seiner persönlichen Lebensgeschichte wie seiner sozialen Stellung geprägt wird. Die Gesellschaft zu repräsentieren, setzt in diesem Sinne voraus, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeitalter eines Innovationskapitalismus, der die Nachfolge des Organisationskapitalismus angetreten hat, zu beschreiben und gleichzeitig den das individuelle Leben bestimmenden Situationen, Belastungen, Ängsten und Erwartungen gesellschaftlich Rechnung zu tragen. Die Unsichtbarkeit des Sozialen rührt heute von diesen beiden Realitätsebenen her. Die alten Parteien besaßen, gerade aufgrund ihres Massencharakters, ein identitär zu nennendes Repräsentationsvermögen. Das haben sie heute eingebüßt. Und zwar auch deshalb, weil die Repräsentation der Gesellschaft sich in der neuen sozialen Welt grundlegend verändert hat. Um die Wahrheit dieser Welt in ihrer ganzen Komplexität wiederzugeben, muss sie künftig über eine »narrative« Dimension verfügen, die die Parteien nicht auszubilden vermögen. Gleichzeitig haben sich Letztere von der Lebenswelt entfernt, und ihre mit abstrakten Kategorien und Begriffen durchsetzte Sprache, die nicht mehr mit dem konkreten Erleben der Menschen verbunden ist, stößt inzwischen oft auf taube Ohren. Die soziologisch zu nennenden Wurzeln dieses neuen Zeitalters defizitärer Repräsentation sind inzwischen besser erforscht, und ich selbst habe mehrere Werke publiziert, die sich mit der Klärung dieser Frage beschäftigen.18 Ein weiterer, unauffälligerer, aber für das Anliegen dieses Buches wichtiger Faktor hat ebenfalls massiv zum Niedergang der Parteien beigetragen: ihr Wechsel auf die Seite der regierenden Funktion. Sie begreifen sich nicht mehr als Schnittstellen, als Vermittler zwischen der Gesellschaft und den politischen Institutionen. Zunächst, weil die Parlamente selbst keine repräsentativen Instanzen oder treibenden Kräfte bei der Erarbeitung und Vorlage von Gesetzesentwürfen mehr sind; letztere Aufgabe ist heute weitestgehend der Exekutive vorbehalten. Vor allem jedoch, weil die Hauptfunktion der Parlamente heute mehr17 Vgl. diesbezüglich Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen. 18 Angefangen mit: Rosanvallon, Le Peuple introuvable; und ders., La Question syndicale.

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heitlich darin besteht, die Regierungen zu unterstützen oder, was oppositionelle Fraktionen angeht, sie zu kritisieren, bis sie ihrerseits deren Platz einnehmen. Die Parteien sind folglich zu Hilfstruppen des Exekutivbetriebs geworden,19 sie führen den Kampf darum, der Macht eine fortdauernde Legitimation zu sichern oder im Gegenteil durch den Nachweis der verhängnisvollen Auswirkungen ihrer Politik auf ihre Niederlage bei den nächsten Wahlen hinzuarbeiten. Sie vertreten faktisch mehr die Logik der Regierungen gegenüber den Bürgern als die der Bürger gegenüber den Regierungen. Auch wenn die Abgeordneten nach wie vor in ihren Wahlkreisen gewählt werden, sind sie doch nur noch am Rande deren Vertreter, in der Hauptsache sind sie mit rein politischen Aufgaben betraut.20 Sie bilden fortan die beherrschte – da relativ passive – Fraktion der regierenden Oligarchie. Abgesehen von den sozialen Entdifferenzierungs- und Bürokratisierungsprozessen der Parteistrukturen ist dieses Abgleiten in die Exekutive der Grund für die zunehmende Entkoppelung der politischen Führungskräfte von der Gesellschaft und ihre Professionalisierung, die sie zu reinen (männlichen und weiblichen) Vertretern des Apparates macht.21 Ihre »Realität« wird identisch mit der Binnenperspektive der Politik, dem Leben der Strömungen, der Kongresse, der parteiinternen Schlachten, die das Kräfteverhältnis bestimmen, aus dem die Regierenden hervorgehen. Gleichzeitig reduziert sich der Aktivismus der Parteien auf das Führen von Wahlkämpfen, mit der Präsidentschaftswahl als Dreh- und 19 Die aufschlussreichsten Arbeiten zu diesem einschneidenden Wandel sind die von Peter Mair. Siehe: ders., Representative versus Responsible Government, und sein posthumes Werk: Ruling the Void Diese letzteren Arbeiten scheinen mir eine Radikalisierung seiner bahnbrechenden Theorie der »Kartellpartei« zu sein, die er in den 1990er Jahren zusammen mit Richard Katz formulierte (Katz, »Changing Models of Party Organization and Party Democracy«). Für eine empirische Überprüfung dieser Theorie vgl. Aucante/Dézé (Hg.), Les Systèmes de partis dans les démocraties occidentales. 20 In dieser Form kehrt die alte organische Repräsentationsvorstellung der französischen Revolutionäre oder die Edmund Burkes zurück. Allerdings geht es nicht mehr darum, durch die Erarbeitung von Gesetzen etwas »für die Nation zu wollen«. Das Funktionale ist mittlerweile Aufgabe der Exekutive. 21 Dieser Einschnitt ist in Frankreich besonders ausgeprägt, weil hier die politische Klasse, als Einheit betrachtet, häufig denselben Elitehochschulen entstammt.

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Angelpunkt, die das ganze übrige politische Leben beherrschen. Wegen des Rückzugs der Parteien auf eine untergeordnete Regierungsfunktion befindet sich die Zahl »gewöhnlicher«22 Mitglieder fast überall im freien Fall. Dennoch kommen sie lediglich unter dem utilitaristischen Gesichtspunkten den Vorwahlen (wo solche existieren) auf den Gedanken, sich auf diese Basis zurückzubesinnen, weil ihre Kontrolle in diesem Kontext ein entscheidendes Kapital darstellt. Aus welchem Blickwinkel man die demokratische Funktion der Parteien auch betrachtet, man gelangt zu dem Schluss, dass sie fortan auf das alleinige Funktionieren der Genehmigungsdemokratie beschränkt sind. Da die Parteien die Repräsentationsfunktion de facto aufgegeben haben, muss sie nun über andere Kanäle mit Leben erfüllt werden. Diese werden notgedrungen vielfältig sein, ob es nun darum geht, narrative Repräsentationsformen zu entwickeln oder über Verbände und Vereine, die in verschiedenen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens tätig sind, »gesellschaftliche Probleme zu repräsentieren«. Hier ist eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, um das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens zu überwinden, das ständig an unseren Demokratien nagt und sie für die Sirenen des Populismus empfänglich macht. In Le Parlement des invisibles23, dem Gründungsmanifest des 2014 gestarteten Projekts »Raconter la vie«24, habe ich Analyse- und Aktionswerkzeuge vorgeschlagen, um zur Wiederbelebung einer »postparteilichen« Repräsentation zu gelangen.

Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen Die zu Hilfsstrukturen der Regierungsorgane gewordenen Parteien sind folglich nicht in der Position, eine positive Rolle bei der demokratischen Gestaltung des Verhältnisses der Regierenden zu den Regierten zu spielen. Das ist offenkundig, wenn sie an einer Machtkoalition teilhaben, aber ebenso deutlich, wenn sie sich in der Oppositionsrolle befinden und die amtierende Regierung kritisieren. Denn ihre Interven22 Darunter sind Mitglieder »aus Überzeugung« zu verstehen, die man denjenigen Mitgliedern gegenüberstellen kann, die direkt oder indirekt am politischen System partizipieren. 23 Rosanvallon, Le Parlement des invisibles. 24 Vgl. www.raconterlavie.fr [29. 4. 2016].

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tionen verfolgen weit mehr den Zweck, die Macht zurückzuerobern, als die Fähigkeiten der Bürger zu erweitern, selbst wenn sie oft gebetsmühlenhaft einen vermehrten Rückgriff auf Volksabstimmungen anmahnen.25 Zudem richtet sich ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf das Verhältnis der Regierung zum Parlament, dessen aktiver Bestandteil sie sind.26 In diesem Kontext sind jenseits dieser längst von der wirklichen Welt entkoppelten Organisationen neue politische Formen entstanden. Parteien, die ungeachtet ihrer Beteiligung an Wahlen einen stark partizipativen Charakter zu bewahren versuchen, wie Podemos in Spanien, um nur ein Beispiel zu nennen (mit einem sehr charismatischen Führer an der Spitze, wie allerdings gleichzeitig anzumerken ist); Protestbewegungen neuen Stils, wie die Indignados, die zu Beginn der 2010er Jahre in verschiedenen Ländern auftauchten, oder auch Occupy Wall Street, die sich 2011 als »führerlose Widerstandsbewegung« definierte und beabsichtigte, für die 99 Prozent einer Bevölkerung zu sprechen, die nicht mehr bereit waren, die Gier und Korruption des 1 Prozent zu tolerieren, sowie spektakuläre Massenmobilisierungen auf verschiedenen Plätzen der Hauptstädte dieser Welt, die zum Sturz verhasster Regime führten. Auf diese unterschiedlichen Arten vollzogen sich eine Wiederbelebung des Protest- und Repräsentationsmilieus und eine Reaktivierung des Konzepts eines demokratischen Forums, die von den Medien und den politischen Analysten ausgiebig kommentiert wurden. Parallel dazu bildete sich ein anderer Komplex neuartiger ziviler Initiativen heraus, die in den englischsprachigen Ländern good government organizations getauft wurden. Das Ziel dieser Initiativen ist es nicht, »die Macht zu ergreifen«, sondern sie zu überwachen und zu kontrollieren. Weniger im Fokus der Medien stehend als die oben genannten Bewegungen, setzen sie sich mittlerweile auf allen fünf Kontinenten dafür ein, die Regierenden zu zwingen, Rechenschaft abzulegen, die Wahrheit zu sagen, den Bürgern zuzuhören, sich 25 Womit im Übrigen vorausgesetzt ist, dass die Wahl die privilegierte, wenn nicht die einzige Form des demokratischen Ausdrucks bleibt. 26 In diesem Rahmen sind die Parteien vor allem Hüter bestimmter parlamentarischer Vorrechte und setzen sich ansonsten für eine Stärkung der Rechte der Opposition ein, was einen unbestreitbaren demokratischen Nutzen hat.

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auf verantwortungsvolle Weise zu verhalten, den undurchsichtigen Schleier zu lüften, hinter dem sie sich häufig verbergen, und erschließen so dem Bürgerengagement ein neues Feld. Das vorliegende Buch entwirft einen konzeptuellen Gesamtrahmen, der es ermöglicht, über die Rolle derartiger Organisationen und die Experimente auf diesem neuen Feld sowie die ihnen entsprechenden Erwartungen Aufschluss zu geben. Es zielt ferner darauf ab, sie in den Kontext einer erweiterten, auf Regierungspraktiken anwendbaren Demokratietheorie zu stellen. Es wird somit beabsichtigt, die Voraussetzungen für eine Demokratisierung der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie zu definieren und infolgedessen auch ihren Auswüchsen vorzubeugen.

Ein anderer demokratischer Universalismus Die Umsetzung von Formen der Betätigungsdemokratie erschließt selbst dort eine Perspektive für Forderungen und Aktionen, wo die Bürger noch davon abgehalten werden, zu den Urnen zu gehen. Das wird an den Vorgängen in China deutlich, um nur ein plakatives Beispiel zu nennen. Dort engagieren sich die Bürger gegen Korruption, das Desinteresse der Macht, die Intransparenz mancher politischer Maßnahmen, die Verantwortungslosigkeit der Herrschenden und verlangen, dass die Behörden Rechenschaft ablegen.27 Dort, wo die Regime noch nicht demokratisch sind, kämpfen die Bürger darum, dass ihre Regierungen gewisse demokratische Mindeststandards erfüllen. Man erkennt an diesem Beispiel, dass die Erkämpfung von Grundelementen einer solchen Betätigungsdemokratie der Einführung einer Wahldemokratie vorausgehen kann. Historisch gesehen ist es übrigens in den Altdemokratien, besonders in Europa, genauso verlaufen. Im Gegensatz zu den neuen Demokratien, die leider in vielen Fällen bei einer bloßen Genehmigungsdemokratie28 mit antiliberalen, populistischen, wenn nicht offen totalitären Zügen (siehe zum Beispiel Weißrussland und Kasachstan) stehen geblieben sind. Die bloße Genehmigungsdemokratie bleibt also, aufgrund der Personalisierungslogik und 27 Vgl. diesbezüglich das sehr aufschlussreiche Werk von Thireau/Linshan, Les Ruses de la démocratie. 28 Dabei ist das Problem des massiven Wahlbetrugs, der in solchen Fällen häufig vorkommt, noch gar nicht berücksichtigt.

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Polarisierungsdynamik, die ihr zugrunde liegen, instabil, manipulierbar und anfällig für ein Abgleiten in eine präsidialherrschaftliche Richtung. Wegen ihres dezentralen und facettenreichen Charakters ist die Betätigungsdemokratie viel weniger der Gefahr ausgesetzt, korrumpiert zu werden. Deshalb verkörpert sie fortan die positive Seite des demokratischen Universalismus.

Die vier Demokratien Dieses Buch bildet den Abschluss einer Werkreihe über den Strukturwandel der zeitgenössischen Demokratien. Somit wurde die Demokratie in ihren vier Dimensionen erforscht, als staatsbürgerliche Tätigkeit, als politisches System, als Gesellschafts- und als Regierungsform. Die Staatsbürgerdemokratie konkretisierte sich zunächst über die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts, die ich in Le Sacre du citoyen29 untersucht habe. Dieses Wahlrecht umschrieb zugleich ein politisches Recht, das heißt eine Macht, nämlich die, aktiver Bürger zu sein, und einen sozialen Status, nämlich über die gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft der Bürger als autonomes Individuum anerkannt zu werden. Dieses Verständnis von Staatsbürgerschaft hat sich in der Folge erweitert, da die Bürger sich nicht mehr damit begnügten, über den Wahlakt ihre Souveränität zum Ausdruck zu bringen. Neben dieser ursprünglichen Sphäre der Wahlrepräsentation bildete sich allmählich ein Komplex von Überwachungs-, Verhinderungs- und Verurteilungspraktiken heraus, mittels derer die Gesellschaft Zwangs- und Korrekturbefugnisse ausübt. Ergänzend zum Wahlvolk gaben diese Praktiken den Gestalten eines Wächter-Volkes, eines Veto-Volkes und eines Richter-Volkes Gesicht und Stimme. Während die Wahlen ein vertrauensbildender Mechanismus waren, begründeten diese Praktiken die Misstrauensäußerung als zweite Sphäre staatsbürgerlicher Betätigung. Ich habe die Geschichte und Theorie dieser Erweiterung, die seit den 1980er Jahren eine wichtige Rolle spielt, in La Contre-démocratie. La politique à l’âge de la défiance30 formuliert. Die Demokratie als System wiederum ist durch die Institutionen und Verfahren definiert, die dazu bestimmt sind, den Gemeinwillen zu 29 Rosanvallon, Le Sacre du citoyen. 30 Ders., La Contre-démocratie.

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gestalten. Sie hat sich im Kraftfeld zweier großer Komplexe herausgebildet: dem der Repräsentativinstitutionen einerseits (ich habe in Le Peuple introuvable31 ihre Geschichte geschrieben und die sie strukturierenden Antinomien untersucht) und dem der Souveränitätsinstitutionen andererseits, deren problematische Entstehung ich in La Démocratie inachevée32 nachgezeichnet habe. Ich habe dann in Demokratische Legitimität33 aufgezeigt, wie durch ein neues Verständnis des Gemeinwillens versucht wurde, die Grenzen von dessen rein majoritärem Ausdruck zu überwinden. Eine Macht gilt fortan nur noch dann als vollkommen demokratisch, wenn sie Kontroll- und Anerkennungsverfahren unterworfen wird, die mit dem majoritären Ausdruck zugleich konkurrieren und ihn ergänzen. Es wird erwartet, dass sie einer dreifachen Anforderung genügt: Distanzierung von Parteipositionen und Partikularinteressen (Legitimität der Unparteilichkeit), Berücksichtigung pluraler Ausdrucksformen des Gemeinwohls (Legitimität der Reflexivität) und Anerkennung aller Singularitäten (Legitimität der Nähe). Daher die immer größere Bedeutung, die Institutionen wie die unabhängigen Behörden und die Verfassungsgerichte innerhalb der Demokratien einnehmen. Zeitgleich habe ich die zeitgenössische Krise der Repräsentation analysiert und in dem Essay Le Parlement des invisibles34 die Bedingungen ihrer Überwindung untersucht. Die Demokratie als Gesellschaftsform stellt ihre dritte Gestalt dar. Ich habe mit ihrer Erforschung in Le Sacre du citoyen35 begonnen, wo ich aufzeigte, in welchem Maße die moderne Revolution ihrem innersten Wesen nach zunächst eine »Revolution der Gleichheit« war, letztere verstanden als eine Beziehung, als eine Art, eine »Gesellschaft der Ähnlichen« zu begründen. Denn Gleichheit galt anfangs als eine demokratische Eigenschaft, als eine Gestalt der Kommunalität, nicht nur als Modus der Reichtumsverteilung. Doch vor allem in Die Gesellschaft der Gleichen36 habe ich diese Frage in aller Ausführlichkeit diskutiert und nachgewiesen, dass das Versagen dieses Gleichheitsgedankens einer der 31 32 33 34 35 36

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Ders., Le Peuple introuvable. Ders., La Démocratie inachevée. Ders., Demokratische Legitimität. Ders., Le Parlement des invisibles. Ders., Le Sacre du citoyen. Ders., Die Gesellschaft der Gleichen.

wesentlichen Faktoren war, der zur gegenwärtigen, die Demokratie als Gesellschaftsform zerstörenden Explosion der Ungleichheiten führte. Und damit allen anderen möglichen Regressionen des demokratischen Ideals Vorschub leistete. In vorliegendem Werk wird also die Demokratie als Regierung, ihre vierte Dimension, analysiert. Dabei werden die Voraussetzungen der zentralen Stellung beschrieben, die sie in der heutigen Welt einnimmt und die sich aus dem Durchbruch der neuen präsidialen Regierungsform des demokratischen Systems ergibt. Der Abschluss dieses langen Unternehmens, der mit der Publikation dieses Bandes vollzogen ist, darf natürlich nicht als umfassende Beantwortung der Fragen verstanden werden, die den Anlass gaben, es in Angriff zu nehmen. Es bleiben in der Tat noch viele Bücher zu schreiben, um Licht in die Geschichte und die Wandlungen der Demokratie zu bringen. Zumindest kann ich darauf hoffen, eine Anzahl nützlicher Werkzeuge bereitgestellt zu haben, um zu einer gedanklichen Neubestimmung dieser Fragen beizutragen. Tatsächlich sitzt uns die Geschichte derzeit im Nacken, und vielleicht ist das Bemühen, die Welt zu erklären, noch nie so notwendig gewesen, um den Anforderungen einer Gegenwart zu begegnen, die auf Messers Schneide steht.

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Die exekutive Gewalt: Eine problematische Geschichte

Die Inthronisierung des Gesetzes und die Degradierung der Exekutive Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes Das demokratische Ideal ist das der Begründung einer spezifisch menschlichen Gesellschaftsordnung. Man zog daraus den Schluss, dass die Anerkennung der Volkssouveränität zur Entstehung eines gesetzgebenden Volkes führen müsse. Gleichzeitig stützte sich dieses Ideal im 18. Jahrhundert auf einen regelrechten Gesetzeskult. Denn die Idee einer Herrschaft des Gesetzes wurde seinerzeit auf das Projekt bezogen, eine Macht der Allgemeinheit zugleich prozeduraler und substanzieller Art zu installieren, die einer neuen Sicht des Umgangs mit Menschen und Dingen entsprach. Dieses Unternehmen beinhaltete eine Dimension praktischer Rationalisierung: die Abläufe der Justiz durch Vereinheitlichung des bestehenden Wildwuchses an Gebräuchen zu vereinfachen und zu verstetigen. Doch über dieses technische Ziel hinaus entwickelten die Reformer allmählich sehr viel ehrgeizigere Pläne. Es ging darum, das Strafrecht zu revolutionieren, und zwar nicht nur durch Ausschaltung jeder Form von Willkür, sondern vor allem durch eine radikale »Entsubjektivierung«, indem man das Kommando einer objektiven Macht der Regel anvertraute, die an die Stelle eines Einzelwillens treten sollte. Cesare Beccaria, der große Rechtsphilosoph des Aufklärungszeitalters, gab einem solchen Gesetzesverständnis in seinem epochemachenden Werk Von den Verbrechen und von den Strafen (1764)1 eine gültige Formulierung. Sein Ausgangspunkt war ein klassisch »liberaler«. Er wollte zunächst die Inkonsequenz der Justiz beseitigen, die für gleiche Delikte bisweilen höchst unterschiedliche Strafen verhängte. Wie viele Philosophen quälte ihn das Gespenst des Justizirrtums und empörte ihn die Willkür der Urteile. In seinen Augen war der Interpretationsspielraum der Richter für diese verderb1

Vgl. Porret (Hg.), Beccaria et la culture juridique des Lumières.

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lichen Schwankungen verantwortlich. Daher sein Kampf für eine Objektivierung des Rechts mit dem Ziel, die Uneinheitlichkeit des Gesetzes im Umgang mit der Vielfalt der Fakten zu reduzieren. Die Begründung einer wahren Justiz, die in der Lage wäre, Willkür durch Unpersönlichkeit zu verhindern, beinhaltete also für ihn, dass die buchstabengetreue Anwendung der Texte eine Selbstverständlichkeit sei, damit das allgemeine Gesetz mit den Fakten passgenau zur Deckung käme. Sein Leitgedanke, der von allen Reformern der Zeit geteilt wurde, lautete, dass jedes Gesetz, aufgrund des allgemeinen Charakters seiner Formulierung, Einzelfällen aller Art umfassend Rechnung tragen und somit genügen könne, um die Wirklichkeit zu beherrschen. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert führte Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus, diesen Gedankengang fort in seinem Appell, eine Wissenschaft der Gesetzgebung zum wesentlichen Träger einer zugleich demokratischen, moralischen und methodologischen Revolution zu machen.2 In diesem Geist verfasste er 1789 den Entwurf eines »Pannomions«, das im Bereich des Rechts das Gleiche leisten sollte wie sein späteres »Panopticon« auf dem Gebiet der Gefängnisreform.3 Von Beccaria bis Bentham war der Aufstieg des Gesetzes also unübersehbar mit dem Projekt verbunden, einer objektiven Macht, Stifterin einer neuen Politik, nämlich der der Allgemeinheit, zum Durchbruch zu verhelfen. Die Idee des Gesetzes verdrängte somit die der guten Regierung in den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts von einer gerechten und effizienten politischen Ordnung. Wenige Gesetze genügen, vorausgesetzt, dass sie gut sind, um eine Gesellschaft zu regieren: so lautete der allgemeine Tenor. Die Enzyklopädie4 fasste dieses Zeitempfinden treffend in dem Urteil zusammen, dass »die Vielzahl der Gesetze unter 2 3

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Vgl. Vanderlinden, »Code et codification dans la pensée de Jeremy Bentham; Baranger, »Bentham et la codification«, und Ost, »Codification et temporalité dans la pensée de J. Bentham«. Der Entwurf zu einem Pannomion der französischen Nation findet sich unter seinen Nachlassmanuskripten am University College (siehe Manuskript Nr. 100, zitiert von Halévy, La Formation du radicalisme philosophique, S. 367). Vgl. auch seine »Pannomial Fragments« sowie seine »Nomography, or the Art of Inditing Laws«, S. 211–230 sowie S. 232f. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrsg. von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Paris 1751–1772.

sonst gleichen Bedingungen den schlechten Zustand einer Regierung beweist«.5 Aufgrund ihres allgemeinen Charakters und ihrer geringen Zahl waren die Gesetze auf dauerhaften Bestand eingerichtet. Allgemeinheit, Einfachheit, Beständigkeit: Als Verkörperungen dieser Eigenschaften waren die neuen Gesetze dazu ausersehen, Menschen und Dinge am Schnittpunkt von Liberalismus und Demokratie zu regieren. Der Kult des Rechts auf der einen, der des Marktes auf der anderen Seite, Letzterer vom Naturgesetz einer unsichtbaren Hand beherrscht, veranlassten somit die Menschen der Aufklärung dazu, den Raum des Politischen als Entscheidungssphäre zu beschneiden. Diese beiden Auffassungen von Gesetz, verschieden insofern, als die eine Ausdruck eines positiven Rechts war, während die andere als Bestandteil einer natürlichen Ordnung galt, richteten sich gleichermaßen auf das Ziel, den Gedanken der vollziehenden Gewalt und die Rolle eines unmittelbar tätigen politischen Willens in den Hintergrund zu drängen. Denn der Wille stand in Verdacht, Träger von Herrschaft zu sein oder die Bevorzugung von Privatinteressen zu fördern. Das Bemühen der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, deren Wiege in der schottischen Aufklärung zu suchen ist, zielte also darauf ab, eine Welt zu denken, in der der Wille, der als potenziell willkürliche Bewusstseinsform wahrgenommen wurde, keine Rolle mehr spielen sollte, womit gleichzeitig die Idee der Regierung automatisch an Wert verlor. Es waren die Protagonisten der Französischen Revolution, die zu aktiven Verfechtern dieser Vorstellung eines Bruchs mit dem alten Zustand wurden. Ihre radikale Art, ihn zu vollziehen, hat deshalb ihr Werk zum theoretisch wie praktisch exemplarischen Laboratorium dieser Inthronisierung des Gesetzes gemacht. Wir können sie folglich als Ausgangspunkt unserer Untersuchung über die historischen Entstehungsbedingungen des Primats der Legislative und der Negierung der Exekutive nehmen. Nicht umsonst hatte ein französischer Grammatiker 1789 angeregt, die künftige Bestimmung des Landes darin zu sehen, ein »loyaume« zu 5

Jaucourt, »Loi«, in: Diderot/d’Alembert, Encyclopédie. Vgl. auch Rousseau, »Über die Gesetze«, S. 527–536. Dieser Text ist eine lange Diatribe gegen »die enorme Vielzahl der Gesetze« (S. 530).

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bilden.6 Bezeichnenderweise wurde im Frühjahr 1792 mit großem Pomp ein »Fest des Gesetzes« organisiert – eines der ersten nach dem Föderationsfest –, bei dem man einen Wald von Fahnen mit Aufschriften wie »Das Gesetz«, »Achtung vor dem Gesetz« oder »Sterben, um es zu schützen« durch die Pariser Straßen trug. Allenthalben ertönte ein spontanes und überschwängliches »Es lebe das Gesetz!«, um den Geist des neuen Regimes wiederzugeben. Der Bezug auf das Gesetz war damals im Bereich der Argumente wie in dem der Emotionen gleichermaßen allgegenwärtig.7 Von den siebzehn Artikeln der Menschen- und Bürgerrechtserklärung beziehen sich sieben auf die Funktionsweise des Gesetzes und begründen damit dessen zentralen Stellenwert. Michelet hatte deshalb allen Grund, den ersten Impuls der Revolution als »Durchbruch des Gesetzes« zu charakterisieren. Dieser Allgemeinbefund muss allerdings differenziert werden. Hinter einer scheinbar einhelligen Beschwörung verbargen sich 1789 tatsächlich drei verschiedene Gesetzesvorstellungen. Die erste, die man als »liberal« bezeichnen könnte, stellte einen banalen Gegensatz zwischen den Vorzügen eines Regelstaates und den Irrtümern einer Willkürmacht auf. Das war die klassische englische Sichtweise. Die Herrschaft des Gesetzes, die sich die Menschen von 1789 erhofften, hatte zunächst diese Dimension. Die kanonischen Formulierungen Montesquieus zu diesem Thema waren in allen Köpfen, und der Despotismus wurde spontan als Regime gebrandmarkt, in dem »ein einzelner Mann ohne Regel und Gesetz alles nach seinem Willen und Eigensinn abrichtet«8. Anders ausgedrückt, der Despotismus wurde mit der Macht des Partikularen gleichgesetzt (dem »Gutdünken« des Fürsten als Willkür), während die Freiheit als durch die Allgemeinheit der Regel gesichert galt: Allgemeinheit als Ursprung (Parlamentsbetrieb), Allgemeinheit als Form (Unpersönlichkeit der 6

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»Wir nennen Königreich (royaume) ein Land, das von einem König souverän regiert wird; das Land, in dem allein das Gesetz (loi) herrscht, will ich loyaume nennen.« Urbain Domergue, zit. n. Brunot, Histoire de la langue française des origines à 1900, S. 641. Vgl. das Kapitel »La suprématie de la loi«, in: Belin, La Logique d’une idée-force. Vgl. auch Ray, »La Révolution française et la pensée juridique: l’idée du règne de la loi, sowie Larrère, »Le gouvernement de la loi est-il un thème républicain?«. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze.

Norm), Allgemeinheit als Verwaltungsmodus (Staat). Das Prestige des Gesetzes entsprang dieser dreifachen Äquivalenz. Das Gesetz war zugleich ein Ordnungsprinzip, das es ermöglichte, »eine unbegrenzte Zahl von Menschen […] in einen Körper zu verwandeln«, und ein Gerechtigkeitsprinzip, weil es in seiner Allgemeinheit keine bestimmten Personen kannte und somit »leidenschaftsloser Verstand« sein konnte.9 Die revolutionäre Verherrlichung des Gesetzes harmonierte außerdem mit dem rechtlichen Rationalisierungsgebot, das im 18. Jahrhundert aufgekommen war. Die Entstehung eines umfassenden Kodifizierungsunternehmens erfolgte unter diesem Vorzeichen. Schon der Begriff des Gesetzbuches (code) umschreibt den Horizont dieses reformerischen Willens, die vorherige Heterogenität der Bräuche durch eine einheitliche und rationale Gesetzgebung zu ersetzen. Die Kodifizierung war für die Mitglieder der Konstituante eine regelrechte Therapie, in geistiger wie politischer Hinsicht; sie beschränkte sich nicht auf ein technisches Verfahren (wie das ältere Projekt, die Bräuche aufzuschreiben, um sie zu fixieren). Schließlich hatte das Gesetz noch eine dritte, eminent demokratische Dimension, denn es war »Ausdruck des allgemeinen Willens« und musste insofern das Werk des gesetzgebenden Volkes sein. Artikel 6 der Menschenrechtserklärung verfügte dementsprechend: »Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken.« Es war in dieser dreifachen Hinsicht die Verkörperung einer Herrschaft der Allgemeinheit.

Eine politische Utopie Dieses Gesetzesverständnis hatte eine totalisierende Dimension. Es war nicht zu trennen von der Utopie einer Macht, die in der Lage wäre, die Gesellschaft vollständig zu erfassen und im Einzelnen zu bewegen. Diese politische Philosophie fand darin ihren mächtigsten Impuls. Die Herrschaft der Allgemeinheit, die sie heraufbeschwor, war demnach keine bloße Verfahrenssache. Das Gesetz war für die Menschen von 1789 nicht nur eine effiziente und legitime Norm: es war ein politisches

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Nach den von Renoux-Zagamé wiedergegebenen Formulierungen, in: dies., Du Droit de Dieu au droit de l’homme, S. 24.

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Agens. Durch das Tilgen jeder Beziehung zum Partikularen sollte das Gesetz eine in ihrer reduktionistischen Einfachheit vollkommen gerechte und wohlgeordnete Welt entwerfen. Dem Kodifizierungseifer lag also eine echte Utopie zugrunde: die Welt vollkommen zu beherrschen, indem man sie zu einer absolut handhabbaren, weil abstrahierten, Welt umstrukturiert. Niemand hat besser als Jean Carbonnier, einer der großen französischen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, die Beziehung zwischen dem, was einem Phänomen der Rechtspsychologie ähnelt, und einer bestimmten politischen Vision zum Ausdruck gebracht. »Gesetze zu machen, ist ein erleseneres Vergnügen als kommandieren«, bemerkte er. »Da ist nicht mehr der grobe Befehl, den der Herr dem Sklaven, der Offizier dem Soldaten erteilt, die unmittelbare Anordnung ohne Nachhaltigkeit. Nein, da ist das Gesetz, der gesichtslose Befehl mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Dauer, dem Göttlichen gleich, der in Raum und Zeit ausgesandte Befehl, der sich an anonyme Massen und unsichtbare Generationen richtet.«10 Auch das schätzten die Menschen der Revolution an der Macht der Allgemeinheit. Souveränität des Gesetzes bedeutete für sie also nicht allein das Bekenntnis zum Rechtsstaat, sondern das Bestreben des Gesetzgebers, alle politischen Funktionen zu übernehmen, insbesondere die Judikative und die Exekutive.

Die Degradierung der Judikative während der Revolution Als Folge der hier dargestellten Gesetzesauffassung »degradierte« die politische Kultur der Revolution zunächst die Judikative. Das war in der großen Justizreformdebatte von 1790 deutlich zu erkennen. Wir können diese Frage, die die konstituierende Versammlung über Monate beschäftigte, hier nicht erschöpfend behandeln. Dennoch lohnt es die Mühe, wenigstens kurz und exemplarisch auf die Begriffe einzugehen, in denen seinerzeit der Aufbau eines Kassationsgerichts gedacht 10 Carbonnier, »La passion des lois au siècle des Lumières«, S. 240. »Es ist demnach verständlich«, heißt es bei ihm weiter, »dass es eine Leidenschaft für die Gesetze, für das Gesetzemachen gibt, die nicht mit banaler Machtgier zu verwechseln ist, auch nicht mit dem spezielleren Vergnügen, das man dabei empfinden mag, sein Testament zu machen. Es ist ein rechtspsychologisches Phänomen – bei dem Individual- und Kollektivpsychologie nicht zu trennen sind.«

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wurde.11 Wenngleich die Mitglieder der Konstituante zugestanden, dass die Einrichtung eines Revisionsverfahrens »ein Übel, aber ein notwendiges Übel ist«12, sorgten sie sich vor allem um die Gefahr, die eine unabhängige Auslegungsinstanz darstellen würde. Auch wenn sie sich bewusst waren, dass eine solche Instanz im technischen Sinne dazu dienen könnte, nach den Worten eines von ihnen, »die Einheit der Gesetzgebung zu gewährleisten«13, fürchteten sie, dass ein Gericht, das zum Hüter und Beschützer der Gesetze bestellt sei, unter der Hand zu ihrem Gebieter werden könne. Sie beschlossen folglich, nur eine einzige, direkt der gesetzgebenden Körperschaft unterstehende Kassationskammer zu schaffen, sodass jeweils das Gesetz selbst präzisiert wird, ohne dass sich eine Rechtsprechung im eigentlichen Sinne herausbildet.14 »Das Wort Rechtsprechung […] sollte aus unserer Sprache verbannt werden«, sagte bezeichnenderweise Robespierre und brachte damit das diesbezügliche Allgemeinempfinden zum Ausdruck. »In einem Staat, der über eine Verfassung und eine Gesetzgebung verfügt«, so Robespierre weiter, »ist die Rechtsprechung der Gerichte nichts anderes als das Gesetz selbst.«15 Im Übrigen beschränkte sich die Tätigkeit des Kassationsgerichts in dieser Zeit praktisch auf die Annullierung von Beschlüssen, die einen »förmlichen Verstoß« gegen einen Text darstellten oder aus einer »falschen Anwendung des Gesetzes« herrührten.16 11 Gesetz vom 27. November 1790. Vgl. zu diesem Thema die Zusammenfassung von Halpérin, Le Tribunal de cassation et les pouvoirs sous la Révolution (1790–1799). 12 Bertrand Barère, Rede vom 8. Mai 1790, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 15, S. 432. 13 Antoine Barnave, Rede vom 8. Mai 1790, ebd. 14 Der genaue Mechanismus, der vereinbart wurde, sah ein faktisches Nebeneinander von Gesetzesauslegung und Kassation vor. In den – als sehr selten angenommenen – Fällen, in denen eine Ungenauigkeit des Textes vorlag, sollte der Gesetzgeber selbst entscheiden. »Das Kassationsgericht muss innerhalb der gesetzgebenden Körperschaft angesiedelt sein«, sagte Robespierre, um klarzustellen, dass die Kassation – im engeren Sinne – als eine Maßnahme von allgemeinem Interesse zu betrachten sei und mit den Fällen von Einzelpersonen und folglich dem Justizsystem nicht zu tun habe (Rede vom 25. Mai 1790, Mavidal/ Laurent, Archives parlementaires, Band 15, S. 671). 15 Intervention vom 18. November 1790, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 20, S. 516. 16 In buchstabengetreuer Befolgung eines Dekrets vom 27. November 1790, das in seinem Artikel 3 festlegte, dass eine Kassation nur stattfinden könne, wenn ein

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Die Abqualifizierung der Exekutive Parallel dazu wurde auch die Exekutive abqualifiziert und marginalisiert, weil sie per definitionem nur in einzelnen Akten vorgeht. Bereits Rousseau erklärte in diesem Sinne, »daß die Exekutive nicht bei der gesetzgebenden und souveränen Allgemeinheit liegen kann, weil diese Macht nur aus einzelnen Akten besteht, die keineswegs in das Gebiet des Gesetzes und daher auch nicht in den Aufgabenbereich des Souveräns fallen, dessen Handlungen alle nur Gesetze sein können.«17 Er erkannte die Exekutive zwar an, verstand ihre Rolle aber als eine untergeordnete und abgeleitete. Deshalb stellte sie in seinen Augen eine Bedrohung dar, falls sie zu aktiv würde. Das Problem war für ihn umso wichtiger, als eine strukturelle Asymmetrie zwischen Legislative und Exekutive bestand: Erstere wurde unregelmäßig, Letztere permanent ausgeübt. Sollte die Herrschaft des Gesetzes gleichbedeutend mit der Souveränität des Volkes sein, musste die Exekutive also in starkem Maße kanalisiert und eingedämmt18, im Idealfall auf ein Minimum beschränkt werden. In Fortführung dieses Ansatzes wünschte sich Sieyès, der Vater der ersten französischen Verfassung, einen permanent tätigen Gesetzgeber, um die Exekutive im Zaum zu halten.19 Diese Abqualifizierung wurde von den Männern von 1789 einhellig geteilt. Ihre geistigen Vorbehalte waren umso stärker, als sie im Kontext einer heftigen Ablehnung der absolutistischen Ministerialmacht erfolgten. Während die Figur des Königs 1789 noch unantastbar war, konzentrierte sich die ganze Verbitterung und Unzufriedenheit auf seine Minister. Die Cahiers de Doléances (Beschwerdehefte) sind folglich voller Anklagen gegen ihre »Verbrechen«. In zahlreichen »ausdrücklicher Verstoß gegen den Gesetzestext« vorliege. Vgl. die Beispiele bei Jean Belin, »La notion de cassation«, in: ders., La Logique d’une idée-force, S. 94–96. Die Vorstellung wurde in den Verfassungen des Jahres III und des Jahres VIII beibehalten und noch im Gesetz vom 16. September 1807 sowie in der Zusatzvereinbarung zu den Verfassungen des Kaiserreichs vom 22. April 1815 bekräftigt. 17 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 80 (Drittes Buch, Erstes Kapitel). 18 Vgl. Derathé, »Les rapports de l’exécutif et du législatif chez J.-J. Rousseau«. 19 Vgl. seinen Überblick über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung stehen.

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Büchern und Pamphleten wurde dem Vorgehen der Minister von den ersten Revolutionstagen an der Prozess gemacht. »Seit den Anfängen der Monarchie«, stand beispielsweise in Révolutions de Paris zu lesen, »haben wir abwechselnd unter dem feudalen Despotismus und unter dem ministerialen Despotismus gelitten.«20 Die Anprangerung dieses »ministerialen Despotismus« fand damals allgemeine Zustimmung. Sie war eine Art, die Exekutive zu kritisieren, während man gleichzeitig durch eine »fromme Fiktion« (das Wort stammt von Mirabeau) den König von allen Vorwürfen freisprach.21 Während zunächst noch manche Vorsicht walten ließen und die Ministerialmacht als »Beschädigung der Exekutive« betrachteten, wurde Letztere rasch selbst unter Anklage gestellt, weil verdächtigt, sich unwillkürlich des Verbrechens der Beleidigung der Nation schuldig zu machen. Die Verfassungsdebatten von 1791 sind ein hinreichendes Zeugnis für diesen Verdacht.22 Als die Mitglieder der Konstituante den Gedanken, dem König oder seinen Ministern ein Initiativrecht in Sachen Gesetzgebung einzuräumen, entschieden verwarfen, bemerkte einer von ihnen unumwunden: »Die Exekutivgewalt wird stets die Feindin der Legislative sein und ihr auf jede erdenkliche Weise schaden. Das ist ein ewiger Kampf in politischen Systemen.«23 Das Apodiktische der Formulierung bringt das allgemeine Empfinden gut auf den Punkt. Bezeichnenderweise versuchte man seinerzeit, selbst den Begriff der Gewalt im Zusammenhang mit der Exekutive zu vermeiden. Man wollte sie herabstufen, indem man sie bescheidener in »Funktion« oder »Autorität« umbenannte. Der für seinen semantischen Einfallsreichtum bekannte Sieyès probierte es mit Begriffen wie »Vollzugskommission«, »verbindender und ordnender Gedanke«, »Vorsteher des Gemeinwesens«, »Vermitt20 Mirabeau, »Introduction à la Révolution«, S. 6. 21 Vgl. das Kapitel »Le discrédit de la fonction ministérielle« in: Bernardin, JeanMarie Roland et le ministère de l’Intérieur. 22 Vgl. jedoch für eine nuanciertere Sichtweise als die meine: Glénard, L’Exécutif et la Constitution de 1791. 23 Bertrand Barère, Rede vom 27. August 1791, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 29, S. 742. Eine ähnliche Formulierung findet sich in dem 1789 posthum veröffentlichten Werk des Abbé Mably, Du Gouvernement et des lois de la Pologne.

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lungskommission der Gewalten«.24 Der »Vollzug« wurde im engsten und mechanischsten Sinne des Wortes verstanden, sodass er die Macht des Gesetzes als Ausdruck der Allgemeinheit nur ja nicht beeinträchtigen konnte. Condorcet träumte sogar von der Inthronisierung eines maschinellen Königs und übertrug damit die Möglichkeiten der neuen Automatenwissenschaft auf die Politik.25 »Ein Volk, das frei und friedlich leben will«, schrieb er, »braucht also Gesetze und Institutionen, die das Handeln der Regierung auf das geringstmögliche Maß beschränken.« Er ging sogar so weit, von einer notwendigen »Bedeutungslosigkeit der Regierung« zu sprechen, als Resultat »eines gründlich zusammengestellten Systems von Gesetzen«.26 Die Abqualifizierung der Exekutive war nicht nur in der Kultur der Allgemeinheit verankert. Sie speiste sich auch aus dem weit verbreiteten Gedanken, dass Regieren im Grunde eine einfache Sache sei und dass eine kleine Zahl von Gesetzen genügen würde, um das gesellschaftliche Leben zu regeln. Die liberale Utopie einer billigen Regierung war wesentlich dafür verantwortlich, die Mitglieder der Konstituante in ihrer Haltung zu bestärken. Die meisten von ihnen glaubten aufrichtig, der aufgeblähte Verwaltungsapparat der Exekutive sei nur eine Nachwirkung des Absolutismus. Während sie sich der Lehre der Gewaltenteilung widersetzten und daran festhielten, dass es nur eine einzige (dem Gesetzgebungsorgan obliegende) Gewalt gäbe, glaubten sie im Bereich der Politik an einen umso rascheren Vollzug des Gesetzes, als sie seine Anwendung durch die Justiz als rein mechanische verstanden.27 Es wurde in diesem Sinne sogar symbolisch vorgeschlagen, alle Ministerien in Ministerium der Gesetze für … umzutaufen, um ihre untergeordnete Stellung zu verdeutlichen.28 Gleichzeitig wurden Stimmen laut, den König, als 24 Man findet diese verschiedenen Formulierungen im vierten Heft seiner Délinéaments politiques, wiederabgedruckt in: Fauré (Hg.), Des Manuscrits de Sieyès. 25 Vgl. seinen »Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain, 16. Juli 1791«, in: Condorcet, Freiheit, Revolution, Verfassung, S. 171–172. 26 »Von der Natur der politischen Gewalten in einer freien Nation« (November 1792), in: Condorcet, Freiheit, Revolution, Verfassung, S. 122. 27 Als erster Überblick vgl. Barthélemy, Le Rôle du pouvoir exécutif dans les républiques modernes; und Verpeaux, La Naissance du pouvoir réglementaire. 28 Vorschlag von Pierre-Louis Roederer. Vgl. seinen Beitrag am 10. April 1791, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 24, S. 691.

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Träger der Exekutivgewalt, nur noch in bescheidenerer Form als »ersten Beamten des Staates« zu betrachten. Eine Formulierung, die übrigens ins Gesetz einging. Nach der Annahme der Verfassung von 1791 ließ man außerdem nichts unversucht, um die Macht der Minister zu beschneiden, ja sie zu demütigen, indem man zum Beispiel ihre Bezüge kürzte. Als später (Ende 1793) die Zuständigkeiten des Wohlfahrtsausschusses, als Vollzugsorgan des Nationalkonvents, geklärt wurden, stellte man fest, als handele es sich um reine Selbstverständlichkeit: »Das Ministerium ist nur ein Exekutivrat, der mit Ausführungdetails betraut ist, mit großer Energie überwacht wird und dessen Leiter sich täglich zu bestimmten Zeiten einfinden, um die Befehle und Verordnungen des Ausschusses entgegenzunehmen.«29 Und Robespierre bezeichnete zur selben Zeit die Minister als »bloße Werkzeuge« des Ausschusses30, während ein Dekret verfügte: »Der Nationalkonvent ist das einzige Zentralorgan, von dem die Regierungsentscheidungen ausgehen.«31 Tatsächlich lag die Macht bei diesen Konventsausschüssen. Bezeichnenderweise wurden damals alle Akte eben dieses Konvents als »Gesetze« ausgegeben, auch wenn es sich um rein situative Entscheidungen oder bloße Verwaltungsakte in Bezug auf spezifische Gegenstände handelte.32 In den Jahren 1793 und 1794 wurden selbst die persönlichen Entscheidungen der in die Departements oder zu den Armeen entsandten Konventsmitglieder als Gesetze bezeichnet. Diese Ablehnung der Exekutivgewalt kulminierte am 1. April 1794 (12. Germinal des Jahres II ) in der Abschaffung des Exekutivrates (und folglich der Ministerämter), der durch zwölf dem Wohlfahrtsausschuss direkte unterstehende Kommissionen ersetzt wurde.33 Zwar konnte die Exeku29 Die Formulierung stammt von Bertrand Barère. Vgl. seinen Beitrag vom 4. Dezember 1793, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 89, S. 637. 30 Maximilien Robespierre, Beitrag vom 4. Dezember 1793, ebd. 31 Artikel 1 des Dekrets vom 4. Dezember 1793, zit. n. Soboul, Die Große Französische Revolution, S. 322. 32 Vgl. die Ausführungen im Artikel »Loi« in Merlin de Douai, Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, S. 524. Festzuhalten ist, dass bereits während der Konstituante alle vom König abgesegneten Dekrete den Titel »Gesetz« trugen, um zu betonen, dass der König keinen eigenen Willen habe. 33 Vgl. den Bericht von Lazare Carnot über die Abschaffung des Exekutivrates, 1. April 1794, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 87, S. 694–698.

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tive nach dem Thermidor eine gewisse praktische Geltung zurückgewinnen, was die Verfassung des Jahres III sichtbar bestätigte. Dennoch kann von einem wirklichen Bruch keine Rede sein. Das gilt auch für die Bedeutung, die der begleitenden Einführung des Zweikammersystems oder der Würdigung des positiven Einflusses einer gewissen Gewaltenteilung beizumessen ist. Es waren Sicherheitserwägungen und praktische Gesichtspunkte, die diese verschiedenen Verhaltensänderungen veranlassten. Doch die grundsätzliche Priorität der Gesetzgebung wurde damals nicht aufgegeben. Sie wurde lediglich modifiziert. Der Gedanke, dass man »die gesetzgebende Körperschaft vom Joch der Exekutive befreien« müsse, blieb weiter vorherrschend.34

34 Noch in seinem Bericht des Jahres VII spricht Français de Nantes davon, »die gesetzgebende Körperschaft vom Joch der Exekutive zu befreien« (zitiert von Gainot, 1799, un nouveau jacobinisme?, S. 452).

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Der Kult der Unpersönlichkeit und seine Metamorphosen Das Gesetz kann den Allgemeinwillen zum Ausdruck bringen, weil es unpersönlich ist. Allgemeinheit und Unpersönlichkeit sind die beiden komplementären Eigenschaften, die es in seiner Substanz wie in der Form der von ihm ausgeübten Macht charakterisieren. Auch aufgrund dieser zweiten Dimension hatte sein Name bei den Philosophen der Aufklärung, anschließend bei den Vertretern der amerikanischen und der französischen Revolution und natürlich bereits bei den alten Griechen35 einen guten Klang: es kann befehlen ohne zu unterdrücken, denn es gilt als strukturell objektiv, unparteiisch, losgelöst von allen eigennützigen Bestrebungen. Das Gesetz ist der gerechte Herr schlechthin, eine Ordnungsmacht, die die Menschen zwingt, ohne sie zu knechten, sie nötigt, ohne ihnen Gewalt anzutun oder diejenigen zu erniedrigen, die ihm gehorchen.

Die Vorstellung einer »kopflosen« Macht Die Kluft zwischen dieser Sicht der vom Gesetz verkörperten guten Macht der Unpersönlichkeit und der allein auf den König übertragenen Exekutivgewalt war den Franzosen nicht sofort aufgefallen. Tatsache ist vielmehr, dass die Beihaltung eines Königs zunächst nicht als Widerspruch zu den revolutionären Werten und Institutionen wahrgenommen wurde. Er galt als überlieferte Figur, die nicht so verstanden und gerechtfertigt werden musste, als handele es sich um eine Neueinführung. Im Übrigen spielte der positive Bezug auf die englischen Institutionen zu Beginn der Revolution noch eine gewisse Rolle. Außer35 Wie ihr Stolz, vom Gesetz regiert zu werden, während ihre Feinde, die Perser, »dem Kommando eines Einzigen unterstanden«, eindrucksvoll unter Beweis stellt. Zu diesem Aspekt der »Herrschaft der Gesetze« vgl. de Romilly, La Loi dans la pensée grecque; und Cohen, »The Rule of Law and Democratic Ideology in Classical Athens«.

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dem war der König kein Individuum im eigentlichen Sinne: er ging auf in seiner Funktion, eine kollektive Identität zu verkörpern. Die zugleich juristische und psychologische Vorstellung, dass er »nichts Böses tun könne«, war noch fest in den Köpfen verankert.36 Zumal die Exekutivgewalt, die er ausübte, als untergeordnet galt. Doch alle diese Vorstellungen wurden durch die Flucht nach Varennes schwer beschädigt. Es ist übrigens bezeichnend, dass der Begriff der acéphocratie, der den Gedanken einer »kopflosen« Macht zur Verfassungskategorie erhob, gerade in diesem Augenblick entstand. Der Verfasser eines gleichnamigen Aufsatzes erklärte in aller Ausführlichkeit, dass »sobald ein Einzelner über die staatliche Gewalt verfügt, er von Sklaven umgeben sein wird«37. Das Wort geriet wieder in Vergessenheit, nicht aber die Sache. Es war auch die Zeit, in der Brissot und Condorcet als Erste damit begannen, sich offen als Republikaner zu bezeichnen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass nach dem Ende der Monarchie am 10. August 1792 die neue Gestalt der Exekutive nicht sofort als »Ersatz« begriffen wurde. Davon zeugten die zeitgenössischen Debatten, durch welches Bild der Republik die vorherige Figur des Königs auf dem offiziellen Staatssiegel ersetzt werden könnte. Die Entscheidung zugunsten der ersten Marianne, einer allegorischen Freiheitsfigur römischen Ursprungs mit phrygischer Mütze und Pike in der Hand38, markierte den ersten symbolischen Akt einer Radikalisierung des revolutionären Anliegens, die Macht zu entpersonalisieren. Die Wahl einer Frauengestalt als visuelles Symbol bekräftigte diese Absicht, da sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorstellen konnte, dass die Geschicke des Landes von einer Frau geleitet würden. Mochten die Verfassungsexperten im Frankreich des Jahres 1792 auch in vielerlei Punkten geteilter Meinung sein, so waren sich doch 36 Wenn ein Problem auftauchte, wurden stets allein die Minister dafür verantwortlich gemacht. »Wenn der König das wüsste«, sagte man, um den Monarchen zu exkulpieren. 37 Billaud-Varenne, L’Acéphocratie ou le gouvernement fédératif, S. 3. Bemerkenswerterweise wurde der Begriff 1793 von den Gegnern der Jakobiner in einem negativen Sinne verwendet. So rebellierte General Dumouriez gegen die »demokratische Republik oder vielmehr, das kopflose Monster« (zitiert bei Duprat, »Le ›monstre acéphale‹ dans la Constitution de 1793«). 38 Vgl. Agulhon, Marianne au combat, S. 22–34.

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alle einig in der Ablehnung des Gedankens, dass die Exekutivgewalt von einem Einzelnen ausgeübt wird. Da das Volk als Einheit den König vor aller Augen als Souverän abgelöst hatte, war es unvorstellbar, dass Letzterer eine irgendwie geartete Form von Nachfolger als Regierungschef findet. Selbst der Begriff des Präsidenten wurde damals in einem rein technischen Sinne verstanden. Als im September 1792 der Nationalkonvent zusammentrat und der Antrag gestellt wurde, der Vorsitzende des Konvents solle den Titel »Präsident von Frankreich« annehmen und, um die Würde und Größe der revolutionären Institutionen und der Souveränität des Volkes angemessen zu verkörpern, im Tuilerienpalast residieren, schlug diesem Vorschlag eine Welle der Ablehnung entgegen.39 Ein Konventsmitglied fasste das allgemeine Empfinden in der schroffen Replik zusammen: »Es kommt nicht nur darauf an, das Königtum aus unserer Verfassung zu verbannen, sondern jede Art individueller Macht, die geneigt sein könnte, die Rechte des Volkes einzuschränken und gegen die Prinzipien der Gleichheit zu verstoßen«.40 Einige Zeit später, im Jahr VIII , wurde der Vorschlag, das Amt eines »Präsidenten der Republik« – das erste Mal, dass diese Formulierung fiel – einzuführen, ebenso rasch verworfen.41 Selbst Bonaparte bezeichnete sie als lächerlich, und das nur wenige Wochen vor seiner Ernennung zum Ersten Konsul mit unumschränkten Vollmachten!

Eine nicht gewählte, kollegiale Macht Bereits am 15. August 1792 wurde also ein provisorischer Exekutivrat aus sechs Ministern gebildet. Geplant war ein »technischer« Vorsitz mit wöchentlicher Rotation, um die kollegiale Funktionsweise des Gremiums zu unterstreichen.42 Als Condorcet im Februar 1793 dem Konvent den ersten Entwurf der neuen Verfassung vorstellte, wies er auf die Bedeutung hin, das Prinzip der kollegialen Führung zu stärken, 39 Antrag von Pierre Louis Manuel vom 21. September 1792, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 52, S. 69. 40 Georges Couthon, Beitrag vom 21. September 1792, ebd. (Hervorhebung von mir). Das Modell eines Triumvirates wurde ebenfalls verworfen. 41 Vgl. die Geschichte dieses Vorschlags, erzählt von Paul Barras, und seiner Aufnahme in: Gueniffey, La Dix-huit Brumaire, S. 257–258. 42 Es wurde im März 1793 mit der Gründung des Wohlfahrtsausschusses in den Hintergrund gedrängt.

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um potenziellen autoritären Fehlentwicklungen vorzubeugen. Mit Rücksicht auf die vorherrschende Befindlichkeit legte er besonderen Nachdruck auf die Tatsache, dass es nicht darum gehe, eine »eigenständige Gewalt« zu begründen, sondern lediglich ein Organ, das »dafür sorgen [muss], dass der Wille der Nation […] ausgeführt wird«.43 Er erörterte ausführlich die organisatorischen Bedingungen einer gefahrlosen Kollektivführung: Der (siebenköpfige) Rat sollte jährlich zur Hälfte erneuert werden, um sich nicht zu verselbstständigen; die Mitglieder des Rates müssten unbedingt den Vertretern der legislativen Gewalt untergeordnet sein und die gesetzgebende Körperschaft die Möglichkeit haben, eine gerichtliche Untersuchung gegen Ratsmitglieder einzuleiten oder sie »bei Unfähigkeit oder schwerwiegender Vernachlässigung ihrer Amtspflichten« direkt zu entlassen; schließlich müsse der Vorsitz zweimal wöchentlich rotieren.44 Die schließlich im Juni 1793 verabschiedete Verfassung übernahm einen Großteil dieser Prinzipien und erweiterte die kollegiale Dimension durch die Einrichtung eines 24-köpfigen Exekutivrates ohne interne Hierarchisierung, dessen Mitglieder von der gesetzgebenden Körperschaft direkt ernannt wurden, wenngleich die Auswahl auf der Grundlage einer in den Departements erstellten Liste erfolgte. Die anfängliche Perspektive war die einer reinen Versammlungsregierung, die Exekutive sah sich unmissverständlich auf die untergeordnete Stellung eines »Arms der Versammlung« verwiesen. Man brachte die Dinge folgendermaßen auf den Punkt: »Es gibt nur eine Macht: die Macht der Nation, die bei der gesetzgebenden Körperschaft liegt.«45 Auch wenn der Wohlfahrtsausschuss anschließend eine echte Regierungsgewalt, ja eine diktatorische Macht ausübte, war er im Prinzip nichts anderes als ein Ausdruck der repräsentativ-legislativen Körperschaft. Deshalb blieb nach dem Sturz Robespierres der Gedanke, dass die Exekutive der Legislative vollständig untergeordnet sein müsse, vorherrschend. Der im Jahr III vorgelegte Verfassungsentwurf be43 Condorcet, »Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs«, S. 189. 44 Ders., »Verfassungsentwurf, der Nationalversammlung vorgeschlagen« (1791), Artikel XXXI , S. 236. 45 Bertrand Barère, Rede vom 16. Juni 1793, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 66, S. 574.

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merkte dazu klipp und klar: »Der Konvent darf in diesem Augenblick die Zügel der Regierung nicht in fremde Hände legen, er kann sie nicht gefahrlos anderen überlassen.«46 Man blieb somit dem Modell einer innerhalb der repräsentativ-legislativen Körperschaft angesiedelten Regierung treu. Auch wenn die geistigen Rahmenbedingungen sich nicht änderten, beabsichtigten die Thermidorianer gleichwohl, mit den Auswüchsen des Wohlfahrtsausschusses zu brechen. Sie hofften somit auf eine in politischer und sozialer Hinsicht wandlungsfähige und zugleich »standhafte Regierung«, die imstande sein sollte, eine Rückkehr zur Ordnung zu gewährleisten und die Volksbewegungen einzudämmen, verbunden mit dem Wunsch, dass sie keine Gefahr für die Freiheiten darstellte. Die Lösung? Sie bestand ihnen zufolge in der Einführung einer Art doppelten Exekutive. Eine solche wurde durch die Verfassung des Jahres III geschaffen. Auf der einen Seite ein fünfköpfiges Direktorium, dass die »Gedanken der Regierung« zum Ausdruck brachte, auf der anderen Seite ihren Befehlen unterstehende, auf ihren Wunsch hin beliebig absetzbare und mit »Verwaltungsdetails« betraute Minister. Das Direktorium war ein beratendes Gremium, während ausdrücklich klargestellt wurde, dass »die Minister keinen Rat bilden«. Man knüpfte damit an vorherige Überlegungen eines Saint-Just an, der im Frühjahr 1793 die Gefahr eines »Königtums von Ministern« heraufbeschworen und bereits die Verteilung der Exekutivgewalt auf zwei Organe angeregt hatte: einen Rat, der Beschlüsse fasst, und Minister, die sie ausführen.47 Es geschah also in Abgrenzung von einer »Ministerialmacht«, die stets verdächtigt wurde, das alte Regime wiederaufleben zu lassen, dass erstmals in Frankreich eine Form moderner Exekutive Einzug hielt. Eine Exekutive, deren kollegialer Charakter als untrennbar von ihrer ständigen Erneuerung verstanden wurde, über die Ernennung eines neuen Mitglieds pro Jahr, was eine Form radikaler Entpersonalisierung der Institution bewirkte und das Schreckgespenst der Rückkehr zu einer monarchischen Gestalt beseitigte (es ist be46 Vorlage von Antoine Claire Thibaudeau, in: Gallois (Hg.), Réimpression de l’ancien Moniteur, Band 24, S. 38. 47 Vgl. »Rede über die Verfassung, welche dem französischen Volk zu geben ist«, Sitzung vom 24. April 1793, in: Saint-Just, Nachgelassene Schriften und Reden, S. 48. Vgl. zu seinen Analysen Michel Troper, »Saint-Just et le problème du pouvoir exécutif«.

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kannt, welche Rolle das Gerücht, Robespierre wolle sich zum König machen, bei seinem Sturz gespielt hat).48 Gleichzeitig war der Gedanke einer von den Bürgern direkt gewählten Exekutivgewalt den Männern von 1789 oder 1793 nicht in den Sinn gekommen. Nicht einmal in den radikalsten Zirkeln. Weder Babeuf noch Robespierre, nicht einmal Hébert und seine Enragés, konnten sich vorstellen, dass dies möglich oder überhaupt nur wünschenswert wäre. Als Condorcet im Juli 1791 seine Broschüre über die »Einrichtung eines gewählten Rates«49 veröffentlichte, blieb seine diesbezügliche Position marginal. Als damals noch sehr isolierter Wegbereiter des republikanischen Ideals hatte er den Vorschlag eines von den Bürgern gewählten Rates formuliert, der kollektiv an die Stelle des Königs treten sollte. Die Angehörigen dieses Rates sollten ihm zufolge von den »denselben Wählern gewählt werden wie die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen«. Die Broschüre blieb seinerzeit unbeachtet. Seine Position war umso origineller, als die Exekutive in seinen Augen noch die gleiche Legitimität besaß wie die Legislative. So wurde durch Condorcet erstmals der Gedanke einer Exekutivgewalt mit eigenem Profil entwickelt, die deshalb dazu bestimmt war, durch Wahlen demokratisch legitimiert zu werden. Er hielt an diesem Gedanken in seiner »Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs« (Februar 1793) fest und forderte dementsprechend: »[D]ie Mitglieder des Rates [dürfen] nicht von der gesetzgebenden Körperschaft gewählt werden, denn sie sind Beamte des Volkes, nicht seiner Repräsentanten.«50 Doch sein diesbezüglicher, dem Zeitgeist gänzlich zuwiderlaufender Vorschlag wurde gar nicht erst diskutiert.

Bonaparte: Rückkehr eines Eigennamens und neues Regime des Willens Zwischen 1789 und 1794 war die revolutionäre Philosophie der Staatsgewalten vergleichsweise theoretisch geblieben. Die sich überstürzenden Ereignisse hatten pausenlos das Tempo bestimmt und zu einer un48 Vgl, Baczko, Comment sortir de la Terreur. 49 »Sur L’institution d’un conseil électif«, mit Datum vom 23. Juli 1791. 50 Condorcet, »Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs«, S. 190.

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mittelbaren Beschäftigung mit den dringenden Angelegenheiten geführt. Erst danach, in der Zeit des Direktoriums, während der fünf Jahre nach der Annahme der Verfassung des Jahres III (1795), sollte das revolutionäre Credo auf eine praktische Probe gestellt werden. Und man gelangte zu der Feststellung, dass das neue Regime unfähig sei, das Land mit den eingeführten Institutionen zu regieren. Von rechts und links bedroht, war es hin und her gerissen zwischen dem Willen, die politische Leidenschaften abzukühlen, eine Rückkehr zu den vom »Begriffszauber« (nach dem Wort von Sieyès51) beherrschten Jahren zu verhindern, und seiner Entschlossenheit, das Wiedererstarken royalistischer Sympathien, das sich bei den Wahlen zeigte, ab dem Jahr IV mit putschistischen Mitteln einzudämmen. In diesen Jahren kamen also parlamentarische Ohnmacht und geistige Verunsicherung zusammen und führten zum unausweichlichen Untergang des Regimes. Und bekanntlich suchte man am Ende Zuflucht bei einem Schwert, um das politische und verfassungsrechtliche Problem Frankreichs zu lösen. Mit der Verfassung des Jahres VIII , die einen Ausweg aus der Krise weisen sollte, vollzog sich ein radikaler Bruch mit der vorherigen politischen Kultur. Der leitende Gedanke war nun, dass man, um »die Revolution zu beenden« – wie das große Schlagwort der Zeit lautete –, die Macht in den Händen der Exekutive konzentrieren müsse. Parallel dazu revidierte man das Prinzip der Unpersönlichkeit. Zwar blieb es durch die offizielle Einführung eines Triumvirates noch scheinbar gewahrt, doch wurde dem Ersten Konsul praktisch das Recht übertragen, allein die Bühne zu beherrschen. Für manche waren diese Maßnahmen allein den Umständen geschuldet. »Man war der Versammlungen müde«, wie Bonaparte selbst resümierte.52 Doch zugleich beinhalteten sie ein anderes Modell, die Volkssouveränität auszuüben. Madame de Staël hat in berühmt gebliebenen Formulierungen den Schock beschrieben, den der Aufstieg Bonapartes nach seiner Rückkehr aus Ägypten verursachte: »Es war das erste Mal seit der Revolution, dass man aus aller Munde einen Eigennamen hörte. Bis dahin 51 In seiner berühmten Rede vom 2. Thermidor des Jahres III (»Erste Thermidorrede«, in: Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 313). 52 Zitiert bei Gueniffey, Bonaparte, S. 517.

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hatte man gesagt: Die Konstituante, das Volk, der Konvent haben dieses oder jenes getan; jetzt sprach man nur noch von diesem Mann, der an die Stelle aller treten und die Menschheit in der Anonymität versinken lassen sollte, indem er allen Ruhm für sich beanspruchte und jeden daran hinderte, jemals ein Stück davon zu erlangen.«53 Das war eine gute Beschreibung der plötzlichen Aufkündigung des vorherigen Ideals der Unpersönlichkeit. Zweifellos wurde der Aufstieg des Generals durch eine gewisse Bereitwilligkeit begünstigt, zu einer Ordnung monarchischen Typs zurückzukehren, nach der ernüchternden Bilanz eines Jahrzehnts gescheiterter Verfassungsexperimente. 1799 waren mehr und mehr Rufe nach dem König laut geworden.54 Doch zugleich ging es um etwas anderes. Im Jahr 1800 konnte keine Rede mehr davon sein, zur Erbmonarchie oder zu einer hierarchischen Sicht des Sozialen zurückzukehren. Selbst der zu Napoleon gewordene Bonaparte blieb in einem gewissen Maße dem Gleichheitsideal treu, das das Wesen des revolutionären Bruchs verkörperte (eben das machte ihn so populär). Mit ihm wurde zunächst die Exekutivgewalt als solche überhöht. Das Bekenntnis zu deren Dominanz beinhaltete keinerlei Nostalgie oder restaurative Dimension. Sondern im Gegenteil die Vision einer notwendigen Vollendung der politischen Moderne. Eine Vollendung, die auf einer Neuinterpretation des alten Begriffs der Inkarnation beruhte. Bonaparte war weder die abstrakte Gestalt des Ganzen aus der Theorie des Leviathan von Thomas Hobbes (1651), noch das ferne Symbol der Macht eines Sonnenkönigs. Er war vielmehr ein »glänzendes Beispiel der Personifizierungskunst«55 im Zeitalter der Demokratie, derjenige, der sich als fähig erwies, »eine ganze Generation in sich zu vereinen«, um eine Formulierung von Edgar Quinet aufzugreifen.56 Er war somit der Erste, den man als homme-peuple57 bezeichnete, sodass sich ein Be53 Madame de Staël, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, S. 204 (die Zeilen wurden zu Beginn des Jahres 1810 geschrieben). 54 Vgl. Gueniffrey, Bonaparte, S. 457–458. 55 Stern, Histoire de la Révolution de 1848, Band 3, S. 342. 56 Im Vorwort von 1835 zu seinem Gedicht Napoléon. Über Frankreich hinaus wäre hier an die berühmten Formulierungen Hegels zu erinnern, der Napoleon als den Mann der Tat feierte, der den Menschen ihre schöpferischen Potenzen enthüllt habe, als eine die »Weltseele« verkörpernde Gestalt. 57 Vgl. Rosanvallon, La Démocratie inachevée, S. 194.

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wunderer mit den Worten an ihn wenden konnte: »Ihr tragt unseren Namen. Regiert an unserer Stelle.«58 Bonaparte definierte auch das Ideal des demokratischen Willens neu. Die Revolution hatte den Kult der Unpersönlichkeit zelebriert, ohne sich jedoch deshalb vom Begriff des Willens zu verabschieden. Die Männer der Revolution hatten sich, genau wie die der Aufklärung, dem Ehrgeiz eines Bacon verschrieben, »die Grenzen der menschlichen Macht soweit wie möglich zu erweitern«.59 Doch ihr Ideal war, einem entpersonalisierten Willen, dem vom Gesetz ausgedrückten Allgemeinwillen, zum Sieg zu verhelfen. Ein Begriff, der sich selbst auf den des Fortschritts stützte, verstanden als nach vorn gerichtete Bewegung, die nicht mehr von den Entscheidungen einzelner Personen abhängig war und zudem aus der Fähigkeit resultierte, qua Erziehung einen neuen, ganz dem Gemeinwohl ergebenen Menschen hervorzubringen. Mit Bonaparte wurde die militärische Variante des Willens verherrlicht: die einer menschlichen Entschlusskraft, deren Effizienz mit der Tatsache zusammenhängt, dass sie unmittelbare, also der Mühsal einer kollektiven Debatte enthobene Wirkungen erzeugt. Bonaparte fragte zwar viel um Rat, entschied aber alleine. Und gerade diese Fähigkeit begeisterte viele seiner Zeitgenossen. Zwar trug das Bild des von den Chansonniers der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefeierten homme-peuple viel zur Entstehung der Napoleonlegende bei,60 doch mehr noch faszinierte die Zeitgenossen die Offenbarung eines unmittelbar tätigen Willens und einer ungeheuren Energie, und so machten sie Bonaparte zu einem der großen Helden der Romantik61, in einer Zeit, als viele an der Monotonie und trüben Geistlosigkeit der anbrechenden bürgerlichen Ära verzweifelten.

58 Quinet, Napoléon, Ausgabe von 1857, S. 296. Quinet verleugnete später seine frühen bonapartistischen Sympathien. 59 Bacon, Neu-Atlantis, S. 89. 60 Vgl. Hazareesingh, La Légende de Napoléon; Menager, Les Napoléon du peuple; und Petiteau, Napoléon, de la mythologie à l’histoire. 61 Die Romane Balzacs enthalten zahlreiche Hinweise in diese Richtung. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts feierten Nietzsche oder Barrès den »Lehrmeister der Tatkraft«.

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Das neue Zeitalter der Unpersönlichkeit Die Wahrheit über die Kosten des Krieges und der von ihm verursachten Katastrophen setzten der napoleonischen Episode ein Ende. Der Anbruch eines relativ friedlichen Jahrhunderts sorgte dafür, dass der Glaube an die Vorzüge der Unpersönlichkeit zurückkehrte, wobei Napoleon für die Eliten des Landes zum absoluten Kontrastbild dessen mutierte, was eine gute Macht sein sollte. Wenn auch die kleinen Leute, besonders auf dem Land, die Legende pflegten – auf eine Art, von der die Fähigkeit des Neffen zeugte, selbst an die Macht zu gelangen –, so waren sich doch Liberale, Republikaner, Sozialisten und Kommunisten aller Schattierungen einig in ihrer Ablehnung des demokratischen Irrglaubens, den der Gedanke einer personifizierten Macht darstellte. Mit Madame de Staël verdammten sie »einen vom Volk gewählten Mann, der sein gigantisches Ich an die Stelle der Menschheit setzen wollte«.62 Dennoch markierte dieses Urteil keine Rückkehr zur utopischen Radikalität der abstrakten Unpersönlichkeit in der Revolutionszeit. Zur Linken hatte die Unpersönlichkeit mittlerweile ein Gesicht, das des lebendigen Volkes. Ob revolutionäre Massen oder Wählermehrheiten, die Ansprachen variierten, nicht jedoch die Perspektive, die stets der von Michelet angegebenen Richtung folgte: »Die Massen vollbringen alles, die großen Namen wenig, […] die vermeintlichen Götter, Giganten, Titanen […] täuschen uns über ihre Größe nur, weil sie arglistig auf die Schultern des gutmütigen Riesen, des Volkes, steigen.«63 Michelet zitierte auch gerne den Appell von Anacharsis Cloots aus seinem Aufruf an das Menschengeschlecht: »Frankreich! Mache dich frei von Persönlichkeiten.«64 Bei den regierenden Liberalen und Republikanern bekam die Unpersönlichkeit im 19. Jahrhundert das gleichzeitige Aussehen einer Regierungsform, des Parlamentarismus, und einer sozialen Macht, der Herrschaft der Honoratioren oder der einer politischen Klasse. Man könnte diesbezüglich sogar bis zum Begriff einer klassenspezifischen Unpersönlichkeit gehen. Auf diese Weise nahmen die revolutionären 62 De Staël, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, S. 237. 63 Michelet, Vorwort zu Histoire romaine (1839), Band 3, S. 335. 64 Michelet, Geschichte der französischen Revolution, Band 4, S. 395.

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Ideale in Frankreich eine feste verfassungsmäßige Form an. Diese Ideale wurden zwar ihrer extremsten Formulierungen und ihrer abstrakten Radikalität entkleidet, doch blieb die revolutionäre Trias aus Unpersönlichkeit, Primat der Legislative (bei entsprechender Minimierung der Exekutive) und Gesetzeskult grundsätzlich das gemeinsame Credo der verschiedenen Regime des 19. Jahrhunderts, natürlich mit je spezifischer Ausrichtung und sei es nur hinsichtlich der Verknüpfung dieser Prinzipien mit dem Faktum der Volkssouveränität. Die Dritte Republik verkörperte es in exemplarischer Form, indem sie das System der Versammlungsregierung zum Verfassungsdogma erhob. Ein Dogma, das sich nach der Krise von 16. Mai 1877 endgültig durchsetzte, einer Krise, deren Verlauf hier kurz rekapituliert werden soll, um die Motivationen hinter dem neuen republikanischen Kult der Unpersönlichkeit besser zu verstehen. Mac Mahon war als Nachfolger Thiers’ seit 1873 Staatspräsident. Am 8. März 1876 hatte die scheidende Nationalversammlung (sie war 1871 gewählt worden) ihre Befugnisse auf zwei neue Kammern übertragen, den Senat, unter dem Vorsitz eines Orleanisten, und die Abgeordnetenkammer, unter dem Vorsitz eines gemäßigten Republikaners, Jules Grévy. Das Verhältnis zu einem ultrakonservativen Präsidenten erwies sich rasch als sehr gespannt. Streitobjekte waren die Religionsfrage ebenso wie der organisatorische Aufbau der Staatsorgane oder symbolische Themen wie die Amnestie der Kommunarden. Im Grunde stand das System selbst zur Disposition, denn Mac Mahon und seine Anhänger glaubten immer noch an die Möglichkeit, ein konservativ-autoritäres Regime zu errichten und die Republik und den Parlamentarismus zu beseitigen. Die Krise des 16. Mai sollte die Gefahr bannen. Unter dem Vorwand, Jules Simon, der Regierungschef, habe keine Mehrheit in der Kammer mehr, zwang ihn Mac Mahon zum Rücktritt und rechtfertigte seine Einmischung in das institutionelle Geschehen mit den Worten: »Ich bin zwar nicht wie Sie dem Parlament verantwortlich, aber ich habe eine Verantwortung vor Frankreich.« Auf Betreiben Gambettas stimmte die Abgeordnetenkammer am 17. Mai 1877 für einen Antrag, der besagte, dass »der Vorrang des Parlaments, der in der Verantwortung der Minister zum Ausdruck kommt, die erste Bedingung für die Regierung des Landes durch das Land ist, wie von den Verfassungsgesetzen vorgesehen«. Die Macht57

probe war in vollem Gange. Mac Mahon kündigte den Kammern ihre Suspendierung an, wozu ihn die Verfassung autorisierte, und beschritt damit den Weg ihrer Auflösung.65 Der Sieg des republikanischen Lagers bei den Wahlen im Oktober 1877 entschied den Streit und schuf de facto ein neues System, in dem der Präsident gezwungen war, künftig auf die Wahrnehmung eines seiner offenkundigsten Vorrechte zu verzichten. Die Gefahr einer Rückkehr zu einer konservativ-autoritären Ordnung wurde zugunsten der Option für einen triumphierenden Parlamentarismus gebannt. Denn gesiegt hatte tatsächlich das parlamentarische System. Geprägt von der Obsession, »maßlose Personen«, wie Gambetta sagte, fortan fernzuhalten. Die Liste der Regierungschefs ist ein hinreichendes Zeugnis für den Erfolg der Operation! Fünfzig Regierungen folgten einander zwischen 1876 und 1914, unter acht Staatspräsidenten. Die führenden Persönlichkeiten des Republikanismus nahmen im Regierungssystem dieser Zeit nur einen relativ bescheidenen Platz ein. Léon Gambetta, Léon Bourgeois oder Émile Combes waren nur je einmal Regierungschef (Jules Ferry zwei Mal), unscheinbare Gestalten wie Charles Dupuy und Jules Dufaure hingegen fünf Mal und Alexandre Ribot vier Mal. Und man muss schon ein regelrechter Spezialist dieser Zeit sein, um je die Namen von Ernest de Cissey, Gaëtan de Grimaudet de Rochebouët, Pierre Tirard, Jean Sarrien oder Ernest Monis gehört zu haben, die allesamt Regierungschefs der Dritten Republik waren. In der Abgeordnetenkammer und im Senat wurden die wichtigen Entscheidungen getroffen und die strategischen Orientierungen festgelegt, und dort kamen die Bemühungen und der Einfluss der großen Namen zum Tragen. Es sieht also ganz so aus, als hätte man sich damals zur Wahrnehmung der Regierungsaufgaben mit Vorliebe für schwache Persönlichkeiten entschieden. Diese nahezu systematische Depersonalisierung war erfolgreich und läutete ein, was Daniel Halévy später die »dunklen Zeiten«66 nannte. Die Debatten über die Einführung der Listenwahl bezeugen ihrerseits die Permanenz dieses Bemühens um eine depersonalisierte Poli65 Die Republikaner protestierten mit der Abfassung des berühmten »Manifestes der 363«. 66 Halévy, La Fin des notables (Kapitel 1, »De l’origine des temps obscurs«).

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tik, da die Wahl der Kandidaten bei diesem Verfahren im Grunde von den von ihnen vertretenen Ideen abhing. Dieser als »durch und durch republikanisch« geltende (1848 erstmals eingeführte) Wahlmodus wurde allerdings nur zwischen 1885 und 1889 verwendet, weil die Honoratioren fürchteten, von den damals entstehenden Parteizentralen in den Hintergrund gedrängt zu werden. Was unterstreicht, dass diese Depersonalisierung nur die Kehrseite einer diffusen und verborgenen Macht war: der der Honoratioren und später der Parteien, das heißt einer anonymen Oligarchie. Das boulangistische Intermezzo Ende der 1880 Jahre sollte verdeutlichen, dass diese Macht sich in den Augen vieler Bürger von der Gesellschaft entfernt hatte und aus diesem Grund eine tiefe Enttäuschung hervorrief.

Französische Ausnahme oder demokratische Moderne? Die französische Politik des 19. Jahrhunderts zelebrierte somit auf exemplarische Weise, mitsamt der daraus resultierenden Zweideutigkeiten, den Doppelkult des Gesetzes und der demokratischen Unpersönlichkeit. Und offenbarte obendrein ihre Bereitschaft, sich zwei Mal zur gegenteiligen Religion des Cäsarismus und des homme-peuple zu bekehren. Wir werden später noch sehen, wie die beiden Pole einer solchen Pendelbewegung zusammenhängen. Einstweilen ist die Frage zu klären, ob die revolutionäre Negierung der Exekutivgewalt eine Ausnahme in der Geschichte demokratischer Systeme darstellte oder lediglich die potenzierte Form einer gemeinsamen Tendenz aller Länder, deren Verfassungsgeschichte in liberal-demokratischen Bahnen verlief. Zur Beantwortung dieser Frage bietet sich ein kurzer Abstecher nach England an. In diesem Land wurde nicht nur der Parlamentarismus auf europäischem Boden erfunden, dort entstand auch die liberale Auffassung einer Exekutivgewalt, die sich zur Legislative in einem Verhältnis der checks and balances (der gegenseitigen Kontrolle) befindet. Mehr als anderswo in Europa verfügte die Exekutive dort frühzeitig über einen echten Handlungsspielraum. Um den Preis, und darin besteht die ganze Originalität des britischen Systems, der Einführung eines Mechanismus zur permanenten Kontrolle dieser Gewalt über die Anwendung des Prinzips politischer Verantwortung durch das Kabinett. Der Gewinn zunehmender Handlungsfreiheit für die Exekutive verband sich somit auf originelle Weise mit der Annahme verschiede59

ner Verfahren, sie auf den Prüfstand zu stellen. Die ständige Stärkung der Exekutive vom frühen 18. bis zum 19. Jahrhundert nahm somit keinen absolutistischen oder herrschaftlichen Charakter an: im Gegenteil, sie erfolgte im Rahmen einer Entwicklung von Formen der Verantwortungsübernahme, die die Rechte und Prärogativen des Parlaments stärkten.67 Im Unterschied zu französischen Konzepten einer ungeteilten und rationalen Gewalt machte das britische Modell die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative zu einem Spiel mit positivem Ausgang, statt, wie im französischen Fall, zu einem Nullsummenspiel.68 Seine Geschichte ist auch Teil einer evolutionären Beziehung zur monarchischen Macht, in einem Stück mit drei Akteuren – dem Kabinett, den Kammern und der Krone, wobei die beiden Ersteren sich verbündeten, um gemeinsam das königliche Privileg immer weiter zurückzudrängen. Die Wahrnehmung des Gesetzes als bloße Regel, in einem Land des common law, und nicht als Begründer des Sozialen, spielte natürlich eine Schlüsselrolle in diesem System. Ein englischer Premierminister hatte dadurch paradoxerweise eine stärkere Position als ein amerikanischer Präsident oder ein französischer Regierungschef im 19. Jahrhundert. Ersterer war zwar praktisch unabsetzbar, aber mit einer streng begrenzten Befehlsgewalt ausgestattet, während Letzterer ein Spielball in den Händen wechselnder Parlamentskoalitionen war. Das kooperative System nach britischem Muster, das sich allmählich und ohne vorherigen Plan herausgebildet hatte, war zwar restriktiver, aber letztlich günstiger für die Entwicklung der Exekutive.69 Doch gleichzeitig war dem Ursprung nach das Parlament die führende Instanz. In seiner meisterhaften Untersuchung über die wirkliche Funktionsweise der britischen Verfassung, die mitten im viktorianischen Zeitalter erschien, schrieb Walter Bagehot über das Kabinett: »Mit diesem neuen Wort meinen wir einen Ausschuß der gesetzgebenden Körperschaft, der dazu ausersehen ist, als exekutive Körperschaft zu fungieren.«70 »Die Legislative«, erläuterte er, »hat viele 67 Vgl. dazu die Ausführungen im dritten Teil, Kapitel 4. 68 Zu dieser Interpretation der Geschichte der britischen Exekutive vgl. Baranger, Parlementarisme des origines. 69 Vgl. die Ausführungen von Lord Balfour in seiner Einleitung in: Bagehot, The English Constitution, Ausgabe von 1927. 70 Bagehot, Die englische Verfassung, S. 53.

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Ausschüsse, aber dieser ist ihr größter.«71 Das Parlament blieb somit die führende Instanz, aber unter dem Vorzeichen einer Verschmelzung (fusion) – das Wort taucht wiederholt bei ihm auf – von Exekutive und Legislative. »Das Kabinett«, so betonte er, »ist ein verbindender Ausschuß […], eine Klammer, die den gesetzgebenden Teil des Staates an seinem exekutiven Teil befestigt. Hinsichtlich seiner Entstehung gehört es zu dem einen, mit seinen Funktionen gehört es zu dem anderen Teil.«72 Mit anderen Worten, das Besondere an der englischen Exekutive war, dass sie zwar eine eigenständige Schöpfung darstellte, die aber unter einer ebenso strengen wie dauerhaften Kontrolle der Legislative stand. Die Macht wurde somit jenseits des Ärmelkanals als Ausübung einer dynamischen Beziehung zwischen Aktion und Kontrolle verstanden. Darin unterschied sie sich vom Konzept der Versammlungsregierung, zu dem das französische Modell lange Zeit tendierte. Auch hatte die Macht augenscheinlich einen stärker personalisierten Charakter in Großbritannien, wo Figuren wie Benjamin Disraeli oder William Ewart Gladstone die Szene beherrschten, unter Bedingungen, die im republikanischen Frankreich des 19. Jahrhunderts unbekannt waren. Das hatte etwas mit dem Zweiparteiensystem zu tun, während die Bedingungen der Mehrheitsbildung in Frankreich die Entstehung komplizierter und stets vorläufiger Verhandlungen zwischen zahlreichen Honoratiorenzirkeln begünstigte. Paradoxerweise förderte die Anwesenheit eines Monarchen ebenfalls diesen Aufstieg zur Prominenz, indem sie ihn strukturell relativierte. Selbst der brillanteste und populärste Premierminister sah sich in Großbritannien auf einen untergeordneten Status verwiesen. Die Trennung der beiden Mächte ermöglichte eine reibungslose Koexistenz zwischen der sichtbaren Prachtentfaltung des Souveräns und der effektiven Macht des Kabinetts. Kein Premierminister konnte davon träumen, König zu werden, und niemandem kam in den Sinn, sein Bild auf diese Dimensionen zu vergrößern. Die konstitutionelle Monarchie ermöglichte in dieser Hinsicht eine größere Flexibilität als die Republik. Sie hielt auch jene Phantasmen fern, die aus der Angst herrührten, der grundlegende Bruch mit einem Vorgängerregime könnte wieder infrage gestellt wer71 Ebd. 72 Ebd., S. 55.

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den. Doch in Bezug auf das inhaltliche Verständnis dessen, was eine gute Macht sein sollte, waren die Unterschiede zum französischen Modell der parlamentarischen Republik letztlich begrenzt. Im Grunde resultierte der Abstand vor allem aus dem geschichtlichen Erbe, der geistigen Prägung durch eine aristokratische Parlamentstradition und der Bedeutung des common law im Falle Großbritanniens, dem Kult der Volkssouveränität ergänzt um einen starken politischen Rationalismus im Falle Frankreichs. Im Laufe der Zeit und mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in England wurde dieser Abstand immer kleiner.

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Das Zeitalter der Rehabilitierung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreite sich die Exekutivgewalt allmählich von der Ablehnung, der sie zuvor ausgesetzt gewesen war. Drei Faktoren zeichneten für diesen Wandel verantwortlich. Zunächst der Anbruch des demokratischen Zeitalters der Massen mit der Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts in Europa, der das ausgehende 19. Jahrhundert prägte. Um dieser Herausforderung zu begegnen, verbanden die herrschenden Klassen, die Stützen eines oligarchisch gefärbten parlamentarischen Liberalismus, mehr und mehr ihr Anliegen, »dem Volk eine neue Führung zu geben«, mit einer Rückbesinnung auf die Rolle der Exekutive. Der Übergang von der alten Angst vor den Vielen zum neuen Imperativ der Massenführung verdeutlichte dieses Umdenken und führte zu einem neuen Verständnis darüber, wie Bevölkerungen zu regieren seien. Sodann markierte der Erste Weltkrieg einen grundlegenden Neuansatz in der Politik, mit einer Aufwertung von Entschlusskraft und Effizienz gegenüber der vorherigen Betonung parlamentarischer Beratung. Schließlich erweiterte sich der politische Handlungsrahmen aufgrund einer veränderten Wahrnehmung der Anforderungen an staatliches Handeln (die in der Wirtschaft mit dem Keynesianismus ihren Höhepunkt erreichte). Ein Faktor, der selbst zur Erweiterung der Staatsaufgaben hinzutrat. All das manifestierte sich im Übergang zu einem neuen Regime des politischen Willens. Auf das Zeitalter eines Allgemeinwillens, der sich zur Gänze in der Produktion des Gesetzes äußerte, folgte das eines direkter engagierten, auf spezielle Gegenstände ausgerichteten Willens.

Aufstieg der Massen und Stärkung der Exekutive Ab den 1890er Jahren mehrten sich in Europa die Werke, die sich den Auswirkungen dessen widmeten, was man rasch den Anbruch eines »Zeitalters der Massen« nannte, einschließlich der Gefahren sozialer Destabilisierung, die man mit ihm verband. Das in fast alle Sprachen 63

des Kontinents übersetzte Werk des Italieners Scipio Sighele stieß damals auf enorme Resonanz mit seiner Interpretation der Massenunruhen, deren Bilder, ob es sich um revolutionäre Aufstände oder Szenen der Commune handelte, die bürgerliche Vorstellungswelt beherrschten.73 Im selben Kontext veröffentlichte Gabriel Tarde in Frankreich seine ersten interpsychologischen Arbeiten, in dem Bestreben, diese Kollektivphänomene verständlich zu machen.74 In Deutschland war bereits 1859 in diesem Sinne die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft gegründet worden, die Historiker und Juristen mit Anthropologen zusammenbrachte, um mit der systematischen Forschung dessen zu beginnen, was erstmals als »Völkerpsychologie« bezeichnet wurde. Doch war es unzweifelhaft das Werk von Gustave Le Bon, dem in Europa die größte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Auch wenn Le Bon nur ein fachlich umstrittener, populärwissenschaftler Autor war, übte er mit seiner 1895 veröffentlichten Psychologie der Massen einen enormen Einfluss aus.75 Diese neue Angst vor den Massen markierte einen Bruch mit den alten Vorurteilen gegen die Vielen, die das liberalkonservative Milieu das ganze 19. Jahrhundert hindurch beherrscht hatten. Die Idee der Vielen bezog sich auf die Vorstellung unzureichend gebildeter Menschen, unfähig, rationale Entscheidungen zu treffen und sich an einer sachkundigen Debatte über die Definition des Gemeinwohls zu beteiligen. Die Vielen, das war die Summe dieser individuellen Unzulänglichkeiten. Es galt folglich, die Betroffenen vom Wahlrecht auszuschließen oder wenigstens zu verhindern, dass sie in verantwortliche Positionen gelangten. Die Massen waren von anderer Art. Es ging nicht mehr um 73 Vgl. sein berühmtestes Buch, Sighele, La folla delinquante [Dt.: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, Dresden/Leipzig 1897]. 74 Vgl. insbesondere Tarde, »Foules et sectes au point de vue criminel«, Revue des Deux Mondes, 15. November 1893. 75 Man macht sich heute keinen Begriff mehr vom Ausmaß dieses phänomenalen Erfolges: mehr als fünfzig Auflagen in Frankreich und um die zwanzig Übersetzungen machten das Buch zu einem der größten »wissenschaftlichen« Bestseller des 19. Jahrhunderts. Serge Moscovici sprach von der »außerordentlichen Bedeutung des Werkes« und fügte hinzu: »Die ›Psychologie der Massen‹ [ist] von allen Büchern über Sozialpsychologie, die jemals geschrieben worden sind, dasjenige mit dem größten Einfluß« (Moscovici, Das Zeitalter der Massen, S. 79).

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die Eigenschaften der ihr angehörenden Individuen, sondern um das spezifische Kollektivphänomen, das sie darstellten. Die Massen, betonte Le Bon, haben besondere Merkmale, sie sind keine bloße Ansammlung von Individuen.76 »Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursprünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen läßt, die seine augenscheinlichsten Interessen verletzen.«77 Gabriel Tarde wiederum stellte auf erhellende Weise dem Begriff der Masse dem des Publikums entgegen.78 Während das Publikum eine virtuelle, durch gemeinsame Ideen oder Interessen zusammengehaltene Gruppe sei, die eine entfaltete Eigenwelt bilde, sei die Masse als spontanere, durch ihre unmittelbaren Leidenschaften und Reaktionen definierte Gruppe zu begreifen. Das Publikum sei eine Vereinigung von Individuen mit gemeinsamen Eigenschaften, während die Masse ein Kollktivwesen sui generis darstelle. Le Bon verschaffte dieser Unterscheidung ihre volle Medienwirksamkeit, indem er auf die daraus resultierenden politischen Folgen verwies. Nach seiner Meinung war die Herrschaft der Massen unvermeidlich, da sie unmittelbar aus der Einführung des allgemeinen Wahlrechts resultierte. Dennoch sollte die »neue Wissenschaft«, die er begründet zu haben glaubte, ermöglichen, diese Massen kontrollierbar zu machen: »Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das 76 Es gibt »in dem Haufen, der eine Masse bildet, keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Bestandteile, sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z.B. die Basen und Säuren, bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind« (Le Bon, Psychologie der Massen, S. 28). »Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen«, schlussfolgerte er (ebd.). 77 Ebd., S. 33. 78 Tarde formulierte seine Unterscheidung von Publikum und Masse in: Tarde, Masse und Meinung.

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letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen – das ist zu schwierig geworden –, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will.«79 Das Besondere der Massen bestand für Le Bon darin, dass sie irrational und fantasiegeleitet seien. Und deshalb von geschickten Führern leicht zu manipulieren. »Heute«, bemerkte er unvermittelt, »haben es die Führer darauf abgesehen, nach und nach die öffentlichen Gewalten zu ersetzen, soweit man sie erörtern und schwächen kann. Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren, daß die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung.«80 Die Lösung? Sie lag für ihn klar auf der Hand. Zunächst galt es, solche Führer zu überwachen und gegebenenfalls auszuschalten. Aber auch, einen neuen, diesem Zeitalter der Massen angemessenen Regierungsstil zu entwickeln. Wenn die »Menge immer auf den Menschen [hört], der über einen starken Willen verfügt«,81 dann musste der Politiker fortan diese Fähigkeit besitzen. Sein Handeln war dazu bestimmt, vorrangig einer Psychologie und einer Ökonomie des Willens Rechnung zu tragen. Daher die beträchtliche Resonanz, auf die er in politischen Kreisen stieß.82 Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt war einer seiner großen Bewunderer, und in Frankreich drängte es zahlreiche Parlamentarier zu den von ihm organisierten Diners. Aristide Briand, Georges Clemenceau, Paul Deschanel, Édouard Herriot, Raymond Poincaré und André Tardieu gehörten zu seinen begeisterten Lesern, die in seiner »noch in den Kinderschuhen steckenden Wissenschaft« (wie er selbst sagte) den Schlüssel zur modernen Politik sahen. Später zählten Lenin, Mussolini und Hitler ebenso wie de Gaulle zu seinen aufmerksamen Lesern.83 Aus seinen Analysen zog Le Bon den unmittelbaren Schluss, dass das goldene Zeitalter des Parlamentarismus fortan der Vergangenheit 79 80 81 82

Le Bon, Psychologie der Massen, S. 22. Ebd., S. 103. Ebd., S. 101. Vgl. Marpeau, Gustave Le Bon. Parcours d’un intellectuel; und Rouvier, Les Idées politiques de Gustave Le Bon. 83 Bezüglich genauerer Angaben zu diesen Einflüssen vgl. ebd. »Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu, der ihn besitzt«, erklärte Gustave Le Bon (Psychologie der Massen, S. 101).

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angehöre. Weil die Versammlungen nicht imstande seien, die Art von sichtbarem und geschlossenem Willen zum Ausdruck zu bringen, der nunmehr erforderlich sei. Die Demokratien müssten sich an einer starken, auf einer stabilen Parlamentsmehrheit basierenden Exekutive ausrichten.84 Die von ihm erhoffte Stärkung der Exekutivgewalt in den Demokratien erschien ihm umso notwendiger, als das Zeitalter der Massen die Gefahr beinhaltete, zu einem Aufstieg der Diktaturen zu führen. Er veröffentlichte hellsichtige Überlegungen zu diesem Thema, in denen er davor warnte, dass der Triumph des Faschismus und des Kommunismus die automatische Konsequenz des Versäumnisses wäre, neue Formen demokratischen Regierens einzuführen.85 Er unterstützte folglich nach dem Ersten Weltkrieg alle Pläne zur Stärkung der Exekutive, die auf die Einführung eines wirklich regierenden Premierministers abzielten. Die relative Unterordnung der Legislative, die daraus folgte, wurde von ihm also nicht in einem theoretischen oder verfassungsrechtlichen Sinne verstanden. Sie entsprang vermeintlich objektiven und unumgänglichen Erwägungen psychologischer und soziologischer Art. Das veränderte den Rahmen der Debatte grundlegend. Durch ihn wurde die Exekutive in ihrer praktischen Notwendigkeit, aber auch theoretisch rehabilitiert. Der Einfluss Le Bons in politischen Kreisen beruhte auch auf den ungewohnten Begriffen, mit denen er die Methoden der Politiker, Stimmenfang zu betreiben, rechtfertigte. Serge Moscovici scheute sich deshalb nicht, ihn als »Machiavelli der Massengesellschaften« zu bezeichnen.86 Das Kapitel seines Werkes über die »Wählermassen« enthält ein regelrechtes kleines Handbuch mit »Empfehlungen für die 84 »Die großen Fragen, die in den Parlamenten zu lösen sind«, schrieb er, »können nur mit einer Mehrheit gelöst werden, die sich eng um einen Staatsmann schart, der in der Lage ist, sie zu führen, nicht mit Zufallsmehrheiten, die sich in der selben Woche auflösen, in der sie sich gebildet haben« (Le Bon, Le Déséquilibre du monde, S. 199). 85 Vgl. seine Artikel »L’évolution de l’Europe vers des formes diverses de dictature« sowie »Psychologie des récents mouvements révolutionnaires«, die nach dem Staatsstreich Miguel Primo de Riveras in Spanien und der Machtübernahme Benito Mussolinis in Italien erschienen. 86 So lautet der Titel eines Unterkapitels im zweiten Teil von: Moscovici, Das Zeitalter der Massen, S. 79–93.

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Kandidaten«, das sich an amoralischer Offenheit mit den klassischen Schriften der Theoretiker der Staatsräson messen kann. Der Kandidat müsse »übertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen, die phantastischsten Versprechungen zu machen«.87 Er betonte die Bedeutung der »Worte und Redewendungen«, weil derjenige, der »die Massen zu behandeln weiß, […] sie nach Belieben [führt]«. So forderte er beispielsweise die Kandidaten auf, den Arbeitern gegenüber nur vom »verderblichen Kapitalismus«, von »gemeinen Ausbeutern« und der notwendigen »Sozialisierung der Besitztümer« zu sprechen. Er zeigte auch Methoden auf, um den Gegenkandidaten zu vernichten. All das geschah ohne den geringsten Zynismus. Er betrachtete nämlich diese Praktiken ganz unvoreingenommen als eine im Zeitalter der Massen unverzichtbare Regierungstechnik. Keinerlei Ressentiments auch gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht. Selbst wenn er, philosophisch gesprochen, sicherlich nicht zu dessen leidenschaftlichen Befürwortern zählte, betrachtete er es dennoch als unumkehrbare Errungenschaft moderner Gesellschaften, die zu diskutieren kein Anlass mehr bestand. Auf diese Weise konnte er sowohl die Demokraten als auch die seinerzeit zahlreichen Anhänger von Elitetheorien zufriedenstellen. Die Massen waren eine Tatsache, und ein Gelehrter missachtet keine Tatsachen: Das war die Botschaft, die dafür sorgte, dass er in allen Lagern gelesen wurde. Wenn die Politiker nicht den schlimmsten Demagogen das Feld überlassen wollten, mussten sie den Umgang mit den Massen erlernen. Und insofern »die Menschen, die in den Massen vereinigt sind, […] ohne Führer nicht fertig werden«88, war dieser die Figur, an der sich die Politiker künftig messen lassen mussten, und nicht mehr der traditionelle Repräsentant.

Der Schock des Ersten Weltkriegs und der Führerkult Während gegen Ende des 19. Jahrhunderts das allgemeine Wahlrecht in die Institutionenlandschaft der europäischen Länder und der Vereinigten Staaten Einzug hielt, wenn auch in unterschiedlichem Tempo, machte sich gleichzeitig allenthalben eine Welle staatsbürgerlicher Enttäuschung breit. Kritik an der Vereinnahmung des gesellschaftlichen 87 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 147. 88 Ebd., S. 158.

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Lebens durch die politischen Apparate, Feststellung einer anhaltend schlechten Form der Repräsentation, Bemängelung der Defizite des Parlamentarismus, ganz zu schweigen von dem durch Korruptionsfälle bewirkten moralischen Schock: Die Geschichte der Demokratie war seinerzeit gleichermaßen eine der Desillusionierung wie der Errungenschaften, die ihr den Weg ebneten. Äußerte sich diese Desillusionierung auch häufig in der Suche nach direkteren Formen des staatsbürgerlichen Ausdrucks, so wurde der Gegenstand der sozialen Macht selbst kaum jemals hinterfragt. Abgesehen von den Ausläufern der bonapartistischen Kultur in einem Land wie Frankreich (siehe das boulangistische Intermezzo), wurde der Gedanke, die Demokratie müsse mit dem Bekenntnis zur Besonderheit einer unmittelbar tätigen Exekutive einhergehen, nicht formuliert. Der Antiparlamentarismus der Epoche artikulierte sich in geschlossenen Kreisen, häufig begleitet von einem selbstgenügsamen Zynismus. Mit dem Ersten Weltkrieg sollte sich alles von Grund auf ändern. Die politische Kritik wurde nunmehr im Hinblick auf die Erwartung einer starken Macht formuliert, deren Notwendigkeit sich durch die Erfordernisse der Kriegsführung unmittelbar aufzudrängen schien.89 Dieser Umschwung war in Frankreich besonders bemerkenswert, da das Land sich traditionell mit der Anerkennung der spezifischen Bedeutung der Exekutive am schwersten tat. »Der Krieg«, bemerkte Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika, »vermehrt […] unvermeidlich in hohem Grade die Machtbefugnisse der bürgerlichen Regierung; er zentralisiert in deren Händen fast zwangsläufig die Lenkung aller Menschen und die Verwendung aller Dinge.«90 Genau so kam es zwischen 1914 und 1918. Dabei war anfangs von den Militärbehörden gar keine besondere industrielle Mobilmachung vorgesehen. Alle Pläne des Generalstabs waren auf einen kurzen Krieg ausgerichtet und berücksichtigten lediglich die in Friedenszeiten angelegten Vorräte. Spätestens mit Andauer der Kampfhandlungen Ende 1914 veränderte sich die Problemlage. Alle Nachschubprogramme 89 Umgekehrt kann man vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen der Durchsetzung des Parlamentarismus im 19. Jahrhundert und der Tatsache gibt, dass es in Europa im Großen und Ganzen ein Zeitalter des Friedens war (abgesehen von dem kurzen deutsch-französischen Konflikt und dem Krimkrieg). 90 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 761.

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an Waffen und Munition mussten revidiert, Mangelsituationen bewältigt, Beschlagnahmungen organisiert, das tägliche Überleben der Bevölkerung unter den Bedingungen einer planlosen Produktion gesichert werden. Das militärische Vorgehen an der »Front« war von der Organisation der »Etappe« nicht mehr zu trennen. Dazu brauchte es ein koordiniertes Handeln, gestützt auf eine Exekutive, die in der Lage war, die Energien und Kapazitäten zu bündeln. Das war mit einer fragmentierten, dem Parlament unterworfenen Ministerialstruktur nicht zu leisten. In diesem Kontext begann de Gaulle, seine Sicht einer notwendigen Rehabilitierung der Exekutive zu entwickeln. »Einen Krieg zu führen«, sagte er dementsprechend 1917, »bedeutet für ein Volk, alle seine Kräfte zu sammeln und zu mobilisieren.«91 »Was die allgemeine Kriegsführung angeht«, heißt es bei ihm weiter, »so haben wir keinen Souverän, also niemanden, selbst in der Theorie nicht, der die Regierung und die Befehlsgewalt auf sich vereinigen kann. Dabei besagt die Verfassung von 1875 eigentlich, dass der Staatspräsident der Chef der Exekutive ist, dass die Land- und Seestreitkräfte unter seinem Befehl stehen, dass er die Verträge unterzeichnet, dass er alle auf ihre zivilen und militärischen Posten beruft. Nach dem Wortlaut der Verfassung sollte der Staatspräsident ganz selbstverständlich der oberste Kriegsherr sein; doch aufgrund unserer Gepflogenheiten, unserer politischen Traditionen ist er von der eigentlichen Exekutivgewalt ausgeschlossen, man hat ihn zu einem ständigen Berater des Ministerrates und zu einer repräsentativen Figur degradiert.«92 In Ermangelung eines starken Präsidenten wurde vielfach eine Veränderung der Regierungsstruktur gefordert, um sie mit einem echten Oberhaupt zu versehen. In seinen Lettres sur la réforme gouvernementale von 191793 verlieh Léon Blum dieser Forderung am prägnantesten Ausdruck. Er konstatierte zunächst ein Versagen: »Unsere [Minister-]Räte sind niemals zu einer klaren Entscheidung, kaum jemals zu einer nützlichen Diskussion fähig. Zur Entscheidungsfindung 91 Vortrag, abgedruckt in: de Gaulle, Lettres, notes et carnets, S. 460. 92 Ebd., S. 473. 93 1917 in der Revue de Paris erstveröffentlicht, erschienen die Briefe ein Jahr später in Buchform. Wir zitieren sie hier nach der Ausgabe in: Blum, L’Œuvre de Léon Blum, 1927–1934, Band 1.

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und Ausführung sind sie zu groß, zu viele gute, aber gegensätzliche Absichten blockieren sich gegenseitig. Sie besitzen keines der üblichen Organe, über die eine Exekutive unbedingt verfügen sollte. Obwohl das Gesetz in vielen Fällen eine Beschlussfassung durch den Ministerrat vorsieht, hat der Rat keinen Sekretär, keinen Protokollanten, keine Archive. Keine seiner sogenannten Entscheidungen hat eine präzise und verbindliche Form […]. Ich erinnere mich nicht, dass im Ministerrat je ein wichtiges Gesetz, eine weitreichende Reform, ein allgemeiner Verwaltungsplan diskutiert worden wäre. Das Land war mit den schwerwiegendsten Fragen konfrontiert, bevor unsere Räte sie debattiert oder überhaupt nur wahrgenommen hatten.«94 Die Lösung? Sie bestand für ihn darin, einen wirklichen Regierungschef zu installieren, dessen einzige Aufgabe die Führung und Koordinierung der Minister wäre, anstatt, wie damals üblich, zusätzlich zu dieser Funktion noch ein spezielles Ministeramt zu übernehmen, dem er einen Großteil seiner Zeit widmete. »Die Regierung braucht einen Chef, genauso wie die Industrie einen Boss braucht«, lautete seine berühmt gewordene Formulierung.95 Dieser müsse »ständig das Ruder in der Hand, Karte und Kompass im Auge haben«.96 Auf die Frage: »Wird dieser Chef einer oder mehrere sein?«97, antwortete er: »In einem demokratischen Staat liegt die Souveränität theoretisch beim Volk und den Versammlungen, die es repräsentieren. Praktisch ist sie einer Person übertragen. Die Notwendigkeit will es so.«98 Eine solche Sprache stand in einen totalen Kontrast zur republikanischen Tradition. Blum trieb diesen Sinneswandel sehr weit voran. Er scheute sich nicht einmal, diesen Chef, diesen »Premier« unter den Ministern (der Begriff tauchte in diesem Zusammenhang erstmals auf), in folgender provokanter Weise zu präsentieren: »Gewöhnen wir uns daran, in ihm zu sehen, was er ist oder sein sollte: ein Monarch – ein Monarch, dem die Richtlinien seines Handelns vorgezeichnet sind, ein Monarch auf Zeit und ständig absetzbar, der aber dennoch, solange das 94 95 96 97 98

Ebd., S. 517. Ebd., S. 509. Ebd., S. 518. Ebd., S. 522. Ebd., S. 509.

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Parlament ihm Vertrauen schenkt, mit der gesamten Exekutivgewalt versehen ist und alle dynamischen Kräfte der Nation in sich vereint und verkörpert.«99 Ansonsten, argumentierte er, hätte schon der Gedanke einer verantwortlichen Regierung keinen Sinn. Blum blieb gleichwohl ein entschiedener Verteidiger des Parlamentarismus. Nur galt es in seinen Augen, dessen Struktur zu verändern. Das Parlament sollte lediglich ein »strenger Kontrolleur« und »Inspirator des Exekutivhandelns« sein. Ihm gegenüber stünde eine »einheitliche Leitung«, die dem als »Chef« anerkannten Ratspräsidenten anvertraut wäre. Dieser wäre somit der »Führer« des Parlaments, dazu berufen, »das ganze politische Geschehen zu ordnen«. Er würde über dem Parlament thronen, damit er es »von der Höhe seines Kommandopostens herab gelassen betrachten und zur Gänze beherrschen könne«.100 Daran, schloss er, »sollten wir uns gewöhnen«. Blum ging sogar noch weiter, indem er befand, dass »die praktischen Methoden, diese Herrschaft auszuüben, sich seit Ludwig XIV. nicht verändert haben«.101 Das bedeutete, die Exekutivgewalt als in jedem politischen System unverzichtbare politische Führungsfunktion in ihrer ganzen »Natürlichkeit« und Notwendigkeit wiederherzustellen. Nur um diesen Preis, so Blum, könne das Land seine »Ohnmacht« überwinden, »das vergebliche Bemühen und nutzlose Treiben«, das in Kriegszeiten besonders schädlich sei, hinter sich lassen. Clemenceau verkörperte in seiner Person eine Art unmittelbarer Antwort auf diese Forderung. Was Blum angeht, so veranlasste ihn sein späteres Engagement in der sozialistischen Partei dazu, sich von einem Teil dieses Vokabulars zu distanzieren und gleichzeitig dem Parlamentarismus gegenüber größere Vorbehalte zu entwickeln, indem er sich auf dem Kongress von Tours zum marxistischen Begriff der Diktatur des Proletariats bekannte.102 Gleichwohl war sein Buch von 1918 ein beredtes Zeugnis dafür, dass sich ein Wandel im Denken vollzogen hatte. 99 Ebd., S. 511. »So lange sie kein Parlamentsvotum vom Sockel stürzt, sind unsere Regierungschefs Könige« (ebd., S. 518). 100 Ebd., S. 515. 101 Ebd., S. 518. 102 Zu seinen Positionen und deren Entwicklung hinsichtlich dessen, was er das »Problem der Effizienz in einer Demokratie« nannte, vgl. Le Grand, Léon Blum (1872–1950).

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Mit dem Ersten Weltkrieg hörte man also auf, das demokratische Ideal ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Ausübung und Vervollkommnung der legislativen Gewalt zu betrachten. Die Zeit war gekommen, wie es eine der intellektuellen Leitfiguren der Epoche formulierte, »den Abstand zwischen den beiden Begriffen zu verringern, die man gerne als Gegensätze behandelte: Autorität auf der einen, Demokratie auf der anderen Seite«.103 Der Kommandogedanke, der sich in der Kriegsführung aufgedrängt hatte, wurde nicht mehr als von vornherein unvereinbar mit der Anerkennung der Volkssouveränität betrachtet; er wurde nicht mehr mit der strukturell entwürdigenden Sicht der Unterwerfung unter einen fremden Befehl gleichgesetzt. Die Kommandoterminologie trat in dieser Zeit an die Seite der Regierungsrhetorik. Mehr noch, sie bildete die allgemeine Bezugsgröße bei der Begründung der unter Kriegsbedingungen als lebenswichtig geltenden Kunst der Menschenführung und rationalen Sachorganisation. In Großbritannien versinnbildlichte David Lloyd George dieses neue Regime der Exekutive mit seinem berühmten War Cabinet, dessen »Büro für allgemeine Angelegenheiten« die Tätigkeit der verschiedenen Ministerien auf bis dahin noch nicht erlebte Weise zentralisierte. In Frankreich wurde durch die Kriegsführung zunächst die Position des Staatspräsidenten an den Rand gedrängt. Hatte Poincaré nach seiner Wahl am 17. Januar 1913 noch davon geträumt, das Amt durch Vergrößerung des Wahlmännergremiums zu stärken, so sah er sich nach Ausbruch der Feindseligkeiten auf seine beschränkten Repräsentativfunktionen verwiesen. »Der Krieg war ein regelrechtes schwarzes Loch für den Staatspräsidenten«, kommentierte ein zeitgenössischer Beobachter.104 Es war vor allem Clemenceau, der ab November 1917 den Bruch mit der vorherigen Tradition der Versammlungsregierung verkörperte. Auch wenn er genug Geschick besaß, sich auf die großen Ausschüsse des Senats und der Abgeordnetenkammer zu stützen,105

103 Bouglé, »Ce que la guerre exige de la démocratie française«, S. 45. 104 Zitiert von Rousselier, Du Gouvernement de guerre au gouvernement de la défaite, S. 42. 105 Vgl. diesbezüglich die Forschungsergebnisse von Bock, Un Parlementarisme de guerre; sowie das klassische Werk von Renouvin, Les Formes du gouvernement de guerre.

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schlüpfte er doch als Erster in die Rolle jenes von Blum und vielen anderen heißersehnten Premierministers. Clemenceau wollte zunächst mit dem brechen, was er schroff als »Defätismus im Inneren« bezeichnete, das Produkt einer parlamentarischen Kultur des Kompromisses und der Risikoscheu.106 Zu Beginn des Jahres 1917 hatte er in bissigen Artikeln die aktuellen Regierungspolitiker als »Führungsriege von unübertroffener Kurzsichtigkeit« verspottet, war über Briands »Lust am Schwadronieren« hergezogen, hatte sich über Poincairés Wiederkäuen von »Gemeinplätzen« mokiert und hatte beiden vorgeworfen, mit ihrer Phraseologie »unerfreuliche Aspekte der Wirklichkeit« zu kaschieren.107 Einige Tage vor seiner Ernennung zum Regierungschef veröffentlichte er in L’Homme enchaîné den letzten seiner Leitartikel mit dem Titel: »Regierung gesucht«. Darin forderte er dazu auf, »für jeden sichtbar zu regieren« und eine »Regierungsmannschaft von Arbeitern, die arbeiten wollen«, zu bilden.108 »Werden wir eine Regierung bekommen oder werden wir keine bekommen? Darin liegt die Krise, die wirkliche Krise, eine Krise des Charakters und des Willens. Seit drei Jahren warten wir auf die Antwort«, hatte er bereits kurz zuvor gefragt109 und gegen die »Herrgötter des offiziellen Parlamentarismus« gewettert, die nur ihre »Mixturen aus Gruppen und Interessen« zu brauen verstünden.110 Nach der starken Exekutive, die während des Krieges geschaffen und erprobt worden war, bestand auch nach dem Krieg anhaltender Bedarf, befördert durch die neuen Planungsanforderungen einer komplexeren und von den Krisenturbulenzen der 1920er und 1930er Jahre geschüttelten Wirtschaft und Gesellschaft. Während des Krieges hatte sich das Erfordernis nach einer effizienten Führung in allen menschlichen Tätigkeitsbereichen bemerkbar gemacht. Nicht nur in den Armeen, auch in den Unternehmen und der Verwaltung erwies es sich als unumgänglich. Bereits um die Wende 106 Vgl. das polemische Kapitel, dass er diesem Defätismus in Grösse und Tragik eines Sieges widmete. Er bezeichnete darin insbesondere Briand als den »Kapellmeister des französischen Defaitismus« (S. 279). 107 Clemenceau, L’Homme enchaîné, 25. Februar 1917. 108 Clemenceau, L’Homme enchaîné, 15. November 1917. 109 Clemenceau, L’Homme enchaîné, 4. September 1917. 110 Clemenceau, L’Homme enchaîné, 9. September 1917.

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zum 20. Jahrhundert war das Thema der rationalen Arbeitsorganisation in Verbindung mit einer neuen Methode der Betriebsführung aufgetaucht, wobei das Werk von Frederick Winslow Taylor einen wesentlichen Einschnitt markierte (die amerikanische Originalausgabe von Die Betriebsleitung erschien 1903, die seines Klassikers Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung 1911). Es begründete jenseits des Atlantiks ein ganzes Korpus entsprechender Fachliteratur. In Frankreich spielte Henri Fayol eine vergleichbare Rolle. Auch wenn es beiden Autoren vorrangig darum ging, die Unternehmensleitung und das Verwaltungswesen effizienter zu gestalten, war ihr Einfluss viel weitreichender. Er ist in der Tat aufschlussreich, dass ihre Hauptwerke von führenden Kreisen der Zeit als allgemeine Leitungshandbücher gelesen wurden. Für Taylor lief übrigens die ganze Problematik menschlicher Organisation auf eine Frage der Menschenführung hinaus,111 während Fayol die »Regierung« zum großen Sammelbegriff der verschiedenen Kommandostrukturen erhob. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass beide begeisterte Leser in der Politik hatten. Léon Blum und Lenin äußerten sich gleichermaßen bewundernd über das Werk Taylors. In Frankreich spielte, nebenbei bemerkt, das Milieu der Ingenieurshochschulen eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung eines neuen Verständnisses einheitlicher, auf die Armee wie auf die Industrie, die Verwaltung und schließlich die Politik anwendbarer Führungsstrukturen.112 Zugleich begann sich zu dieser Zeit in der Vorstellung vieler Leute die Figur des Führers als positive und für die moderne Welt notwendige Erscheinung durchzusetzen. Leadership wurde so zu einem Zentralbegriff der amerikanischen Sichtweise gesellschaftlicher Organisation. In Deutschland sprach man vom Führerprinzip*113. In der Sowjetunion wurde Stalin persönlich als Vojd’, das heißt zugleich als Führer 111 »In der Verwaltung«, schrieb er, »sind die meisten Eigenschaften erlernbar […]. Man erlernt den Umgang mit Menschen genauso wie den mit Tieren oder Gegenständen: ein Menschenführer ist einem Schafhirten nicht unähnlich« (zitiert nach Cohen, »Foucault déplace les sciences sociales«, S. 71). 112 Vgl. zum Beispiel Wilbois/Vanuxem, Essai sur la conduite des affaires et la direction des hommes; oder Courau, Psychologie du haut commandement des entreprises. 113 *Im Original deutsch (auch im Folgenden).

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und Leiter, bezeichnet, während Lenin bereits früher die unverzichtbaren Vorzüge einer guten »Führerorganisation« angepriesen hatte.114 Es handelte sich um eine regelrechte Revolution. Man hatte sich inzwischen weit von der vorherigen Vorstellung entfernt, die gute Macht allein unter dem Gesichtspunkt der anonymen Regel zu betrachten, wie in den Theorien der Liberalen und der Revolutionäre beidseits des Atlantiks. Weit auch von der Parole »Nieder mit den Führern!«115, die die gewerkschaftliche und die sozialistische Kultur nicht weniger stark prägte als den republikanischen Geist des 19. Jahrhunderts. Der Führerkult war das ganze 19. Jahrhundert hindurch alleiniger Bestandteil der autoritär-traditionalistischen Kultur gewesen. In diesem Sinne kritisierte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Nikolai Berdjajew vehement den Zusammenhang zwischen dem demokratischen Gedanken und einer Tendenz zur »Depersonalisierung« der Welt.116 Inzwischen verherrlichte man allenthalben diese Figur des Führers und trat damit aus dem Zeitalter der Unpersönlichkeit als notwendiger Erscheinung der guten Macht heraus. Diese Glorifizierung beinhaltete mehrere unterschiedliche Dimensionen. Für manche bedeutete sie, und in Frankreich besonders massiv, die Wiederkehr eines alten Themas, der Stellung der »Aristokratien« in der Demokratie, das im ganzen 19. Jahrhundert bestimmend gewesen war. Sie nahm mitunter sogar eine offen anachronistische Wendung an, in traditionalistischen Milieus, die nicht müde wurden, die Moderne zu verdammen und zur Rückkehr zu traditionellen Werten von Ordnung und Autorität aufzurufen.117 Zugleich klang sie für viele nach einer Herrschaft der Manager. Auf politischer Ebene 114 Über die zunehmende Bedeutung der Führerfigur vgl. zusammenfassend Cohen, Le Siècle des chefs. 115 Eine Parole, deren Einfluss tatsächlich weit über anarchistische Kreise hinausreichte (auch wenn es einer der ihren war, Joseph Déjacque, der einem seiner Bücher 1912 diesen Titel gab) [vgl. »Nieder mit den Bossen«, in: Déjacque, Utopie der Barrikaden. Der Text aus dem Jahr 1859 wurde 1912 als Broschüre wiederveröffentlicht, AdÜ]. 116 Berdiaev, De l’Inégalité, S. 51. 117 In Frankreich etwa stellte Henry Bordeaux seinem Buch Joffre ou l’art de commander folgende Widmung voran: »Dem unbekannten Soldaten, der im Namen seiner Kameraden, der lebenden wie der toten, ja, im Namen des Landes selbst, nach Führern verlangt.«

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nahm sie häufig eine antiparlamentarische Färbung an. Dennoch trafen sich alle diese vielfältigen Meinungen in ihrem Streben nach einer Aufwertung der Exekutivgewalt. Letztere trat wieder in den Vordergrund und war fortan in ihrer zentralen Bedeutung und Notwendigkeit fest verankert.

Die Erweiterung staatlichen Handelns und der Niedergang des Gesetzes Nach dem Ersten Weltkrieg erweiterte sich auch überall die Sphäre staatlichen Handelns. In der Wirtschaft oder Industrie nicht weniger als im sozialen Bereich. Das Problem war nicht mehr, Regeln zu definieren, sondern konkrete Ergebnisse zu erzielen. Es kam nunmehr darauf an, »Maßnahmen zu ergreifen«, Strategien zu erarbeiten. Auch dadurch tendierte die Exekutive dazu, in diesem neuen Kontext automatisch die Führung zu übernehmen. Bertrand de Jouvenel bezeichnete diese Entwicklung als Übergang von einer »Vorherrschaft des Gesetzes« zu einer »Vorherrschaft des Ziels«, zu einer Teleokratie, die das alte Modell der Nomokratie ersetzte. »Heutzutage ist die Regierung schuld«, schrieb er, »wenn die Vollbeschäftigung nicht aufrechtzuerhalten ist, wenn das Sozialprodukt nicht steigt, wenn die Lebenshaltungskosten steigen, wenn die Zahlungsbilanz unausgeglichen ist, wenn das Land im Vergleich zu anderen technisch ins Hintertreffen gerät. Wenn die Bildungseinrichtungen der Wirtschaft keine Fachkräfte im verlangten Umfang oder Verhältnis zu Verfügung stellen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist eine Spekulation auf die Zukunft, die eine ständige Überprüfung der Kalküle und eine entsprechende Korrektur der getroffenen Maßnahmen erfordert. Diese Aufgabe verlangt nach einem einfacheren und geschmeidigeren Modus Operandi als die Gesetzgebung.«118 Daher der neue Begriff der Wirtschaftspolitik, der seinerzeit aufkam und den Übergang in ein neues Zeitalter des Voluntarismus begleitete. Die Wirtschaft wurde fortan als ein System optimierbarer Größen und Ströme betrachtet.119 Das stellte einen markanten Bruch mit vorherigen Vorstellungen von Sinn und Zweck des Regierens dar. Für die liberalen Regierungen des 19. Jahrhunderts wäre ein artifizieller 118 de Jouvenel, »Sur l’Évolution des formes de gouvernement«, S. 15. 119 Vgl. Hall (Hg.); The Political Power of Economic Ideas.

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Begriff wie Wirtschaftspolitik sinnlos gewesen, weil alle Anpassungen als über die »natürlichen« Gesetze des Marktes vermittelt galten. Ihre einzige Sorge war demnach, darauf zu achten, dass der Staat seine institutionelle Position nicht missbraucht, sondern eine angemessene Währungspolitik betreibt und den Grundsatz des ausgeglichenen Haushalts befolgt. Im marxistischen Universum dachte man in vergleichbarer Weise, dass die »ehernen Gesetze« des Kapitalismus ihre unerbittlichen Zwänge ausüben und jede Systemreform unmöglich machen würden, nach den bekannten Marx’schen Formulierungen von 1865 in Lohn, Preis und Profit. Ideen wie »Belebung« oder »Stabilisierung« der Wirtschaft hatten in diesem Rahmen keinen Platz. Die Liberalen waren allenfalls zu dem Zugeständnis bereit, dass der Staat dem zyklischen Anstieg der Arbeitslosigkeit durch öffentliche Beschäftigungsprogramme in wirtschaftlichen Krisenzeiten entgegenwirken könne. Marxistisch orientierte Ökonomen dachten im Grunde nicht anders. Krisen waren für sie im Kapitalismus unvermeidlich: nur ein Systemwechsel, der Übergang zum Sozialismus, konnte diesen Zustand ändern. Sobald die Wirtschaft aber als ein System optimierbarer Größen und Ströme betrachtet wurde, konnte sie gleichzeitig zum Gegenstand des Handelns werden. Alle wirtschaftlichen Größen: Währung, Haushalt, Einkommen, Preise, Angebot, Nachfrage, waren in diesem neuen Kontext beeinflussbar. Übrigens trug auch die Sprache diesem Wandel Rechnung. Die Anwendbarkeit des Begriffs »Politik« erweiterte sich auf alle Bereiche. Erst mit Einsetzen der keynesianischen Revolution konnte man von Preispolitik, Lohnpolitik, Steuerpolitik usw. sprechen. Konjunktureingriffe und Strukturmaßnahmen wurden fortan zu untrennbaren und einander ergänzenden Bestandteilen einer grundlegenden Neuordnung staatlicher Handlungsfelder und -impulse. In diesem Zusammenhang tauchte eine neue zentrale Funktion auf: die der Regulierung. Sie veränderte alle vorherigen Vorstellungen von staatlichem Handeln. Sie machte das frühere Denken in Begriffen der Zuständigkeit/Nicht-Zuständigkeit der Staatsgewalt hinfällig, das sich danach richtete, welcher Art – öffentlich oder privat – die betroffenen Bereiche oder Problematiken waren (darf sich der Staat in die Armutsbekämpfung, das Verkehrswesen, das Schulwesen usw. einmischen?), oder sich an philosophischen Grundsätzen orientierte (darf der Staat, 78

und wenn ja, wann, an die Stelle des Individuums treten? Wenn er für soziale Gleichheit sorgen soll, darf er sich um die Gleichheit der Bedingungen kümmern?). Der Begriff der Regulierung entsprang diesem Analysekontext: er verlangte funktional nach der Existenz eines zentralen Akteurs, einer kombinatorischen Kraft, die nur die Exekutive und ihr verlängerter Arm, der Staat, sein konnte. Der Keynesianismus veränderte damit den Blick, mit dem man selbst die herkömmlichsten Elemente des staatlichen Handelns betrachtete. »Aus diesem theoretischen System«, schrieb Pierre Mendès France, »ergaben sich eine Anzahl miteinander verknüpfter praktischer Maßnahmen. Alle mit dem Finanzwesen verbundenen wirtschaftlichen Gegebenheiten, der Kredit, das Geld, die Steuern, erhielten dadurch eine neue Bedeutung und neue Funktion zuerkannt.«120 Diese funktionale Erweiterung des Exekutivbereichs ging schließlich drittens mit einer neuen Art der Gesetzesproduktion sowie einem Wandel in Form und Inhalt des Gesetzes selbst einher. Zunächst wurde das Gesetz mehr und mehr zu einem Produkt der Exekutive. Aufgrund der Bedingungen, unter denen Gesetzesentwürfe eingebracht und die Tagesordnung der Parlamente festgelegt wurde. Die inflationäre Gesetzgebung führte außerdem zu einer Veränderung der Gesetzesinhalte selbst. Gesetze waren längst keine allgemeinen Regeln zur Ordnung des Gemeinschaftslebens mehr, »einfach und gering an Zahl«, sondern gleichbedeutend mit Vorschriften oder Richtlinien zur Regelung immer spezifischerer und speziellerer Gegenstände geworden. Das Gesetz hatte sich faktisch in eine Regierungsmethode unter anderen verwandelt. Die alte Unterscheidung zwischen der mit dem Allgemeinen identifizierten Legislative und der mit dem Partikularen identifizierten Exekutive hatte sich in diesem Zusammenhang vollkommen verflüchtigt. Ein spektakuläres Zeugnis dafür ist die Vermehrung der Gesetzesverordnungen im Frankreich der 1920er und 1930er Jahre, in der dieser Bedeutungszuwachs der Exekutive gegenüber der Legislative zum Ausdruck kam. Der Rückgriff auf Gesetzesverordnungen stellte eine neue Art des Regierens dar. Ihre Zunahme bedeutete ein Zurücktreten der Legislative hinter die Exekutive.121 Doch auch unabhängig von dieser 120 Mendès France/Ardant, Theorie und Praxis im Wirtschaftsleben, S. 11. 121 Vgl. Hispalis, »Pourquoi tant de loi(s)?«.

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spezifischen Technik hatte sich das Gesetz als solches grundlegend verändert und war fortan »weder allgemein noch abstrakt noch dauerhaft«122. Es war häufig nur noch der strukturelle Rahmen spezifischer Entscheidungen, dem Traum mancher Minister entsprechend, ihren Namen mit dem eines Gesetzes verbunden zu sehen, als Zeugnis ihres flüchtigen Zugriffs auf den Lauf der Dinge.

122 Burdeau, »Essai sur l’évolution de la notion de loi en droit français«, S. 44. Vgl. vom selben Autor »Le Déclin de la loi«. Diese beiden älteren Artikel sind nach wie vor die herausragenden Studien zu diesem Thema.

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Die beiden Versuchungen Die Dynamik des großen Wandels, den wir gerade untersucht haben, führte zu einer praktischen Rehabilitierung der Regierungsgewalt. Das bedeutete jedoch keineswegs deren automatischen »Eintritt in die Demokratie«. Denn als die Exekutive zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre augenscheinliche Notwendigkeit unter Beweis stellte, missglückten die ersten Versuche, sie in ihrer spezifischen Beschaffenheit in einen demokratischen Rahmen zu integrieren. Das Scheitern der Weimarer Republik, auf das wir noch eingehen werden, war die offenkundigste Bestätigung dieser Tatsache auf europäischem Boden. Zunächst waren fast überall die Versuche, diese Exekutive zu begreifen und mit Leben zu erfüllen, darauf ausgerichtet, sie der demokratischen Ordnung zu entziehen. Und zwar in zweierlei Richtung. Zum einen durch eine Banalisierung und Entpolitisierung der auf ihre Verwaltungsdimension reduzierten Exekutive. In diese Richtung ging das technokratische Ideal, das in den Vereinigten Staaten und vor allem in Frankreich Zulauf fand. Zum anderen durch eine Radikalisierung und Verselbstständigung der Exekutive, bedingt durch die Entstehung einer Welt, in der der Ausnahmezustand als Normalzustand des Politischen galt. Diese Sichtweise bildete die Grundlage des Nationalsozialismus und wurde von einem der großen Juristen des Regimes, Carl Schmitt, in eine prägnante Theorie gefasst. Allerdings darf man diese beiden Arten, die Exekutive der demokratischen Ordnung zu entziehen, nicht auf eine Stufe stellen, schon deshalb nicht, weil sie in einem gegensätzlichen Verhältnis zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie stehen: Die technokratische Vision ist mit ihr verträglich, während ein radikaler Dezisionismus sie absolut ausschließt. Gleichwohl handelt es sich um parallele Strategien, eine demokratische Verankerung der Exekutive zu vermeiden.

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Das technokratische Ideal Das Bekenntnis zur Zentralität der Exekutive nahm zunächst den Weg über eine Glorifizierung der Verwaltung. Der Antiparlamentarismus und die Ablehnung des Parteiensystems führten nach dem Ersten Weltkrieg dazu, die Verselbstständigung des Verwaltungsapparats als angemessene Form einer effizienten Exekutive anzusehen. Dieses Verständnis kreiste um zwei große Themen, die es zu unterscheiden gilt, selbst wenn sie eng miteinander verknüpft sind: erstens, das Projekt einer Rationalisierung des Staates, aus einer Managementperspektive betrachtet; und zweitens, das Projekt, eine Verwaltung zu begründen, die ihre Stärke und Legitimität aus ihrer Entpolitisierung in einem politisch-institutionellen Sinne bezieht. Diese Vorhaben bildeten die beiden Seiten des Ideals, das wir heute als »technokratisch« bezeichnen würden. Man kann seine Herausbildung im Falle Frankreichs und Amerikas beispielhaft nachvollziehen. Beginnend mit der Untersuchung der ersten Dimension, der »wissenschaftlichen« Politik. In Amerika wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts das Ziel formuliert, eine rationale Verwaltung zu begründen, um einer effizienten Exekutive den Weg zu ebnen. Zwei Namen stehen exemplarisch für die Verfolgung dieses Ansatzes, der von Woodrow Wilson und der von Frank Goodnow. Ersterer, der 1913 zum Präsidenten des Landes gewählt werden sollte, hatte 1887 einen bahnbrechenden Artikel veröffentlicht: »Das Studium der Verwaltung«.123 Sein Ziel war, den Anstoß zu einer »neuen Wissenschaft« zu geben, nämlich der »praktischen Regierung«, wie er sie nannte.124 In einer komplexen Gesellschaft, so Wilson, beschränke sich die demokratische Frage nicht auf das Debattieren der Verfassung, die Einigung auf den Modus der Gesetzesverkündung oder das Abhalten von Wahlen. Die Berücksichtigung des Gemeinwohls verlange, den Dingen genauer auf den Grund zu gehen, um sie zu behandeln. Das bedeutete, die zentrale Stellung der Exekutive anzuerkennen. Aber unter Betonung ihrer pragmatischen Seite. War die Verwaltung theoretisch nichts anderes als das ausführende Organ der im politischen Raum getroffenen Entscheidungen, so gab Wil123 Wilson, »The Study of Administration«. 124 Man darf dabei nicht vergessen, dass der Begriff administration in Amerika die doppelte Bedeutung von Verwaltung und Regierung hat.

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son zu bedenken, dass die Dinge in der modernen Welt sehr viel komplizierter geworden seien. Tatsächlich sei die Definition von Zielen nicht von den bei ihrer täglichen Umsetzung auftretenden Fragen zu trennen. Er plädierte also für eine Wissenschaft der Verwaltung, aus Gründen der Effizienz, aber auch als Gebot der Demokratie. In diesem bahnbrechenden Artikel hatte Wilson somit die Fragen gestellt, die Frank Goodnow in der Folge zu beantworten versuchte. Als Vordenker der Progressive Movement regte er zu einer neuen Sicht der Verwaltung in Amerika an.125 Er betonte zunächst, dass die wirklich vollziehende Gewalt weitgehend diejenige der Verwaltung sei, was zu dieser Zeit neu war. In seinem wesentlichen Beitrag zum Thema, dem 1900 veröffentlichten Politics and Administration126, griff Goodnow folglich auf die klassische Theorie der Gewaltenteilung zurück, in dem Bemühen, von der Praxis aus ihre Begrifflichkeiten neu zu formulieren. Der Bereich der Politik beschränkte sich für ihn auf die gesetz- und verfassunggebende Funktion, während die Sphäre der Verwaltung die Exekutive im eigentlichen Sinne umfasste. Während das Wesen des Politischen definitionsgemäß darin bestehe, einen Allgemeinwillen zum Ausdruck zu bringen, liege das Wesen der Verwaltung im Streben nach Effizienz und Rationalität. Die Verwaltung könne nämlich ihre »ausführende Perfektion« nur auf internem Wege erlangen (während die »gesetzgebende Perfektion« ganz und gar von einem externen Willen, dem der Volkssouveränität, abhänge). Es seien also zwei Arten, sich auf die Allgemeinheit zu beziehen, worin Politik und Verwaltung sich unterschieden. Substanzielle Allgemeinheit aufseiten der Verwaltung, der es vorrangig darum gehe, jedes Abgleiten ins Partikulare zu verhindern. Prozedurale Allgemeinheit im politischen Raum, die sich in der Suche nach Wegen äußere, die größtmögliche Zahl von Bürgern in den möglichst konsensuellen Ausdruck eines Kollektivwillens einzubeziehen. Den Realitäten Rechnung zu tragen, hieß für Goodnow, die Eigenständigkeit des Administrativen zur Kenntnis zu nehmen und folglich seinen legitimen Geltungsbereich, den von Effizienz und Sachverstand, 125 Vgl. Patterson, »Remembering Frank J. Goodnow«. 126 Vgl. die Neuauflage von 2003 mit einer Einleitung von John A. Rohr: Goodnow, Politics and Administration.

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deutlich zu markieren. Als Ausgleich zu den heiklen Aspekten einer subjektiven Demokratie des Wählerwillens galt es, mit Leben zu erfüllen, was er als objektive Demokratie verstand. So wurde in einem Land, in dem noch keine wirkliche Verwaltung existierte, die Notwendigkeit betont, eine solche aufzubauen, gleichermaßen als Hüterin wie als Dienerin des Gemeinwohls127, deren Eigenschaften, Effizienz und Rationalität, Objektivität gewährleisten sollten. Das erklärt die von den amerikanischen Progressisten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entwickelte Rationalisierungsbegeisterung. Mit ihnen hielten Vernunft und Effizienz Einzug ins Pantheon demokratischer Werte.128 Sie glaubten daran, dass die Vorstellung einer demokratischen Politik mit dem Effizienzgedanken vereinbar sei. Eine Expertenregierung wies für sie den richtigen Weg in die Zukunft, weil Demokratie »nicht die Regierung der Mehrheit, sondern derjenigen ist, die sich bereitwillig in den Dienst aller stellen«.129 In der Überzeugung, dass »Demokratie eine Methode, eine wissenschaftliche Technik zur Freisetzung des Volkswillens« sei, sprach eine Mary Follett, Leitfigur der Progressive Movement und den englischen Fabiern nahestehende Theoretikerin des scientific management, ihrerseits vom gleichzeitigen Anbruch eines neuen Zeitalters der Politik und der Demokratie.130 Eine wissenschaftliche Regierung stellte in den Augen dieser Amerikaner ebenso einen Ordnungswie einen Demokratiefaktor dar. In Frankreich war der Erste Weltkrieg die Initialzündung, auch wenn Taylor schon vor Ausbruch des Konflikts eifrig gelesen wurde (man sprach sogar von einer »Taylor’schen Wende der französischen Gesellschaft«131). »Wir sind trotz des Staates gerettet worden«:132 Diese 127 Männer wie Wilson und Goodnow zeigten sich diesbezüglich stark von dem beeindruckt, was sie als Stärke eines »kontinentaleuropäischen Modells« wahrnahmen, weswegen sie sich in ihren Schriften auch auf Frankreich und Preußen bezogen. 128 Zu dieser Bewegung vgl. die Standardwerke von Haber, Efficiency and Uplift; Hays, Conservation and The Gospel of Efficiency; Wiebe, The Search for Order; Merkle, Management and Ideology. 129 Ferguson, The Great News, S. 59. Ferguson schrieb auch, Demokratie impliziere »die Abschaffung der Politiker« (The Religion of Democracy, S. 100). 130 Follett, The New State, S. 180. 131 Fridenson, »Un tournant taylorien de la société française«.

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berühmte Formel brachte das zeitgenössische Empfinden gut auf den Punkt, was dazu führte, dass die Verwaltung mit einem neuen und wohlwollenden Blick betrachtet wurde. Von vielen Seiten wurden Forderungen nach einer »Umbau der Verwaltung« und einer »Industrialisierung des Staates« erhoben. Fayol, der wichtigste Schüler Taylors in Frankreich, veröffentlichte in diesem Sinne zwei Werke: L’Incapacité industrielle de l’État: les PTT (1921) und La Doctrine administrative dans l’État (1923), in denen sich exemplarisch ein Denken artikulierte, das auf diffuse Weise die ganze französische Gesellschaft durchzog. Nach einer einjährigen Untersuchung der Betriebsabläufe im Post- und Fernmeldewesen hatte er ein niederschmetterndes Urteil über die administrativen Defizite des Systems gefällt: Leitung des Unternehmens durch einen unsicheren und inkompetenten Unterstaatssekretär, übermäßige Einmischung von Parlamentariern, Abwesenheit einer langfristigen Planung, Fehlen betriebswirtschaftlicher Kennziffern und Anreize für das Personal. Doch das Post- und Fernmeldewesen war für ihn lediglich ein Sinnbild des Übels, von dem der ganze Staatsapparat befallen sei. Das Mittel zur Beseitigung dieser Missstände? Es bestand für Fayol in der »Übertragung von Verfahren, die in Industrieunternehmen erfolgreich angewendet werden, auf die Staatsverwaltung«.133 Es galt, mit anderen Worten, die Verwaltung nach den neuen Prinzipien einer rationalen Betriebsführung zu organisieren, die er in seinem Werk Allgemeine und industrielle Verwaltung (1916) theoretisch entworfen hatte. Beiderseits des Atlantiks etablierte sich somit Kompetenz als Ideal. Auf die gleiche Weise versuchte die technokratische Vision, ihre Legitimität zu begründen: Durch die Gegenüberstellung von Zahl und Vernunft, um Letztere zu einer fortgeschrittenen Form gesellschaftlicher Allgemeinheit zu erheben. Die Themen der Effizienz und der rationalen Verwaltung schlossen somit an den älteren Kult der Befähigungen an, dessen erste Theoretiker die französischen doctrinaires des frühen 19. Jahrhunderts gewesen waren. Auf dem gleichen Wege fand sich die 132 Schatz, L’Entreprise gouvernementale et son administration, S. 90, mit einem Vorwort von Henri Fayol. 133 Fayol, L’Industrialisation de l’État, S. 89 (als Fortsetzung von: Fayol, L’Incapacité industrielle de l’État veröffentlicht). Zur Rezeption von Fayol vgl. Chatriot, »Fayol, les fayoliens et l’impossible réforme de l’administration durant l’entredeux-guerres«.

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administrativ-exekutive Gewalt, in Frankreich wie in Amerika, in ihrer zentralen Position bestätigt. Aufgrund des Unvermögens, oder des Unwillens, Regierung demokratisch zu denken, übernahm die Exekutive beiderseits des Atlantiks die geistige Rolle einer technokratischen Macht.134 Diese Glorifizierung der administrativ-exekutiven Gewalt war in beiden Ländern untrennbar mit einem Erstarken des Antiparlamentarismus und der Politikfeindschaft während dieser Zeit verbunden, einer mehrdimensionalen Form antiparlamentarischen und antipolitischen Ressentiments. Sie speiste sich zunächst aus der Empörung über die Korruption der Politiker. Ereignisse wie der Panamaskandal hatten in Frankreich die Ablehnung der Politik gefördert. In Amerika wurde allenthalben die Vereinnahmung des öffentlichen Sektors durch die Parteien beklagt. Tatsächlich wurden fast alle Großstädte insgeheim vom sogenannten Boss kontrolliert, demjenigen, der den politischen Apparat der regierenden Partei in der Hand hatte. Der gewählte Bürgermeister war zumeist nur einer seiner Befehlsempfänger. Der Boss war derjenige, der die Posten vergab, der heuerte und feuerte, der bestimmte, welche Entscheidungen getroffen wurden. Dieses System begünstigte vor allem eine umfassende Korruption. Die mangelhafte Regierung der Städte veranschaulichte somit in zugespitzter Form die Unzulänglichkeiten der amerikanischen Demokratie an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Die Entpolitisierung der Exekutive auf kommunaler Ebene wurde daher als gangbarer Weg in die Zukunft betrachtet. Die häufig zur gleichen Zeit geäußerte Kritik an der Inkompetenz der Politiker ließ viele Franzosen zum selben Schluss gelangen. »Irgendwen, der zu irgendwas gut ist, kann man irgendwann irgendwohin stellen«, mit diesem berühmten Satz machte sich ein Charles Benoist über die Vergabe von Ministerposten lustig.135 Das, was man als »politischen Dilettantismus« bezeichnete, war im Frankreich der Nachkriegsjahre ein ständiger Gegenstand der Klage. Man schimpfte in jeder erdenklichen Form über Wesen und Vorgehensweise einer Politik, 134 Geistig, denn dieser Idealtyp war weit davon entfernt, die Rolle und Funktion der Verwaltung tatsächlich zu erschüttern. 135 Sitzung der Abgeordnetenkammer am 1. Februar 1916, zitiert bei Barthélemy, Le Problème de la compétence dans la démocratie, S. 221.

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die von Émile Faguet beschuldigt wurde, einen »Kult der Inkompetenz« zu praktizieren. »Was ist ein Politiker«, fragte Letzterer. »Ein unbedeutender Mensch, was seine persönlichen Ansichten betrifft, von durchschnittlicher Bildung, der die allgemeinen Gefühle und Vorlieben der Masse teilt, der sich schließlich auf nichts anderes versteht als die Politik und verhungern würde, wenn ihm die politische Karriere verschlossen bliebe.«136 Ähnliche Töne waren aus den Vereinigten Staaten zu vernehmen. Die Losung der Progressive Movement lautete folgerichtig, den »politischen Virus« auszumerzen, den man für die Korruption und die Demoralisierung der Bürger verantwortlich machte. Das Hauptziel der Bewegung war, den Boss, das Sinnbild allen Übels, zu entmachten. Auf welchem Wege? Der Grundgedanke war, die Kommunalwahlen dem Einfluss der Parteien zu entziehen und damit ihren klientelistischen Charakter zu beseitigen. Indem man sie zunächst demokratisierte, beispielsweise durch Einführung von Vorwahlen. Ferner indem man die Stadtverwaltung umstrukturierte und sie in den Händen einer Kommission mit erweiterten Vollmachten konzentrierte, die den Bürgern direkt verantwortlich sein sollte. Dadurch glaubte man, die Möglichkeiten, eine Verwaltung zu manipulieren, die sich auf viele vom Boss kontrollierte Fachressorts verteilte, reduzieren zu können. Die Einführung dieses als government by commission137 bezeichneten Systems in etlichen Gemeinden war gleichwohl nur der erste Reformschritt. Es wurde in vielen Städten durch einen Citymanager ergänzt, der die Exekutive auf sich vereinigte, während die commission sich darauf beschränkte, die kommunalpolitischen Leitlinien festzulegen. Diese Manager, die von der gewählten Instanz ernannt und aufgrund ihrer vermeintlichen beruflichen Kompetenzen ausgesucht wurden, galten in Amerika als Verkörperung jener objektiven Macht, die man als einzige für fähig hielt, die Demokratie mit Leben zu erfüllen, indem man 136 Faguet, Le Culte de l’incompétence. 137 Zu diesen Experimenten vgl. drei zeitgenössische Werke: Hamilton, Government by Commission or the Dethronement of the City Boss; Woodruff (Hg.), City Government by Commission; und der sehr umfassende Sammelband Commission Government in American Cities, 1911 herausgegeben von der American Academy of Political and Social Science. Hinsichtlich einer aktuelleren Studie vgl. Rice, Progressive Cities.

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sie von dem befreite, was man häufig als »parteipolitisches Gift« bezeichnete. Durch die Reduzierung der politischen Sphäre und die Erweiterung der Leitungs- und Verwaltungsbefugnisse glaubte man einmal mehr, die Durchsetzung des Allgemeininteresses besser gewährleisten zu können.138 Nicht zufällig entstand zu dieser Zeit ein neues Wort, technocracy, um ein Regierungssystem zu bezeichnen, in dem die Ressourcen der Nation im Dienste des Gemeinwohls von Experten organisiert und kontrolliert werden.139 In diesem Sinne wurde die Verwaltungsmacht ihrem Wesen nach als durch und durch demokratisch angesehen. Allerdings handelte es sich um eine Form der »Demokratie«, bei der es nicht mehr für notwendig erachtet wurde, sie auf eine Mitsprache der Bevölkerung zu gründen! Im Frankreich von 1918 herrschte eine ähnliche Geisteshaltung. Es waren mehr die Lehren aus dem Krieg als die Sorge um die Reformierung des demokratischen Ideals, die aus den Appellen zur Einführung einer unparteiischen Verwaltungs- und Exekutivmacht sprachen. Das Werk des Staatsrats Henri Chardon, der im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts zu denen gehörte, die den Aufbau einer Verwaltungsmacht am lautesten befürworteten, brachte diese Haltung in exemplarischer Weise zum Ausdruck. Er sah in dem, was er das Überhandnehmen der politischen Macht nannte, »den grundlegenden Fehler der Französischen Republik«. »Das Überhandnehmen dessen, was wir Politik nennen«, schrieb er, »hat Frankreich zerfressen wie ein Krebsgeschwür: die Wucherung nutzloser und ungesunder Zellen hat das Leben der Nation erstickt.«140 In einem folgerichtig Le Pouvoir administratif (1911) betitelten Werk legte er ausführlich dar, dass die parlamentarischen Macht zur 138 Bezüglich einer ersten Bewertung dieses Systems vgl. Stone/Price/Stone, City Manager Government in the United States. Die beste Studie aus jüngerer Zeit ist die von Schiesl, The Politics of Efficiency. Anzumerken ist, dass sich parallel dazu eine Professionalisierung der Government-Angestellten auf allen Ebenen vollzog. 139 Der Begriff scheint 1919 geprägt worden zu sein. Vgl. Roussy de Sales, »Un mouvement nouveau aux États-Unis: la technocratie«. 140 Chardon, L’Organisation de la République pour la paix, S. XXVII . Zur Rezeption seiner Analysen vgl. Azimi, »Administration et Parlement: la démocratie organisée de Henri Chardon«, S. 557–558.

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Durchsetzung des Allgemeininteresses ungeeignet, weil vom Parteienstreit und durch die Kürze der Wahlperioden eingeschränkt sei. »Die Verwaltung existiert und muss abseits der Politik ein Eigenleben führen«, betonte er.141 Sie allein sei in der Lage, die zur Verwirklichung des Gemeinwohls erforderlichen Eigenschaften der Permanenz und Allgemeinheit zu verkörpern. Chardon teilte zwar mit den Theoretikern des öffentlichen Dienstes die Überzeugung, dass das charakteristische Merkmal des Beamten sein »Interesse an der Interesselosigkeit« sei, legte jedoch besonderen Wert auf die technische Legitimation der Autonomie seiner Macht. »Der Beamte«, schrieb er, »darf nicht als jemand betrachtet werden, der vom Minister mit der Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung beauftragt wird, sondern als technischer Repräsentant eines dauerhaften Interesses der Nation.«142 In diesem Sinne, meinte er sogar, sei noch der kleinste Beamte in Ausübung seines Amtes »die Regierung selbst«143. Zwar habe die Politik nach wie vor ihren Nutzen und ihre Berechtigung, könne ihre Rolle aber nur spielen, wenn gleichzeitig die Legitimität und Unabhängigkeit der Verwaltung anerkannt würde; die Politik müsse sich auf die Funktion »umfassender Kontrolle« des Verwaltungsbetriebs beschränken. Minister beispielsweise sollten laut Chardon zu einer Art »Generalkontrolleuren« werden. Die Demokratie würde somit auf einem Gleichgewicht beider Gewalten beruhen.

Der Ausnahmezustand Nach 1918 begann man die Exekutive auch in Begriffen des Ausnahmezustands zu denken. Die Herrschaft des Gesetzes setzt die Existenz einer stabilen und vorhersehbaren Welt voraus. Doch so glatt und gleichförmig präsentiert sich die Realität natürlich nie. Im Gegenteil, sie zeichnet sich oft genug durch den Einbruch des Unerwarteten aus. Diese Tatsache rechtfertigt ja gerade die Notwendigkeit eines eigenständigen Raumes der Exekutive, der sich in Wesen und Zweck von der 141 Chardon, Le Pouvoir administratif, S. 29. »Der öffentliche Dienst«, argumentierte er weiter, »ist dauerhaft und notwendig, während nichts flüchtiger und häufig sinnloser ist als politische Einschätzungen« (ebd., S. 111). 142 Ebd., S. 55. 143 Ebd., S. 191. »In diesem Moment«, schloss er, »ist jeder im Rahmen seiner Befugnisse jeder Autorität überlegen.«

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Legislative unterscheidet. Eine Notwendigkeit, die, wie gesehen, lange Zeit grundsätzlich umstritten war, die aber deutlich zutage tritt, wenn sich das Besondere zur Ausnahme radikalisiert und die Routine des öffentlichen Lebens durch das Eintreten außergewöhnlicher Umstände außer Kraft gesetzt wird. Es kommt dann zu einer Art »Brutalisierung« der Realität, die Ereignisse beschleunigen und verdichten sich, eine sofortige und umfassende Reaktion wird zur Überlebensfrage. Etwa wenn ein bewaffneter Konflikt ausbricht oder eine Katastrophe sich ereignet. In diesem Fall erweist sich die Exekutive unbestreitbar als vorrangig, während die Alltagsregeln aufgehoben sind: die Entscheidung verdrängt die Norm. Mit allen potenziellen Gefahren, denn eine Macht kann sich ebenso als reaktionsunfähig erweisen wie versucht sein, ihre Vollmachten ins Grenzenlose zu erweitern, auf Kosten der Rechte und Freiheiten der Bürger. Um letztere Gefahr zu bannen, gibt es nur einen Weg: für den Umgang mit dem Ausnahmezustand einen geordneten Rahmen zu schaffen. Das war in der Antike die Intention der Römer, die die legalen Institutionen des Staates mit der Möglichkeit versahen, auf eine Sonderinstanz, die Diktatur, zurückzugreifen, falls man mit einem neuartigen Problem zu tun bekäme, das danach verlangte, sich über die bestehenden Regeln hinwegzusetzen.144 Die Etymologie des Wortes liefert hierbei wichtige Hinweise, um die Originalität dieser Einrichtung zu verstehen. Denn der Begriff hat im Lateinischen nichts mit der Vorstellung einer despotischen oder tyrannischen Macht zu tun. Dictator leitete sich von dictare ab, das Besondere des Diktators war, dass man seinem Wort, dem von ihm diktierten Befehlen gehorchte, dass er die Probleme nicht auf der Grundlage geschriebener Gesetze löste. Die Machtbefugnisse des römischen Diktators waren beträchtlich, zugleich aber auch streng begrenzt.145 Der Umgang mit Ausnahmefällen 144 In seiner ursprünglichen Form wurde der Rückgriff auf die Diktator im republikanischen Rom drei Jahrhunderte lang praktiziert, von 501 bis 202 vorchristlicher Zeitrechnung (Ende des zweiten Punischen Kriegs). 145 Die Diktatur war an fünf Bedingungen geknüpft: Sie durfte nur ausgerufen werden, wenn die Umstände es verlangten, das heißt, wenn das gemeine Recht nicht mehr ausreichte, um eine Situation zu bewältigen; parallel dazu wurde strikt unterschieden zwischen den Instanzen, die für die Einrichtung einer Diktatur, und denen, die für die Ernennung des Amtsinhabers zuständig waren; während viele

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erfolgte also, mit all seinen Unwägbarkeiten, im Rahmen der Institutionen. Die republikanische Rechtsordnung wurde durch die Erklärung des Ausnahmezustands, der die Diktatur herstellte, weder abgeschafft noch aufgehoben. Die Flexibilität der römischen »Verfassung« dieser Zeit ermöglichte einen effizienten Umgang mit dem Außergewöhnlichen, ohne dass die bestehenden Institutionen infrage gestellt wurden.146 Man konnte diesbezüglich von einer »(gelungenen) Konstitutionalisierung der Ausnahme« sprechen, und Machiavelli und Rousseau waren voll des Lobes über diese Einrichtung der römischen Republik.147 Aufgrund ihres Versäumnisses, die Exekutive zu denken, erwiesen sich die modernen Autoren auch als unfähig, die Ausnahme zu konstitutionalisieren.148 Gleichzeitig näherten sie sich dem Problem des Umgangs mit Ausnahmefällen faktisch unter einem rein finalistischen Gesichtspunkt. Mit all den unter Bezug auf das »öffentliche Wohl«, die »Wiederherstellung der Ordnung«, die »Sicherheit des Staates« oder den »Schutz der Gesellschaft« gerechtfertigten Entgleisungen. Auch wenn die amerikanische Verfassung sich auf solche Fälle bezieht und sehr vage die Möglichkeit spezieller Befugnisse erwähnt und die Verfassung des Königreichs Frankreich vom 4. Juni 1814 in Artikel 14 den König ermächtigte, »die zur Vollziehung der Gesetze und zur Sicherheit des Staates nötigen Verfügungen und Verordnungen« zu erEinrichtungen der römischen Republik kollegiale Gremien waren, wurde das Amt des Diktators personalisiert; das Mandat des Diktators, der zur Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe ernannt worden war, endete mit deren Erfüllung; der Diktator durfte keine allgemeinen, auf Dauer angelegten Maßnahmen ergreifen, und es war ihm verboten, gesetz- oder verfassunggebende Verfügungen zu treffen. Ich stütze mich hier auf Nicolet, »La dictature à Rome«; Mommsen, »Die Dictatur«, S. 125–155; Hinard, Dictatures; Nippel, »Emergency Powers in the Roman Republic«. 146 Der faktische Beweis dieser Fähigkeit wurde durch die Tatsache erbracht, dass in den drei Jahrhunderten dieser ersten Periode 76 Diktaturen ausgerufen wurden (darunter nur sechs in erwiesenen Fällen inneren Aufruhrs), deren Errichtung und Aufhebung jeweils unter den vorgesehenen Bedingungen erfolgte. 147 Deren Gebrauch später von Sulla und Cäsar ins Gegenteil verkehrt wurde, indem sie sie zum Sprungbrett ihrer persönlichen Machtambitionen machten. 148 Unter den Hauptvertretern der politischen Philosophie in der Moderne war Locke der einzige, der sich, in seiner Theorie der Prärogative, mit der Frage überhaupt befasste.

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lassen149, war das 19. Jahrhundert insgesamt in dieser Sache von einer großen Unsicherheit beherrscht. Da es sich in Europa um ein Jahrhundert des Friedens handelte, wurden Ausnahmegesetze in dieser Zeit vorrangig als Reaktion auf revolutionäre Bedrohungen erlassen. Das französische Gesetz vom 9. August 1849 über den Belagerungszustand erregte deshalb die Gemüter und wurde überall in Europa kommentiert. Der Erste Weltkrieg brachte schließlich die Wende, da die Kriegsführung den Anstoß zu einer grundlegenden Veränderung der Rechtsordnung gab. Gleichwohl wurde die Frage weder theoretisch noch rechtlich geklärt.150 Die Weimarer Verfassung in Deutschland zog dennoch Konsequenzen. Ihr Artikel 48 stellte den ersten modernen Versuch dar, die Ausnahme in eine demokratische Verfassung zu integrieren. Allerdings war er so vage formuliert, dass er die Grundlage für den Kurswechsel des Regimes in den Jahren 1930 bis 1933 lieferte und damit der Naziherrschaft den Weg ebnete.151 In diesem Kontext entwickelte sich ein gänzlich anderes Verständnis von Ausnahmeregierung. Die Nationalsozialisten wollten keinen Rechtsrahmen für den Umgang mit Ausnahmefällen mehr schaffen, sondern in Normalzeiten eine als perfekt geltende, den Parlamentarismus nicht mehr benötigende Exekutive mit Sondervollmachten ausstatten. Carl Schmitt wurde zum Theoretiker eines solchen radikalen Dezisionismus. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«,152 so lautete bekanntlich sein Credo. Sein ganzes Werk gründete sich auf eine dezisionistische Sicht des Politischen, die einen radikalen Bruch mit den überlieferten Idealen von repräsentativer Regierung und deliberativer Demokratie vollzog. In Der Begriff des Politischen (1932) rechnete er mit dem antipolitischen Charakter einer liberalen Demokratie ab, deren Ehrgeiz sich auf die routinemäßige Organisation der Zivilgesellschaft beschränken würde, ohne zu bedenken, dass der Naturzustand niemals aufgehört habe, seine harte und unerbittliche Realität geltend zu machen, nämlich die des Konflikts und des Daseinskamp149 Auf der Grundlage dieses Artikels erließ Karl X. die freiheitsfeindlichen Verordnungen, die im Juni 1830 zum Sturz des Regimes führten. 150 Vgl. dazu die bedeutenden Ausführungen von Saint-Bonnet, L’État d’exception. 151 Vgl. dazu Teil 2, Kapitel 1. 152 Schmitt, Politische Theologie, S. 11.

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fes. Nur wenn man die unbequemen Wahrheiten über die vom Sündenfall gezeichnete menschliche Natur zur Kenntnis nehme, könne man das Politische denken. Und es als gänzlich durch das FreundFeind-Schema geprägt verstehen, sodass es erst in der Herausforderung des Krieges zu seiner wahren Bestimmung finde. Diese dezisionistische und vitalistische Theorie des Politischen übersetzte sich bei Schmitt folgerichtig in eine Glorifizierung der Exekutive als ausschlaggebende, weil einzig unmittelbar aktive, sofort spürbare Wirkungen produzierende Macht, als geschichtliche Kraft und weltgestaltendes Agens. Eine Exekutive, die nur in Ausnahmemomenten ihr ganzes Wesen entfalte. In solchen Fällen trete der Begriff der Entscheidung in voller Klarheit zutage: »Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut […]. So wie im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet.«153 Außergewöhnliche Umstände hatten somit für ihn die Funktion, die Essenz des Politischen und das Wesen der Exekutive als souveränen Gebrauch des Willens zu enthüllen. Dieser Gebrauch erweckte zwar den Eindruck, eine absolutistische Dimension anzunehmen, und tatsächlich haben manche Kommentatoren den Zusammenhang zwischen Dezisionismus und Absolutismus hervorgehoben,154 doch meinte Schmitt, diese Aporie auflösen zu können, indem er seine Sicht des Politischen in den Kontext einer Verkörperungsdemokratie stellte. Wenn Souverän und Volk eins sind, können die Unteilbarkeit der Souveränität und die Einheit ihrer Ausübung tatsächlich in eine sich als »demokratisch« verstehende Ordnung integriert werden. Während die Demokratie aus liberal-parlamentarischer Sicht umso stärker ist, je mehr die Exekutive zurücktritt, konnte sie umgekehrt aus identitär-dezisionistischer Perspektive als in vollem Umfang durch die Macht der Exekutive verwirklicht gelten. Die Verherrlichung der Exekutive erweiterte sich bei Schmitt zu einer Theorie der souveränen Diktatur. Während in der römischen

153 Ebd., S. 19. 154 Vgl. dazu Beaud, La Puissance de l’État, S. 135–136.

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Diktatur, dem Paradebeispiel einer kommissarischen Diktatur, die Erklärung des Ausnahmezustands darauf abzielte, durch die zeitweilige Etablierung einer Sondermacht die bestehende Ordnung zu erhalten, verstand der Verfasser der Politischen Theologie den Zweck der Diktatur darin, eine neue Ordnung zu schaffen155: »Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung.«156 Dieser Typ der Diktatur war für ihn insofern die vollendete Form der Exekutive, als die Ausnahmesituationen, die seine Errichtung bedingten, jene waren, in denen Wesen und Auftrag des Staates zum Ausdruck kamen: »Krieg gegen den äußern Feind und Unterdrückung eines Aufruhrs im Innern«, schrieb er in diesem Sinne, »[sind] nicht Ausnahmezustände, sondern der ideale Normalfall, in dem Recht und Staat ihre innere Zweckhaftigkeit mit unmittelbarer Kraft entfalten.«157 Stand diese souveräne Diktatur also außerhalb des Rechts, im Unterschied zur römischen Diktatur, die eindeutig in eine Konstitutionalisierung der Ausnahme eingebunden war? Als Jurist war Schmitt es sich schuldig, diesem Einwand zu begegnen. Er tat dies auf zweierlei Art: zum einen durch den Rückgriff auf eine Theorie der verfassunggebenden Gewalt und zum anderen durch eine Neudefinition des Normbegriffs selbst. Schmitt war ein aufmerksamer und begeisterter Leser von Sieyès. Er zitierte ihn mehrfach, sowohl in Die Diktatur (1921) als auch in seiner Verfassungslehre (1928). Er hatte vor allem die fulminanten Seiten aus Was ist der Dritte Stand? (1789) gelesen, in denen der Franzose die gesetzgebende Gewalt als radikal schöpferische Gewalt darstellte, als reinen Ausdruck eines unmittelbaren Willens, unverhüllte und ungehemmte Macht. Im Rahmen der gesetzgebenden Macht, so betonte 155 Eine ähnliche Vorstellung wie die der Diktatur des Proletariats bei Lenin oder des erneuernden Terrors bei den Jakobinern von 1794. 156 Schmitt, Die Diktatur, S. 137. 157 Ebd., S. XVII .

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Sieyès, »ist […] die Wirklichkeit alles, die Form ist gleichgültig«.158 Sie »ist der Wille der Nation«, den man »prinzipiell keiner Form, keiner Regel etc. unterwerfen« kann.159 Sieyès unterschied eine solche außerordentliche Gewalt von der konstituierten Gewalt, die in der geregelteren Ausübung der kollektiven Souveränität durch gewählte Vertreter bestehe. Schon die Unterscheidung als solche beinhaltete ein implizites Bekenntnis zur Überlegenheit der verfassunggebenden Macht. Das war eine Sprache, die Schmitt verstand. Für ihn stand es somit der Nation frei, »sich immer neue Formen ihrer politischen Existenz [zu] geben«, sie könne das »formlos Formende« sein.160 Das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt sei »jeder Formierung und Normierung überlegen«.161 Folglich offenbarte sich diese Gewalt für ihn mit aller Deutlichkeit in der Fülle ihrer Souveränität und ihrer wahren Bestimmung als schöpferische Macht in der Ausnahme. Diese Wiederbelebung der verfassunggebenden Gewalt in Ausnahmesituationen führte bei Schmitt letztlich zu einer Glorifizierung der Entscheidung, das heißt des Vollzugs. Doch ging diese Apologetik weit über jene Formen des politischen Denkens hinaus, die den gravierendsten Handlungsantinomien einen zentralen Stellenwert einräumten, wie die politische Philosophie Machiavellis oder die Herrschaftssoziologie Max Webers. Schmitt vertrat nämlich die Ansicht, dass die Erzeugung der wichtigsten Normen stets aus einer Entscheidung und nicht aus einer – zivilgesellschaftlichen oder parlamentarischen – Beratung hervorgegangen sei. Er stützte seine These auf ein doppeltes, etymologisch-verfassungsgeschichtliches Argument. In Der Nomos der Erde behauptete er, »dass »die erste Bedeutung des Wortes Nomos sich auf den Akt des Nehmens bezieht« und dass es in zweiter Linie auf das 158 Sieyès, »Was ist der Dritte Stand?«, S. 153. 159 Sieyès, »Einige Ideen über die Verfassung, bezogen auf die Stadt Paris«, S. 190. »Die verfassunggebende Gewalt hingegen«, heißt es bei ihm weiter, »hat diesbezüglich unbegrenzte Macht […]. Die Nation, die also die größte und wichtigste der Gewalten ausübt, muss in der Ausübung dieser Funktion frei von allen Zwängen und allen Formen sein, außer denen, die sie sich selbst geben will« (»Einleitung zur Verfassung. Anerkennung und Grundlegung der Rechte des Menschen und des Bürgers«, S. 208). 160 Schmitt, Verfassungslehre, S. 81. 161 Ebd., S. 83.

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Teilen, »den Vorgang und Prozess der Teilung und Verteilung« verweise.162 Die Norm gehe somit aus einer Urentscheidung hervor, als deren gespeichertes Resultat, sie habe eine unmittelbar aktive Dimension, bevor sie als Regulativ in Erscheinung trete. Die Gesetze im politischen Sinne des Wortes müssten als Folge eines konkreten Willens, eines Befehls, eines Souveränitätsaktes verstanden werden (Schmitt legte deshalb das Hauptaugenmerk auf Verfassungen, »welche die politische Daseinsform des […] Volkes angeben und die grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Normierungen […] bilden«163). Auf diese je verschiedenen Weisen war der Ausnahmezustand für Schmitt zugleich Durchsetzungsmoment der verfassunggebenden Volkssouveränität und Sichtbarwerden des wesentlich dezisionistischen Charakters der Politik. Im Zusammenspiel und Einvernehmen mit der (diktatorischen) Exekutive erfuhr das Volk seine wirkliche Souveränität und die Erfüllung seines Willens als Abkehr von einem Repräsentativsystem, das die parlamentarische Gesetzesproduktion als Ausdruck des Allgemeinwillens begriff. Die Glorifizierung der Exekutive machte die kompromisslose Ablehnung der liberalen Demokratie somit unumgänglich.

Kontinuitäten und Brüche Man wird um die Feststellung nicht herumkommen, dass diese beiden Figuren nach wie vor aktuell sind. Die technokratische Versuchung hat ihre Attraktivität bewahrt, wo die Ohnmacht einer parteiischen Exekutive zu einem Vertrauensverlust in die Demokratie führte. So war in Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten, dass als Konsequenz aus dem unrühmlichen Ende der Dritten Republik eine ganze Generation von hohen Beamten, die aus den Reihen der Resistance hervorgegangen waren, sich faktisch selbst beauftragten, das Land diskret zu regieren, und die als »Priester des Allgemein162 Schmitt, Der Nomos der Erde. Vgl. das Kapitel »Über die Bedeutung des Wortes Nomos«, S. 36–48. [Es handelt sich um keine wörtlichen Zitate. Vielmehr heißt es bei Schmitt: »Das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste RaumTeilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und Ur-Verteilung ist: Nomos« (S. 36), AdÜ]. 163 Schmitt, Verfassungslehre, S. 24.

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interesses« auftraten, solange es Regierungen gab, deren chronische Instabilität als Folge parteitaktischer Manöver und kurzfristiger Interessen angesehen wurde. Diese technokratische Versuchung hat sich seither in Abständen immer wieder bemerkbar gemacht, wenn den Regierenden Unvermögen oder Kurzsichtigkeit attestiert wurde. Ein besonders massiver Schub war während der Finanzkrisen der 2000er Jahre zu verzeichnen. Was die Exekutive angeht, die sich in der zugespitzten Form des Ausnahmezustands äußert, so sind heute ebenfalls noch allenthalben ihre Spuren zu entdecken – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung. Beispielsweise diente im Lateinamerika der 1960er und 1970er Jahre die Berufung auf das öffentliche Wohl wiederholt als Rechtfertigung für die Errichtung von Diktaturen. Von Brasilien über Chile bis Argentinien beriefen sich die militärischen Kommandostäbe auf Doktrinen der sogenannten »nationalen Sicherheit«164, um ihre Staatsstreiche zu legitimieren. Russland und andere Länder des ehemaligen Ostblocks haben ihrerseits zu Beginn der 2000er Jahre den Begriff der »souveränen Demokratie« geprägt und damit eine neue Form des autoritären Staates begründet.165 Im Rahmen ihres Krieges gegen den Terrorismus haben selbst die Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 Ausnahmebestimmungen in die geregelten Abläufe ihrer Exekutive aufgenommen. Innenpolitisch geschwächt durch die Blockadehaltung des Kongresses, der einige Prestigeprojekte seines Programms zum Scheitern brachte, hat sich ein Barack Obama letztlich dafür entschieden, die von George W. Bush eingeführten notstandsstaatlichen Maßnahmen nicht aufzuheben, sondern einige sogar noch zu verschärfen. Auf anderer Ebene war man in Frankreich Zeuge des Versuchs einer geschwächten Exekutive, mit Militäraktionen ihr Image aufzupolieren. Auch ohne den Thesen derer zu folgen, die meinen, dass die Ausnahmeregierung

164 Die den Rückgriff auf die Diktatur mit einer angeblich drohenden Unterwanderung der Institutionen rechtfertigten. 165 Die »souveräne Demokratie« geht davon aus, dass das Wählervotum faktisch als eine Art »Akklamation« zu betrachten sei, um die Sprache Carl Schmitts aufzugreifen, und dass es uneingeschränkte Vollmachten verleihe. Es handelt sich um eine Neuauflage der cäsaristischen Doktrin. Vgl. dazu Teil 2, Kapitel 3.

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überall zur Regel der Exekutive geworden sei166, kommt man nicht umhin, die Virulenz dieser zweiten Versuchung einzugestehen.167 Das Bekenntnis zu einer »geordneten« Exekutive, jenseits technokratischer oder dezisionistischer Extreme, erfolgte unter demokratischen Vorzeichen letztlich erst in Gestalt der Präsidialisierung. Eben dieser wollen wir uns im Folgenden zuwenden.

166 Vgl. zum Beispiel die Thesen von Agamben, Ausnahmezustand. 167 Nicht umsonst haben sich die bis in die 1970er Jahre diktatorisch regierten Länder Südeuropas (Griechenland, Spanien, Portugal) bemüht, die Ausnahme in ihren Verfassungen streng zu reglementieren, um die Dämonen einer Rückkehr in ihre Vergangenheit zu bannen.

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II

Die Präsidialisierung der Demokratien

Wegweisende Experimente: 1848 und Weimar Die Präsidialisierung/Personalisierung der Demokratien war der dominierende Trend des politischen Lebens in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In einem Maße, dass die Direktwahl des Staatsoberhauptes schließlich zu einem der deutlichsten Erkennungsmerkmale eines demokratischen Systems geworden ist. Doch der Bruch mit vorherigen Vorstellungen einer guten Macht, der sich darin ausdrückte, vollzog sich nur ganz allmählich. Davon zeugen die Ablehnung oder die heftigen Vorbehalte, die die drei Gründungsereignisse hervorriefen: die Präsidentenwahl von 1848 in Frankreich, die zur Rückkehr des Cäsarismus führte, die Weimarer Republik, die in den Sieg des Nationalsozialismus mündete, und schließlich die ersten, von vielen als regressiv beurteilten Schritte des gaullistischen Regimes.

1848 in Frankreich oder der Triumph der Unbesonnenheit In Frankreich wurde 1848 die Direktwahl des Staatspräsidenten eingeführt, ohne dass dies Anlass zu wirklichen Debatten gegeben hätte. Auf der Sitzung des Verfassungsausschusses1, in der es um den Ernennungsmodus des Regierungschefs ging, wurden zunächst zwei Optionen in Betracht gezogen: die Direktausübung der Exekutivgewalt durch die Versammlung oder ihre Übertragung auf die Abgeordneten, bzw. die Bildung einer kollegialen Exekutive aus Konsuln oder Direktoren. Das waren die beiden aus der Revolution stammenden Modelle. Doch daneben wurde noch ein neues Konzept ins Auge gefasst, die Einsetzung eines Präsidenten, und schließlich ohne große Diskussionen angenommen. Es war in erster Linie eine Negativentscheidung, da die kollegialen Institutionen der Jahre III und VIII Erinnerungen an Instabilität, Ungleichgewichte und ständige Konflikte weckten, wäh1

Ausschuss unter dem Vorsitz des Vicomte de Cormenin. Die Protokolle sind abgedruckt bei Tocqueville, Écrits et discours politiques, S. 55–158.

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rend die Ausschüsse von 1793 und 1794 noch schlimmere Momente heraufbeschworen. Amerika hingegen umgab der Nimbus einer Art von Republik, die zu dieser Zeit gewohnheitsmäßig als Gegenbeispiel zu der mit Robespierre assoziierten »Konventsrepublik« angeführt wurde.2 Die Tatsache, dass Alexis de Tocqueville und Gustave de Beaumont zu den Mitgliedern des kleinen Ausschusses zählten, dürfte einen starken Einfluss gehabt haben. Die Frage einer möglichen Wiederwahl war dagegen umstrittener; sie wurde im Entwurf des Ausschusses schließlich an die Bedingung geknüpft, dass zwischen den Amtszeiten eine Pause von gleicher Länge wie die vorgesehene Mandatsdauer (vier Jahre) liegen müsse. Umstrittener war vor allem der Ernennungsmodus dieses Präsidenten. Jules Dufaure plädierte für eine Wahl durch das Parlament,3 während Armand Marrast vorschlug, die Kandidaten für eine Direktwahl durch das Parlament bestimmen zu lassen. Doch schließlich einigte man sich auf das Prinzip der Direktwahl durch die Bürger ohne Einschränkung der Kandidatur – unter der Bedingung, dass der Sieger mindestens zwei Millionen Stimmen erhält. Jede andere Methode wurde als Beeinträchtigung der nationalen Souveränität betrachtet. Ein Großteil dieser Bestimmungen wurde in den abschließenden Text übernommen. Nicht ohne heftige Diskussionen im Parlament, an die zu erinnern ist, um richtig beurteilen zu können, unter welchen Bedingungen diese außerordentliche verfassungsrechtliche Innovation stattfand.4 Auf der extremen Linken sprach sich der zukünftige Kommunarde Félix Pyat gegen die Einführung des Amtes als solches aus, da es, wie er argumentierte, keine zwei verschiedenen Ausdrucksformen des Volkswillens geben könne. Die Gewaltenteilung, versicherte er, gehöre nicht zum Wesen der Republik: »In einer Republik gibt es 2

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Die Publizisten der 1820er bis 1840er Jahre wurden ebenfalls nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die amerikanische Republik eine »billige Regierung« eingerichtet hätte, die den Steuerzahler entlaste. Vgl. Rémond, Les États-Unis devant l’opinion française; und Craiutu/Issac (Hg.), America through European Eyes. Diese Position vertrat auch Victor Considérant, »weil die Erziehung des Volkes noch nicht vollbracht ist« (zitiert bei Bastid, Doctrines et institutions politiques de la Seconde République, Band 1, S. 272). Vgl. die Zusammenfassung dieser Debatten über die Exekutive, ebd., Band 2, S. 105–116.

nur noch ein Recht, das Recht des Volkes, und nur einen König, nämlich das Volk selbst, vertreten durch ein gewähltes Parlament, die Nationalversammlung. Diese Versammlung muss also genauso souverän sein wie das Volk, das sie vertritt; sie vereinigt alle Gewalten, sie herrscht und regiert von Volkes Gnaden, sie ist absolut wie die einstige Monarchie und kann ebenfalls von sich behaupten: der Staat bin ich.«5 Demokratie und Republik bedeuteten also für ihn die Übertragung der alten Königsmacht auf ein gewähltes Kollektiv. Eine im klassischen und radikalen Sinne monistische Sicht, allen Vorstellungen von Ausgleich und gegenseitiger Kontrolle abhold. Aber auch eine insofern »liberale« Sicht, als die Existenz einer kollektiven Leitung durch ein Repräsentativorgan in seinen Augen die Garantie für die Bürger darstellte, dass die Macht dem Recht untergeordnet blieb. Während umgekehrt die Wahl eines Einzelnen, vor allem in ein verantwortliches Amt, ihm eine riesige, nahezu überwältigende und deshalb potenziell bedrohliche Macht verschaffen würde. »Eine solche Wahl«, so Pyat, »ist eine göttliche Weihe von ganz anderer Art als das Öl von Reims und das Blut des Heiligen Ludwig.«6 Es gibt nur zwei Möglichkeiten, insistierte er. Wenn der Präsident schwächer ist als die Versammlung, drohen Ohnmacht und Unregierbarkeit. Wenn er aber stärker ist, dann zwangsläufig zu stark, dann hätte er eine viel größere Macht als ein verantwortungsloser konstitutioneller Monarch. Das vorgeschlagene System hielt er aufgrund seiner strukturellen Instabilität für gefährlich. Félix Pyat vergaß allerdings, die Funktion eines dem Parlament verantwortlichen Ministerrats zu erwähnen, die der Text vorsah. Doch das Argument konfligierender Legitimitäten wog schwer. Zumal Pyat gleichzeitig die Übertragbarkeit des amerikanischen Modells auf Frankreich bestritt, da der Präsident im Falle Amerikas das notwendige Bindeglied eines föderalen Landes darstelle, das erst noch zusammenwachsen müsse. Als linksextremer Demokrat konnte er natürlich nichts gegen die Vorstellung einer allgemeinen und direkten Wahl einwenden, sehr wohl aber die Einführung des fraglichen Amtes ablehnen. Das historische Dilemma der französischen Demokraten war klar ersichtlich. Dabei war Pyat nicht einmal bis zur Wurzel des Problems vorgedrungen: Er ließ 5 6

Zit. n. ebd., Band 2, S. 105–106. Zit. n. ebd., Band 2, S. 106.

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nämlich die Frage nach der Besonderheit der Exekutive und ihrer Einbindung in einen demokratischen Rahmen unberücksichtigt. Von sozialistischer Seite wurde das Schreckgespenst der Monarchie an die Wand gemalt. Pierre Leroux bezichtigte das Projekt, »die Monarchie unter dem Namen der Präsidentschaft fortzuführen und damit allen Machtgelüsten Tür und Tor zu öffnen«.7 Proudhon schlug in die gleiche Kerbe: »Präsidentschaft ist Monarchie«, beschied er in Le Peuple,8 »Ihr schürt im Land den Hunger nach der Monarchie, und das Land gibt euch eine Monarchie […]. Euer Präsident wird ein König sein«, warf er den vermeintlich unbesonnenen Köpfen des Verfassungsausschusses vor. Die Gefahr rührte für ihn auch daher, dass für das Volk die wirkliche, weil sichtbare und spürbare Macht, die der Exekutive sei.9 Und dass es sich deshalb an Personen wenden würde, die in der Lage wären, es in ihren Bann zu ziehen, und nicht an wirkliche Talente. »Meint ihr allen Ernstes«, hielt er den Mitgliedern des Ausschusses entgegen, »das Volk würde, wenn es seine Tochter, die Republik, zu verheiraten hätte, sie einem Bauerntölpel wie euch oder mir überlassen – Cavaignac, Lamartine, Ledru-Rollin oder Thomas Diafoirus? – Wer? Ein Soldat, ein Dichterling, ein Abiturient, Präsident der Republik! Was seid ihr doch für Narren! Kennt sich das Volk aus mit solchen Leuten? Kümmert es sich um ihre Verdienste und Diplome? Was das Volk braucht, was es für die Republik verlangt, ist ein stattlicher Kerl, mit kräftigem Nacken und von edler Abstammung.«10 Das hieß in der Konsequenz, die Idee eines Präsidentenamtes grundsätzlich zu verwerfen. Wie für Pierre Leroux bestand die wesentliche Reform in seinen Augen darin, das Repräsentativsystem auf solide Fundamente zu stellen, mittels professioneller Repräsentationsformen, die dem organisierten Proletariat zur Macht verhelfen sollten. 7 Leroux, Projet d’une constitution démocratique et sociale, S. 1. 8 Diesen Titel trägt ein Artikel in Le Peuple, Nr. 3, o.J. (Oktober 1848?), wieder abgedruckt in Proudhon, Mélanges, S. 161 (ebd. für das folgende Zitat). 9 »Glaubt mir, das Volk schert sich wenig um den Unterschied zwischen Legislative und Exekutive. Die Exekutive ist ihm alles. Der Notar, der Bräutigam wird da sicher anders denken. Sofern der Präsident nur schnell und gut handelt, wird er in den Augen des Volkes Geist genug besitzen. Seine Mannhaftigkeit wird ihm zum Verdienst. Eure Legislative ist ein Eunuch, ist weniger als nichts!« (ebd., S. 161–162). 10 Ebd.

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Für die konservativen Republikaner ging es zunächst darum, die Parlamentsmacht zu erhalten, im monistischen Sinne der revolutionären Tradition (darin stimmten sie mit der extremen Linken überein). Das Repräsentativsystem, aus dem sie hervorging, hatte darüber hinaus den unschätzbaren soziologischen Vorteil, die Leidenschaften des Volkes auf Distanz zu halten und die Macht in die Hände der nationalen Eliten zu legen. Sie gingen allerdings nicht so weit, die Idee eines Präsidentenamtes gänzlich zu verwerfen, da auch sie sich dem unbestimmten Reiz des amerikanischen Modells nicht entziehen konnten. Jules Grévy, in seinem ersten großen parlamentarischen Auftritt, plädierte somit für den Vorrang des Parlaments, das in Eigenregie einen von ihm auch wieder absetzbaren Regierungschef wählen sollte. Vor allem aber warnte er vor der bonapartistischen Gefahr. »Haben Sie vergessen«, sagte er, »dass es die Wahlen des Jahres X waren, die Bonaparte die Kraft gaben, den Thron wieder hervorzuholen und sich auf ihm niederzulassen? Das ist die Macht, die Sie heranziehen […]. Sind Sie sicher, dass sich niemals ein ehrgeiziger Mensch finden wird, der es darauf anlegt, die Macht dauerhaft an sich zu reißen? Und wenn es sich um jemanden handelt, der es zu großer Popularität gebracht hat, etwa ein siegreicher General, umgeben von jenem Nimbus des militärischen Erfolges, dem die Franzosen nicht widerstehen können, oder ein Abkömmling einer jener Familien, die Frankreich einst regierten und der niemals ausdrücklich auf seine vermeintlichen Rechte verzichtet hat, wenn der Handel daniederliegt, wenn das Volk leidet und sich in einem jener Krisenmomente befindet, in denen Elend und Enttäuschung es zur Beute derer machen, die ihre freiheitsfeindlichen Pläne hinter großen Versprechungen verbergen, werden Sie dann immer noch behaupten, dass es einem solchen Menschen nicht gelingen kann, die Republik zu stürzen?«11 Konservative Befürchtungen und die panische Angst vor dem Bonapartismus waren also für Grévy gleichermaßen Motive, die Direktwahl des Präsidenten abzulehnen. Doch auch bei ihm fehlte es an einer grundlegenden politisch-verfassungsrechtlichen Argumentation. Seine Aversion wurde, wie die der Sozialisten, von keinem analytischen Verständnis getragen.

11 Zitiert bei Bastid, Doctrines et institutions politiques, Band 2, S. 109.

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Zum Teil auch aus diesem Grund fielen solche Vorbehalte und Ablehnungen wenig ins Gewicht. Es bedurfte keiner rigorosen politisch-rechtlichen Beweisführung, um sich über solche Kritiken hinwegzusetzen. Es waren keine zwei Grundkonzeptionen über Demokratie und Exekutive, die sich da in einer intellektuell anspruchsvollen Debatte gegenüberstanden. Tocqueville, dem die Aufgabe zufiel, den Entwurf des Verfassungsausschusses vor dem Parlament zu verteidigen, konnte sich damit begnügen, solche Ängste vor institutionellen Fehlentwicklungen oder den Risiken rivalisierender Staatsgewalten mit relativ schwachen Argumenten vom Tisch zu wischen. Vor allem spielte er die Bedeutung des Amtes herunter und behauptete, die Macht des Präsidenten sei »selbst bei einer Volkswahl sehr gering«12. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass ihm ein ebenso verantwortlicher Ministerrat zur Seite gestellt würde (wobei er allerdings zu erwähnen vergaß, dass die Minister vom Präsidenten ernannt werden sollten). Die Wahl des Präsidenten? Für den Verfasser der Demokratie in Amerika bestand diesbezüglich kein Anlass zur Sorge. Sie diene im Grunde nur dazu, einem an sich ziemlich unscheinbaren Amt ein wenig Glanz zu verleihen. Als könne dieses »so schwache Wesen« nur dadurch an Profil gewinnen, dass dank seiner Wahl der »große Schatten des Volkes« auf ihm liege. »Nehmt ihn fort und ihm wird, gemäß den Bestimmungen der Verfassung, nichts bleiben«, beteuerte er gar.13 Diese Wahl war also gewissermaßen nur eine Krücke oder eine Bürste. Im Grunde betrachtete er sie als eines jener irreversiblen Zivilisationsphänomene, die man vielleicht beklagen, aber nicht aufhalten könne.14 Sein Freund Gustave de Beaumont wiederum notierte lapi12 Rede vom 5. Oktober 1848, in: Tocqueville, Ècrits et discours politiques, S. 212. 13 Ebd., S. 214. 14 In seinen Erinnerungen schrieb Tocqueville über die Arbeit des Verfassungsausschusses, es werde »dem Leser schwerfallen zu glauben, daß eine so weitreichende, schwierige und neuartige Frage niemals den Gegenstand einer Generaldebatte oder auch nur einer eingehenden Diskussion gebildet hat.« Da er diese Zeilen zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs schrieb, konnte er im Rückblick behaupten, »daß die Wahl des Präsidenten unmittelbar durch das Volk keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern eine gefährliche Neuerung bedeutete« (Tocqueville, Erinnerungen, S. 254 und S. 255). Vgl. dazu Coutant, Tocqueville et la constitution démocratique.

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dar: »Es ist offenkundig, dass der Präsident nur direkt gewählt werden kann.«15 Lamartine, der große Redner dieser Epoche, verteidigte das Verfahren mit größerer Emphase. Was für ihn zur Debatte stand, war eine »besorgte und eifersüchtige Demokratie«, die es zu respektieren gelte und der man »gewähren muss, was ihr zusteht, in vollem Umfang, freizügig und aufrichtig und ohne ihr das Geringste vorzuenthalten«.16 Die Risiken einer Rückkehr zu dynastischen Reminiszenzen? Er wischte sie leichterhand hinweg: »Die Republik fürchtet sich vor nichts.« Die Leidenschaften der Masse, die Manipulationen der Parteien, die Demagogie der Wahlkämpfe? Für die Skeptiker und Bedenkenträger hatte er seine berühmte Antwort parat: »Man vergiftet ein Glas Wasser, aber keinen Fluss […]. Eine Nation ist unzerstörbar wie der Ozean.« Verfassungsrechtliche Argumente über konfligierende Gewalten und duale Legitimitäten? Er erklärte von vornherein, dass er solche »nebensächlichen, sozusagen wissenschaftlichen« Erwägungen außer Acht lassen würde. Der Sprung ins Unbekannte, der berühmte leap in the dark, von dem die britischen Liberalen in Bezug auf das Wahlrecht im Allgemeinen sprachen, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. »Die Macht in den Republiken liegt in ihrer Volkstümlichkeit, oder sie liegt nirgendwo«, das sei die Lektion der Geschichte, beschied er. Um zu dem Schluss zu gelangen: »Alea jacta est! Mögen Gott und das Volk sprechen. Etwas muss der Vorsehung überlassen bleiben.« Und um abschließend unter dem heftigen Applaus der Versammlung dazu aufzurufen, mittels dieser Neuerung eine »mitreißende Demokratie« zu begründen: »Ein schöner Traum für Frankreich und die Menschheit.« Mit Lamartine triumphierten die schönen Gefühle. Viele konservative, frisch zur Republik bekehrte Abgeordnete beruhigten sich ihrerseits mit dem Gedanken, dass das allgemeine Wahlrecht gemäßigte Kandidaten begünstigen werde. Und die Angst vor dem Sozialismus ließ ihnen eine durch Wahlen legitimierte, repressive 15 Brief an Tocqueville vom 10. Oktober 1848, in: Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Band 2, S. 57 (Hervorhebung von mir). 16 Rede vom 6. Oktober 1848, zit. n. Bastid, Doctrines et institutions, Band 2, S. 111 (ebd., S. 111–112, für die folgenden Zitate).

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Exekutive wünschenswert erscheinen. Die Oberflächlichkeiten eines Lamartine, der achtlose Fatalismus eines Tocqueville und derartige politische Kalküle wirkten also zusammen, um eine der wichtigsten Innovationen in der Geschichte der Demokratien ohne gründliche Überlegung auf den Weg zu bringen. Diese Entscheidung war deshalb auch leicht umkehrbar, und die Ablehnung des cäsaristischen Zweiten Kaiserreichs führte auf die gleiche Weise zu einer Rückbesinnung, die ebenso wenig theoretisch begründet zu werden brauchte. In diesem doppelten Sinne kann man 1848 als »Fehlstart« in das Zeitalter der Präsidialdemokratien bezeichnen – wie die nachmalige Option der Dritten Republik für ein striktes Versammlungsregime beweist.

Die Weimarer Verfassung Die deutsche Verfassung, die Bismarck nach dem Sieg von 1871 erarbeitete, installierte ein duales System mit Vorrang der Exekutive. Es handelte sich um eine konstitutionelle Monarchie mit einem direkt gewählten Parlament, dem Reichstag. Bismarck entsprach auf diese Weise den Forderungen der Liberalen und der Sozialisten (mit dem Hintergedanken, ein durch das Verhältniswahlrecht politisch zersplittertes und geschwächtes Parlament zu erhalten). Das geschaffene System hatte nichts Parlamentarisches. Der Kaiser konnte den Reichstag aufzulösen, Letzterer aber nicht den Kanzler stürzen, den Chef der Exekutive, der allein vom Kaiser abhing. Tatsächlich verfügten die im Parlament vertretenen Parteien funktional betrachtet nur über eine Kontroll- und Aufsichtsbefugnis (außer in Haushaltsfragen); ihre Unstimmigkeiten verhinderten zudem, dass sich auf politischem Wege ein Mehrheitswille herausbildete, der eine mit der Exekutive rivalisierende Legitimität hätte entstehen lassen können. Nach der Niederlage von 1918 und der Abdankung des Kaisers wurde mit der neuen Verfassung ein ebenfalls duales, aber stärker strukturiertes System errichtet, das Exekutive und Legislative gleichermaßen stärkte. Stärkung des Parlaments insofern, als der Reichstag, neben seinen »üblichen« Vorrechten in Gesetzgebungs- und Haushaltsfragen, eine echte politische Autonomie erlangte (im Speziellen konnte er sowohl dem Reichskanzler als auch jedem einzelnen Minister das Vertrauen entziehen). Doch gleichzeitig wurde über die Direktwahl des Reichspräsidenten auch die Exekutive gestärkt. Das war die 108

entscheidende Neuerung der am 31. Juli 1919 beschlossenen Weimarer Verfassung.17 Sie ging mit einer ganzen Reihe weiterer demokratischer Verfügungen einher, die den bahnbrechenden Charakter dieses Textes im frühen 20. Jahrhundert begründeten: Einführung des Frauenwahlrechts (auch wenn Deutschland hiermit nicht alleine stand); die Möglichkeit, mit Zweidrittelmehrheit der Reichstagsabgeordneten eine Volksabstimmung zur Absetzung des Reichspräsidenten zu beschließen; umgekehrt die Möglichkeit des Reichspräsidenten, einen Volksentscheid herbeizuführen, um eine Entscheidung des Parlaments in Sachen Haushalt, Steuergesetze oder Beamtenbesoldung abzulehnen; ferner die Herbeiführung eines Volksentscheids, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellte. Wir brauchen das Gründungsdokument der Weimarer Republik hier nicht zur Gänze zu analysieren. Allerdings scheint es geboten, die Umstände näher zu betrachten, unter denen die Volkswahl des Staatsoberhaupts beschlossen wurde, und zwar auf relativ einvernehmliche Weise, was das Erstaunliche daran ist. Denn das war nicht von vornherein zu erwarten. Die Sozialdemokraten beispielsweise kritisierten anfangs den Reichspräsidenten als bloßen »Kaiserersatz« und sprachen vom »echt napoleonischen Trick der Präsidentenwahl durch das Volk«.18 Sie optierten spontan eher für ein parlamentarisches System, innerhalb dessen sich die Regierung unter Kontrolle der Volksvertretung befunden hätte. Sie fanden sich mit der Einführung eines Staatsoberhauptes ab, aber unter der Bedingung, dass es eine rein repräsentative Rolle spiele. Allerdings änderten sie ihre Meinung, als sie erkannten, dass einer der ihren in das Amt gewählt werden könnte (tatsächlich wurde Friedrich Ebert, ihr Parteichef, der erste Präsident und bekleidete das Amt von 1919 bis 1925). Die Liberalen wiederum betrachteten den angestrebten Dualismus als moderne Form einer Art konstitutioneller Monarchie, die ihnen zusagte. Auf der Rechten ging man überwiegend davon aus, dass die Institution des Reichspräsiden17 Über die Geschichte dieser Verfassung und der Weimarer Republik vgl., auf Französisch, die zusammenfassende Darstellung von Baechler, L’Allemagne de Weimar. 18 Diesen Ausdruck gebrauchte der Parteiveteran Hermann Molkenbuhr, zit. n. Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 404.

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ten ein Mittel sein könne, um ein Gegengewicht zum Wählervotum in seiner parlamentarischen Form zu schaffen und es in seinen Auswirkungen zu begrenzen. Man hielt das Amt auch für unvermeidlich, um die Entstehung eines »Diskussionsregimes«, gleichbedeutend mit Ohnmacht, zu verhindern. In einem allgemeineren Sinne äußerte sich der diffuse Antiparlamentarismus der Epoche in einem Plädoyer für den Machtzuwachs der Exekutive. Die Direktwahl des Präsidenten stellte also die einen zufrieden, ohne die anderen zu beunruhigen. Gegensätzliche Motive konnten somit in der Befürwortung der Maßnahme konvergieren. Das ging allerdings nicht ohne Widersprüchlichkeiten ab, die sich später als explosiv erweisen sollten. Die Sozialdemokraten akzeptierten zwar einen gewählten Präsidenten, lehnten die Vorstellung eines als Gegengewicht zum Parlament fungierenden plebiszitären Reichsoberhauptes aber entschieden ab. Sie betrachteten eine allgemeine Wahl als demokratisch, hielten grundsätzlich aber an den Prinzipien des parlamentarischen Systems (wenn auch um plebiszitäre Mechanismen erweitert) fest.19 Sie blieben in dieser Hinsicht leidenschaftliche Verteidiger der Parteiendemokratie. Andere hingegen feierten das Erstarken der Exekutive, das sich auf diesem Wege vollzog. Eine entscheidende, aber in den öffentlichen Debatten weniger sichtbare Rolle spielte die föderale Gliederung des Reiches in Bundesländer im Kontext preußischer Dominanz für die Rechtfertigung eines robusten Verständnisses der Exekutive und insbesondere der Macht des Präsidenten. Das Problem der großpreußischen Hegemonie stand im Zentrum der Überlegungen von Hugo Preuss und Max Weber, den beiden großen Inspiratoren des Verfassungstextes. Auch wenn sie sich hinsichtlich der Maßnahmen zur Brechung dieser Vorherrschaft nicht einig waren (Preuss wollte Preußen in zehn Bundesländer aufteilen, während Weber, der den absehbaren Fortbestand des preußischen Staates realistischer einschätzte, eher an institutionelle Vorkehrungen dachte), sahen beide in der Beschränkung parlamentarischer Befugnisse ein Schlüsselelement zur Lösung des Problems. Ein reiner Parlamentarismus hätte in ihren Augen Preußen in einem auf einheitlicher 19 Zur Position der Sozialdemokraten hinsichtlich Volksentscheiden vgl. Kautsky, Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie.

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Basis gewählten Reichstag eine hegemoniale Stellung verschafft.20 Aus dieser Sicht war es deshalb wichtig, dass der Präsident seine Macht nicht vom Reichstag bezog. Daher die Bedeutung einer Direktwahl in diesem Zusammenhang.

Max Weber und die plebiszitäre Demokratie Jenseits unmittelbar verfassungsrelevanter Überlegungen entwickelte Max Weber in diesem Kontext die Theorie der plebiszitären Demokratie, wofür er im Deutschen den Begriff plebiszitäre Führerdemokratie* prägte. Dieser Begriff ermöglichte ihm, Situationen zu beschreiben, in denen der Ausdruck des Charismas nicht an eine Herrschaftsbeziehung gebunden war: »Das seinem primären Sinn nach autoritär gedeutete charismatische Legitimitätsprinzip kann antiautoritär umgedeutet werden.«21 Diese Umdeutung ergab sich für ihn aus einer Umkehrung der Anerkennungsmechanismen. Im klassischen Charismamodell ist die Herrschaft vorrangig, die Anerkennung durch die Beherrschten bestätigt, das heißt legitimiert, anschließend an diese Situation. Doch konnte diese Anerkennung selbst primär sein (zum Beispiel durch ein Wählervotum) und deshalb als Grundlage der Legitimität, nicht als deren Folge, betrachtet werden. Was es ermöglichte, in einem solchen Fall von einer genuin demokratischen Legitimität zu sprechen. Daher seine Definition: »Die »plebiszitäre Demokratie« – der wichtigste Typus der Führer-Demokratie – ist ihrem genuinen Sinn nach eine Art der charismatischen Herrschaft, die sich unter der Form einer vom Willen der Beherrschten abgeleiteten und nur durch ihn fortbestehenden Legitimität verbirgt. Der Führer (Demagoge) herrscht tatsächlich kraft der Anhänglichkeit und des Vertrauens seiner politischen Gefolgschaft zu seiner Person als solcher.«22 Als Beispiel zitierte er die antiken Diktaturen sowie, für die Neuzeit, Cromwell, Robespierre und die beiden Napoleone. Doch handelte es sich für Weber le20 Vgl. zu diesem zentralen Punkt die Ausführungen von Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, insbesondere das Kapitel über die Weimarer Verfassung. Weber glaubte überdies, dass eine parlamentarische Verfassung auf radikal einheitlicher Grundlage von der Entente, im Augenblick der Friedensverhandlungen, ungnädig aufgenommen worden wäre. 21 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 198. 22 Ebd., S. 199.

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diglich um »Übergangsmodelle«, die Altes mit Neuem vermischten und überdies von besonderen Umständen abhingen. Er formulierte folglich ein positives Verständnis dieser plebiszitären Demokratie, das geeignet sein sollte, als wünschenswertes Modell der Regierungsstabilisierung in demokratischen Massengesellschaften zu fungieren. Eine Formulierung, die bei der Ausarbeitung der Verfassung von 1919 eine wesentliche Rolle spielte. In einer unter dem Titel Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland23 zusammengefassten Artikelserie von 1917 entwickelte er dieses Konzept. Um seinen Gedankengang richtig zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, was aus seiner Sicht als Soziologe den Ausgangspunkt jeder politischen Reflexion in dieser Zeit darstellte. Drei wesentliche Strukturfaktoren waren für ihn zu berücksichtigen. Zunächst das Phänomen der Bürokratisierung und der entsprechenden Tendenz zur Verselbstständigung der Verwaltung, Quelle der Effizienz und der Verknöcherung gleichermaßen. Sodann die zentrale Rolle der politischen Parteien, mit der ständig wachsenden Bedeutung der Apparate und der Berufspolitiker in ihren Reihen (Max Weber machte sich die diesbezüglichen Analysen von James Bryce, Robert Michels und Moïsseï Ostrogorski zu eigen, auf die er sich häufig bezog). Schließlich die Gefahr, die der Massendemokratie von der »Möglichkeit starken Vorwiegens emotionaler Elemente in der Politik«24 drohte. Weber war der Meinung, dass man diese Verwaltung, die stets dazu tendieren würde, ihrer internen Eigendynamik zu folgen, kanalisieren und kontrollieren müsse; dass es darauf ankomme, für die inzwischen nicht mehr wegzudenkenden Parteien eine sinnvolle Verwendung zu finden (er gestand ihnen auf jeden Fall die Funktion zu, die »Demokratie der Straße« in rationale Bahnen zu lenken); dass man schließlich, angesichts der Unwiderruflichkeit des allgemeinen Wahlrechts, die Volkssouveränität zwar respektieren, aber zugleich auch begrenzen müsse. Die Direktwahl des Exekutivchefs schien ihm geeignet, diese drei Anforderungen zu erfüllen. Das beinhaltete die Aufforderung, den Weimarer Staat auf zwei komplementäre Legitimationsprinzipien zu 23 Weber, Politik und Gesellschaft, S. 349–462. 24 Ebd., S. 429.

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gründen: die parlamentarisch-verfassungsmäßige Legitimität und die als »revolutionär« bezeichnete Legitimität eines vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten. Diese revolutionäre Legitimität war Rettungsanker und Position der Stärke in einem: sie beruhte auf einem Appell an die Parteien, Führer zu wählen, die imstande wären, dieses Amt auszufüllen, während sie gleichzeitig den Massen gerecht wurde, die auf diese Weise ihre Souveränität unter Beweis stellten. Weber glaubte, dass damit ein neues Zeitalter der Demokratie anbräche, das die Nachfolge der vorherigen Parteiendemokratie antreten könne: »Die Bedeutung der aktiven Massendemokratisierung ist: daß der politische Führer nicht mehr auf Grund der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird, sondern daß er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massendemagogischen Mitteln gewinnt. Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese. Und in der Tat neigt jede Demokratie dazu. Das spezifisch cäsaristische Mittel ist ja: das Plebiszit.«25 Weber wollte in dieser »cäsaristischen Wendung« keine als »fortgeschrittener« zu bezeichnende Form der Demokratie erkennen. Er blieb stets ein skeptischer Demokrat, der beispielsweise nie an die Vorstellung eines aktiven Gemeinwillens glaubte.26 Als »realistischer« Soziologe war er immer der Meinung, dass die Macht automatisch dazu tendiere, von einer Oligarchie ausgeübt zu werden.27 Man könnte seinen Ansatz dahingehend zusammenfassen, dass er stets eine rein instrumentelle, mitnichten »philosophische« Auffassung von Demokratie vertrat. Paradoxerweise entwickelte er dieses plebiszitäre Modell

25 Ebd., S. 421. 26 »Solche Begriffe wie ›Wille des Volkes‹, wahrer Wille des Volkes, existieren für mich schon lange nicht mehr, sie sind Fiktionen«, schrieb er (in einem Brief an Michels vom 4. 8. 1908, zitiert nach Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 421). 27 »Stets beherrscht das ›Prinzip der kleinen Zahl‹, d.h. die überlegene politische Manövrierfähigkeit kleiner führender Gruppen, das politische Handeln. Dieser ›cäsaristische‹ Einschlag ist (in Massenstaaten) unausrottbar« (Weber, »Parlament und Regierung«, S. 383).

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eher im Hinblick auf eine Minimaldemokratie28 (Joseph Schumpeter war übrigens nachhaltig von ihm beeinflusst, auch wenn er ihn nirgendwo zitiert, wie aus seiner Auffassung, dass »die Anerkennung der Führung die eigentliche Funktion […] der Wählerschaft«29 sei, hervorgeht). Eine Minimaldemokratie jedoch, die dem von ihm allenthalben festgestellten Zusammenhang zwischen Massendemokratisierung und Personalisierung der Politik Rechnung trug.30 Insofern könnte man sagen, dass er einen konservativen Gebrauch des Cäsarismus im Sinn hatte. Weber hatte, wie ausdrücklich zu betonen ist, keinerlei Befürchtungen, dass eine solche plebiszitäre Demokratie in eine charismatische Diktatur zurückfallen könne (selbst wenn er dies nicht für prinzipiell ausgeschlossen hielt). In der Moderne ging für ihn die Gefahr vielmehr von der wachsenden Macht der Parteiapparate aus, die zu einer »Bürokratisierung des politischen und sozialen Gemeinschaftshandelns«31 führen und starken Persönlichkeiten den Aufstieg zur Macht erschweren würde. Andererseits glaubte er auch, dass die Massen dauerhaft unter Kontrolle der großen Parteien bleiben würden, selbst wenn neue plebiszitäre Verfahren auftauchen sollten. Er, der 1920 Verstorbene, hätte wahrscheinlich verwundert zur Kenntnis genommen, dass einige Jahre später Carl Schmitt zu einem seiner aufmerksamsten Leser werden sollte. Zudem war ihm nicht die Zeit geblieben, die problematischen Auswirkungen der ambivalenten Verfassung von 1919 in ihrem vollen Ausmaß zu erkennen. Carl Schmitt, der von Max Weber nur den Gedanken einer gegen die politischen Parteien und den Parlamentarismus gewendeten plebiszitärdemokrati28 »Weber: In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Dann sagt der Gewählte: Nun haltet den Mund und pariert. Volk und Parteien dürfen ihm nicht mehr hineinreden. – Ludendorff: Solche ›Demokratie‹ kann mir gefallen! – Weber: Nachher kann das Volk richten – hat der Führer Fehler gemacht – an den Galgen mit ihm!« (Gespräch mit Erich Ludendorff im Mai 1919, zit. n. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, S. 665). 29 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 433. 30 Vgl. seine Ausführungen zur Modernität einer Gestalt wie William Ewart Gladstone und allgemeiner über den Cäsarismus in: Weber, »Parlament und Regierung«, besonders S. 421–422. 31 Vgl. hierzu die Ausführungen von Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik (hier S. 433).

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schen Legitimität übernahm, machte den Begriff zum Dreh- und Angelpunkt einer radikal illiberalen Neudefinition von Demokratie. Er spitzte das Konzept in extremer Weise zu, indem er die verfassungsrechtlichen Elemente verwarf, die Weber sich hatte einfallen lassen, um den Führer zu zwingen, seine »charismatische Führungsbegabung«32 ständig unter Beweis zu stellen. Die Weber’sche Sicht der »cäsaristischen Wendung« war untrennbar verbunden mit einem Verständnis von politischer Macht als einer im Wesentlichen exekutiven. Die Exekutive hatte für den Verfasser von Wirtschaft und Gesellschaft die doppelte Eigenschaft, eine unmittelbar aktive – Entscheidungen fällende – Macht zu sein, die von Einzelnen ausgeübt wird: »[D]ieser unvermeidliche Umstand bedingt es, daß die Massendemokratie ihre positiven Erfolge seit den Zeiten des Perikles stets erkauft durch starke Konzessionen an das cäsaristische Prinzip der Führerauslese.«33 Die Legislative hingegen war für ihn von kollektiver Art und ihrem Wesen nach grundsätzlich negativ.34 Als realistischer Theoretiker der Politik verabschiedete sich Weber gänzlich von der legizentrischen Perspektive der liberaldemokratischen Systeme des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Er verstand auch, dass sich der politische Wille seiner sozialen Wahrnehmung nach nicht mehr in Regeln äußerte, die einen »allgemeinen« Willen zum Ausdruck brachten, sondern in einer Reihe spezifischer, direkt spürbarer Entscheidungen. Er erkannte sehr genau, dass sich insofern in dem weit verbreiteten Antiparlamentarismus eine Kritik an jener Art von »Wille zur Ohnmacht«35 artikulierte, der im Grunde die Tätigkeit des Parlaments und der Parteien in ihrer den unmittelbaren und spezifischen Erwartungen 32 Ebd., S. 408. Diese Frage stand im Zentrum der Debatte zwischen Theodor Mommsen und den »liberalen Freunden« Max Webers, wie Raymond Aron und Karl Loewenstein, die sich darüber empörten, dass man Max Weber »in die geistige Ahnenreihe« mit Carl Schmitt, »dem Mephisto der deutschen Vor-Hitlerzeit« (Karl Loewenstein, zit. n. ebd.) stellen könne. 33 Weber, »Parlament und Regierung«, S. 422. 34 »Die ganze Struktur des deutschen Parlaments ist heute zugeschnitten auf eine lediglich negative Politik: Kritik, Beschwerde, Beratung, Abänderung und Erledigung von Vorlagen der Regierung. Alle parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechen dem« (ebd., S. 385–386). Der Ausdruck »negative Politik« taucht bei Weber häufig auf. 35 Ebd., S. 394.

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der Bürger fernstehenden Allgemeinheit charakterisierte.36 Die cäsaristische Perspektive war für ihn also fester Bestandteil eines neuen objektiven Zeitalters des Handelns und des in diesem Sinne von den Massen verstandenen Willens. Sie entsprach somit der Akzeptanz einer unvermeidlichen strukturellen Trennung zwischen Regierenden und Regierten, die es demokratisch zu regulieren galt, abseits vorheriger Utopien einer Direktgesetzgebung durch das Volk.

Das Laboratorium der Katastrophe Wie konnte es geschehen, dass diese Weimarer Republik, die bestrebt gewesen war, das Modell einer plebiszitären Demokratie zu entwerfen, innerhalb weniger Jahre in die Nazidiktatur abglitt? Dieser Umschwung resultierte aus einer Konzentration aller Gewalten durch die Exekutive und ihre extreme Personalisierung. Er steht exemplarisch für eine Radikalisierungsbewegung, deren Gründe zu verstehen unerlässlich ist. Offenkundig ging der Umschwung zunächst mit einer zunehmenden Diskreditierung des Parlaments einher. Dabei unterschied sich dieser Antiparlamentarismus anfangs kaum von dem, was seinerzeit überall in Europa anzutreffen war. Er stand in der Tradition eines bereits während des Kaiserreichs vorhandenen populären Antiparlamentarismus. Er war sogar weniger virulent als etwa sein französisches Pendant. Es gab in Deutschland nichts mit dem Panama- oder dem Ordensskandal Vergleichbares.37 Das Bild der Abgeordneten, die vom System profitieren, war weniger ausgeprägt als in Frankreich, wo sich wegen einer Diätenerhöhung auf 15000 Francs pro Jahr Zorn und Spott auf die parlamentarischen »Fettwänste« ergossen. In Deutschland erhielten nämlich die Abgeordneten vor 1914 keinerlei Bezüge. Somit gab es jenseits des Rheins keinen speziellen »Nährboden« für einen Antiparlamentarismus, auch wenn zu Anfang der Weimarer Zeit einige Skandale publik wurden – zu denken wäre insbesondere an 36 Die Parteien bestanden nur in ihrer rein mechanischen Funktion fort, als von den Problemen des wirklichen Lebens immer weiter entfernte »Apparate«. 37 1887 kam heraus, dass der Abgeordnete David Wilson, ein Schwager des Staatspräsidenten Jules Grévy, von seinem Büro im Elysée-Palast aus einen schwunghaften Handel mit Orden und Ehrenzeichen betrieb. Grévy war zum Rücktritt gezwungen.

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den berühmten Barmat-Skandal von 1924.38 Doch der rasante Anstieg des Antiparlamentarismus ab Mitte der 1920er Jahre hatte andere Gründe. Zunächst solche »funktionaler« Art. Viele Reichstagsabgeordnete hatten gleichzeitig ein Landtagsmandat inne, und die starke Verbundenheit mit ihren Ländern veranlasste sie dazu, ihr Berliner Engagement nicht als vordringlich zu betrachten. Überdies war das parlamentarische Geschehen viel langweiliger als in Frankreich oder Großbritannien. Es herrschte eine rigide Parteidisziplin, und die politischen Richtlinien wurden in den Parteigremien, nicht in den Parlamentsfraktionen erarbeitet. Es kam somit im Reichstag nicht zu jenen Rededuellen und brillanten Wortgefechten, die anderswo die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregten und den Parlamenten ihre zentrale Rolle im politischen Leben sicherten. Der Reichstag hatte nichts von einem »eloquenten Parlament« nach französischem Stil.39 Seine Sitzungen bestanden aus einer Abfolge langer, vom Podium herab verlesener Reden. Die Institution besaß somit keinen echten Mittelpunktcharakter. Des Weiteren sind die unmittelbar parteipolitischen Gründe für den Imageverlust des Parlaments hervorzuheben. Sie hingen zunächst mit dem raschen Niedergang der Gründerparteien der Weimarer Republik zusammen. Darin äußerte sich sowohl die Enttäuschung eines Teils der Wählerschaft über das Regierungshandeln als auch das unsichere Bekenntnis derer, die Friedrich Meinecke als Vernunftrepublikaner bezeichnete, zum neuen Regime. Deshalb trugen ab Mitte der 1920er Jahre mehrere wichtige, im Parlament stark vertretene Parteien ihre Geringschätzung für die Institution immer offener zur Schau. So zum Beispiel die Deutschnationale Volkspartei (DNVP ), deren Vorsitzender 1928 den Reichstag als Morast bezeichnete, in dem die deutsche Nation ersticke, und zur Beseitigung der Republik und der demokratischen Institutionen aufrief.40 Die Kommunistische Partei (KPD ), 38 Benannt nach dem jüdischen Unternehmer Julius Barmat, einem Holländer russisch-ukrainischer Herkunft und Mitglied der sozialdemokratischen Partei seines Landes, der beschuldigt wurde, Gelder der Preußischen Staatsbank veruntreut zu haben. 39 Vgl. Rousselier, Le Parlement de l’éloquence. Der Punkt wird gut herausgearbeitet bei Patin, La Catastrophe allemande. 40 Zit. n. Baechler, L’Allemagne de Weimar, S. 296.

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gleich alt wie die Republik, denunzierte ihrerseits das parlamentarische Geschehen mit allem Nachdruck als Farce und befürwortete eine Strategie des revolutionären Bruchs. Und die Nationalsozialisten (NSDAP ) markierten ihren Aufstieg zur Macht mit immer bissigeren Bekundungen ihrer absoluten Verachtung für den Reichstag. Schon vor ihrem Durchbruch bei den Wahlen von 1930 hatten sie unaufhörlich gegen die Institution gewettert. Adolf Hitler hatte sie in Mein Kampf als »schwankende Mehrheit von Menschen« bezeichnet und die Abgeordneten als »moralische Drückeberger« und »beschränkte […] Dilettanten« tituliert, die eine »geistige Halbwelt übelster Sorte« bildeten.41 Joseph Goebbels notierte 1928, die Sitzungen kämen ihm vor wie eine »tolle Judenschule«. Er schrieb: »Der Parlamentarismus ist längst reif zum Untergang. Wir werden ihm das Sterbegeläut geben. Ich habe jetzt schon das Theater satt. Mich wird man nicht zu oft in diesem Hohen Hause zu sehen bekommen.«42 Auch die verfassungsrechtlichen Gründe der Marginalisierung des Parlaments trugen entscheidend zum Untergang des Weimarer Regimes bei. Der ambivalente Charakter des Textes von 1919, in seiner Mischung aus präsidialem und parlamentarischem System, vermittelte den Zeitgenossen das Gefühl, er könne seine eigene Al ternative enthalten. Die Tatsache, dass Artikel 48, der den Präsiden ten zum Erlass von »Notverordnungen« berechtigte, eine Lösung der durch fehlende Mehrheiten und die Handlungsunfähigkeit des Kanzlers entstandenen Probleme bot, »schläferte das parla mentarische Verantwortungsbewußtsein ein«, nach der von Mommsen überlieferten Formulierung.43 Die Wahrnehmung einer möglichen Verselbstständigung der Exekutive über die Macht des Präsidenten beförderte somit den Niedergang des Parlamentarismus, und zwar umso mehr, als ab 1920 zwei Drittel aller Regierungen über keine Mehrheit verfügten. Über die in Artikel 48 vorgesehenen Ver fahren hinaus verabschiedete der Reichstag schon 1919 sogenannte »Rahmengesetze«, die die Regierung ermächtigten, in manchen Bereichen direkt per Verordnung zu agieren. Gleichzeitig erlie der 41 Hitler, Mein Kampf, S. 86, 100, 97. 42 Goebbels, Tagebücher, S. 298. 43 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 405.

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Präsident seinerseits zahlreiche Notverordnungen auf der Grundlage dieses Artikels 48 (von Oktober 1919 bis Januar 1925 allein 136 derartige Verordnungen durch Friedrich Ebert). Deshalb konnte auch ein Carl Schmitt für sich in Anspruch nehmen, mit seiner in Die Diktatur (1921) und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) entwickelten autoritären Sicht den Rahmen der Weimarer Verfassung nicht zu verlassen. Die große präsidiale Wende, die sich zuvor lediglich angedeutet hatte, erfuhr 1930 mit der Ernennung Heinrich Brünings zum Reichskanzler die entscheidende Beschleunigung. Da er über keine positive Mehrheit verfügte, versuchte Brüning, so unabhängig wie möglich vom Reichstag zu regieren. Das Parlament wurde durch den beschleunigten Rückgriff auf den Artikel 48 seitens der gesetzgebenden Exekutive in den Hintergrund gedrängt.44 Brüning profitierte dabei von einer »Toleranzmehrheit«, die durch die Weigerung der Sozialdemokratie zustande kam, sich mit den extremistischen Parteien (NSDAP und KPD ) zu seinem Sturz zu verbünden. Da er auf diesem Wege eine »explizit antiparlamentarische Präsidialregierung«45 bilden konnte, markierte Brüning den unumkehrbaren Wendepunkt des Regimes. Ab Juli 1930 wurde Reichspräsident Hindenburg durch den vermehrten Rückgriff auf Notverordnungen zur treibenden Kraft dieser Wende. Er erließ 116 Notverordnungen zwischen 1930 und 1932, während der Reichstag gleichzeitig seine Sitzungen verkürzte und seine Tätigkeit einschränkte. Die Praxis, den Reichstag aufzulösen, verstärkte dieses Ungleichgewicht. Der 1932 zum Kanzler ernannte Franz von Papen setzte diesen Kurs fort, doch inzwischen mit der klaren Perspektive, den Übergang zu einem neuen Regime zu vollziehen. Die schwere Wirtschaftskrise (Deflation, stark steigende Arbeitslosigkeit, Zahlungsunfähigkeit etlicher Banken) im Hintergrund trug ihrerseits zur Rechtfertigung dieses Notstandsszenarios gegenüber der Bevölkerung bei. In diesem Kontext feierten die Nazis ihren Wahlsieg von 1933. Das Warten auf eine starke Exekutive in Zeiten einer dramatischen Wirtschaftskrise, das Gefühl der Demütigung angesichts der von den Siegern von 1918 auferlegten Reparationslast und das Versprechen auf 44 Vgl. Beaud, Les Derniers Jours de Weimar, S. 28–36. 45 Ebd., S. 32.

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Einigkeit (»Ein Volk, ein Reich, ein Führer«) bildeten den geeigneten Nährboden für diesen Sieg. Das simple »Ungleichgewicht« zugunsten des Präsidenten war unter diesen Umständen, in der Lage, in eine echte Diktatur umzuschlagen, und die Akklamation des Führers trat an die Stelle der vorherigen Legitimationsverfahren. »Das deutsche Volk war für die parlamentarische Demokratie […] einfach nicht reif«,46 mit diesen Worten erklärte Friedrich Meinecke die Katastrophe. Es ist schwer zu sagen, ob ein Volk jemals reif für die Demokratie ist, wenn man darunter versteht, dass alle Wähler sich als rationale und um das Gemeinwohl besorgte Akteure verhalten. Dennoch fällt die Tatsache auf, dass die Spaltungen der deutschen Gesellschaft, wie sie sich im Parteiensystem niederschlugen, eine wesentliche Rolle spielten. Und ebenso wichtig ist der Hinweis, dass in der Weimarer Zeit die Demokratie im Wesentlichen als Genehmigungsverfahren gedacht wurde und nicht als permanente Regelung der Beziehungen zwischen Macht und Gesellschaft, das heißt im Sinne einer Betätigungsdemokratie. Die deutsche Geschichte hat auf tragische Weise veranschaulicht, was für eine Wendung der Demokratie gegen sich selbst daraus resultieren kann.

46 Zit. n. Bock (Hg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit, S. 116.

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Von der gaullistischen Ausnahme zur allgemeinen Präsidialisierung Die Vorbehalte der Nachkriegszeit Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde überall in Europa unter dem Druck der Notwendigkeiten die Exekutive gestärkt. Doch mit Ausnahme Deutschlands nahm diese Stärkung nirgendwo verfassungsrechtliche Formen an. Im Falle Frankreichs könnte man von »technischen« Änderungen sprechen, die sich beispielsweise im neu eingerichteten Amt eines Ministerpräsidenten oder dem immer mehr zur Routine werdenden Rückgriff auf Gesetzesverordnungen ausdrückten. Nach 1945 führte das Schreckgespenst des Naziregimes und des Faschismus zur Ablehnung von allem, was einer Personalisierung der Macht auch nur entfernt ähnlich sah. Für Deutschland und Italien bedeutete das die Rückkehr zum Parteiensystem und zum traditionellen Parlamentarismus. Die chronische politische Instabilität, die daraus im Falle Italiens resultierte, gab Anlass zu vielen Fragen und Kritiken. Doch wurden sie, zumindest teilweise, durch das starke Wirtschaftswachstum der Zeit in den Hintergrund gedrängt. Außerdem ist zu beachten, dass sich in Italien, wie übrigens auch in der französischen Dritten Republik, die rasche Aufeinanderfolge der Regierungen, bedingt durch ständig wechselnde Parteienbündnisse, im Rahmen einer relativ großen Stabilität der regierenden politischen Klasse vollzog. Die Regierungen gingen, aber die Inhaber der Ministerämter blieben häufig dieselben. Die »Rückkehr zum Parlamentarismus« in diesen Jahren rief gleichwohl zahlreiche Kritiker auf den Plan. Im Falle Frankreichs ist beispielsweise die Entschiedenheit hervorzuheben, die alle Resistancebewegungen vereinte in ihrer Erinnerung an die »Autoritätskrise«, unter der das Land während der Dritten Republik gelitten habe, und ihrem daraus folgenden Aufruf zur »Stärkung der Exekutive« und zur 121

Bildung einer »stabilen Regierung«.47 Tatsächlich war es, wie bereits erwähnt, vor allem der Staat, der sich konsolidierte, um dieser Forderung gerecht zu werden. Diese »technokratische Vervollkommnung« der Exekutive in Verbindung mit der Rückkehr zu einem »klassischen« Parlamentarismus musste zwangsläufig viele Fragen aufwerfen. Doch wurden diese nicht auf theoretischer Ebene gelöst. Der Wandel der Positionen eines Léon Blum in dieser Angelegenheit ist ein gutes Zeugnis für die »demokratische Zwickmühle« im Falle Frankreichs. In den Jahren 1917–1918 hatte sich Blum, wie gesehen, für ein radikales Umdenken in Sachen Exekutive stark gemacht, im Hinblick auf etwas, wofür er fast die Bezeichnung »republikanische Monarchie« gewählt hätte. Als er nach dem Kongress von Tours zum Führer der Sozialisten wurde, bemühte er sich um eine vorsichtigere Sprache. Gleichwohl betonte er 1927, anlässlich der Vorstellung des »Verfassungsprogramms« der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO ), noch einmal nachdrücklich: »Wir verwechseln nicht Parlamentarismus mit politischer Demokratie.«48 Immer noch aus der gleichen Geisteshaltung heraus schrieb er 1941, zu Beginn des Krieges, in À l’échelle humaine49, einem Text, der während seiner Haft in Bourrassol entstand, dass »Demokratie und Parlamentarismus mitnichten gleichbedeutende und austauschbare Begriffe sind«, ja sogar, dass »der Parlamentarismus nichts mit dem Wesen der Demokratie zu tun hat«. Um zu dem Schluss zu gelangen: »Daraus folgt, dass das parlamentarische oder repräsentative System nicht die demokratische Regierungsform darstellt, die der französischen Gesellschaft genau entspricht, und dass man sich auf die Suche nach geeigneteren Formen begeben muss.« Er bekundete seine Sympathie für das Schweizer und das amerikanische Modell, wollte der Institution der Volksabstimmung einen wichtigen Platz einräumen und beabsichtigte, der Exekutive »eine unabhängige und dauerhafte Autorität« zuzusichern. Doch blieben seine 47 Vgl. dazu Michel, Les Courants de pensée de la Résistance. 48 Léon Blum, »Un programme constitutionnel«, Le Populaire, 22. November 1927, wiederabgedruckt in: L’Œuvre de Léon Blum, Band 2, S. 74. 49 Blum, »À l’échelle humaine«, wiederabgedruckt in: L’Œuvre de Léon Blum, Band 5 (S. 430 für die folgenden Zitate).

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Überlegungen widersprüchlich, da er gleichzeitig die spezifischen Unzulänglichkeiten des französischen Parlamentarismus hervorhob und bedauerte, dass das Fehlen streng durchorganisierter und disziplinierter Parteien zur Zunahme störender Alleingänge geführt habe. Diese Vorbehalte waren nach der Befreiung wie weggefegt, da er 1946 kategorisch erklärte: »In unserem Lande gibt es bis auf Weiteres keine existenzfähige und stabile Demokratie außerhalb des parlamentarischen Systems und kein existenzfähiges und stabiles parlamentarisches System außerhalb des Parteienwesens.«50 Seine Entwicklung stand stellvertretend für das Denken dieser Zeit. Der Entstehungsprozess der Verfassung der Vierten Republik bezeugt eindrucksvoll den Konsens, der sich diesbezüglich unter den verschiedenen politischen Kräften des Landes herausgebildet hatte. Es lohnt die Mühe, ihn in seinen wesentlichen Zügen zu rekapitulieren. Der erste (von der konstituierenden Nationalversammlung am 19. April 1946 angenommene) Verfassungsentwurf brachte die Option zugunsten eines radikalen Parlamentarismus zum Ausdruck. Er sah nämlich vor, dass die Wahl des Ministerpräsidenten durch die Nationalversammlung selbst erfolgt (mit absoluter Mehrheit der Abgeordneten). Kommunisten und Sozialisten erwiesen sich als die eifrigsten Befürworter dieses Ernennungsverfahrens und setzten sich damit über die massiven technischen Bedenken von René Capitant, einem der großen Verfassungsrechtler der Zeit, hinweg.51 Zwar sollte es weiterhin einen Staatspräsidenten geben, jedoch in klarer Abhängigkeit vom Parlament, da vorgesehen war, ihn allein von der Nationalversammlung (mit Zweidrittelmehrheit) wählen zu lassen. Das Protokoll der Verfassungskommission hält übrigens diesbezüglich fest, dass kein Redner sich zugunsten seiner Direktwahl ausgesprochen habe. Auch seine Befugnisse wurden stark beschnitten. Erst nach heftigen Auseinandersetzungen wurde ihm zugestanden, im Ministerrat, im Obersten Verteidigungsrat und im Obersten Gerichtsrat den Vorsitz zu führen, während ihm das Begnadigungsrecht vorenthalten blieb. Alle diese Bestimmungen, die auf ein reines Versammlungsregime hinausliefen, wurden, vor allem in der Linken, als vollendeter Ausdruck eines 50 Le Populaire, 22. Januar 1946. 51 Assemblée nationale constitutante, élue le 21 octobre 1945, S. 83–84.

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demokratischen Fortschritts verstanden. Die Vorbehalte der Mouvement républicain populaire (MRP ) fanden aber genügend Widerhall in der Öffentlichkeit, um dafür zu sorgen, dass der Verfassungsentwurf schließlich bei der Volksabstimmung am 5. Mai 1946 mit 53 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Ein neuer Entwurf musste her, der die Radikalität des zunächst geplanten Versammlungsregimes abschwächte. Der Präsident sollte nunmehr von beiden Versammlungen gewählt werden (der Nationalversammlung, ergänzt um einen »Rat der Republik«). Zwar hielt man an der Ernennung des Ministerpräsidenten durch das Parlament fest, verweigerte diesem aber das Recht zur Parlamentsauflösung.52 Die Verfassung der Vierten Republik, die per Volksabstimmung am 13. Oktober 1946 mit knapper Mehrheit53 angenommen wurde (die Gaullisten waren unzufrieden mit einem Text, der ein Staatsoberhaupt vorsah, das, nach den Worten des Generals, »nicht wirklich eins ist«), führte das Land zum Modell der Vergangenheit zurück. Die eingeführten Institutionen unterschieden sich per se nicht sonderlich von denen, die in den meisten anderen europäischen Ländern vorherrschten. Doch wie in Italien sorgte die Parteienspaltung für ein sehr instabiles, zur Bildung klarer und dauerhafter Mehrheiten wenig geeignetes Parlamentsregime. Die westlichen Demokratien schienen also in den 1950er und 1960er Jahren fest im Versammlungssystem verankert zu sein. Das Weimarer Experiment war nur noch ein fernes Intermezzo, mit dem sich die düstersten Erinnerungen verbanden. Es gab damals in Europa nur zwei Länder, Irland und Finnland, in denen das Staatsoberhaupt direkt gewählt wurde.54 In Irland war die Einführung des Verfahrens 52 Die MRP hatte vorgeschlagen, ihm dieses Recht zu gewähren. Vgl. die Diskussion hierzu in Assemblée nationale constitutante, élue le 2 juin 1946, S. 68–75. 53 Mit 9 Millionen Stimmen bei 8 Millionen Gegenstimmen. Berücksichtigt man die 6 Millionen Enthaltungen und die 1 Million ungültiger Stimmen, hatten lediglich 36% der Wähler den Text gebilligt. 54 Auch der portugiesische Fall wäre zu erwähnen. Nach dem Militärputsch von 1926 war Salazar 1932 zum Ministerpräsidenten geworden und schlug 1933 vor, ein autoritäres Regime zu errichten, in dem der Staatspräsident direkt gewählt würde (allerdings, da die seinerzeit zahlreichen Analphabeten von der Wahl ausgeschlossen waren und unter den Frauen nur Akademikerinnen ein Stimmrecht besaßen, von einer beträchtlich reduzierten Wählerschaft). Doch diese Wahl

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untrennbar mit der Erlangung der Unabhängigkeit von 1937 verbunden und für die Bewohner des Landes vor allem Ausdruck einer neuen staatsbürgerlichen Zugehörigkeit. Im Falle Finnlands hatte, nach der Unabhängigkeitserklärung von 1917, die Verfassung von 1919 eine Volkswahl eingeführt, allerdings nach amerikanischem Vorbild auf indirektem Wege über die Ernennung von Wahlmännern. Diese als »speziell« geltenden Fälle kleinerer Länder stellten also keinerlei Modell dar und waren deshalb auch nicht Gegenstand irgendwelcher Debatten.

Eine amerikanische Ausnahme Das amerikanische Präsidialsystem bildete ebenfalls kein als verallgemeinerbar geltendes Modell. Zudem wurde der Modus der Präsidentschaftswahlen nicht als demokratisch fortschrittlicher betrachtet. Man hielt ihn vielmehr für ein atypisches, den Umständen geschuldetes Produkt einer Negativentscheidung. Bei der Einführung der Verfassung von 1787 war nämlich das Projekt einer Direktwahl durch die Bürger ausdrücklich verworfen, gleichzeitig aber auch die Ernennung durch den Kongress abgelehnt worden. Die Bestellung durch ein Wahlmännerkollegium bot also die Möglichkeit, diese beiden Optionen zurückzuweisen. Ursprünglich waren praktische Überlegungen der Wahlorganisation (es war damals kompliziert, eine größere Zahl von Personen nach Washington zu bringen) und eine gewisse »aristokratische« Sicht des Wahlrechts55 bei der Entscheidung für dieses Modell zusammengekommen. Von einer Volkswahl war man also weit entfernt. Zumal es den gesetzgebenden Versammlungen der Bundesstaawar bloßer Schein: Das Präsidentenamt wurde mit zweitrangigen Personen besetzt, während in Wirklichkeit Salazar eine autoritäre Macht ausübte. 55 Alexander Hamilton verteidigte das Verfahren mit folgenden Worten: »Ebenso wünschenswert war es, daß die direkte Wahl von Männern vorgenommen wird, die besonders befähigt sind zur Beurteilung der für den Rang des Amtes nötigen Eigenschaften und die zudem unter Bedingungen handeln, die günstig sind für die Erörterung aller Gründe und Motive, die ihre Wahl zu Recht bestimmen sollten. Eine kleine Anzahl von Personen, von ihren Mitbürgern aus der großen Menge ausgewählt, wird am ehesten die für diese komplizierte Analyse nötigen Kenntnisse und das erforderliche Urteilsvermögen besitzen« (Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist-Artikel. S. 411–412, 68. Artikel).

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ten freistand, ihre Wahlmänner unter den von ihnen bevorzugten Bedingungen zu ernennen. In manchen Staaten wurden die Wahlmänner von den gesetzgebenden Körperschaften selbst ernannt. Andere optierten für eine Direktwahl, indem sie ihr Territorium in Distrikte gliederten, auf die sich die Zahl der zu ernennenden Personen verteilte; eine Wahl, bei der die Kandidaten sehr bald als Vertreter eines »tickets« wahrgenommen wurden, das die Namen eines Präsidenten und eines Vizepräsidenten enthielt. Bis 1832 hatte sich dieses letztere, demokratischere Verfahren nahezu überall durchgesetzt.56 Erst ganz allmählich begann man, die amerikanischen Bürger selbst an der Kandidatenwahl zu beteiligen. Anfangs war diese Wahl alleinige Sache der caucuses, die sich aus selbsternannten Vertretern der örtlichen Prominenz zusammensetzten. Danach, ab 1824, ging diese Funktion auf die Parteikonvente über. Erst als zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Vorwahlsystem entstand und die Bedeutung der Präsidentschaftswahlen nachhaltig veränderte, führte das Wahlmännersystem nach und nach zu Resultaten, die sich von denen einer Direktwahl praktisch nicht unterschieden.57 In den Augen europäischer Beobachter um die Mitte des 19. Jahrhunderts stellte diese Wahl also kein Vorbild in Sachen Demokratisierung der Exekutive dar. Und für die Tatsache, dass eine republikanische Exekutive auf den Schultern eines Einzelnen ruhte, wurden die Ausgangsbedingungen verantwortlich gemacht, unter denen das Land zur Unabhängigkeit gelangt war, sowie seine föderalistischen Struktur und seine anfangs geringe Bevölkerungszahl. Alles sprach also dafür, dieses System als Sonderfall zu betrachten. Selbst die Innovation, die die massive Präsenz des Fernsehens ab den 1960er Jahren darstellte, angefangen mit dem Kennedy-NixonWahlkampf, wurde seinerzeit mehr einer gewissen Vorliebe der Ame-

56 Mit alleiniger Ausnahme North Carolinas. Doch neue Staaten wie Florida 1868 und Colorado 1876 kehrten zur Ernennung durch die gesetzgebenden Versammlungen zurück. 57 »Praktisch«, denn es kam zu Fällen, in denen der nach diesem System gewählte Präsident nicht die Stimmenmehrheit erhielt. Das war noch unlängst, mit George W. Bush im Jahr 2000, der Fall (zuvor waren mit Rutherford B. Hayes und Benjamin Harrison, 1876 bzw. 1888, bereits zwei andere »Minderheits«-Präsidenten gewählt worden).

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rikaner für das Spektakel als einer frühen Form von Personalisierung der Demokratien zugeschrieben.58 Es war das gaullistische Regime, das den entscheidenden Bruch mit den Funktionsmechanismen der Demokratien vollzog, indem es die Direktwahl des Chefs der Exekutive in ein Schlüsselelement zur Demokratisierung dieser gedanklich lange vernachlässigten Macht verwandelte.

Das gaullistische Moment Der Fünften Französischen Republik gebührt das Verdienst, die fortschreitende Präsidialisierung der Demokratien zur Normalität gemacht zu haben, indem sie sie nach und nach von der Gestalt ihres Gründervaters ablöste und von ihren einstigen cäsaristischen Konnotationen befreite. Es empfiehlt sich, auf die Anfänge des Regimes zurückzugehen, um die Ursachen dieser Bewegung besser zu verstehen. Erstes Strukturelement: das entschlossene Bekenntnis zur Exekutive als Herzstück des gaullistischen Verfassungsprojekts. »Ich glaube, dass im 20. Jahrhundert der starke Staat besser zur Demokratie passt als der schwache und gespaltene Staat, den die Liberalen erstreben«, so brachte es eine der intellektuellen Leitfiguren des Regimes auf den Punkt.59 Diese Position hatte zunächst eine positive Seite: das Bekenntnis zum Vorrang einer unmittelbar aktiven Macht, die in einer modernen, sich ständig wandelnden Gesellschaft erforderlich sei. Allerdings ging der gaullistische Wille zur Unterscheidung der Exekutive, im doppelten Sinne einer Autonomisierung dieser Macht und der Betonung eines Vorrangs, mit einer negativen Sicht der Legislative einher. Und zwar in erster Linie wegen ihrer automatischen Assoziation mit dem Parteienuniversum. Das Parlament, so de Gaulle, vereine »in sich die Vertretungen von Einzelinteressen«.60 Aufgrund ihrer einheitlichen 58 Vgl. dazu die leicht abschätzigen Bemerkungen vieler europäischer Politiker dieser Zeit. 59 René Capitant, Vorwort zu Léo Hamon, De Gaulle dans la République (1958), wiederabgedruckt in: Capitant, Écrits constitutionnels, S. 366. 60 De Gaulle, Memoiren 1942–1946, S. 513. In seiner Rede in Bayeux (16. Juni 1946) sprach er auch von einem »Sammelsurium parteiischer Interessenvertretungen« (Charles de Gaulle, 16. Juni 1946 – Rede in Bayeux, http://www.charles-degaulle.de/16-juni-1946-rede-in-bayeux.html [2. 6. 2016]). Weswegen Artikel 23

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Struktur falle hingegen der Exekutive ganz selbstverständlich die Aufgabe zu, den Gemeinwillen und die Einheit des Landes zu repräsentieren. Daraus folgte für ihn zweierlei: zunächst das Amt des Staatsoberhauptes mit der Fähigkeit zu versehen, das Land zu verkörpern, sowie es mit einer Art von Legitimität auszustatten, die es über die Parteien erhebt. Deshalb rief de Gaulle schon 1946 dazu auf, den Präsidenten von einem wesentlich größeren Gremium als dem Parlament wählen zu lassen. Es sei beiläufig angemerkt, dass er aus diesem Grund die Institution des amerikanischen Präsidenten scharf kritisierte, weil nach seiner Meinung der Wahlvorgang jenseits des Atlantiks noch zu stark von den Parteiapparaten abhängig sei61 (während es ihm gleichzeitig, wegen des ihn umgebenden Medienrummels, an der nötigen Ernsthaftigkeit fehle). Von einer Direktwahl durch die Bevölkerung war bei ihm allerdings noch keine Rede. Wie übrigens auch keiner der zahlreichen Verfassungsentwürfe der Resistancebewegungen ein solches Verfahren in Betracht zog. Das Gespenst des Cäsarismus war in den Köpfen nach wie vor stark präsent, und Kenner der Geschichte des 19. Jahrhunderts erinnerten an das wenig überzeugende Experiment von 1848.62 Die Sachlage blieb auch 1958 noch unverändert.63 Erst 1962 wurde per Referendum das System der Wahl des Präsidenten durch das Volk eingeführt. Wie ist zu erklären, dass es so lange dauerte, ein Verfahren zu installieren, das heute, aus dem Rückblick, so eng mit dem gaullistischen Demokratieverständnis verknüpft zu sein scheint? Es waren zunächst technische Gründe, die den Vorgang 1958 erschwerten, da das Staatsoberhaupt gleichzeitig Präsident der Französischen Republik und Präsident der französischen Union war. Die Verfassung der Fünften der Verfassung von 1958 die Kumulierung von Ministeramt und Abgeordnetenmandat für unzulässig erklärte. 61 Vgl. dazu Rudelle, »De Gaulle et l’élection directe du président de la République«, S. 695 und 700. 62 Vgl. Callon (Hg.), Les Projets constitutionnels de la Résistance. 63 Die Verfassung von 1958 sah vor, dass der Präsident von einem Wahlgremium ernannt wird, das sich aus den Parlamentsabgeordneten, den Generalräten der Departements, den Bürgermeistern aller Gemeinden Frankreichs und bei größeren Städten den Stadträten zusammensetzte (summa summarum ungefähr 80000 Volksvertreter).

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Republik hatte somit, formal betrachtet, eine föderalistische Dimension (manche Beobachter wie René Capitant sprachen sogar von einer »franko-afrikanischen Föderation«). Und eine Direktwahl hätte die schwierige Frage nach der Wahlberechtigung aufgeworfen: Hätten alle Unionsangehörigen Wähler sein sollen? Oder wäre es möglich gewesen, unterschiedliche Wahlverfahren für das Mutterland und die Mitgliedsstaaten in Erwägung zu ziehen? Ganz zu schweigen von dem Problem, das Algerien aufgeworfen hätte. Aber es gab noch weitere Erklärungen dafür, warum sich die Frage 1958 nicht stellte. Zwar behauptete de Gaulle späterhin mehrfach, er habe »seit langem« die Direktwahl für das einzig mögliche Verfahren zur Bestimmung des Präsidenten gehalten,64 gab aber selbst zu, dass ihn taktische und strategische Überlegungen damals zur Vorsicht zwangen. Da viele seiner Gegner ihn als potenziellen Diktator verdächtigten, hielt er es, nach seinen Worten, für angebracht, auf solche Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.65 Nicht ohne einen gewissen Stolz bekundete er, die Frage in Bezug auf sich selbst und angesichts seines persönlichen Formats für zweitrangig gehalten zu haben. »Darüber hinaus«, betonte er, um seine Haltung von 1958 zu erklären, »hatte ich anfangs selbst die Absicht, die Funktionen des Staatsoberhauptes wahrzunehmen, und aufgrund der vergangenen Geschichte wie der gegenwärtigen Umstände erschien mir die Art, dies zu erreichen, als Formalität ohne Auswirkungen auf meine Rolle. Doch im Hinblick auf Kommendes war ich entschlossen, das Gebäude diesbezüglich noch vor dem Ende meiner Amtszeit zum Abschluss zu bringen.«66 Im 64 Vgl. seine Rede vom 4. Oktober 1962, wiederabgedruckt in: de Gaulle, Mémoires d’espoir, Band 2, S. 18, sowie die von Alain Peyrefitte oder Roger Frey kolportierten Gespräche. Léo Hamon hielt das allerdings für nachträgliche Rationalisierungen (»La thèse gaullienne«, in: Hamon, L’Élection du chef de l’État). 65 »Um den nahezu einhelligen Impuls nationaler Zustimmung nicht zu gefährden«, schrieb er dementsprechend, »hielt ich es zu dieser Zeit für geboten, auf die leidenschaftlichen Vorbehalte, die die Vorstellung eines Plebiszits, seit Louis-Napoléon, in manchen Kreisen der Öffentlichkeit hervorrief, Rücksicht zu nehmen. Wenn die neue Verfassung praktisch bewiesen hätte, dass die höchste Ebene die Macht besitzen könne, ohne dass es zu einer Diktatur käme, wäre die Zeit gekommen, um dem Volk die endgültige Reform vorzuschlagen« (de Gaulle, Mémoires d’espoir, S. 19–20). 66 Ebd.

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Übrigen kann man davon ausgehen, dass die vier Volksabstimmungen zwischen 1958 und 1962 eine Art Ersatz für eine Direktwahl darstellten, da sie die Bindungen zwischen Volk und gaullistischem Regime praktisch festigten.67 1962 war die Entkolonisierung praktisch abgeschlossen und Algerien unabhängig geworden: das »technische« Hindernis war somit beseitigt. De Gaulle konnte nun damit beginnen, sich um die Zukunft der von ihm gegründeten Republik zu kümmern. In der Annahme, dass seine Nachfolger nicht über das verfügen würden, was er voller Stolz seine »persönliche Gleichung« nannte,68 beschloss er, die Reform dem Land zur Abstimmung zu unterbreiten. Es wurden leidenschaftliche Debatten geführt. Die Ablehnung in linken Kreisen war total. Die kommunistische Partei, die bereits 1958 von Staatsstreich, Militärdiktatur und faschistischer Gefahr gesprochen hatte, reagierte mit noch heftigerer Empörung auf die Ankündigung des geplanten Referendums, verlegte sich aber vor allem darauf, den vageren Vorwurf der »persönlichen Macht« zu erheben, der ihr geeignet schien, auf breitere Zustimmung zu stoßen.69 Gleichzeitig gebärdete sich die KP als eifrigste Verteidigerin des klassischen Parlamentarismus. In den Reihen der Sozialisten besann man sich auf die Warnungen, die Léon Blum 1946, nach der Rede des Generals in Bayeux, an seine Freunde gerichtet hatte: »Was General de Gaulle unter einem echten Führer versteht, ist ein Staatspräsident, der, ohne dem Parlament verantwortlich zu sein, über eine reale eigene Macht verfügen würde, ein Staatspräsident, der die wichtigsten Minister und selbst den Ministerpräsidenten zu seinen Repräsentanten oder Geschöpfen degradieren würde […]. Eine solche Vorstellung ist nicht tragbar […]. Nicht nur, dass sie eine persönliche Macht erzeugt, ihre Umsetzung würde erfordern, dass das gesamte öffentliche Leben von dieser persönlichen Macht dominiert wird. Welcher Republikaner könnte dem zustimmen?«70 Und weiter: »Da alle 67 Vgl. dazu Duhamel, Le Pouvoir politique en France. 68 Vgl. seine Worte vom 11. April 1961, zit. n. Rudelle, »De Gaulle et l’élection directe du président de la République«, S. 702–703 [die »persönliche Gleichung« meinte die Übereinstimmung zwischen ihm, de Gaulle, und dem französischen Volk, AdÜ]. 69 Vgl. das Kapitel, das Duhamel in La Gauche et la Ve République der Frage widmet. 70 Zit. n. Berstein, Histoire du gaullisme, S. 105, 106.

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Souveränität zwangsläufig vom Volk ausgeht, müsste man bis zur Quelle dieser Souveränität vordringen, das heißt das Staatsoberhaupt durch allgemeine Wahlen bestimmen, wie in der amerikanischen Verfassung und der französischen Verfassung von 1848. Das ist die logische Konsequenz des Systems. […] Aber in Frankreich, wo der Übergang von der präsidialen zur persönlichen Macht eine der bekannten und erlebten Gefährdungen der Demokratie ist, nennt sich die Übertragung der Exekutivgewalt auf einen Einzelnen durch direkte Wahlen Plebiszit.«71 »Nein zum Plebiszit«, dieser Slogan wurde tatsächlich 1962 an die Mauern des Landes gepinselt. Auch Pierre Mendès France, obwohl ein heftiger Kritiker der Vierten Republik, warf sein ganzes Gewicht in die Waagschale, um den »alles zermalmenden« Machtzuwachs eines direkt gewählten »regierenden Präsidenten« anzuprangern. In seinem Anfang Oktober 1962 erschienenen Buch La République moderne72 sprach er von »Wahlmonarchie« und »Konzentration der Macht in den Händen eines Mannes, der allein berät, allein verfügt, allein entscheidet«.73 Und fügte hinzu: »Ein solches Wahlverfahren bietet keinerlei Ansatz zu einer ernsthaften politischen Kontrolle; es tendiert sogar dazu, die Wählerschaft zu entpolitisieren, es animiert sie, sich zurückzuziehen, sich daran zu gewöhnen, ihre Souveränität aufzugeben […]. Damit bietet sich auch Abenteurern eine unverhoffte Chance.«74 Und er verschanzte sich hinter einem Satz aus der Rede in Bayeux, um seine Vorbehalte zu rechtfertigen.75 François Mitterand ereiferte sich noch mehr. In dem 71 Le Populaire, 21. Juni 1946, wiederabgedruckt in: Blum, L’Œuvre de Léon Blum, Band 6, S. 218. 72 Wiederveröffentlicht in: Mendés France, Œuvres complètes, Band 4. In Einklang mit seinen Kritiken weigerte sich Pierre Mendès France, während der Fünften Republik zu Präsidenschaftswahlen anzutreten. 73 Ebd., S. 775. 74 Ebd., S. 772. 75 »Stets zeigen sich ihre Anfänge in vorteilhaftem Licht«, sagte der General seinerzeit über die Diktatur. »Inmitten der Begeisterung der einen und der Resignation der anderen, mit ihrer erzwungenen strengen Ordnung, mit Hilfe blendender Inszenierungen und einer unwidersprochenen Propaganda gewinnt sie anfänglich den Anschein einer Dynamik, die sich wohltuend von der vorherigen Anarchie abhebt. Doch es gehört zum Wesensschicksal der Diktatur, dass sie ihre Bestrebungen übertreibt.« Charles de Gaulle, Rede in

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etwas später publizierten Le Coup d’État permanent führte der Polemiker eine besonders spitze Feder. Über Seiten hinweg war nur von »Neuauflage des 2. Dezember«, von »vollständig domestizierter Exekutive«, von »Diktatur«, von »Monarch im Kreis seiner Lakaien«, ja sogar von »totalitärer Propaganda« die Rede. Für denjenigen, der wenig später zu den Präsidentschaftswahlen von 1965 antreten sollte, veranschaulichte de Gaulle lediglich die Tatsache, dass »der Bonapartismus immer noch eine solide Basis« im Land besaß. De Gaulle wurde auf die Dimension eines »Anbeters der absoluten Macht« reduziert. Von Seiten liberaler Kommentatoren fielen die Kritiken kaum weniger harsch aus. Ein Raymond Aron, immerhin Ex-Aktivist des Rassemblement du peuple français (RPF ) von 1948–1952, sprach von »despotischer Verfassung«, »Beschwörung einer mysteriösen, vermeintlich über dem Gesetz stehenden Legitimität«76 und bezog sich auf den General mit Worten wie »Monarch« oder »typisch bonapartistischer Handlungsstil«. Um zu dem Schluss zu gelangen, das derart errichtete Regime sei »per definitionem« dazu verdammt, »ein Provisorium« zu bleiben.77 Die Rechte, die für ein französisches Algerien eintrat, konnte sich nur mit aller Macht einem Modus der Präsidentschaftswahlen widersetzen, der den Schlussstein eines ungeliebten Regimes bildete. Mindestens zwei Drittel der politischen Klasse riefen also dazu auf, bei dem Referendum von 1962 mit Nein zu stimmen.78 Dennoch billigten 62 Prozent der Franzosen die vorgeschlagene Reform. Mit anderen Worten, viele von ihnen erkannten im Mann des 18. Juni nicht die KonBayeux (16. Juni 1946), http://charles-de-gaulle.de/16-juni-1946-rede-in-bayeux [2. 6. 2016] 76 Aron, »La République gaulliste continue«, Preuves, Nr. 143, Januar 1963. 77 Aron, »Démission des Francais ou rénovation de la France«, Preuves, Nr. 96, Februar 1959. Dieser Artikel ebenso wie der vorhergehende wurden wiederabgedruckt in: Aron, Une Histoire du XXe siècle. Zu diesen Positionen vgl. Lazorthes, »Le libéral et la Constitution de la Ve République«. 78 Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass das oberste Verwaltungsgericht den juristischen Rahmen seiner üblichen Stellungnahmen überschritt und ein negatives Urteil zu dem die Präsidentschaftswahlen betreffenden Gesetzesvorhaben abgab. Anzumerken ist ferner, dass das Eintreten der Linken für die Souveränität des Parlaments sich auf einen prinzipiellen Widerstand gegen die Überprüfung der Gesetze hinsichtlich ihrer Verfassungskonformität ausdehnte.

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turen eines Möchtegern-Diktators.79 Dieses Resultat brachte auch die Tatsache zum Ausdruck, dass die Wähler in dieser Reform einen demokratischen Fortschritt sahen, da sie das Volk mit einem wichtigen zusätzlichen Recht ausstattete. Sowie die umgekehrte Tatsache, dass sich die Widersacher nicht darum bemüht hatten, im Sinne einer möglichen demokratischen Regierung zu argumentieren. Entweder sie begnügten sich damit, wie François Mitterand, in sehr unbestimmten Worten eine »Scheindemokratie«80 zu kritisieren, oder sie wiederholten lediglich die alten, immer abgedroschener klingenden Formeln von der parlamentarischen Souveränität, die auf der Anerkennung einer impliziten Hierarchie zwischen Repräsentanten und Repräsentierten beruhe. Daher die zunehmende Akzeptanz des Präsidialsystems in Frankreich, das aus Sicht der Bürger vor allem in der Direktwahl des Staatsoberhauptes besteht. Die anfangs innerhalb der Linken sehr isolierten Zirkel, die ein derartiges System befürworteten, wurden somit Zeugen, wie sich ihnen die großen Parteien nach und nach stillschweigend anschlossen. Die Beteiligung der Bürger an der Präsidentschaftswahl sowie das Interesse der Parteien an dem vorausgehenden Wahlkampf (zu einer Zeit, als das Fernsehen im Begriff stand, in alle Haushalte einzuziehen) verschafften dem Verfahren rasch seine praktische Legitimation. Mit der Wahl eines sozialistischen Präsidenten im Jahr 1981 hatte sich das Verfahren in Frankreich endgültig durchgesetzt, und fünfzig Jahre nach dem Referendum von 1962 beziehen sich alle politischen Parteien eher positiv auf die gaullistische Tradition, die nunmehr fester Bestandteil der Republik ist.

Die Verbreitung der Präsidentschaftswahlen Auch wenn er von Teilen der Öffentlichkeit im eigenen Land lange Zeit mit Argwohn betrachtet wurde und im Ausland vielfach als atypische und schwer einzuordnende Persönlichkeit galt, wird man de Gaulle rückblickend zugestehen müssen, dass er ein neues Zeitalter in der Ge79 De Gaulle hatte übrigens selbst unter Beweis gestellt, dass er dem Antibonapartismus der frühen Dritten Republik verpflichtet blieb. Er war zwar ein »Wohlfahrtsrepublikaner«, hegte aber keinerlei Sympathie für den Cäsarismus. Vgl. dazu Andrieu, »Charles de Gaulle, héritier de la Révolution française«. 80 Mitterand, Le Coup d’État permanent, S. 240.

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schichte der Demokratien eingeläutet hat, indem er eine erste Version dessen entwarf, was man unter Bezug auf Max Weber als »routinisierte plebiszitäre Demokratie« bezeichnet hat.81 Das von General de Gaulle in Frankreich eingeführte System erschien zu Beginn der 1960er Jahre als eine stark von der Persönlichkeit seines Begründers und den dubiosen Umständen seiner Rückkehr an die Macht geprägte Ausnahme. Niemandem wäre damals in den Sinn gekommen, es als ein die Gesamtentwicklung der Demokratien vorwegnehmendes Modell zu betrachten. Es war jedenfalls in Europa ziemlich isoliert. Aufgrund des bereits eingangs erwähnten Fortbestehens konstitutioneller Monarchien auf dem Kontinent. Aber auch aufgrund der Spuren, die die Erinnerung an die Katastrophen der Zwischenkriegszeit in den Köpfen hinterlassen hatte. Doch allmählich geriet alles in Bewegung, vor allem auf globaler Ebene. Die Entkolonialisierungsbewegung in Afrika gab das Startsignal für die Ausbreitung der Präsidialdemokratie auf diesem Kontinent. Das Prinzip der Direktwahl des Staatsoberhauptes fehlte zunächst in den meisten der nach französischem Muster redigierten Verfassungen, verbreitete sich aber allmählich nach der 1962 im Mutterland angenommenen Reform: Madagaskar importierte das Verfahren 1962, Senegal und Zentralafrika folgten 1963. Freilich ist die Lage häufig kompliziert, da viele Länder nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit ein Einparteiensystem annahmen, sodass das Prinzip der Volkswahl als etwas von der Vorstellung eines pluralistischen Wettbewerbs völlig Unabhängiges wahrgenommen werden konnte. Auch fünfzig Jahre nach der Befreiung aus der Kolonialherrschaft ist die Situation immer noch unbeständig auf einem Kontinent, wo Bürgerkriege und Staatsstreiche nach wie vor auf der Tagesordnung stehen. Doch abgesehen von der marokkanischen Monarchie hat die Präsidialisierung der Regime überall eine als »natürlich« und wünschenswert betrachtete Perspektive auf eine demokratische Ordnung eröffnet und sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts weithin durchgesetzt. In Asien und Lateinamerika hat das Ende der Diktaturen und die Entwicklung parlamentarischer Systeme eine in die gleiche Richtung 81 Morel, »La Ve République, le réferendum et la démocratie plébiscitaire de Max Weber«, S. 34.

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gehende Bewegung ausgelöst. Auf diesen beiden Kontinenten, ebenso wie in Afrika, erfolgt die Direktwahl des Staatsoberhauptes unter sehr verschiedenen Rahmenbedingungen, die von authentischen Demokratien bis zu Spielarten des Cäsarismus oder charismatisch-populistischen Herrschaftsformen reichen. Doch Fakt ist, dass sich der Präsidialismus auch hier als Form des guten Regierens durchgesetzt hat. Um nur Lateinamerika als Beispiel zu nehmen: Gab es zu Beginn der 1980er Jahre nur drei Länder, in denen der Präsident im Rahmen einer allgemeinen Wahl mit mehreren konkurrierenden Kandidaten gewählt wurde (Kolumbien, Costa Rica und Venezuela), so hat sich das Verfahren dreißig Jahre später verallgemeinert (mit Ausnahme Kubas). Selbst in Europa hat sich die Lage beträchtlich gewandelt. Zwar nicht im »alten Europa«, wo auf seinem Ursprungsterrain nach wie vor das parlamentarische Modell dominiert. Doch hat der Zusammenbruch des Ostblocks in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu einer Übernahme des Präsidialismus geführt.82

Die Personalisierung jenseits der Präsidialisierung 1974 veröffentlichte Maurice Duverger, einer der führenden französischen Verfassungsrechtler der Zeit, ein Werk mit dem provokanten Titel: Die republikanische Monarchie.83 In Frankreich, so der Inhalt, liege die Regierungsbefugnis bei einer einzelnen Person, die, durch das allgemeine Wahlrecht mit den Weihen höchster Legitimität versehen, alle wichtigen Entscheidungen treffe oder zumindest beeinflusse und die Politik des Landes bestimme. Kurzum, ein Monarch. Aber ein republikanischer Monarch, weil aus freien Wahlen hervorgegangen und mit einem zeitlich begrenzten und einer gewissen parlamentarischen Kontrolle unterworfenen Mandat ausgestattet. Ähnliche Worte, nur sechzig Jahre später, wie diejenigen, die Léon Blum 1917 verwendet hatte, um die Art von effizienter und strukturierter Regierung zu bezeichnen, die ihm als positive Zukunft der Demokratien vorschwebte. Im Frankreich der frühen 1970er Jahre ausgesprochen, musste diese Formel vielen einleuchtend erscheinen, da das gaullistische Regime gerade 82 Diese Option äußert sich allerdings nicht in allen Fällen in einer Präsidialisierung der Exekutive, wie zu betonen ist. 83 Duverger, La Monarchie républicaine.

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beschuldigt wurde, derartige Züge angenommen zu haben. Doch war es nicht Duvergers Anliegen, in den Chor der Kritiker einzustimmen. Es ging ihm vielmehr um den Nachweis, dass sich jenseits formaler Unterschiede alle großen Demokratien auf dem Weg in dieselbe Richtung befänden. Zwar würden die Spitzen der Exekutive in Deutschland, Kanada, Großbritannien, Schweden usw. nicht direkt gewählt. Doch seien die Ministerpräsidenten dieser Länder, seiner Einschätzung nach, durch eine »versteckte Wahl« zur Macht gelangt, die dortigen Parlamentswahlen seien, im Grunde, etwas Ähnliches wie Präsidentschaftswahlen geworden. »Wenn man die parlamentarischen Versammlungen dieser Länder betrachtet«, schrieb Duverger, »würde man sie als mehrheitsparlamentarische Systeme einstufen, doch wenn man sich ihre Regierungen ansieht, so muss man von republikanischer Monarchie sprechen.«84 Eine weitere Stimme, die des irischen Hochschullehrers Brian Farrell, schloss sich dieser Feststellung an: »In fast allen politischen Systemen,«, notierte dieser, »sind die Dominanz der Exekutive und deren Personifizierung durch einen einzelnen Führer zu einem zentralen Faktum des politischen Lebens geworden.«85 Vierzig Jahre nach Veröffentlichung dieser beiden Pionierwerke ist der »gesellschaftspolitisch« zu nennende Trend zur Personalisierung der Exekutive, jenseits verfassungsrechtlicher Auswirkungen, de facto in eine allgemeine Präsidialisierung der Demokratien gemündet. Gleichzeitig gingen, wie zu betonen ist, diese ersten Analysen der Konvergenz der tatsächlichen, von funktionalen Eigenheiten der Systeme unabhängigen Formen der Exekutive über vorherige Wahrnehmungen des Personalisierungsphänomens hinaus86, die sich zumeist auf eine Folgenabschätzung des Bedeutungszuwachses audiovisueller Medien für die Politik beschränkt hatten, indem sie gewissermaßen die »klassische« Dimension politischer Führung erweiterten. Dabei ist zu bedenken, dass der Begriff der Personalisierung nie zuvor zum Verständnis von Demokratien herangezogen worden war. Historisch gesehen wurde Personalisierung nämlich, wie ausführlich dargelegt, in erster Linie als Struktureigenschaft despotischer Regime begriffen, als kom84 Ebd., S. 63–72. 85 Farrell, Chairman or Chief? 86 Vgl. zum Beispiel Hamon/Mabileau (Hg.), La Personalisation du pouvoir.

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plementäres Element einer Individualisierung der Macht (gleichbedeutend mit deren illegitimer Privatisierung und illiberaler Konzentration). In Bezug auf Demokratien von Personalisierung zu sprechen, stellte also einen erheblichen gedanklichen Bruch mit dem vorherigen Kult der Unpersönlichkeit dar. Diese Präsidialisierung/Personalisierung hat äußerst vielfältige Formen angenommen.87 Sowohl hinsichtlich der spezifischen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen als auch der Persönlichkeit des jeweiligen Staatsoberhauptes. War das Modell zum Zeitpunkt seiner Entstehung eng mit der Vorstellung des großen Staatsmannes verknüpft (die Gestalt General des Gaulles lieferte dafür gleichermaßen ein Bild und eine Projektionsfläche), so hat die Erfahrung gezeigt, dass sich das »Format« des Präsidenten nach und nach auf bescheidenere Ausmaße verkleinern konnte. Die Präsidialisierung der Demokratien geht seither mit einer personellen »Normalisierung« der Amtsinhaber einher. So hat man beispielsweise die Fünfte Republik nach de Gaulle als »geistlosen Cäsarismus«88 bezeichnet. Auf diese Weise bildete sich eine unaufhörlich wachsende Kluft zwischen der politischen Form der Präsidialisierung/Personalisierung und ihrer sozialen Verkörperung heraus. Erstere legte an Umfang zu, während sich Letztere mit dem Amtsantritt »normaler Präsidenten« unaufhaltsam verringerte. Diese Kluft resultierte auch aus der immer markanteren Diskrepanz zwischen den politischen Fähigkeiten, die zum Gewinnen einer Wahl erforderlich sind, und denen, die einen fähigen Regenten ausmachen. Diese verschiedenen Überlegungen sprechen dafür, den Begriff des präsidialen Regierungsmodells im erweiterten Sinne zu verstehen. Dieses Modell umfasst drei Dimensionen, eine funktionale, eine institutionelle und eine konstitutionelle. Die ersten beiden sind allen modernen Regimen gemeinsam: die Personalisierung (funktionale Dimension) und das Primat der Exekutive (institutionelle Dimension). In rein verfassungsrechtlichen Begriffen ist die Situation unein87 Siehe für einen Gesamtüberblick Poguntke/Webb (Hg.), The Presidentialization of Politics. 88 Beaud, »À la recherche de la légitimité de la Ve République«, S. 88. Zur Entwicklung der Präsidialisierung à la française, vgl. Duhamel, »Vers une présidentialisation des institutions?«.

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heitlicher, da die Institution des Präsidenten nicht überall existiert und ihre Formen variieren, hinsichtlich ihrer Befugnisse ebenso wie der Art ihrer Einrichtung. Wird die Verfassungsfrage hingegen in einem erweiterten Sinne verstanden, ausgehend vom Begriff des Exekutivchefs und unter Berücksichtigung des Faktums »versteckter Wahlen«, dann gibt es auch eine Form konstitutioneller Konvergenz, die folglich dazu berechtigt, von einer Verallgemeinerung des präsidialen Regierungsmodells zu sprechen.

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Unumgänglich und problematisch Die demokratischen Gründe der Präsidialisierung Jenseits einer medial erzeugten Personalisierung der Politik, die seit den 1960er Jahren häufig analysiert worden ist,89 gibt es spezifisch demokratische Gründe dieser Dimension der Präsidialisierung/Personalisierung. Sie sind auf drei Ebenen angesiedelt. Die Präsidialisierung liefert zunächst eine Antwort auf ein gesellschaftliches Zuordnungsbedürfnis. Schließlich versteht sich Demokratie in erster Linie als System, in dem die Macht verantwortlich ist, wobei Wahlen nur eine der Möglichkeiten sind, sie auf den Prüfstand zu stellen. Die Zuerkennung von Verantwortlichkeit beinhaltet ein Urteil, sie begründet eine Form der Abhängigkeit der Regierenden von den Regierten. Sie hat somit nur Sinn als personalisierte Macht, die in ihrer Ausübung zuordenbar sein muss, während eine Versammlung strukturell unverantwortlich ist. Auf diesen Punkt hat Necker, der erste wirkliche Denker der modernen Exekutive, mit besonderem Nachdruck hingewiesen. »Wie soll einem nicht angst und bange werden«, fragte er im Hinblick auf die revolutionären Versammlungen, »angesichts der grenzenlosen Macht eines Kollektivwesens, das, da es sich im Handumdrehen von einem Stück lebendiger Natur in ein Abstraktum verwandelt, weder des Mitleids noch des Erbarmens bedarf und für sich weder Strafe noch Verdammnis fürchtet.«90 Louis Marie Stanislas Fréron, Herausgeber des Orateur du Peuple, dessen politische Auffassungen im diametralen Gegensatz zu denen Neckers standen, gelangte gleichwohl zu einer ähnlichen Analyse und appellierte im Jahr III an seine Parlamentskollegen, ihre »unantastbaren Hände« von einer Exekutive zu lassen, die er stattdes89 Insbesondere in ihrem Verhältnis zur Entwicklung des Fernsehens, das eine entscheidende Etappe in diesem Personalisierungsprozess markiert, ganz speziell im Rahmen von Präsidentschaftswahlen. 90 Necker, Du Pouvoir exécutif dans les grands États, S. 355.

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sen in »verantwortliche Hände« gelegt wissen wollte.91 Eine Verantwortung, die für ihn untrennbar mit einer Volkswahl verknüpft war. Diese beiden Kritiker des Versammlungsregimes blieben seinerzeit unbeachtet, so sehr galten die Vorzüge des Unpersönlichkeitsprinzips als unumstößliches Dogma. Doch die Idee gewann allmählich an Boden. Denn die Bürger hatten das bestimmte Gefühl, dass die verantwortliche Machtausübung von den traditionellen aristokratisch-repräsentativen Regierungen konfisziert wird, da sich alles in der geschlossenen Welt der Parteien und parlamentarischen Übereinkünfte abspielt. Während umgekehrt das Prinzip der Wahl des Staatsoberhaupts die Verantwortung radikalisiert und polarisiert und so für die Massen attraktiv macht, die unter normalen Umständen keine Möglichkeit haben, den Lauf der Dinge zu beeinflussen (was umso deutlicher zutage tritt, wenn einer der Kandidaten der scheidende Amtsinhaber ist). Die Präsidialisierung entspricht ferner einer sozialen Willenserwartung: die Personalisierung der Politik gibt dieser nämlich ein Gesicht. Diese Dimension hat sich zunächst in dem Maße verstärkt, wie der revolutionäre Ansatz sich verflüchtigte. Dieser lief nämlich, unabhängig von seinen Ausdrucksformen, darauf hinaus, die Pläne zur Weltveränderung in eine umfassendere Sicht der geschichtlichen Entwicklung zu integrieren. Der Marxismus, der lange die Vorstellungswelt der Linksparteien beherrschte, war eine der schlüssigsten theoretischen Ausformulierungen dieses Ansatzes. Mit ihm wurde die Geschichte selbst zum Träger des Willensverlangens, das die demokratische Moderne begründete. Jeder Einzelne konnte zur tätigen Verkörperung dieses Willens werden, indem er sich den Organisationen anschloss, die dazu ausersehen waren, diese geschichtliche Bewegung zu begleiten und zu beschleunigen. Das Verschwinden der revolutionären Perspektive erzeugte ein Gefühl des Verlustes und der Enteignung, das wiederum dazu führte, die Willenserwartung auf die Gestalt des »großen Auserwählten« zu übertragen. Die Präsidialisierung/Personalisierung der Demokratien entspricht drittens einem Verlangen nach besserer Lesbarkeit der Institutionen und Entscheidungsmechanismen. In einer Welt, in der Letztere immer komplexer werden und die Anonymität der großen Bürokratien zunimmt, erfüllt sie den Wunsch nach 91 Fréron, Gazette nationale, ou le Moniteur universel, 24 Floréal an III [13. Mai 1795].

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Vereinfachung und besserer Wahrnehmbarkeit der politischen Sphäre. Das allgegenwärtige Bild des Staatsoberhauptes und die umfassende Wiedergabe seiner Worte bilden einen Kontrast zur allgemeinen Intransparenz des politisch-administrativen Systems. Diese Präsidialisierung erscheint somit in den Augen der Bürger als Medium einer möglichen sinnlichen Wiederaneignung des Politischen. Diese drei demokratischen Impulse der Präsidialisierung machen die Bewegung unumkehrbar. Was selbstverständlich nicht ausschließt, sie gleichzeitig mit einem kritischen Blick zu betrachten, da jeder von ihnen sich gegen sich selbst wenden kann. Die Wahrnehmung von Verantwortung erfolgt in einem klarer erkennbaren Rahmen, nimmt aber zugleich die Form eines Blankoschecks an. Die direktere Mobilisierung des Willens wiederum läuft ständig Gefahr, zu einem »Willensspektakel« zu verkommen, das einer zunehmenden Verwechslung der Ebenen von Meinungsäußerung und praktischem Handeln Vorschub leistet. Die Möglichkeit einer besseren Lesbarkeit der Institutionen kann letztlich auch ein bloßes Trugbild, ein Kommunikationseffekt sein. Die Präsidialisierung der Demokratien erweist sich somit als unumgänglich, aber auch problematisch. Allerdings kann man es mit einem so pauschalen Befund nicht bewenden lassen. Um die Analyse voranzubringen, ist zu unterscheiden, was an diesem problematischen Aspekt von den Wahlen als Institutions- und Legitimationsmodus des Staatsoberhauptes herrührt und was auf das Wesen des Präsidialismus, den Vorrang der Exekutive gegenüber der Legislative, zurückgeht.

Die spezifischen Grenzen der Legitimation durch Wahlen Die klassischen Legitimitätstheorien waren Machtgenehmigungstheorien, die den Zweck hatten, die Ausübung einer Kommandogewalt vertretbar zu machen. In diesem Sinne war Max Webers berühmte typologische Unterscheidung in legale, traditionale und charismatische Form legitimer Herrschaft angelegt.92 Dem gleichen Verständnis folgte ein weiteres Werk, das ebenfalls in den Wirren eines Weltkriegs gereift war, Guglielmo Ferreros Macht: »Im ganzen sind die Legitimitätsprin92 Vgl. Weber, La Domination (darin sind die Herrschaftskapitel aus Wirtschaft und Gesellschaft enthalten sowie eine Reihe unveröffentlichter Manuskripte Webers zu diesem Thema).

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zipien Rechtfertigungen der Macht, das heißt, des Rechtes, zu befehlen. Unter allen menschlichen Ungleichheiten ist keine durch ihre Folgen so wichtig und bedarf so sehr der Rechtfertigung vor der Vernunft wie die von der Macht eingesetzte.«93 Die Macht kommt von oben, die Legitimität immer von unten, schreibt Ferrero in Bezug auf moderne Gesellschaften, denn sie impliziert, auf die eine oder andere Weise, »die aktive oder passive, aber aufrichtige Zustimmung jener, die gehorchen müssen«.94 Eine Zustimmung, die sich in der Demokratie vornehmlich durch Wahlen ausdrückt: »[D]ie Magna Charta der Demokratie«, so lautete Webers logischer Schluss, sei »das Recht der unmittelbaren Führerwahl«.95 Das ist in der Tat die prägnanteste Definition der Genehmigungsdemokratie, die man geben kann. Ein ganzer Komplex zeitgenössischer Überlegungen zur Führungsfunktion in der Demokratie kommt übrigens in letzter Instanz stets auf die Weber’sche Theorie der Beziehung zwischen Charisma und Volkswahl zurück. Die globale Verbreitung der Direktwahl des Staatsoberhaupts zeugt von der Macht dessen, was zu einer Art praktischer Selbstverständlichkeit geworden ist. Dennoch hat diese Sichtweise immer auch Widerstände und Auseinandersetzungen hervorgerufen, weil Wahlen offenkundig nicht ausreichen, um das Verhältnis zwischen Regierten und Regierenden zu klären. Dass sie sich mangels Alternativen am Ende gleichwohl durchsetzte, war häufig eher einem Sichfügen ins Unvermeidliche zu verdanken. Das Problem ist, dass die Grenzen einer alleinigen Legitimation durch Wahlen im Kontext des Präsidialismus besonders deutlich hervortreten. Die Wahl des Staatsoberhaupts verstärkt nämlich die jeder Wahl immanenten strukturellen Spannungen. Es gibt deren vier. Die erste resultiert aus der Tatsache, dass bei einer Wahl zwei Elemente, ein Selektionsverfahren und ein Legitimationsmodus, zusammenkommen, aber nur ein einziges Entscheidungskriterium, das Mehrheitsprinzip, ihren Ausgang bestimmt. Nun stehen diese beiden Elemente nicht im 93 Ferrero, Macht, S. 48. Er selbst unterschied vier Legitimitätsprinzipien: das Prinzip der Wahl, das Prinzip der Erblichkeit, das aristokratisch-monarchische Prinzip und das demokratische Prinzip. 94 Ebd., S. 451. 95 Weber, »Le Président du Reich« (1919), S. 506.

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selben Verhältnis zu diesem Prinzip. Letzteres eignet sich ohne Weiteres als arithmetische Methode, um den Sieger eines Wettbewerbs zu ermitteln, denn auf die Eindeutigkeit von Zahlen können sich alle einigen. Anders verhält es sich jedoch mit der Legitimität, die ein auf dieser Mehrheitsbasis erzieltes Resultat verleiht. Der befriedigende Abschluss eines Selektionsverfahrens geht also mit einer unvollständigen Legitimation einher. Der Abstand zwischen diesen beiden Elementen bleibt bei der Wahl zu einer repräsentativen Versammlung gering, weil die Pluralität der Interessen und Meinungen sich in der Menge und Vielfalt der Mandatsträger abbildet96 – in Ermangelung eines echten Allgemeinwillens (der übrigens dem Ausdruck des Bürgerwillens niemals vorausgeht). Doch einer Präsidentschaftswahl fehlt diese Eigenschaft. Bei der Wahl einer Einzelperson kommen nicht jene Elemente eines repräsentativen Ausgleichs zum Zuge, die bei der Wahl einer Versammlung wirksam werden. Der Nutznießer des Wählervotums unterliegt also einem spezifischen Legitimitätsdefizit. Dieses Defizit äußert sich schon arithmetisch in der Tatsache, dass die Zahl der Wähler, die dem neuen Amtsträger ihre Stimme gegeben haben, in Fällen geringer Wahlbeteiligung häufig nur 20–25 Prozent der Wahlberechtigten beträgt. Der Abstand zur öffentlichen Meinung, wie ungenau ihre Erfassung durch Meinungsumfragen oder soziale Netzwerke auch immer sein mag, tritt ebenfalls unmittelbar zutage, da sich die gesamte Bevölkerung über diese Kanäle umfassend artikuliert. Der Abstand zwischen Gesellschaft und Wählerschaft ist hier also besonders ausgeprägt. Zweitens kommt bei Wahlen die Diskrepanz zwischen der Art von Eigenschaften, die einen guten Kandidaten ausmachen, und denen, die für ein gutes Regieren erforderlich sind, zum Vorschein. Der gute Kandidat muss in der Lage sein, Wähler zu gewinnen. Er muss Anklang finden, muss sich bürgernah geben, um heterogene Bevölkerungsgruppen hinter sich zu scharen, und deshalb eine Vielzahl von Versprechungen machen, die zumindest teilweise widersprüchlich sind, sowie verschiedene Arten der Ansprache beherrschen. All das sicherlich in unterschiedlichen Graden. Während Regieren zwingt, Farbe zu bekennen und es schwer macht, allzu lange getrennten Wegen zu folgen. Re96 Die Abstimmungsverfahren und die »Repräsentativität« der Parteien stellen die beiden Variablen dieses repräsentativen Ausgleichs dar.

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gieren heißt, Entscheidungen zu treffen, die zumindest zeitweilig den Schleier kalkulierter Unklarheit zerreißen, den sich die politische Sprache ständig herzustellen bemüht. Eine solche Diskrepanz ist also strukturell dazu angetan, Enttäuschung und Politikverdrossenheit zu erzeugen. Sie fällt jedoch wesentlich geringer aus, wenn es um die Wahl bloßer Repräsentanten geht. Wenn sie in der Opposition sind, können sie zunächst ihre Kandidatensprache beibehalten. Und wenn sie in der Mehrheit sind, geht ihre Position in der eines Kollektivs auf, abgesehen davon, dass sie auch eine gewisse Distanz gegenüber den Entscheidungen der von ihrer Mehrheit gebildeten Regierung kundtun können. Drittens werden Wahlen von der Spannung zwischen einem Ähnlichkeits- und einem Unterscheidungsprinzip durchzogen. Wahlen stehen einerseits für ein Streben nach Repräsentativität im eigentlichen Sinne, da die Gewählten die Funktion haben, das Soziale abzubilden. Sie müssen deshalb ihren Wählern nahestehen, ihr Ebenbild sein, ihre Sorgen teilen, als ihre Sprecher fungieren, kurzum, ihre idealen Doppelgänger sein. Die Eigenschaft, die sie an den Tag legen sollen, ist somit die, im positiven Sinne gewöhnlich zu sein. Andererseits erwartet man von Wahlen, dass sie sachkundige Personen mit hervorstechenden Talenten berufen, die sie vom Rest der Bevölkerung unterscheiden. Die Repräsentanten verkörpern in diesem Fall eine Art »Wahlaristokratie«, um eine Formulierung aufzugreifen, die während der Französischen Revolution oft benutzt wurde. Wahlen schwanken somit, hinsichtlich des angestrebten Effekts, zwischen der Vorstellung einer repräsentativen Stichprobe oder eines Losentscheids (zwei technische Ausdrucksformen des Gewöhnlichen) und der eines Wettkampfs oder einer Prüfung (als Verfahren selektiver Hierarchisierung).97 Auch die Prinzipien der Ähnlichkeit und der Unterscheidung können in einer repräsentativen Versammlung, die sich aus einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Persönlichkeiten zusammensetzt, zu einer Art Ausgleich gelangen. Obendrein ist es möglich, sich Verfahren und Institutionen vorzustellen, die beide von ihnen gleichzeitig fördern.98 Die 97 Zu dieser Dualität vgl. Rosanvallon, Le Peuple introuvable. 98 Vgl. die diversen Vorschläge eines vermehrten Rückgriffs auf Losentscheide und/oder einer Demokratisierung der Sachverständigenfunktion, zum Beispiel durch Einrichtung von Bürgerforen.

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Volkswahl des Staatsoberhaupts zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie praktisch keinerlei repräsentativ-abbildende Dimension hat. Der Präsident kann, was etwas anderes ist, für sich in Anspruch nehmen, die Nation zu verkörpern, aber er kann nicht irgendjemand sein.99 Dadurch vermehren sich gleichzeitig die Vorstöße auf seine differenzielle Seite, die sich in der Konzentration aller sozialen Forderungen auf seine Person äußern. Er wird automatisch, ob er will oder nicht, als »höheres Wesen«, als deux ex machina instituiert. Was nur ein Widerhall seiner Wahlkampfsprache ist, die um das Versprechen kreiste, die Welt verändern zu können. Die Wahrnehmung einer relativen praktischen Ohnmacht desjenigen, der nach Beendigung der Wahlschlacht die Nation regiert, wird deshalb nur umso intensiver. Eine Präsidentschaftswahl weist somit in dreifacher Hinsicht strukturelle Unterschiede zu einer Kommunal- oder Parlamentswahl auf. Doch über diese Feststellung hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Frage der möglichen Wiederwahl eines Staatsoberhaupts sich ebenfalls auf spezifische Weise stellt und damit einen vierten Unterschied markiert. Um diese Besonderheit richtig zu bewerten, mag der Hinweis genügen, dass Wahltheorien stets auch Überlegungen zur Wiederwahl beinhalteten. Die Aussicht auf eine solche Wiederwahl wurde üblicherweise als Schlüssel zur Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten angesehen. Der Ehrgeiz, wiedergewählt zu werden, veranlasst nämlich den Repräsentanten dazu, das zukünftige Urteil der Wähler vorwegzunehmen und sich bereits in der Gegenwart dementsprechend zu verhalten.100 Das ist ein wirksames Druckmittel, um den Gewählten zu zwingen, sich an seine Zusagen zu halten, denn der Wähler entscheidet sich seinerseits aufgrund des vergangenen Verhaltens eines Kandidaten: man hat das als retrospektives Wählen bezeichnet.101 Diese Dimension, um die der demokratische Prozess durch 99 Vgl. die ganze französische Diskussion über die »Normalität« des Präsidenten François Hollande, der sich während des Präsidentschaftswahlkampfs 2012 zu dieser Eigenschaft bekannte. 100 Der Punkt wurde bereits in Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist-Artikel (Artikel 10), stark betont. Vgl. Manin, »Der periodische Charakter der Wahlen«, in: ders., Kritik der repräsentativen Demokratie. 101 Vgl. die Theorie von Fiorina, Retrospective Voting in American National Elections.

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die Aussicht auf Wiederwahl und den retrospektiven Charakter der Wählermotivationen ergänzt wurde, ist gut herausgearbeitet worden, ebenso wie der Vorteil, den es bringt, der Amtsinhaber zu sein.102 Doch diese Faktoren, die spürbare Auswirkungen auf Kommunalwahlen haben, in denen es häufig um lange politische Karrieren geht und deren Herausforderungen eher verwaltungstechnischer Natur sind, kommen im Fall einer Präsidentschaftswahl, bei der die reine Politik im Vordergrund steht, viel weniger zum Tragen. Und zwar in erster Linie, weil der negative Charakter der Wahl ausgeprägter ist und damit dem Erstkandidaten einen substanziellen Vorteil verschafft, dessen Wahlkampfsprache nicht Gefahr läuft, durch Regierungsakte widerlegt zu werden. Während bei »gewöhnlichen« Wahlen die Auswirkungen retrospektiver und prospektiver Urteile im Ganzen erfasst werden, politisch gesehen auf statistische Weise, kommt die Dimension des Ausgleichs der Besonderheiten jeder einzelnen Wahl, die daraus resultiert, bei der Wahl des Staatsoberhauptes wiederum nicht zum Zug.

Präsidialismus und Neigung zum Illiberalismus Die Volkswahl des Staatsoberhaupts radikalisiert schließlich den Distinktionsvorgang, den jede Wahl beinhaltet, aufgrund der einzigartigen Stellung, die sie dem Inhaber dieses Amtes verleiht. Die besondere persönliche Auszeichnung, die sich daraus für den Gewählten ergibt, geht nämlich mit einem Legitimitätsgewinn im Vergleich zu anderen Gewalten einher. Durch die Herstellung einer direkten, das heißt nicht durch Parteien vermittelten Beziehung zu den Wählern wird der Amtsträger mit einer Art »Superlegitimität« ausgestattet, die automatisch dazu tendiert, einen gewissen Illiberalismus zu befördern. Diese stillschweigende Hierarchisierung zwischen schwacher Legitimität der Legislative, Ausdruck parteipolitischer Verwerfungen und folglich ihrem Wesen nach gespalten, und starker Legitimität der per definitionem ungeteilten Exekutive stand im Mittelpunkt der gaullistischen Sichtweise. De Gaulle hat sich dazu ausführlich geäußert: »Deshalb besteht der Geist der neuen Verfassung darin, bei Beibehaltung eines ge102 Die diesbezügliche Literatur in der amerikanischen Politologie ist beträchtlich. Einen aktuellen Überblick verschafft Stonecash, Reassessing the Incumbency Effect.

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setzgebenden Parlamentes zu bewirken, daß die Regierungsgewalt nicht mehr Sache der Parteigänger ist, sondern direkt vom Volk ausgeht, was erfordert, daß der von der Nation gewählte Staatschef ihre Quelle und ihr Träger ist.«103 De Gaulle kritisierte das amerikanische Präsidentschaftsmodell, weil es auf einer strikten Gewaltenteilung beruhte, die er aufgrund der starren Parteiengegensätze in Frankreich nicht für übertragbar hielt, aber mehr noch aus theoretischen Gründen. Sein Präsidialismus war für ihn gleichbedeutend mit einer legitimen Konzentration der Gewalten. Er formulierte das in unmissverständlichen Worten, die einen bleibenden Eindruck hinterließen. Es sei selbstverständlich, betonte er, »daß die unteilbare Autorität des Staates ganz dem Präsidenten vom Volk, das ihn gewählt hat, anvertraut ist, daß keine andere besteht, weder eine ministerielle noch zivile, militärische oder gerichtliche, die nicht von ihm ausgeht oder von ihm gewahrt wird«. Die Trennung zwischen Funktion und Tätigkeitsbereich von Staatschef und Premierminister war in seinen Augen nur eine verwaltungstechnische Bequemlichkeit, »in normalen Zeiten«. Daher der potenziell illiberale Charakter des Präsidialismus. Dieser resultiert nicht aus dem Phänomen der Polarisierung/Personalisierung an sich, sondern aus dessen Verknüpfung mit einem strikt mehrheitlichen Verständnis von Demokratie. Das Problematische an der Mehrheitsregel ist nämlich, um das zu wiederholen, dass sie ein Rechtfertigungsprinzip mit einer Entscheidungstechnik vermengt, während diese beiden Elemente weder von der gleichen Art sind noch die gleichen Konsequenzen haben. Als Verfahren ist die arithmetische Dimension des Mehrheitsprinzips unmittelbar einleuchtend, da sich alle darauf verständigen können, dass 51 größer ist als 49, und seine Befolgung ermöglicht, eine unanfechtbare Entscheidung zu treffen, was der Demokratie ihre Dimension als »Macht des letzten Wortes« verleiht. Doch in soziologischer Hinsicht kann man nicht behaupten, dass die Mehrheit für das ganze Volk steht, sie bezeichnet lediglich einen Teil 103 Pressekonferenz vom 31. Januar 1964, in: Stercken (Hg.), De Gaulle hat gesagt. Die folgenden Zitate sind Aussagen aus dieser Konferenz entnommen (ebd., S. 34 und 37). Vgl. auch seine Pressekonferenz vom 16. Mai 1967, auf der er die Parlamentswahlen zu »lokalen Wettbewerben« degradierte, während er »von der Nation gewählt« sei.

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von ihm, selbst wenn es der herrschende ist. Nun war aber die Legitimation der Macht durch Wahlen immer mit dem Gedanken verbunden, dass sich darin ein allgemeiner Wille ausdrücke.104 Man hat nur so getan, als ob die größere Zahl diesen Willen zum Ausdruck bringt. Auf dieser Fiktion basiert die Wirksamkeit demokratischer Wahlen. Eine Fiktion, die man für technisch gerechtfertigt halten mag, deren fiktiven Charakter man aber nicht aus den Augen verlieren sollte. Das hat dazu geführt, die Legitimität einer derart sanktionierten Macht für begrenzt zu erachten, wobei diese Begrenzung beispielsweise die Form der Anerkennung unverletzlicher Persönlichkeitsrechte angenommen hat. Diese Begrenzung leitet sich auch aus der Tatsache ab, dass die Lizenz zum Regieren, die Wahlen verleihen, indem sie die Rechtmäßigkeit einer Macht begründen, keine automatische Billigung aller Handlungen und Entscheidungen dieser Macht beinhaltet. Das Besondere an der Direktwahl des Staatsoberhauptes besteht folglich darin, dass sie die demokratische Fiktion verstärkt, indem sie aufgrund der Größe der betroffenen Wählerschaft eine Superlegitimität verleiht, die man als rein funktional bezeichnen könnte. Der Cäsarismus wiederum beruht auf der Gleichsetzung einer solchen funktionalen Superlegitimität (die zu einer Hierarchisierung der Gewalten führt) mit einer demokratischen Rechtfertigung, basierend auf dem Ausdruck des Allgemeinwillens, der im Rahmen einer Präsidentschaftswahl seine fiktive Dimension bewahrt. Er erhält diese missbräuchliche Gleichsetzung aufrecht, indem er jeden sozialen Ausdruck an diesem Kriterium numerischer Repräsentation misst. Napoleon III . rechtfertigte so seine Einschränkung der Pressefreiheit mit dem Argument, die Presse habe keinerlei Repräsentativität und die Journalisten würden nur ihre Privatmeinungen zum Ausdruck bringen, weil sie nicht gewählt seien, während die Macht diese Eigenschaft besitze. Die Presse war somit in seinen Augen eine »illegitime Rivalin der Staatsorgane«.105 104 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Demokratische Legitimität. 105 »Ohne das Wahlrecht zu haben«, schrieb eine der Stützen des Regimes, »versucht sie, die Wahlen zu lenken; ohne das Recht zu haben, in beratenden Ausschüssen zu erscheinen, versucht sie, die Beratungen zu beeinflussen; ohne das Recht zu haben, in den Räten des Souveräns zu sitzen, versucht sie, Regierungsakte zu veranlassen oder zu verhindern; ohne ein Departement, ein Arrondissement, eine Gemeinde, einen Weiler oder irgendeine Delegation empfangen zu

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Diese Tendenz zu einer solchen explizit illiberalen Auslegung wurde im Fall des Gaullismus durch einen zurückhaltenden Gebrauch gewissermaßen »abgemildert«, sodass Frankreich ein Rechtsstaat blieb. Doch hätte sie in logischer Konsequenz auch zur Rechtfertigung einer offen autoritären Regierung führen können, wie ihre »fundamentalistische« Version, die Doktrin der »souveränen Demokratie« beweist, die von den Anhängern Präsident Putins in Russland und Erdo˘gans in der Türkei vertreten wird, oder all jenen »autoritären Amtsträgern«, die heute auf verschiedenen Kontinenten auf dem Vormarsch sind.

Über die »Unmöglichkeit, die Zeit zurückzudrehen« Dieses Schreckgespenst des Cäsarismus hat ein Verständnis der Präsidialisierung der Demokratien befördert, das man als fatalistisch bezeichnen könnte. Was sich darin ausdrückt, dass man von einem unumkehrbaren Phänomen spricht. »Man kann die Zeit nicht zurückdrehen«, so lautet in der Tat die beharrlich wiederholte Formel derer, die das vermeintliche Übel des Präsidialismus beklagen, aber damit gleichzeitig ihr Sichabfinden mit der Volkswahl des Staatsoberhaupts rechtfertigen. Im Grunde ist dies nichts als ein Versuch, sich vor dem Nachdenken über das Problem zu drücken. Denn um welche Art von Unmöglichkeit handelt es sich genau? Entspringt sie lediglich der Macht irgendeiner Gewohnheit? Oder gewichtigen Argumenten, die zu bestreiten durch Demagogie erschwert wird? Das würde bedeuten, dass es unmöglich ist, das allgemeine Wahlrecht zu kritisieren, sobald es sich einmal durchgesetzt hätte, dass es zu einem »unabwendbaren« Schicksal geworden sei, mit dem man fortan zurechtkommen müsse. Es sei daran erinnert, dass die europäischen Konservativen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Bezug auf das allgemeine Wahlrecht tatsächlich zu dieser Einstellung gelangten. Die Beschwörung einer solchen Unabwendbarkeit ermöglichte ihnen, diese Art des Wahlrechts geistig abzulehnen, sich aber im Bereich des Faktischen mit dem Vorhaben, versucht sie, die Nation zu regieren; kurzum, sie versucht, sich an die Stelle aller bestehenden, rechtmäßigen Organe zu setzen, ohne überhaupt mit irgendeinem Recht ausgestattet zu sein« (Bernard-Adolphe Granier de Cassagnac, den ich in dem Kapitel über Cäsarismus und liberale Demokratie in: La Démocratie inachevée, S. 214–215, zitiere).

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handenen zu arrangieren. Bei ihrer Zustimmung ließen sie sich von einem »Bewusstsein der eigenen Ohnmacht« leiten.106 Diese Haltung darf sich heute nicht wiederholen. Die Präsidentenwahl muss als Wert an sich, nicht nur als Zugeständnis an die Wechselfälle der Geschichte begriffen werden. Diese Rechtfertigung beinhaltet, dass diese Wahl die Bürger mobilisiert, ihnen Bedeutung und Würde verleiht,107 sie an der Politik beteiligt; selbst wenn sie gleichzeitig, wie gesehen, die mit jeder Wahl verbundenen Gefahren, Pathologien und Restriktionen erhöht. Das geeignete Korrektiv ist ein doppeltes. Es besteht zunächst darin, den Präsidialismus derart als System zu organisieren, dass sein Hang zum Illiberalismus unter Kontrolle bleibt; und ihn dann als demokratische Regierung zu konzipieren.

106 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Le Sacre du citoyen, S. 324–338. 107 Die Entstehung des Vorwahlsystems, das die Bürger in die Kandidatenkür einbezieht, verstärkt noch dieses Gefühl der Teilhabe an der Politik.

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Die Regulierung des Illiberalismus Wie ist die unumgängliche und unabwendbare Präsidialisierung der Demokratien zu regulieren, um Fehlentwicklungen zu vermeiden? Drei Strategien wären zu benennen: die Einhegung der Wahlen; die Reparlamentarisierung der Demokratien; die Rückkehr zu unpersönlichen Gewalten.

Die Einhegung der Wahlen Von allen Wahlen sind diejenigen zum Oberhaupt der Exekutive in den meisten Verfassungen am strengsten geregelt. Letztere sehen im Allgemeinen eine Beschränkung der Zahl von Amtszeiten vor, die wahrgenommen werden dürfen, oder legen Bedingungen für deren Abfolge fest – Regeln, die stets restriktiver sind als bei Parlaments- oder Kommunalwahlen. Auffallend häufig nehmen übrigens autoritäre Entwicklungen von diesem Punkt ihren Ausgang, indem amtierende Präsidenten auf Verfassungsänderungen zur Abschaffung derartiger Beschränkungen hinarbeiten.108 Auch der Rückgriff auf Amtsenthebungsverfahren wurde häufig als Möglichkeit angeführt, Einfluss auf die Mandatsträger zu nehmen und sie zu zwingen, ihren Verpflichtungen treu zu bleiben. Die Debatte über die Einführung solcher Verfahren reicht weit in die Geschichte zurück. Bereits in der Antike finden sich entsprechende Hinweise. Sie wurde auch während der Französischen Revolution geführt oder im Rahmen der amerikanischen Verfassungsdiskussion. Das Beispiel der Pariser Commune wird in diesem Zusammenhang ebenfalls oft genannt – man erinnert sich der berühmten Ausführungen von Marx zu diesem Thema – sowie die Versprechungen Lenins in Bezug auf die Organisa108 Daher sind Regeln für Verfassungsänderungen so wichtig, wobei die einfache Mehrheit bei Wahlen für diesen Zweck möglicherweise als unzureichend erachtet werden kann.

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tion der Sowjetmacht von 1917.109 Allerdings wurde die Frage, wie zu betonen ist, häufiger im Sinne eines vagen demokratischen Ideals thematisiert als in präzisen verfahrenstechnischen Begriffen diskutiert, die auf die praktische Umsetzung einer Amtsenthebung abzielten. Der Begriff der Amtsenthebung ist übrigens komplexer, als es zunächst scheint. Er lässt sich, geschichtlich betrachtet, drei höchst unterschiedlichen Kontexten zuordnen. Zunächst dem eines rechtlichen Verfahrens mit dem Zweck, den Inhaber eines öffentlichen Amtes zu entlassen. Das ist der Fall des amerikanischen impeachment, ein Verfahren, das mehrfach dazu gedient hat, Anklage gegen einen Präsidenten zu erheben. Ein äußerst gravierendes Verfahren, das unter Bedingungen eingeleitet werden kann, die relativ ungenau definiert sind, und bei dem häufig eine moralische und eine politische Dimension untrennbar miteinander verknüpft waren. Nach dem Vorbild eines altenglischen Verfahrens110 wurde das amerikanische impeachment von den Gründervätern als »wesentliches Kontrollmittel in der Hand [der Legislative] gegen Übergriffe der Exekutive« (nach den Worten von Alexander Hamilton111) eingeführt, also im spezifischen Kontext des Systems strikter Gewaltenteilung, für das man sich entschieden hatte. Diese Methode, die man aufgrund ihrer Herkunft als »archaisch« bezeichnen könnte, kompensierte das Fehlen spezieller Mechanismen zur Kontrolle der Exekutive, wie sie in Europa mit dem Konzept der Verantwortlichkeit der Regierungen gegenüber dem Parlament existierte.112 Das Verfahren scheint mittlerweile außer bei schweren Verbrechen kaum noch anwendbar zu sein und ist folglich absolut nicht mit dem System des recall zu vergleichen, das in manchen westlichen Bundesstaaten existiert, geschweige denn mit der politischen Verantwortung gegenüber einem Parlament. 109 Vgl. das Dekret vom 9. November 1917 über die Bildung der Arbeiter- und Bauernregierung, das dem Sowjetkongress die Macht übertrug und seinem Zentralkomitee die Befugnis, die Volkskommissare zu entlassen (Lenin, Werke, Band 26, S. 254–255). 110 Vgl. die diesen Verfahren gewidmeten Seiten in Teil 4. 111 Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist-Artikel, S. 400 (66. Artikel). 112 Die von der Verfassung vorgesehenen Gründe für die Einleitung einer Maßnahme, »treason, bribery, or other high crimes and misdemeanors«, wurden aus dem altenglischen Recht übernommen.

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Die Amtsenthebung kann zweitens auf das imperative Mandat zurückgehen und in diesem Fall die Sanktion eines Verstoßes gegen Wahlverpflichtungen darstellen.113 So wurde sie im 19. Jahrhundert überwiegend verstanden. Diese Sanktion konnte auf zweifache Weise praktiziert werden. Durch die Einleitung von Neuwahlen im Anschluss an den erfolgreichen Ausgang eines Amtsenthebungsreferendums. Oder auf juristischem Wege, indem die Wähler ihre Vertreter wegen Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen verklagten – wobei das politische in diesem Fall mit einem zivilrechtlichen Mandat gleichgesetzt wurde. Zahlreiche Gesetzesentwürfe im Sinne dieser beiden Ansätze wurden vor allem in den 1880er und 1890er Jahren in Frankreich diskutiert114 und sowohl wegen ihres Verstoßes gegen den klassischen parlamentarischen Grundsatz der Abgeordnetenfreiheit als auch wegen ihrer praktischen Undurchführbarkeit abgelehnt. Ein Amtsenthebungsbegehren kann schließlich bloßer Ausdruck einer negativen politischen Bewertung des Verhaltens oder der Tätigkeit eines gewählten Politikers sein. Es muss in diesem Fall in die Einleitung einer Volksabstimmung münden. Das ist die Vorgehensweise beim amerikanischen Recall-Verfahren, das in neunzehn Bundesstaaten vorgesehen ist, von denen übrigens nur sieben besondere Gründe für die Einleitung eines solchen Verfahrens verlangen.115 In diesen Staaten können zahlreiche Amtsträger, vom Gouverneur bis hin zu subalterneren Positionen, ins Visier geraten (diese Verfahren haben in zwei Fällen zum vorzeitigen Rücktritt des Gouverneurs eines Staates geführt). Wenn derzeit die Möglichkeit einer Amtsenthebung erwogen wird, dann vorwiegend in diesem Rahmen. Hier wie bei der Durchfüh113 Dieses Phänomen ist vom sogenannten »politischen Nomadentum« zu unterscheiden, das darin besteht, dass ein Abgeordneter nach seiner Wahl das politische Lager wechselt. 114 Vgl. dazu meine Ausführungen in: La Démocratie inachevée, S. 255–256. 115 Vgl. Cronin, Direct Democracy. In Georgia zum Beispiel ist das Recall-Verfahren auf Veruntreuung öffentlicher Mittel beschränkt; in Rhode Island auf Verstöße gegen den Moralkodex für Amtsträger. Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Einleitung des Verfahrens ist beispielsweise in Kalifornien eine von 12 % der Wähler bei den letzten Wahlen unterschriebene Petition erforderlich (niedrigste Schwelle), ein Prozentsatz der auf 40 % in Kansas steigt (der Durchschnitt liegt bei 25 %).

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rung von Volksabstimmungen ist das allgemeine Prinzip irrelevant, alles hängt von den Verfahrensdetails ab. Wenn die Einleitung eines Amtsenthebungsreferendums nur die Zustimmung einer geringen Zahl von Wählern (sagen wir 5 Prozent) benötigen würde oder jederzeit erfolgen könnte, auch kurz nach den Wahlen, würde das Verfahren jede Bedeutung verlieren. Wenn umgekehrt die organisatorischen Voraussetzungen sehr restriktiv wären, würde es zu einem nur in Ausnahmefällen anwendbaren Instrument werden. Für solche Fälle war beispielsweise Artikel 43 der Weimarer Verfassung gedacht, der vorsah, dass der Reichspräsident durch eine Volksabstimmung abgesetzt werden konnte, für deren Durchführung allerdings eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten erforderlich war. Es sei erwähnt, dass derzeit in zwei Ländern, Belize und Venezuela, ein derartiger Mechanismus in Kraft ist. Diesem zufolge kann das Verfahren nach Ablauf der halben Amtszeit eingeleitet werden, wenn 20 Prozent der Wahlberechtigten die Durchführung eines Amtsenthebungsreferendums verlangen. Die Absetzung ist beschlossen, wenn die Zahl derer, die sie befürworten, höher liegt als die Zahl der Wähler, die zuvor für den Präsidenten gestimmt haben, unter der zusätzlichen Bedingung, dass mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen haben. 2004 ist ein auf dieser sehr restriktiven Basis organisiertes Referendum zum Sturz von Präsident Chávez gescheitert. In Belize sind die Bedingungen noch drakonischer. Das französische Verfahren zur Absetzung des Staatschefs, das durch die Verfassungsrevision von 2007 (Artikel 67 und 68) eingeführt wurde, stellt eine gemäßigte Variante dieses letzteren politischen Ansatzes dar. Das Ziel war, nach Aussagen der Verfasser des Berichts, der die Einführung der Reform initiierte, in Bezug auf den Status des Staatschefs mit dem monarchischen Grundsatz vom »König, der nichts Falsches tun kann« zu brechen, weil er eine »nicht mehr hinnehmbare« Straflosigkeit begründe.116 Der Bericht sprach vom Einbau eines »Sicherheitsventils«. Gleichzeitig war die Rechtsnatur dieses Absetzungsverfahrens nicht eindeutig definiert. Wurde einerseits betont, die Absicht sei nicht gewesen, »eine Art politischer Verantwortung ein116 Avril, Rapport de la Commission de réflexion, S. 5. Die folgenden Zitate sind ebenfalls diesem Bericht entnommen.

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zuführen, ähnlich wie die der Regierung«, wurde andererseits klargestellt, dass es sich nicht um eine strafrechtliche Verantwortung handeln könne, weswegen man sich für die vage Formulierung entschied, »die Verantwortung des Staatschefs im politischen Spektrum anzusiedeln«. Tatsächlich ging es darum, ein Ausnahmeverfahren zu installieren, um mit ebenso außergewöhnlichen Situationen fertig zu werden.117 Man kann hier also von keiner gewöhnlichen Präventivmaßnahme gegen die pathologischen Formen des Präsidialismus sprechen. Als Abschluss dieses Themas ist festzuhalten, dass ein Amtsenthebungsverfahren, unabhängig von seinen Modalitäten, Züge eines korrigierten Wahlverfahrens trägt, zumal seine Durchführung die Organisation von Neuwahlen erfordert. Es verbleibt somit im Rahmen der Genehmigungsdemokratie, da die Aufgabe, den demokratischen Anspruch zu verwirklichen, weiterhin eine Sache von Wahlen ist.

Reparlamentarisierung der Demokratie? Die Präsidialisierung der Demokratien ging fast überall mit der Einführung eines rationalisierten Parlamentarismus einher.118 Mit diesem Begriff bezeichnete man Formen der Eingrenzung parlamentarischer Tätigkeit durch Maßnahmen, die der Gefahr chronisch instabiler Regierungen vorbeugen sollten, wie sie für die Versammlungsregime charakteristisch waren, die im 19. Jahrhundert und noch in der Zwischenkriegszeit den Idealtyp des Parlamentarismus verkörperten. Diese Maßnahmen bestanden im Wesentlichen darin, die Wahrneh117 Der Präsident der Republik kann »für die Handlungen in Ausübung seines Amtes nicht zur Verantwortung gezogen werden« (Artikel 67 der Verfassung), aber er »kann seines Amtes […] im Falle einer Pflichtverletzung, die offensichtlich unvereinbar mit der Ausübung seines Amtes ist, enthoben werden« (Artikel 68), eine Entscheidung, die vom Parlament als Hoher Gerichtshof gefällt wird. Abgesehen von Fällen wie Mord oder Hochverrat nannte der Bericht folgende Beispiele: »offensichtlicher Missbrauch verfassungsrechtlicher Prärogative, die zur Blockade der Institutionen führen, wie die wiederholte Weigerung, Gesetze zu verkünden, den Ministerrat einzuberufen, die im Ministerrat erörterten Dekrete zu unterzeichnen, Verträge zu ratifizieren, oder die Anwendung von Artikel 16, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind«. Vgl. die Anmerkungen von Beaud, »Sur le soi-disant impeachment à la française«. 118 Vgl. Lauvaux, Parlementarisme rationalisé et stabilité du pouvoir exécutif; und Avril, »Le parlementarisme rationalisé«.

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mung von Regierungsverantwortung119 zu erschweren, und zwar durch die Einführung restriktiver verfahrenstechnischer Regulierungen des parlamentarischen Geschehens (Recht auf Parlamentsauflösung, zeitliche Befristungen für die Einbringung eines Misstrauensantrags, qualifizierte Mehrheit als Voraussetzung für die Annahme eines solchen Antrags usw.) oder von Wahlmodalitäten, die das Zustandekommen eindeutiger Mehrheiten begünstigten (Einschränkung des Verhältniswahlrechts, Zulassungsbedingungen für einem eventuellen zweiten Wahlgang usw.). Das Ziel war jeweils, die Exekutive vor der Legislative zu »schützen«, im Klartext, die Möglichkeiten des Parlaments, die Regierung zu stürzen, einzuschränken. Deutschland war eines der ersten europäischen Länder, das nach dem Zweiten Weltkrieg diese Richtung einschlug, indem es sehr restriktive Bedingungen für die Einbringung eines Misstrauensvotums festlegte: Letzteres kann nur unter der positiven Voraussetzung durchgeführt werden, dass eine Opposition existiert, die imstande ist, eine stabile Mehrheit zu bilden. In Großbritannien wiederum stellte das Recht der Parlamentsauflösung einen entscheidenden Faktor zur Stärkung der Exekutive dar, da es Letztere in die Lage versetzte, über die Wahltermine zu bestimmen. Vor allem Italien, aber auch Frankreich unter der Vierten Republik120, hielten hingegen am traditionellen Parlamentarismus fest. Die Fünfte Republik vollzog in diesem Punkt einen Bruch mit ihrem Vorgängerregime. In Artikel 49 der Verfassung, der die politische Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament regelt, wurden die Mechanismen zur »Rationalisierung« des bis dahin bestehenden Parlamentarismus eingeführt. Sie beinhalten vor allem die Erforderlichkeit einer absoluten Mehrheit der Abgeordneten zur Annahme eines Misstrauensantrags, was die Beweislast, dass die Regierung über keine Mehrheit mehr verfügt, umkehrte (da nicht abgegebene Stimmen unberücksichtigt bleiben, läuft dies auf die Notwendigkeit einer qualifizierten Mehrheit 119 Mit Regierungsverantwortung ist in diesem Zusammenhang die Verpflichtung der Regierung gemeint, zurückzutreten, wenn das Parlament ihr das Vertrauen entzieht. Vgl. auch die Ausführungen in Teil 3, Kapitel 3 [AdÜ]. 120 Trotz der von mehreren Resistanceorganisationen erarbeiteten Projekte. Nach 1945 wurden vor allem in den Reihen der Gaullisten und der MRP die Prinzipien des rationalisierten Parlamentarismus vertreten, während Sozialisten und Kommunisten als Verteidiger des klassischen Parlamentarismus auftraten.

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hinaus), sowie ein System der »Übernahme politischer Verantwortung« (Artikel 49, Absatz 3), das der Regierung ermöglicht, einen Gesetzesentwurf ohne Abstimmung durchzubringen, sofern nicht ein innerhalb der folgenden 24 Stunden eingebrachter Misstrauensantrag angenommen wird.121 Das Recht der Parlamentsauflösung vervollständigte im Übrigen diese Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Exekutive und Parlament. Aufgrund dieser diversen Vorkehrungen ist die Regierung zur zentralen politischen Instanz in der Fünften Republik geworden, wie übrigens auch, unter vergleichbaren Umständen, in den meisten anderen Ländern.122 Ist Frankreich in dieser Sache eine Ausnahme, stellt die Fünfte Republik ein »ultrapräsidiales« Modell von besonderer Bedrohlichkeit dar? Durch die noch frische Erinnerung an den Cäsarismus sind die Franzosen sicherlich für die pathologischen Entwicklungen, die sich aus einer Direktwahl durch das Volk ergeben könnten, besonders sensibilisiert. Und die Arroganz der gaullistischen Sprache hat ebenfalls Ängste vor einem Abgleiten in den Autoritarismus geschürt. Doch im Grundsätzlichen, aus einer internationalen Vergleichsperspektive betrachtet, hat sich das französische Präsidentschaftsmodell allmählich dem üblichen Standard angeglichen.123 Ist in Frankreich wie anderswo die politische Rolle des Parlaments bei der Führung des Landes in den Hintergrund getreten,124 während sich die Dominanz der Exekutive deutlich abzeichnet, so wurden im Gegenzug die parlamentarischen Kontroll-, Bewertungs- und Interpellationsbefugnisse gestärkt. Die 121 Der Anwendungsbereich dieses häufig kritisierten Artikels wurde 2008 auf bestimmte Arten von Gesetzesentwürfen beschränkt (Haushaltsgesetze sowie Gesetze zur Finanzierung der Sozialversicherung) und der Rückgriff auf dieses Verfahren bei anderen Gesetzesentwürfen auf einmal pro Sitzungsperiode reduziert. 122 Das amerikanische System der Gewaltenteilung bildet mittlerweile die Ausnahme. 123 Wir lassen hier die spezifisch französische Frage der doppelköpfigen Exekutive beiseite, deren Funktionieren von den Umständen abhängig bleibt. Dass die Wahl des Präsidenten und die der Abgeordneten nacheinander erfolgen und beide mittlerweile die gleiche Mandatsdauer haben (fünf Jahre), reicht als Regulativ nicht aus. Man hat deshalb von »gemischter Verfassung« gesprochen. 124 Es gibt diesbezüglich von Land zu Land graduelle, aber keine grundsätzlichen Unterschiede.

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groß angelegte Verfassungsreform von 2008 hat 47 Verfassungsartikel in diesem Sinne geändert.125 Der Bericht, der die Reform initiierte, sprach von dem »Gebot, das Gleichgewicht zwischen den Institutionen durch Erweiterung der Kompetenzen und der Rolle des Parlaments wiederherzustellen«, und betonte ausdrücklich die Notwendigkeit, »den eisernen Griff des rationalisierten Parlamentarismus zu lockern«.126 Doch die neu gewonnenen Befugnisse des Parlaments beziehen sich hauptsächlich auf erweiterte Kontrollmöglichkeiten oder Anhörungspflichten (hinsichtlich mancher Ernennungen oder in Finanzfragen), auf größere interne Organisationsspielräume, ein Aufweichen der starren Reglementierung gesetzgeberischer Tätigkeit, eine Anerkennung der Oppositionsrolle. Es handelt sich um eine »Reparlamentarisierung«, die man als »funktional« bezeichnen könnte, sie verpflichtet die Exekutive dazu, vermehrt Rede und Antwort zu stehen und ermuntert das Parlament zu größerer Wachsamkeit. Sie hat aber das Dominanzverhältnis zwischen Regierungsorganen und Parlament nicht umgekehrt, ja sogar die Position des Präsidenten gegenüber dem Premierminister noch gestärkt.127 Der Ultrapräsidialismus autoritären und/oder populistischen Typs ist auf der Welt nach wie vor sehr dominant, allerdings in Ländern, in denen ein strikt »majoritärer Elektoralismus« herrscht. Dort gedeihen Regime, deren geistige Grundlagen und Rhetorik sich, wie oben gezeigt, unmittelbar auf das französische Modell des Zweiten Kaiserreichs beziehen. Deutlich zu unterscheiden vom gewöhnlichen Präsidialismus sind natürlich auch die demokratischen Monarchien, von denen es noch sieben in Europa gibt. Zwar wird das Oberhaupt der Exekutive in diesen Ländern, wie beschrieben, durch eine »versteckte Wahl« bestimmt, dennoch verändert die Präsenz eines erblichen Souveräns, selbst wenn er nur ein konstitutioneller Monarch ohne wirk125 Verfassungsgesetz vom 23. Juli 2008, auch Gesetz zur Modernisierung der Institutionen der Fünften Republik genannt. Vgl. Camby/Fraisseix/Gicquel (Hg.), La Révision de 2008. 126 Bericht einer Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Premierministers Édouard Balladur, Balladur, Une Ve République plus démocratique, S. 4 und 6. 127 Man beachte, dass nunmehr »der Präsident die Politik der Nation definiert« (während der Premierminister sie lediglich »leitet«). Hingegen wurde die Macht des Präsidenten durch Beschränkung auf zwei fünfjährige Amtszeiten reduziert.

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liche Macht ist, den Charakter der Institutionen entscheidend. Die Tendenz zur Personalisierung wird in diesen Fall durch die Anwesenheit des Monarchen gebremst, der die soziale Sichtbarkeit auf seine Person konzentriert. Solche Unterscheidungen werden hier selbstverständlich nicht deshalb gemacht, um die Augen vor den immanenten Schwächen des Präsidialismus zu verschließen. Doch ist es wichtig zu verstehen, dass man diese Schwächen nicht dadurch beseitigt, dass man die Demokratien – im politischen Sinne des Wortes – »reparlamentarisiert«. Gleichwohl gingen die Überlegungen derer, die sich zu Beginn der 2000er Jahre in Frankreich für die Einführung einer »Sechsten Republik« aussprachen,128 ursprünglich in diese Richtung. Sie zielten seinerzeit auf einen Bruch mit der Fünften Republik zugunsten eines »Premierministermodells nach englischem Vorbild« ab. In diesem Fall war die Absicht nicht allein, dem Parlament eine aktivere Rolle zurückzugeben, sondern es wieder in den Mittelpunkt des Systems zu stellen. Nach den Plänen dieser Reformer sollte der Premierminister vom Präsidenten ernannt werden, wobei Letzterer allerdings »den Willen der Nation und die Mehrheit der Nationalversammlung zu berücksichtigen« hätte (Artikel 9 des Projekts), das heißt, er hätte den Führer der in den Wahlen siegreichen Koalition ernennen sollen, ohne ihn seines Amtes wieder entheben zu können. Dieser mit größerer Autonomie versehene Premierminister hätte erweiterte Befugnisse gehabt: Er hätte die Minister auswählen und ernennen sowie die Tagesordnung des Ministerrats festlegen sollen (ohne dessen Vorsitz zu führen). Um nicht wieder in die alte Routine der Versammlungsregierungen der Dritten und Vierten Republik zurückzufallen, hätte er Vollmachten besessen, um sich einen gewissen Handlungsspielraum zur Gestaltung seiner eigenen Politik zu verschaffen: das Recht auf Parlamentsauflösung, die Möglichkeit, jeden Gesetzesentwurf per Referendum abstimmen zu lassen oder auf bestimmte Vorkehrungen des derzeitigen Artikels 49–3 zurückzugreifen, insbesondere um die Annahme des Haushaltsgesetzes 128 Vgl. die Arbeiten von Bastien François. Diese Absicht verfolgten Arnaud Montebourg bei den Sozialisten und Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei. Ich übernehme im Folgenden die Argumente und Formulierungen von François/ Montebourg, La Constitution de la 6e République.

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zu erzwingen. Dieser nicht vom Volk gewählte Premierminister wäre schließlich der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich gewesen. Dieses Projekt hielt an der Direktwahl des Präsidenten fest (mit einem auf sieben Jahre verlängerten Mandat), allerdings sollte Letzterer auf eine bloße »Schiedsrichterrolle« beschränkt werden, ohne eigene Regierungsbefugnisse (nicht einmal in der Außenpolitik, weil er von der Regierung über den Stand der Verhandlungen im Hinblick auf den Abschluss eines internationalen Vertrags lediglich hätte »informiert« werden müssen). Er wäre somit eine Art konstitutioneller Monarch geworden. Allerdings ein gewählter Monarch. Und da liegt der Haken, denn eine solche Perspektive unterschlägt die Legitimitätskonflikte, die sich zwangsläufig aus der Direktwahl eines geschwächten Präsidenten ergeben hätten, wenn der Premierminister lediglich über die Legitimität einer »versteckten Wahl« verfügen würde. Weswegen die stichhaltigsten technischen Kritiken am zeitgenössischen Präsidialismus entweder für eine Rückkehr zur parlamentarischen Wahl eines Schiedsrichter-Präsidenten oder die Einsetzung eines schwachen, weil durch Erbfolge bestimmten Königs plädieren.

Die neuen Wege der Unpersönlichkeit Ist der Bruch mit der alten Welt der Unpersönlichkeit auch eines der wesentlichen Charakteristika des präsidialdemokratischen Regierungsmodells, so zeichnet sich die aktuelle Politik gleichwohl durch das Auftreten neuer Formen von Unpersönlichkeit aus – Formen, die als Korrektive gegen illiberale Tendenzen dienen. Die zunehmende Konstitutionalisierung der Demokratien ist eine ihrer bemerkenswertesten Erscheinungen. Auf diesem Wege vollzieht sich heute eine Art Rückkehr zur alten Vorstellung der Gesetzesherrschaft. Es ist in der Tat auffallend, dass es die Artikel der Verfassungen sind, die jene wünschenswerten Eigenschaften aufweisen, die man im 18. Jahrhundert von den Gesetzen erwartete: Prägnanz, Beständigkeit, geringe Zahl. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass die für die Einhaltung der Texte zuständigen Institutionen keine einfachen, passiv vollziehenden Organe sind. Vielmehr handelt es sich um Verfassungsgerichte, die den Text interpretieren, sofern seine Bedeutung strittig ist. Auch wenn ihre entscheidende Eigenschaft darin besteht, kollegiale Institutionen zu sein, womit sie der alten Sichtweise der Exekutivorgane entsprechen, 160

sind sie doch in höchstem Maße aktiv. Und ihre Autonomie ist fortan eine der besten Garantien gegen ein Abgleiten der Regierungsgewalten in den Autoritarismus.129 Die unabhängigen Aufsichts- und Regulierungsbehörden, deren demokratischer Status bisher noch kaum Gegenstand theoretischer Erörterungen geworden ist,130 sind ihrerseits für immer weitere Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen, ja selbst des politischen Lebens (etwa in Sachen Wahlorganisation) zuständig. Sie verkörpern eine andere Art der Rückkehr zur Unpersönlichkeit. Es sind ebenfalls kollegial organisierte Institutionen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie einem Bedürfnis nach Unparteilichkeit entsprechen. Sie verwalten knappe Güter, sorgen für das geregelte Funktionieren mancher Märkte, setzen sich für Rechte ein, um Erscheinungen wie Begünstigung, Dominanz, Diskriminierung, Monopolbildung zu verhindern, die sich negativ auf Gleichberechtigung, persönliche Autonomie oder den öffentlichen Zugang zu manchen Ressourcen und Tätigkeiten auswirken. Sie werden in Bereichen tätig, in denen Objektivität eine gesellschaftlich notwendige Dimension ist. Eine Objektivität, als deren Hüterinnen diese Institutionen fungieren, indem sie zur Aufrechterhaltung von Konkurrenzmechanismen und Konsensformen, zwei Gestalten der Allgemeinheit, beitragen. Auf diese Weise geht heute in den Demokratien die Renaissance »entsubjektivierter« Gewalten vonstatten. Gewalten, die an spezifische Funktionen und klar umrissene Zuständigkeitsbereiche gebunden sind. Gewalten, deren Entstehung sich gleichermaßen einem Drängen der Bürger wie einem Zugeständnis der regierenden Instanzen verdankt. Mit dem Ausbau dieser Behörden ist ein weiteres Bollwerk gegen den Illiberalismus errichtet worden. Ihre Funktionsfähigkeit ist im Zeitalter der präsidialisierten Demokratien ein ebenso wichtiger Faktor wie die der Verfassungsgerichte. Diese Funktionsfähigkeit darf nicht als eine Form von Entpolitisierung verstanden werden. Die beiden fraglichen Institutionengruppen 129 Es ist übrigens auffällig, dass die meisten populistischen oder antisystemischen Parteien zu ihrer Abschaffung aufrufen, womit sie deutlich unter Beweis stellen, dass Demokratie sich für sie auf ein majoritäres Genehmigungsverfahren beschränkt (daher auch der Kult, den sie mit der Volksabstimmung treiben). 130 Vgl. dazu Rosanvallon, Demokratische Legitimität, Kap. »Die unabhängigen Behörden: Geschichte und Probleme«.

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stehen nämlich nicht außerhalb der demokratischen Sphäre. Sie befinden sich sogar in deren Zentrum, verkörpern allerdings andere Arten der Verwirklichung des Gemeinwillens als jene, die sich aus einem mehrheitlichen Wählervotum ergeben. Sie sind vielmehr Teil eines Systems »konkurrierender Artikulation« des Gemeinwohls.131 Diese Instanzen flankieren und regulieren die Regierungsorgane, ohne sie zu ersetzen. Letztere behalten einen weiten Aktionsradius, der sich auf alle Bereiche erstreckt, in denen Differenzen in Sachen wirtschaftlichen Managements, staatlicher Politik oder Gerechtigkeitsvorstellungen, um nur wenige Beispiele zu nennen, nach kategorischen Entscheidungen verlangen. Diese Institutionen orientieren sich also nicht an den offen antipolitischen und antidemokratischen Sichtweisen von Unpersönlichkeit, die der Theorie des Wirtschaftskonstitutionalismus zugrunde liegen, wie sie beispielsweise von James Buchanan in Fortführung der Arbeiten Friedrich Hayeks vertreten wird.132 Beide Autoren gehen auf die Utopie des 18. Jahrhunderts zurück, dass die Welt allein vom Markt regiert wird, der die vermeintlich objektivste aller Regeln, die der natürlichen Ordnung, zum Ausdruck bringen soll. Bekanntlich hat Hayek zu diesem Zweck die »Demarchie« als alternatives Ordnungsmodell zur Demokratie formuliert, in dem der menschliche Wille keine Rolle mehr spielen soll, weil er, aus Gründen unvollständiger Information oder parteilicher Voreingenommenheit, als strukturell willkürlich gilt. Diese Perspektive zeichnet sich auch in den Schriften von Finn E. Kydland und Edward C. Prescott ab, die für sich in Anspruch nahmen, nachgewiesen zu haben, dass die mechanische Befolgung einer festen Regel stets zu besseren Resultaten führt als politische Entscheidungen.133 Bei ihnen, wie bei Buchanan oder Hayek, hat der Automatismus 131 Um eine exzellente Formulierung Dominique Rousseaus aufzugreifen, in: Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel. 132 Buchanan, Politische Ökonomie als Verfassungstheorie. Diese Perspektive wurde vor allem in steuer- und haushaltspolitischen Fragen entwickelt. Vgl. meine Analyse »Das Luftschloss der absoluten Konstitution«, in: Demokratische Legitimität, S. 186–189. 133 Vgl. ihren bahnbrechenden Artikel: Kydland/Prescott, »Rules rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans«. 2004 erhielten sie für ihre Arbeiten zu diesem Thema den Wirtschaftsnobelpreis.

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der Regelkonformität die Funktion, bereits den bloßen Gedanken an die Möglichkeit alternativer Optionen auszulöschen. Es handelt sich hier um eine totalisierende Unpersönlichkeit, nicht um eine funktionale Unpersönlichkeit, die durch das Handeln unabhängiger Behörden und Verfassungsgerichte verkörpert wird. Ferner unterscheiden sich von dieser funktionalen Unpersönlichkeit die Formen des »Regierens durch Zahlen«134 und der »Governance«. Ein Beispiel für Ersteres, das weiter unentwegt für Schlagzeilen sorgt, ist die numerische Festlegung des in den EU -Staaten zulässigen Haushaltsdefizits durch den am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen »Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion«. Die Zahl von 3 Prozent (des BIP ) als erlaubte Obergrenze dieses Defizits schwirrt sicherlich allen Bewohnern der betroffenen Zone im Kopf herum, so ausgiebig wird sie tagein, tagaus kommentiert. Ihre starre Gültigkeit wird häufig in Zweifel gezogen, und ihre Einhaltung ist Gegenstand nicht endender Verhandlungen. Es war diesbezüglich schon von einem »Autopiloten« die Rede.135 Doch handelt es sich in diesem Fall um keinen Wirtschaftskonstitutionalismus im Sinne Buchanans und Hayeks, denn diese Zahlen sind nichts anderes als ein Minimalersatz für das Fehlen einer wirklich gemeinsamen Haushaltspolitik der beteiligten Staaten, einer europäischen Verfassung in einem einheitlichen politischen Raum. Der »Autopilot« ist tatsächlich das Minimum, auf das man sich verständigen kann, wenn man sich auch über sonst nichts einig ist. Das Gleiche gilt für das Konzept der Governance. Es bezieht sich auf interaktive Steuerungsund Entscheidungsvorgänge, die eine Vielzahl von Akteuren (Staaten, Nichtregierungsorganisationen, private Marktteilnehmer) in komplexe und kontinuierliche Verhandlungs- und Ausgleichsprozesse einbinden, die nicht Teil eines strukturierten Normenuniversums sind. Auf mikroökonomischer Ebene läuft dieses Konzept auf eine Art dezentralisiertes und partizipatives Management hinaus. Auf internationaler Ebene, und wir brauchen, der Anschaulichkeit halber, nur an die Klimakonferenzen zu denken, ist es auch nur ein Ersatz für eine nicht 134 Vgl. Supiot, La Gouvernance par les nombres. 135 Vgl. den grundlegenden Artikel von Weaver, »Setting and Firing Policy Triggers«.

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existente Weltregierung, der sich in kollektiven Provisorien (mit zumeist leider sehr bescheidenen Auswirkungen) erschöpft. Bei dieser Governance und diesem Regieren durch Zahlen handelt es sich also um keine positive Unpersönlichkeit, sondern eher um eine Art präpolitisches und prädemokratisches Mittelding. Die verschiedenen Optionen, das illiberale Potenzial des Präsidialismus zu neutralisieren, die wir kurz haben Revue passieren lassen, können eine wichtige Rolle spielen. Aber sie geben keine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen eine demokratische Macht im Alltag auszuüben wäre. Diese Bedingungen wollen wir in den folgenden Kapiteln untersuchen.

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III

Die Aneignungsdemokratie

Das Verhältnis von Regierenden und Regierten Man kommt an der Feststellung nicht vorbei: Es gibt heute keine demokratische Theorie des staatlichen Handelns. Wir haben die historischen Gründe für diesen blinden Fleck erläutert. Man kann aber sogar noch weiter gehen: Es hat überhaupt niemals eine wirkliche Theorie des Regierens gegeben. Was wir »Exekutivgewalt« nennen, hat natürlich immer existiert. Doch wurde sie von denen, die sie ausübten, als praktische Aufgabe verstanden. Für ihre Inhaber hatte die Macht ihre Rechtfertigung in sich selbst. Ihnen ging es darum, wie man sich Gehorsam verschafft, Impulse übermittelt, Unzufriedenheiten kanalisiert, Kräfteverhältnisse beherrscht, Rivalen ausschaltet. Regieren war für sie die Kunst, Gewalt, List und Verführung einzusetzen, um eine Stellung zu erobern und zu bewahren. Eine Theorie war ihnen dafür von keinerlei Nutzen. Die Gewohnheit des Befehlens und die Erfahrungen der Menschenführung genügten ihnen als Leitfaden für diese Aufgaben. Und somit auch die Ratschläge derer, die durch den Umgang mit den Mächtigen die Bedingungen ihres Erfolges und ihres Scheiterns aus der Nähe studiert hatten. Eine Praxisliteratur der Machtausübung, für die Herrschenden verfasst, entstand beizeiten als Antwort auf dieses praktische Bedürfnis. Diese Literatur ist in Betracht zu ziehen, bevor man an die Formulierung einer demokratischen Regierungstheorie gehen kann, und sei es nur, um den Abstand zu der noch zu leistenden Arbeit zu ermessen. Man kann sich diesbezüglich auf die klassischen Überlegungen zur Staatsräson stützen, wie sie sich zunächst in den Schriften von Machiavelli und Commynes äußerten, die im 16. Jahrhundert auftauchten, zu einem Zeitpunkt, als die Geschichte an Fahrt aufnahm und die Regierenden ein Gefühl der Vergänglichkeit und Anfälligkeit ihrer Macht überkam. Eine Vergänglichkeit, die von all den äußeren Umbrüchen herrührte, von denen der beginnende Aufstieg des Nationalstaates in Frankreich oder die zunehmenden Rivalitäten zwischen den entstehenden Fürstentümern Ita167

liens begleitet wurden. Eine Anfälligkeit, die jedoch auch innere Ursachen hatte, solche der Kontrolle einer Bevölkerung, die die Herrschaft der großen Familien in den italienischen Städten infrage stellte, oder der Verwaltung eines wachsenden Territoriums im Falle Frankreichs. Deshalb begannen die Berater, die den Mächtigen ins Ohr flüsterten, Bedingungen und Möglichkeiten zu erforschen, »Kniffe« und »Finessen« zu erwägen, um Letzteren zu gestatten, ihre Macht zu festigen und auszubauen. Nicht Gesetze und grundlegende Prinzipien interessierten sie in diesem Zusammenhang, sondern die Voraussetzungen dieser ausführenden Kunst, auf die sich für sie das Regieren beschränkte.1

Die Ratio der Herrn Ab Mitte des 16. Jahrhunderts sollten die Religionskriege überall in Europa die Gesellschaften zerreißen und die bestehenden Mächte schwächen. Aus Gründen, die sich unmittelbar aus dem Umfang dieser inneren Konflikte ergaben. Aber auch aus Motiven gleichsam anthropologischer Natur. Denn die Konfrontationen, zu denen die Entstehung reformatorischen Gedankengutes führte, veränderten das Verhältnis der Einzelnen zur Autorität, relativierten das Gehorsamsgebot zugunsten des Rechts auf Gewissensfreiheit; kurzum, durchbrachen den Automatismus der Unterwerfung unter die etablierte Macht. Mit der Veröffentlichung seiner Sechs Bücher über den Staat im Jahr 1576 gab Jean Bodin eine konstitutionelle Antwort auf diese Brüchigkeit, über eine Theorie des Staates als souveräne Macht. Eine Souveränität, die sowohl die Trennung zwischen Regierenden und Regierten vollzog als auch die öffentliche Ordnung auf die Beherrschung dieser Distanz sowie die Konzentration der Gewalten gründete. Als ewige und absolute war diese Souveränität für ihn die Bedingung, um Ordnung und Frieden im Innern zu garantieren, indem sie alle Untertanen zur gleichen Unterordnung verpflichtete. Die moderne Staatsform mit ihren erweiterten Zwangsmitteln, ihren neuen Möglichkeiten der Sicherung des Territoriums und der Kontrolle der Bevölkerungen fand in ihm ihren wesentlichen Begründer. Dennoch war der Gedanke einer solchen Souveränität nicht ausreichend, um die Frage von Befehl und Ge1

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Bezeichnenderweise kehrt das Wort »ausführen« bei Machiavelli häufig wieder.

horsam praktisch zu klären. Es bedurfte fortan auch der Bestimmung einer Form, um die Menschen im Alltag zu regieren, die nicht allein auf Gewalt oder einer Sakralisierung der Macht beruhen konnte. Es galt also, über den von Bodin eröffneten Weg hinauszugehen. Justus Lipsius, ein Philosoph aus dem niederländischen Leyden, war der Erste, der formulierte, was in diesem neuen Zeitalter der Politik, das gerade anbrach, auf dem Spiel stand: »Welche Mühe kostet es nicht einen einzelnen Kopf, so viele Köpfe zu bezähmen und zu bezwingen und diese große ruhelose, uneinige und aufsässige Menge behutsam unter ein gemeinsames Joch des Gehorsams zu beugen?«2 Wie Bodin wünschte er sich die Errichtung eines Staatsapparates, der in der Lage wäre, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten. Dennoch war Führungsfähigkeit für ihn auch Sache eines spezifischen Know-hows: der Fürst müsse Vorsicht walten lassen, ein Gespür für Situationen entwickeln, die Fähigkeit besitzen, mit seinen Kräften zu haushalten, zu verführen und zu beschwichtigen. Einige Jahrzehnte später sollten die Theoretiker der Staatsräson zu einer systematischen Behandlung der Frage übergehen. Niemand hat ihr Programm besser dargelegt als Daniel de Priezac in Des secrets de la domination, ein Titel, der selbst schon Programm ist. »In der Kunst, die Völker zu regieren«, schrieb er, »sind stets verborgene und der feilen Masse unbekannte Gründe beschlossen, ohne deren Hilfe es den Staaten niemals gelungen wäre, ihre Form zu bewahren oder ihre Vortrefflichkeit zu erlangen. Wie groß und mächtig die Könige auch immer sein mögen, sie werden doch nie das Privileg des bescheidensten Bildhauers genießen, der dem Stoff, den er bearbeitet, jede Form geben kann, die ihm gefällt. Die Menschen jedoch, die oft härter und widerständiger als selbst der Marmor sind, geben deutlich genug zu erkennen, dass sie zu einer so großen Freiheit geboren sind, dass sie, anstatt zu gehorchen, der Vernunft mit Starrsinn begegnen und dem Befehl mit Widersetzlichkeit. Es war demnach erforderlich, zu gewissen Staatsgeheimnissen zu greifen, und zu Kunstgriffen, die

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Juste Lipse, Politiques. Épitre dédicatoire (1589), zit. n. Senellart, Les Arts de gouverner, S. 232. Das Werk erschien im selben Jahr wie Della ragion di Stato von Giovanni Botero.

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Aristoteles als Sophismen bezeichnete, die durch trügerischen Schein den Geist des Volkes blendeten und seine Augen betörten.«3 Gabriel Naudé, der Verfasser von Politisches Bedencken über die Staats-Streiche4, ist derjenige, dem wir das Grundlagenwerk dieser neuen Regierungskunst verdanken. Auch er rief dazu auf, die Politik als etwas über die notwendige »Befestigung der Gesetze« Hinausgehendes zu begreifen. Die politische Wissenschaft, die er sich wünschte, umfasste sowohl die Beziehungen zwischen Staaten als auch diejenigen zwischen Regierenden und Regierten. Sie beruhte auf einer vermeintlich realistischen Sicht menschlicher Beziehungen: Gabriel Naudé machte sich das Motto von Jean-Louis Guez de Balzac zu eigen, dass zwischen Menschen nur ein »Handel von Betrügern und Betrogenen« bestehe,5 und pflichtete dem Vorwurf Neros an seine Berater bei, »daß sie ihre Meinungen und Ratschläge so einrichteten, als ob sie in Platons Republik und nicht in den Höfen von Romulus Nachkommenschaft lebten«.6 Die Regierungskunst implizierte also die radikale Trennung von Politik und Moral und die Verabschiedung von allen idealistischen Vorstellungen. Naudé zufolge müsse man bedenken, dass das Staatswohl an erster Stelle stehe und seine Wahrung eine eigene, speziellen Regeln unterworfene Logik erfordere. Er rechtfertigte deshalb das Massaker der Bartholomäusnacht und die Praktiken der Inquisition, weil sie in seinen Augen »eine Überschreitung des gemeinen Rechtes zugunsten des gemeinen Besten« darstellten. Es habe sich um »kühne und außerordentliche Dinge« gehandelt, »die zu gebrauchen die Prinzen in schweren und gleichsam verzweifelten Händeln ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit, und dem gemeinen Rechte zuwider, gezwungen sind, so daß sie die Wohlfahrt des einen oder anderen gegen das gemeine Beste in die Schanze schlagen.«7 Das Wesen des Politischen lag also in der Eroberung und Erhaltung der Macht um ihrer selbst willen.

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Priezac, »Des secrets de la domination, ou de la raison de’État«, in: Priezac, Discours politiques, S. 202. Franz.: Considérations politiques sur les coups d’État, Rom 1639. Zitiert von Thuau, Raison d’État et pensée politique, S. 323. Naudé, Politisches Bedencken, S. 44 [Übersetzung, wie auch in den folgenden Zitaten, modifiziert, AdÜ]. Ebd., S. 89.

Das Herzstück dieser realistischen Regierungskunst, die im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelt wurde, war die Verstellung: »Wer sich nicht wohl verstellen kann, der kann auch nicht wohl herrschen«8, lautete die grundlegende Maxime. In seinem Bréviaire des politiciens fasste Mazarin seine Botschaft an die Regierenden in den gleichen Worten zusammen: »1. Täusche; 2. Verstelle dich.«9 Nicht aus Büchern könne man folglich diese Form des Regierens lernen10, sondern indem man die Triebkräfte der menschlichen Natur verstehe, um sie zu manipulieren. Die »Königswissenschaft«, die Naudé begründen wollte, war eine praktische und realistische Herrschaftskunst. Es galt, sich die Leidenschaften, den Aberglauben, die Ängste zum Zweck des Machterhalts zunutze zu machen. Für ihn verdankte der Staat sein Überleben diesem ständigen Bemühen. Wie Commynes und Machiavelli vor ihm hatte Naudé einen ausgeprägten Sinn für die Veränderlichkeit von Situationen: »Alle Dinge der Welt ohne Ausnahme sind Revolutionen unterworfen«, schrieb er. »Die Wissenschaften, die Reiche, die Sekten, ja die Welt selbst ist nicht ausgenommen von dieser Unbeständigkeit.«11 Regieren war für ihn somit ein stets wechselhaftes Zusammenspiel von Fürst und Gesellschaft. Wolle man den Staat erhalten, müsse man die »Staats-Streiche« vervielfachen, je besondere und außergewöhnliche Aktionen, die darauf abzielten, den Fortbestand der Macht zu sichern. Ein derartiges Wissen war natürlich den Herrschenden vorbehalten. Dass es dem gemeinen Volk verborgen bleiben musste, lag in der Natur der Sache. Es verwundert folglich nicht, dass sich Naudé damit begnügte, seine Considérations politiques sur les coups d’État in einer Erstauflage von zwölf Exemplaren zu verbreiten, als ob es gefährlich sei, »wenn man der hohen Häupter Tun erforschen und das, was sie mit tausend Kunstgriffen täglich zu bemänteln bemüht sind, entblößt der Welt vor Augen legen will«.12 Die Methoden geistiger Indoktrination, die Strategien der Verführung oder Manipulation Leichtgläubi8 9 10 11 12

Ebd., S. 49. Mazarin, Bréviaire des politiciens, S. 123. Vgl. dazu Naudé, Addition à l’histoire de Louis XI , S. 24–29. Ebd., Avertissement. Naudé, Politisches Bedencken, S. 4.

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ger, die Techniken der Verstellung hätte man tatsächlich nicht unter die Leute bringen können, die man zu unterwerfen gedachte. Insofern beruhte die Ausübung von Macht auf der Herstellung einer Distanz, deren »Verfahren«, die arcana imperii, es zu verschweigen galt, sodass sie von der Bevölkerung schließlich als Ausdruck einer natürlichen Überlegenheit verinnerlicht werden. Doch gleichzeitig mussten diese »Geheimnisse des Reiches« in unterrichteten Kreisen zirkulieren, Gemeingut derer werden, die sich vom einfachen Volk, vom Pöbel unterschieden, um die Sphäre der »Höhergestellten« zu bilden. Die Traktate der Staatsräson hatten somit auch die Funktion, aus verschiedenartigen Eliten ein gesellschaftliches Milieu zu erzeugen, das sich auf einvernehmliche Weise an diesem Projekt zur Beherrschung der Untertanen beteiligte. Die Form von Herrschaft, die die Theoretiker der Staatsräson im Sinn hatten, erlangte auf diesem Wege eine zusätzliche Legitimation soziologischer Art. Denn auch weil das Volk als Pöbel, als von drängenden Leidenschaften getriebene Masse verstanden wurde – als »wildes Tier […] unbeständigen Sinnes, aufrührerisch, zänkisch, auf Neuerung begierig«, um eine Formulierung von Naudé zu zitieren13 –, war es in ihren Augen notwendig und gerecht, in der von ihnen erwünschten Weise zu regieren. Manch einer, der vielleicht von ihrem Zynismus abgestoßen war, schloss sich ihnen unter dieser soziologischen Prämisse an. Die »aristokratische Vernunft« der gelehrten Freidenker hatte somit im 17. Jahrhundert entscheidenden Anteil daran, der »Staatsräson« unter den Eliten Akzeptanz zu verschaffen. Letztere erklärten nämlich die Kritik des Plebs zur Voraussetzungen jeglichen Fortschritts.14 Diese 13 Ebd., S. 199–200. »Wie wir denn auch wissen«, so Naudé weiter, »daß der Pöbel einem Meer, das allen Winden und Unwettern unterworfen ist; einem Chamäleon, das alle Farben außer der weißen annimmt; einer Mistpfütze, wo aller Unflat im Hause zusammenfließt, verglichen wird. Seine schönste Zier ist, unbeständig und veränderlich zu sein. Ein Ding zugleich loben und schelten, von einem Gegenteile zum andern überspringen, leicht glauben, geschwind aufrührerisch werden, allzeit grunzen und murren: Kurzum, alles, was er denkt, ist Eitelkeit, was er sagt, ist falsch und ungereimt, was er tadelt, ist gut, was er gut heißt, ist böse, was er lobt, ist unehrlich, und alles, was er tut und unternimmt, ist nichts als eitel Torheit« (ebd., S. 200–201). 14 Vgl. das exzellente Buch von Pintard, Le Libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle, das immer noch das Standardwerk zu diesem Thema ist.

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Botschaft wurde von den beiden markantesten Vertretern des gelehrten Libertinismus, Pierre Charron in De la sagesse (1601) und François La Mothe Le Vayer in seinen vier Dialogues faits à l’imitation des anciens (1620), mit allem Nachdruck verkündet. »Ich war stets der Meinung«, schrieb Letzterer dementsprechend, »dass wir unsere stärksten Kräfte gegen die reißende Menge einsetzen müssten, und dass wir, wenn wir die Volksbestie erst gezähmt hätten, mit dem Rest spielend fertig werden würden.«15 In dieser Massenverachtung trafen sie sich mit Naudé und seinesgleichen, nur dass sie ihren Rückzug auf den Olymp als heimliche Herrn der Welt als eine Sache der Vernunft rechtfertigten. Der Zynismus dieser Werke hätte ihre Veröffentlichung im Zeitalter der Volkssouveränität unmöglich gemacht. Doch gleichzeitig hielten die politischen Führer der Moderne in der Praxis unbeirrbar an solchen Prinzipien fest, als handele es sich um bloße alltagspraktische Gebote, die nicht kritisch reflektiert zu werden bräuchten. Mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts musste sich das Gefühl der Regierenden für die Vergänglichkeit ihrer Macht noch verstärken, zumal sie fortan gezwungen waren, sich als Diener des neuen Herrn auszuweisen. Es tat sich somit eine Kluft auf zwischen der Zeit der Wahlreden, die unter dem Vorzeichen der Verführung und der Volksnähe standen, und der des staatlichen Handelns, das auf einem unaussprechlich gewordenen Festhalten an den alten Rezepten des Machterhalts und der Massenmanipulation beruhte.

Das Zeitalter der Verführung und der Manipulation Die Methodik der Beherrschung der Regierten durch die Regierenden ist mittlerweile um eine von Kommunikationsexperten systematisch erarbeitete Kunst der Verführung ergänzt worden, die in den Wahlkämpfen zum Einsatz und zur höchsten Vollendung gelangt. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass sie im Grunde nichts Neues erfunden haben. Die Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf 16, die Quintus Cicero im Jahr 64 vor Christus in Rom für seinen Bruder, den berühmten Redner, verfasste, der damals beabsichtigte, in die Poli15 Zit. n. der Anthologie von Adam, Les Libertins aux XVIIe siècle, S. 124. 16 Seine Ratschläge waren von Nutzen, denn Cicero wurde im Jahr 63 v. u. Z. zum Konsul gewählt.

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tik zu gehen und für eines der beiden Konsulsämter zu kandidieren, sind die erste systematische Darstellung der Kunst, einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen, die uns überliefert ist. Eigentlich ist es ein Handbuch der Manipulation. Man erfährt darin, wie man sich Freunde macht, »wie man den Wählern schmeichelt und sie umwirbt«17, wie man die öffentliche Meinung für sich gewinnt und »so viele Ohren wie möglich mit bestmöglichen Berichten« über sich füllt. Quintus schlug seinem Bruder beispielsweise vor, »wenn das denn irgendwie zu arrangieren möglich ist, dass man Skandalgeschichten über die Verbrechen, sexuellen Ausschreitungen und Bestechungen deiner Konkurrenten erzählt«. Er empfahl ihm auch, einen Wahlkampf zu führen, der »eine gute Show ist, brillant, glänzend und populär«, um sich von der Masse abzuheben und sich als Persönlichkeit zu profilieren, an der man nicht vorbeikommt. Und er erinnerte ihn daran, seine Beredsamkeit als entscheidende Waffe einzusetzen, weil sie das sei, »was die Leute in Rom hält und anzieht und was sie davon abhält, dich zu behindern oder zu verletzen«. Die Regeln der Verführung haben sich auf diesem Feld kaum verändert. Sie zielen immer noch darauf ab, die Realität zu verzaubern, mit freiwilliger oder unfreiwilliger Unterstützung der Medien. Maurice Joly, einer der heftigsten Widersacher von Napoleon III ., legte in seinen Gesprächen in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu18 die erste kritische Beschreibung der Meinungsmanipulation im Zeitalter der modernen Medien vor. Das Interessante an diesem Pamphlet besteht nicht nur darin, dass es vehement den autoritären Charakter des Regimes anprangert, was viele andere auch getan haben, sondern dass es aufzeigt, was für ein neues Verhältnis zur Presse das Regime entwickelte. Was Joly beschreibt, ist die – über Fragen der Zensur hinausgehende – Entstehung einer journalistischen Macht. »Da der Journalismus eine so große Macht hat«, lässt er Napoleon III . sagen,

17 Quintus Cicero, Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf, S. 43 (sowie S. 51–55 für die folgenden Zitate). 18 Das 1864 veröffentliche Buch ist auch dafür bekannt, dass die Verfasser des antisemitischen Pamphlets Protokolle der Weisen von Zion es plagiiert und für ihre Zwecke missbraucht haben (die Machiavellismusvorwürfe gegen Napoleon III . wurden zur Entlarvung eines jüdischen Komplotts umformuliert).

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der in dem Buch den Namen Machiavelli trägt, »wissen Sie, was meine Regierung tun wird? Sie wird sich selbst journalistisch betätigen, und das wird dann ein Journalismus, der Hand und Fuß hat.«19 Und weiter: »Wie der Gott Wischnu wird meine Presse hundert Arme haben, und diese Arme werden über das ganze Land hin ihre Hände den Vertretern aller politischen Richtungen reichen. Man wird für mich Partei ergreifen, ohne es zu wissen. Wer da glaubt, seine eigene Sprache zu sprechen, spricht doch nur die meine. Wer da meint, in seinem eigenen Interesse zu agitieren, betreibt das meine. Alle, die unter ihrer eigenen Fahne zu marschieren glauben, marschieren unter der meinen. […] Mit Hilfe dieser Zeitungen, die mir im geheimen ergeben sind, lenke ich die öffentliche Meinung in allen Fragen der inneren und äußeren Politik, wie ich wohl sagen kann, nach meinem Belieben. Ich rege die Geister an, oder ich lasse sie einschlafen, ich ermutige sie oder bringe sie zur Verzweiflung, ich erörtere das Für und Wider, ich verteidige, was wahr und was falsch ist.«20 Woraus sich der Schluss ergibt: »Die Presse auszunutzen, sich ihrer in allen ihren Formen zu bedienen, das ist heute die Pflicht aller Regierungen, die am Leben bleiben wollen.«21 19 Joly, Gespräche in der Unterwelt, S. 93. 20 Ebd., S. 95–96. 21 Ebd. S. 100. Und weiter heißt es: »Um zu verstehen, worauf sich mein System alles erstreckt, muß man darauf achten, wie die Äußerungen meiner Presse dazu bestimmt sind, mit den offiziellen Handlungen meiner Politik zusammenzuwirken. Nehmen wir an, ich wollte eine Entscheidung von großer außenpolitischer und innenpolitischer Kompliziertheit durchsetzen. Diese Entscheidung wird durch meine Zeitungen, von denen jede seit mehreren Monaten die Öffentlichkeit in ihrem Sinne bearbeitet, eines Tages als ein offizielles Ereignis bekanntgemacht. Sie wissen, mit welcher Diskretion und welcher vorsichtigen Behutsamkeit die Dokumente der Regierung in kritischen Situationen abgefaßt sein müssen. Die Aufgabe, die in solchem Falle zu lösen ist, besteht darin, alle Parteien zufriedenzustellen. Dann wird jede meiner Zeitungen im Rahmen der Tendenz, die sie vertritt, sich bemühen, jede Partei davon zu überzeugen, daß die Entscheidung, die getroffen wurde, gerade die für sie günstigste ist. Was in einem offiziellen Dokument nicht geschrieben steht, wird man durch einen Kommentar hierzu herausbringen; was nur angedeutet wird, werden die offiziösen Zeitungen offener vorbringen, die demokratischen und die revolutionären Zeitungen werden es ausposaunen, und während man sich hin und her streitet und die verschiedensten Erklärungen für meine Handlungen gibt, kann meine Regierung allen und jedem einzelnen antworten: Sie täuschen sich über die Absichten der Regierung. Sie haben ihre Bekanntmachungen schlecht gelesen; sie

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Hundert Jahre später kritisierte Hannah Arendt in Wahrheit und Lüge in der Politik die Manipulationsmanöver der Regierungen, die den »Erfindungsreichtum der Madison Avenue« für ihre Zwecke einsetzten.22 Die Kritik ist nach wie vor aktuell! Mögen sich die repräsentativen Institutionen oder die Partizipationsmöglichkeiten seit den revolutionären Gründungsakten der politischen Moderne auch weiterentwickelt und konsolidiert haben, so ist die Kunst des Regierens ihrerseits erstaunlich konstant und primitiv geblieben. Es sind immer noch die gleichen Rezepte, die gleichen Maschen, die gleichen rhetorischen Tricks, die das Verhalten der um den Erhalt ihrer Macht besorgten Regierenden kennzeichnen, der Anbruch des Medien- und schließlich des elektronischen Zeitalters hat lediglich die Manipulationsinstrumente vermehrt. Damit die Regierungen in das Zeitalter der Demokratie eintreten können, müssen sie zunächst mit all diesen magischen Diskursen brechen und die Realität des Verhältnisses von Regierenden und Regierten zur Kenntnis nehmen.

Das Verhältnis von Regierten und Regierenden denken Die Realität des Verhältnisses von Regierenden und Regierten ist durch eine strukturelle Kluft gekennzeichnet. Zwar kann das Volk danach streben, wenigstens teilweise selbst zum Gesetzgeber zu werden (über ein Referendum), doch es kann sich nicht selbst regieren. Es gibt eine Art struktureller Asymmetrie zwischen Regierten und Regierenden, im Unterschied zu der im Idealfall rein funktionalen Asymmetrie zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Erläutern wir diesen entscheidenden Punkt genauer. In der Demokratie ist das Volk, entweder direkt oder, wie zumeist, über Vermittlung seiner Repräsentanten, Urheber der Gesetze, denen es gehorchen soll. »Das den Gesetzen unterworfene Volk muß deren Urheber sein«,23 betonte der Verfasser des Gesellschaftsvertrags. Heißt hat nie etwas anderes als dies oder jenes sagen wollen. Die Hauptsache ist, daß man sich nie mit sich selbst in Widerspruch setzt« (ebd., S. 100–101). 22 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 11. Arendt bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die Werbe- und PR-Agenturen sich damals überwiegend in dieser New Yorker Straße befanden [die »inventiveness of Madison Avenue« wird in der deutschen Ausgabe sehr frei mit »Reklameexperten« wiedergegeben, AdÜ]. 23 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 56.

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das, Demokratie läuft darauf hinaus, sich selbst zu gehorchen? Oder genauer gefragt, kann man sich selbst regieren? Sich selbst regieren natürlich im politischen Sinne des Wortes, nicht im engeren Sinne der Steuerung des eigenen Verhaltens. Diese Frage kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Unter einem soziologischen oder einem institutionellen Gesichtspunkt. Soziologisch betrachtet ist die Selbstregierung des Volkes mit dem Problem konfrontiert, dass das Volk, das die Gesetze macht, nicht deckungsgleich ist mit dem, das ihnen gehorcht. Ersteres ist das Volk als Bürgerschaft, das per definitionem eine Einheit bildet (selbst wenn diese nur auf der Fiktion der Mehrheitsmacht beruht), während Letzteres das soziale Volk ist, das sich durch die Vielfalt seiner Lagen und seine praktische Ausdifferenzierung in individuelle Verhaltensweisen auszeichnet. Die beiden fallen nicht zusammen, sie widersprechen sich sogar. Auf diesen Punkt hat Rousseau, in den Kapiteln des Gesellschaftsvertrages, die der Regierungsfrage gewidmet sind, nachdrücklich aufmerksam gemacht. Bekannt sind auch die Schlussworte von Kapitel 4 des Dritten Buches über die Demokratie: »Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung entspricht den Menschen nicht.«24 Diese Formulierungen sollten richtig verstanden werden. Sie sind nicht als Eingeständnis seiner Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit politischer Emanzipation zu deuten. Vielmehr wollte Rousseau mit diesen Worten zum Ausdruck bringen, dass die Allgemeinheit des Gesetzes gefährdet wäre, wenn der Gesetzgeber freie Hand hätte, es bei seiner Ausführung zu verändern. Im Zuge dessen würde er nämlich die zivilen Gewänder der Allgemeinheit abstreifen und wäre nur noch ein Verwalter des Partikularen, der versucht sein könnte, Sonderinteressen zu begünstigen.25 Die Götter hingegen sind nicht von einem solchen Dualismus bedroht, weil sie stets in ihrer Wesensnatur verharren. Rousseau plädierte deshalb dafür, die (unanfechtbare) Souveränität (des Volkes) von der Re24 Ebd., S. 95. 25 »Es ist weder gut, daß derjenige, der die Gesetze macht, sie ausführt, noch daß die Körperschaft des Volkes ihre Aufmerksamkeit von den allgemeinen Gesichtspunkten ablenkt, um sie einzelnen Themen zu widmen« (ebd. S. 93, Hervorhebung von mir).

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gierung zu trennen, die nach seiner Meinung von einer als unbestechlich geltenden Person oder kleinen Personengruppe ausgeübt werden sollte. Die Souveränität habe demokratisch zu sein, während es keinen Nutzen brächte, wenn die stark untergeordnete Macht der Exekutive es ebenfalls wäre. Er löste somit das Problem, indem er die Exekutive marginalisierte und aus dem Geltungsbereich des demokratischen Imperativs ausgliederte. Selbst wenn man sich die Rousseau’sche Argumentation nicht zu eigen macht, bleibt die Tatsache einer Kluft zwischen sozialem Volk und Volk-als-Bürgerschaft bestehen. Die Regierung ist in diesem Kontext nicht bloß eine Gesetze vollziehende Gewalt, mit der Konnotation des Mechanischen, die diesem Begriff im Denken des 18. Jahrhunderts anhaftete. Sie muss auch eine die Kluft zwischen den beiden Völkern aktiv gestaltende Schnittstelle sein. Das kann man sogar als vorrangige Aufgabe der Regierung ansehen (was Entscheidungen und Kompromisse beinhaltet). Man kann sich also nicht (politisch) selbst regieren, denn es gibt zwei Ichs, die nicht zusammenfallen, das des Bürgers (die an sich bestehende Allgemeinheit) und das des Individuums (geprägt vom Partikularen). Das Individuum ist niemals automatisch Bürger und muss deshalb stets regiert werden. Es existiert infolgedessen eine irreduzible Äußerlichkeit der Macht in Bezug auf die Individuen. Funktionale Überlegungen ergänzen somit den soziologischen Befund hinsichtlich der notwendigen Trennung der Exekutive von ihrer strukturell reflexiven Dimension. Eine weitere strukturelle Kluft zwischen Regierten und Regierenden ist zu berücksichtigen: Während die parlamentarische Beratung die Existenz eines Kollektivs voraussetzt, muss die Entscheidungsfindung in konzentrierter Form erfolgen. Ganz unabhängig von ihren Geltungsbedingungen ist die Exekutive stets ihrem Wesen nach eins,26 während die Gesellschaft stets vielfältig ist. Was sie in die Position des Impulsgebers befördert. Das Vielfältige ist funktional gesehen stets das Subjekt des Einen. Das Eine ist folglich nur seine idealisierte oder vollendete Form. Es verweist auf die Notwendigkeit eines Bemühens um Reflexivität. 26 Wir werden später die Probleme diskutieren, die sich aus kollegialen Formen der Exekutive ergeben, besonders unter dem Aspekt der Verantwortung.

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Selbstverwaltung, Selbstregierung, Selbstinstitution Dieses Bemühen um Reflexivität beinhaltet, zwischen den Begriffen Selbstverwaltung und Selbstregierung27 klar zu unterscheiden. Eine spezifische Gruppe kann sich nämlich immer selbst verwalten. Miteigentümer, Mitglieder eines Arbeitskollektivs oder eines Vereins oder die Bewohner eines Stadtviertels können sich stets zusammensetzen, um gemeinsam die sie betreffenden Entscheidungen zu fällen. Die Beispiele solcher »Vollversammlungsregime« sind Legion, in Vergangenheit und Gegenwart und in allen Teilen der Welt. Ihrer Realisierbarkeit sind nur strikt materielle Grenzen gesetzt, hinsichtlich der Größe der fraglichen Gruppierungen beispielsweise oder der jeweiligen Bereitschaft ihrer Mitglieder. Doch hängt ihr Zustandekommen auch von einer anderen wesentlichen Eigenschaft ab: ihrer strikten Funktionalität. Es handelt sich nämlich um horizontale Gruppen, die das Ziel verfolgen, ein Gut, ein Geschäft, ein Projekt zu verwalten. In diesem Rahmen steht jeder Beteiligte im gleichen Verhältnis zu den anderen, befindet sich auf Augenhöhe mit ihnen. Die Beteiligten kommen als Produzenten, Konsumenten, Miteigentümer, Benutzer, Bewohner eines Viertels zusammen. Es liegt eine Dimension der Unmittelbarkeit in dem, was sie verbindet. Das politische Feld zeichnet sich hingegen durch die Tatsache aus, dass die verbindende Kategorie des Bürgers die Rollenvielfalt des Einzelnen einschließt, mit allen darin enthaltenen Widersprüchen und Spannungen (zwischen Steuerzahlern und Nutzern öffentlicher Dienstleistungen, Produzenten und Konsumenten usw.). Die Individuen sind in diesem Kontext nicht nur »Teil des Volkes«: daher die Notwendigkeit einer Form von Reflexivität, der das Handeln der Regierungsinstanz entspricht. Über das hinaus, was ihr an verwaltungstechnischen Aufgaben im engeren Sinne zufällt, zeichnet sich Letztere durch ein Bemühen um Vermittlung zwischen den verschiedenen Spektren des sozialen Lebens und Aushandlung der notwendigen Kompromisse zwischen den Beteiligten aus. Ist der Begriff der Selbstregierung demnach problematisch, so gründet sich das Wesen der Demokratie hingegen sehr wohl auf ein

27 Vgl. Rosanvallon, L’Âge de l’autogestion.

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Prinzip der Selbstinstitution der Gesellschaft.28 Dieses Prinzip bringt das Phänomen der Volkssouveränität am einfachsten zum Ausdruck. Es hat historisch betrachtet im Wesentlichen zwei Wege eingeschlagen. Zunächst den der Annahme von Verfassungen per Direktabstimmung. Die Französische Revolution hat hierin eine Vorreiterrolle gespielt, da die Verfassungen von 1793, des Jahres III und des Jahres VIII auf diese Weise bestätigt wurden.29 Damit würdigte man die Besonderheit und symbolische Bedeutung einer derartigen Wahl zu einer Zeit, als das Repräsentativsystem den scheinbar unüberschreitbaren Horizont politischer Ordnung verkörperte. Diese Anerkennung des verfassunggebenden Volkes fand ihre Fortsetzung im Bekenntnis zum Prinzip der Selbstbestimmung30, das nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker feierlich besiegelt wurde. Zweitens kann die Selbstinstitution die dauerhaftere Form der deliberativen Demokratie annehmen. Letztere ist darum bemüht, die Bürger permanent an den öffentlichen Debatten über die großen Fragen der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens (in Sachen Entwicklung von Solidaritäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen, Ausgestaltung des Laizitätsprinzips usw.) zu beteiligen. Die Bürgermacht beschränkt sich hier nicht auf das Wählen: sie geht von der Möglichkeit aller aus, öffentlich das Wort zu ergreifen, sodass der Einzelne in der Auseinandersetzung mit den anderen existiert. 28 Ich übernehme diesen Begriff von Cornelius Castoriadis. Vgl. zu seiner Person Bernardi, »En marge de Castoriadis, sur le concept d’auto-institution de la société«. 29 Vgl. den Abriss von Edelstein, La Révolution française et la naissance de la démocratie électorale. Anzumerken ist, dass die Verfassungen der »Schwesterrepubliken«, die Bonaparte 1797–1798 in Italien gründete, ebenfalls durch »Plebiszite« unter den betroffenen Bevölkerungen angenommen wurden. Die amerikanische Verfassung von 1787 wiederum wurde durch eigens gewählte Konvente in den dreizehn Unionsstaaten ratifiziert. 30 An der Frage des Anschlusses von Avignon und der Grafschaft Venaissin an Frankreich entzündete sich 1791 die erste moderne politisch-rechtliche Debatte über die Rechte der Völker auf Eigenständigkeit. Vgl. Clère, »Le rattachement d’Avignon et du Comtat à la France«. Im Frankreich der 1860er Jahre wurde der Anschluss Nizzas und Savoyens per Referendum unter den betroffenen Bevölkerungen entschieden. Dieses Verfahren wurde zur gleichen Zeit auch im Italien des Risorgimento benutzt, um in den verschiedenen, damals bestehenden politischen Gebilden die Einigung des Landes zu beschließen.

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Das Eingeständnis einer Kluft zwischen Regierten und Regierenden darf also nicht mit irgendeiner fatalistischen Unterwerfung unter eine äußere Macht verwechselt werden. Diese Kluft hat eine rein funktionale Dimension, die mit einem aktiven und bedingungslosen Bekenntnis zum Prinzip der Selbstinstitution und zu Praktiken der Selbstverwaltung vereinbar ist.

Die unmögliche Aufhebung der Äußerlichkeit Der funktionale Charakter der Kluft zwischen Regierten und Regierenden kann auch negativ gedacht werden, über den Nachweis der Aporien, zu denen solche Emanzipationsphilosophien führen, die auf eine Abschaffung der Regierung abzielen. Die Weigerung, die Exekutive als Regierungsinstanz im eigentlichen Sinne zu verstehen, war, wie ausführlich gezeigt, zunächst ein historisches Resultat des Gesetzeskultes, der das Denken des 18. Jahrhunderts beherrschte. Doch trat sie im 19. Jahrhundert in anderer Form erneut zutage: der des Anarchismus, im etymologischen Sinne des Wortes. Proudhon war der Erste, der seine Prinzipien systematisch entfaltete. Dabei entfernten sich seine Überlegungen anfangs nicht allzu weit von der klassischen revolutionären Sichtweise, wie manche seiner Stellungnahmen von 1848 bezeugen. »Es obliegt der Nationalversammlung, über die Organisation seiner Ausschüsse, die Exekutivgewalt auszuüben, wie sie es, durch ihre gemeinsamen Beratungen und Abstimmungen, mit der Legislative tut«, lautete eine seiner typischen Äußerungen. »Die Minister, Unterstaatssekretäre, Abteilungsleiter usw. sind nur eine unnötige Verdoppelung der Abgeordneten, deren müßige, ausschweifende, der Intrige und dem Machtstreben gewidmete Existenz eine ständige Quelle des Ärgernisses für die Verwaltung, schlechter Gesetze für die Gesellschaft und unnützer Ausgaben für den Staat ist.«31 Doch dabei ließ es Proudhon nicht bewenden. Er lehnte jede politische Unterordnung schon vom Prinzip her ab. Der Sozialismus müsse als das »Gegenteil des Gouvernementalismus«32 begriffen werden, das revolutionäre Programm 31 Le Peuple, Nr. 4, 8.–15. November 1848, wiederabgedruckt in: Proudhon, Mélanges, Band 1, S. 190. 32 Ebd. »Zwischen Herr und Diener ist keine Gemeinschaft möglich«, fügte er hinzu.

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der Menschheitsbefreiung beinhalte die Beseitigung jeder herrschaftsbegründenden institutionellen Differenzierung. »Wir dulden die Regierung des Menschen über den Menschen ebenso wenig wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, schrieb er folgerichtig.33 Eigentum und Regierung verkörperten demnach in seinen Augen die beiden wesentlichen Modalitäten einer Institutionalisierung sozialer Äußerlichkeit: »Was man in der Politik als Autorität bezeichnet, ist das Gegenstück und Ebenbild dessen, was man in der politischen Ökonomie Eigentum nennt; diese beiden Ideen entsprechen einander und sind wesensgleich.«34 Für Proudhon ging es also darum, das Eigentum zu sozialisieren und gleichzeitig »die Macht zu anarchisieren«35. Die Macht zu anarchisieren, hieß, die von ihr zwangsläufig implizierten Niveauunterschiede zu beseitigen, um sie durch direkte, dezentralisierte Formen der Kooperation und Vereinigung im Hinblick auf die Organisation des menschlichen Zusammenlebens zu ersetzen. Es ging also um etwas gänzlich Anderes als das Eintreten für eine »Direktregierung«, wie bei einer ganzen Strömung der »sozialistischen Demokraten« von 1851. »Wir müssen furchtlos den Schluß annehmen«, beteuerte er, »daß die revolutionäre Formel nicht mehr heißen kann: direkte Gesetzgebung, direkte Regierung oder vereinfachte Regierung. Sie heißt: keine Regierung mehr.«36 Proudhon traf sich somit auf seine Weise mit den Vorstellungen der schottischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die bestrebt gewesen waren, die politische Organisation der Welt durch eine spontane Ordnung der Zivilgesellschaft zu ersetzen.37 Doch während Letz33 »Qu’est-ce que le gouvernement? Qu’est-ce que Dieu?«, La Voix du Peuple, 5. November 1849, wiederabgedruckt in: ebd., Band 2, S. 261. 34 La Voix du Peuple, 26. Dezember 1849, wiederabgedruckt in: ebd., S. 53. Festzuhalten ist, dass er die Religion in den gleichen Begriffen analysierte. 35 Prouhon, Carnets de P.-J. Proudhon, Band 3, S. 216. 36 Idée générale de la Révolution au XIXe siècle, S. 199 (vgl. die gesamte vierte Abhandlung »Du principe d’autorité« [hier zit. n. P.-J. Proudhon, »Die allgemeine Idee der Revolution im 19. Jahrhundert«, Auszug in: Von der Gablentz (Hg.), Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, S. 178]). 37 Nebenbei bemerkt war er, genau wie sie, ein heftiger Kritiker Rousseaus: »Die Rousseau-Mode«, scheute er sich nicht zu schreiben, »hat Frankreich mehr Gold, mehr Blut, mehr Schande gekostet als die verhasste Herrschaft dreier berühmter Kurtisanen (der Châteauroux, der Pompadour, der Dubarry)« (ebd., S. 195).

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tere dem Marktmechanismus huldigten, als Stifter einer vermeintlich objektiven, neutralen und anonymen Ordnung, legte Proudhon den Akzent mehr auf das soziologische Faktum einer notwendigen Beförderung des Produzenten zur gesellschaftlichen Zentralfigur. Er plädierte dafür, »das Reich der Verträge, mit anderen Worten, die wirtschaftliche oder industrielle Welt«, an die Stelle des »alten Systems der Gesetzesherrschaft« zu setzen. »Die Idee des Vertrages und die der Regierung schließen sich gegenseitig aus«, bekräftigte er.38 Tatsächlich war die derart für abgeschafft erklärte politische Herrschaft nur fein verteilt auf die Regeln der Wirtschaftsordnung übergegangen, sodass die Beziehung zwischen den Menschen sich auf das alleinige Register einer Selbstverwaltung ihrer diversen Tätigkeitsfelder reduzierte. Proudhon weigerte sich somit, die Autonomie und Eigenart einer politischen Sphäre anzuerkennen, die sich in einer nicht auf die Organisation von Kooperationssystemen reduzierbaren Arbeit der Instituierung des Gemeinschaftlichen ausdrückt. Im 20. Jahrhundert erlebte das Projekt einer von jeder »äußerlichen/dominierenden« Macht befreiten Gesellschaft auf dem Umweg über die Anthropologie eine neuerliche Renaissance. In Frankreich lieferte das Werk von Pierre Clastres, einem Beobachter der GuayakiIndianer (im heutigen Paraguay), derartige Bezüge, um das antiautoritäre Ethos der Nach-68er-Bewegung zu befeuern. In seinen diversen Publikationen – sie sind überwiegend in den beiden Büchern La Société contre l’État (Paris 1974) und Recherches d’anthropologie politique (Paris 1980)39 gesammelt – betonte er immer wieder nachdrücklich, was er für den wesentlichen Befund seiner Beobachtungen bei den Guayaki hielt: die Tatsache, dass der Häuptling keine wirkliche Macht ausübte. Anführer war er durch die Art des Respekts, den man ihm bezeigte, oder das Tragen bestimmter Insignien. Aber ein Anführer, der über keine Zwangsmittel verfügte, keine eigene Entscheidungsmacht besaß und keine Befehle erteilte, zumindest nicht im Sinne Gehorsam erheischender Weisungen. Die »politische Macht« war in diesem Kontext eine Kombination aus unumstrittener Legitimität und sehr reduzierter Befehlsgewalt. Clastres stellte nun die 38 Ebd., S. 187. 39 Dt.: Clastres, Staatsfeinde; Archäologie der Gewalt (Teilübers.).

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These auf, dass diese Schwäche der Macht kein Ausdruck eines Defizits, eines Mankos sei, entsprechend dem embryonalen Entwicklungsstadium dieser Guayaki-Gesellschaft, sondern dass sie, im Gegenteil, aus einem bewussten und überlegten Kollektivwillen resultierte, die Entstehung einer die Gemeinschaft überragenden Herrschergestalt zu verhindern.40 Er erweiterte seine Argumentation dahingehend, dass die vermeintlich primitiven Gesellschaften alles andere als unvollkommene, archaische, zur Errichtung einer autonomen politischen Sphäre und eines Staates unfähige Gebilde waren, sondern dass sie vielmehr die Klugheit besessen hatten, einer solchen Versuchung zu widerstehen. Es fehlte nicht viel und sie wären zu Vorbildern einer libertären Zukunftsordnung erkoren worden. Daher der Publikumserfolg seines Buches La Société contre l’État. Die Thesen Clastres sorgten seinerzeit für viele Diskussionen unter Anthropologen.41 Man warf ihm insbesondere vor, seine Beobachtungen bei den Guayaki unzulässig verallgemeinert und die Tatsache unterschlagen zu haben, dass zahlreiche primitive Gesellschaften von ebenso autoritären wie brutalen Häuptlingen oder Priestern befehligt wurden, die mitunter das Recht hatten, über Leben und Tod der ihrer absoluten Macht unterworfenen Männer und Frauen zu entscheiden; sodass mithin das Herr-Knecht-Verhältnis in seiner extremsten Form zum Ausdruck kam. Doch interessanter für unser Anliegen ist die Tatsache, dass diese Kommentatoren, egal welcher Ausrichtung, auf die Macht des Gesetzes in der Guayaki-Gesellschaft verwiesen. Die Befehlsgewalt des Häuptlings war ihrer Meinung nach deshalb beschränkt, weil das Gesetz auf unabänderliche Weise die Regeln des Zusammenlebens vorgab. Unabänderlich, weil vermeintlich einer transzendenten Welt entspringend, der der Götter, ergänzt um die der Ahnen. Die Menschen hatten demnach den Guayaki zufolge nichts anderes zu tun, als sich streng an diese überlieferten Regeln zu halten. Regeln, die nicht übertreten werden durften, ohne die Existenz der 40 »Die Macht innehaben bedeutet, sie auszuüben, und sie auszuüben heißt, jene zu beherrschen, über die sie ausgeübt wird. Genau das ist es, was die primitiven Gesellschaften nicht wollen (bzw. nicht wollten), und eben deshalb haben die Häuptlinge bei ihnen keine Macht, deshalb löst sich die Macht nicht von dem einen Körper der Gesellschaft« (Clastres, Archäologie der Gewalt, S. 29). 41 Vgl. zum Beispiel Lapierre, »Sociétés sauvages, sociétés contre l’État«.

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Gesellschaft an sich zu gefährden, da sie das Ergebnis vergangener Erfahrungen waren, die selbst in einer Schöpfung übernatürlichen Ursprungs wurzelten. Es gab also für die Menschen nichts Neues zu erfinden, um richtig zu leben. Die primitive Gesellschaft konnte nur auf einer prinzipiellen Ablehnung jeglichen Wandels basieren, sich nur auf eine radikal konservative Weise verstehen. In diesem Kontext ist die Politik von vornherein ausgeschlossen, da ihre Funktion gerade darin besteht, die Regeln des gesellschaftlichen Lebens ständig zu überdenken und zu korrigieren. Macht auszuüben bedeutet, in der Lage zu sein, diese Regeln zu ändern und sich auf Unvorhergesehenes einzustellen. Befehlen heißt immer auch, sein eigenes Gesetz aufzuerlegen. Der Guayaki-Häuptling brauchte folglich nicht über die Gemeinschaft zu herrschen, er musste lediglich an ein zeitloses Gesetz erinnern, das mit dem identitätsstiftenden Gründungsmythos der Gruppe verschmolz. Er war im wahrsten Sinne des Wortes nur das Sprachrohr dieses Gesetzes: »Aus dem Mund des Häuptlings kommen nicht die Worte, welche die Beziehung von Befehl und Gehorsam sanktionieren würden, sondern die Rede der Gesellschaft über sich selbst, die Rede, durch die sie sich als ungeteilte Gemeinschaft verkündet, sowie der Wille, an diesem ungeteilten Sein festzuhalten.«42 Dass es weder eine politische Sphäre im eigentlichen Sinne noch einen Staat gab, erklärte sich also auch aus der Tatsache, dass die Gesellschaft jeden Konflikt und jede Spaltung in ihrem Inneren verhinderte. Sie konnte sich nur als homogene Einheit begreifen. Wenn sich ein Dissens bei den Guayaki bemerkbar machte, wurde er deshalb durch den Ausschluss aus der Gruppe beigelegt. Das Gesetz der Götter und der Ahnen verlangte zwingend nach Einhelligkeit. Wenn der Mund des Häuptlings keine Befehle verkünden konnte, die einer persönlichen Entscheidung entsprangen, dann weil sein Wort heilig war, denn »[i]n seiner Rede bringt der Anführer niemals seine eigenen Wunschvorstellungen zum Ausdruck oder die Worte seines privaten Gesetzes, sondern einzig und allein das soziologische Begehren nach Ungeteiltheit der Gesellschaft

42 Clastres, Archäologie der Gewalt, S. 28.

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und den Text eines Gesetzes, das niemand festgelegt hat, weil es nicht aus menschlichem Beschluß herrührt.«43 Die Guayaki entgingen somit der Herrschaft eines Häuptlings nur durch blinde Unterwerfung unter ein Gesetz, auf das sie keinen Einfluss hatten. Ihre Befreiung von einer menschlichen politischen Macht wurde mit absolutem Gehorsam gegenüber dem Gesetz der Götter und der Ahnen erkauft. Diese Abhängigkeit wurde übrigens den Jugendlichen im Zuge von Initiationsritualen direkt in die Haut geritzt: »[D]ie Gesellschaft […] schreibt den Text des Gesetzes auf die Fläche der Körper. Denn das Gesetz, welches das soziale Leben des Stammes begründet, darf niemand vergessen.«44 Über diese Rituale wurden der Fortbestand des Gesetzes und die Gleichheit aller in der Abhängigkeit ihm gegenüber sichergestellt. Die Herrschaft wurde somit vollkommen verinnerlicht und blieb hinter dem Anschein einer Gesellschaft ohne Macht verborgen. Die Freiheit der Menschen war somit nur noch reine Rationalisierung der Notwendigkeit und der Wille gleichbedeutend mit dem Respekt vor einem Gebot der Natur und der Götter. Hier Proudhon, dort die Guayaki. Beide verkörperten radikal gegensätzliche Vorstellungen, den Regierungsgedanken durch Rückgriff auf die Herrschaft des Gesetzes zu negieren. Durch Auflösung dieses Gesetzes in die Verträge des Alltags und die Formen der Selbstorganisation einerseits, durch radikale Transzendenz andererseits. Die bösen Geister der politischen Herrschaft und der Asymmetrien der Macht wurden durch ihre Negation aber nur scheinbar ausgetrieben.

43 Ebd., S. 61. »Der Häuptling«, kommentiert Jean-William Lapierre, »hat kein Monopol auf legitime Gewaltanwendung, weil er das Monopol auf den legitimen Sprachgebrauch besitzt und niemand das Wort ergreifen kann, um ihm zu widersprechen, ohne ein Sakrileg zu begehen, das die öffentliche Meinung einhellig verurteilt« (Lapierre, »Sociétés sauvages, sociétés contre l’État«, S. 996–997). 44 Clastres, Staatsfeinde, S. 176. Weiter heißt es: »Das auf den Körper geschriebene Gesetz sagt die Weigerung der primitiven Gesellschaft, sich der Gefahr der Teilung, der Gefahr einer von ihr losgelösten Macht auszusetzen, einer Macht, die sich ihr entziehen würde« (ebd., S. 177, Hervorhebung im Original).

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Herrschaft und Asymmetrie Stattdessen kommt es darauf an, die Bedingungen einer Nicht-Herrschaft der Regierenden über die Regierten bei gleichzeitiger Anerkennung der notwendigen Asymmetrie ihrer Beziehung zu definieren. Eine solche Definition setzt voraus, dass man eine klare Vorstellung von den Mechanismen der Machtvereinnahmung und den permanenten Risiken ihres Wirksamwerdens hat. Darin liegt das ganze Problem bei der Definition einer demokratischen Regierung. Manche haben es für unlösbar erklärt. Das ist die pessimistische These der Theorien demokratischer Oligarchie in ihren beiden wesentlichen Ausformulierunngen: den Theorien der Aristo-Demokratie einerseits, die während der Französischen Revolution entstanden und auf einer Sicht des Wahlvorgangs als Erzeuger von Statusüberlegenheit basieren; und den sogenannten Elitetheorien andererseits, denen zufolge jedes politische System unweigerlich in die Machtdelegation an eine kleine Führungsgruppe mündet.45 Robert Michels meinte, in Organisationen ein ehernes Gesetz ausgemacht zu haben (»Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie«46), und Vilfredo Pareto war der Ansicht, das Leben der Gesellschaften würde wesentlich durch eine Transformationsbewegung dominanter Gruppen bestimmt (»Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten«47). Diese diversen, vermeintlich »realistischen« Theorien beanspruchten gemeinhin nach dem Selbstverständnis ihrer Autoren, objektive Gesetze aufzustellen, denen entgehen zu können eine Illusion wäre. Man kann sie aber auch in einem anderen Sinne verstehen, 45 Vgl. die geraffte Darstellung Raymond Arons: »[I]ch werde […] mich auf eine Theorie beziehen, die heute als die machiavellistische Theorie bekannt ist und die ihren Ausdruck in zahlreichen Werken gefunden hat, so im Allgemeinen Gesellschaftsvertrag [System der allgemeinen Soziologie] von Pareto, in Moscas Die herrschende Klasse oder in Burnhams Die Machiavellisten. Die zentrale Idee dieser Theoretiker ist, in meiner Sprache – das ist aber eine Sprache, die sie akzeptieren würden –, daß jedes politische Regime oligarchisch ist. Alle Gesellschaften, so würden sie sagen, zumindest alle komplexen Gesellschaften, werden von einer kleinen Anzahl Menschen beherrscht; die Regimes unterscheiden sich je nach dem Charakter der machtausübenden Minorität« (Aron, Demokratie und Totalitarismus, S. 92). 46 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, S. 25 (Hervorhebung im Original). 47 Pareto, System der allgemeinen Soziologie, S. 153, § 2053 [im Original »Friedhof der Aristokratien«, AdÜ].

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nämlich als Kartierung der Risiken und Tendenzen, die das demokratische Leben bedrohen. Unter diesem Vorzeichen gebührt ihnen ein Platz in einer Theorie der Demokratie, denn diese Risiken und Tendenzen zu bagatellisieren oder gar zu meinen, sie mit irgendwelchen Zauberformeln ganz beseitigen zu können, läuft auf jeden Fall darauf hinaus, sie zu verschleiern und damit Herrschaft unverständlich oder unsichtbar zu machen. Um zu ermessen, welcher Voraussetzungen es bedarf, um das Projekt einer Integration des Regierens in die Demokratie zu formulieren, muss das Spezifische des Herrschaftsmodus benannt werden, der imstande ist, das Verhältnis von Regierenden und Regierten zu überformen. Man kann es nur richtig verstehen, wenn man es von den Herrschaftstypen unterscheidet, die den Gegenstand der klassischen Analysen von Max Weber und Pierre Bourdieu bildeten. Bei Weber kann man von Statusherrschaft sprechen. Die verschiedenen Figuren, rational-legaler, traditionaler und charismatischer Typ, die er beschreibt, bezeichnen nämlich von den Einzelnen anerkannte und legitimierte Autoritätsformen.48 In jedem Fall liegt ein freiwilliges Gehorsamsverhältnis gegenüber einer Machtinstanz vor. Dieses Einverständnis ist nach Weber’scher Auffassung implizit mit der Prämisse einer unaufhebbaren Trennung zwischen Masse und Eliten verbunden. Bourdieu hingegen interessierte sich vor allem für die Mechanismen, mittels derer es den Herrschenden gelingt, die Beherrschten zur Übernahme ihrer Werte und Normen zu bringen. Man kann in diesem Fall von konditionierender Herrschaft sprechen, die dazu führt, dass diese Normen und Werte als »natürliche« und »objektive« verinnerlicht und somit legitimiert werden.49 Weber behandelt also Institutionen, Bourdieu gesellschaftliche und kulturelle Phänomene. Der Verhältnis von Regierenden und Regierten in der Demokratie passt in keines dieser beiden Bezugssysteme. Es beruht zwar auf einer Asymmetrie, doch haben die Herrschaftsbeziehungen, die möglicher48 Es sei daran erinnert, dass er diese Form der »Herrschaft kraft Autorität« von jener »kraft Interessenkonstellation (insbesondere kraft monopolistischer Lage)« unterscheidet (Bourdieu, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 692). 49 Es handelt sich um eine Herrschaft durch geistige Aneignung einer bestimmten Sicht der sozialen Welt und entsprechender Dispositionen, denen er den Namen Habitus gibt.

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weise aus ihr resultieren, keinen konstitutiven Charakter. Sie gehören nicht zur »Form Regierung« als solcher. Man sollte deshalb besser von Herrschaftseffekten sprechen, die sich in Phänomenen wie Enteignung, Distanzierung, Ausschluss äußern und das Wesen dieser Asymmetrie in Richtung eines Zwangsverhältnisses verändern. Es sind Praktiken, Verhaltensweisen, Organisationsformen und Entscheidungsmechanismen, die hier zur Debatte stehen. Eine intransparente Institution produziert so einen Herrschaftseffekt, auch wenn der Amtsinhaber gewählt worden ist; eine demagogische Sprache erniedrigt den Bürger, auch wenn sie so tut, als würde sie ihm schmeicheln; das Desinteresse an den alltäglichen Sorgen der Bevölkerung kommt einer Negation des Repräsentativsystems gleich; im Verborgenen getroffene Entscheidungen bedeuten praktisch einen Rückfall in die Willkürherrschaft. Die Weber’schen und Bourdieu’schen Herrschaftsbegriffe implizieren eine strukturell notwendige Beziehung, während das Verhältnis von Regierenden und Regierten in der Demokratie nur dann wirkliche Herrschaftseffekte erzeugt, wenn es gestört ist, genauso wie das Repräsentationsverhältnis nur dann in Macht über die Repräsentierten umschlägt, wenn Formen der Manipulation im Spiel sind. Außerdem werden im Unterschied zu den von den beiden Soziologen beschriebenen Herrschaftsphänomenen die Verhaltensweisen der Regierenden von den Regierten nicht gebilligt, wenn sie vom vereinbarten Muster abweichen. In der Demokratie akzeptieren die Bürger keine Regierung, die ein paternalistisches, herrisches oder gottähnliches Verhalten an den Tag legt. Anerkannte Führungspraktiken beinhalten keine Billigung einer hierarchischen Dimension. Darüber hinaus ist die Position einer Regierung stets in gewisser Weise prekär, und ihre Entscheidungen werden oft angefochten. Die Regierten hören nicht auf, wider den Stachel zu löcken und verinnerlichen mitnichten eine Form der Überlegenheit, der sie dann zustimmen. Vielmehr begegnen sie denen, die sie gleichwohl gewählt haben, häufig mit offener Verachtung. In Bezug auf das Verhältnis der Regierten zu den Regierenden hat der Gedanke, »die Macht zu ergreifen«, also keinen Sinn, weil sie über die Wahlen gewissermaßen immer schon ergriffen ist. Ebenso wenig kann er den Anspruch erheben, sich auf dem Wege einer Selbstregierung, die unmöglich ist, zu verwirklichen. Nur über eine Regulierung der Verhaltensweisen und der diversen Handlungs- und Organisations189

muster kann die Macht effektiv wiederangeeignet werden. Eine Theorie demokratischer Emanzipation muss auf dieser Grundlage unter praktischen Vorzeichen formuliert werden.

Demokratie als Eigenschaft Wenn Demokratie eine Form des Regierens und nicht nur ein System ist, muss sie sich durch einen ihr eigenen Modus der Machtausübung definieren. Das Charakteristische an der Exekutivgewalt ist, dass sie sich über ihr Tun bestimmt. Sie ist nicht allein über ihren Status und ihre Funktion zu begreifen, wie im Fall der Institutionen. Dieser Punkt ist entscheidend. Ein Status definiert Entstehungsbedingungen, Aufbauverfahren, Funktionsregeln. Eine Funktion umreißt einen Gegenstand, ein Aktionsfeld mitsamt seinen Grenzen. Status und Funktion sind Bestandteile dessen, was eine Institution oder Behörde definiert. Anhand solcher Kriterien sind die Legislative oder die Judikative angemessen zu charakterisieren. Aber die Exekutive lässt sich nicht allein in diesen Begriffen beschreiben. Die Art ihrer Entstehung, die Bedingungen, unter denen sie ihre Verantwortung wahrnimmt, die Regeln ihres Zusammenspiels mit anderen Gewalten und das Prinzip ihres Funktionierens sind natürlich in den Verfassungstexten festgelegt. Doch die praktische Existenz und Beschaffenheit dieser Gewalt hängen auch von anderen, schwerer formalisierbaren Faktoren ab. Sie sind Funktionen der Zeit und der Praxis. Die Tätigkeit der Exekutive wird folglich nach dem Zustandekommen ihrer Entscheidungen beurteilt und nicht nur nach deren Inhalt. Die Legitimität der Regierenden, oder der Amtsträger im Allgemeinen, hängt deshalb von der Bewertung ihres Verhaltens ab. Zahlreiche Untersuchungen haben eindeutig nachgewiesen, dass die Bürger spontan zu dieser Sicht der Dinge tendieren.50 Die Bürger möchten gehört, um ihrer selbst willen gewürdigt, informiert, mit Respekt behandelt, an Entscheidungen beteiligt werden. Unter diesen Bedingungen sind sie sogar eher bereit, öffentliche Entscheidungen hinzunehmen, die ihnen persönliche Nachteile bringen. Umgekehrt zweifeln sie von vornherein die Fundiertheit politischer Maßnahmen an, wenn sie von Regieren50 Vgl. insbesondere die wichtigen Studien von Tom Tyler. Einen Überblick gibt Tyler, Why People Obey the Law.

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den stammen, deren Entscheidungen schlecht begründet scheinen, weil sie ohne wirkliche Einbeziehung der Betroffenen erarbeitet und umgesetzt wurden.51 Die Bürger träumen nicht von einer direkten Demokratie, im technischen Sinne des Wortes, selbst wenn sie sich wünschen, dass hin und wieder Volksabstimmungen zu speziellen Fragen durchgeführt werden. Was sie wollen, sind Regierende, die kompetent und engagiert ihre Arbeit erledigen und deren vorrangige Sorge dem Gemeinwohl und nicht ihrer Karriere gilt. Sie akzeptieren die Arbeitsteilung zwischen Regierten und Regierenden, erwarten aber, dass diese Bedingungen erfüllt werden, und sind diesbezüglich anspruchsvoll. Die Bürger geben sich mit einer diskontinuierlichen Wahlsouveränität zufrieden, mit dem, was als »unauffällige Demokratie« (stealth democracy) bezeichnet wurde, verabscheuen es aber, wenn die Politiker und Politikerinnen sich vorrangig als Vertreter ihrer Parteien aufführen,52 und bedauern ganz allgemein, dass diese häufig abgeschottet in ihrer kleinen Welt für sich leben. Eine Art des Regierens in ständiger Offenheit wäre das, worauf es ihnen in erster Linie ankäme. Es geht also darum, die Figuren einer solchen Beziehung zu beschreiben, um die demokratische Eigenschaft einer Regierung zu bestimmen. Wir wollen deren drei unterscheiden: Lesbarkeit, Verantwortung und Reaktivität (bevor wir in einem weiteren Teil der Frage nach den persönlichen Eigenschaften der Regierenden selbst nachgehen: Wahrsprechen und Integrität). Sie zeichnen die Umrisse einer Aneignungsdemokratie.

51 Vgl. Pharr, »Official’s Misconduct and Public Distrust«. 52 Vgl. Hibbing/Theiss-Morse, Stealth Democracy.

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Lesbarkeit Der Anbruch der Moderne ist untrennbar verbunden mit der Einführung von Methoden des Lesbar- und Messbarmachens menschlicher Tätigkeiten. Das war im wirtschaftlichen Bereich besonders deutlich zu spüren. So wurde bereits im 14. Jahrhundert die doppelte Buchführung erfunden, die es ermöglichte, eine Beziehung zwischen Soll und Haben herzustellen; ihre Verbreitung folgte den Fortschritten der Warenökonomie und des Kapitalismus. Abgesehen von ihrer Funktion als Verwaltungsinstrument ermöglichte diese Buchhaltung auch, die Tätigkeit eines Geschäftsmanns oder Fabrikanten transparent zu machen und die Beziehungen zu eventuellen Kapital- oder Kreditgebern zu objektivieren, die somit in der Lage waren, die Solidität ihrer Anlagen zu verfolgen und zu beurteilen.53 Darüber hinaus nahm der Begriff der comptabilité schon früh eine doppelte Bedeutung an, die rein passive Vorstellung des »Buchführens« wurde um die aktivere, relationalere Sicht der »Rechenschaftspflicht« ergänzt. Der Begriff der accountability hatte etymologisch gesehen von Anfang an diese Doppelbedeutung. Er leitet sich von einem anglonormannisch-französischen Ausdruck ab, der im 11. Jahrhundert von den Beamten Wilhelms des Eroberers benutzt wurde, in dem Bestreben, die neue Königsmacht und damit auch die Besteuerung auf eine Deklarierung ihrer Güter durch die Besitzenden des Landes zu gründen.54 Losgelöst von dem historischen Beispiel, dem einer der Schlüsselbegriffe des modernen politischen Vokabulars seine Entstehung verdankt, stellte sich somit die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Rechnungsprüfung. Wenn die Macht ein Handeln ist, dann übt derjenige, der Letzteres kontrolliert, ebenfalls eine 53 Zu diesem Thema gibt es eine umfangreiche Literatur. Vgl. das kürzlich erschienene Werk von Soll, The Reckoning. 54 Unter dem Namen Domesday Book. Vgl. Galbraith, Domesday Book: Its Place in Administrative History; und Roffe, Decoding Domesday.

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Macht aus. Und genau auf diesem Wege nahm das Streben nach Demokratie erstmals Gestalt an. Das galt bereits im alten Griechenland, wo neben den Magistraten eine ganze Reihe gewählter Funktionäre, die »Prüfer« [euthynoi], die »Rechnungsbeamten« [logistai], die »Untersuchungsbeamten« [exetastai] und die »Anwälte« [synegoroi], eine wesentliche Rolle spielten.55 Auch später, im mittelalterlichen Europa der Kirchsprengel und städtischen Gemeinden, stellte die Rechnungsprüfung oft eine wichtige Machtfrage dar. Solche Praktiken standen dann im Zentrum der Herausbildung moderner parlamentarischer Institutionen.

Das Auge des Parlaments auf die Regierung England war der zentrale Schauplatz dieser Geschichte. Bereits 1610, vor dem Zyklus der Revolutionen, markierte die Veröffentlichung einer Einnahmen-Ausgaben-Rechnung durch den Premierminister des Königs ein wichtiges Datum. Die Notwendigkeit, die Staatseinnahmen in Kriegszeiten zu erhöhen, wie im Fall des englisch-niederländischen Krieges von 1665–1667, hatte zur Folge, dass die Krone einer systematischeren Kontrolle der Verwendung öffentlicher Gelder durch das Parlament fast automatisch zustimmte. Dieser Krieg führte zur Einsetzung einer Accounts Commission, der Ersten ihrer Art.56 Man sollte sich allerdings vor einer vereinfachenden und verklärenden Sicht dieses Kapitels der Parlamentarismusgeschichte hüten. Denn unabhängig von den Vorbehalten der königlichen Minister hatten die Parlamentarier selbst mitunter Bedenken, diesen Weg einer fortschreitenden accountability einzuschlagen. Für die Konservativen hatte dieses Vorhaben einen revolutionären Beigeschmack, weil es sie an die Bewegung forcierter Staatsmodernisierung während der Bürgerkriegszeit erinnerte.57 Tatsächlich war 1644 ein Vorläufer der Accounts Commission, mit beträchtlich erweiterten Befugnissen gegenüber vorherigen 55 Vgl. Fröhlich, Les Cités grecques et le contrôle des magistrats, und »Remarques sur la reddition de comptes des stratèges athéniens« [vgl. auch Aristoteles, Politik, Sechstes Buch, 1322b 7–12, S. 317, AdÜ]. 56 Vgl. Seaward, »The Cavalier Parliament, the 1667 Accounts Commission and the Idea of Accountability«. 57 Vgl. ders., »Parliament and the Idea of Political Accountability in Early Modern Britain«.

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Modellen, ins Leben gerufen worden, und seine Zuständigkeiten wurden das ganze 17. Jahrhundert hindurch etappenweise erhöht. Andere Parlamentarier fürchteten ganz generell, dass eine finanzielle Kontrolle der Regierung deren Nähe zu den Kammern fördert und damit Gefahr läuft, im Gegenzug zu höheren finanziellen Forderungen zu führen. Die Schaffung einer stärker rechenschaftspflichtigen Regierung verband sich auf diese Weise in den Köpfen mit der Vorstellung des big government. Ein Zusammenhang, der übrigens durch die Praxis bestätigt wurde, da das Steueraufkommen im England des 18. Jahrhundert doppelt so hoch lag wie in Frankreich. Die Errichtung eines parlamentarischen Regimes ermöglichte somit, eine sichtbare Verbindung zwischen der Steuererhebung und den für die Abgeordneten einschätzbaren und im Land bekannten Haushaltsausgaben herzustellen.58 Während die Geheimhaltungspolitik des französischen Absolutismus zu ständigen Steuerrevolten führte. War England das Versuchslabor der accountability, so kam aus Frankreich das erste Manifest, das die Vorzüge finanzieller Transparenz theoretisch begründete. Es stammte aus der Feder Neckers, der mit der Veröffentlichung eines Compte rendu au Roi im Januar 1781 für Furore sorgte. Darin waren zum ersten Mal alle notwendigen Fakten zusammengetragen, um den Staatshaushalt und den Stand der Staatsschulden beurteilen zu können.59 Obwohl mit sperrigen Tabellen gespickt, erregte dieses Werk eine immense Neugier im Land und wurde zum großen Bestseller der Zeit, mit einer Auflage von mehr als 80000 Exemplaren, die in alle Teile des Reiches gelangten. In einem einleitenden »Brief an den König« pries Necker die Vorteile an, die eine solche Publikation dem Land bringen könne. »Ein derartiges Werk wäre, wenn es zu einer dauerhaften Einrichtung würde, von größtem Nutzen. Die Verpflichtung, die eigene Amtsführung offen darzulegen, würde sich auf die ersten Schritte auswirken, die ein Finanzminister auf seinem Karriereweg unternimmt.« Die Offenlegung der Staatsfinanzen sollte somit in seinen Augen eine Art positiven Druck auf die 58 Vgl. dazu den grundlegenden Artikel von Mathias/O’Brien, »Taxation in Britain and France, 1715–1810«. 59 Necker, »Compte rendu au Roi« (1781) (S. 1–5 für die hier wiedergegebenen Zitate aus dem Brief an den König).

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Verwaltung ausüben. Aber auch zu ihrem Schutz dienen. »Die Hoffnung auf eine solche Veröffentlichung«, bemerkte Necker nämlich, »steigert noch das Desinteresse an jenen anonymen Schriften, mit denen man versucht, die Ruhe einer Amtsperson zu stören, und deren Verfasser, in der Gewissheit, dass ein Mann von edler Gesinnung sich nicht dazu herablassen wird, ihnen zu antworten, sein Schweigen benutzen werden, um manche Gemüter durch Lügen zu verwirren.« Ein Segen bereits für die Verwaltung selbst, sollte sich diese Transparenz noch günstiger auf Politik und Gesellschaft auswirken. »Eine solche Einrichtung«, insistierte Necker, »könnte den größten Einfluss auf das Vertrauen der Öffentlichkeit haben.« Denn umgekehrt nähre sich das Misstrauen aus dem »Geheimnis um den Stand der Finanzen«. Diese Herstellung von Vertrauen durch Transparenz war ein häufig wiederkehrendes Thema in den Schriften des Genfers. In seinem Hauptwerk, De l’administation des finances de la France, entwickelte er diesen Gedankengang in aller Ausführlichkeit, wobei er, als Pionier auf diesem Gebiet, die kognitive und zeitübergreifende Dimension des Vertrauens hervorhob, »dieses kostbare Gefühl, das die Zukunft mit der Gegenwart vereint und eine Vorstellung von der Dauerhaftigkeit des Guten und dem Ende der Leiden gibt«.60 »Die Nationen«, erklärte er in diesem Sinne, »ähneln jenen Greisen, die durch eine lange Erfahrung mit menschlichen Irrtümern und Ungerechtigkeiten argwöhnisch und misstrauisch geworden sind.« Doch wenn Transparenz herrsche, »verschwinden die Schwierigkeiten, und man glaubt den Absichten der Beamten«. Necker war ein Freund der Engländer. Er bewunderte die Institutionen jenseits des Ärmelkanals, was ihm seine Widersacher übrigens heftig vorwarfen. Doch mit einem Mal war er selbst den britischen Reformern der Zeit voraus, wie das Hin und Her der Accounts Commission in den 1780er Jahren bezeugt. Der Text hatte deshalb einen enormen Einfluss in Europa – er nahm in Grundzügen einen modernen Staatshaushalt vorweg. Necker legte auch Wert 60 Necker, »De l’administration des finances de la France«, Einleitung, S. 10 (und S. 16 für die beiden folgenden Zitate). Necker unterstützte nachdrücklich die Pläne zur Einrichtung von Provinzialverwaltungen, und zwar aus dem gleichen Grund, dass sie durch mehr Transparenz zur Wiederherstellung des Vertrauens beitragen würden.

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auf die gedruckte Form des Dokuments, damit die Öffentlichkeit es mit eigenen Augen begutachten könne. Als theoretischer Begründer der Vorzüge eines solchen Verfahrens »öffentlicher Bekanntmachung«61 wurde er richtungweisend für die ersten Formulierungen einer Publikumsdemokratie, die das Konzept der Repräsentation um das der Publizität erweiterte. Wenig später, während der Französischen Revolution, wurden die entscheidenden Prinzipien aufgestellt. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 erwähnte ausdrücklich, dass die »Gesellschaft […] das Recht [habe], von jedem Staatsbeamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen« (Artikel 15) und dass jeder Bürger berechtigt sei, die Verwendung der öffentlichen Abgabe zu überwachen (Artikel 14). Formulierungen, die in die Verfassungen von 1791 und 1793 übernommen wurden. Die 1792 gegründete Rechenschaftskommission, die diese Prinzipien in die Praxis umsetzen sollte, war zwar technisch außerstande, solch ehrgeizige Pläne zu verwirklichen, doch ein Anfang war gemacht und eine Richtung vorgegeben.62 Das anschließende 19. Jahrhundert sollte das des parlamentarischen Argusauges auf die Regierung werden. Die Erweiterung der finanziellen Transparenz des Staates ging überall mit einem Aufschwung der repräsentativen Regierung und der Demokratie einher, und die Liberalen identifizierten ihren Kampf für ein fortschrittliches parlamentarisches System mit verbesserten Methoden der Haushaltsdiskussion. Bezeichnenderweise fungierte die Frage der Abstimmung nach speziellen Haushaltskapiteln als Katalysator der Debatten über den Sinn der Repräsentativregierung im Frankreich der Restaurationszeit. Das 1827 durchgesetzte Prinzip der Haushaltserstellung nach speziellen Posten war deshalb ein epochales Ereignis, wobei die kapitelweise Abstimmung des Haushalts 1831 systematisiert wurde. Abstimmung nach sieben Ministerien im Jahr 1814, 52 Posten im Jahr 1827, 116 Kapiteln im Jahr 1831, dann 400 im Jahr 1877 und 933 im Jahr 1911: die Zahlen allein 61 Necker, »Compte rendu au Roi« (1781), S. 13. 62 Die anschließende Zeit des Kaiserreichs zeichnete sich durch Betonung der internen Kontrolle des Staates aus. Als Napoleon I. von der Notwendigkeit einer »aktiven Überwachung« der Verwendung öffentlicher Gelder sprach, betraute er einen Rechnungshof (1807) mit dieser Aufgabe. Das Parlament hatte zu diesem Zeitpunkt aufgehört, eine Kontrollfunktion wahrzunehmen.

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belegen den Fortschritt des parlamentarischen Systems im Land. Unter dem Einfluss dieses Verfahrens entstand ein modernes System der Staatsfinanzen, und der auf der Grundlage eines Finanzgesetzes abgestimmte Haushalt wurde zum numerischen Spiegel der Staatstätigkeit. In seiner verpflichtenden Form symbolisierte er den Beginn eines regulären Steuerstaates. Die Einführung eines geregelten »technischen« Verfahrens ging Hand in Hand mit einem »politischen« Verfahren durch die Veröffentlichung der Zahlen, die die Aufstellung des Haushaltsplans zu einem zentralen Bestandteil der öffentlichen Debatte beförderte. Über den kleinen Kreis der Parlamentarier hinaus sorgte die Diskussion des Finanzgesetzes in der Kammer für Gesprächsstoff im ganzen Land, der Haushalt wurde in der Tagespresse analysiert und gab Anlass zur Verbreitung einer Vielzahl von Broschüren und Pamphleten, in denen sich eine Art Wiederaneignung des Staates durch die Gesellschaft ausdrückte.

Das Auge des Volkes auf seine Repräsentanten Die Forderung nach parlamentarischer Kontrolle der Regierung ging bereits in den Anfängen der Französischen Revolution mit einem Verlangen nach öffentlicher Sichtbarkeit des Tuns der Volksvertreter einher. Noch bevor die Generalstände der Nationalversammlung Platz machten, drängte somit Brissot auf einen Beratungsmodus, »bei dem das Publikum seine Vertreter stets überwachen kann«63, wobei diese Öffentlichkeit in seinen Augen einer Art Teilhabe gleichkam. Als ein Mitglied der Rechten vorschlug, »die Fremden zu entfernen«64, damit die Abgeordneten in Ruhe untereinander beraten könnten, wurde ihm schroff entgegengehalten: »Fremde! Sind denn welche unter uns? Hat die Ehre, die sie Ihnen durch die Ernennung zu ihrem Abgeordneten erwiesen, sie vergessen lassen, dass sie Ihre Brüder und Mitbürger sind? Haben Sie vergessen, dass Sie nur ihre Repräsentanten, ihre Bevollmächtigten sind? Streben Sie danach, sich ihren Blicken zu entziehen, wo Sie ihnen doch Rechenschaft über alle ihre Schritte, alle ihre 63 Brissot, Plan de conduite pour les députés du peuple aux États généraux de 1789. 64 Pierre-Victor Malouet, Beitrag vom 28. Mai 1789, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 8, S. 55. Bei den Zusammenkünften der Generalstände mischte sich in den ersten Monaten häufig Publikum unter die Repräsentanten.

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Gedanken schulden? Mögen unsere Mitbürger uns von allen Seiten umringen, uns bedrängen, ihre Anwesenheit soll uns Inspiration und Ansporn sein.«65 Diese entrüstete Antwort verweist zunächst auf ein interessantes Detail der Wortwahl: Tatsächlich blieb der Begriff Fremde in den parlamentarischen Satzungen Frankreichs wie Englands lange Zeit in Gebrauch, um das Publikum zu bezeichnen, dem gestattet wurde, von den Tribünen aus den Debatten beizuwohnen. Eine Bezeichnung, die nahelegt, dass unter den Parlamentariern von Anfang an ein gewisser Korpsgeist herrschte. Die Rechtfertigung für die Anwesenheit von Publikum resultierte aus einem erweiterten Verständnis von Repräsentation, demzufolge das Mandat in einen permanenten Austauschprozess mit der Gesellschaft eingebettet bleiben sollte. Was bezeugt, dass bereits zu dieser Zeit eine klare Vorstellung von repräsentativer Demokratie, als Mittelding aus reiner Repräsentativregierung und direkter Demokratie, existierte. Bezeichnenderweise waren Frauen, die kein Stimmrecht besaßen, während der Revolution zahlreich auf den Zuschauerrängen vertreten, ein Beleg für die Ausweitung der Repräsentativverfahren, zu denen Letztere beitrugen. Daher die symbolpolitische Bedeutung, die der Frage der Tribünen zukam. Sie stand während der Revolutionszeit im Zentrum der Debatten über die architektonische Gestaltung des Plenarsaals. In seiner berühmten Rede über die Repräsentativregierung vom 10. Mai 1793 erklärte Robespierre die »Zulassung einiger hundert Zuschauer, die in einem engen und unbequemen Raum zusammengedrängt sind«66, für unzureichend. »Die ganze Nation hat das Recht, das Verhalten ihrer Beauftragten zu kennen«, meinte er und folgerte daraus: »Wenn es möglich wäre, müßte die Versammlung der Abgeordneten des Volkes in Gegenwart des gesamten Volkes ihre Beratungen abhalten. Ein großes und majestätisches Gebäude, das zwölftausend Zuschauer faßt, sollte der Sitzungsraum der legislativen Körperschaft sein. Unter den Augen einer so großen Zahl von Zeugen 65 Volney, Beitrag vom 28. Mai 1789, ebd. 66 Robespierre, Ausgewählte Texte, S. 423 (ebd. für das folgende Zitat). Vgl. auch seine Rede vom 10. Februar 1792, in der er die Errichtung eines »majestätischen Gebäudes« auf den Ruinen der Bastille forderte, damit »das Volk mühelos und nach freiem Ermessen herbeiströmen kann, um seine Beauftragten zu hören und zu sehen« (ders., Œuvres de Maximilien Robespierre, Band 8, S. 174).

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würden weder Korruption noch Intrige noch Verrat sich zu zeigen wagen; nur der allgemeine Wille würde zu Rate gezogen, und nur die Stimme der Vernunft und des allgemeinen Interesses würde gehört.«67 Robespierre sprach übrigens anschaulich von »physischer Verantwortlichkeit«, um das Prinzip der Öffentlichkeit voll zur Geltung zu bringen. Faktisch war die Aufnahmekapazität der Tribünen in dieser Zeit aus baulichen Gründen auf wenige Hundert Zuschauer begrenzt. Während der Einschnitt der Revolution das Publizitätsgebot in Frankreich in mancherlei Hinsicht radikalisierte, gingen die Dinge in Großbritannien nur umso langsamer voran. Das 1650, mitten im Bürgerkrieg, erlassene strikte Zutrittsverbot für Fremde wurde in den folgenden zwei Jahrhunderten nicht weniger als sieben Mal bestätigt.68 Die Öffentlichkeit erhielt erst ab 1845 Zugang zu den Debatten des Unterhauses, wobei eine Beschränkung der Plätze auf die Hälfte der Zahl der Parlamentarier beschlossen wurde. Allerdings stand die Architektur der Örtlichkeiten in Westminister einer größeren Präsenz im Wege. Frauen blieben hingegen bis wenige Jahre vor ihrer Zulassung zu Wahlen ausgeschlossen69 und wurden auf Sonderplätze mit beschränkter Sicht verbannt. Auch in allen anderen Ländern wurde im Laufe des 19. Jahrhundert die Frage nach der Größe und Platzierung der Tribünen ausführlich diskutiert, während man gleichzeitig ganz generell davon ausging, dass die Architektur der Gebäude das Primat der Volkssouveränität symbolisch widerspiegeln müsse. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts bezeugten die Parlamentsneubauten in Australien und Deutschland die anhaltende Aktualität dieses Anliegens, obwohl die Fernsehübertragung 67 Ebd. 68 Die Öffentlichkeit hatte Zugang zur Westminster Hall, aber nicht zu den Sitzungssälen. Vgl. Kyle/Peacey, »Public Access to Parliament and the Political Process in Early Modern England«. 69 Anzumerken ist, dass Jeremy Bentham, der in puncto Öffentlichkeit seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war, 1816 diesen Ausschluss in seinem (später noch zu kommentierenden) »An Essay on Political Tactics« ausdrücklich verteidigte. »Die Verlockungen der Beredsamkeit und des Spottes sind gefährliche Instrumente in einer politischen Versammlung. Gewährt Frauen Einlass, und ihr gebt diesen Verlockungen neue Kraft« (Bentham, »An Essay on Political Tactics«, S. 327, Kapitel IV, § 8 – Visitors – mode of admission).

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der Debatten mittlerweile die organisatorischen Voraussetzungen der Publikumspräsenz fast überall verändert hatte. In Canberra wurden zu Beginn der 1980er Jahre die Architekten aufgefordert, in zwei Richtungen zu denken.70 Unter einem rein funktionalen Gesichtspunkt wurde zunächst beschlossen, dass Exekutive und Legislative unter einem Dach residieren sollten, um damit die zunehmende Überlagerung beider Gewalten zum Ausdruck zu bringen. Der Vorrang im Hinblick auf den zur Verfügung stehenden Raum wurde Ersterer zuerkannt, um zu unterstreichen, dass das Parlament weniger als ein Organ zur Kontrolle einer ihm gegenüber verantwortlichen Exekutive gedacht war denn als Gremium zur Sicherung ihrer Macht.71 Ferner wurde unter dem uns hier interessierenden Gesichtspunkt gefordert, dass das Parlament seine Eigenschaft als »Haus des Volkes« (a people place) sichtbar zum Vorschein bringen solle. Der Architekt, der die Ausschreibung gewann, beschloss in diesem Sinne, das Gebäude mit breiten Aussichtsplattformen zu krönen, auf denen die Besucher sich ungehindert bewegen können, während unter ihren Füßen die Repräsentanten tagen. Wichtiger noch, der Bau wurde mit ausgedehnten Innenflächen versehen, die so gestaltet sind, dass die Besucher bis ins physische Zentrum des Gebäudes vordringen können, um auszudrücken, dass es für Blicke offen ist. Einige Jahre später führte die Rückverlegung der deutschen Hauptstadt nach Berlin im Zuge der Wiedervereinigung zum Umbau des alten Reichstags. Die kolossale Struktur des wilhelminischen Gebäudes blieb erhalten, wurde aber ebenfalls mit einer für die Öffentlichkeit über Aufzüge erreichbaren Dachterrasse versehen. Das Originelle an der Konstruktion ist, dass der Sitzungssaal von einer dieser Terrasse aufgelagerten großen Glaskuppel überwölbt wird, sodass die Besucher ihre Repräsentanten unmittelbar im Blick haben. Diese Transparenz wird noch verstärkt durch einen Zylinder aus konvexen Spiegeln im Kuppelinneren, der ins Zentrum des Plenarsaals hinabreicht und damit jedem Betrachter eine panoptische Sicht auf diesen ermöglicht. Diese beiden Modelle, das deutsche und das australische, 70 Vgl. Fewtrell, »A New Parliamentary House: A New Parliamentary Order«. 71 Die Minister sind in Australien gleichzeitig Mitglied des Repräsentantenhauses und des Senats.

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wurden seither mehrfach nachgeahmt, etwa beim flämischen Parlament in Belgien oder beim walisischen in Großbritannien. In beiden Fällen wurden die Architekten von den Bauherrn explizit gebeten, die Idee des open government physisch zu veranschaulichen. Neben dieser physischen Zugänglichkeit der Vertretungsorgane wurde die Veröffentlichung der Parlamentsdebatten für wesentlich erachtet. In Frankreich war diese Form der Publizität bereits seit den frühen Tagen der Revolution prinzipiell anerkannt. Der Moniteur universel etwa präsentierte sich schon in seiner ersten Ausgabe vom 24. November 1789 als »Chronist des Parlamentsgeschehens«72. Allerdings war man zu diesem Zeitpunkt noch weit von einer Veröffentlichung vollständiger Sitzungsprotokolle entfernt. Letztere nahmen erst 1835 die Ausmaße einer umfassenden Wiedergabe an (allerdings mit zahlreichen Ungenauigkeiten). Und erst 1848 genehmigte sich die Nationalversammlung einen stenografischen Dienst, der die Publikation wortgetreuer Verhandlungsprotokolle ermöglichte. Seit den Anfängen der Dritten Republik wurden alle im Parlament zirkulierenden Dokumente (Gesetzesentwürfe, Projekt- und Enqueteberichte) zeitgleich in den Reihen der Annales parlementaires veröffentlicht. Jenseits des Ärmelkanals musste man bis Ende des 18. Jahrhunderts warten, bevor die Parlamentsdebatten in detaillierten öffentlichen Protokollen festgehalten wurden. Zwar kursierten manche Dokumente aus dem Parlamentsbetrieb auch schon vorher, aber zum einen waren sie sehr knapp gehalten, beschränkten sich beispielsweise auf Abstimmungsergebnisse und Tagesordnungen, zum anderen fanden sie jenseits der Mitglieder der beiden Kammern kaum Verbreitung. Im 17. Jahrhundert war es den Parlamentsangestellten sogar noch verboten, sich die geringste Notiz zu machen. Dennoch begannen seit Anfang des 18. Jahrhunderts aufgrund von Indiskretionen mancher Parlamentarier fragmentarische Berichte in die Presse durchzusickern, ohne dass die wiedergegebenen Äußerungen jedoch jemals einem bestimmten Redner zugeordnet worden wären. Das Unterhaus reagierte heftig auf diese ersten Ansätze von Publizität und verhängte 1738 strengste Strafen für die Berichterstattung aus dem Parlament. Mit 72 Gazette nationale, ou le Moniteur universel, 24. November 1789, Auszug aus dem Prospekt.

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einem gewissen Erfolg, wie es scheint, da ein Parlament aus den 1760er Jahren gemeinhin auch als »the unreported parliament« bezeichnet wird.73 Was waren die Gründe dieser Öffentlichkeitsscheu? Sie stützte sich nicht auf reaktionäre Argumente wie das Lob der Geheimhaltung durch die Theoretiker der Staatsräson zur gleichen Zeit in Frankreich. Vielmehr wurde sie von den Parlamentariern, ob Lords oder Mitglieder des Unterhauses, als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit betrachtet.74 Die Kammern stellten privilegierte Körperschaften dar, das heißt, sie verfügten über bestimmte Vorrechte, die sie nicht zu teilen brauchten.75 Ihre Autonomie galt als heiliges Gut, das während der Revolutionszeit hart erkämpft worden war, natürlich in erster Linie gegenüber der Königsmacht, aber auch im weiteren Sinne gegenüber jeder Druck ausübenden Instanz. Somit wurde nicht das Prinzip der Publizität als solches kritisiert, sondern eher die Art seiner Handhabung durch die Presse. Darüber hinaus betrachteten es die »Repräsentanten« als ihre wesentliche Aufgabe, eine verfassungsmäßige Funktion76 wahrzunehmen, und nicht, eine Beziehung zu ihren Mandanten zu unterhalten. Zwar konnten diese beiden Prinzipien durchaus kollidieren, doch handelte es sich dabei weniger um einen Gegensatz zwischen dem Recht auf Geheimhaltung und dem Recht auf Öffentlichkeit als um einen Konflikt zwischen Parlamentsprivileg und Pressefreiheit (auf die sich die Zeitungen bezogen, die die von verschiedenen Seiten zusammengetragenen Informationen veröffentlichten). Die große Debatte über diese Frage fand 1771 im Unterhaus statt, wobei John Wilkes, der 73 Zur Vorgeschichte der Parlamentsöffentlichkeit in Großbritannien vgl. Ilbert, Parliament: Its History, Constitution and Practice; und May, Treatise on the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliaments. 74 Artikel 9 der Bill of Rights von 1689 besagt, »daß die Freiheit der Rede sowie der Inhalt von Debatten oder Verhandlungen im Parlament (proceedings in Parliament) an keinem anderen Gerichtshof oder Orte außerhalb des Parlamentes unter Anklage oder infrage gestellt (empeached or questionned) werden sollte«. Zur Kommentierung dieses Artikels und der Fragen, die er noch bis in die jüngste Zeit aufgeworfen hat, vgl. May, Treatise on the Law, S. 108–115. 75 Genau dieser Punkt wird bei Pole, The Gift of Government, S. 93–113, herausgearbeitet. 76 Zu diesem Verständnis von Repräsentation vgl. Reid, The Concept of Representation; und Pole, Political Representation in England.

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engagierte Kämpfer für die Ausdehnung der Grundfreiheiten in dieser Zeit, als Fürsprecher der Drucker auftrat. Es gelang ihm zwar nicht, seine Kollegen zu überzeugen, dennoch brachen neue Zeiten an, da die Drucker fortan praktisch nicht mehr verfolgt wurden. Allerdings mussten noch Jahrzehnte vergehen, bis wirkliche Verhandlungsprotokolle ungehindert zirkulieren konnten. Erst mit dem Reform Act von 1832 wurde die Veröffentlichung der Parlamentsberatungen wirklich anerkannt, zeitgleich mit einem grundlegenden Umdenken in Sachen Repräsentationsprinzip. Die Kammern ergriffen die notwendigen materiellen Maßnahmen, damit die Presse ihre Arbeit machen konnte, wobei mit dem Hansard eine besondere Vereinbarung getroffen wurde, um die Zuverlässigkeit der Dokumente sicherzustellen. Doch erst 1909 entschlossen sich Unter- und Oberhaus, ihre Unterlagen selbst zu veröffentlichen, da sich ihre Privilegien und das demokratische Bemühen um Öffentlichkeit nun nicht mehr im Wege standen.

Bentham und die Augen der Demokratie Jeremy Bentham war der Erste, der eine wirkliche Abhandlung über die Publizität der Parlamentsgeschäfte verfasste, und zwar im Rahmen seines Essay on Political Tactics.77 Der Begründer des Utilitarismus wird seit dem Erscheinen von Überwachen und Strafen im Jahr 1975 zumeist mit dem Panopticon-Projekt in Verbindung gebracht. Michel Foucault sah nämlich in diesem »Auge der Macht«78 den Prototyp einer neuen Ära der Disziplinarmacht. Doch war Bentham seinerzeit vor allem für die Notwendigkeit eingetreten, das Auge des Volkes zum Wesenselement der demokratischen Moderne zu machen. In diesem Sinne erkannte er dem Publizitätsprinzip vier »Rechtfertigungsgründe« zu. Die erste Funktion der Publizität bestand für ihn darin, einen demokratischen Druck zu erzeugen, »um die Mitglieder der Versammlung zu zwingen, ihre Pflicht zu tun«. »Je größer die Zahl der Versuchungen, denen die Ausübung der politischen Macht unterliegt, umso größer die Notwendigkeit, denen, die sie innehaben, die überzeugendsten Gründe zu liefern, ihnen zu widerstehen. Indessen gibt es 77 »Of Publicity« ist Kapitel II des Essay. 78 Er nahm 1977 an einer Diskussion über das Bentham’sche Panopticon teil, die diesen Titel trug (Foucault, Dits et Écrits, Band 3, S. 250–272).

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keinen beständigeren und umfassenderen Grund als die Aufsicht der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit bildet ein Tribunal, das mächtiger ist als alle anderen Tribunale zusammen.« Eine Institution kann sich nämlich nach Meinung Benthams nicht selbst kontrollieren. Sie kann nicht Richter ihrer selbst sein, da es ihr umso mehr an der nötigen Unvoreingenommenheit gebricht, als sie von einer Logik der Parteienpolarität strukturiert ist. Diese unersetzliche Aufsichtsfunktion der Öffentlichkeit verleihe dem Repräsentativsystem auch eine Dimension ausgleichender Kontinuität, da sie in Permanenz ausgeübt werde, während die Wahlen notgedrungen einen diskontinuierlichen Charakter hätten. Zweitens wirke sich Publizität dahingehend aus, dass sie »das Vertrauen des Volkes und seine Einwilligung in die Maßnahmen der Legislative sicherstellt«. Sie war insofern für Bentham ein Mittel, die Glaubwürdigkeit der Macht zu stärken und ihr Vorgehen zu bestätigen. »Doch was für ein Vertrauen und eine Sicherheit bei einer offenen und freien Politik – und zwar nicht nur für das Volk, sondern für die Regierenden selbst«. Publizität trug für ihn auf doppelte Weise zu dieser Konsolidierung bei. Indem sie zunächst das zersetzende Gift des Argwohns beseitigte: »Der Argwohn hängt stets mit dem Geheimnis zusammen. Er glaubt, ein Verbrechen zu erkennen, wo er einen Hang zur Heimlichkeit entdeckt, und wird selten enttäuscht. Denn wozu sich verbergen, wenn man nicht fürchtet, gesehen zu werden? In dem Maße, wie Unredlichkeit danach strebt, sich in Dunkelheit zu hüllen, muss es der Unschuld darauf ankommen, im hellen Tageslicht zu wandeln, schon aus Angst, mit ihrem Widerpart verwechselt zu werden.«79 Indem sie schließlich, nachdem kontroverse Debatten offen haben vonstatten gehen können, zu einer einvernehmlicheren Beurteilung von Situationen führte. »Einwände sind widerlegt, falsche Gerüchte entlarvt worden; die Notwendigkeit der Opfer, die man dem Volk abverlangt, ist klar erwiesen worden. Die Opposition, mit all ihren Kräften, war der Autorität keineswegs abträglich, sondern im Gegenteil deren wesentliche Stütze. In diesem Sinne kann man trefflich sagen, dass Widerstand stärkt: Denn die Regierung ist des allgemeinen Erfolgs und

79 Bentham, »An Essay on Political Tactic«s, S. 310.

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der öffentlichen Billigung einer Maßnahme sicherer, wenn sie von zwei Parteien diskutiert wurde, während die ganze Nation zuschaute.«80 Drittens war Publizität für den Verfasser des Essay on Political Tactics eine unabdingbare Voraussetzung für ein gut funktionierendes Wahlsystem, weil sie »den Wählern ermöglicht, in Kenntnis der Sache zu handeln«. Wenn wählen heißt, eine Wahl zu treffen, dann gibt es keine bessere als eine sachkundige Wahl. Wenn es an Publizität fehle, würden Zufall und Willkür ihr Gesetz diktieren. Der Mangel an Publizität würde das Ideal, Vernunft und Demokratie zu verbinden, zunichte machen und folglich »Widersprüchlichkeit mit Irrelevanz paaren«. Schlussendlich würde Publizität den Repräsentanten und den Regierenden gestatten, »vom Wissen der Bevölkerung zu profitieren«. »Eine Nation, die zu groß ist, um selbst zu handeln, muss ihre Macht zweifelsohne ihren Vertretern überlassen. Doch werden diese die gesamte Verstandeskraft der Nation auf sich vereinigen? Ist es überhaupt nur möglich, dass die Gewählten die in jeder Hinsicht aufgeklärtesten, fähigsten, klügsten Personen des Landes sind, dass sie allein unter sich das gesamte allgemeine und spezielle Wissen besitzen, das für die Aufgabe des Regierens erforderlich ist? Dieses Wunder der Wahl ist eine Schimäre.« Diese allgemeine Feststellung hatte für ihn auch eine soziologische Dimension. Er war nämlich der Meinung, dass die intellektuell herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit selten das Bedürfnis oder die Mittel hätten, eine politische Karriere einzuschlagen. Nur durch Publizität könne die politische Sphäre somit von ihren Gedanken und Vorschlägen profitieren; sie sei »ein Mittel, um auf das gesammelte Wissen einer Nation zurückzugreifen und infolgedessen nützliche Anregungen zu erhalten«.81 Die Feinde politischer Publizität konnten sich somit für ihn nur drei gleichermaßen verdächtigen Kategorien zuordnen: den Übeltätern, die sich dem Blick eines Richters zu entziehen versuchen; den Despoten, die eine öffentliche Meinung zum Schweigen bringen wollen, deren Stärke sie fürchten; und den Unfähigen, die ihre Untätigkeit ständig mit der vermeintlichen Unentschlossenheit der Öffentlichkeit rechtfertigen.

80 Ebd., S. 311. 81 Ebd., S. 313.

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Reich der Sichtbarkeit und Elend der Lesbarkeit Wo stehen wir diesbezüglich heute? Die von Bentham aufgestellten Prinzipien scheinen in den Demokratien allgemein anerkannt zu sein, bis auf den sprachlichen Unterschied (auf den wir noch zurückkommen werden82), dass inzwischen das Wort »Transparenz« im allgemeinen Sprachgebrauch zum Ausdruck bringt, was man von der sogenannten »offenen Regierung« erwartet. Ein wichtiger Umstand ist auch, dass letzterer Begriff sich beträchtlich erweitert hat. Wurde das Gebot der Lesbarkeit historisch betrachtet zunächst vor allem auf Haushalts- und Finanzfragen bezogen, wird mittlerweile in allen Sphären staatlichen Handelns die Zugänglichkeit von Informationen eingefordert. Einschließlich in Sachen Außen- und Verteidigungspolitik bzw. nachrichtendienstlicher Tätigkeit, Bereichen, die lange als Refugien der Staatsräson galten. Auch das, was man in den USA als »geheimen Staat« bezeichnet, sieht sich dem Verlangen ausgesetzt, sich zu öffnen und dem Parlament wie der Gesellschaft gegenüber Rechenschaft abzulegen.83 Ferner sind es all die »black boxes« staatlicher Entscheidungsfindung, in die der Bürger gerne Einblick erhielte, ob es sich um die Vorgänge in den Ministerien oder die Tätigkeit der Repräsentativorgane handelt. Das demokratische Ideal greift inzwischen immer nachdrücklicher auf die verschiedenen Facetten dieses Imperativs über, um die Formen von Intransparenz zurückzudrängen, die als seine Negation empfunden werden. Doch konstatieren wir zugleich, dass sich die Frage nicht nur unter dem Aspekt eines binären Gegensatzes zwischen Geheimhaltung und Transparenz stellt. Denn problematisch geworden ist auch die Lesbarkeit der Dinge, die ein aktives Interpretationsverhältnis erfordert. Und hier kommt man um die Feststellung nicht herum, dass die Welt sich als unlesbar erweisen kann, während wir unter einer immer größeren Masse verfügbarer Informationen schier zusammenbrechen, und dass die Kluft ebenso groß ist in Bezug auf die immer stärkere visuelle Präsenz von Politikern. Die »Sichtbarkeit« der Politiker hat in der Tat immer mehr zugenommen. Ob als Resultat der »Boulevardisierung« und 82 Vgl. Teil 4, Kapitel 3. 83 Vgl. auf Französisch: Huret, De l’Amérique ordinaire à l’État secret; und RiosBordes, Les Précurseurs sombres.

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ihrer Medien, des Überhandnehmens der Bilder aufgrund der Vermehrung ihrer Produktions- und Distributionskanäle oder auch des wechselseitigen Verlangens nach Sehen und Gesehenwerden84, jedenfalls hat sie die Mächtigen den Bürgern, wenn auch auf zumeist oberflächlichste Weise, näher gebracht. Doch im Gegenzug sind die Institutionen für die Bürger undurchschaubarer, die Entscheidungssysteme unergründlicher, die politischen Strategien unberechenbarer geworden. Kurzum, die Lesbarkeit der politischen Welt hat abgenommen, was ein Gefühl der Entfremdung vom Gemeinwesen nährt. Diese große Kluft zwischen einer Sichtbarkeit, die ihr Reich vergrößert, und einer Lesbarkeit, die regrediert, befördert eine Spannung, die immer mehr Misstrauen und Enttäuschung heraufbeschwört. Diese Situation kehrt die Konstellationen der demokratischen Welt früherer Zeiten um, als die Motive staatlichen Handelns noch lesbarer und verständlicher erschienen, während die Personen kaum in Erscheinung traten.85 Auf diese Weise vollzieht sich eine Art Rückfall in die Zeit des Feudalregimes, als die Macht der Könige sorgfältig inszeniert wurde, während ihr Kabinett die Staatsgeschäfte mit höchster Diskretion und unter Ausschluss der Öffentlichkeit führte. Lesbarkeit und Sichtbarkeit waren schon damals entkoppelt, und zwar ganz bewusst. Ludwig XIV. verkörperte diese Trennung in Perfektion. Nie zuvor war ein König so öffentlich gewesen wie er. Von der Morgenaufwartung bis zur Abendaudienz blieb keine Minute seines Tages für ein Privatleben übrig; selbst seine Mätressen waren bekannt. »Wir sind keine Privatleute«, sagte er über sich selbst und fügte hinzu: »Wir stehen ganz und gar im Dienst der Öffentlichkeit.«86 Diese Sichtbarkeit war zweifelsohne von Distanz geprägt und sollte Distanz schaffen, unter Einsatz jener »Bande der Einbildung«, von denen Pascal sprach.87 Doch wichtig ist vor allem zu betonen, dass diese Zurschaustellung mit einer absoluten Diskretion hinsichtlich des Zustandekommens seiner Entschei-

84 Vgl. Dakhila, Politique People; Street, »Celebrity Politicians«; Thompson, »La nouvelle visibilité«; und Lilti, Figures publiques. 85 Zur Geschichte dieses Wandels vgl. Almeida, La Politique au naturel. 86 Zit. n. Cornette, »Versailles, architecture parlante de l’État absolu«. 87 Und denen er die »Bande der Notwendigkeit« gegenüberstellte [vgl. Pascal, Gedanken, S. 438].

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dungen einherging. Ludwig XIV. zeigte sich viel, aber sagte wenig. Öffentlicher Auftritt und Verschwiegenheit, Glamour und Geheimnis bildeten bei ihm eine Einheit.88 Die Art, wie die namhaftesten Zeitungen dieser Epoche, Le Mercure de France oder La Gazette de France, über das Tun des Königs berichteten, reproduzierte diesen Dualismus. Was öffentlich gemacht wurde, betraf nur, in wenigen Sätzen zusammengefasst, die mondänen Aspekte seines Terminkalenders: »Der König hat heute morgen die Messe besucht«, »Der Hof hat sich nach Marly begeben«, »Der König, die Königin und dieses oder jenes Mitglied der Königsfamilie sind nach Paris gekommen und haben dieses oder jenes getan …« Hingegen war niemals von seiner Außenpolitik oder der Finanzverwaltung des Königreichs die Rede, geschweige denn von den Sitzungen seines Kabinetts. Der Hinweis auf diese Trennung und ihre Geschichte dient dazu, die Bedeutung einer Politik der Lesbarkeit für die Entstehung des demokratischen Lebens hervorzuheben. Die Institutionen und politischen Praxen müssen nämlich lesbar sein, um angeeignet werden zu können. Demokratie besteht in dieser Möglichkeit, während Unlesbarkeit auf eine Form von Enteignung hinausläuft. Die Macht, ihre Mechanismen und Verfahren zu verstehen, ist eine der modernen Arten, sie zu »ergreifen«, um einen der irreführendsten politischen Ausdrücke zu zitieren (denn Macht ist kein Ding, sondern eine Beziehung). Beherrscht zu werden, heißt umgekehrt, auf Distanz gehalten zu werden, Institutionen zu unterliegen, deren Intransparenz und Kompliziertheit quasi einem Entzug der Bürgerrechte gleichkommt. Neben den ersten beiden, oben erwähnten historischen Etappen der Publizität, die des Blicks der Parlamente auf die Regierenden, ergänzt um den Blick der Bürger auf den Parlamentsbetrieb, zeichnet sich vor diesem Hintergrund eine dritte, ambitioniertere Art und Weise ab, Publizität zu verstehen: als Möglichkeit für die Bürger, selbst Einblick in die Funktionsweise staatlicher Institutionen zu nehmen. Man kann sogar sagen, dass es sich hierbei um eine der zeitgenössischen Ausdrucksformen direkter Demokratie handelt. Es geht nicht allein um einen Anspruch auf Informationen, sondern um eine Lesbarkeit, die, um es zu 88 Joël Cornette sprach diesbezüglich zu Recht von der »Doppelnatur« seines Absolutismus.

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wiederholen, eine Fähigkeit zum Interpretieren von Fakten, zum Begreifen von Abläufen beinhaltet. Diese Lesbarkeit ist längst zu einem der Schlüsselelemente des republikanischen Ideals geworden. Denn Unlesbarkeit führt automatisch zu Enttäuschung und Ablehnung. Nichts kann das beispielhafter bezeugen als die europäischen Institutionen. Die wachsende Euroskepsis, für die die spektakuläre Zunahme der Stimmenthaltung bei den Wahlen zum Brüsseler und Straßburger Europaparlament nur einer der deutlichsten Belege ist, scheint tatsächlich unmittelbar mit dem Gefühl der Enteignung zusammenzuhängen, das aus einer solchen Unlesbarkeit resultiert. Sie wurde durch die Tatsache befördert, dass die europapolitischen Diskurse sich zumeist auf ein Europa bezogen, das es nicht gab, auf das sie aber die ganzen Erwartungen projizierten, die auf nationaler Ebene offenbar nicht mehr befriedigt werden konnten. Erwartung eines sozialen Europas, als Schutzmacht in einer globalisierten Welt; Erwartung eines starken Europas, in einer Zeit, in der ihre durchschnittlichen Mitgliedsstaaten Mühe haben, außenpolitischen Einfluss geltend zu machen; Erwartung eines regulierenden Europas, um die Märkte in die Schranken zu weisen. Für die Bürger des Kontinents hat Europa deshalb wenig Ähnlichkeit mit dem, was es wirklich ist. Europa ist der Name, der für eine Enttäuschung steht, nämlich die, dass sich diese Erwartungen nicht erfüllt haben, und Europa ist das unbestimmte Bild einer ausufernden Bürokratie, von der man nicht mehr wahrnimmt als eine ständig wachsende Produktion normativer Auflagen, unterbrochen von mühseligen Gipfeltreffen. Doch das ist nicht Europa, jedenfalls nicht im Kern, ebenso wenig wie es eine Art unvollendeter parlamentarischer Demokratie ist. Die Fortschritte des europäischen Aufbauwerks sind faktisch drei großen Institutionen zu verdanken: der Kommission, dem Gerichtshof und der Zentralbank. Doch diese Instanzen erscheinen den Bürgern auf Anhieb als »black boxes«. Sie wirken unzugänglich, und ihre Mechanismen bleiben undurchschaubar. Es sind die Experten, Richter und Technokraten an der Spitze dieser »unabhängigen Institutionen«, die im Wesentlichen die Macht ausüben, indem sie in einer stetig zunehmenden Zahl von Bereichen die Entscheidungen treffen und die Normen festlegen. Das, was man als das »implizite Modell für Europa« bezeichnen könnte, hat sich im Verborgenen herausgebildet, in kleinen Schritten und ohne dass ein wirk210

liches Nachdenken darüber stattgefunden hätte. Man hat diesbezüglich zu Recht von »unauffälliger Strategie« und »Tarnkappe« gesprochen.89 Denn die europäischen Institutionen verkörpern fast in Reinkultur das Modell einer negativ gewendeten Unpersönlichkeit, die sich jeder Kontrolle zu entziehen scheint. Daher das vage, aber zunehmende Gefühl eines »Demokratiedefizits«. Ein Gefühl jedoch, dass sich mangels Lesbarkeit der Formen und Verständlichkeit der Modalitäten des Brüsseler Umgangs mit seinen Befugnissen nur in dem Verlangen äußern konnte, die Strukturen der klassischen parlamentarischen Demokratie auf die europäische Ebene zu übertragen. Zwar wurden Reformen in diese Richtung unternommen, insbesondere das Europaparlament erhielt durch den Lissabonner Vertrag von 2009 erweiterte Vorrechte. Doch kommen diese Reformen nicht an der Tatsache vorbei, dass die Macht, zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermitteln, nach wie vor beim Rat der Staats- und Regierungschefs liegt und dass die Stimmen der Unionsbürger nicht herangezogen werden können, um das Oberhaupt einer Exekutive zu ernennen. Deshalb hat sich ein Dualismus herausgebildet zwischen den demokratischen Erwartungen und ihrer Formulierung in den traditionellen Begriffen eines repräsentativen Wahlsystems90, die aber nur sehr bedingt anwendbar sind, weil Europa sich nicht in Richtung eines föderalen Staates fortbewegt91, und der »autonomen« Entwicklung der drei großen intransparenten Institutionen, die wirklich »die Macht« ausüben. Europa zu demokratisieren würde beinhalten, das Ausmaß dieser Diskrepanz zu bestimmen, das tatsächliche Funktionieren dieser Institutionen zu beschreiben, sie für die Unionsbürger lesbar zu machen. Und eben auf diesem Wege ihre Demokratisierung voranzutreiben durch die Eröffnung von Debatten über ihre Aufgaben und Befugnisse, 89 Diese Ausdrücke finden sich in dem erhellenden Buch von Vauchez, Europa demokratisieren, S. 85 und 88. 90 Daher die symbolische Bedeutung, die die Durchführung der Volksabstimmungen von 2005 über das Verfassungsprojekt annahm, und das Gefühl verweigerter Demokratie, das sich wegen der letztlichen Annahme eines bloßen Vertrages einstellte. 91 Es sei daran erinnert, dass der europäische Haushalt sich seit den Römischen Verträgen von 1957 kaum verändert hat und sich auf ungefähr 1 % des Bruttoinlandsprodukts aller Mitgliedsstaaten beschränkt.

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durch die Verpflichtung, Rechenschaft abzulegen, durch das Aufbrechen ihrer geschlossenen Entscheidungs- und Führungssysteme, durch den Zwang, ihre Optionen zu begründen und die öffentliche Äußerung abweichender Meinungen aus ihren Reihen zuzulassen.92 Es ist klar, dass Demokratisierung in ihrem Fall nicht die Direktwahl der Amtsträger bedeutet, sondern die Möglichkeit für die Unionsbürger, durch den Zugang zu Informationen und durch öffentliche Debatten die Funktions- und Entscheidungsstrukturen dieser Institutionen zu kontrollieren und zu beeinflussen. Nur durch ein kritisches Verständnis der realen Macht, die sie ausüben, ist es möglich, ihre Richtung zu verändern und sie gleichzeitig in den Kontext nationaler Debatten einzubinden. Abgesehen von dieser exemplarischen Veranschaulichung der politischen Kosten der Unlesbarkeit und einer problematischen Unpersönlichkeit, ließen sich noch viele Beispiele für Strukturen anführen, die derartige Merkmale aufweisen, ob Institutionen im engeren Sinne oder politische Konzepte. Aber Intransparenz hat noch viel verheerendere Folgen, weil sie das Entstehen verschwörungstheoretischer Weltsichten befördert, die für die Demokratie besonders bedrohlich sind.

Die Dämonen der Intransparenz Jeremy Bentham und Benjamin Constant hoben hervor, wie wichtig es ist, durch Publizität das Gift des Argwohns zu neutralisieren. Wir haben Bentham bereits in dieser Sache zitiert. Constant seinerseits betonte, dass ein vor Blicken geschütztes Handeln niemals ganz und gar rechtens sein könne und dass die hinter den Kulissen der Macht getroffenen Entscheidungen stets Gefahr liefen, den »Anschein des Verschwörerischen und Komplizenhaften«93 zu erwecken. »Man bannt die Gefahren nicht, indem man sie den Blicken entzieht. Im Gegenteil, sie vermehren sich in der Dunkelheit, mit der man sie umgibt. Die Gegenstände vergrößern sich in der Finsternis. Im Dunkeln wirkt alles riesig und feindselig.« Die Wahrnehmung dieses Problems hat sich innerhalb 92 Ich folge hier den Anregungen von Vauchez, Europa demokratisieren, S. 17. 93 Constant, De la Responsabilité des ministres, S. 53 (ebd. für das nachfolgende Zitat).

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von zwei Jahrhunderten nachhaltig verändert. In einer Welt, in der sich von allen Seiten ein ununterbrochener Strom von Informationen und Desinformationen, Enthüllungen und Skandalen über uns ergießt, findet der Argwohn gegenüber den Regierenden ständig neue Nahrung. Und zwar umso mehr, als der alte Vertrauensvorschuss gegenüber den Institutionen nicht mehr gilt. Die einstige Akzeptanz von Autorität ist folglich, zumal angesichts des Niedergangs der anderen »unsichtbaren Institutionen«94, in prinzipiellen Argwohn umgeschlagen. Die Gefühle der Undurchschaubarkeit und der politischen Ohnmacht, die viele Bürger empfinden, führen deshalb oft zu Versuchen, dieses Manko durch Pseudorationalisierungen zu kompensieren. Verschwörungstheoretische Weltsichten sind nämlich zunächst nichts anderes als ein Versuch, in einer als unbegreiflich und bedrohlich empfundenen Welt wieder einen Zusammenhang herzustellen.95 Solche Verschwörungstheorien wollen nachweisen, dass sich hinter der vermeintlichen Undurchsichtigkeit und Komplexität der politischen und wirtschaftlichen Erscheinungswelt eine im Grunde vollkommen einfache und rationale Machtordnung verbirgt. Sie geben Ereignissen einen Sinn, als deren Opfer, manipulierte Schachfiguren oder ohnmächtige Zuschauer sich die Einzelnen fühlen. Sie ordnen das Chaos der Welt und versprechen eine Art Wiederaneignung der Geschehnisse, indem sie deren verborgene Urheber entlarven. Die Unlesbarkeit wird derart auf ein organisiertes Verschleierungsunternehmen zum Zweck der Beherrschung und/oder Ausbeutung einfacher Menschen zurückgeführt. Ein Unternehmen, das in der Regel als weltumspannend verstanden wird, um seine Wirkungsmacht zu erklären, und das als regelrechter Motor der Geschichte fungiert.96 Hinter den Kulissen der legalen Institutionen verbirgt sich demnach eine kleine Zahl von Mächten (die auf 94 Die drei »unsichtbaren Institutionen« sind, wie erinnerlich, Autorität, Vertrauen und Legitimität. 95 Die Literatur zu diesem Thema ist beträchtlich. Vgl. für Europa die zahlreichen Arbeiten von Pierre-André Taguieff, sowie Danblon/Loïc (Hg.), Les Rhétoriques de la conspiration; für die Vereinigten Staaten: Knight (Hg.), Conspiracy Theories in American History; und für die arabische Welt: Gray, Conspiracy Theories in the Arab World: Sources and Politics. 96 Für ein aktuelles französisches Beispiel dieser Sichtweise vgl. Soral, Comprendre l’Empire (eines der meistkommentierten Bücher auf amazon.fr).

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Namen wie Trilaterale Kommission, CIA , Illuminati, Weise von Zion usw. hören), bei denen alle Fäden zusammenlaufen. Es genügt, dass einige, leider nur zu reale Fälle von Manipulation aufgedeckt werden, um anschließend alle anderen Situationen in diesem Sinne zu deuten. Diesen Theorien zufolge müssen die Bürger sich dieser von verborgenen Eliten ins Werk gesetzten gigantischen Intrigen bewusst werden und aufhören, sich von der demokratischen Fassade der modernen Politik täuschen zu lassen.97 Man kann diesbezüglich von einer kognitiv-politischen Funktion der Verschwörungstheorien sprechen, einer Funktion der Umkehr eines diffusen Gefühls der Enteignung und der Ursachenbestimmung für die Leiden der Menschheit, die zudem mit einer psychologischen Funktion einhergeht: diese Theorien ermöglichen einfache Antworten auf die Probleme, denen jeder begegnet. Bereits Tocqueville bemerkte in diesem Sinne, dass »[e]ine falsche, dafür aber klare und bestimmte Vorstellung […] in der Welt stets wirksamer sein [wird] als ein richtiger, jedoch verwickelter Gedankengang«.98 Zeiten des Wandels und Momente des Umbruchs sind für die Entstehung solcher Theorien und der Ausbreitung von Gerüchten besonders günstig, als würden die Ereignisse den Bemühungen, sie sich verständlich zu machen, ständig davoneilen. Das ist für das Frankreich des 18. Jahrhunderts gut untersucht worden. Arlette Farge zum Beispiel hat aufgezeigt, dass die zu dieser Zeit in der Bevölkerung kursierenden Gerüchte auf einen impliziten Wunsch der niederen Stände verwiesen, am Gemeinwesen teilzuhaben, und dass sie in ihnen ein Mittel fanden, sich den Mysterien der Macht und den Geheimnissen des Hofes zu nähern.99 Gerüchte haben auf diese Weise oft Gefühle der Angst, der Hoffnung und des Hasses heraufbeschworen und verstärkt.100 Bereits früher führte Marc Bloch die gleiche Analyse in Bezug auf die falschen Nachrichten während des Ersten Weltkriegs durch und gelangte zu dem Ergebnis, dass sie stets aus Kollektivvorstellungen hervorgingen, die bei ihrem Ent-

97 »Das Verschwörungsdenken erscheint«, wie zu Recht betont wurde, »als ein Versuch, die wirkliche Macht hinter dem leeren Ort der demokratischen Macht zu benennen« (Taïeb, »Logiques politiques du conspirationnisme«, S. 275). 98 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 186. 99 Vgl. Farge, »Rumeur«, und dies., Lauffeuer in Paris. 100 Ich entnehme diese Begriffe Ploux, De Bouche à oreille.

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stehen bereits vorhanden waren. Sie bildeten somit eine Art Spiegel, in dem das Kollektivbewusstsein seine eigenen Züge betrachten konnte.101 Bezeichnenderweise waren die Revolutionen in Frankreich und Amerika ebenfalls Blütezeiten für Verschwörungstheorien. In Frankreich wurden nacheinander Freimaurer, Aristokraten, Börsenspekulanten und Girondisten an den Pranger gestellt, um entweder die Nichtverwirklichung des revolutionären Projekts oder seine unheilvollen Auswüchse zu erklären. Solche Beschuldigungen lieferten einfache Antworten auf die Probleme des Landes, die Unbestimmtheiten des demokratischen Ideals blieben ausgeblendet. Jenseits des Atlantiks verbreitete sich in den 1760er und 1770er Jahren die Vorstellung, dass die wachsenden Spannungen mit der britischen Krone nur den geheimen Plänen diabolischer Mächte entspringen könnten, die sich in beiden Ländern gegen die Freiheit verschworen hätten.102 Selbst ein Edmund Burke ging von der Existenz eines im Verborgenen gegen das Volk operierenden »Doppelkabinetts« aus, um das diffuse Unbehagen zu erklären, das sich in den 1770er Jahren der Gemüter bemächtigte.103 Diese Verschwörungstheorien haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine massive Renaissance erlebt. Das ist im Lichte der hier kurz vorgestellten Analyseelemente nicht schwer zu verstehen. Kriege, Finanzkrisen, Terroranschläge haben das Bild einer unberechenbaren und bedrohlichen Welt entworfen. Die Geschichte ist nicht mehr so leicht zu deuten wie zu der Zeit, als noch der Ost-West-Gegensatz die Welt ordnete und sein Gesetz diktierte. Die fortschreitende Globalisierung hat überdies eine Art gesichtsloser Vereinheitlichung erzeugt, geprägt von der anonymen Macht der Märkte und dem Erstarken nicht gewählter Autoritäten aller Art. All das hat die Ereignisse unlesbarer, die Verantwortlichkeiten weniger eindeutig zuordenbar und die wirklichen Orte der Macht schwerer erkennbar gemacht. Gleichzeitig haben sich die Handlungsmöglichkeiten scheinbar reduziert, was ein diffuses Gefühl der Haltlosigkeit verstärkt. Auch das hat dazu beigetra101 Bloch, Réflexions d’un historien sur les fausses nouvelles de la guerre (Wiederabdruck eines 1921 in der Revue de synthèse erschienenen Artikels). 102 Vgl. dazu die klassischen Schriften von Wood, »Conspiracy and the Paranoid Style«, und Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics. 103 Vgl. seine berühmten »Thoughts on the Cause of the Present Discontents« (1770).

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gen, dass die alten magisch-konspirationistischen Weltbilder wieder massiv an die Oberfläche drängen. Der vermehrte Zugang zu einem ununterbrochenen Datenstrom, vor allem über das Internet, hat seinerseits die Glaubwürdigkeit dieser verschwörungstheoretischen Rationalisierungen erhöht, indem er die Entstehung gegensätzlicher Deutungspfade ermöglichte. Tatsächlich hat ein gewisses Informationschaos dazu geführt, dass objektive und überprüfbare Fakten neben bloßen Meinungen und Gerüchten stehen und als gleichwertig behandelt werden.104 Es gibt also nichts Dringlicheres zu tun, als die Institutionen und Entscheidungsmechanismen lesbarer zu machen, um jene Dämonen auszutreiben, die die Fähigkeit der Bürger, zu kritischen und hellsichtigen Akteuren ihrer eigenen Geschichte zu werden, zu zerstören drohen.

Das Recht auf Wissen und die Institutionen der Lesbarkeit Im Verhältnis der Einzelnen zu den Institutionen ist der Kampf um den Erhalt von Informationen stets von entscheidender Bedeutung gewesen. Auch hier beschränkt sich die Frage der Macht nicht allein auf ihren »Besitz«, sondern betrifft die Art der Beziehung zwischen den Verantwortlichen einer Instanz und denen, die in einem praktischen Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen stehen: im Verhältnis von Arbeitnehmern zu Arbeitgebern, Bürgern zu Beamten, Regierten zu Regierenden. Im wirtschaftlichen Bereich zum Beispiel konzentrierte sich die Arbeiterbewegung, nach anfänglichen Aufrufen zur Abschaffung des Lohnsystems (als soziales Unterwerfungsverhältnis), schließlich darauf, Letzteres neu zu strukturieren, im Hinblick auf Löhne, soziale Sicherheit oder Arbeitsbedingungen, aber auch Weitergabe von Informationen über den Gang der Unternehmen. Die Bewegung für »Arbeiterkontrolle« hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Punkt zu einem zentralen Bestandteil ihres Forderungskatalogs gemacht. Open the books, lautete damals das Schlagwort in Großbritannien. Diese Bewegung verlief parallel zu der der Aktionäre und Investoren, denen es darum ging, die wirkliche Situation und die Perspektiven eines Unternehmens einschätzen zu können (in den Verei104 Vgl. dazu Rosanvallon, Science et démocratie; und Bronner, La Démocratie des crédules.

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nigten Staaten markierte ein Gesetz von 1930 den ersten großen Schritt in diese Richtung). Ihr folgte in den 1960er Jahren die Gründung einer ganzen Reihe von Organisationen der Bürgerkontrolle in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Besondere Fortschritte auf diesem Gebiet wurden in den Vereinigten Staaten erzielt, wo man von good government organizations und cause lawyering (juristisches Eintreten für öffentliche Anliegen) zu sprechen begann. Zu dieser Zeit rief Ralph Nader seine Public-Citizen-Bewegung ins Leben, die sich vor allem im Verbraucherschutz engagierte. Common Cause, eine Organisation die zeitweilig bis zu 400000 Mitgliedern umfasste, bildete ihre Aktivisten zur Wahrnehmung von Aufsichtsfunktionen, zum Lobbyismus, zum Sammeln von Daten und zur Erstellung von Argumentationshilfen aus und erzielte einige bedeutende Erfolge bei der Reform der Wahlkampffinanzierung oder der Rechenschaftspflicht. Im kleineren Maßstab machte sich The People’s Lobby die in Kalifornien verfügbaren direktdemokratischen Instrumente zunutze, um organisatorische Reformen in der Lokalpolitik durchzusetzen.105 Derartige Bewegungen gab es in solchem Umfang im Europa dieser Jahre nicht. Das hatte objektive Gründe. Zunächst standen die politischen Parteien zu dieser Zeit den Bürgern noch näher, traten für ihre Interessen ein und waren auch repräsentativer als in Amerika, wo sie sich auf den Status bloßer Wahlmaschinen reduzierten. Außerdem begünstigte der Gedanke, dass ein radikaler Wandel der Gesellschaft noch möglich sei, allgemeinpolitische Mobilisierungen, auf Kosten reformerischer Bestrebungen, die punktueller ausgerichtet waren und deshalb als nachrangig galten. Deshalb konnte das Transparenzgebot in Europa zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet die Energien mobilisieren. Mit dem Drängen der Verbraucher, Informationen über die Zusammensetzung, Zuverlässigkeit oder Sicherheit der Produkte zu erhalten. Mit der Veröffentlichung detaillierterer Firmenbilanzen, der Entwicklung von Zertifizierungs- und Rankingsystemen, der Offenlegung von Managementgehältern, der Erstellung von Sozialbilanzen, 105 Über die amerikanischen public interest groups dieser Zeit vgl. den Überblick von McCann, Taking Reform Seriously. Mein Dank gilt Pauline Peretz, die mich bei der Erstellung einer Dokumentation zu diesem Thema beraten hat. Aus Platzgründen ist es mir nicht möglich, sie hier in vollem Umfang zu nutzen.

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der Kennzeichnung der Produkte: Die Unternehmen wurden strengen Informationsauflagen unterworfen, die ständig zunahmen. Diese Auflagen sind zwar immer noch unzureichend, wie die regelmäßig ausbrechenden Skandale oder Probleme mit dem Zustandekommen und der Qualität der gelieferten Informationen beweisen. Doch gibt es zumindest einen klar umrissenen Kampfplatz. Ganz anders verhält es sich mit staatlichen Institutionen und politischen Strukturen. Deshalb hat die politische Transparenz derzeit einen deutlichen Nachholbedarf gegenüber dem, was in der Wirtschaft üblich ist. Dieser Rückstand ist inzwischen umso spürbarer, als die Parteien sich auf das Wahlkampfterrain zurückgezogen haben und niemand mehr eine Revolution erwartet. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Zunächst die soziologische, in Bezug auf die Entstehungsbedingungen des Kräfteverhältnisses in diesem Bereich. Die Zunahme der Informationspflichten in der Wirtschaft verdankte sich der Vielfalt und Stärke der betroffenen Interessengruppen. Gewerkschaften, Verbraucherverbände, Aktionärsvereinigungen (auch die Aktionärsversammlungen spielten hier eine bedeutene Rolle), die Fachpresse, Steuerbehörden, Audit-Experten: Alle zogen an einem Strang. Anders in der Politik. Die Parteien bilden, da sie abwechselnd an der Macht und in der Opposition sind, keinerlei gemeinsame Front mit den Bürgern. Im Gegenteil, als strukturierende Kräfte der politischen Klasse sind sie die wesentlichen Befürworter von Intransparenz. Das gilt leider manchmal auch für die Beamtenbünde: Ihre Mitglieder empfinden allzu oft die Weitergabe von Informationen als sekundäre Aufgabe, wenn nicht als Anschlag auf ihre Eigenständigkeit. Die regelrechten »Komplikationsverfahren«106, die in den Verwaltungen angewandt werden, tragen gleichzeitig zur Stärkung einer korporatistischen Macht und zur Abschottung der Institutionen bei. Der Einzelne ist also in der Informationsschlacht mit Verwaltung und Politik viel mehr auf sich allein gestellt. Nur zaghaft beginnen sich auf diesem Terrain spezielle Vereinigungen in Europa herauszubilden. Auffallend ist übrigens, dass der Zugang zu Behördendokumenten zunächst fast überall als Individualrecht verstanden wurde. So etwa im 106 Vgl. Sandrine Baume, »La transparence dans la conduite des affaires publiques. Origines et sens d’une exigence«, https://www.raison-publique.fr/article459.html [2. 6. 2016].

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Fall der bahnbrechenden Initiative auf diesem Gebiet, dem 1966 verabschiedeten Freedom of Information Act in den Vereinigten Staaten. Er erhob den Informationszugang der Bürger zu einem Rechtsprinzip und erklärte die Geheimhaltung zur (als solche zu rechtfertigenden) Ausnahme. Dieses Gesetz wurde seither mehrfach gestärkt, insbesondere von der Obama-Administration. In Großbritannien ist seit 2005 eine sehr weitgehende Informationsfreiheit über die Abläufe in Behörden und politischen Institutionen gesetzlich garantiert. In Frankreich sieht die Lage nach wie vor weniger günstig aus. Zwar wurde per Gesetz vom 17. Juli 1978 eine Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten (CADA ) eingerichtet, doch blieb ihre Bedeutung lange begrenzt, und es bedurfte einer Entscheidung des Verfassungsgerichts (Ullmann-Entscheidung vom 29. April 2002), damit dieses Zugangsrecht als eine der »grundlegenden Garantien der Bürger zur Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte« betrachtet wurde.107 Doch heute stehen wir vor einer größeren Herausforderung: Es geht um ein Recht auf Wissen108, das darauf abzielt, die inhaltliche Vorstellung des Bürgerseins als solche zu erweitern. Dieses Recht hat zwei Seiten. Die eine verweist auf das Konzept der offenen Regierung, die andere auf die Idee der lesbaren Gesellschaft. Untersuchen wir zunächst die Frage der offenen Regierung, die heute am kontroversesten diskutiert wird. Man hat den Begriff open data geprägt, um den Eintritt in dieses neue Zeitalter des Informationsrechts und der Demokratie zu bezeichnen. Zwar wird das Prinzip oft gewürdigt, doch der Datenzugang stößt noch allenthalben auf starke Widerstände. Dabei hat der Kampf der Bürger auf diesem Terrain für die Aneignungsdemokratie die gleiche Bedeutung, wie sie die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts für die Ausdrucksdemokratie hatte. Dieser Kampf spielt sich natürlich zunächst auf juristischem Terrain ab. Aber auch auf dem der tatsäch107 Zum Experiment der CADA vgl. Bouchoux/Hyest, »Refonder le droit à l’information publique«. 108 In den Vereinigten Staaten haben zahlreiche Bürgervereinigungen und Verbraucherverbände in diversen Bereichen Kampagnen rund um das Thema »The right to know« durchgeführt (vgl. das bedeutende The-Right-To-Know-Network). Es ist folglich nicht verwunderlich, dass der Gründer der Website Mediapart.fr in Frankreich, Edwy Plenel, sein programmatisches Buch, in dem er seine Auffassung von Journalismus darlegt, Le Droit de savoir betitelt hat.

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lichen Anwendungen, die dem Begriff der Zugänglichkeit erst ihren unmittelbar praktischen Sinn verleihen. Daneben besteht das Gebot, die staatlichen Institutionen zugänglicher zu machen, in ihren funktionalen Abläufen wie in ihrer physischen Beschaffenheit. Denn der Bürger kennt sie nur über den Schriftverkehr, die Schalter und CallCenter. Was die politischen Institutionen im engeren Sinne betrifft, so liegt ihre Arbeit häufig immer noch im Verborgenen. Nehmen wir als Beispiel die französische Nationalversammlung: Die Sitzungen sind öffentlich und werden teilweise im Fernsehen übertragen, alle Dokumente sind verfügbar, doch gleichzeitig ist die zentrale Arbeit der Ausschüsse immer noch weithin unbekannt. Das Konzept der lesbaren Gesellschaft wiederum steht für ein Projekt tatsächlicher Durchdringung der Sozialwelt und der sie regierenden Mechanismen. Es soll den Einzelnen ermöglichen, sich im Rahmen dessen zu verorten, was man reale Bürgerschaft nennen könnte, das heißt, ein Verständnis von den tatsächlichen gesellschaftlichen Beziehungen, den Umverteilungsmechanismen und den Problemen bei der Verwirklichung einer Gesellschaft der Gleichen zu erlangen. Das Ziel ist hier eine über die bloße Verfügbarkeit von Informationen hinausgehende Deutung der sozialen Welt. Offene Regierung und lesbare Gesellschaft definieren zwei Modalitäten einer gesellschaftlichen Wiederaneignung durch die Bürger. Neben den Projekten einer partizipativen Demokratie, die bestrebt sind, die Ausdrucks- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Einzelnen durch Diversifizierung zu bereichern, um die Defizite eines repräsentativen Wahlsystems und seiner Mechanismen zu korrigieren, besteht der Inhalt dieser beiden Perspektiven darin, durch Wissen die Distanz zwischen Regierten und Regierenden sowie zwischen den Regierten untereinander zu verringern. Im Hinblick auf diese beiden Modalitäten zeichnet sich das Recht auf Wissen dadurch aus, dass es die traditionelle Unterscheidung zwischen Menschenrechten (zum Schutz des Individuums) und Bürgerrechten (zur Organisation der Teilhabe am Gemeinwesen) überwindet. Denn es ist ein persönlichkeitsförderndes Recht, dass die Einzelnen in die Lage versetzt, die Welt, in der sie leben, besser zu meistern, und gleichzeitig ein Verstärker bürgerschaftlichen Engagements, indem es die Wahrheit des sozialen Zusammenhalts konkret zum Vorschein bringt. 220

Ein Gemeinschaftsprojekt dieser Art verlangt nach dem Aufbau neuer Bürgerorganisationen, die sich seiner annehmen. Organisationen, die von den Parteien vernachlässigte Funktionen erfüllen. Diese Parteien waren ursprünglich die organisatorischen Schnittstellen des allgemeinen Wahlrechts, nahmen später aber auch andere Funktionen wahr, wie die Moderation der öffentlichen Debatte, die Darstellung sozialer Identitäten, die Produktion von Sinn und die Erhellung der Zukunft. Inzwischen beschränken sie sich jedoch, wie wir bereits ausführlich thematisiert haben, auf ihre primäre Aufgabe der Kandidatenauslese, vollkommen absorbiert vom Mechanismus der Wahlen, eingebunden in ein Wechselspiel von Gehorsam oder Opposition gegenüber der amtierenden Regierung. Sie sind immer noch Dreh- und Angelpunkt, aber nur noch der Genehmigungsdemokratie. Es obliegt nunmehr anderen Instanzen, ihren Teil zur Weiterentwicklung der Betätigungsdemokratie beizutragen. Um den Umfang der zu leistenden Arbeit zu ermessen, ist es wesentlich, den Begriff »Recht auf Wissen« genauer zu bestimmen. Er hat nämlich zwei Dimensionen. Er kann sich einerseits auf die Vorstellung der Geheimnisenthüllung beziehen, die Möglichkeit, an bislang verborgene oder als vertraulich eingestufte Dokumente zu gelangen, oder andererseits auf die des Zugangs zu gewöhnlichen Informationen. Im ersten Fall sind es Whistleblower, Hacker, Insider in Gewissenskonflikten, clevere Journalisten, die auf verschiedenen Wegen an Informationen gelangen, die zuvor aus Gründen der Staatsräson und aufgrund wirtschaftlicher Interessen geheimgehalten wurden. Wenn diese Informationen geeignet sind, Tatsachen zu enthüllen, deren Kenntnis eine Bedeutung für den demokratischen Prozess oder das Verständnis der wirklichen Funktionsmechanismen des Staates hat, werden diejenigen, auf die ihre Publikation zurückgeht, als Vorkämpfer der Demokratie gefeiert. Eine der bedeutsamsten unter den derartigen Enthüllungen im 20. Jahrhundert war die Veröffentlichung der Pentagon Papers 1971 in den Vereinigten Staaten. Dieses Konvolut als »top secret« eingestufter Dokumente über das politische und militärische Engagement der USA in Vietnam109, das Daniel Ellsberg an die New York Times weiter-

109 Vgl. Goodale, Fighting for the Press.

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gab, warf in der Tat ein grelles Licht auf die Diskrepanz zwischen den offiziellen Reden und den Realitäten vor Ort. In einem langen Artikel über dieses Dossier betonte Hannah Arendt, »daß das fundamentale Problem, mit dem uns diese Papiere konfrontieren, das der Täuschung ist«.110 Tatsächlich bewiesen sie, dass die Kriegsführung weitgehend von innenpolitischen Zielen und den Auswirkungen des Konflikts auf das Image des Präsidenten beeinflusst war, dass die Verwicklung des Landes weiter reichte als offiziell zugegeben und dass militärstrategische oder nachrichtendienstliche Hinweise häufig zugunsten medienwirksamer Aktionen oder rein politischer Manöver vernachlässigt wurden. Im 21. Jahrhundert haben die Enthüllungen Edward Snowdens über die Umtriebe der National Security Agency oder die Publikationen auf der Website von Julian Assanges WikiLeaks eine vergleichbare Rolle gespielt. Doch selbst in diesem Bereich der »reinen« Enthüllungen ist immer noch die Fähigkeit, die Dokumente zu analysieren, das ausschlaggebende Faktum. Die Information ist nämlich nichts wert, wenn sie nicht mit der Möglichkeit einer angemessenen Interpretation einhergeht. Dieser Zusammenhang ist noch offensichtlicher, wenn das Recht auf Wissen mit der Tendenz konfrontiert wird, immer voluminösere Sammlungen von Verwaltungsdokumenten aller Art und sich immer höher auftürmende Berge von Statistiken zu publizieren. Dann wird nämlich der data smog zum Problem, das Ertrinken in einer unbeherrschbaren und unstrukturierten Masse von Informationen, was letztlich zu einer neuen Art von Intransparenz führt und tendenziösen Zusammenstellungen, die von Voreingenommenheiten aller Art motiviert sein können, Tür und Tor öffnet.111 Das ist eine neue Form von Despotismus, von der heute die größte Gefahr droht, dass sie nämlich die demokratischen Gesellschaften von innen aushöhlt. In diesem Kontext der Informationsüberflutung hat das Recht auf Wissen nur dann einen Sinn, wenn es auf der Möglichkeit des Verstehens beruht, sodass Lesbarkeit auch zu einem Synonym für Verständlichkeit wird. 110 Arendt, »Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon-Papieren«, in: Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 7. 111 Vgl. die diesbezüglichen Vorbehalte und Warnungen bei Fung/Graham/Weil, Full Disclosure.

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Die Whistleblower stehen derzeit zu Recht hoch im Kurs, und sie verstärkt vor regressiven Zugriffen zu schützen, ist eine der Bedingungen für die Existenzfähigkeit der Demokratie. Doch ist es mittlerweile ebenso unerlässlich, die Funktion des Verständlichmachens hervorzuheben. Auf diesem Gebiet tätig zu werden, ist eine vordringliche Aufgabe. Die Schule kann dazu beitragen. Auch die Medien. Es ist nicht einmal übertrieben zu behaupten, dass deren demokratische Funktion wichtiger denn je geworden ist. Denn in einem von Informationen übersättigten Universum ist ihre Beteiligung an einem Bemühen um Strukturierung und Entschlüsselung unentbehrlich. Sie werden auf diesem qualitativen Umweg ihren zentralen Stellenwert für die demokratische Praxis zurückgewinnen, den sie in rein quantitativer Hinsicht an das Internet verloren haben.112 Das beinhaltet auch eine Rückbesinnung auf die Rolle des »intellektuellen Generalisten«, in einer Zeit, da an den Universitäten und in der Gesellschaft die Figuren des Experten und des Spezialisten dominieren. Parallel dazu scheint es dringend geboten, dass die Bürgerorganisationen ein vielfältiges Spektrum abdecken und sich auf die verschiedenen Bereiche des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens ausdehnen, um zu diesem Bemühen um Verständlichkeit beizutragen. Das wird ihnen nur gelingen, wenn sie sich auf die Vorzüge der Sachlichkeit besinnen, die ihre Glaubwürdigkeit begründen. Es ist also wichtig, dass sich Zentren zivilen Sachverstands bilden, die einen kritischen, wissenschaftlich fundierten Geist an den Tag legen.113 Ihre Reputation wird sich über die Praxis herstellen und ihre jeweiligen Beiträge nach Nutzen und Relevanz gewichten.

112 Ein Stellenwert, der dort, wo diese Medien keine Unterstützung privater gemeinnütziger Stiftungen erhalten können, die Anerkennung dieser Rolle durch öffentliche Subventionen rechtfertigen würde (während die aktuellen Pressesubventionen in Frankreich alle der »Allgemeininformation« dienenden Publikationen gleich behandeln). Vgl. Cagé, Sauver les Médias. 113 In dieser Hinsicht ist es nicht unerheblich, den kritischen Geist, der von der wissenschaftlichen Methode nicht zu trennen ist, von einer relativistischen Sicht zu unterscheiden, für die die Unvollkommenheit des Wissens nicht mit einem Bemühen um mögliche Erkenntnisfortschritte verbunden ist.

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Eine gewisse gesellschaftliche Vorliebe für Intransparenz? Wird das Recht auf Wissen, was die Staatsfunktionen und die öffentliche Verwaltung betrifft,114 von den Regierenden prinzipiell anerkannt, ist gleichwohl festzuhalten, dass das Gros der Gesellschaft, oder die eine oder andere Gruppe, bisweilen einen stillschweigenden Hang zur Intransparenz erkennen lässt. Etwa wenn sich ein Konsens darüber herausbildet, bestimmte »black boxes« des gesellschaftlichen Lebens, beispielsweise im Bereich der Steuer- oder Sozialpolitik, nicht zu öffnen. Nimmt man etwa das französische Steuerwesen, so fällt auf, dass das ganze System auf einem Vorrang indirekter Steuern aufbaut, die weniger sichtbar und spürbar sind, sowie eine Vielzahl von Steuerschlupflöchern aller Art und eine Häufung von Ausnahmeregelungen enthält, kurzum, auf eine gewisse »steuerliche Anästhesie«115 abzielt. Weswegen Bestrebungen, das System grundlegend zu reformieren, auf dumpfen Widerstand stoßen, und zwar nicht nur in den Reihen der Privilegierten, da die a priori unabsehbaren Folgen einer solchen Reform allen potenziell bedrohlich erscheinen.116 Man erkennt daran, dass das Wissen um die soziale Welt nur dann positive Auswirkungen hat, wenn die Revision tatsächlich in die Tiefe geht, um solche aus Unsicherheit resultierenden Vorbehalte und Widerstände zu beseitigen. Man muss sich ferner vergegenwärtigen, dass viele Sozialsysteme bewusst unter einem »Schleier des Nichtwissens« liegen, um den Ausdruck von John Rawls aufzugreifen117. Der Wohlfahrtsstaat, um dieses Musterbeispiel zu nehmen, betrachtet die Problemlagen, derer er sich annimmt – Krankheit, Erwerbslosigkeit, Arbeitsunfälle –, als objektive 114 Wir gehen hier nicht auf die Grenzen ein, die diesem Recht durch den Respekt vor dem Privatleben und die Vertraulichkeit einer ganzen Reihe persönlicher Informationen gezogen sind. Diese Frage steht nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Ebenso wenig behandeln wir die Frage, unter welchen Bedingungen Teile der Privatsphäre von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von öffentlichem Interesse sein können. 115 Im Unterschied zum amerikanischen System. Dieser Punkt wird gut analysiert bei: Morgan/Prasad, »The Origins of Tax Systems: A French-American Comparison«. 116 Vgl. dazu, was den Vorschlägen von Thomas Piketty widerfahren ist. Zu diesem Thema ist der anregende Artikel von Delalande, »L’Économie politique des réformes fiscales«, eine gewinnbringende Lektüre. 117 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971).

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Risiken. Er interessiert sich also nicht für das Verhalten der Einzelnen, sondern für die Situationen, in denen sie sich befinden. Dieser objektive Ansatz trägt zur Legitimation des Systems bei, da die versicherungstechnische Umverteilung, die es vornimmt, als gerecht gilt. Doch wenn man den Schleier des Nichtwissens lüftet, indem man damit anfängt, eine Beziehung zwischen der Lage der Einzelnen und ihrem Verhalten herzustellen, kann das System destabilisiert werden. Gibt es also Fälle, in denen es zur Wahrung des sozialen Friedens oder zur Minimierung von Ausschlussphänomenen besser ist, nicht alles zu wissen? Ich für meinen Teil glaube das nicht, auch wenn es zutrifft, dass die Debatte über Gleichheit und Gerechtigkeit ausgesprochen komplex ist und voraussetzt, dass man die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen sehr gründlich erforscht (was weit über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine Lesbarkeit der Politik zu gewährleisten). Denn das ist ja gerade das Wesentliche an der reflexiven Dimension der Demokratie, dass sie dieses Vorhaben mit aller Konsequenz betreibt, da die Definition von Bürgerschaft und die Kenntnis des Sozialen eine Einheit bilden. Moderne Bürgerschaft impliziert eine Kombination aus Aktivismus und Klarheit. Doch diese Revolution der Klarheit und des Wissens liegt noch vor uns. Sie erfordert und erwartet ihre Akteure.

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Verantwortung »Verantwortung ist die Schuld, die das Vermögen jeder Macht ausgleicht.« Diese Definition118 betont zu Recht, dass Verantwortung in der Politik als Gegenstück zur Ausübung einer Macht verstanden werden muss. Sie begründet den Gedanken einer Schuldanerkennung gegenüber den Vollmachtgebern. Sie kompensiert die Dimension des Verzichts, die in der Delegation einer Aufgabe beschlossen liegt, durch eine fortbestehende Verpflichtung. Sie fällt in den Bereich dessen, was man in der Physik als Rückstellkraft bezeichnet: Sie sorgt dafür, dass die Handlungsmacht eine gewisse Grenze nicht überschreitet und regelmäßig zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Das Prinzip der Verantwortung kann somit nur verstanden werden, wenn man es in den Kontext einer allgemeinen Ökonomie der Stärke und der grundlegenden Anfälligkeit der Demokratie stellt. Das ist eine Art von Übereinkunft, dass der Besitz einer Macht sich zwar unmittelbar aus Wahlen ergibt, ihre Ausübung aber anderen Bewährungs- und Bestätigungsmechanismen unterliegen muss, die ihrerseits dauerhaft wirken. Verantwortung ist deshalb ein tragendes Element der Beziehung zwischen Regierten und Regierenden. Sie gibt Ersteren an Macht zurück, indem sie Letztere zwingt, sich bestimmten Formen von Kontrolle zu unterziehen. Verantwortlich genannt zu werden, heißt, in Verfahren einzuwilligen, die einer solchen Beschränkung Substanz verleihen. Diese Verantwortung kann zweierlei Inhalt haben. Sie bezieht sich zunächst auf den Besitz einer Macht an sich, was zu ihrer Infragestellung führen und in den Rücktritt der Regierung münden kann. Das ist der Bereich der politischen Verantwortung im eigentlichen Sinne. Sie definiert ferner die Verfahren, die dazu dienen, die Ausübung dieser Macht zu bestätigen. Sie kann in diesem Fall entweder als Verantwor118 Aus der Einleitung von Beaud/Blanquer, La Responsabilité des gouvernants, S. 12.

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tung gegenüber der Vergangenheit aufgefasst werden, als Pflicht, sich für die eigenen Taten zu rechtfertigen: Dieser Modus kommt im Begriff der Rechenschaftspflicht zum Ausdruck. Oder auf den Gedanken einer Verpflichtung gegenüber der Zukunft verweisen: »Für eine Sache verantwortlich zu sein, bedeutet, die Macht auf ihre Durchführung zu konzentrieren«, wie in diesem Sinne zusammenfassend formuliert wurde119. Verantwortung fällt hier in die Rubrik einer Befähigungsprüfung. Die Geschichte zeigt uns, dass die Anwendung dieser verschiedenen Verantwortungskategorien der Einführung des allgemeinen Wahlrechts fast überall vorausging. Tatsächlich waren die Regierenden oft gezwungen, sich der von ihnen implizierten Form der Abhängigkeit zu unterwerfen, um leichter die Zustimmung der Regierten zu erhalten. Wir haben ja die Frage der Haushaltskontrolle bereits angesprochen, die das Gebot der Lesbarkeit mit dem der Rechenschaftspflicht verbindet (beide überlagern sich im Begriff der accountability). Doch jetzt müssen wir noch weiter zurückgehen, um den tieferen Sinn der spezifisch politischen Verantwortung zu verstehen, und die ursprüngliche Form untersuchen, die ihre Wahrnehmung in England angenommen hat, nämlich die des Rückgriffs auf ein Strafverfahren, impeachment genannt, das dazu dient, Amtsverfehlungen zu sanktionieren.

Eine englische Erfindung Seit dem ausgehenden Mittelalter hatte das impeachment-Verfahren die Funktion, Fälle von Machtmissbrauch zu ahnden. Zusammen mit dem Habeas-Corpus-Akt galt es als eine der Schlüsselinstitutionen zum Schutz der englischen (zivilen wie politischen) Freiheitsrechte. Burke sah in ihm den »großen Bewahrer der Verfassungsreinheit«120. Der König konnte nicht direkt angeklagt werden: Ob seine Macht als eine göttlichen Rechts angesehen wurde oder sich schlicht aus akzeptierten Erbfolgeregeln ableitete, es galt der Grundsatz, dass er, nach der seinerzeit gängigen Formel, »nichts Falsches tun könne«. Es waren folglich seine Minister, Berater oder hochrangigen Beamten, auf die das impeachment-Verfahren abzielte. Da es nicht zur Diskussion stand, die Ernen119 Baranger, Parlementarisme des origines, S. 25. 120 »Impeachment, that great guardian of the purity of the constitution« (Burke, »Thoughts on the Cause of the Present Discontents«, S. 495).

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nungen des Königs als solche infrage zu stellen, ging es darum, die betroffenen Personen im Rahmen eines Verfahrens anzuklagen (das ist die Bedeutung des Verbs to impeach), das nur ein strafrechtliches sein konnte. Verfolgt wurden somit individuelle Handlungen oder Entscheidungen, keine politischen Ausrichtungen, weshalb das Verfahren anfangs vor allem bei Fällen von Korruption oder Hochverrat zur Anwendung kam. In dieser Strafsache erhob das Unterhaus die Anklage (impeachment), während die Lords als Tribunal fungierten. Dieses Verfahren knüpfte an die älteste Form der parlamentarischen Institution an, den High Court of Parliament. Die Repräsentativfunktion war also von Beginn an untrennbar mit der Aufgabe verbunden, eine gute Regierung zu gewährleisten. Lord Latimer, der Kämmerer des Königs, war 1376 der erste Verurteilte im Rahmen eines solchen Verfahrens,121 das nach und nach zu einer der beiden wesentlichen Kontrollmethoden der Exekutivgewalt durch die Legislative in England wurde (die andere war natürlich die Bewilligung von Steuern). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde das impeachment zu einem relativ geläufigen Verfahren, das aufgrund eines doppelten Wandels allmählich seinen Charakter veränderte. Zunächst, weil es nun vorrangig dazu verwandt wurde, Personen minderen Ranges, wie Richter oder Geistliche, zu verfolgen. Vor allem aber, weil sich die Zahl der inkriminierten Delikte vergrößerte. Zu den high crimes der Korruption und des Verrats, die zunächst im Blickpunkt gestanden hatten, gesellte sich die viel weiter gefasste und unbestimmtere Kategorie der high misdemeanours (Vergehen). Hochstehende Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Königs, wie der Herzog von Buckingham oder Francis Bacon, wurden wegen abuse of official power, neglect of duty, misapplication of funds oder contempt of Parliament’s prerogatives angeklagt. Fälle von misconduct, die nicht immer Verbrechen im rechtlichen Sinne des Wortes waren, sondern sich eher auf politische Fehler oder eine schlechte Amtsführung bezogen. William Blackstone, der große Kommentator der englischen Gesetze, prägte den Begriff mal-administration, um etliche dieser von Dienern der Allgemeinheit begangenen De121 Er wurde der Erpressung, widerrechtlichen Aneignung von Beutegut und militärischer Fehler für schuldig befunden. Die Anklageschrift sprach von »Betrug und Frevel an König und Volk«. Vgl. Plucknett, »The Origin of Impeachment«.

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likte unter eine Kategorie zu fassen und zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei ihnen nicht nur um Verstöße gegen geltendes Recht handelte, sondern um Verletzungen einer bestimmten Vorstellung von Gemeinwohl und öffentlichem Vertrauen.122 Durch diese Anklageerhebungen fungierte das Unterhaus, nach dem Wort von Edward Coke, einem weiteren großen englischen Juristen, als »Großinquisitor der Missstände des Königreichs«123. Auf diese Weise konnte das Parlament Minister entfernen, ohne den Anschein zu erwecken, die königliche Macht infrage stellen zu wollen. Das impeachment-Verfahren wurde somit als Instrument zur politischen Kontrolle der Exekutive durch die Repräsentanten benutzt. Diese Art der Kontrolle behielt allerdings insofern einen archaisch zu nennenden Charakter, als sie die Form eines Strafprozesses annehmen musste. Denn man brachte eine strafrechtliche Verantwortung ins Spiel, um den König politisch unter Zugzwang zu setzen, indem man ihn durch die individuelle Verurteilung seiner Günstlinge, Bevollmächtigten und Minister veranlassen wollte, neue Personen zu ernennen. Dieses Vorgehen erhöhte die Spannungen zwischen dem Souverän und dem Unterhaus und erhitzte die Gemüter so sehr, dass man zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen möglichen Rückfall in den Bürgerkrieg befürchtete. Die englischen Politiker gelangten in diesem Kontext zu der übereinstimmenden Ansicht, dass es im Falle eines zu tiefen Konflikts zwischen Kabinett und Unterhaus besser sei, wenn Ersteres seinen kollektiven Rücktritt einreiche, anstatt über die Einleitung eines impeachment-Verfahrens in eine Kraftprobe hineingezogen zu werden, die mit einer prinzipiellen Gefährdung des königlichen Hoheitsrechts enden konnte. In diesem Kontext entstand das moderne Konzept der politischen Verantwortung. Es hatte eine doppelte Dimension. Es bestand zunächst darin, eine individuelle strafrechtliche durch eine kollektive politische Verantwortung zu ersetzen. Zeitgleich mit den institutionellen Anfängen eines Kabinetts entstanden, das unter Führung eines Premierministers kol122 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Buch IV, Kap. 19. 123 »inquisitor-General of the grievance of the kingdom«, eine Formulierung aus seiner Rede vor dem Oberhaus anlässlich des impeachment von Lionel Cranfield 1624. Diese Rede ist abgedruckt in: Kenyon, The Stuart Constitution, S. 100–102.

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lektive Entscheidungen traf, stellte es die Kritiker des Unterhauses zufrieden und ersparte den Ministern die Aussicht auf einen Prozess, der mit ihrer Enthauptung enden konnte! Es zeichnete sich ferner dadurch aus, einen Konflikt durch freiwilligen Verzicht zu entschärfen. Anstatt sich der Gefahr eines Misstrauensantrags und/oder der drohenden Hinrichtung auszusetzen, boten die Minister lieber ihren Rücktritt an und ermöglichten dem Parlament damit, seine Ziele zu erreichen, ohne den Eindruck eines Verstoßes gegen königliches Hoheitsrecht zu erwecken. Abgesehen von schweren Fällen von Verrat und Korruption geriet das impeachment-Verfahren in der Folge außer Gebrauch. Der Rücktritt von Robert Walpole 1742 sowie der von Lord North 1782 stellten im Übrigen die Wirksamkeit dieser neuen Art der Verantwortungsübernahme unter Beweis.124 Hervorzuheben ist, dass diese Entwicklung mit einer Stärkung der Exekutivbefugnisse einherging. Richtig zu verstehen, was auf Anhieb paradox erscheinen mag, ist in diesem Zusammenhang essenziell. Kommen wir deshalb noch einmal auf die politische Geschichte Britanniens im 18. Jahrhundert zurück. Die Exekutive hatte seinerzeit begonnen, ihre Kompetenzen auf Kosten der königlichen Prärogative zu erweitern.125 Sie war außerdem besser strukturiert: Das Kabinett trat regelmäßig zusammen, um gemeinsame Entscheidungen zu fällen. Der König wiederum hatte erfahren müssen, dass ihm die Ernennung der Minister allmählich immer mehr aufgezwungen wurde. Die Einführung politischer Verantwortung entsprach in diesem Kontext der Billigung einer Form von Verwundbarkeit, die den Ausgleich für eine unabhängiger, stärker und stabiler gewordene Macht bildete.126 Aufgrund dieser erhöhten Anfälligkeit wurde die Exekutive zugleich weniger gefürchtet und konnte sich zu 124 Vgl. zu dieser Geschichte das sehr genau recherchierte Werk von Baranger, Parlementarisme des origines. 125 Die Kritik an der Existenz von königlichen Beratern, die als eine Art »Geheimminister« agierten, also aller Verantwortung enthoben waren, trug im Gegenzug zur Stabilisierung, ja sogar zur Stärkung der Macht der verantwortlichen Minister bei. 126 Zur Komplexität dieser Entwicklung vgl. Baranger, Parlementarisme des orgines. Der Autor weist nachdrücklich darauf hin, dass die Umsetzung des Prinzips politischer Verantwortung sogar als Motor dieser Erweiterung der Exekutive zu betrachten sei.

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erkennen geben, ohne Argwohn zu erregen. Allerdings hatte dieses Konzept der politischen Verantwortung noch nicht die Form eines verbindlichen Regelwerks angenommen. Ob eine solche Verantwortung wahrgenommen wurde oder nicht, hing davon ab, wie der Premierminister den Meinungsstand im Parlament beurteilte, wie er das Risiko eines möglichen impeachment, des Ausbruchs einer irreversiblen Krise oder gar des Rückfalls in eine Bürgerkriegssituation einschätzte. Schrittweise vollzog sich dann der Übergang zum modernen Verständnis des Parlamentarismus, das im 19. Jahrhundert seine volle Entfaltung erlangte. Diese englische Geschichte steht in einem eigentümlichen Kontrast zu der der parlamentarischen Monarchie in Frankreich zwischen 1814 und 1848. Zunächst einmal bildete das Kabinett hier kein organisiertes Kollektiv, das unter der Regie eines Premierministers zur Beratung zusammentrat. Der Begriff der Regierungssolidarität existierte noch nicht, und niemand kam auf die Idee, dass die Minister ein homogenes und autonomes Gremium bilden sollten. Jeder Minister sah sich als Inhaber eines ihm direkt vom König anvertrauten Amtes und fühlte sich zunächst einmal ihm gegenüber zur Loyalität verpflichtet, bevor er sich über seine Beziehungen zum Parlament Gedanken machte. Fast keiner von ihnen zog einen Rücktritt in Betracht, wenn ein von ihm vorgelegter Gesetzesentwurf von der Abgeordnetenkammer abgelehnt worden war. Zweifellos ist in dieser Hinsicht eine Entwicklung zwischen der Restaurationszeit und der Julimonarchie zu verzeichnen. Die Kammer wurde tatsächlich während der Julimonarchie engagierter und anspruchsvoller, und Louis-Philippe achtete mehr als seine Vorläufer auf die Reaktionen der Öffentlichkeit. So stürzten in dieser Zeit drei Kabinette (von fünfzehn) infolge einer Krise, die durch eine Abstimmungsniederlage in der Kammer ausgelöst worden war. Allerdings waren diese Rücktritte mehr internen Meinungsverschiedenheiten unter Ministern über die richtige Strategie geschuldet als der Anerkennung der Tatsache, dass ein Mehrheitsverlust im Parlament »automatisch« zum Sturz des Kabinetts führen müsse. Die Vorstellung, dass es ein »parlamentarisches Vorrecht« in diesem Sinne geben könne, hatte in den Köpfen noch nicht Einzug gehalten. Die Tatsache, dass man nach Revolution und Kaiserreich zur Monarchie zurückgekehrt war, schien die Existenz eines unbestreitbaren kö232

niglichen Rechts auf Ernennung oder Absetzung von Ministern zu beglaubigen,127 selbst wenn die Abgeordnetenkammer ansonsten für sich in Anspruch nahm, eine Kontrollfunktion über das Regierungshandeln und die Staatsführung auszuüben.128 Die Idee der politischen Verantwortung war bis dahin in einem rein taktischen Sinne verwendet worden, nach dem Vorbild dessen, was die Ultra-Royalisten zu Beginn der Restauration in ihrem Kampf gegen die Liberalen vertraten. Einer von ihnen, Vitrolles, ein prototypischer Vertreter des Feudalregimes, formulierte in der Programmschrift seiner Partei die Bedingungen, die das Kabinett einer repräsentativen Regierung seiner Meinung nach zu erfüllen hätte. Er unterschied derer fünf: die Verantwortung der Minister, ergänzt um das Recht auf Parlamentsauflösung; die Notwendigkeit des Kabinetts, sich auf die Mehrheit der Abgeordnetenkammer zu stützen; der Nutzen für den König, Männer zu Ministern zu ernennen, die die Achtung der Abgeordneten genossen; die Einheit des Kabinetts; die Spaltung der Kammer in zwei Parteien. Die Verantwortung der Minister, erklärte er zunächst, sei die oberste Garantie der königlichen Autorität: »Er [der König] muss, um seine Autorität zu sichern, einwilligen, sie immer nur durch Mittelsmänner auszuüben, die mit der Annahme dieser ehrenwerten Aufgabe die Bereitschaft verbinden, sich zu opfern, wenn die Prinzipien und Akte ihrer Amtsführung dazu angetan sind, von der öffentlichen Meinung, gestützt auf die Kraft der Gesetze, angefochten zu werden. Dies nennt man die Verantwortung der Minister, diese Grundbedingung, ohne welche es keine repräsentative Regierung geben kann.«129 Es war die Absicht der Ultra-Royalisten, die zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit stellten, den König auf diese Weise unter Druck zu setzen, um Gehör zu finden und das Land zu regieren. Die Liberalen hatten leichtes Spiel, ihnen ihren Zynismus und ihren »erstaunlichen Gesinnungswandel« vorzuhalten. Pierre-Paul Roger-Collard entgegnete ihnen mit der be127 1839, anlässlich der schwersten Regierungskrise der Julimonarchie, häuften sich die Publikationen der Regimedenker, die die These vertraten, dass die königliche Prärogative in keiner Weise angetastet sei. Vgl. dazu meine Ausführungen in: La Monarchie impossible, S. 149–181. 128 Vgl. zu dieser Unterscheidung, Laquièze, Les Origines du régime parlementaire en France. 129 Vitrolles, Du Ministère dans le gouvernement représentatif, S. 10.

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rühmt gewordenen Replik, dass »an dem Tag, da die Regierung nur aufgrund der Kammermehrheit existiert […], wir uns in einer Republik befinden werden«130. Es ist übrigens erstaunlich, dass einer der führenden liberalen Theoretiker der Zeit, Benjamin Constant, den tieferen Sinn dieser Idee politischer Verantwortung, die schon fast ein Jahrhundert lang in England erprobt worden war, nicht erfasste. Er verstand die Verantwortung der Minister nach wie vor als eine, die nur individueller und strafrechtlicher Natur sein konnte,131 und sah keine Möglichkeit, die Dinge in einer Monarchie, selbst einer liberalen, anders zu denken. Da das Prinzip der politischen Verantwortung in Frankreich nicht zur Geltung kam, mussten Regierung und Mehrheitsmeinung durch Aufstände oder Revolutionen in Einklang gebracht werden. So im Juli 1830, nachdem Karl X. seine Ordonnanzen erlassen hatte, die dem politischem Empfinden des Landes widersprachen (von ihrem freiheitsfeindlichen Charakter ganz abgesehen). Das Gleiche passierte im Februar 1848. Man musste bis zur dritten Französischen Republik warten, bis die politische Verantwortung des Kabinetts gegenüber dem Parlament anerkannt und »auf englische Art« praktiziert wurde.

Von der Banalisierung zum Versagen Das wesentliche Kriterium des parlamentarischen Systems, nach dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts geltenden Verständnis, war somit das einer politischen Verantwortung der Minister gegenüber den gewählten Versammlungen. »Politische Verantwortung«, so lautete ein Resümee, »beinhaltet die Verpflichtung der Regierenden, sich für die in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen im Rahmen eines speziellen, von der Verfassung festgelegten Verfahrens vor dem Parlament zu rechtfertigen.«132 Dieses Modell, das Rechenschaftspflicht (accountability) mit politischer Verantwortung verbindet, hat sich in seiner modernen Form zuerst in England, als »Westminstermodell«133, 130 Pierre-Paul Roger-Collard, Rede vom 12. Februar 1816, nachgedruckt in: Barante, La Vie politique de M. Roger-Collard, S. 217. Nicht umsonst bezeichnete er England als »Republik, die als Monarchie verkleidet ist«. 131 Vgl. Constant, De la Responsabilité des ministres; und Jaume, »Le concept de responsabilité des ministres chez Benjamin Constant«. 132 Ségur, La Responsabilité politique. 133 Vgl. dessen Definition bei: Woodhouse, Ministers and Parliament.

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durchgesetzt, nachdem es dort im 18. Jahrhundert auf pragmatische Weise erprobt worden war. Die Kontroll- und Sanktionsmacht des Parlaments trat schon kurz nach der Wahlreform von 1832, die dazu geführt hatte, öffentliche Meinung und parlamentarischen Ausdruck eindeutiger als in der Vergangenheit zu verbinden, offen in Erscheinung. Eine Macht, die gleichwohl den Premierminister nicht zur bloßen Marionette in den Händen des Parlaments degradierte, da er sich einen Spielraum zur Beurteilung seiner Regierungsfähigkeit bewahrte. Insbesondere stand es ihm frei, den Zeitpunkt seines Rücktritts zu wählen und damit vorzeitige Neuwahlen herbeizuführen (da Parlamentsniederlage und Rücktritt nicht zwangsläufig aneinander gekoppelt waren). Das Westminstermodell hob sich zunächst auf diese Weise vom System der Versammlungsregierung ab, das die Franzosen während der Dritten Republik kennenlernten und bei dem das Kabinett ein relativ passives Werkzeug in den Händen des Parlaments blieb. Daneben unterschied es sich von diesem auf zwei weitere Arten. Zunächst durch den Bezug auf eine Struktur des politischen Lebens, die sich durch das Vorhandensein zweier großer regierungsfähiger, abwechselnd Mehrheit und Opposition bildender Parteien auszeichnete: eine funktionale Differenzierung und ein Rollentausch, die der englischen Politik zugute kamen (während die französische Versammlungsregierung auf ebenso labilen wie kurzlebigen Koalitionen im Rahmen eines fragmentierten Parteiensystems beruhte). Im englischen Kontext verstand sich die Opposition als eine von echter Abstimmungsdisziplin geprägte Anwärterin auf die Macht, als eine Art seitenverkehrtes Ebenbild der Regierung – weshalb im 20. Jahrhundert die Bildung von »Schattenkabinetten« (shadow Cabinets) zu den Strategien der Opposition gehörte. Andererseits war das Verhältnis von Exekutive und Legislative in England mit einer stärkeren Anerkennung der Autonomie und Legitimität der Exekutive verbunden. Laut John Stuart Mill gründete sich dieses Verhältnis auf einen Gegensatz von »oberster Kontrollgewalt« und »aktiver Macht«,134 wobei Letzterer nach seinem Verständnis der praktische Vorrang gebührte, während Erstere einen demokratischen Vor134 Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Die folgenden Zitate sind Kapitel 5, »Über die Repräsentativkörperschaften angemessenen Funktionen«, S. 77–93, entnommen.

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rang genoss (sie müsse, wie er sagte, »ungeteilt in den Händen des Volkes liegen«, während er das Parlament zugleich als »Beschwerdeausschuss der Nation und Kongress der Volksmeinung« ansah). »Die eigentliche Funktion einer Repräsentativversammlung«, so seine Schlussfolgerung, »besteht nicht darin, die Arbeit der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie absolut ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren, die volle Öffentlichkeit aller Regierungshandlungen herzustellen, deren Offenlegung und Rechtfertigung zu erzwingen.« Versammlungsregierung und Westminstersystem wiesen also beträchtliche Unterschiede auf, in praktischer wie in theoretischer Hinsicht. Dennoch teilten sie eine gewisse allgemeine Vorstellung von politischer Verantwortung, die allen modernen Repräsentativregierungen gemeinsam ist. Beide Modelle haben identische Techniken zur parlamentarischen Kontrolle der Exekutive entwickelt, wie Misstrauensvoten, parlamentarische Anfragen, Adressdebatten, Enquetekommissionen. Doch jenseits solcher Unterschiede und Verwandtschaften, die wir hier nicht ausführlicher zu erörtern brauchen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieses Konzept der politischen Verantwortung, wie es über zwei Jahrhunderte hinweg verstanden, institutionalisiert und praktiziert wurde, heute nicht mehr funktioniert. Mehrere Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen, natürlich in je unterschiedlichen Ausmaßen. In erster Linie solche politischer und verfassungsrechtlicher Natur, über die Stärkung der Exekutive. Eine strukturelle Stärkung, die sich überdies auf eine neue immanente Legitimität stützen kann, bedingt durch die Direktwahl der Regierenden, die dort, wo sie eingeführt wurde, ihre Autonomie gegenüber den Parlamenten automatisch erhöht. Die Präsidialisierung der Demokratien wertet die Verantwortung der Gewählten gegenüber den Wählern auf, zu Lasten der politischen Verantwortung vor dem Parlament (und verändert gleichzeitig deren Wahrnehmungsbedingungen). Parallel dazu wurde das Parlament, oder seine Mehrheit, mehr und mehr auf die Rolle einer politischen Stütze der Regierung festgelegt, wobei die Mechanismen des rationalisierten Parlamentarismus dieser Entwicklung nur förderlich waren. Die verfassungsgemäße Wahrnehmung politischer Verantwortung ist daher durch diese diversen Faktoren stark beeinträchtigt worden. Das belegt auch die Tatsache, dass die Fälle einer Herausfor236

derung der Regierungen durch die Parlamente seit den 1970er Jahren stark abgenommen haben, wenn man allein den europäischen Kontinent betrachtet.135 Und noch dazu waren sie häufiger durch den Seitenwechsel eines Teils der Mehrheit bedingt als durch die förmliche Anwendung des Verantwortungsprinzips. Abgesehen von solchen im engeren Sinne politischen und verfassungsrechtlichen Faktoren hing das Versagen der Idee politischer Verantwortung auf diffuse, aber maßgebliche Weise mit dem zusammen, was man als Zuordnungskrise bezeichnen könnte. Der Begriff der Zuordnung bildet die eigentliche Grundlage der traditionellen Auffassung von Verantwortung. Zuordnen heißt nämlich, eine Handlung auf jemanden zurückführen, ihren Urheber benennen zu können.136 Verantwortlich zu sein, heißt, für das zu haften, was einem zuordenbar ist. Das Problem ist, dass diese Definition durch die zunehmende Intransparenz von Entscheidungsprozessen und die immer komplexer werdenden Regierungsstrukturen ins Leere läuft. Es wird immer schwieriger herauszufinden, wer wirklich für eine Entscheidung verantwortlich ist. Es gibt zu viele Beteiligte in jeder Angelegenheit, zu viele strukturelle Verflechtungen im Umgang mit Problemen, als dass der Bürger sich Klarheit verschaffen könnte oder Fehler sich eindeutig zuschreiben ließen.137 Die immer häufigere Ersetzung des (politischen) Begriffs der Regierung (gouvernement) durch den (technokratischen) Begriff der Steuerung (gouvernance) belegt das. Zwei wesentliche Merkmale entsprechen den mit letzterem Begriff assoziierten Regulierungs- und Entscheidungsverfahren. Die fraglichen Entscheidungen erfordern zunächst eine Vielzahl verschiedener Akteure, Formen und Positionen. Private und öffentliche Teilnehmer, ob Firmen oder Vereine, wirken zusammen und interagieren, jeder übernimmt auf seine Weise die Funktion eines »Regierenden«, insofern er über irgendwelche (rechtlichen, medialen oder sozialen) Kompetenzen verfügt, um Druck auszuüben oder zu intervenieren. Die Idee der gouvernance macht also ge135 Mit Ausnahme Italiens vor den Reformen der 2000er Jahre. Vgl. dazu Bidégaray, »Le principe de responsabilité«. 136 Vgl. Ricœur, »Le concept de responsabilité«. 137 Zu diesem Problem der Zuordenbarkeit in einer komplexen Gesellschaft vgl. Thompson, »Moral Responsability of Public Officials«; und Bovens, The Quest for Responsability.

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genüber der Existenz eines einzigen entscheidungsbefugten Akteurs die aktive Rolle eines heterogenen und interaktiven Netzwerks von Teilnehmern geltend, wie es der Begriff der »Zivilgesellschaft« teilweise zum Ausdruck bringt. Ferner werden diese »Entscheidungen« nicht in Form einer eindeutigen Wahl zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt getroffen. Sie resultieren vielmehr aus komplexen iterativen Prozessen. Dabei verliert schon der Begriff der Entscheidung als solcher merklich an Kontur, da die Beziehungen zwischen der Vielzahl involvierter Akteure Teil eines fortlaufenden Beratungs-, Verhandlungs-, Anpassungs- und Kompromissbildungsprozesses sind. Der Eintritt in die »Risikogesellschaft« verschärft diese Zuordnungskrise noch zusätzlich. »Die Risikogesellschaft«, schrieb der Soziologe Ulrich Beck, »ist im Gegensatz zu allen früheren Epochen wesentlich durch einen Mangel gekennzeichnet: der Unmöglichkeit externer Zurechenbarkeit von Gefahrenlagen.«138 Daher die Suche nach neuen Methoden, Verantwortung dingfest zu machen. Zu diesem Zweck haben sich die Bürger mehr und mehr der Justiz zugewandt, ein Vorgang, der sich in seinen Formen und Proportionen natürlich von Land zu Land stark unterscheidet. Um eventuell für einen Verlust entschädigt zu werden, vor allem aber, um das Knäuel der Verantwortlichkeiten zu entwirren und einen Schuldigen zu benennen. Daher rührt die Tendenz zur Kriminalisierung von Regierungs- oder Verwaltungshandlungen.139 Der Blutspendenskandal in Frankreich zu Beginn der 1990er Jahre ist ein deutlicher Beleg für diese Entwicklung.140 Dieser »Hang zum Bestrafen« beschleunigte den Niedergang der genuin politischen Verantwortung, indem er an ihre Stelle trat. Er ermöglichte die Verfolgung behördlicher Entscheidungsträger in einem Kontext, in dem das fatalistische Sichabfinden mit dem Zufallscharakter einer Situation moralisch und gesellschaftlich unzumutbar erschien. Somit wurde den 138 Beck, Risikogesellschaft, S. 300. Aus diesem Grund war der Risikobegriff historisch gesehen mit der Perspektive auf eine Vergesellschaftung von Verantwortung verbunden – ein »Unfall« ist ein zufälliges, nicht zurechenbares Ereignis. 139 Vgl. zu diesem wichtigen Trend Beaud, »La responsabilité politique face à la concurrence d’autres formes de responsabilité des gouvernants«; Garapon/Salas, La République pénalisée; und Behn, Rethinking Democratic Accountability, Kap. »Taking Accountability to the Courts«. 140 Vgl. Beaud, Le Sang contaminé.

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Richtersprüchen mehr und mehr abverlangt, die Rolle einer kollektiven Katharsis zu spielen, indem sie wenn möglich »Schuldige« benannten, da nicht mehr zu erkennen war, dass die Regierenden ihrer politischen Verantwortung durchgängig nachkamen. Wenn die Regierenden diese Verantwortung nicht wahrnehmen, dann nicht allein deshalb, weil sie die Schuld auf andere abwälzen, sondern weil sie deren tieferen Sinn nicht mehr begreifen, der gerade darin besteht, über den Bezug auf ein individuelles Fehlverhalten hinauszugehen. Denn das Kennzeichen eines politisch Verantwortlichen ist seine Bereitschaft, die Konsequenzen einer Angelegenheit zu tragen, in die er nicht direkt involviert war. Von diesem Punkt muss man also ausgehen.

Die politische Verantwortung neu begründen Die politische Verantwortung neu zu begründen, setzt vor allem ein Verständnis dafür voraus, dass ihr Prinzip keiner mechanischen Zuordnungslogik gehorcht. Vielmehr hat es etwas von einer demokratischen Fiktion, die ermöglicht, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu bewahren, indem sie den Eindruck von Straflosigkeit beseitigt, den die Intransparenz und Komplexität von Entscheidungssystemen erzeugen, oder ein Gefühl der Ohnmacht verhindert. Diese Fiktion ist psychologisch und politisch notwendig, denn sie korrespondiert in einem grundlegenden Sinne mit der Tatsache, dass die Demokratie ein System einzuführen beabsichtigt, in dem die Menschen ihr Schicksal meistern. Deshalb entfaltet sie fortan auf persönlicher Ebene ihre größte Stärke. Wenn ein Ereignis von realer oder symbolischer Bedeutung die Öffentlichkeit zutiefst erschüttert, gibt der Rücktritt eines Ministers, als verantwortliche Gestalt, dem politischen Handeln sowie der betroffenen Person und dem Amt, für das sie steht, Sinn und Würde zurück. Der Rücktritt »ermöglicht einer Person, unter gravierenden Begleitumständen die Verfehlungen seiner Behörde auf sich zu nehmen« und damit ein Werk »demokratischer Selbstreinigung« zu vollbringen.141 Eine solche, notgedrungen seltene Geste, die auf einem persönlichen Engagement 141 Beaud/Blanquer, »Le principe irresponsabilité«, S. 39 und 41. Die Autoren sehen im Rücktritt auch »eine Scheinhandlung der modernen Gesellschaften, die simulierte Opferung eines Menschen zum Zweck der Aussöhnung des Kollektivs, der Regierung im engeren, der Gesellschaft im weiteren Sinne«.

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beruht, vermittelt den Bürgern das Gefühl, dass ihre Verzweiflung oder ihr Zorn ernst genommen werden. Insofern liegt hier eine zeitgenössische Erweiterung des Konzepts der politischen Verantwortung vor, die zur Aufrechterhaltung des Glaubens an die Fähigkeit der Demokratie, die Bürger am öffentlichen Leben zu beteiligen, unerlässlich ist. In diesem Fall macht nicht nur der individuelle Modus der Verantwortungswahrnehmung den Unterschied aus, sondern auch die Tatsache, dass es sich um eine Verantwortung gegenüber den Regierten, das heißt der Öffentlichkeit handelt, und nicht um die klassische Verantwortung gegenüber dem Parlament (die wiederum einen zwangsläufig kollektiven Charakter bewahrt). Diese neue Form der »direkten Verantwortung« gegenüber der Öffentlichkeit kann im Gegensatz zur vorherigen nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Denn der Zweck ihrer Ausübung ist der Erhalt jener unsichtbaren Institutionen namens Vertrauen, Autorität und Legitimität. Institutionen, deren Bedeutung unaufhörlich wächst, da Handlungsfähigkeit mehr und mehr auf der Qualität der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten beruht. Diese direkte Verantwortung hat deshalb auch eine Dimension, die man als moralisch bezeichnen könnte. Sie hängt davon ab, in welchem Maße sich die Minister für die Festigung der Demokratie verantwortlich fühlen, bevor sie an ihre eigene Karriere denken (die sie dazu tendieren lässt, die Schuld auf Untergebene abzuwälzen). Dieses Konzept politischer Verantwortung ist für das neue präsidiale Regierungsmodell der Demokratie ebenso zentral, wie es das der Repräsentation für das alte parlamentarische Repräsentativmodell war. Das Gefühl des Erfolgs oder im Gegenteil des Versagens der Demokratie ist inzwischen unmittelbar an die Wahrnehmungsbedingungen dieser neuen Form von Verantwortung gekoppelt, denn sie steht im Zentrum der Vertrauensbildung.

Verantwortung als Rechenschaftspflicht Die Verantwortung gegenüber der Vergangenheit verweist auf drei Beziehungsformen zwischen Macht und Öffentlichkeit: die Vorlage einer Bilanz, die Begründung vorgenommener Handlungen oder getroffener Entscheidungen, die Bewertung durchgeführter politischer Maßnahmen. Erstere Kategorie hat den verschiedenen Ausformungen dieser Art von Verantwortung den Namen gegeben, nämlich accountability 240

oder Rechenschaftspflicht.142 Zusammen mit der Wahrnehmung politischer Verantwortung bildete sie das historische Gerüst für die parlamentarische Kontrollfunktion der Exekutive, deren Geschichte wir kurz nachgezeichnet haben. Nach der engsten und unmittelbarsten Definition des Wortes fällt die Vorlage einer Bilanz in die Rubrik der Lesbarkeit im passivsten Sinne. Allerdings hat das immer detailliertere Verständnis der Haushaltsdaten in ihren verschiedenen Klassifizierungen und Kategorisierungen (Kapitel, Haushaltsplan, Finanzberichtigungsgesetz usw.) ihr eine aktivere Dimension verliehen, da jede Handlung sich in Zahlen ausdrückt. Aufgrund seines vergleichsweise technischen Charakters stellt diese erste Variante der Rechenschaftspflicht bis heute das symbolische und praktische Herzstück der Parlamentstätigkeit dar, selbst wenn ihre Bestandteile eine größere öffentliche Verbreitung erfahren. Die Verantwortung-als-Begründung überträgt dieses Vorgehen auf die Handlungen und Entscheidungen der Exekutive selbst. In diesem Rahmen bekommt die Vorstellung von Demokratie als System, das eine Macht zwingt, sich zu rechtfertigen, einen Sinn. Auf präzisere Weise wurde dieser Aspekt von Verantwortung definiert als »Beziehung zwischen einem Akteur und einem Forum, bei der der Akteur verpflichtet ist, sein Verhalten zu erklären und zu begründen, während das Forum Fragen stellen und ein Urteil fällen kann, dessen Konsequenzen der Akteur tragen muss.«143 Bei dieser Definition sollte man das Augenmerk auf den Begriff Beziehung richten: denn Verantwortung ist eine Form von Interaktion. In dem politischen Rahmen, der uns hier interessiert, äußert sie sich am offensichtlichsten im Verhältnis von Mehrheit und Opposition. Die Opposition hat vorrangig die Aufgabe, das Vorgehen der amtierenden Regierung anzuprangern, ihre Handlungen und Entscheidungen infrage zu stellen: man könnte das sogar als ihre eigentliche demokratische Funktion

142 Zu einer Gesamtbetrachtung der von dieser Kategorie aufgeworfenen Fragen vgl. Bovens/Goodin/Schillemans (Hg.), The Oxford Handbook of Public Accountability. 143 Bovens, »Analysing and Assessing Accountability: A Conceptual Framework«, S. 447.

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bezeichnen.144 Doch das Problem besteht darin, dass die Opposition zu einer Massierung ihrer Kritikpunkte tendiert, um die Berechtigung einer als »allgemein« betrachteten Politik pauschal zu bestreiten. Deshalb empfinden es viele Bürger als notwendig, diese Form der Verantwortungswahrnehmung zu »entpolitisieren«. »Entpolitisieren« ist hier in einem rein technischen Sinne gemeint, als Herauslösung aus dem alleinigen Zuständigkeitsbereich der politischen Parteien. Und das auf mehrere Arten. Zunächst durch Erweiterung des »Forums« auf die Öffentlichkeit, was dieser ermöglicht, sich auf ihre eigene Art einzumischen, über den diffusen Modus der vielen, hauptsächlich von den sozialen Netzwerken gebildeten Foren, aber zwangsläufig auch auf stärker strukturierte Weise, über die Intervention spezieller Bürgerorganisationen. Das Interesse an dieser erweiterten Form von Verantwortungswahrnehmung wird umso größer sein, als die Bürger das Gefühl haben, dass die Wahlkämpfe oder die Parteipolitik nicht oder nicht mehr die einzigen Arenen sind, wo sich die Dinge abspielen und die Sanktionen verhängt werden. Es sind bürgerschaftliche Initiativen aller Art, die mittlerweile das Tribunal der öffentlichen Meinung einberufen, um die Macht unter Anklage zu stellen. Das große Problem, vor dem wir heute stehen, ist das, welche Gestalt wir diesem inzwischen allgegenwärtigen Akteur namens Öffentlichkeit geben sollen. Letztere ist in der Tat der zeitgenössische Ausdruck der Direktdemokratie, nicht im üblichen verfahrenstechnischen Sinne kollektiver Entscheidungsfindung, sondern soziologisch verstanden als unmittelbar tätiger Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität in ihrer Vielfalt. Die Frage an sich ist nicht neu. Schon vor mehr als zweihundert Jahren wurden die ersten Theorien der öffentlichen Meinung in ihrem Konkurrenzverhältnis zur Repräsentation formuliert. Das war einer der großen Topoi des ausgehenden 18. Jahrhunderts, insbesondere der französischen Revolutionszeit.145 Doch das Besondere an der gegen-

144 Zu diesem Verständnis der Oppositionsrolle vgl. meine Ausführungen in La Contre-démocratie; und, in eher rechtlichen Begriffen, die Analysen von CarlosMiguel Pimentel, besonders seinen Überblickartikel »L’opinion ou le procès symbolique du pouvoir«. 145 Ich hatte Gelegenheit, diese Frage in Le Peuple introuvable und La Démocratie inachevée zu diskutieren.

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wärtigen Situation ist, dass die öffentliche Meinung inzwischen eine materielle Existenz besitzt, während sie zuvor nur in Vertretung durch Honoratioren und prominente Persönlichkeiten, politische Organisationen, Vereine, Gewerkschaften sowie die Presse (die eine expressive »Mittlerfunktion« wahrnahm) existierte. Diese unmittelbar materielle Existenz ist ein Produkt des Internets, das folglich als soziale Form und nicht als Medium verstanden werden muss. Doch sie erscheint als zugleich monströs, mannigfaltig und widersprüchlich, als Mixtur aus unsinnigsten Gerüchten und reflektiertesten Überlegungen, als Ausdruck des wirklichen Lebens und Projektion aller Ängste und Phantasmen. Man könnte ganz einfach sagen, dass sie das Volk ist, in der bisweilen negativen Bedeutung, die dem Begriff im 18. Jahrhundert anhaftete.146 Weshalb wir auf die alte Fragestellung zurückgeworfen werden, unter welchen Bedingungen man ihm eine Gestalt, eine vernehmbare Stimme, eine Interventionsmöglichkeit geben kann, damit es zu einem relevanten und effizienten Herausforderer der Macht wird. Wir stoßen hier auf die gleiche Schwierigkeit, wie die, der wir schon anlässlich der Zuordenbarkeit von Verantwortung begegnet sind, nämlich dass bei einer Entscheidung too many hands im Spiel sind. Hier stellt sich das Problem der too many voices.147 Damit die Verantwortung-als-Begründung in vollem Umfang wahrgenommen werden kann, ist es also notwendig, dass nach und nach die Mittel zur Bildung einer öffentlichen Meinung im eigentlichen Sinne gefunden werden. Damit stellt sich erneut die drängende Frage nach der Gründung von Bürgerorganisationen neuen Typs zur Kanalisierung und Strukturierung des gesellschaftlichen Ausdrucks. Wir kommen darauf zurück. Die Verantwortung-als-Bewertung bezieht sich auf die Beurteilung von Effizienz und Effektivität politischer Maßnahmen. Sie besteht darin, einen möglichen Abstand zwischen Absichten und Umsetzungen, das heißt zwischen Worten und Taten zu ermessen. Zum Beispiel, um zu verstehen, warum Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit durch die Schule gescheitert sind oder in welchem 146 Vgl. meine diesbezüglichen Ausführungen in Le Moment Guizot und Le Sacre du citoyen. 147 Mark Bovens bezieht sich seinerseits auf einen Kontext, in dem es too many eyes gibt.

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Umfang die von einer bestimmten Sozialpolitik erwarteten Umverteilungseffekte verfehlt wurden. Misserfolge dieser Art oder das Auftreten unerwünschter Folgen zu verstehen, ist heute von entscheidender Bedeutung. Daher die beträchtliche Ausweitung des Controllingwesens oder der Evaluierung öffentlicher Politik.148 Diese Aufgaben sind komplex und erfordern aufwendige wissenschaftliche Forschungen, um erfolgreich durchgeführt werden zu können.149 Selbst wenn sie nicht ohne Bezug auf ein »Erfahrungswissen« auskommen, um der Komplexität der zu bewertenden Phänomene gerecht zu werden, ist der Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Methoden in diesem Fall unerlässlich. Es führt also kein Weg an der Demokratisierung dieses Typs der Verantwortungswahrnahme durch Evaluierung vorbei. Auch den Medien fällt hier einmal mehr eine wichtige Rolle zu – ebenso wie den Forschern. Diese drei Varianten der Verantwortung-als-Rechenschaftspflicht charakterisierten die historische Rolle der Parlamente. Wir haben allerdings gezeigt, wie sich ihre Wahrnehmungsweise allmählich erweiterte und inzwischen mehr die Direktbeziehung zwischen Regierten und Regierenden beinhaltet. Diese Erweiterung war an eine doppelte Bewegung gekoppelt. In erster Linie den Trend zur »Demokratisierung« der Rechenschaftspflicht – auf diesen Punkt brauchen wir nicht zurückkommen. Aber auch einen Wesenswandel der Parlamente, als diese vornehmlich zu Instrumenten eines parteipolitischen Denkens wurden. Letzteres hat eine positive Rolle bei der Rationalisierung der Oppositionsfunktion gespielt. Zugleich aber hat es manche parlamentarischen Initiativen durch systematische Politisierung, das heißt durch Vereinnahmung einer jeden im Sinne dieser alleinigen Oppositionsfunktion, zum Erlahmen gebracht. Ein solches Denken führt automatisch zu einer Verarmung der »eigentlichen« Parlamentsarbeit, indem es die Unsicherheiten und Unbestimmtheiten bei der Defini148 Nebenbei bemerkt bezieht sich Artikel 24 der Verfassung der Fünften Republik direkt auf diesen Sachverhalt, indem er dem Parlament drei Funktionen zuweist: Es beschließt die Gesetze, es kontrolliert die Arbeit der Regierung, es evaluiert die öffentliche Politik. 149 Sie beanspruchen einen Großteil der Kapazitäten sozialwissenschaftlicher Forschungszentren. Es seien hier als bezeichnendes Beispiel für Frankreich die Ziele und Methoden des Institut des politiques publiques angeführt, das innerhalb der École d’économie de Paris aufgebaut wurde.

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tion des Gemeinwohls ausblendet. Daher die Notwendigkeit für heute, Geist und Form des Parlamentarismus der Anfänge zu reaktualisieren, als er noch von unabhängigen Persönlichkeiten geprägt war und sich auf Überwachungs-, Untersuchungs-, Beratungs- und Bewertungsaufgaben konzentrierte – aber dieses Mal in einem erweiterten und demokratisierten Rahmen. In diese Richtung gehen beispielsweise manche aktuellen Überlegungen zur Modernisierung von Institutionen wie dem Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat in Frankreich. Sie decken sich mit anderweitigen Befunden über den notwendigen Ausbau der Öffentlichkeit zur organisierten Zivilgesellschaft. Hier ist eine grundlegende Lösungsstrategie zu entwickeln, damit die Verantwortungswahrnehmung in vollem Umfang zum Tragen kommen kann.

Verantwortung als Verpflichtung gegenüber der Zukunft Die Frage nach der Verantwortung zu stellen, heißt schließlich, sich mit der Frage des Willens und der Veränderungsfähigkeit zu befassen. Man kann nämlich nicht verantwortlich gemacht werden, wenn man gar nicht in der Lage ist, Einfluss auf die Welt zu nehmen. Die Begriffe Macht und Verantwortung hängen notgedrungen zusammen. Im klassischen Parlamentsmodell verkörperte die Investiturabstimmung diese Dimension. Ihr Zweck war, das Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung zu untermauern, die kommenden Prüfungen zu meistern und ihr Programm zu verwirklichen. Man sprach deshalb gemeinhin auch von einem »Vertrauensvotum«. Das ist eine wesentliche Dimension der genuin politischen Verantwortung, auf die Max Weber großen Wert legte.150 Im Zeitalter des rationalisierten Parlamentarismus ist es üblich geworden, zumindest in Frankreich, die einstige Pflicht, sich die Zustimmung des Parlaments einzuholen, bevor man an die Arbeit ging, für unwichtig zu erachten, als müsse sich das Vertrauen, für die Zukunft gewappnet zu sein, nicht mehr auf diesem Wege ausdrücken. Wie man mittlerweile in diesem Sinne festgestellt hat, »fühlen sich die 150 Vgl. seinen berühmten Vortrag von 1919, Weber, »Politik als Beruf«. Er betonte die überragende Bedeutung dieser »Verantwortung vor der Zukunft«, die für ihn die Schlüsselfrage im besiegten Deutschland war, während die meisten Debatten auf die Ursachen der Niederlage und die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch fokussiert blieben.

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Minister den Parlamentariern gegenüber als Fremde, sie schulden ihnen nichts«151. Der Segen des Präsidenten reicht ihnen. Tatsache ist auch, dass sich die Frage des Willens in der Politik grundlegend verändert hat. War sein früherer Ausdruck auf die Herbeiführung eines Machtwechsels oder ein Streben nach Gesellschaftsveränderung ausgerichtet, also in ein globales Verständnis von Handlungsfähigkeit eingebettet, wird er inzwischen sachlicher und momentbezogener beurteilt. Genauso wie von einer Zuordnungskrise kann man heute auch von einer Willenskrise sprechen. Davon zeugt die Intensität des Ohnmachtsgefühls, das die Bürger allenthalben an der Fähigkeit der Regierenden zweifeln lässt, die Wirklichkeit zu beeinflussen. Diese Frage steht im Mittelpunkt der aktuellen Demokratieverdrossenheit. Will man Verantwortung für die Zukunft übernehmen, muss man diesem Gefühl, das die Demokratie untergräbt, all die Aufmerksamkeit schenken, die es verdient. Jenseits aller billigen Kritik152 an einer politischen Klasse, der man vorwirft, den Dienst am Gemeinwohl zu vernachlässigen oder sich blind der neoliberalen Ideologie zu unterwerfen, liegt hier ein ernstes Problem vor. Wie soll man damit umgehen? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Einerseits durch eine Rhetorik des Voluntarismus und des Optimismus oder durch die Vorspiegelung, alles im Griff zu haben, wie es zumeist der Fall ist. Andererseits durch das defätistische Eingeständnis einer unüberwindlichen Ohnmacht oder Unfähigkeit: »Wir haben alles versucht«, »mehr kann man nicht tun«. Der Bereich der Arbeitsmarktpolitik steht exemplarisch für diese beiden Haltungen und Diskursstrategien. Erwähnt sei auch, dass sich gleichzeitig Zukunftsvisionen vermehren, die die Frage des Willens ausklammern oder nur negativ beantworten. Die traditionalistische Sicht von gestern, die die Unterwerfung unter die bestehende Weltordnung mit einem Hass auf den Willen verband und nach wie vor die Grundlage des liberal-konservativen Denkens bildet, ist heute mehr und mehr zu dem geworden, was manchen biopolitischen oder ökologischen Weltanschauungen zugrunde liegt, die dazu aufrufen, vom alten technologischen Hochmut abzulassen und sich einer Politik 151 Die Formulierung stammt von Beaud/Blanquer, La Responsabilité des gouvernants, S. 9. 152 Die aber keineswegs unzutreffend ist!

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zum Schutz des Lebens und der Natur zu verschreiben, die die Menschen also dazu anhalten, sich zu gelehrigen Schülern eines objektiven Wissens zu machen, und damit implizit das demokratische Ideal eines weltverändernden Willens verabschieden. Allerdings gibt es auch eine andere Art, Verantwortung als Einsatzbereitschaft in Verbindung mit dem Ausdruck eines Willens zu verstehen. Sie setzt die Unterscheidung zwischen einem »projektiven Willen« und einen »reflexiven Willen« voraus. Der projektive Wille äußert sich in Energie und Vorstellungsvermögen, in dem Vorsatz, Widerstände zu überwinden, Widrigkeiten zu trotzen, dauerhaft bestehen zu bleiben. Er passt sich dem Charakter eines Individuums an, bezeichnet seine moralische Stärke. Der Krieger und der Widerstandskämpfer waren seine archetypischen Verkörperungen in der Geschichte: Napoleon, das »Willensmonster«, der Mann des 18. Juni [de Gaulle], der sich dem Unabwendbaren widersetzte; all die Namenlosen, Rebellen, Aufständischen oder Dissidenten, die die Mächtigen in die Knie zwangen, indem sie eine Energie entfalteten, die in keinem Verhältnis zu ihrer objektiven Lage stand. Dieses Thema hat die moderne Welt nicht losgelassen, sie war hin und her gerissen zwischen dem Rückzug auf die Freuden des privaten Glücks und dem Wunsch, den Lauf der Geschichte zu verändern. In den desillusionierten und verkümmerten Demokratien des frühen 20. Jahrhunderts bedeutete der Eintritt in das, was später der »Große Krieg« genannt werden sollte, die Verlagerung eines solchen Verlangens nach befreiender Energie auf die kollektive Ebene. Niemand hat das besser beschrieben als Robert Musil in seinen diversen Essays sowie in Der Mann ohne Eigenschaften. Auf die Frage, wie der europäische Kontinent schließlich durch den Kriegseintritt psychologisch und moralisch auf seine Kosten kommen konnte, antwortete er lakonisch: »weil wir den Frieden satt hatten«153. Und weiter: »Ich glaube, daß der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschaftskörper; eine ungeheure, ohne Zugang zur Seele arbeitende Energie brach sich in diesen brandigen Fistelgang zu ihr hin.«154 153 Musil, »[Das Ende des Krieges] [Ohne Titel – 1918]«, in: ders., Gesammelte Werke, Band 2, S. 1342. 154 Musil, »Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste«, in: ders., Gesammelte Werke, Band 2, S. 1088–1089.

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Für ihn drängte sich der Krieg als Alternative zur Mittelmäßigkeit der bürgerlichen Gesellschaft förmlich auf, er wies einen Ausweg aus dem Reich des eigennützigen Interesses und des reduzierten Daseins. Das Problem der Moderne bestand für Musil nämlich in der Notwendigkeit, eine »neue Lehre vom Willen«155 zu begründen, um zu einem Leben zurückkehren, das eine »Tätigkeit ohne Unterbrechung, eine Art Verbrennung wie das Atmen«156 wäre. Nach dem Krieg führte, wie Musil zeigte, der Nazismus diese Tradition fort, indem er sich als Regime des personifizierten Willens präsentierte. Mit ihm habe der »Wille […] die Herrschaft in D[eu]tschld[and] angetreten«, schrieb er157. Das Heilmittel entpuppte sich als Alptraum. Deshalb waren die Demokratien nach 1945 bestrebt, das Gespenst der voluntaristischen Totalitarismen über die Würdigung der Vorzüge einer bescheideneren Demokratie auszutreiben. Einer Demokratie allerdings, in der das starke Wirtschaftswachstum der drei Nachkriegsjahrzehnte die Begeisterung für eine Konsumgesellschaft weckte, deren Materialismus einen Ausgleich für die Schwärmereien der Vergangenheit schuf. Doch in einer unbeständigen, von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt, die sich ihrer Werte bei Weitem nicht mehr so sicher ist, taucht die Frage des Willens und der Einsatzbereitschaft wieder auf. Außer für jene, die bereit sind, sich in extreme Abenteuer zu stürzen, gilt die Feststellung, dass der projektive Wille heute nicht mehr die Rolle spielen kann, die ihm einst zukam, als er mit der Ausübung einer ungebundenen Souveränität in einer geschlossenen Welt einherging – auf politischer Ebene wohlgemerkt, denn als individuelle moralische Eigenschaft hat diese Art des Willens nichts von ihrem Wert verloren. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Form von reflexivem Willen. Während der projektive Wille, auf die Politik angewandt, die Gesellschaft als großes Individuum ansah, als homogene Einheit also, die wie eine Armee in Marsch gesetzt, einer unmittelbar wirksamen Befehlsgewalt unterstellt, wie ein individueller Charakter geformt werden konnte, geht der reflexive Wille von der Tatsache einer gespaltenen Ge155 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1336. 156 Ebd. 157 Musil, »Bedenken eines Langsamen«, in: ders., Gesammelte Werke, Band 2, S. 1421.

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sellschaft aus und macht diese zum Gegenstand des Politischen. Er nimmt also die Konflikte, Ungleichheiten, Kontroversen, Vorurteile, die die Gesellschaft durchziehen, ins Visier, um sie offenzulegen, sie für alle sichtbar zu machen und in Gegenstände der öffentlichen Debatte zu verwandeln. Das Engagement der Regierenden verbindet sich in diesem Fall mit der kollektiven Arbeit der Gesellschaft an sich selbst, um eine gerechtere, freiere und friedlichere Gesellschaft zu errichten. Die Stärke dieses Willens entspricht der Fähigkeit, eine Gesellschaft zu reformieren (im etymologischen Sinne des Wortes »Reform«), indem man sie in die Lage versetzt, ihre wirkliche Beschaffenheit sowie die Ursachen ihrer inneren Blockaden zu erkennen. Seine Betätigung kommt somit einem Bemühen um Bewusstwerdung gleich.

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Reaktivität Wohin man auch schaut, die Bürger fühlen sich heute von denen, die sie gewählt haben, weniger denn je wahrgenommen und vertreten. Die Stimme, die sie über die Wahlen haben ertönen lassen, verhallt anschließend ungehört in den Parlamenten, während die Regierenden mit Taubheit geschlagen scheinen. Die Meinung der Normalbürger wiederum existiert nur noch in kleinste Einheiten zersplittert in den sozialen Netzwerken, geschickt manipuliert von organisierten Interessengruppen, oder beschränkt sich auf diffuse Protestkundgebungen. Mangelnde Aufnahmebereitschaft seitens der Regierenden und ein verkümmertes Artikulationsvermögen der Bürger wirken also zusammen. Mehrere historische Faktoren haben zur Entstehung dieser Situation beigetragen. Zunächst die allmähliche Reduktion der staatsbürgerlichen Meinungsbildung auf den formalisierten Wahlvorgang: Das war die große Bewegung des 19. Jahrhunderts, deren Auswirkungen sich auch im 20. Jahrhundert noch bemerkbar machten. Ferner die Professionalisierung der politischen Parteien, die diese mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernte: Dieser Prozess hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit der »Entsoziologisierung« der Politik beschleunigt. Er ist wichtig, Ursachen und Wirkungen dieser Vorgänge richtig zu bewerten, um die Entstehungsbedingungen einer wirklichen Ausdrucks- und Interaktionsdemokratie einschätzen zu können, die Regierende und Regierte in ein permanentes und dynamisches Verhältnis setzt, bei dem Letztere ein souveränes Volk bleiben.

Zuhören und regieren: Lektion in regressiver Geschichte Das Vorhaben, das Regierungshandeln mit einem offenen Ohr für die Gesellschaft in Einklang zu bringen, ist ein altes. Es wurde an der Wende zum 19. Jahrhundert von den ersten modernen Theoretikern der Gouvernementalität, Necker und Guizot, formuliert. Es war gewiss nicht ihre demokratische Gesinnung, die sie dazu veranlasste, in diese 251

Richtung zu denken. Vielmehr hatten sie als erfahrene Praktiker der Macht verstanden, dass mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich eine neue Zeit angebrochen war. Konnten sich der politische Diskurs im Allgemeinen und die Wahlkampfrhetorik im Besonderen noch auf die alte Schule der Verführungs- und Manipulationskunst verlassen, so musste das Regierungshandeln fortan die Existenz einer emanzipierten Zivilgesellschaft ins Kalkül ziehen, in der die Bürger die Mittel besaßen, ihre Interessen und Meinungen auszudrücken und zu vertreten. Es war also nicht mehr realistisch anzunehmen, dass es weiterhin genüge, die Bevölkerung mit einer Mischung aus List und Härte zu regieren, wie in den Theorien eines Naudé oder Mazarin vorgesehen. Andererseits konnten sie sich auch mit einem klassisch liberalen Ansatz à la Benjamin Constant nicht anfreunden, der sich der Frage der Exekutive mit dem Eintreten für eine schwache Macht entzog. Aus diesem Grund entwickelten sie einen geistig eigenständigen Ansatz. Ersterer, Jacques Necker, indem er 1792 Du Pouvoir exécutif dans les grands États veröffentlichte. Letzterer, François Guizot, mit einer ganzen Reihe von Publikationen während der ersten Restaurationsjahre, die 1821 in Des Moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France gipfelten. Diese beiden Bücher entwarfen die ersten praxisbezogenen Philosophien der Exekutive im Zeitalter der Volkssouveränität. Necker stand während der Revolution nahezu alleine mit seiner Meinung, dass die Exekutivgewalt, obwohl scheinbar nachrangig, faktisch eine wesentliche Rolle im politischen Geschehen spielte. Er vertrat damit den genauen Gegenstandpunkt der Männer von 1789, die sich in ihren Überlegungen auf die Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft und die Auslegung des Repräsentativprinzips konzentrierten. Während Letztere ganz von diesen Fragen absorbiert waren, hielt er selbst sie für sekundär oder ging zumindest davon aus, dass sie durch ein Spektrum gleichermaßen befriedigender Maßnahmen zu lösen seien. Denn in seinen Augen war die gesetzgeberische Funktion, die das Wesen eines Parlaments ausmacht, der Sache nach einfach zu definieren: als Produktion von Normen. Und daran konnte auch die Anzahl der Parlamentarier, die Art ihrer Ernennung oder die Dauer ihres Mandats nicht substanziell etwas ändern. Kurz gesagt, die Funktion ging in der Form nicht auf. Hingegen stelle, wie er schrieb, 252

»die Einrichtung der Exekutivgewalt die hauptsächliche und vielleicht einzige Schwierigkeit aller Regierungssysteme dar«.158 In ihrer Funktionalität lag für ihn das Problematische. Die Exekutivgewalt, erläuterte er, sei eine unmittelbar wirkende Macht, die gänzlich durch den Inhalt ihrer Handlungen definiert werde und sich auf diese reduziere. Ihre Funktionalität sei deshalb vollkommen von ihren Formen und ihrer Praxis abhängig. »Man kann ihre Funktionen leicht beschreiben und sie von denen trennen, die allein der gesetzgebenden Körperschaft angehören«, schrieb er in diesem Sinne. »Aber wenn man diese Gewalt herausbilden, wenn man die Elemente bestimmen will, die ihre Macht begründen, bemerkt man die Schwierigkeiten einer solchen Theorie; und man würde vielleicht der Nationalversammlung verzeihen, dass sie diese nicht erkannt oder ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat, wenn nicht alle unsere Leiden, die vergangenen, die gegenwärtigen und diejenigen, die wir noch befürchten, auf diesen ursächlichen Fehler zurückzuführen wären.«159 Necker leistete Pionierarbeit mit seiner Frage nach den Bedingungen einer zugleich effizienten und liberalen Regierung. Einer seiner aufmerksamen Leser, François Guizot, entwickelte zwanzig Jahre später die erste systematische Sicht einer modernen Gouvernementalität. Während Necker Wesen und Funktionen der Exekutive betrachtet hatte, erfasste Guizot sie vor allem anhand der Bedingungen ihrer praktischen Wirksamkeit. Er war damit der Erste, der eine Theorie der liberalen Gouvernementalität formulierte. »Jede Regierung muss, um ihr Überleben zu sichern, die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen, die sie regiert, und ihre Wurzeln in den moralischen und materiellen Interessen ihres Volkes suchen«, postulierte er als Ausgangspunkt.160 Ausübung der Macht und Kenntnis der Gesell158 Necker, Du Pouvoir exécutif dans les grands États, S. 15. 159 Ebd., S. 22–23. Necker leistete auch eine präzise Analyse der Umstände, unter denen die Einrichtung von Ausschüssen der Nationalversammlung zur Verleugnung der spezifischen Realität der Exekutive führte. Und er sah in dieser Verleugnung die Ursache der revolutionären Exzesse (vgl. ebd., Kap. 2). Bezeichnenderweise betrachtete er diese Verleugnung im Zusammenhang mit der utopischen Verherrlichung einer Direktgesetzgebung durch das Volk (vgl. ebd., S. 45). 160 Archives philosophiques, politiques et littéraires, Band 1, Nr. 3, September 1817, S. 274.

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schaft waren für ihn nicht zu trennen. »Man muss sich gründlich mit der Gesellschaft befassen, umfassend erforschen, wonach sie verlangt«,161 schrieb er, »die Bedürfnisse studieren und ihr Wesen ergründen«,162 In einem der bedeutendsten politischen Werke des 19. Jahrhunderts, Des Moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France, entfaltete er diese ersten Formulierungen zu einem zusammenhängenden System und thematisierte die Bedingungen einer der Moderne angemessenen Machtausübung auf gänzlich neue Weise. »Die Macht«, erläuterte er, »ist oft in einem sonderbaren Irrtum befangen. […] Minister, Präfekten, Bürgermeister, Steuereinnehmer, Soldaten sind es, was sie als Mittel der Regierung bezeichnet; und wenn sie diese besitzt, wenn sie diese wie ein Netz über das Land wirft, meint sie zu regieren und wundert sich, dass sie noch auf Hindernisse stößt und über ihr Volk nicht verfügt wie über ihre Beamten.« Und weiter: »Ich möchte gleich betonen, dass es nicht das ist, was ich unter Mittel der Regierung verstehe. Wenn sie genügten, worüber hätte die Macht sich heute zu beklagen? Sie besitzt solche Maschinen; noch nie hat man so viele und so gute gesehen. Und doch behauptet sie, Frankreich sei unregierbar, bestünde nur aus Aufruhr und Anarchie; sie stirbt an Schwäche inmitten ihrer Kräfte wie Midas inmitten seines Goldes verhungerte. Denn die wahren Mittel der Regierung liegen nicht in diesen direkt sichtbaren Instrumenten der Machtausübung. Sie liegen vielmehr in der Gesellschaft selbst und sind von ihr nicht zu trennen. Die menschliche Gesellschaft ist kein Acker, den man umpflügen kann. Vergeblich würde man versuchen, sie mit Kräften zu beherrschen, die den ihren äußerlich sind, mit Maschinen, die nur die Oberfläche berühren, aber keine Wurzeln haben, die in die Tiefe reichen und von dort ihre Antriebskraft beziehen. Die inneren Regierungsmittel, die das Land selbst enthält und liefern kann, sind diejenigen, mit denen ich mich beschäftige.«163

161 Ebd., S. 122. 162 Guizot, Du Gouvernement de la France depuis la Restauration et du ministère actuel, S. 155. 163 Ebd., S. 128–130. Vgl. das ganze Kapitel 7, »Des moyens de gouvernement en général«.

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Zugleich betonte Guizot die zentrale Bedeutung dessen, was er die »Regierung der Köpfe«164 nannte. Diese Bewusstwerdung, dass die Kunst des Regierens auf neuen Voraussetzungen beruhte, äußerte sich übrigens zuzeiten der Restauration in der Prägung eines neuen Begriffs: Man begann von gouvernementabilité zu sprechen.165 Diese Überlegungen blieben vorrangig die eines Praktikers. In seinem Hauptwerk ging es ihm darum, ein Paradox zu verstehen: Warum erwies ein allmächtiges, von den Ultra-Royalisten beherrschtes Kabinett sich 1821 als unfähig, das Land in den Griff zu bekommen, obwohl es die Opposition mundtot gemacht hatte und über eine effiziente Verwaltung sowie eine schlagkräftige Polizei verfügte? Guizot verstand, dass die Machtausübung im demokratischen Zeitalter das Wissen beinhaltet, wie man »mit den Massen verhandelt« und dementsprechend die Regierungsmittel einsetzt, die er als innere bezeichnete. »In der Theorie wie in der Praxis«, schrieb er, »sind Regierung und Gesellschaft nicht zwei verschiedene Wesen […]. Sie sind ein und dasselbe Wesen.«166 Das Grundproblem der nachnapoleonischen Ära bestand, wie er betonte, darin, »die Regierung durch das Handeln der Gesellschaft und die Gesellschaft durch das Handeln der Regierung zu begründen«.167 Guizot meinte damit, dass in der modernen Gesellschaft, die ein durch eine »Art nervöser Reizbarkeit« zusammengehaltenes Geflecht aus Meinungen, Leidenschaften und Interessen bilde, die Regierung nur effizient sein konnte, wenn sie mit diesen, das Leben des Landes darstellenden Elementen interagierte. Das war das Hauptargument von Des Moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France: Die wirklichen Regierungsmittel liegen in diesen Interessen, Leidenschaften und Meinungen, die zusammen die »Bedürfnisse« der Gesell164 Er plädierte dafür, »durch die Bearbeitung der Köpfe, nicht durch die Erschütterung der Existenzen zu regieren« (Guizot, Histoire de la civilisation en Europe, S. 307). 165 Balzac berichtet, Ludwig XVIII . habe selbst bisweilen diesen Ausdruck verwendet. Vgl. Balzac, »Der Ball zu Sceaux«, S. 238 [dort mit »Regierungsbefähigung« übersetzt, AdÜ]. 166 Archives philosophiques, politiques et littéraires, Band 1, Nr. 3, September 1817, S. 278. 167 Archives philosophiques, politiques et littéraires, Band 2, Nr. 6, Dezember 1817, S. 184.

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schaft ausmachen. Sie seien die »Henkel«, an denen die Regierung die Massen ergreifen müsse, um sie in Bewegung zu setzen. Regieren bedeutete somit, Teil dieses Bedürfnissystems zu werden, die größtmögliche Kongruenz zu ihm herzustellen. Die Kritik an den politischen Maschinen und »äußeren« Regierungsmitteln bekam bei ihm dadurch einen gesellschaftskritischen Einschlag. Wenn die Regierung von 1821 eine leerlaufende Maschine war, dann auch, weil die herrschende Dynastie »nichts oder jedenfalls zu wenig mit dem öffentlichen Leben zu tun hat, zu wenig in den Bedürfnissen und Kräften verwurzelt ist, die dazu berufen scheinen, über das künftige Schicksal aller zu entscheiden«.168 Guizot appellierte infolgedessen an seine liberalen Freunde, anders regieren zu lernen, um auf den Tag ihres eigenen Machtantritts vorbereitet zu sein. Das war zwar zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere der Diskurs eines leidenschaftlichen Oppositionellen. Doch gleichzeitig hatte Guizot mit seiner Formulierung des Verhältnisses von Macht und Gesellschaft in Begriffen einer positiven Interaktion etwas wirklich Neues entdeckt. Was ihn übrigens auch dazu veranlasste, die Frage der Repräsentation begrifflich völlig neu zu stellen, indem er dazu anregte, sie losgelöst von Themen wie Wahlmandat oder Abbildung als Ausdruck eines Prozesses kognitiver Art zu verstehen: Er betrachtete folglich Publizität und Repräsentation als sich überlagernde Phänomene. In diesem Sinne war seine historische Untersuchung über die Ursprünge und Wandlungen der Repräsentativregierung angelegt. »Genau genommen«, schrieb er dementsprechend, »ist das, was die Institutionen kennzeichnet, nach denen sich Europa sehnt, nicht Repräsentation, nicht Wahl, nicht Beratung, sondern Publizität. Das Verlangen nach Publizität in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten ist das Wesensmerkmal der gesellschaftlichen Lage und der geistigen Verfassung von heute […]. Wo es an Publizität fehlt, mag es zwar Wahlen, Versammlungen, Beratungen geben; aber die Völker glauben nicht daran, und sie haben Recht.«169 Diese Publizität ermögliche, Macht und Gesellschaft in ein Verhältnis »wechselseitiger Offenbarung« zu setzen. Als er in seinen Vorlesungen von 1828 über die Repräsentativ168 Guizot, Des Moyens de gouvernement et d’opposition, S. 121. 169 Guizot, »Des garanties légales de la liberté de la presse«, S. 186.

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regierung auf die Frage zurückkam, würdigte er zwar die Bedeutung der Gewaltenteilung und der Wahlen, erklärte aber, dass »theoretisch betrachtet die Publizität vielleicht das wichtigste Merkmal der Repräsentativregierung ist«170. »Der Akt des Wählens ist seinen Wesen nach ein unvermittelter, der wenig Anlass zur Beratung bietet: wenn dieser Akt nicht mit der ganzen Lebensweise, der ganzen Vorgeschichte der Wähler übereinstimmt, nicht gewissermaßen Resultat einer langen vorherigen Beratung, nicht Ausdruck ihrer gewöhnlichen Überzeugungen ist, wird es ein Leichtes sein, ihren Willen zu übertölpeln oder sie dazu zu bringen, den Eingebungen des Augenblicks zu folgen; dann würde es den Wahlen an Wahrhaftigkeit und Berechtigung fehlen.«171 Umgekehrt ermögliche Publizität, ein dauerhaftes Zwiegespräch zwischen Öffentlichkeit und Regierung herzustellen. Nach seiner Ernennung zum Generalsekretär des Innenministers war der junge Guizot übrigens 1814 aktiv an der Ausarbeitung einer Statistique morale du royaume beteiligt, dem Nachfolgeprojekt einer vorherigen Initiative zur Erstellung eines Tableau général de l’esprit public. Es handelte sich in beiden Fällen um Pionierstudien, die auf detaillierten Fragebögen beruhten172 und sich völlig von scheinbar ähnlich gelagerten Projekten dieser Zeit unterschieden. Als beispielsweise Jean-Marie Roland 1792, als Innenminister, ein »Bureau de la correspondance relative à la formation et à la propagation de l’esprit public« ins Leben rief, ging es ihm in erster Linie darum, die girondistische Presse in den Departements zu verbreiten.173 Und während der Julimonarchie, in den Jahren 1837–1839, beschäftigte ein von Balzac verspottetes »Bureau de l’esprit public« aus Geheimfonds bezahlte Journalisten, um die Provinzpresse mit regierungsfreundlichen Artikeln zu beliefern. Guizot hingegen hatte ganz anderes im Sinn. Er versuchte, ein innovatives Konzept des Regierungshandelns umzusetzen. Zum Vorteil der Bürger gewendet und in den Dienst demokratischer Ansprüche gestellt, hätten diese bahnbrechenden Überlegungen 170 Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Band 1, S. 124. 171 Ebd., Band 2, S. 242. 172 Vgl. dazu Karila-Cohen, L’État des esprits. 173 Vgl. Kupiec, »La Gironde et le Bureau de l’esprit public: livre et révolution«.

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aus dem französischen Kontext der Definition einer aktiven Volkssouveränität den Weg ebnen und den ersten Rahmen für eine positive Beziehung zwischen Regierten und Regierenden abgeben können. Doch blieben sie seinerzeit isoliert und stießen kaum auf Resonanz, während die anderen Werke der beiden Autoren allenthalben viele Leser fanden. Man musste in der Tat bis Jürgen Habermas warten, bevor das Werk eines Guizot als erste Formulierung einer »Herrschaft der öffentlichen Meinung« gewürdigt wurde.174 Das ganze 19. Jahrhundert hindurch blieben die Liberalen in ihrer fixen Idee vom Minimalstaat befangen und beschränkten ihre politischen Ambitionen auf die Verteidigung des traditionellen Parlamentarismus. Republikaner wie Sozialisten waren jeweils vornehmlich damit beschäftigt, Verfahrensweisen zu ersinnen, um eine bessere Repräsentativität der Gewählten zu gewährleisten – die Frage der Exekutivgewalt wurde somit auf beiden Seiten ausgeklammert. Wenn man diese Ansätze weiterentwickeln und radikalisieren, sie in eine institutionelle Form gießen würde, könnte man zur Definition einer interaktiven Demokratie zwischen Regierung und Gesellschaft gelangen, die den Bürgern ihre Macht zurückgäbe, indem sie die Regierenden zwänge, ihren Erwartungen besser zu entsprechen. Doch gleichzeitig muss man die gesellschaftlichen Ausdrucksformen neu beleben, die mittlerweile so stark verkümmert sind, dass sie sich auf Äußerungen einer negativen Demokratie, auf die Schwundstufe der Meinungsumfragen oder die Atomisierung in den sozialen Netzwerken reduzieren. Diese Regression hat eine Geschichte, die zu rekapitulieren hilfreich ist, um, einmal mehr, Wesen und Ausmaß der zu vollbringenden staatsbürgerlichen Revolution zu erfassen.

Polarisierung und Regression des staatsbürgerlichen Ausdrucks Das Erstarken populistischer Bewegungen stellt eines der bemerkenswertesten politischen Phänomene des beginnenden 21. Jahrhunderts dar, in Europa und weit darüber hinaus. Ein derart massives Faktum hat zwangsläufig vielerlei Gründe. Doch speist es sich offensichtlich 174 Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 125. Ich habe diese Anregung aufgegriffen, um sie in Le Moment Guizot systematisch zu entfalten. Hinsichtlich der Frage nach der Regierbarkeit im Verhältnis zur öffentlichen Meinung bei Necker vgl. Burnand, Necker et l’opinion publique.

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aus dem Gefühl des Verlassenseins, das zahlreiche Bürger empfinden, die den Eindruck haben, von den traditionellen Parteien nicht mehr vertreten zu werden. Man kann die Tragweite dieses Problems nur beurteilen, wenn man sich kurz vor Augen hält, unter welchen Bedingungen sich zuvor die Polarisierung des sozialen Ausdrucks vollzogen hatte, die diese Parteien, und andere Großorganisationen wie die Gewerkschaften, in den Rang nahezu ausschließlicher Sprachrohre des Sozialen beförderte. Diese Polarisierung, die ab Ende des 19. Jahrhunderts zur Entstehung quasi monopolistischer Formen der Repräsentation führte, markierte einen Bruch mit der Vielfalt staatsbürgerlicher Ausdrucksmöglichkeiten, die in den Anfangstagen der Amerikanischen und der Französischen Revolution zu beobachten waren. Davon zeugt, als symbolträchtiges Beispiel, die Bedeutung, die damals dem Petitionieren – ganz besonders in Frankreich – zukam. Das Petitionsrecht ist bekanntlich vordemokratischen Ursprungs. Es wurde, ob in England oder in Frankreich, eingeführt, damit die Bürger individuelle Beschwerden formulieren konnten, in einer Zeit, in der ihnen noch keine Vertretungsorgane zur Verfügung standen. Diese Dimension blieb erhalten. Doch bereits in der Frühzeit der Französischen Revolution häuften sich die Petitionen und nahmen einen kollektiven und politischen Charakter an, indem sie die Verabschiedung eines Gesetzes, die Reform einer Institution oder eine Neuorientierung der Justiz verlangten. Die Petitionen begleiteten und erweiterten auf diese Weise das bürgerschaftliche Engagement. Sie ließen neben dem Repräsentationsmodus eine Form von direkter Demokratie entstehen. Ein Dekret von 1789175 über die Organisation des Wahlrechts definierte ausdrücklich die Gewährung des Petitionsrechts als eine Art Ausgleich für die Beschneidung der Wählermacht, die das Verbot des imperativen Mandats und der den Repräsentanten zugebilligte Handlungsspielraum mit sich brachte. Abgesehen davon, dass es die Härten und Formalismen des Wahlrepräsentation abmilderte, schuf das Petitionieren ein Gegengewicht zu den Einschränkungen, die seinerzeit am Wahlrecht, noch über die Folgen seiner zweistufigen Organisation hinaus, vorgenommen wurden. Man konnte in diesem Sinne zu Recht davon

175 Artikel 34 des Dekrets vom 22. Dezember 1789.

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sprechen, dass es die Rolle eines »Ersatzes für das politische Wahlrecht«176 spielte. Diejenigen, die nicht die Voraussetzungen des Wahlzensus erfüllten, um Aktivbürger zu werden, konnten sich auf diesem Wege Gehör verschaffen. Das galt auch für die Frauen. Wurde das Wahlrecht auch in mehrfacher Hinsicht beschnitten, so besaß das Petitionsrecht wirklich uneingeschränkte Gültigkeit. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, dass das Petitionieren während dieser Zeit einen großen Umfang annahm. Es war übrigens nicht vom parlamentarischen Geschehen entkoppelt, da Abordnungen von Unterzeichnern das Recht hatten, vor der Versammlung zu erscheinen, um ihr Anliegen vorzutragen.177 Es genügt, die Sitzungsprotokolle zu konsultieren, um festzustellen, welchen beträchtlichen Raum die Präsentation dieser Gesuche im Rahmen der Tagesordnung einnahm (sie wurden nämlich bei laufender Sitzung vorgetragen und diskutiert). Etliche Jahre später, unter der Julimonarchie, schrieb Cormenin, einer der großen republikanischen Pamphletisten der Zeit, im gleichen Sinne, dass durch die Petition, »der letzte der Proletarier auf die Tribüne steigt und öffentlich vor der ganzen Nation spricht. Durch sie kann selbst der Franzose, der weder Wähler noch wählbar, ja nicht einmal Bürger ist, die Initiative ergreifen, genau wie die Abgeordneten oder sogar die Regierung.«178 Das Bedeutsame im Hinblick auf unsere Ausführungen ist der Umstand, dass diese Petitionspraxis sich gleichzeitig heftiger Kritik ausgesetzt sah. Und zwar bereits während der Revolution, durch die konservativsten Theoretiker des Repräsentantivsystems. Die einen waren entschlossen, denjenigen, die sich durch ein Wählervotum auszeichneten, das Monopol auf gesellschaftliche Repräsentation vorzubehalten. »Für andere zu handeln oder zu sprechen«, lautete beispielsweise ihr Argument, »heißt repräsentieren, und Bürger ohne Amt

176 Esmein, Éléments de droit constitutionnel français et compa´re, Band 1, S. 590. 177 Vgl. dazu die praktischen Angaben bei Castaldo, Les Méthodes de travail de la Constituante, S. 360–364. 178 Cormenin, Questions de droit administratif, Band 3, S. 384. Einer der Theoretiker des Juliregime schreckte nicht davor zurück, das Petitionieren als ein »Recht für Frauen und Proletarier« zu bezeichnen (vgl. Rossi, Cours de droit constitutionnel, Band 3, S. 159–175).

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haben keinerlei Repräsentation wahrzunehmen.«179 Andere trieb die ebenso unmittelbar sozial wie politisch motivierte Angst an, die Petitionäre könnten »ihre persönlichen Wünsche zum politischen Votum erheben« und damit »das Repräsentativsystem durch die demokratische Anarchie ersetzen«180. Doch selbst die Republikaner schwenkten letztlich aus Gründen der reinen Lehre auf diesen Kurs ein. Ein LedruRollin, der »Vater des allgemeinen Wahlrechts«, der, als es um dessen Erkämpfung ging, die Petitionen als eine Art »Presse der Massen« feierte und in ihnen einen »Ausdruck öffentlicher Gedanken« sah181, vollzog nach 1848 einen radikalen Gesinnungswandel und vertrat nun die Ansicht, dass die Stimmen der Wähler ausreichten, um den Forderungen und Gefühlen der Gesellschaft Genüge zu tun. Niemand hat innerhalb des republikanischen Lagers diesen reduktionistischen Standpunkt besser zum Ausdruck gebracht als Émile de Girardin. »Das Petitionsrecht«, stellte dieser auf einmal fest, »ist ein demokratischer Widersinn und ein republikanischer Anachronismus. Der Souverän befiehlt, er petitioniert nicht.«182 Petitionen waren für ihn nur noch eine primitive und unfertige Form von Volkssouveränität. Sie hatten folglich nur eine Daseinsberechtigung, wenn das Volk dieser Souveränität beraubt war. »Das Petitionsrecht gehört zur Monarchie«, betonte er, »es passt nicht in ein demokratisches System. Ihr müsst nur das allgemeine Wahlrecht wiederherstellen, und zwar wirklich wiederherstellen, und das Petitionsrecht wird vollkommen überflüssig.«183 Die Republikaner von 1848, wie später diejenigen der Dritten Republik, versuchten also, ein Recht zu reglementieren und zu minimieren, das sie für inzwischen überholt hielten. Sie glaubten in der Tat, der 179 »Sur le droit de pétition«. Eine ganze Fraktion schlug vor, gleichzeitig Kollektivpetitionen zu verbieten und das Petitionsrecht auf individuelle Gesuche zu beschränken. Vgl. dazu den Bericht von Isaac Le Chapelier vom 26. April 1791, der für die Abschaffung des Petitionsrechts plädierte (Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 25, S. 678–682). 180 Formulierung von Daunou, dem Vater der Verfassung des Jahres III , in einer Rede vom 2. März 1820, wiederabgedruckt in: Daunou, Essai sur les garanties individuelles que réclame l’état actuel de la société. 181 Ledru-Rollin, »Manifeste aux travailleurs: travailleurs faites des pétitions«. 182 De Girardin, »Du droit de pétition«, S. 132. 183 Ebd., S. 131.

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Moment der Wahlen könne das Feld des Politischen absorbieren und ausfüllen. Der Ausdruck der Gesellschaft war fortan nur noch in zweierlei Gestalt vorstellbar, als vollständig institutionalisierte und formalisierte politische Form und als rigorose Verbannung in die Sphäre der Privatmeinungen. Daher das Erlöschen dieses Rechts, indem das Parlament sich am Ende darauf beschränkte, die Petitionen zur Kenntnis zu nehmen, ohne je wieder eine von ihnen zu diskutieren.184 Es wurde somit endgültig von seinem »konstitutionellen Sockel« gestürzt185. Die zu dieser Zeit entstandene polare Auffassung von gesellschaftlicher Artikulation ist seither überall zu einem Strukturelement der Parlamentarisierung der Demokratien und der Regression des staatsbürgerlichen Ausdrucks geworden. Diese institutionelle Sicht fand ihre Fortsetzung in einem ebenso restriktiven Verständnis des politisch relevanten Raumes, wie in exemplarischer Weise die große Debatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts über das Recht auf öffentliche Demonstrationen verdeutlichte, bei der sich die Vertreter dessen, was man damals als die extreme Linke bezeichnete, und die Hüter der Dritten Republik gegenüberstanden. Diese Debatte verlief tatsächlich entlang der oben getroffenen Unterscheidung zwischen polarisierter institutioneller Repräsentation und vielförmiger Repräsentation des Sozialen. Der Gegensatz von »Kammern« und »Straße« bringt sie begrifflich auf den Punkt und stellt ein bemerkenswertes Instrument zur Analyse des Typs von »begrenzter Demokratie« dar, für die sich die Republikgründer in Frankreich starkmachten. Nach deren Auffassung hatten Straßendemonstrationen nur in Ausnahmefällen einen Sinn, etwa bei einer Gefährdung des Regimes, und fungierten dann als eine Art modernes Pendant zum alten, während der Revolution gefeierten »Aufstandsrecht«.186 Doch abgesehen von solchen Extremsituationen erschien ihnen die Form zugleich direkter und chaotischer Demokratie, denen sie entsprachen, als inakzeptabel. Denn wozu war es nötig, sich auf der Straße auszudrücken, wenn das Land doch in den Kammern repräsentiert wurde? »Ich sehe keinen Sinn darin, auf diese Weise eine Diskussion zu verdoppeln, die 184 Die entscheidende Wende erfolgte in Frankreich 1873. 185 Clère, »Le droit de pétition aux Chambres de 1789 à nos jours«, S. 299. 186 Vgl. dazu Tartakowsky, »La manifestation illégitime«.

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im Sitzungssaal stattfinden sollte«, kommentierte einer der führenden Köpfe des Radikalismus lapidar.187 Selbst für soziale Forderungen auf die Straße zu gehen, wurde als illegitim erachtet, wie die kritischen Kommentare der zeitgenössischen republikanischen Presse über die Umzüge streikender Arbeiter bezeugen. »In Scharen singend herumzuziehen […], mag vielleicht für Straßenhändler das Passende sein, aber nicht für republikanische Arbeiter. Solche Aufzüge sind nutzlos und schädlich«, war beispielsweise zu lesen.188 Pierre Waldeck-Rousseau wiederum ging so weit, in Bezug auf Demonstrationen von einer »widerrechtlichen Aneignung des öffentlichen Raumes« zu sprechen und ihnen vorzuwerfen, auf eine Konfiszierung der Straße durch die »Anstifter äußerlicher Kundgebungen« hinauszulaufen.189 »Äußerlich« natürlich in Bezug auf den parlamentarischen Raum der Repräsentation. Für die Linke hingegen waren Demonstrationen Teil einer erweiterten Form von Repräsentation. Édouard Vaillant, einer der Führer der sozialistischen Partei, erläuterte das 1907, anlässlich einer parlamentarischen Anfrage zu diesem Thema, in prägnanten Worten: »Es gibt keine wirkliche Republik, solange es der Arbeiterklasse untersagt ist, durch Demonstrationen ihren Willen direkt zu zeigen«, hielt er Georges Clemenceau, dem frischgebackenen Ministerpräsidenten, entgegen: »Solange sie gezwungen ist, sich ganz auf die Äußerungen ihrer Delegierten oder Repräsentanten zu verlassen, ist ihr Ausdruck nicht vollständig und perfekt. Deshalb meinen wir, dass wir neben der Versammlungs- und Koalitionsfreiheit eine weitere Freiheit brauchen, die direkte und öffentliche, proletarische und sozialistische Demonstrationsfreiheit.«190 Er plädierte folglich für die Anerkennung eines »Rechts auf die Straße«.191 Für traditionelle Republikaner war diese Erwartung eines pluralen demokratischen Ausdrucks unannehmbar. 187 Camille Pelletan in: L’Éclair vom 22. Oktober 1898. 188 Radical, 30. Juli 1888, zit. n. Tartakowsky, »La manifestation illégitime«, S. 236. Vgl. auch Perrot, Les Ouvriers en grève, Band 2, S. 552–568. 189 Stellungnahme vom 11. Februar 1884 (Annales de la Chambre des députés, Band 1, S. 427) im Rahmen der Diskussion eines Gesetzesentwurfs zur Umsetzung des im Text von 1881 vorgesehenen Verbots öffentlicher Versammlungen. 190 Sitzung vom 21. Januar 1907, Annales de la Chambre des députés, Band 1, S. 140. 191 Vgl. Guesde, »Le droit à la rue«, Le Cri du peuple, 15. Februar 1885, wiederabgedruckt in: État, politique et morale de classe, S. 140–143.

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Ob in dieser Angelegenheit oder in Bezug auf die Petitionen, ihr Demokratieverständnis blieb vollkommen in einer monistischen Sicht des Politischen befangen. Von der Abschaffung der Zünfte durch Le Chapelier bis zu dieser Haltung gegenüber Petitionen und Demonstrationen, es war derselbe Leitgedanke, der zu einer polarisierten und eingeschränkten Auffassung von Demokratie führte. Die negativen Auswirkungen dieser Restriktion, die in Frankreich besonders ausgeprägt waren, wurden durch den repräsentativen Charakter, den die Massenparteien gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangten, teilweise kompensiert. Ebenso wie durch den Aufschwung der Gewerkschaften, die eine spezifische, nämlich essenzialistische Repräsentationsform der Arbeitswelt entstehen ließen und damit dem gesellschaftlichen Ausdruck einen weiteren Resonanzraum verschafften.192 Fast ein Jahrhundert lang, von den 1880er bis zu den 1970er Jahren, stellte diese duale Repräsentation einen Rahmen zur Formulierung von Interessen und Meinungen bereit. Ein Rahmen, der anschließend nach und nach zerfiel, aus institutionellen wie aus soziologischen Gründen. Institutionell wegen des Schwindens der sozialen Repräsentationsfunktion der Parteien, die zu bloßen Satelliten der Regierungsorgane geworden sind, sowie dem gleichzeitigen Niedergang der Gewerkschaften, denen die Neuregulierung der Arbeitsbeziehungen zu schaffen macht. Soziologisch aufgrund der veränderten Produktionsbedingungen des Sozialen, die fortan nicht mehr allein aus kollektiven Identitäten resultieren (die von den Parteien und mehr noch den Gewerkschaften vergleichsweise adäquat zum Ausdruck gebracht wurden). Denn jenseits der sozialen Lagen, die sie definieren, werden die Einzelnen mehr und mehr durch die Situationen, Ängste oder Belastungen bestimmt, die sie beschäftigen oder denen sie unterliegen. Und sie bilden auf dieser Grundlage andere Arten von Gemeinschaften als jene, die aus sozialen Identitäten entstehen. Doch haben diese Gemein-

192 In Gestalt eines »essenzialistischen« Repräsentantionstyps, der sich von der Repräsentation durch Wahlen unterscheidet. Vgl. dazu meine Ausführungen in La Question syndicale. Dieser gewerkschaftliche Ausdruck intensivierte sich noch durch die von ihm bedingte Entstehung eines Vereins- und Genossenschaftswesens in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, wie Wohnungsbau, Konsum und Freizeit.

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schaften ihre spezifischen Ausdrucksmittel noch nicht gefunden, ein Defizit, das die zunehmende Selbstbezogenheit der Regierungsorgane komplettiert.

Die verkümmerte Demokratie Angesichts des Niedergangs der Parteien und Gewerkschaften sowie der gleichzeitigen Nicht-Repräsentation der neuen Figuren des Sozialen befindet sich der staatsbürgerliche Ausdruck in einem Zustand einzigartiger Verarmung. Er tritt zumeist nur noch als Protestbekundung, in einer durch Meinungsumfragen entstellten oder atomisierten Form in Erscheinung. Das Demonstrationsrecht hat sich letzten Endes, aufgrund der Macht des Faktischen, überall durchgesetzt, in Frankreich und anderswo, und die pedantischen Vorbehalte des republikanischen Fundamentalismus in Sachen Repräsentation zurückgedrängt. Das Demonstrieren fand Eingang in ein umfangreicheres Repertoire des verbalen Protestes und des kollektiven Handelns. Heute hat es sich wesentlich verändert. Zunächst durch seine Verallgemeinerung. War die Eroberung des öffentlichen Raumes für die einstigen Verdammten der Erde eines der wenigen Mittel, sich Gehör zu verschaffen, so gehen heute alle Gesellschaftsschichten auf die Straße. Märsche von Wohlhabenden und Konservativen sind zu einem vertrauten Anblick geworden.193 Die Demonstration ist somit eine gesellschaftliche Form, die sich banalisiert hat. Und zwar größtenteils deshalb, weil sie auch zur einfachsten Ausdrucksweise einer negativen Politik geworden ist, in einer Zeit, in der die Unsicherheit hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen den Ausdruck positiver Mehrheiten erschwert.194 Außerdem sind es häufig die am besten organisierten Interessen, die sich auf diese Weise geltend machen, und viel weniger die der verschiedenen Gruppen von Unsichtbaren. Parallel dazu haben Meinungsumfragen eine noch nie dagewesene Bedeutung erlangt, und zwar in Abkehr von der ihnen ursprünglich zugedachten Funktion. Denn in den Anfangszeiten ihrer Entwicklung 193 Vgl. für Frankreich: Tartakowsky, Les Droites et la rue. Histoire d’une ambivalence de 1880 à nos jours. 194 Vgl. mein Kapitel über negative Politik in La Contre-démocratie.

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wurden sie als technisches Hilfsmittel der Repräsentation verstanden. Das war in den Vereinigten Staaten der 1930er Jahre das erklärte Ziel von George Gallup, dem Pionier auf diesem Gebiet. Umfragen sollten helfen, das Problem zu lösen, das einst von Abraham Lincoln folgendermaßen formuliert worden war: »Was ich will, ist verwirklichen, was die Leute gerne verwirklicht sähen, und die Frage, die sich mir stellt, lautet, wie genau ich das herausfinde.«195 Zur gleichen Zeit sprach die Confédération générale du travail in Frankreich von einem »neuen Werkzeug für die Demokratie«196, und ein Leitartikler begrüßte anlässlich der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung das Erscheinen »anderer Mittel der Volksbefragung als den Wahlzettel«197, zu einem Zeitpunkt also, in dem die Ausdrucksmittel und Organisationsmethoden der Demokratie offenkundig einer Revision bedurften. Meinungsumfragen rückten schnell ins Zentrum des politischen Lebens vor. Allerdings zumeist als bloße »Barometer« zur Messung des Beliebtheitsgrades von Politikern oder in Form improvisierter MiniReferenden. Ohne in die (häufig falsche) Debatte über die von der Essenzialisierung dieser »öffentlichen Meinung« aufgeworfenen Probleme einzusteigen, muss auf den binären politischen Gebrauch von Meinungsumfragen hingewiesen werden. Tatsächlich ist ihre genuin kognitive Dimension weitgehend in den Hintergrund getreten, verglichen mit ihrer Teilhabe an der medialen Inszenierung des Politspektakels. Sie haben deshalb nur noch bedingt mit dem Projekt der Erweiterung des sozialen Ausdrucks zu tun, dem sie anfänglich verpflichtet waren. Während die sozialen Netzwerke die soziale Welt atomisieren und nahezu bis zur Unkenntlichkeit entstellen, tendieren die Regierenden dazu, nur noch auf den Druck der Straße und der Meinungsumfragen zu reagieren. Sie unterhalten damit ein stark reduziertes Verhältnis zur Gesellschaft, das durch deren verkümmertes Ausdrucksvermögen komplettiert wird. Eine demokratischere, das heißt in diesem Fall reaktions- und interaktionsfähigere Regierung erfordert hingegen eine 195 Zit. n. Zask, L’Opinion publique et son double, S. 110. 196 Zit. n. Reynié, Le Triomphe de l’opinion publique, S. 345. 197 Combat, 11. April 1945, zit. n. Blondiaux, »Le règne de l’opinion. Chronique d’une prise de pouvoir«. Vgl. ders., La Fabrique de l’opinion.

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Gesellschaft, die sich in der Vielfalt ihrer Existenz deutlicher zu erkennen gibt. Schlechtregiert- und Schlechtrepräsentiertwerden sind also zwei Seiten einer Medaille.

Die Konfigurationen einer interaktiven Demokratie Repräsentationsdefizite zu überwinden, erfordert in erster Linie, sie in einem erweiterten und pluralen Kontext zu betrachten. Dieser Perspektivwechsel ist umso notwendiger, als das Parteiensystem inzwischen keinerlei Repräsentativfunktion mehr hat und populistische Bewegungen daraus ihren Vorteil ziehen, um sich als antisystemisch zu präsentieren, als Sprachrohr aller und vor allem der am sichtbarsten Vergessenen, die ein vermeintlich homogenes Volk bilden. Man muss den Bruch zwischen Repräsentation-als-Abbildung und Repräsentation-als-Delegation als mittlerweile vollzogen betrachten. Während sich Letztere automatisch aus den Wahlen ableitet, die somit ihre Rolle als arithmetisches Selektionsverfahren spielen, ist Erstere als nunmehr eigenständig Gedachte neu zu erfinden. Diese Repräsentation-als-Abbildung des Sozialen muss zunächst von der Tatsache ausgehen, dass das Wort »Volk« nur noch in der Vielfalt sozialer Lagen und existenzieller Belastungen erfasst werden kann, die seine praktische Wahrheit begründen. Dieses Volk ist auch der Plural von »Minderheit«, das Echo aller Formen von Unsichtbarkeit. Repräsentiert zu werden, heißt folglich nicht, auf eine amorphe Masse verwiesen oder einer Gruppe zugeschlagen zu werden, die die Realität durch eine klangvolle Formel, ein Vorurteil oder eine Stigmatisierung (die Banlieue, die Plattenbauten, die Bobos, die Ausgeschlossenen usw.) karikiert und verschleiert. Was man Volk nennt, lebt nur im Modus eines bewegten Bildes, das als Abfolge zahlreicher Momentaufnahmen entsteht. Es zu einem Standbild einzufrieren, heißt, es zu entstellen. Heißt auch, zu vergessen, dass es der Name der noch nicht vorhandenen Form eines zu schaffenden Gemeinschaftslebens ist. Diese Vielfalt gilt es zu repräsentieren, das heißt, in ein soziales Faktum zu verwandeln, in dem jeder sich an seinem Platz und von anderen anerkannt fühlt. Aber wie? Es gibt zwangsläufig viele Wege, um das gesellschaftliche Leben allen »präsent zu machen«. Ich für meinen Teil habe versucht, in Le Parlement des invisibles, gewissermaßen dem Manifest des Projekts »Raconter la vie«, die Umrisse einer »narrativen 267

Demokratie« zu zeichnen. Dieses Beschreibungs- und Erkenntnisprojekt muss sich gleichermaßen auf die Publikation von Erlebnisberichten wie auf die Arbeit der Sozialwissenschaften oder die Literatur stützen, sich in Schrift und Bild, Printmedien und Internet äußern. Auf diese Weise könnte man »unser schreckliches Nichtwissen voneinander« beheben, das Michelet schon 1848 beklagte. Das ist nur eine Initiative unter vielen, die entwickelt werden müssten, um diesem umfassenden Programm Bestand zu verleihen. Bezeichnenderweise ist auch die Zeit der Petitionen zurückgekehrt, die das Spektrum der Wortmeldungen erweitern, während gleichzeitig neue demokratische Ausdrucksformen erprobt werden.198 Jenseits dieser narrativ-kognitiven Dimension muss zwangsläufig auch die Frage nach neuen Institutionalisierungsformen der Repräsentation-als-Abbildung gestellt werden. Es sind hier zweierlei Richtungen vorstellbar: im Sinne der Organisation »repräsentativer Momente« zur Untersuchung spezieller Probleme oder als Installierung dauerhafter Institutionen neuen Typs. Betrachten wir an dieser Stelle den ersten Weg (der zweite soll am Schluss des Buches diskutiert werden). Solche Momente könnten die Form spezieller Konferenzen annehmen, die einberufen werden, um abseits der Parteienpolitik die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu untersuchen (etwa, was das Funktionieren des Sozialstaates oder des Generationenvertrags betrifft, um nur zwei Beispiele zu nennen). Die Hauptaufgabe dieser Konferenzen könnte darin bestehen, den Rahmen und organisatorischen Verlauf einer breiteren öffentlichen Debatte zu definieren – die dann durch eine Behörde für demokratische Debatten umgesetzt würden – und damit auf die großen allgemeingesellschaftlichen Fragen zu übertragen, was in Frankreich die Commission nationale du débat public hinsichtlich spezifischer Projekte im Bereich Umwelt und Raumordnung zu leisten versucht. Die Regierung wäre anschließend gefordert, zu den Ergebnissen dieser Konferenzen öffentlich Stellung zu beziehen. Und das ist nur ein Beispiel für die möglichen Voraussetzungen veränderter Interaktionsformen zwischen Regierten und Regierenden. Denn auf diesem Feld bleibt noch alles zu tun.

198 Vgl. vor allem die Literatur über Bürgerforen und Konsenskonferenzen.

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Erwähnt sei, dass die hier beschriebenen Gebote der Lesbarkeit, Verantwortung und Reaktivität die alte Vorstellung des »Mandats« erweitern und erneuern. Die soziale Aneignung der Macht vollzieht sich künftig auf andere Weise als durch die automatische Entmündigung der Regierenden, die der Begriff des Mandats vermeintlich impliziert (ohne dass dies, wie man weiß, jemals funktioniert hätte). Nunmehr kann sich die Macht primär über den Zwang zur Rechtfertigung und die Verbreitung von Informationen der Gesellschaft nähern. Die Bürger fühlen sich stärker, wenn sie die Dinge besser verstehen, wenn sie das notwendige Rüstzeug besitzen, um die anstehenden Probleme zu erfassen und dem, was sie erleben, Sprache und Bedeutung zu verleihen. Das Gefühl von Distanz und Entfremdung ist auch eine Folge von Unwissenheit. Eine Macht, deren Abläufe lesbarer sind und die Rechenschaft ablegt, verliert umgekehrt an Unnahbarkeit. Mit zunehmender Transparenz vermindert sich strukturell ihre Arroganz. Wenn die Bürger sich in diese Informations- und Wissenskreisläufe eingebunden fühlen, setzen sie sich faktisch in ein neues Verhältnis zu den Regierenden. Sie eignen sich die Macht nicht an, indem sie sie »ergreifen« oder »befehligen«, sondern indem sie dazu beitragen, sie neu zu definieren und ihre Funktionsweise zu verändern. Es handelt sich folglich um eine neue politische Ökonomie der sozialen Macht – der »Ermächtigung«199 –, die bei der Interaktionsdemokratie zum Tragen kommt. Einer der Ersten, die Demokratie in diesen Begriffen dachten, war der Soziologe Émile Durkheim. Er ging seinerzeit von einem doppelten Befund aus. Einerseits der Unmöglichkeit, bei einem rein arithmetischen Verständnis von Demokratie stehen zu bleiben. Weil Wahlen nie einstimmig sind und es deshalb immer Personen gibt, die nicht repräsentiert werden, und weil Mehrheiten nach seinen Worten »ebenso repressiv wie eine Kaste« sein können. Andererseits der Notwendigkeit, sich nicht auf einen administrativen Staatsbegriff zu beschränken. Der Staat sei nämlich, wie Durkheim betonte, auch »das Organ des gesellschaftlichen Denkens«. Demnach müsse Demokratie unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden, als Gesellschaftsform, in der Regie-

199 Ein Begriff, der das englische empowerment übersetzt.

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rung und Gesellschaft permanent interagieren (während die Macht in despotischen oder aristokratischen Regimen durch ihre Isolierung charakterisiert sei). »Je enger die Verbindung zwischen dem Bewusstsein der Regierung und dem Rest der Gesellschaft wird, je weiter dieses Bewusstsein ist und je mehr Dinge es umfasst, umso demokratischer ist die Gesellschaft«, schrieb er. »Der Begriff der Demokratie ist also durch die maximale Ausdehnung dieses Bewusstseins definiert.«200 Durkheim unterschied diesen Ansatz ausdrücklich von den Theorien des imperativen Mandats, die seinerzeit in den Kreisen der extremen Linken zur Lösung der Repräsentationskrise befürwortet wurden. Denn die Trennung zwischen Regierung und Gesellschaft betrachtete er als Notwendigkeit und nicht als vermeidbares Übel. Er sah die Regierung nicht in der Rolle eines passiven Spiegels der Gesellschaft, sondern einer Beteiligten am Nachdenken der Gesellschaft über sich selbst, das diese leisten müsse, um eine wahrhaft kollektive Form anzunehmen. Diese funktionale Unterscheidung sollte in seinen Augen mit einer Kombination aus innergesellschaftlicher Beratung und deren zunehmender Berücksichtigung durch die Regierung einhergehen. Dieses doppelte Merkmal kennzeichnete Durkheims Verständnis von Demokratie als untrennbarer Einheit von Regierungsweise und Gesellschaftsform.201 Die vorhergehenden Seiten sind in einem verwandten, aber durch die Erfordernisse unserer Gegenwart radikalisierten Geist geschrieben worden.

200 Durkheim, Leçons de sociologie, S. 102. 201 Daher seine beiden Definitionen: 1.) »Die Demokratie ist jene politische Form, durch die die Gesellschaft zum reinsten Bewusstsein ihrer selbst gelangt. Ein Volk ist umso demokratischer, je größer die Rolle ist, die Beratung, Reflexion und kritisches Denken bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten spielen« (ebd., S. 107–108). 2.) »Die Demokratie ist ein System, worin der Staat, wenngleich von der Masse der Nation verschieden, mit dieser in enger Verbindung steht« (ebd., S. 118).

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IV

Die Vertrauensdemokratie

Die Figuren des guten Regierenden Im Zeitalter der parlamentarisch-repräsentativen Demokratien traten die politischen Persönlichkeiten tendenziell hinter die Programme, die Einzelnen hinter die Klassen zurück. Das Zeitalter der Präsidialherrschaft bestärkt hingegen die Personen in ihrer Bedeutung. Die Qualität der politischen Akteure wird zu einem Schlüsselfaktor, für ihre Beurteilung durch die Bürger ebenso wie für den Erfolg ihrer Maßnahmen. Wenn die Ideologien verblassen, wenn die Bestimmung des Gemeinwohls sich als problematischer erweist und wenn die Zukunft ungewiss und bedrohlich erscheint, dann besinnt man sich bezeichnenderweise auf die Tugenden und Talente der Regierenden, um diese altertümlichen Worte zu benutzen, und nimmt sie als Anhaltspunkte. So hat man beispielsweise in Frankreich erleben können, dass Fragen zum Begriff der Normalität oder der Fähigkeit, einen Kurs beizubehalten, bezogen auf den Inhaber des Präsidentenamtes, ins Zentrum der Debatten rückten. Erscheint die Frage nach der Figur des guten Regierenden heute als vordringlich, so hat sie gleichwohl eine lange Geschichte. Das gibt uns die Gelegenheit, eine Typologie ihrer Repräsentationen zu erstellen. Man kann demnach das mittelalterliche Modell des tugendhaften Fürsten ausmachen, das (während der Französischen Revolution konzipierte) Modell des reinen Mandatsträgers, das des homme-peuple cäsaristischen Ursprungs und das des von Max Weber porträtierten Politikers aus Berufung. Wir möchten vorschlagen, sie um die Figur der Vertrauensperson (in Anlehnung an den angelsächsischen Begriff des trustee) zu ergänzen, die heutzutage als Referenz dienen sollte.

Der tugendhafte Fürst Der Titel dieses Buches, Die gute Regierung, hat eine lange Geschichte. Er bezieht sich nämlich auf den gängigen Titel des berühmten Freskos, das den Saal der Neun im Palazzo Publicco in Siena schmückt. Es wurde 273

1338 von Ambrogio Lorenzetti gemalt und veranschaulichte zu Nutz und Frommen der Stadtväter und der Bevölkerung die Tugenden des guten, das heißt Frieden stiftenden und Wohlstand schaffenden Fürsten sowie die Nachteile, die aus ihrer Vernachlässigung resultieren.1 Doch die Idee der guten Regierung stammt aus dem weiteren Kontext einer langen mittelalterlichen Philosophietradition des Nachdenkens über die Bedingungen einer Politik, die bei den moralischen Eigenschaften des Souveräns ansetzt. Von Beginn an bezeichnete man die zu diesem Genre gehörende Literatur als »Fürstenspiegel«. Es handelte sich tatsächlich um Traktate, die dazu bestimmt waren, ihren Adressaten das Bild eines als vorbildlich geltenden Souveräns vorzuhalten. Schriften über die Tugenden des guten Regierens stammen natürlich nicht erst aus dieser Zeit. Die Verfasser dieser Fürstenspiegel wurden von manchen bedeutenden Texten der Antike stark beeinflusst. Man denke beispielsweise an die Selbstbetrachtungen von Mark Aurel, an Ciceros Von den Pflichten oder Plutarchs Von großen Griechen und Römern. Doch im Unterschied zu diesen legten die Fürstenspiegel den Akzent viel ausschließlicher auf ethische Fragen. Zumal sie in einem europäischen Kontext publiziert wurden, in dem die säkulare Macht noch unter dem dominanten Einfluss des Klerus stand. Die Könige der Zeit regierten inmitten von Bischöfen und anderen Geistlichen. Die Menschen waren von dem Gedanken durchdrungen, dass die weltliche Macht nur vorhanden sei, weil die geistliche Macht nicht über die notwendigen Mittel verfüge, um die irdische Welt zu regieren.2 Gleichzeitig wurde das Ideal persönlicher Heiligkeit zur erstrebenswertesten Lebensform erklärt, und die Sorge um das eigene Seelenheil prägte das Verhalten. So hat man erst kürzlich darauf hingewiesen, dass Ludwig IX . (der nach seinem Tod zu Ludwig dem Heiligen wurde) um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Wiedergutmachung der von seiner Verwaltung verursachten Schäden und Ungerechtigkeiten ergriff, um sich kurz vor seinem Aufbruch zu einem Kreuzzug der Vergebung seiner Sünden zu vergewissern.3 1 2 3

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Zur Interpretation dieses Freskos vgl. Boucheron, Conjurer la peur; und Skinner, L’Artiste en philosophe politique. Vgl. Krynen, »Le métier de roi«. Vgl. Dejoux, Les Enquêtes de Saint Louis.

Fürstenspiegel tauchten bereits in karolingischer Zeit auf. Doch erst ab dem 12. Jahrhundert erlangten sie eine größere Bedeutung, sowohl für die praktische Fürstenerziehung als auch, im weiteren Sinne, für die Begründung einer politischen Philosophie, die die Berechtigung, andere zu regieren, mit der Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung verknüpfte. Sie alle hatten den gleichen Tenor: Ein König ist unfähig, sein Amt auszufüllen, wenn er sich nicht durch seine Tugenden Respekt verschafft. Das erste dieser Werke, das einen europaweiten Widerhall fand, war der Policraticus des Johannes von Salisbury (1159 vollendet). Es lässt sich nicht zufällig einem Kontext zuordnen, in dem das Problem des Tyrannen im Zentrum der theologisch-politischen Reflexion stand. Um die Gefahr der Tyrannei zu bannen, die offenkundig das absolut Böse, das Reich der Gesetzlosigkeit verkörperte, musste man sie in ihrer personifizierten Gestalt attackieren, dem Herrscher ohne Glaube und Moral. Salisbury selbst stand übrigens unter dem unmittelbaren Eindruck des Mordes an seinem Freund Thomas Becket in seiner Kathedrale, den er persönlich miterlebt hatte, und der Gedanke, dass ein ähnlich unwürdiger Souverän wie Heinrich II ., der Auftraggeber der Meuchelmörder, wiederkommen könnte, ließ ihm keine Ruhe (der Policraticus war dem Erzbischof von Canterbury gewidmet). Deshalb stand für ihn die Erziehung zur Moral im Mittelpunkt der politischen Frage, weswegen er sich bemühte, in seinem Werk die Züge des guten Fürsten zu zeichnen.4 Auch wenn die Zeit noch über keinen modernen Begriff von Souveränität verfügte, war selbstverständlich die allgemeine Vorstellung einer Befehlsgewalt bereits vorhanden. Doch handelte es sich um eine Gewalt, die man hoffte, durch die moralische Pflicht zur aequitas bändigen und dem göttlichen Gesetz unterwerfen zu können, das als dem positiven Recht überlegen galt. Der Fürst war ferner dazu aufgerufen, sein Verhalten zu disziplinieren. Salisbury verlangte von ihm nicht nur Rücksicht auf das Gemeinwohl, er forderte ihn auf, seinen Reichtum zu beschränken, Großmut zu beweisen, keusch zu sein, Frömmigkeit mit Demut zu verbinden. Das ein Jahrhundert später (1279) veröffentlichte und für den späteren König Philipp den Schönen bestimmte De regimine princi-

4

Diese Ausführungen finden sich in Buch IV des Werkes.

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pum5 von Aegidius Romanus ging in die gleiche Richtung und diente lange Zeit als Referenzwerk einer reichhaltigen Sekundärliteratur über die notwendigen Herrschertugenden. Einer Literatur, für die »die moralische Vervollkommnung des Königs wenn nicht eine Bedingung, so doch zumindest eine Rechtfertigung seiner Macht ist«.6 Denn das Streben des Herrschers nach Perfektion wurde in diesen Fürstenspiegeln als sicherster Garant gegen die Willkür betrachtet und beinhaltete das Versprechen einer aufgeklärten Regentschaft in einer Zeit, in der die beginnende Konzentration der öffentlichen Gewalt, die den Auftakt zur Entstehung von Nationalstaaten bildete, die Rahmenbedingungen für einen guten Umgang mit der Macht grundlegend veränderte. Die Frage einer institutionellen Verankerung der Souveränität und der theoretischen Begründungen einer säkularen Macht standen noch keineswegs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Noch war es die Moral, und nicht das Recht oder die Verfassung, die das Fundament des politischen Denkens abgab. Aegidius Romanus ging sogar so weit, die Rechtsgelehrten als »Ignoranten« (idiotae politia) zu bezeichnen. »Jene, die Politik und Sittenlehre kennen, sind höher zu achten als jene, die von Rechten und Gesetzen wissen«, lautete sein Resümee.7 Diese Sichtweisen liegen auf einer Linie mit dem thomistischen Ansatz einer auf der Liebe zum Volk beruhenden väterlichen Macht.8 Dessen Vertreter betonten allesamt die Notwendigkeit dieser Liebe, die sie als einziges echtes Bollwerk gegen die Tyrannei verstanden. In ihrem Livre du corps de policie (1404–1407) beschäftigte sich Christine de Pizan ausführlich mit dem bei Thomas von Aquin zentralen Thema des »Königs als Vater seiner Untertanen«. Alle gemeinhin dem guten Herrscher zugeschriebenen Eigenschaften – seine Güte, seine Schlichtheit, seine Menschlichkeit, sein Großmut – verschmolzen bei ihr zum 5 6 7 8

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Dt.: Über die Herrschaft der Fürsten. Krynen, Idéal du prince et pouvoir royal en France, S. 108. De regimine principum, Buch II , 2. Teil, Kapitel 8, wiedergegeben nach Carbasse/Leyte, L’État royal, XIIe–XVIIIe siècle. Une anthologie, S. 102. Vgl. Demongeot, Le Meilleur Régime politique selon saint Thomas (und Sententia libri Politicorum, der Kommentar des Thomas von Aquin zur Politik des Aristoteles). Vgl. auch Dalarun, Gouverner, c’est servir. Essai de démocratie médiévale.

Entwurf »der Liebe, die der gute Fürst für seine Untertanen hegen muss«.9 In diesem Rahmen fand auch das dem biblischen Vokabular entlehnte Thema des »guten Fürsten, der dem guten Hirten gleichen muss«10, seinen Platz.11 Das Bemühen um die moralische Erziehung der Fürsten brachte noch bis Ende des 18. Jahrhunderts eine ansehnliche Literatur hervor.12 Denken wir nur in Bezug auf Frankreich an Bossuet und seine Lettres sur l’éducation du Dauphin (1679), an den Traité de l’éducation d’un prince von Pierre Nicole (1670, veröffentlicht in seinen Essais de morale) oder an Fénelon, der für den Duc de Bourgogne, dessen Erzieher er war, Les Aventures de Télémaque (1699) verfasste. Doch ging der Horizont dieser Schriften nicht mehr über das Individuelle hinaus. Sie zielten darauf ab, den König als Person zu einem guten Christen zu erziehen, erhoben aber keinen Anspruch mehr, seine Regierungsweise zu definieren.

Der reine Mandatsträger Für die Protagonisten von 1789 bedeutete der Bruch mit dem Feudalregime, einem durch und durch korrupten Universum ein Ende zu setzen und Talente und Tugend auf den Kommandoposten zu befördern. Sie träumten ganz gewiss nicht von einer Rückkehr des guten Fürsten, dessen Porträt sich in den Spiegeln abgezeichnet hatte – das Mittelalter war für sie eine dunkle Zeit. Ihren Bezugspunkt bildete die Antike – war nicht nach einem berühmten Diktum von Saint-Just die Welt »seit den Römern leer« gewesen? –, und die meisten Mitglieder der Konsti9 De Pizan, Le Livre du corps de policie, S. 17 (so lautet der Titel von Buch 1, Kapitel 11; ich habe die Formulierung modernisiert). 10 Ebd., S. 13 (Titel von Buch 1, Kapitel 9). 11 Hier würde sich anbieten, die These Michel Foucaults über den Stellenwert des pastoralen Modells zu diskutieren, das er auf Grundlage der Unterscheidung zwischen Verwaltung von Bevölkerungen und Verwaltung von Territorien, meiner Meinung nach vorschnell, mit dem der modernen liberalen Gouvernementalität in Verbindung bringt, auch wenn beide sich tatsächlich von Theorien der Staatsräson entfernen. Vgl. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, und ders., »›Omnes et singulatim‹: zu einer Kritik der politischen Vernunft« (1979). 12 Für einen Überblick vgl. Meyer, L’Éducation des princes en Europe du XVe au XIXe siècle; und Neveu, »Futurs rois très chrétiens«.

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tuante hatten Plutarchs Von großen Griechen und Römern und Abbé Barthélemys Die Reise des jungen Anarchasis durch Griechenland (einen der Bestseller des ausgehenden 18. Jahrhunderts) in ihrem Bücherregal. Die Repräsentanten, die sie sich wünschten, sollten, nach den Worten von Sieyès »die redlichsten gebildetesten, am meisten um das Wohl des Volkes bemühten Männer« sein.13 Wie sollte man diese ausfindig machen? Das war Aufgabe der Wahlen. Doch bedeutete »wählen« damals noch etwas anderes, als wir heute mit diesem Begriff verbinden. Wählen [élire] bewahrte seine ursprüngliche Bedeutung einer Persönlichkeitswahl, mit dem theologischen Beiklang einer »erleuchteten Wahl«, der dem lateinischen electio eignete. »Es ist nur gerecht«, schrieb Sieyès dementsprechend, »dass die Männer, die den Auftrag haben, die Nation zu repräsentieren, dem Kreise derer entnommen sind, die ihr am meisten Ehre machen, die sich die größten Verdienste um ihr Land erworben haben.«14 Wählen hieß somit, individuelle Eigenschaften zu erkennen. Es hieß nicht, als Schiedsrichter in einem Wettbewerb konkurrierender Programme oder rivalisierender Persönlichkeiten zu fungieren. »Die Versammlung der Volksvertreter besteht aus den Besten [hommes d’élite], weil sie gewählt wurden«, hieß es kurz und bündig.15 Schon 1789 wurde oft der Vorwurf erhoben, die Repräsentanten tendierten dazu, ihre Mandate zu vernachlässigen und eine neuartige Aristokratie zu bilden. Doch dem damaligen Verständnis nach zielten die Wahlen gerade darauf ab, dieser Entwicklung vorzubeugen. Die Gewählten stellten eine Elite dar, doch verstand man diese als Summe bloßer Individuen, die untereinander kein Korps bildeten. Der Begriff »Elite« ergab nur im Singular einen Sinn, zur Bezeichnung des um seiner rein persönlichen Eigenschaften willen gewürdigten Mandatsträgers.16 Artikel 6 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung stipulierte dementsprechend, dass die einzige Funktion der Wahlen sein müsse, 13 14 15 16

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Boulay de la Meurthe, Théorie constitutionennelle de Sieyès, S. 14. Sieyès, »La nation«. Gudin de la Brenellerie, Supplément au Contrat social, S. 18. Diese Vorstellung passte zu der Tatsache, dass man Repräsentation nicht als eine Art Spiegel betrachtete, der die Gesellschaft abbilden sollte, sondern als eine Funktion. Repräsentanten gab es nur im Plural, um den Wunsch der Nation auszudrücken; keiner von ihnen war der Repräsentant seines Wahlkreises.

Talent und Tugend aufzuspüren. Diese Eigenschaften waren folglich nicht addierbar, um der Entstehung einer Gruppe oder Kaste als Grundlage zu dienen. Es gab herausragende Persönlichkeiten [individualités d’élite], aber keine Eliten, auch keine »Kapazitäten«, wie man später bei den Liberalkonservativen sagen sollte, um das Zensuswahlrecht zu rechtfertigen. Die per Wahl Auserkorenen bildeten eine vollkommen dynamische, jederzeit veränderliche De-facto-Gruppierung.17 Ihr durch Wahlen beglaubigter Vorrang fiel nicht in die Kategorie einer wesenhaften Überlegenheit, verstieß also nicht gegen die Gleichheit. Diesen Umstand erläuterte Thomas Paine am Beispiel derer, die sich durch ihre Weisheit auszeichneten: »Die Weisheit gleicht einer ungesäten Pflanze: Sie kann gezogen werden, wenn sie erscheint, aber nicht willkürlich hervorgebracht werden. In der allgemeinen Masse der Gesellschaft ist immer ein hinlängliches Maß davon zu allen Zwecken vorhanden, allein was die Teile der Gesellschaft betrifft, so verändert sie immer ihren Ort. Sie steigt heute an dem einen, morgen an dem anderen empor und hat wahrscheinlich in ihrem Umlauf jedes Geschlecht der Erde besucht und sich ihm wieder entzogen.«18 Diese als »reine« zu bezeichnende Auffassung der Wahlen äußerte sich während der Französischen Revolution in dem Verbot, sich auf Wahlämter zu bewerben. Diese Verfügung, die uns überraschend erscheint, so eng ist heute die Vorstellung von Wahlen mit der von Wahlkämpfern verknüpft, war nicht irgendein Überbleibsel alter Zeiten. Sie entsprang im Gegenteil reiflicher Überlegung und einer klar umrisse17 Das Privileg nämlich resultiert aus der Anerkennung und Institutionalisierung einer Ungleichheit. Der Vorrang hingegen resultiert aus einer flüchtigen Differenzierung, die jederzeit wieder infrage gestellt werden kann. »Die Wahlen«, schreibt Patrice Gueniffey in diesem Sinne, »beseitigen immer wieder die Differenzen, die sie zwischen den Bürgern schaffen […]. Die durch Wahlen gebildete Elite ist eine wesentlich mobile, die sich ständig neu zusammensetzt, nach Maßgabe der veränderten Vertrauensverhältnisse, die ihrerseits aus der Verlagerung der Fähigkeiten in einer mit der Entstehung der Rechtsgleichheit offen und durchlässig gewordenen Gesellschaft resultieren. Denn das öffentliche Ansehen aufgrund persönlicher Verdienste, ›das zwangsläufig ungebunden ist, schwindet in dem Moment, da es aufhört, verdient zu sein‹, wie Sieyès sagte« (Gueniffey, Le Nombre et la raison, S. 128). 18 Paine, Die Rechte des Menschen, S. 209.

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nen Wahlphilosophie.19 Aus ihr sprach zunächst eine geradezu obsessive Abneigung gegen alles, was den Gleichheitsgedanken bedrohte. Denn die Tatsache, dass man sich um die Stimmen anderer bemühte, konnte auch als persönlicher Eignungsanspruch, als Zurschaustellung einer gewissen Überlegenheit, als Ausdruck eines verdächtigen Ehrgeizes gewertet werden. Kurzum, man witterte aristokratische Anwandlungen in der mit einer Kandidatur automatisch verbundenen Distinktion. Das Verbot von Kandidaturen entsprach also der oben erwähnten Wahlphilosophie. Man verstand Wahlen vorrangig als Verfahren zum Aufspüren der geeignetsten und würdigsten Teilnehmer an der Formulierung des nationalen Willens.20 Sie setzten also keine kontroverse Diskussion, keine politisch motivierte Entscheidung nach dem heute üblichen Wahlverständnis voraus. Doch was man auch und vielleicht in erster Linie ablehnte, war all das, was mit dem Bemühen um Wählerstimmen zusammenhing: die Versuchung einer möglichst vorteilhaften Selbstdarstellung, um den Wähler zu täuschen, die dominierende Rolle rhetorischer Effekte, die Risiken von Korruption. Und man versäumte nicht, daran zu erinnern, dass in Rom, zuzeiten der Republik, die brigue hart bestraft wurde, das heißt die mit Wählermanipulationen verbundene Kandidatur (der Ausdruck hat überdauert). Weswegen die revolutionäre Gesetzgebung die Wähler verpflichtete, dem Leiter des Wahlbüros folgenden Eid zu leisten, bevor sie den Zettel in die Urne warfen: »Ihr schwört und versichert auf Ehre und Gewissen, nur jene zu wählen, die euch des öffentlichen Vertrauens am würdigsten erscheinen, ohne durch Geschenke, Versprechungen, Aufforderun19 Diesen grundlegenden Sachverhalt hat Patrice Gueniffey in Le Nombre et la Raison sehr gut herausgearbeitet. 20 Quatremere de Quincey schrieb diesbezüglich auf sehr anschauliche Weise: »Jede Maßnahme, die versucht, die öffentliche Debatte auf die Individuen zu lenken, weckt und reizt die Leidenschaften, entfacht von Neuem den Parteienhader, den man so gründlich vergessen sollte, dass nicht einmal der Name bleibt. Die wahre Kandidatur hingegen, die der öffentlichen Meinung, die einzige, die unserer Regierung und unseren Sitten entspricht, verallgemeinert gerne alles, was die andere vereinzelt […]. Die wirkliche Liste der Kandidaten sollte nicht die Aneinanderreihung der individuellen Porträts dieser oder jener Personen sein, sondern die Verbindung der Merkmale, die sich eignen, das Modell oder den Typus zu bilden, dem jeder der Kandidaten ähneln sollte« (Quatremere de Quincey, La Véritable Liste des candidats, S. 17–18).

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gen oder Drohungen dazu veranlasst worden zu sein.« Diese Formel wurde sogar häufig auf die Wahlscheine gedruckt, ein Zeichen der Bedeutung, die man ihr beimaß. Ein solches Verständnis von Wahlen scheint heute faktisch überholt. Dennoch hat sich inhaltlich etwas davon erhalten, nämlich das diffuse Ideal einer parteipolitische Grenzen überwindenden Wahl eines guten Repräsentanten oder guten Regierenden. Diese »reine Wahl« ist auf lokaler Ebene noch anzutreffen. Gelegentlich kehrt sie auch auf die große politische Bühne zurück. Die Art, in der General de Gaulle sich der Wahl seiner Mitbürger stellte, die Weigerung, in die Rolle eines gewöhnlichen Kandidaten zu schlüpfen, war zu ihrer Zeit ein guter Beleg für die Beständigkeit dieses Bestrebens, ein Engagement im Dienste des Gemeinwohls und nicht die Cleverness eines Parteiführers gewürdigt zu sehen.

Der homme-peuple Wäre eine politische Persönlichkeit die vollkommene Verkörperung der Gesellschaft, das heißt, würde sie ihre Interessen und Meinungen ebenso angemessen repräsentieren wie ihre Erwartungen oder Ängste, würde sie einstimmig gewählt, und die verschiedenen Widersprüche und Spannungen, von denen Wahlen geprägt sind, würden sich auflösen. Man wird sofort und zu Recht einwenden, dass diese Eventualität ein bloßes Hirngespinst ist und dass eine derartige Inkarnation in einer komplexen und gespaltenen Gesellschaft keinen Sinn ergibt. Dennoch ist die politische Geschichte voller Beispiele für diesen Anspruch. In Frankreich haben, wie bereits erwähnt, manche Anhänger des Ersten Kaiserreichs Napoleon zum »homme-peuple« erklärt, um seine Rechte auf Führung des Landes zu untermauern. Ein Ausdruck, der fünfzig Jahre später, in Bezug auf seinen Neffen, wieder in Gebrauch kam.21 Napoleon III . behauptete in seinen Napoleonischen Ideen übrigens selbst, es sei »die Natur der Demokratie […], daß sie sich in einem Einzelnen personificirt«.22 Gegner beider Regime kritisierten solche For21 »Der Kaiser ist kein Mann, er ist ein Volk«, behauptete einer der Apologeten des Zweiten Kaiserreichs. Vgl. La Guéronnière, Portraits politiques contemporains. Napoléon III , S. 93. 22 Bonaparte, Napoleonische Ideen, S. 13.

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mulierungen als plumpe Parolen, um persönliche Machtgelüste zu verschleiern und eine Reihe zutiefst illiberaler Praktiken zu rechtfertigen. Man erfand die Kategorie des »Cäsarismus« zur Bezeichnung solcher Ambitionen und reduzierte sie implizit auf eine spezifisch französische Pathologie, deren Ursprung in den Exzessen der Revolution zu suchen sei. Damit verkannte man, dass dieser Cäsarismus einen unbestreitbaren Rückhalt in der Bevölkerung besaß, weil er auf seine, sicherlich problematische Weise zugleich eine Antwort auf ein Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens und die Erwartung einer voluntaristischen Politik gab. Er stellte die Exekutivgewalt in den Mittelpunkt und beanspruchte zugleich, das demokratische Ideal zu erfüllen, mithin Inkarnationsprinzip und Verantwortungsgebot in Einklang zu bringen. Diese Kombination stellte keineswegs einen französischen Sonderfall dar, den zu reflektieren nutzlos wäre, sondern nahm in der Folge, über die verschiedenen totalitären und populistischen Regime, eine Vielzahl weiterer Ausprägungen an. Die kommunistischen Regime des 20. Jahrhunderts entwarfen ebenfalls die Gestalt einer monolithischen Macht, innerhalb derer die Exekutive nur eine Facette darstellte. Sie nahmen für sich in Anspruch, lediglich eine Macht der Gesellschaft über sich selbst geschaffen zu haben, wobei Letztere, vermeintlich homogen und geeint, seitdem sie die Feinde in ihrem Inneren vertrieben hätte, durch die Partei perfekt verkörpert würde.23 Deshalb wurde in der kommunistischen Welt die Realität der Demokratie an ihrem »Klassencharakter« gemessen und nicht an ihrer Übereinstimmung mit prozeduralen Kriterien. Der Allgemeinwille resultierte nicht aus einer Arithmetik individueller Präferenzen und Meinungen, die über den Wahlvorgang vermeintlich frei zum Ausdruck kämen. Er war vielmehr ein soziales Phänomen und ein historisches Faktum, der objektive Wille einer geeinten und kohärenten, über sich selbst gebietenden Gemeinschaft. Sie konnte folglich von denen ausgedrückt werden, die das Wissen über die Zukunft der Gesellschaft und über ihre Gegenwart besaßen. Diese Gesellschaft zu »repräsentieren« war somit eine objektive kognitive Aufgabe, keinesfalls 23 Es gibt in der Tat einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Anspruch auf Verkörperung und der Annahme eines geeinten und homogenen, folglich leicht repräsentierbaren Volkes.

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eine Verfahrenssache. Denn wenn das Volk eine wirkliche Einheit bildete, gab es keinen Unterschied zwischen Repräsentation und sozialem Wissen mehr: die Positionen der Subjekte gingen in diesem Fall vollständig in der Objektivität sozialer Lagen auf; die Wahrheit des Ganzen und die der Einzelnen fielen zusammen. Daher die Rechtfertigung der Einheitspartei als bloßer »Form« einer objektiv homogenen Klasse. »Proletarische Klasse = kommunistische Partei Russlands = Sowjetmacht«, konnte Lenin somit postulieren.24 Eine Überlagerung dieser Äquivalenzen veranlasste Solschenizyn dazu, Stalin als Egokraten zu bezeichnen.25 In seinem Kommentar zu diesem Neologismus wies Claude Lefort zu Recht darauf hin, der Schriftsteller habe damit nahelegen wollen, dass die Person nicht zu verstehen sei, wenn sie weiter in den üblichen Begriffen wie Autokrat, Diktator oder Despot beschrieben würde. »Mit dem Egokraten«, schrieb er folgerichtig, »verwirklicht sich auf irreale Weise die Einheit einer rein menschlichen Gesellschaft. Mit ihm entsteht der vollkommene Spiegel des Einzigen. Das ist mit dem Wort Egokrat gemeint: kein Herrscher, der losgelöst von den Gesetzen allein regiert, sondern derjenige, der die gesellschaftliche Macht auf sich vereinigt, der den Anschein erweckt, die Substanz der Gesellschaft aufgesogen zu haben, als könne er, das absolute Ego, sich endlos ausdehnen, ohne je auf Widerstand in den Dingen zu stoßen […]. Selbst zurückgezogen in seiner Kreml-Festung ist er noch mit der ganzen Gesellschaft verbunden.«26 Mehr noch als Ludwig XIV. in seinem Glauben, den Staat zu verkörpern, konnte Stalin von sich behaupten: »Die Gesellschaft bin ich.« Es war also nicht mehr möglich, eine Unterscheidung zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Macht vorzunehmen. Beide gelangten vollkommen zur Deckung. Die radikale Individualisierung der Macht und die Unpersönlichkeit des Gesetzes gingen ineinander über. Der Egokrat bediente beide Seiten: Er war der Führer, der den Kult um seine Person inszenierte, und konnte gleichzeitig behaupten, nur die ano24 Lenin, Briefe, Band 6, S. 306 [dort wörtlich: »klass.-proletar. = KPR = Sowjetmacht«, AdÜ]. 25 Solschenizyn, Der Archipel GULAG 1, S. 91 [dort: »seine Alleinherrschaftliche Majestät«, AdÜ]. 26 Lefort, Un homme en trop. Réflexions sur »L’Archipel du Goulag«, S. 68–69.

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nyme Stimme des Ganzen zu sein. Er war zugleich absoluter Herr und Inkarnation des Volkes. Er sagte nie: »Ich will …«, sondern: »Die Partei denkt, dass …«, »Die Partei hat entschieden …«, »Die Massen erwarten, dass …« Im Rahmen einer solchen Macht, die vermeintlich die reine Inkarnation der Gesellschaft war, musste auch das Volk vermeintlich sich selbst regieren. Die Pyramide der Äquivalenzen, über die Führer und Massen einander gleichgesetzt wurden, schuf damit die einzige Art von Regime, das für sich in Anspruch nehmen konnte, die Selbstregierung zu verwirklichen (eine Weile »Sowjetmacht« getauft). Auch populistische Bewegungen haben sich, wenngleich in kleinerem Maßstab, die Thematik des homme-peuple und der monolithischen Macht angeeignet. Auf besonders offenkundige Weise in Lateinamerika. »Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk«, diese penetrant wiederholten Worte des kolumbianischen Spitzenpolitikers der 1930er und 1940er Jahre, Jorge Eliécer Gaitán27, waren wegweisend für die nachfolgenden Populismen auf dem ganzen Kontinent. Der Werdegang dieses Politikers ist übrigens der Erwähnung wert. Nach Abschluss seines Studiums in Rom in den Jahren 1926–1927 promovierte er bei Enrico Ferri, einem berühmten Kriminologen, der vom Sozialismus zum Faschismus übergewechselt war, und wurde dessen Günstling. Gaitán nahm mehrmals an Kundgebungen Mussolinis teil und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, die Energie einer Masse zu beherrschen und zu steuern. Er studierte sogar im Detail die Gestik des Duce und seine Art, mit wechselnden Intonationen seiner Stimme die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer aufrechtzuerhalten – Techniken, die er für seine eigenen politischen Auftritte in Kolumbien übernahm. Gaitán, »Kandidat des Volkes« bei den Präsidentschaftswahlen, zugleich Antikapitalist, Oligarchiegegner und Konservativer, wurde 1948 ermordet. Seit dieser Zeit steht seine Name sinnbildlich für den Geist des lateinamerikanischen Populismus, seine Sprache und sein anti-oligarchisches Engagement, aber auch seine Widersprüchlichkeiten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der ebenfalls beabsichtigte, sich zur Inkarnation des Volkes zu machen und von »Entpersonalisierung« sprach, um zu beschreiben, was die

27 Zit. n. Hermet, »Les populismes latino-américains«.

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Revolution mit ihm im Schilde führte28, vom Aufgehen seiner Persönlichkeit in der der Argentinier. Eva Perón, die als Interpretin und Hüterin dieser Verschmelzung fungierte,29 verstieg sich sogar zu der Behauptung, alles, was ihr als Evita passiere (dem Mädchen aus dem Volk, im Gegensatz zu Eva, der Präsidentengattin), sei Sache des Volkes. Als ihre Feinde ihr, um sie in der Öffentlichkeit zu diskreditieren, ihren Schmuck und ihre üppige Garderobe vorhielten, erwiderte sie bei einem öffentlichen Auftritt großspurig und unter dem Applaus der Menge: »Sollen wir Armen nicht ebenso viel Recht haben wie die Reichen, Pelzmäntel und Perlenschmuck zu tragen?«30 Alles liegt in diesem Wir! Erst unlängst, im 21. Jahrhundert, anlässlich der Präsidentschaftskampagne in Venezuela von 2012, bemühte Hugo Chávez, unter explizitem Bezug auf Gaitán, ein weiteres Mal die Zauberformel: »Wenn ich euch sehe«, appellierte er dementsprechend an die versammelten Massen auf seinen Veranstaltungen, »wenn ihr mich seht, dann spüre ich, dann sagt mir etwas: ›Chávez, du bist nicht mehr Chávez, du bist ein Volk.‹ Ich bin tatsächlich nicht mehr ich, ich bin ein Volk, ich bin ihr, so empfinde ich es, ich habe mich in euch verkörpert. Ich sagte es schon und sage es noch einmal: Wir sind Millionen Chávez; auch du bist Chávez, venezuelanische Frau; auch du bist Chávez, venezuelanischer Soldat; auch du bist Chávez, Fischer, Landwirt, Bauer, Kaufmann. Denn Chávez bin nicht mehr ich, Chávez ist ein ganzes Volk!«31 Auf diese Weise wurde die alte Vorstellung einer spiegelbildlichen Repräsentation wiederbelebt.32 In seiner Antrittsrede als Staatspräsident von

28 29 30 31

Perón, Rede vom 1. Mai 1974, in: Péron, El Modelo argentino, S. 11. Vgl. ihr außergewöhnliches Der Sinn meines Lebens (La Razón de mi vida). Zit. n. Caillois, Die Spiele und die Menschen, S. 140. Rede vom 12. Juli 2012. Formulierungen, die am 9. und 12. September 2012 wörtlich wiederholt wurden. 32 Anzumerken ist, dass Subcomandante Marcos in diesem Sinne das ständige Tragen einer Skimütze rechtfertigte. Als man ihn fragte, wer sich unter der Maske verberge, antwortete er: »Wenn du wissen willst, wer Marcos ist, nimm einen Spiegel, das Gesicht, das du darin siehst, ist das von Marcos. Denn Marcos bist du, Frau, bist du, Mann, bist du, Indigener, Bauer, Soldat, Student … Wir alle sind Marcos, ein ganzes aufständiges Volk« (zit. n. Ramonet, Marcos, la diginité rebelle, Hervorhebung von mir).

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1999 hatte er seinem Publikum sogar zugerufen: »Heute verwandle ich mich in euer Werkzeug. Mich gibt es kaum, ich erfülle nur das Mandat, das ihr mir erteilt habt. Bereitet euch auf das Regieren vor!«33 Deutlicher konnte man einen scheindemokratischen Präsidialismus nicht rechtfertigen. Cäsarismus, Totalitarismus, Populismus: Solche Kategorien sind natürlich alles andere als homogen, und die mit diesen Begriffen bezeichneten Regime waren, historisch gesehen, sehr unterschiedlich ausgeprägt hinsichtlich des Ausmaßes ihrer repressiven und freiheitsfeindlichen Züge. Dennoch einte all diese Regime, über ihre beträchtlichen Unterschiede hinweg, der Anspruch, die von den Wahlen gezogenen Grenzen zu überschreiten und eine von ihnen als radikal demokratisch empfundene Form von personalisierter Macht zu installieren. Die Identitätspolitiken, die sich heute überall im Aufwind befinden, bieten einen neuen Nährboden für die Entstehung eines Verständnisses von Exekutivgewalt, das die Vision sozialer/nationaler Homogenität mit einem personifizierten Voluntarismus zu einem Präsidentschaftswahlprogramm verbindet.

Der Politiker aus Berufung Fernab solcher Ambitionen und der Utopie einer reinen Wahl hat Max Weber mit dem Realismus eines Soziologen, der imstande ist, die aus der Entstehung des modernen Parteienwesens resultierenden Probleme zu analysieren, über die Frage der politischen Führung im 20. Jahrhundert nachgedacht. Er ahnte voraus, dass die Präsidialisierung der Demokratien, im Gegensatz zur vorherigen Kultur parlamentarischer Unpersönlichkeit, dazu führen würde, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Lebensfähigkeit der politischen Systeme und der Qualität der Inhaber höchster Staatsämter herzustellen.34 In gleichzeitiger Abkehr vom Dilettantismus der europäischen Honoratioren wie von der Unternehmermentalität amerikanischer Mandatsträger wünschte er sich das Aufkommen von »Politikern aus Beru-

33 Chávez, Seis discursos del Presidente constitucional de Venezuela, S. 47. 34 Vgl. Duran, »Max Weber et la fabrique des hommes politiques«; und ColliotThélène, »Préface«.

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fung«35, die er den Berufspolitikern gegenüberstellte. Als jemand, der die Bürokratisierung der Parteien seiner Zeit, und insbesondere der bestorganisierten unter ihnen, der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, unmittelbar miterlebte, war Weber auch Zeuge der zunehmenden Bedeutung der Apparatschiks in ihren Reihen. Er beobachtete den Aufstieg von Politikern ohne besondere Eigenschaften, Leuten, die ob als Parteifunktionäre oder Journalisten von der Politik lebten, Personen ohne feste Überzeugungen, mit schwach ausgeprägtem Verantwortungsgefühl, deren Horizont sich auf die anstehenden Kongressthemen oder die unmittelbaren Wahlkampferfordernisse beschränkte. Während die Rekrutierung des Führungspersonals für ihn das große Problem der Demokratien an der Schwelle zum Präsidialismus darstellte, musste er mit Verbitterung zur Kenntnis nehmen, dass die Geschichte sich in die entgegengesetzte Richtung zu entwickeln begann. In Bezug auf das Parlament seines Landes stellte er die Frage, ob man es zur »Auslesestätte von Führern oder von Amtsstrebern« machen wolle.36 Im Innern zutiefst skeptisch, skizzierte er das Kontrastbild des Typs von Politikern aus Berufung, die die Demokratien seiner Meinung nach benötigten. Politikern mit Sinn für Verantwortung, die verstanden, dass Machtausübung die Pflicht zur Rechenschaftslegung beinhaltete; Politikern, die Eigenständigkeit beweisen und sich der Parteidisziplin entziehen konnten, um allein dem Gemeinwohl zu dienen; Politikern, die bereit waren, sich einer Sache mit Haut und Haaren zu verschreiben; Politikern schließlich, die besaßen, was er »Augenmaß« nannte, das heißt die Fähigkeit, über das Unmittelbare hinauszublicken und die Realität in ihrer Komplexität und zeitlichen Veränderung zu erfassen.37 Würden mit solchen Eigenschaften ausgestattete, über eine charismatische Dimension verfügende Personen in der Lage sein, sich gegen die großen politischen Apparate zu behaupten oder gar aus ihnen hervorzugehen? Weber hatte hier einen Idealtyp entworfen, für 35 Vgl. Weber, »Politik als Beruf« [Weber spricht nicht expressis verbis von »Berufung«, sondern verwendet gelegentlich den Begriff »Beruf« in diesem Sinne, etwa in »Politiker kraft ›Berufes‹ in des Wortes eigentlichster Bedeutung« (S. 567), oder wenn er von dem »echten Menschen« spricht, »der den ›Beruf zur Politik‹ haben kann« (S. 609), AdÜ]. 36 Weber, »Parlament und Regierung«, S. 380. 37 Über diese Eigenschaften vgl. Weber, »Politik als Beruf«, S. 598.

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den die Geschichte nur wenige Belege lieferte. Daher die Notwendigkeit, eine demokratisch verfasste Präsidialisierung der Politik auf andere Weise zu begreifen als über die Figur eines idealen Führers. Im gleichen Sinne wurde bisweilen im 20. Jahrhundert die Figur des Politikers mit der des leitenden Beamten kontrastiert, besonders in Frankreich. Über ihre rationalistische Dimension hinaus war die technokratische Kultur des 20. Jahrhunderts bestrebt, ihre Legitimität mit geistiger und moralischer Überlegenheit zu begründen und damit die Technokraten zu modernen Ausgaben des Fürsten im Dienst des Volkes oder des mönchischen Regenten zu erheben. »Man ging in die Verwaltung, wie man einem Orden beitrat, um den Kampf fortzusetzen«, wie einer dieser leitenden Beamten der Nachkriegszeit die Geisteshaltung der Generation zusammenfasste, die damals die Führung übernahm.38 Es waren Begriffe wie »Berufung zum Dienst an der Öffentlichkeit«, »Glaube an den Staat«, »Wirken im Dienste des Gemeinwohls«, ja sogar »heiliges Amt«, die ihnen spontan in den Sinn kamen, wenn es darum ging, sich selbst zu beschreiben.39 Eine der archetypischen Gestalten dieses Milieus, der Finanzinspektor Simon Nora, brachte auf besonders eindrückliche Weise die Motivationen und Rechtfertigungen dieser Generation zum Ausdruck. »Wir waren«, schrieb er, »die Schönsten, die Intelligentesten, die Ehrlichsten und die Vertreter der Legitimität. Man muss sich vor Augen halten, dass dieses Gefühl, das ich hier leicht ironisch beschreibe, die Technokratie drei oder vier Jahrzehnte lang beseelte.«40 Diese Technokraten hatten ihre »Spiegel« in einigen großen, aus der Resistance hervorgegangenen Texten, an die sie sich wirklich zu halten bemühten. Sie stellten damit eine Ausnahme dar. Eine Ausnahme, die notgedrungen vorübergehender Natur war, denn die Überbleibsel aristokratischer Gesinnung in diesen Staatsorganen, die dazu neigten, sich als die einzig legitimen Vertreter des Gemeinwohls zu betrachten41, 38 Die Formulierung stammt von Simon Nora, zit. n. Fourquet, Les Comptes de la puissance. 39 Diese Begriffe sind einem Text von François Bloch-Lainé entnommen, einer der typischen Erscheinungen dieses Milieus (Bloch-Lainé, Profession: fonctionnaire). 40 Nora, »Servir l’État«, S. 102. 41 Es wäre nicht schwer nachzuweisen, dass sie sich jenen »erleuchteten Organen« ebenbürtig fühlten, von denen ihr Theoretiker, Henri François d’Aguesseau, in Bezug auf die Richterschaft des 17. Jahrhunderts sprach.

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waren auf Dauer kaum vereinbar mit dem Aufkommen einer in demokratischer Hinsicht anspruchsvolleren Gesellschaft. Von den Politikern aus Berufung, die Max Weber sich wünschte, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts weit und breit nichts zu sehen. Vielmehr scheint es so, als stellten die Karrieristen und Apparatschiks beiderlei Geschlechts heute das Gros der politischen Klasse. Abgesehen von soziologischen Gründen »technischer« Art, die mit der Funktionsweise der Parteien und des Wahlsystems zusammenhängen, eignen sich gewisse objektive Faktoren der Elitenverteilung zur Erklärung dieser Trägheitsmomente. Denn es gibt in jeder Gesellschaft Hierarchien und Systeme individueller oder sozialer Bewertung der verschiedenen Berufe, Stellungen und Tätigkeiten, die Einfluss auf die individuelle Berufswahl nehmen. Im kaiserlichen China zog die Bürokratie die brillantesten Köpfe an, während das wissenschaftlich-technische Universum weniger Interesse weckte. Deshalb hat China in diesen Bereichen, in denen es zuvor führend war, mit der Zeit einen beträchtlichen Rückstand gegenüber dem Westen angehäuft. Im Europa der Renaissance konzentrierten sich Angehörige religiöser Minderheiten, wie die Juden, denen der Zugang zu öffentlichen Ämtern versperrt war, auf Tätigkeiten im Bereich Handel und Finanzen. Das geistige Leben wiederum erlebte eine Blüte, wenn vielen bedeutenden Denkern nur begrenzte Karrieremöglichkeiten offenstanden. Auf diese Weise hatten Berufe in der Politik, der Wirtschaft, der Armee, dem geistigen und künstlerischen Schaffen in jeder historischen Epoche eine unterschiedliche Anziehungskraft. Für heute lässt sich behaupten, dass politische Ämter weniger attraktiv zu sein scheinen als Tätigkeiten im intellektuellen Bereich, in der Kunst oder auch in der Wirtschaft und der Finanzwelt. Und Umfragen belegen, dass die soziale Anerkennung, die sie genießen, stark nachgelassen hat. Das ist einer der tragischen Aspekte der zeitgenössischen Politik, denn wir brauchen heute, in einer Zeit des brüchig gewordenen sozialen Zusammenhalts, in der entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft des Planeten anstehen, mehr denn je eine lebendige Demokratie und folglich »gute Regierende«. Das sind keine Probleme, die dadurch gelöst würden, dass man auf die Ankunft irgendwelcher Hoffnungsträger oder Heilsbringer wartet, höherer Wesen, denen man zutraut, jene Formen von Ohnmacht und Mittelmaß 289

zu überwinden, in denen die heutigen Demokratien erstarrt sind. Die Trendwende will behutsamer vollzogen sein, um dauerhaftere Effekte zu erzielen. Zunächst gilt es, eine in die Brüche gegangene Beziehung zwischen Regierenden und Gesellschaft wiederherzustellen.

Die Vertrauensperson Die Wiederherstellung einer demokratischen Beziehung zwischen Regierten und Regierenden verläuft in erster Linie über die Reparatur eines heute stark beschädigten Vertrauensverhältnisses. Vertrauen bedeutet, sich auf jemanden verlassen zu können. Man definiert es deshalb in der Soziologie als Einstellung gegenüber anderen, die es ermöglicht, eine »Hypothese künftigen Verhaltens«42 aufzustellen. Es bezeichnet ein Verhältnis zu einem Dritten, das auf dem Wissen, das man über ihn hat, beruht. Ein Wissen, das es ermöglicht, seine Fähigkeit, ein Ziel zu verfolgen, seine Aufrichtigkeit und sein Engagement für das Gemeinwohl zu beurteilen.43 Vertrauen ist zugleich eine Methode, um sich Erklärungen und Rechtfertigungen zu ersparen (wer Vertrauen genießt, stößt mit seinen Vorschlägen auf eine wohlwollende Einstellung) und auf institutionelle Absicherung zu verzichten, da es die Herstellung einer zeitlich stabilen Beziehung ermöglicht, ohne dass es nötig wäre, sich auf formale Beglaubigungsverfahren zu stützen (das Wort gilt als Vertrag oder, in der Politik, eine einmal erteilte Genehmigung behält über die Zeit hinweg ihre Gültigkeit). Dieses Vertrauen spielt fortan eine umso wichtigere Rolle zwischen Regierten und Regierenden, als Letztere, wie im Vorherigen gezeigt, an »Repräsentationsvermögen« eingebüßt haben.44

42 Simmel, Soziologie, S. 263. 43 »Vertrauen, als die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen, ist als Hypothese ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen. Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen« (Simmel, ebd.). 44 Hier ist zu unterscheiden zwischen der Unverzichtbarkeit des Vertrauens zwischen Personen als unerlässlicher »unsichtbarer Institution« und dem notwendigen Misstrauen gegenüber den Institutionen, das für die »konter-demokratische« Seite des demokratischen Handelns wesentlich ist.

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Auf diese Weise kehrt das alte Modell des trustee, der Vertrauensperson, als wesentliche Bezugsgröße zur Beschreibung des guten Regierenden zurück. Einst auf die ältesten Formen der Repräsentation bezogen, die der totalen Übertragung der Macht, für andere zu handeln, unter dem doppelten Aspekt des absoluten Vertrauens und der unbedingten Zubilligung der Fähigkeit, die anvertrauten Aufgaben zu erfüllen, gelangt dieses Konzept, das die Repräsentation essenzialisiert, in einem post-repräsentativen politischen Universum paradoxerweise zu neuer Relevanz.45 Allerdings auf eine Art, die man als streng funktional bezeichnen könnte, insofern das Wesen der Regierungs- und Exekutivgewalt gerade darin besteht, die Vorstellungen von Mandat und Abbildung, die den modernen Repräsentationsbegriff geprägt haben, technisch überflüssig zu machen. Als Ausdruck der Intervention in den Bereich des Unvorhergesehenen und Partikularen kann die Exekutivgewalt über ihr ursprüngliches Genehmigungsverfahren hinaus künftig nur noch dann als demokratisch anerkannt werden, wenn sie eine intertemporale Dimension in der Größenordnung derer erlangt, die für die Position des trustee kennzeichnend ist. Darauf zielt im Bereich der Praxis der Aufbau der Betätigungsdemokratie ab, betrachtet unter dem Gesichtspunkt der für die Beziehung der Regierten zu den Regierenden charakteristischen Eigenschaften, die wir im vorangegangenen Kapitel untersucht haben. Mit dem Begriff des Vertrauens wird die Qualität der Regierenden selbst als Mittel in Betracht gezogen, ihnen diese Fähigkeit zu dauerhafter Existenz zu verleihen. Zwei Eigenschaften erscheinen dafür als unabdingbar. Zunächst die Integrität. Denn sie liefert eine wichtige Information hinsichtlich der Qualität der Personen und ihrer moralischen Eignung für ein Amt; sie ermöglicht es, eine Art Identifizierung dieser Personen mit den von ihnen ausgeübten Pflichten vorzunehmen und ihnen eben damit eine zeitliche Dichte zu verleihen. Das Wahrsprechen ist die zweite Eigenschaft, die es auch ermöglicht, die Art von kognitiver Beziehung aufzubauen, die für das Vertrauen grundlegend ist.

45 Dieser Punkt ist Bernard Manin aufgefallen (Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, S. 301).

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Wahrsprechen »Die öffentliche Sprache ist eine tote Sprache geworden«, bemerkte kürzlich ein führender Politiker.46 Dieser Befund bezog sich auf die Vorstellung einer unverständlich und unvernehmlich gewordenen Sprache. Was umgekehrt voraussetzt, dass sie einstmals lebendig gewesen ist, und das in doppelter Hinsicht: als Stifterin von Beziehungen und Medium gegenseitiger Verständigung einerseits, als Mittel zur wirksamen Erforschung der Wirklichkeit andererseits (Produzentin von Sinn und Erkenntnis). Tatsächlich sind genau diese beiden Dimensionen heute verkümmert. Worte wie »Volk« oder »Solidarität« klingen hohl und nichtssagend, wenn sie aus dem Munde von Politikern oder Politikerinnen kommen. Sie drücken die Dinge nicht so aus, wie die Bürger sie empfinden. Deren Gefühl, nicht gehört zu werden, wird somit durch die Erosion der Worte verstärkt. Das ist ein Problem, denn regieren bedeutet auch sprechen. Sprechen, um Rede und Antwort zu stehen, um eine Marschrichtung vorzugeben, Perspektiven aufzuzeigen, Rechenschaft abzulegen über das eigene Tun. Sprechen, ganz einfach weil die menschliche Welt durch Sprache organisiert wird. Eine demokratische Politik beinhaltet, dem Erleben der Menschen eine Sprache zu geben, das staatliche Handeln, seine Ziele und Unwägbarkeiten lesbar zu machen, die Worte zu finden, die zu gegebener Zeit den Sinn einer kollektiven Belastung oder Genugtuung zum Ausdruck bringen. Wahr zu sprechen bedeutet gleichzeitig, die Bürger in die Lage zu versetzen, ihr Leben besser zu bewältigen und ihnen zu ermöglichen, eine positive Beziehung zur Politik aufzubauen. Unwahr zu sprechen oder Phrasen zu dreschen, bedeutet umgekehrt, die Kluft zu vergrößern. Der politischen Sprache kommt deshalb eine im wahrsten Sinne des Wortes zentrale Rolle bei der Herstellung einer Vertrauensbeziehung zu. Denn im Gefühl ihrer 46 Manuel Valls, Grundsatzerklärung vom 8. April 2014.

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Richtigkeit liegt die Möglichkeit beschlossen, die Gegenwart mit der Zukunft zu verknüpfen.

Einige geschichtliche Elemente In seiner Geschichte vertritt Polybios die Meinung, dass die Stärke der Achäer, der Bewohner der griechischen Städte, die sich gegen die makedonische Expansion verbündeten, in ihrem politischen System läge: »Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung (isegoria), der Meinungsfreiheit (parrhesia), kurz, eine[.] wahre[.] Demokratie (demokratia) …«, so charakterisierte er zusammenfassend dieses System und seine Kardinaltugenden.47 Neben ihren diversen Einrichtungen und dem Prinzip der Gleichheit wurde somit auch die Garantie der Meinungsfreiheit zu den wesentlichen Eigenschaften der Demokratie gezählt. Allerdings ging der Begriff der parrhesia über das hinaus, was wir gemeinhin unter Meinungsfreiheit verstehen. Abgesehen von einer Vorstellung, die wir heute als »liberal« bezeichnen würden, hatte die parrhesia in der griechischen Welt eine weitergehende soziale und moralische Dimension. Sie verwies auf ein Gebot zur Offenheit, zur freimütigen Aussprache, zum Verzicht auf Berechnung in den eigenen Worten und zum Dialog mit anderen. Der Begriff kombinierte die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit von Sprechen und Denken mit der eines Bemühens, die Dinge als das zu benennen, was sie sind, auf die Gefahr hin, zu missfallen oder zu brüskieren.48 Michel Foucault gebührt das Verdienst, den Begriff zu Beginn der 1980er Jahre in seiner Bedeutungsfülle wieder bewusst gemacht zu haben.49 Die parrhesia stellte für ihn die Verbindung zwischen den drei Bereichen her, die er damals parallel erforschte: dem der Wissensformen, die er unter dem speziellen Gesichtspunkt ihrer Veridiktion betrachtete; dem der Arten der Subjektkonstitution über die Praktiken 47 Polybios, Geschichte, Zweites Buch, 38, S. 149. 48 Der Umstand des Alles-Sagens, den der Begriff implizierte, konnte übrigens dazu führen, das er gelegentlich zur negativen Kennzeichnung desjenigen, der ins Blaue hinein fabuliert, verwendet wurde. 49 Vgl. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, insbesondere die Vorlesungen vom 2. Februar, 9. Februar, und 2. März 1983; und Der Mut zur Wahrheit, Vorlesung vom 1. Februar 1984. Vgl. auch »La parrêsia«, die Wiedergabe eines seiner Vorträge zum Thema mit zusammenfassendem Charakter.

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des Selbst (Foucault interessierte sich für die Rolle des Geständnisses in Beichte und Seelsorge); schließlich dem der Macht, verstanden auf der Grundlage von Regierungstechniken der Menschenführung.50 Wir wollen uns hier dieser letzteren, unmittelbar politischen Dimension der parrhesia zuwenden und auf die Diskussion, worin die Verbindung der drei von Foucault analysierten Dimensionen besteht, verzichten. Bei den Griechen wurde die parrhesia zunächst im negativen Sinne, als Gegenteil der Rhetorik, verstanden. Die Rhetorik war, so wie sie in der antiken Welt begriffen, praktiziert und kritisiert wurde, die Kunst der Rede,51 das heißt der Technik, eine Fragestellung zu formulieren, eine Argumentation aufzubauen, Satzperioden zu skandieren, dramatische Effekte zu verwenden und eine Spannung zu erzeugen, die der Schlussfolgerung den Charakter einer vermeintlich unbestreitbaren Tatsache verleiht. Sie fiel deshalb in die Kategorie einer lehr- und erlernbaren Kompetenz. Sie galt als geistige Disziplin, da sie auf dem Gedanken beruhte, dass der argumentierende Verstand die Kraft besitze, Unterstützung zu finden und eine Entscheidung herbeizuführen. Sie war auch eine Kunst der Verführung, denn sie stützte sich auf die Leidenschaften und Vorurteile des Zuhörers, um ihn zu überzeugen. Der Rhetor versuchte folglich, den Geist seines Publikums zu beherrschen, ihm seinen Willen aufzuzwingen, es mit seinen Worten zu fesseln. Insofern waren diese Worte für ihn nur ein Instrument, ein Mittel zum Zweck, nämlich dem, Zustimmung zu erlangen. Seine persönliche Überzeugung spielte dabei keine Rolle.52 Die Athener Rhetoren waren die vergötterten Stars einer Stadt, in der die Wortvirtuosen ein ständiges Fest der Sprache veranstalteten. Sie wurden bewundert wie Künst-

50 »Mir scheint, daß man durch die Untersuchung des Begriffs der parrhesia sehen kann, wie sich die Analyse der Veridiktionsmodi, die Untersuchung der Techniken der Gouvernementalität und die Bestimmung der Formen der Selbstpraxis zusammenfügen« (Foucault, Der Mut zur Wahrheit, Vorlesung vom 1. Februar 1984, S. 23). 51 Für Griechenland siehe Barthes, »Die alte Rhetorik. Ein Abriß«; und Desbordes, La Rhétorique antique. Für Rom vgl. Kennedy, The Art of Rhetoric in the Roman World. Für eine spätere Sichtweise vgl. Fumaroli (Hg.), Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne, 1450–1950, und sein Klassiker, L’Âge de l’éloquence. 52 Daher die Platon’schen Vorwürfe gegen die Sophisten.

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ler, die auf einer speziellen Bühne agierten.53 Der Parrhesiast war derjenige, der dieses Spiel nicht mitmachte. Für ihn stand die Botschaft im Vordergrund. Er identifizierte sich mit ihr, er war lebendiges Wort. Er verkörperte somit eine Form des persönlichen Engagements in Bezug auf das Publikum, eine Risikobereitschaft in Verbindung mit diesem Status eines Wortes, mit dem er eine vollkommene Einheit bildete. »Wir können also sehr schematisch sagen«, resümierte Foucault, »dass der Rhetor ein wirkungsvoller Lügner ist, der die anderen zwingt […]. Der Parrhesiast ist im Gegensatz dazu derjenige, der mutig die Wahrheit ausspricht, wobei er sein eigenes Leben und seine Beziehung zum anderen riskiert.«54 Die parrhesiastische Rede stellte sich derjenigen entgegen, die zu schmeicheln und zu verführen versuchte. Sie nahm bewusst das Risiko in Kauf, Widerspruch hervorzurufen, sie setzte sich der Missbilligung und Ablehnung aus. Der Parrhesiast schreckte nicht davor zurück, die öffentliche Meinung zu brüskieren, weil er das Aussprechen dessen, was er für die Wahrheit hielt, zu einem Teil seiner Identität machte. Seine Rede ging mit Zivilcourage, ja sogar körperlichem Mut einher. Ein schönes Beispiel dafür ist Demosthenes, der in seinen Philippiken daran erinnerte, dass er mehrfach »beinahe in Stücke gerissen« geworden sei, weil er populäre Ansichten attackiert habe55, und betonte, im Voraus die Unannehmlichkeiten zu akzeptieren, die seine Reden ihm eintragen würden.56 Er attackierte sein Publikum frontal, indem er ihm vorwarf, sich »mit schönen Reden schmeicheln« zu lassen, und indem er seine Fahrlässigkeit und Sorglosigkeit dafür verantwortlich machte, dass Philipp von Makedonien die Oberhand gewonnen habe.57 Als heutiger Leser dieser erstaunlichen Reden hat man tatsächlich den Eindruck, dass es sich um eine geradezu körperliche (und zugleich tragische) Auseinandersetzung mit diesem Publikum handelt. Mit anderen Worten, die parrhesia ist unvereinbar mit der Absicht, zu gefallen oder Karriere zu machen; sie impliziert, dass man Politik nicht als Beruf, sondern als eine 53 54 55 56

Vgl. das sehr informative Werk von Villacèque, Spectateurs de paroles! Foucault, Der Mut zur Wahrheit, S. 30. Demosthenes, »Rede über den Frieden«, § 5, Politische Reden, S. 93. Vgl. »Dritte Olynthische Rede«, § 32. »Denn es ist ja bei euch nicht immer möglich, über alles frei zu reden«, hält er seinen Gesprächspartnern vor (ebd., S. 85). 57 »Dritte Rede gegen Philipp«, § 4 (ebd., S. 161).

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Form des totalen Einsatzes begreift. Sie ist das Kennzeichen dessen, den Max Weber als Politiker aus Berufung bezeichnen sollte. Man findet die Spur dieser Auffassung in den Ansichten mancher Protagonisten der Französischen Revolution wieder. Ein Camille Desmoulins etwa, Inbegriff der besten Eigenschaften des Journalismus dieser Zeit, schrieb in diesem Sinne: »Was den Republikaner auszeichnet, ist die Offenheit der Sprache.«58 »Es ist das Wesen der Republik, dass sie nichts verheimlicht, dass sie geradewegs und mit offenem Visier aufs Ziel losmarschiert, dass sie Menschen und Dinge beim Namen nennt.«59 Allerdings bestand das Problem während der Revolution gerade in dem, was man »Missbrauch der Worte« nannte. Die Beeinträchtigung des Wahrsprechens rührte so gesehen nicht nur vom Überhandnehmen demagogischer Reden her. Sie resultierte auch aus den Ungenauigkeiten und Zweideutigkeiten der Sprache, die Verwirrung stifteten in den Bürgerdebatten, weil die gleichen Begriffe mitunter gegensätzliche Bedeutungen hatten. Die unterschiedlichen Verwendungen des Wortes »Volk« führten das früh vor Augen. Nichts kann das besser bezeugen als die Diskussion, die sich am 14. Mai 1789 in Versailles über die Zusammensetzung der neuen Versammlung entspann. Hinsichtlich ihrer Benennung wurden mehrere Formulierungen vorgeschlagen. Zunächst erwogen einige die Rückkehr zum Wort »Generalstände«, was aber wegen seiner Nähe zum Ancien Régime rasch verworfen wurde. Der juristisch ausgeklügelte Vorschlag von Sieyès,60 »Versammlung der bekannten und beglaubigten Vertreter der französischen Nation«, wurde ebenfalls abgelehnt, weil nicht unmittelbar verständlich und ungeeignet, über den Moment hinaus Gültigkeit zu besitzen. Mit seinem Gespür für griffige Formulierungen plädierte Mirabeau anschließend dafür, »Vertreter des französischen Volkes« habe den Vorzug, Aussagekraft mit Schlichtheit zu verbinden. Doch bezeichnenderweise wurde er von mehreren Personen, die später zu den einflussreichsten der Konstituante zählen sollten, heftig kritisiert. Eine von ihnen attackierte ihn mit dem Argument, das Wort »Volk« würde 58 Desmoulins, Le Vieux Cordelier (Nr. 7, Jahr VII ), S. 107. 59 Ebd., S. 123. 60 Beitrag vom 14. Mai 1789, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 8, S. 109.

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»zu viel oder zu wenig enthalten«. »Wenn Sie unter dem Wort ›Volk‹ verstehen, was die Römer plebs nannten«, hielt man ihm entgegen, »billigen Sie damit die Unterscheidung der Stände. Wenn das Wort dem des populus entsprechen soll, erweitern Sie über Gebühr das Recht und den Vorsatz der Gemeinen.«61 Eine weitere Person äußerte sich im gleichen Sinn und bedauerte, dass »Volk« ein Wort sei, »das sich für jeden Zweck eignet«, und beschied kurz und bündig: »Das Wort Volk erfüllt nicht unsere Vorstellung.«62 Bei dieser Zweideutigkeit sollte es nicht bleiben. Bereits in den Anfängen der Revolution hatte ein neues politisches Vokabular erfunden werden müssen, um die Motive und Prinzipien der neu entstehenden politischen Ordnung zu benennen. Es war zum Beispiel nicht mehr von Untertanen die Rede, sondern von Bürgern, die Nation ersetzte das Königreich usw. Das Zeitalter war in dieser Hinsicht ausgesprochen einfallsreich, und so entstand tatsächlich eine neue politische Sprache. Eine Sprache allerdings, die unbeständig und korrumpierbar blieb. Dagegen richtete sich eine der härtesten Kritiken an der Zeit der Schreckensherrschaft. Sieyès, der Vater der ersten französischen Verfassung, wetterte leidenschaftlich gegen »die gemeine Hurerei, die mit den Worten betrieben wurde, die den Franzosen am meisten am Herzen lagen, Freiheit, Gleichheit, Volk«, und sah im »Missbrauch einer bereits zum Gemeingut gewordenen Sprache« eine der Ursachen für die Übel der Zeit, da die Worte ihre natürliche Bedeutung verloren und »sich mit den Feinden des Vaterlandes verschworen« hätten.63 Den Moniteur universel von 1793 beschrieb später einer der scharfsinnigsten Beobachter des neuen Frankreich, der Dichter Heinrich Heine, der als großer Essayist und exzellenter Journalist weniger bekannt ist, mit den folgenden drastischen Worten: »Das ist ein Höllenzwang, den Ihr nicht an die Kette legen könnt, und es sind Beschwörungsworte darin, die viel mächtiger sind als Gold und Flinten, Worte womit man die Toten

61 Jean-Baptiste Target, Beitrag vom 14. Mai 1789, ebd., S. 118 [Mit »Gemeinen« (im Original Communes) sind hier die Abgeordneten des Dritten Standes gemeint, da das Wort »Dritter Stand« zu diesem Zeitpunkt in manchen Kreisen bereits tabuisiert war, AdÜ]. 62 Jacques-Guillaume Thouret, Beitrag vom 14. Mai 1789, ebd., S. 114. 63 Zit. n. Guilhaumou, Sieyès et l’ordre de la langue, S. 31.

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aus den Gräbern ruft und die Lebenden in den Tod schickt. Worte, womit man die Zwerge zu Riesen macht und die Riesen zerschmettert, Worte die Eure ganze Macht zerschneiden, wie das Fallbeil einen Königshals.«64 Losgelöst von der Realität, ideologisch normiert und als Waffen im Kampf eingesetzt, standen die Worte in diesem Fall tatsächlich nicht mehr im Dienst der öffentlichen Debatte und der demokratischen Diskussion. Sie waren zu bloßen Instrumenten der Gesinnungskontrolle und der geistigen Manipulation geworden, um eine Machtposition zu erlangen oder zu verteidigen. Ein »Falschsprechen« dieses Umfangs hat viel verheerendere Auswirkungen auf das demokratische Leben als das eines Rhetors. Denn die Sprache hat in diesem Fall nicht mehr nur die Funktion, zu verführen oder zu verschleiern, sie erzeugt eine künstliche, grotesk verzerrte Welt, in der jede Opposition geächtet und schon die bloße Möglichkeit, die Staatsführung infrage zu stellen, ausgeschlossen ist. Sie führt nach einem berühmten Diktum dazu, »das Wirkliche im Geist zu beseitigen, anstatt das Unverständliche am Gegenstand zu reduzieren«.65 Ein Prozess der Entfremdung von der Realität, den Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft präzise beschrieben hat. Sie zeigte in diesem Buch, wie die desorientierten und desillusionierten Massen allmählich begannen, sich aus der »Faktizität der wirklichen Welt« in das fiktive und beruhigende, weil in sich geschlossene Universum der Ideologie zu flüchten. Die »totalitäre Propaganda [besitzt] die Kraft, die Massen imaginär von der wirklichen Welt abzuschließen«, schrieb sie zusammenfassend.66 Auch ein Zeitgenosse von ihr, Victor Klemperer,67 verwies am Beispiel des Nationalsozialismus auf das eigentümliche Verhältnis, dass die totalitäre Sprache zur Kategorie des Performativen unterhielt, indem sie es der Fiktion ermöglichte, die Realität zu verdrängen, bis hin zu dem Bestreben, sie gänzlich neu zu erschaffen.68 Dieses 64 65 66 67 68

Heine, »Über Frankreich«, S. 103. Cochin, Les Sociétés de pensée et la démocratie moderne, S. 19. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 525. Klemperer, Victor, LTI . Notizbuch eines Philologen. Ich folge in diesem Punkt den einleitenden Bemerkungen von Aubry und Turping, in: dies. (Hg.), Victor Klemperer. Repenser le langage totalitaire (in diesem Sammelband werden die Ansätze von Hannah Arendt, Jean-Pierre Faye und Victor Klemperer zu diesem Thema verglichen).

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Falschsprechen lässt, wenn es nur lange genug uneingeschränkt dominiert, jenes von Anton Ciliga beschriebene Land der verwirrenden Lüge 69 entstehen, in der die verarmte Sprache der Macht eine vereinfachte Welt ohne Widersprüche erzeugt, in der die resignierten Menschen sich am Ende halbwegs bequem einzurichten versuchen. Das geht weit über die banale Kunst der politischen Lüge à la Swift hinaus.70 Denn eine derart aufgezwungene Vereinfachung der Sprache befördert einen Verfallsprozess der bloßen Idee des Politischen. Das von Orwell in 1984 beschriebene Neusprech markiert den Eintritt in eine solche, im wahrsten Sinne des Wortes verdummte Welt.

Utopien und Verrat Es gibt noch viele weitere Strategien, der Auseinandersetzung um die Frage des Wahrsprechens aus dem Weg zu gehen. Man kann diesbezüglich drei, nach Umfang und Status sehr verschiedene Vorgehensweisen unterscheiden: den Hass auf das Diskursive und die entsprechende Verherrlichung des Schlagwortes, für die Blanquismus und Leninismus beispielhaft stehen; die Kant’sche Utopie eines Lautdenkens mit der daraus resultierenden Perspektive reiner Transparenz; die während der Französischen Revolution unternommenen Versuche, die Sprache derart zu regulieren, dass zu Missverständnissen und Scheindebatten führende Unbestimmtheiten ausgeschlossen werden. Bei vielen revolutionären Bewegungen stand die Entlarvung der »Wortemacher« und der parlamentarischen Virtuosität im Mittelpunkt ihrer Kritik an den sich selbst als demokratisch verstehenden Systemen. Es war bekanntlich ein Vertrauter Auguste Blanquis, der 69 Ciliga, Im Land der verwirrenden Lüge (1938). 70 Swift, L’Art du mensonge politique (1733) [The Art of Political Lying (1712). Das Werk wird heute im Allgemeinen seinem Zeitgenossen John Arbuthnot zugeschrieben, vgl. http://www.ikanlundu.com/literary/The_Art_of_Political_Ly ing.htm (2. 6. 2016), AdÜ]. »Die Kunst der politischen Lüge«, schrieb dieser, »ist die Kunst, das Volk zu überzeugen, ihm heilsame Unwahrheiten einzureden« (ebd., S. 44). Das Besondere dieser Art von Lüge bestand seiner Meinung nach darin, dass sie »statthaft und zulässig« sei. Diese Frage wurde seinerzeit kontrovers diskutiert; Friedrich II . ließ [1780] von der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Preisfrage ausschreiben, ob man das Volk zu seinem eigenen Besten belügen dürfe.

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Lamartine beschuldigte, mit seinen »wortreichen Phrasen« der Revolution von 1848 einen »Dolchstoß versetzt« zu haben. Und Blanqui selbst ließ keine Gelegenheit aus, um auf die »Wortkünstler« zu schimpfen und sich über »die beklagenswerte Popularität verkappter Bourgeois, die die Rolle von Volkstribunen spielen«, sowie ihre »wohlklingenden Advokatenphrasen« lustig zu machen.71 Man könnte derartige Zitate nach Belieben vermehren. Interessanterweise mündete aber diese Kritik an den schönen Worten, mit denen das Volk eingelullt und getäuscht würde, nicht in einen Appell, Klartext zu reden, sondern in eine Verherrlichung der direkten Aktion, des unmittelbar erfolgreichen Aufstandes. Revolution zu machen, bedeutete für Blanqui, für Lenin und ihresgleichen nicht, eine Gesellschaft in Bewegung zu setzen, einen Beratungsprozess über die Definition eines gemeinsamen Projektes anzustoßen, sondern in erster Linie, ohne (rhetorische) Umschweife zu handeln (was natürlich mit einer Fetischisierung der nicht umsonst als »Handelnde« bezeichneten Minderheiten einherging). »Wer Eisen hat, hat Brot«, beschied der Eingesperrte kurz und bündig.72 Für diese Revolutionäre war, wie übrigens auch für die konservativen Theoretiker des Dezisionismus73, das Sprechen selbst der Feind. Zunächst, weil es vom Ziel ablenkte, dann aber auch, weil es von einer positiven Einstellung zur Diskussion zeugte und implizit einer als unannehmbar geltenden Form des Relativismus Vorschub leistete. Diese feindlichen Brüder teilten den Gedanken einer historischen oder religiösen Wahrheit, die sich der Menschheit aufdrängte, sodass es ebenso überflüssig wie gefährlich war, kontroverse Debatten zu führen. »[D]er Mensch ward für die Tat geboren, und die fortwährende Diskussion widerspricht der menschlichen Natur, weil sie eine Feindin der Tat ist«, 71 Diese Formulierungen Blanquis stammen aus: La Patrie en danger, S. 265, und seiner »Warnung an das Volk!«, in: Blanqui, Instruktionen für den Aufstand, S. 74 und 77. Nebenbei bemerkt verabscheute Blanqui auch das »parlamentarische Gebaren« Robespierres. 72 Blanqui, Instruktionen für den Aufstand, S. 76 [Blanqui erhielt den Beinamen »der Eingesperrte« wegen der 28 Jahre seines Lebens, die er im Gefängnis verbrachte, AdÜ]. 73 Zwischen beiden Milieus bestand eine unbestreitbare gegenseitige Anziehung. Joseph de Maistre wurde in blanquistischen Kreisen gelesen. Später bezeugte auch ein Carl Schmitt diese Affinität.

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verfügte ein Donoso Cortés.74 In diesem Sinne richtete sich die Kritik gegen den Parlamentarismus, weil er die Macht einer »diskutierenden Klasse« verkörperte. Stattdessen feierte man die Exekutivgewalt als eine, die dazu bestimmt sei, ohne große Worte zu regieren. Lenin vertrat diese Ansicht mit allem, was sie an aufrichtigem Hass auf das Sprechen beinhaltete. Nach seiner Meinung musste die Partei aufpassen, nicht zu einem »Diskutierclub« zu werden, und die »Freiheit der Kritik« hatte in ihren Reihen nichts zu suchen. Sprachliches Handeln, verächtlich als »Phrase«, »Gezeter«, »Hysterie« tituliert, beabsichtigte er, durch die bloße Kraft des Schlagworts zu ersetzen.75 Schlagwort [mot d’ordre] nicht als Hilfsmittel, um Dinge zu denken, oder als Kurzform eines Arguments, sondern im wahrsten Sinne des Wortes als strikter Befehl, eine Aufgabe zu erfüllen, als etwas, worüber nicht diskutiert zu werden braucht, weil es einer offenkundigen militärisch-politischen Notwendigkeit entspricht. Zweifelsohne: Wahrsprechen hat nichts mit Lügen zu tun – Kant hatte Recht mit seiner Behauptung, die Lüge sei »der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur«76 –, doch ebenso wenig kann es als Suche nach der unmöglichen Einheit von Sprache und Sein definiert werden. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) stellte Kant die Frage, was in einer Gesellschaft passieren würde, in der die Menschen nur laut denken könnten, das heißt in der alle Gedanken unmittelbar und zur Gänze ausgesprochen würden.77 Die strikte Ablehnung der Lüge sei das eine, doch andererseits beharrte er darauf, dass es zwangsläufig Dinge gebe, die man zwar denken würde, die auszusprechen man aber möglicherweise nicht den Mut hätte, selbst gegenüber seinem besten Freund, etwa um ihn nicht zu verletzen oder zu verärgern. Zwar hielt Kant es für richtig und möglich, sich darum zu bemühen, niemals Dinge zu sagen, die man nicht denkt, doch war es für ihn gerechtfertigt, manchmal Dinge zu verschweigen, die man 74 Donoso Cortés, Essay über die Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus, S. 112. 75 Vgl. dazu die scharfsinnigen Bemerkungen von Colas, Le Léninisme. 76 Kant, »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie«, S. 422. 77 Über die Bedeutung dieses Gedankenexperiments bei Kant vgl. Calori, »Laut Denken: de la transparence chez Kant«.

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denkt (in Fortführung dieses Ansatzes ging Jon Elster sogar so weit, von einer »zivilisatorischen Kraft der Heuchelei«78 zu sprechen). Einer unmöglichen Offenherzigkeit stellte er das Ideal der Aufrichtigkeit gegenüber. Diese begriffliche Unterscheidung mag für eine Ethik zwischenmenschlicher Beziehungen angemessen sein, sie ist jedoch nicht auf die politische Sprache anwendbar. Denn in einer Demokratie ist es notwendig, alles sagen zu können – in Bezug auf das Funktionieren der Gesellschaft, wohlgemerkt. Drittens ist das revolutionäre Experiment, eine »absolute Sprache« zu erschaffen, in Betracht zu ziehen, um zu ermessen, in welchem Rahmen das Streben nach Verankerung des Wahrsprechens sinnvollerweise erfolgt. Eine der ersten Reaktionen auf den »Missbrauch der Worte«, der sich häufig störend auf das öffentliche Leben während der Französischen Revolution auswirkte, bestand in dem Versuch, das politische Vokabular zu regulieren, um die aus der semantischen Unschärfe mancher Begriffe resultierenden Missverständnisse in den Debatten zu beenden. Das gilt insbesondere für den bereits erwähnten Fall des Wortes »Volk«. Von mancher Seite kam sogar der Vorschlag, für falsch erachtete Verwendungen des Begriffs unter Strafe zu stellen. Mitglieder der Konstituante verlangten 1791, aus Angst vor den Auswirkungen gewagter Interpretationen, den gesellschaftlichen Gebrauch des Wortes zu kontrollieren. Adrien Duquesnoy schrieb im Juli 1791 in L’Ami des patriotes: »War der falsche Gebrauch des Wortes ›Volk‹ für die Böswilligen ein Vorwand und ein Mittel, so für die Einfältigen und Leichtgläubigen eine Ausrede. Es wäre an der Zeit, dass die Nationalversammlung dieses Ärgernis beseitigt, und jeder, der das Wort ›Volk‹ in einer anderen als der vorgesehenen Bedeutung verwendet, sollte sehr streng ermahnt werden.«79 Eine erstaunliche Eingabe an den Wohlfahrtsausschuss aus dem Jahr III über »die wirkliche Bedeutung des Wortes Volk« äußerte sich im gleichen Sinne. Es lohnt, sie ausführlich zu zitieren: »Die Verwirrung der Gedanken folgt notgedrungen aus der Unklarheit der Worte, und bisher haben wir aus dem Munde der meisten unserer Schriftsteller, Journalisten, ja sogar der Berichterstatter unserer Ausschüsse vom Volk dieser oder jener Gemeinde, Sek78 Vgl. seine Einleitung zu Elster (Hg.), Deliberative Democracy. 79 Zit. n. Guibert, »Le peuple représenté«.

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tion, dieses oder jenes Kantons usw. sprechen hören. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass selbst die Volksgesellschaften meinen, Volk zu sein, und manche ihrer Mitglieder, ob aus Mutwillen oder mangelndem Wissen, aus dieser absolut falschen Annahme den völlig korrekten Schluss ziehen, dass dort, wo das Volk ist, auch der Souverän ist […]. Der Konvent sollte der Wiederholung derartiger Verstöße vorbeugen, indem er denjenigen, die aus tatsächlicher oder vermeintlicher Unwissenheit ihre Mitbürger in die Irre führen, zu verstehen gibt, dass 1.) die wirkliche und einzig wahre Bedeutung des Wortes Volk die allgemeine Zusammenfassung aller Individuen ist, die eine Gesellschaft bilden oder unter denselben Gesetzen leben; dass 2.) das Wort Volk, dessen man sich bei vielen Gelegenheiten fast gezwungenermaßen bedienen muss, um die Gesamtheit der Bürger einer Gemeinde, einer Versammlung usw. zum Ausdruck zu bringen, tatsächlich nur einen Teil des Volkes bezeichnet, wie groß die Zahl dieser Bürger auch ist, und lediglich als gängiger, aus Gewohnheit benutzter Begriff verstanden werden darf; dass 3.) schließlich allein dem Volk als Ganzem die wahre Souveränität zukommt; woraus folgt, dass der Souverän seinem Wesen nach eine unteilbare Einheit bildet, dass er ein rein metaphysisches Dasein führt, das heißt Ausdruck des Allgemeinwillens ist, und dass wir, wenn es anders wäre, vierzigtausend Souveräne hätten, nämlich ebenso viele, wie es Gemeinden gibt.«80 Eine Eingabe, die, wie man sich denken kann, kaum etwas bewirkte. Condorcet gründete 1793 ein stärker pädagogisch ausgerichtetes Journal d’instruction social81 mit dem Ziel, »die politischen Scharlatane zu bekämpfen«.82 Auf welchem Wege? Durch Erstellung einer Liste politischer Schlüsselbegriffe, um die Zahl ihrer Lesarten zu reduzieren, gemäß dem Credo der Publikation: »Die Vernunft ist unteilbar und hat nur eine Sprache.«83 In die gleiche Richtung gingen die Gedanken von Sieyès über die Möglichkeiten, die Sprache durch Vereinbarungen zu

80 Zit. n. Brunot, Histoire de la langue française des origines à 1900, 2. Teil, »La langue révolutionnaire«, S. 653–654. 81 Zusammen mit Sieyès und Jules-Michel Duhamel, dem Leiter des Nationalen Instituts für Taubstumme. 82 Prospekt dieser Zeitschrift, S. 10. 83 Ebd., S. 10–11.

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fixieren und auf diese Weise eine politische »Sondersprache« zu begründen, die von den Schwammigkeiten der »natürlichen Sprache« befreit wäre.84 Sieyès näherte sich in diesem Punkt Destutt de Tracy, dem Autor von Éléments d’idéologie (1801–1815), der seinerseits nach den Entstehungsbedingungen einer geeigneten »analytischen Sprache« suchte, um die Bedingungen demokratischer Praxis zu verändern.85 Diese Utopie der »reinen Sprache« als Voraussetzung des Wahrsprechens zerschlug sich rasch, doch die permanente Notwendigkeit, die der Unbestimmtheit politischer Schlüsselbegriffe zugrunde liegenden Sachfragen zu stellen, muss als unhintergehbar betrachtet werden. Die Demokratie ist das System, das eine permanente Diskussion seiner Konzepte und seines Vokabulars erfordert.

Die Motive des Wahrsprechens Man muss zu Demosthenes und dem Begriff der parrhesia zurückkehren, um radikales Engagement als Grundvoraussetzung des Wahrsprechens zu erkennen. »Das Ungeheuer«: So bezeichnete Aischines seinen Athener Konkurrenten Demosthenes, um ihn bloßzustellen (Aischines trat für einen Ausgleich mit Philipp von Makedonien ein, während Demosthenes seine Mitbürger aufrief, seinen Ansichten zu widersprechen). Nicht geheuer waren ihm in der Tat die Möglichkeiten einer Redekunst von unerreichter Überzeugungskraft, die er beneidete und fürchtete. Zweitausendfünfhundert Jahre später erläuterte Clemenceau diese Fähigkeit auf sehr einleuchtende Weise, indem er sie zugleich als politische und als anthropologische deutete. Der Mann des Kraftaktes von 1917, der mit seinen Worten und Schriften die nachlassenden französischen Energien noch einmal entfachte, hatte in diesen dunklen Jahren den Autor der Philippiken wieder und wieder gelesen und über ihn nachgedacht. Er veröffentlichte die Summe seiner Überlegungen 84 Vgl. Guilhaumou, »Éléments pour une théorie de langage«, in: ders., Sieyès et l’ordre de la langue. Er sprach wörtlich davon, »die Sprache durch eine vorherige Vereinbarung festzulegen, die darin bestünde, die den neuen Ideen entsprechenden Worte nach einem bestimmten System auszuwählen und zu kombinieren, als Abschluss einer analytischen Verhandlung« (zit. n. ebd., S. 132). Der Satz ist zwar verworren, aber es lässt sich dennoch nachvollziehen, was er meint. 85 Vgl. Schlieben-Lange, Idéologie, révolution et uniformité de la langue; und Goetz, Destutt de Tracy. Philosophie du langage et science de l’homme.

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in einem faszinierenden, seltsamerweise kaum bekannten Essay.86 Er wollte der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, was seinen Reden, verglichen mit denen des Aischines, eine solche Kraft verlieh. Im Hinblick auf die Redetechnik war seiner Meinung nach kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Männern auszumachen. Mit ihren jeweiligen Vorzügen war beider Kunst in seinen Augen gleichermaßen mitreißend. Hingegen unterschieden sie sich sehr in ihrem Verhältnis zur Sprache. Auf diesen Punkt konzentrierte Clemenceau, der Experte, seine Aufmerksamkeit. In den entscheidenden Momenten, hob er nachdrücklich hervor, »sucht die Menge […] weniger einen Redner als einen Mann, an den sie sich halten kann«.87 »Hier ist es nicht die Kunst, der wir unsere Bewunderung zollen müssen«, so Clemenceau weiter. »Es ist die bedingungslose Hingabe an ein willensmächtiges Ideal. So verstanden erhebt sich das Wort auf die Stufe einer tatkräftigen Macht.« Bei Demonsthenes dem Parrhesiasten vereinten sich Wort und Tat, die Sprache wurde zum vollkommenen Ausdruck einer Veranlagung, eines Zielbewusstseins. Darin lag für den Tiger [Spitzname von Clemenceau] das Wesentliche. Während Aischines eine brillante Argumentation entfaltete, speisten sich die Worte von Demosthenes offenkundig aus einem »Strom aus der Tiefe«: Seine Zuhörer konnten spüren, dass er sich den Athenern rückhaltlos offenbarte, wenn er sich an sie wandte. Die Rede des Ersteren fiel in die Kategorie eines Virtuosenstücks, während für Letzteren »[s]ein Wort […] sein Leben selbst [war], das durch seine Adern für gewaltiges Geschehen strömte«. In diesem Fall packt, so Clemenceau, »[d]er Redner […] eine Versammlung weniger durch ästhetisch bemessene Schlüsse […] als durch den Eindruck der geschlossenen Kraft seiner Persönlichkeit, die er als höchsten Einsatz in den Kampf wirft.« Im Umstand des Sichhingebens bestand für ihn die existenzielle Motivation des Wahrsprechens. Das Wort war untrennbarer Bestandteil eines unwiderruflichen Engagements geworden. Dieses Wahrsprechen geht also weit über Aufrichtigkeit im Sinne Kants (auf die sich, wie mir scheint, das englische Wort candor bezieht) und über Authentizität hinaus. Es ist eine radikale Form des Einsatzes 86 Clemenceau, Demosthenes. 87 Ebd., S. 47. Die folgenden Zitate sind den Seiten 47–48 und 80–82 entnommen.

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für ein Gemeinwesen, der Verknüpfung zwischen einer privaten Existenz und einem kollektiven Schicksal. Man könnte, auf das 20. Jahrhundert übertragen, an den Appell vom 18. Juni 1940 denken oder an die großen Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden Winston Churchills. Sie fallen nicht unter die Rubrik der Ankündigungen oder Versprechungen, sondern sind wie »Katapulte, die ihr Ziel mit einem Schlag zerschmettern« (Clemenceau) und die Bürger dazu ermutigen, über sich selbst hinauszuwachsen. Ein solches Wahrsprechen ist Momenten der Wahrheit, ist Ausnahmesituationen vorbehalten. Nur diejenigen können es für sich in Anspruch nehmen, die in ihrem Einsatz nie versagt haben. Solche Worte sind zwangsläufig eine Seltenheit. Das Wahrsprechen zu normalen Zeiten muss sich freilich mit dem bescheideneren Konzept der Aufrichtigkeit begnügen. Es ist jedoch nicht bloß ein Produkt individueller Einstellung, sondern auch Resultat einer Qualität des demokratischen Lebens. Diesbezüglich ist von der Tatsache auszugehen, dass dieses Wahrsprechen vom strukturellen Dualismus der politischen Sprache in einer Demokratie untergraben wird. Diese Sprache beinhaltet nämlich zwei Register, die unterschiedlichen Zielen entsprechen. Zum einen die Wahlkampfsprache, die von der Konkurrenz um die größtmögliche Stimmenzahl beherrscht wird, zum anderen die Regierungssprache, die auf die Rechtfertigung einer Maßnahme abzielt. Die Wahlkampfsprache setzt auf Verführung und Anklage: Sie ist bestrebt, die Gegner in Verruf zu bringen oder zu disqualifizieren (vor allem unter Verweis auf ihr Verhalten in der Vergangenheit), sich von ihnen zu unterscheiden (in Bezug auf Werte, Ideologie oder Programm) und gleichzeitig einen engen Kontakt zur öffentlichen Meinung herzustellen. Sie ist also einerseits eine kritischpolemische, andererseits eine zukunftsorientierte Sprache, bestehend aus »Versprechungen« aller Art. Der Regierungsdiskurs hingegen verweist umgekehrt auf Sachzwänge, Interessengegensätze, die es zu moderieren, die Virulenz der Ereignisse, mit denen es fertig zu werden gilt. Die Wahlkampfsprache beruht auf einer Kunst des Kompromisses (um die eigene Basis zu erweitern) und einer Kunst der Vermeidung (um »unbequemen Themen« auszuweichen, bestimmte Alternativen zurückzuweisen)88, während die Regierungssprache klären und ent88 Vgl. Weaver, »The Politics of Blame Avoidance«.

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scheiden (also zwangsläufig spalten) muss und dabei gleichzeitig von einem täglichen Zwang zum Überleben beherrscht wird, der Vorrang vor allem anderen hat. Selbst angenommen, was wenig realistisch ist, dass die Wahlkampfsprache von einer ehrlichen Absicht zum Wahrsprechen motiviert wird, so kann sie in der Praxis doch nur ihre Distanz zum tatsächlichen Wahrsprechen offenbaren. Das demokratische Leben wird von diesem Abstand nachhaltig beeinträchtigt. Ein Abstand, der sich unter dem Einfluss zweier Faktoren nur noch vergrößert. Zunächst die bereits erwähnte Tendenz zum Verschwinden von Programmen, die in einer relativen geschlossenen und stabilen Welt dazu beitrugen, eine Brücke zwischen dem Wahlkampf- und dem Regierungspol zu schlagen. Auch der Trend zur Präsidialisierung der Demokratien, verbunden mit einer zunehmenden medialen Präsenz der Personen, hat zur Vergrößerung dieser Kluft geführt, indem er den Versprechungen ein Gesicht gab und gleichzeitig eine Ökonomie transparenterer Verantwortungszuordnung begründete. Die Umstände der medialen Konfrontation zwischen Opposition und Regierungspartei heizen diesen Effekt noch an, indem sie eine Art Dauerwahlkampf einführen, der beide Sprachen bis zur Ununterscheidbarkeit vermischt. Das Bemühen, diesen Dualismus der politischen Sprache in der Demokratie zu reduzieren, das der Schlüssel zur Entstehung des Wahrsprechens ist, muss also von außerhalb der politischen Sphäre kommen. Und hängt davon ab, ob die Bürger dieses Anliegen verinnerlichen. Was derzeit keineswegs der Fall ist. Denn die Akzeptanz dieser Spaltung verschafft eine gewisse psychische Entlastung: Sie legitimiert die Heftigkeit der Kritiken an der Politik und rechtfertigt zugleich die Untätigkeit der Bürger angesichts dessen, was sie als unentrinnbares Schicksal ausgeben. Der Einsatz der Bürger zugunsten des Wahrsprechens muss somit als Voraussetzung seiner Weiterentwicklung verstanden werden. Ebenso wenig wie es Demagogen gibt ohne Massen, die sich gerne schmeicheln lassen, gibt es politische Doppelzüngigkeit ohne schizophrene Bürger. Das Wahrsprechen hat schließlich eine reflexive Dimension. Es bedeutet nicht nur, dass es eine Wahrheit gibt, die ausgesprochen werden will. Es impliziert das Bekenntnis zur strukturellen Unbestimmtheit der demokratischen Idee, aus der häufig die Unschärfe der Worte resultiert. Zur Unbestimmtheit ihres Subjekts, da der Begriff des Vol308

kes in einem soziologischen, politischen oder juristischen Sinne verstanden werden kann und dabei mit je spezifischen Ausdrucksformen und Repräsentationsverfahren einhergeht. Das Volk ist somit zugleich Bürgerschaft, Figur der gesellschaftlichen Allgemeinheit und Bevölkerung im Plural. Zur Unbestimmtheit ihres Objekts, das sich ebenso auf die Idee einer Emanzipation-als-Autonomie wie einer Emanzipationals-soziale-Macht bezieht. Zur Unbestimmtheit ihrer Formen, da beispielsweise der Status der Repräsentationsverfahren funktional (als Techniken des Umgangs mit der Masse und der Komplexität) oder substanziell (als konstitutiver Bestandteil einer bestimmten Art von System) gedeutet werden kann. Das Wahrsprechen erhält somit Sinn in Bezug auf die Tatsache, dass Demokratie ausgehend von einer permanenten Forschungsarbeit an den begrifflichen Grundlagen ihrer eigenen Unbestimmtheit definiert werden muss. Es hat auf diesem Wege teil an der Bewusstmachung der die Demokratie strukturierenden Spannungen und Widersprüche.

Die Schlachten des Wahrsprechens Die Schlacht um das Wahrsprechen wird an drei Fronten geschlagen. Die der Lüge ist am offensichtlichsten. Daneben existieren jene der Erstarrung der Debatten aufgrund der Dominanz der Monologe sowie jene der Probleme, die durch die Entstehung einer neuen Sprache der Intentionen aufgeworfen werden. Beginnen wir mit der ersten. Hier besteht die Schlacht darin, die Lügen, Unklarheiten und semantischen Verschiebungen in den politischen Reden aufzuspüren und alle Formen der Abweichung von der Wahrheit zu verfolgen. In einem berühmten Essay wetterte George Orwell gegen die »Euphemismen, Zirkelschlüsse und nebulösen Äußerungen«, mit denen diese Reden durchsetzt seien, und zeigte die Umstände auf, unter denen das Denken durch Sprache korrumpiert wird.89 Er erwähnte zum Beispiel Haftstrafen ohne Urteil oder Massenerschießungen, die in totalitären Ländern zu bloßen »Eliminierungen von Verdächtigen« erklärt oder massive Bevölkerungsumsiedlungen, die in militärischen Kommuniqués auf »Grenzkorrekturen« reduziert wurden.90 Einst mit dem Stigma totalitärer Lüge oder 89 Orwell, »La politique et la langue anglaise« (1946). 90 Ebd., S. 87.

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diplomatischer Verharmlosung behaftet, sind solche Formen der Wirklichkeitsbeschönigung mittlerweile zur Gewohnheit geworden und kennzeichnen die politische Sprache weltweit. Annie Ernaux hat kürzlich in Les Années auf die wachsende »Derealisierung der Sprache« hingewiesen, die mit der Zunahme »bereinigter Diskurse« zusammenhinge. Die gesellschaftlichen Realitäten zum Beispiel würden durch die Dominanz so diffuser Begriffe wie Flexibilität, Arbeitsmarktfähigkeit oder Prekarität unlesbar gemacht.91 Ausdrücke dieser Art sind allgegenwärtig. Sie verdeutlichen, dass dieser Bereich ein wichtiges Betätigungsfeld für bürgerschaftliches Engagement darstellt, ob es sich über organisierte Vereine oder verantwortungsbewusste Medien artikuliert. Die politische Rhetorik zu dekonstruieren, den Missbrauch der Worte kritisch unter die Lupe zu nehmen, ist in der Tat eine Methode, das Falschsprechen zu reduzieren und vor allem der Politik keine Gelegenheit mehr zu geben, ihre Sprache durchzusetzen und sich ihrer unangefochten zu bedienen.92 Die Qualitätsmedien, die sich bemühen, die Informationen, die in dem enthalten sind, was sie publizieren, einem rigorosen fact checking zu unterziehen, tun auch ein für die Bürgergesellschaft nützliches Werk, wenn sie sich bei der Entschlüsselung der in den Reden und Stellungnahmen führender Politiker benutzten Sprache als word checker betätigen. Während der Französischen Revolution trug eine berühmte Publikation aus dem Umkreis der Cordeliers den Titel La Bouche de fer, als Hommage an die Bocca della Verità, einem Flachrelief aus römischer Zeit, das den Gott Neptun darstellt, der angeblich jedem Lügner die Hand abbeißt, der sie in seinen offenen Mund steckt.93 Diese demokratische Praxis hätte heutzutage viele Nachahmer nötig. Die Schlacht um das Wahrsprechen muss zweitens die Form einer Kritik des politischen Monologisierens annehmen – denn der Monolog ist das autistische Sprechen, die Verweigerung der vernunftgeleiteten Auseinandersetzung mit anderen. Die politische Debatte wird ihres Inhalts entleert, wenn sie sich auf eine monotone Aneinanderrei91 Ernaux, Les Années. 92 Vgl. dazu das anregende Werk von Green, The Eyes of the People. 93 Es befindet sich heute an einer Wand der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin.

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hung solcher Monologe beschränkt, die sich offenbar am Vorbild des Grabenkriegs orientieren. Ihre Ergiebigkeit in Sachen Informationen ist also sehr gering, und zum Austausch von Argumenten trägt sie nichts bei. Deshalb führt sie fast nie zur Klärung von Optionen oder zur Formulierung von Problemen. Diese Frage hat eine lange Geschichte und wurde vor ihrer allgemeinen Erörterung zunächst im organisatorischen Rahmen der Parlamentsdebatte thematisiert, dem vermeintlichen Urtyp der argumentativen Auseinandersetzung. Und zwar in Bezug auf einen ganz bestimmten Punkt: Sollten Parlamentsreden improvisiert werden, um aufeinander eingehen und durch ihre Spontaneität eine lebhafte Debatte entfachen zu können, oder sollten sie im Verlesen vorab verfasster Texte bestehen, also auf die Gefahr hin, ohne Sinn und Zusammenhang aufeinanderzufolgen? Diesbezüglich standen sich englisches und französisches Modell gegenüber. In England mussten die Reden von alters her im Allgemeinen improvisiert werden, den Rednern war lediglich erlaubt, sich einiger Notizen als Gedächtnisstütze zu bedienen. Die Aufteilung und überschaubare Größe der Räumlichkeiten ließen dieses Vorgehen als ziemlich naheliegend erscheinen. Jeder sprach von seinem Platz aus, es gab keine Tribüne, sodass die Wortmeldungen einen spontanen Charakter behielten und die Debatten folglich oft in wirkliche Diskussionen mündeten. Ganz anders im Falle Frankreichs, wo seit der Revolution der geschriebenen Rede der Vorzug gegeben wurde. Aus inhaltlichen wie aus formalen Gründen. Die Bevorzugung des Schriftlichen rührte zunächst von einem aufklärerischen Glauben an seine konzeptuelle Überlegenheit her.94 »Die Kunst, Reden zu schreiben, ist«, laut Condorcet, »die wirkliche Rhetorik der Modernen, und die Sprachgewalt einer Rede entspricht eben der eines Buches, das geschaffen wurde, um von allen bei rascher Lektüre verstanden zu werden.«95 Er sprach deshalb von den Notwendigkeit, »Beredsamkeit durch Argumentation, Redner durch Bücher« zu ersetzen. »[D]ie wahre Erörterung, die ernste Erörterung«, bekräftigte Simonde di Sismondi einige Zeit später, »welche Licht und Wahrheit in alle denkenden Geister bringt, ist jene, 94 Vgl. Starobinski, »Éloquence antique, éloquence future: aspect d’un lien commund d’ancien régime«. 95 Condorcet, »Troisième Mémoire sur l’instruction publique« (1791), S. 270–271.

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welche durch Bücher geschieht.«96 Zu solchen Überlegungen, die auf einer Kritik an der antiken Rhetorik beruhten, gesellte sich ein demokratisches Argument: die Möglichkeit, die Reden, dank der schriftlichen Form, über das Parlament hinaus bekannt zu machen. Das war in kritischer Absicht gegen die Gepflogenheiten der beiden Häuser des englischen Parlaments gerichtet, lieber unter sich zu bleiben und die Vorstellung zu kultivieren, einen Klub von Gentlemen zu bilden. Das Halbrund des französischen Plenarsaals unterschied sich schon baulich von seinem englischen Pendant. Die Tatsache, dass der Redner ein Podium besteigen musste, um zu sprechen, gab seinen Worten einen viel feierlicheren Charakter. Dass er all seinen Kollegen frontal gegenüberstand, versetzte ihn in die Lage eines Professors, der sich in einem Hörsaal an seine Zuhörer wendet, nicht in die eines Diskutanten. Das Vorhandensein eines breiten Pultes ermöglichte ihm, sein Manuskript bequem auszubreiten. Schon aus diesem Grund folgte ein Monolog auf den nächsten. Diese französische Praxis hat, trotz einiger Reformversuche97, bis zum heutigen Tage überdauert. Sie wurde von Jeremy Bentham heftig kritisiert,98 und Benjamin Constant verwandte ein Kapitel seiner Grundprinzipien der Politik darauf, ihre nachteiligen Folgen für die Demokratie aufzuzeigen.99 »Wenn die Redner sich darauf beschränken, vorzulesen, was sie in der Zurückgezogenheit ihres Arbeitszimmers niedergeschrieben haben, diskutieren sie nicht mehr, sondern führen nur etwas weitläufig aus: Sie hören nicht mehr zu, denn was sie etwa hören würden, vermag nichts mehr an dem zu ändern, was sie vor96 Simonde de Sismondi, Forschungen über die Verfassungen der freien Völker, S. 379 [Übersetzung modifiziert]. 97 Vgl. Pierre, Traité de droit politique électoral et parlementaire, Band 1, S. 1033–1035, der die Frage erörtert. Nichts hat sich seit dieser Publikation in der Sache geändert. Es sei nur nebenbei bemerkt, dass die Verfassung des Jahres VIII diese Praxis verbot. 98 Vgl. Bentham, »Of the exclusion of written discourses«, in: ders., »An Essay on Political Tactics«, S. 361–362. 99 Vgl. das Kapitel »Über die Diskussion in den Vertretungskörperschaften«, in: Constant, »Grundprinzipien der Politik« (S. 97–98 für das folgende Zitat). Übrigens fügte er in die Zusatzakte zu den Verfassungen des Kaiserreichs (1815) einen Artikel ein, der das Verlesen von Reden in den Kammern untersagte (Titel I, Artikel 26).

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zubringen gedenken; sie warten, daß ihr Vorgänger seine Rede beendet hat; sie prüfen nicht die Ansicht, die dieser vertritt, sondern achten nur auf die Zeit, die er braucht und die ihnen als eine Verzögerung ihrer eigenen Darlegungen erscheint. Auf diese Weise gibt es keine Debatte, jeder bringt vielmehr noch einmal bereits zurückgewiesene Einwände vor; jeder läßt fort, was er nicht vorgesehen hat, sowie alles, was sein zuvor schon in vollem Umfang festgelegtes Plädoyer stören würde. Die Redner folgen aufeinander, ohne sich zu begegnen; wenn sie einander widerlegen, so rein zufällig, denn sie gleichen zwei Armeen, die in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeidefilieren und einander kaum wahrnehmen, ja, sogar vermeiden, den anderen einen Blick zu schenken, aus Furcht, von der unwiderruflich vorgezeichneten Linie abzuweichen.« Einige Jahre später kontrastierte Cormenin in seinem Buch der Redner auf sehr witzige Weise zwei Arten des Vortrags und mokierte sich dabei über den Rezitator, der »sich nicht um die Versammlung [bekümmert]. Er vertieft und zieht sich in sich zurück. Er wohnt sich in die Zellen seines Hirns ein, wo alle seine Phrasen sauber an ihrem Platze untergebracht sind.« Der Rezitator »ist ein Mann von Gestern, während der Redner der Mann des Augenblicks sein soll«.100 Diese Reduktion der Debatte auf eine Folge von Monologen hat sich seither verallgemeinert und auf alle politischen Bühnen ausgedehnt, mit den gleichen Auswirkungen hinsichtlich der Verarmung des demokratischen Lebens. Denn der Monolog ist eine Art des Sprechens, das sich keiner Gefahr aussetzt, das nie gefordert wird, das sich hinter bloßen Behauptungen verschanzt. Er trägt zur Erstarrung der Positionen bei, indem er die Bürger auffordert, sich auf eine Seite zu schlagen und sich auf einen bestimmten Diskurstyp festzulegen, anstatt Fakten und Argumente zu prüfen, zu vergleichen und sich dann zu entscheiden. Die Bürger geraten dadurch in die Rolle passiver Objekte. Um dieser Form einer schleichenden Erosion der Politik zu begegnen, gibt es keine probaten juristischen oder institutionellen Vorkehrungen. Zum Glück wird keine gesetzliche Regelung des Wahrsprechens in Betracht gezogen, außer in totalitären Staaten, die deren Anwendung in ihrem Sinne betreiben (und zwar auf verschiedenen Wegen, zum Beispiel durch Kriminalisierung einer vermeintlichen Gefährdung von Insti100 Cormenin, Das Buch der Redner, S. 13–14.

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tutionen). Hingegen wäre es möglich, dass die Wahlkampagnen mehr von zivilgesellschaftlichen Organisationen genutzt werden, um die Debatten in einen verbindlichen Rahmen zu stellen. Sie könnten auch dabei behilflich sein, Problemlagen korrekt zu definieren, und zwar in verschiedenen Zusammenhängen, Vereinen und Verbänden, Medien, ja selbst in erst noch zu schaffenden Institutionen. Es gibt die Beispiele pluralistischer Kommissionen, deren Arbeit den Umgang mit brisanten Themen erleichtert und Hindernisse auf dem Weg der Entscheidungsfindung in sensiblen Bereichen beseitigt hat (zu denken wäre im Fall Frankreichs an die Commission de la nationalité101 [Kommission zur Frage der Staatsangehörigkeit] von 1987, an die Fortschritte in Sachen Wahrung der religiösen Neutralität, die 2003 von der Commission Stasi erzielt wurden, oder auch an die Arbeit des Conseil d’orientation des retraites [Rentenaufsichtsrat], um nur solche Beispiele zu nennen, die noch allen in Erinnerung sind). Auch die Medien sind aufgerufen, dabei ihren Part zu übernehmen. Und zwar mit dem gleichen Ziel, die parteipolitische Phraseologie »implodieren zu lassen«, die Politiker und Politikerinnen zu zwingen, ihr Korsett zu sprengen, und den Bürgern zu helfen, der Realität ins Auge zu sehen, indem sie ideologische Barrieren abbauen. Auch hierin wird ihre demokratische Funktion immer wichtiger.102 Die dritte Front des Wahrsprechens ist die der Invasion einer Sprache der Intentionen. Es handelt sich um eine neue Sprache, die erst vor relativ kurzer Zeit politisch in Erscheinung getreten ist. Sie resultiert aus einer zunehmenden »Ohnmachtsstimmung« und einem Gefühl der Orientierungslosigkeit angesichts der vermeintlichen Automatismen einer von den anonymen, nicht beeinflussbaren Mächten des Marktes und der Governance beherrschten Welt oder der Schwierigkeit, sich eine Willensbetätigung anders vorstellen als in jener Form, die wir als projektiv bezeichnet haben. Diese neue Sprache ist Ausdruck einer zunehmenden Verselbstständigung eines politischen Diskurses, der sich weniger auf Taten oder die Realität als auf Absichten bezieht. Letztere umreißen entweder ein positives Universum, in dem 101 Vgl. Schnapper, »La Commission de la nationalité, une instance singulière«. 102 Vgl. zum Beispiel in Frankreich die Rubriken »Les décodeurs« in Le Monde, »Info-intox« in Libération oder die Arbeit von Mediapart.

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eine kämpferische Würde, eine Kraft des Widerstandes gegen die herrschende Unordnung hervortreten kann, oder sie entfalten umgekehrt und im negativen Sinne den bloßen Beschwörungszauber eines konservativen Reformismus. Diese Sprache stellt das Gefühl einer moralischen Beherrschbarkeit der Dinge wieder her. Um ihre Gründe und ihre Beschaffenheit zu erfassen, muss man recht verstehen, was sie nicht ist. Sie ist nicht der klassische, in einer Zwangsjacke der Gewissheiten steckende Ideologiejargon, nicht das mit Versprechungen überfrachtete Gerede, nicht die autistisch-monologische Sprache oder die der »politischen Korrektheit«, die die Realität mit ihrem Gutmenschentum imprägniert, ebenso wenig der totalitäre Diskurs, der seine Zuhörer in ein fiktives Universum sperrt. Auch nicht der einfache Umstand, dass man Überzeugungen formuliert. Es handelt sich um etwas völlig anderes. Nämlich eine Sprache, die auf der Wahrnehmung einer von Intentionen regierten Welt beruht, Intentionen, in denen alle Realitäten ihren Ursprung haben. Der Wille, die Welt zu ändern, besteht in diesem Fall darin, für die Durchsetzung anderer Intentionen zu kämpfen, aus denen eine andere Welt hervorgehen könnte. Diese neue Sprache befindet sich im Aufwind. Sie drängt von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums her immer mehr in der Vordergrund, ob in Bezug auf gesellschaftliche Themen oder solche der Wirtschafts- und Außenpolitik. Sie begründet eine neue Art der Realitätsabschottung, nämlich die des Für-real-Erklärens dieser Welt der Intentionen. Sie geht deshalb auch strukturell mit einer Abneigung gegen Kompromisse und praktische Vereinbarungen einher, denn im Land der Intentionen ist alles schwarz-weiß, es tobt ein unerbittlicher Zweikampf zwischen Gut und Böse. Die Politik reduziert sich damit auf eine pauschale moralische Entscheidung, die ihr Verhältnis zur Praxis und zur Realität nicht länger erklären muss, wenn der »gute Wille« erst zur politischen Zentralkategorie erhoben ist. Die Begriffe, mit denen die griechische Regierung und die europäischen Institutionen nach dem Amtsantritt von Alexis Tsipras 2015 ihre jeweiligen Positionen verteidigten, waren charakteristisch für diese Sprache der Intentionen (und der begleitenden Prozesse!), die die Diskussionen auf ein sachlich schwer nachvollziehbares Terrain verlagert. Ungeachtet dieser verschiedenen Pathologien des politischen Lebens entzieht sich das Wahrsprechen jedem, der sich anmaßt, es auf 315

eine einfache Definition reduzieren zu können, zu der er den Schlüssel besäße. Es existiert nur in Gestalt eines permanenten Bemühens um kritische Reflexion der politischen Sprache. Ein Bemühen, das selbst eine der existenziellen Dimensionen demokratischer Praxis ist. Auch hier haben wir es wieder mit einem aufklärerischen Unterfangen zu tun, das unmittelbar in den Händen der Bürger, der Presse und der zivilgesellschaftlichen Organisationen liegt.

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Integrität Es ist nicht eben originell, daran zu erinnern, dass die Frage der Korruption seit der Antike im Mittelpunkt des politischen Denkens steht. Korruption hat Gesellschaften zerrüttet und Reiche ins Wanken gebracht. Man erinnert sich vielleicht, dass die 1848er-Revolution in Frankreich auch als »Revolution des Ekels« bezeichnet wurde, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Grund für den Sturz von Louis-Philippe zunächst in einer Verurteilung der moralischen und politischen Verkommenheit der Juli-Monarchie zu suchen war. Zwar ist die Forderung nach Integrität an die Adresse der Regierenden immer schon Teil einer solchen Tradition gewesen, Korruption als unannehmbare moralische und institutionelle Beeinträchtigung einer funktionierenden politischen Ordnung abzulehnen. Doch hat sie mit dem Übergang von einer Politik der Programme zu einer Politik der Personen an Bedeutung gewonnen und zugleich eine neue Qualität erlangt. Die traditionellen Auffassungen von Gemeinwohl und Repräsentation wurden im Zuge dessen radikal neu definiert. Da das Gemeinwohl seinem positiven Inhalt nach schwerer zu fassen ist, wurde es der Einfachheit halber tendenziell auf eine Form reduziert: die der faktischen Gleichsetzung der Personen mit den von ihnen ausgeübten Ämtern. Daher die Abneigung gegen Verhaltensweisen, die als »private« Aneignung oder Beschlagnahmung öffentlicher Ämter oder der mit ihnen verbundenen Vergünstigungen betrachtet werden. Das bezeugt beispielsweise die in materieller Hinsicht unerhebliche, aber gesellschaftlich aufschlussreiche Sensibilität, wenn es um das Problem der für unangemessen erachteten »Dienstwohnungen« geht. Oder um die Gepflogenheit, die Posten parlamentarischer Assistenten mit Familienangehörigen zu besetzen. Das soziale Empfinden ist in dieser Hinsicht der Gesetzgebung häufig voraus, und es besteht ein unvermindert starker Druck, Letztere mit Ersterem in Einklang zu bringen. In diesem Rahmen steckt die Kategorie der Integrität den Horizont des politisch Guten ab, verbunden mit 317

der Vorstellung von Einheit und Intaktheit. Integer ist jene Person, die sich ganz auf eine Sache konzentriert, die in ihrem Amt aufgeht, sich völlig mit ihm identifiziert und keinen persönlichen Nutzen daraus zieht. Auch das Konzept der Repräsentation hat sich mit dem Vordringen dieser personenbezogenen Politik verändert. »Gute« Repräsentation bedeutet nunmehr, auf den Mann oder die Frau von der Straße Rücksicht zu nehmen. Von den Repräsentanten und Regierenden wird mittlerweile erwartet, dass sie über das Bekunden von Anteilnahme hinaus wie ihre Mitbürger leben. Ein Runderlass der Regierung JeanPierre Raffarin103 in Frankreich, der die Vergabe von Dienstwohnungen an Regierungsangehörige regelte, verwies bezeichnenderweise auf »die Schlichtheit, die den Repräsentanten des Staates gebührt«, und verbreitete sich detailreich über die zulässige Quadratmeterzahl einer Wohnung, die mit dieser Aussage vereinbar ist. Diese Schlichtheit sollte anscheinend einen sofort erkennbaren Integritäts- und Glaubwürdigkeitindikator bilden. Das Vertrauen in die Regierenden ist in der Tat direkt an die Glaubwürdigkeit gekoppelt, über die sie verfügen. Nicht von ungefähr prägte einer der Begründer des modernen politischen Denkens, Philippe de Commynes, den Begriff des Kredits (abgeleitet vom lateinischen creditum, Partizip Perfekt von credere, glauben),104 um ein Attribut der Macht zu bezeichnen, das festlegte, über welche Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräume sie verfügte, wobei dieses Attribut als Gegenstück ihres Vertrauenskapitals fungierte. Das Misstrauen nährt sich umgekehrt aus Zweifeln und Ungewissheiten, die bisweilen auf objektiven Tatsachen hinsichtlich vergangener Verhaltensweisen oder einfach auf diffusen Verdachtsmomenten beruhen. Wir wollen hier in erster Linie diese letztere Kategorie betrachten. Solche Verdachtsmomente resultieren zumeist aus einem negativen Halo-Effekt, der sich auf ein ganzes Milieu bezieht, beispielsweise die »politische Klasse«, die beschuldigt wird, mehr Eigeninteressen zu verfolgen, als dem öffentlichen Wohl zu dienen. Korruption, Interessenkonflikt, passive Bestechung, unerlaubte Vorteilsnahme: Diese Begriffe, die der Rechtsspra103 Runderlass vom 30. Juni 2005. 104 Laut Blanchard (Commynes l’Européen. L’invention du politique, S. 320–325), war er der Erste, der das Wort in der literarischen Sprache benutzte.

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che ebenso angehören wie dem öffentlichen Moraldiskurs, verweisen alle auf das gleiche Phänomen der Unterordnung des Gemeinwohls unter private Zwecke. Die Vergehen einiger weniger und die Skandale, die sie hervorrufen, fördern in diesem Kontext den Argwohn gegenüber allen. Transparenz soll somit Informationen bereitstellen, um die Herausbildung eines diffusen Generalverdachts zu verhindern, und zugleich eine präventive Wirkung erzielen, indem die Betroffenen gezwungen werden, die Zusammensetzung und Veränderung ihres Vermögens oder die Art ihrer Einkünfte offenzulegen. Sie ist eine öffentliche Integritätswächterin. In einem Zeitalter, in dem die Tatsache einer gewissen politischen Ohnmacht schmerzlich als Ausdruck eines schwindenden Zugriffs auf den Gang der Welt empfunden wird, bietet die Moral der politisch Verantwortlichen als Ausgleich eine wichtige Orientierungshilfe. Transparenz unterstellt sie einer Art präventiver Kontrolle.

Die drei Transparenzen Transparenz wird zugleich beweihräuchert und diffamiert. Beweihräuchert als vermeintliches Wundermittel gegen alle politischen Gebrechen und Weg ins Reich des Guten. Diffamiert als treibende Kraft einer neuen Form voyeuristischer Tyrannei, die kein Halten kennt in ihrer Zerstörung des Rechts auf Privatsphäre und eine ebenso würdelose wie entwürdigende Sicht des politischen Lebens befördert. Dieser Begriff spielt heute, wenngleich auf zwiespältigere Weise, eine ähnliche Rolle wie der der Publizität, der im 19. Jahrhundert zentral für die Entstehung liberaldemokratischer Systeme war. Doch unterscheidet er sich von Letzterem auch in zweierlei Hinsicht. Er fügt ihm zunächst eine moralische Note hinzu, vermittelt über Bilder von Reinheit, Aufrichtigkeit, Authentizität, Übereinstimmung von Worten und Taten. Während sich Publizität objektiv definierte, im Sinne der Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit von Fakten und Informationen sowie ihrer Zirkulations- und Verbreitungsformen, bewegt sich Transparenz in einem semantischen Dunstkreis, in dem sich Bezüge zu den unterschiedlichsten Registern vermischen. Sie vereint alle Kontrastbilder dessen, was der undurchdringlichen Welt des Dunklen und Rätselhaften angehört. Sie ist auf ebenso undefinierbare Weise verlockend und erlösend, wie die Nacht sündhaft und voller unbestimmter Versuchungen ist. Zwei319

tens besitzt Transparenz ein weiteres Anwendungsfeld. Publizität bezog sich in erster Linie auf das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative sowie zwischen Legislative und öffentlicher Meinung. Im Zeitalter der Transparenz hat hingegen das Verhalten von Personen eine entscheidende Bedeutung bekommen. Da man nicht weiß, was die Macht konkret tun soll, kümmert man sich inzwischen vor allem darum, was sie sein sollte. Der Bezug auf Transparenz ist insofern charakteristisch für ein Streben nach »Verklärung« des Politischen. Er entspricht, im Zeitalter des demokratischen Skeptizismus und Misstrauens, dem Zustand einer Welt, in der die Verhaltensweisen der Individuen wichtiger werden als die Ideen, die sie möglicherweise vertreten, und animiert dazu, ein Instrument zum Messen und Bewerten des Handelns zu entwickeln, bei dem die Prüfung der Aufrichtigkeit an die Stelle der für problematisch erachteten Beurteilung der Effizienz tritt. Moralische Abneigung wird in diesem Rahmen zur entscheidenden Größe der politischen Urteilsbildung. Diese kursorischen Bemerkungen zum Transparenzbegriff verlangen allerdings nach Präzisierung. Man kann drei Varianten des Konzepts unterscheiden: Transparenz als Utopie, Transparenz als Ideologie und instrumentelle Transparenz. Transparenz als Utopie ist historisch eng mit dem Namen Rousseaus verbunden. Man hat als Beleg dafür zumeist seine entsprechenden Äußerungen aus den Bekenntnissen herangezogen. Im Hinblick auf das Ziel, das er mit diesem Buch zu erreichen beabsichtigte, notierte er: »Ich möchte meine Seele für den Leser gewissermaßen durchsichtig machen, und deshalb bestrebe ich mich, sie ihm unter allen Gesichtspunkten zu zeigen und sie ihm mit jeder Art Licht zu durchleuchten und zu sorgen, daß keine Regung darin gewesen sei, die er nicht gewahr geworden wäre, damit er selbst über den ersten Anstoß, der sie erzeugt, urteilen könne.«105 Diese Art der Transparenz, auf die sich Rousseau hier bezog, bezeichnete sowohl eine literarische Methode als auch ein literarisches Ziel. Auf diese Weise ist ihm mit den Bekenntnissen ein absolut bahnbrechendes Buch gelungen, das eindrucksvolle Debüt eines neuen Genres: das der psychologischen Selbsterforschung, des rückhaltlosen Eintauchens in die Welt der in-

105 Rousseau, Bekenntnisse, S. 260 (1. Teil, Buch 4).

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nersten Antriebe und der geheimsten Gedanken. Doch zugleich war Transparenz für ihn auch die Grundlage jeglicher Moral. Ein gerechtes Miteinander erforderte in seinen Augen den Ausschluss von Geheimnis und Verstellung.106 Eben das hat er sich in einer berühmten Passage des Buches zugute gehalten, in der er sich auf sein »wie ein Kristall durchsichtiges Herz« bezieht, das »sich niemals darauf verstanden hat, ein nur etwas lebhafter in ihm wesendes Gefühl auch nur für die Dauer einer Minute zu verbergen«.107 Über diese Moral ließe sich streiten und aufzeigen, dass für den Aufbau gütlicher sozialer Beziehungen auch Formen von Verstellung notwendig sind. Diese Frage ist ausgiebig diskutiert und kommentiert worden. Entscheidend ist jedoch die Betonung der anthropologisch-politischen Intention, die den Worten Rousseaus zugrunde liegt: die einer als Gesellschaftszustand verstandenen Transparenz, im Einklang mit dem von ihm angestrebten politischen Ideal. Bereits in seiner ersten Publikation, der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, skizzierte er dieses Ideal in seinen Grundzügen. In der Widmung des Werkes beschrieb er den Ort, an dem er gerne geboren worden wäre, folgendermaßen: »[E]in Gemeinwesen, in dem alle einander kennen, daher weder die finsteren Machenschaften des Lasters noch die Bescheidenheit der Tugend sich den Blicken und dem Urteil der Öffentlichkeit entziehen könnten und in dem die angenehme Gewohnheit, einander zu sehen und zu kennen, aus der Vaterlandsliebe eher eine Liebe zu den Staatsbürgern denn zum Boden machte.«108 Die hier gemeinte Transparenz war nicht nur eine Wesenseigenschaft, eine moralische Veranlagung: Sie wurde als Form sozialer Bindung verstanden. Sie bezeichnete die Voraussetzungen, unter denen sich der Einzelne unmittelbar in den Staatsbürger verwandelte, durch die bloße Macht einer Verpflichtung zu gegenseitiger Sichtbarkeit. Rousseau hat später in seinen Betrachtungen über die Regierung von Polen die genaueren Umstände dieses Vorgangs beschrieben. Alle kleinen Staaten würden, wie er betonte, »allein schon darum [gedeihen], weil sie klein sind, […] 106 Vgl. Burgelin, La Philosophie de l’existence de Jean-Jacques Rousseau, S. 293–295. 107 Rousseau, Bekenntnisse, S. 623 (2. Teil, Buch 9). 108 Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, S. 186.

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weil ihre Oberhäupter selbst sehen können, was an Üblem geschieht und was Gutes sie tun müssen; und weil ihre Weisungen vor ihren Augen ausgeführt werden.«109 Gegenseitige Sichtbarkeit war somit der Schlüssel zu einer gemeinsamen Welt. Sie war für ihn »das »stärkste«, »machtvollste«, »unfehlbar erfolgversprechende« Mittel zum Aufbau einer geeinten Gesellschaft: »Es gilt zu erreichen, daß alle Bürger sich unaufhörlich unter den Augen der Öffentlichkeit wissen, daß keiner vorwärtskomme und aufsteige außer durch öffentliche Gunst, daß keine Stelle, kein Amt anders als nach dem Wunsch des Volkes besetzt werde und daß schließlich […] jedermann in einem solchen Maße von der öffentlichen Wertschätzung abhängt, daß sich ohne sie nichts tun, nichts gewinnen, nichts erlangen läßt.«110 Transparenz war für ihn zugleich eine soziale Form und das moralische Instrument ihrer Erzeugung. Mit ihrer Hilfe konnte die Gesellschaft der Einzelnen zum Gemeinwesen werden, in dem jeder, durch seine unmittelbare Verwandlung in einen Staatsbürger, das in Emil formulierte Dilemma auflöste.111 Sie sollte jeden dazu motivieren, sich von seinem Privatinteresse freizumachen, die Maske fallen zu lassen, »ohne Einschränkung und ohne Teilung ich«112 zu werden, sich gewissermaßen zu »entpartikularisieren«. Die dieser Transparenz entsprechende Authentizität brachte das Individuelle mit dem Universellen zur Deckung. Sodass jeder für den anderen nur noch in Gestalt eines weit geöffneten Auges existiert, dessen Blick ungehindert dem seinen begegnet. Eine Bewegung reinen Einsseins, der das alles umhüllende Licht einer stillen Wahrheit entspringt. In seinem berühmten Kommentar zu dieser Dimension des Rousseau’schen Werkes hat Jean Starobinski auf die Bedeutung chemischer Verschmelzungs-, Vermischungs- und Umwandlungsphänomene für Rousseau aufmerksam gemacht und seine Vorstellung von Transparenz mit Bildern des Vitri-

109 Rousseau, »Betrachtungen über die Regierung von Polen«, S. 452. 110 Ebd., S. 505. 111 Bekanntlich schrieb Rousseau in Buch 1 von Emil oder Über die Erziehung (1762): »Man bekämpft […] entweder die Natur oder die sozialen Einrichtungen und muß wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: beides zugleich ist unmöglich« (S. 12). 112 Ebd., S. 309.

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fizierungsprozesses in Verbindung gebracht.113 Bei ihm sei, wie er betonte, »die Technik der Vitrifikation vom Traum der Unschuld und substantiellen Unsterblichkeit nicht zu trennen«.114 Bei der mehrjährigen Zusammenarbeit mit seinem ersten Gönner, Dupin de Francueil, an einer Gesamtdarstellung des chemischen Wissens seiner Zeit hatte sich Rousseau für diese Fragen zu interessieren begonnen. Daraus war 1747 ein umfangreiches Buch, Les Institutions chimiques, entstanden, in dem er eine Fülle wissenschaftlicher Bilder zusammentrug, deren Spuren man in seinem ganzen späteren Werk wiederfindet.115 Von Belang für unser Thema ist beispielsweise sein lebhaftes Interesse an den Arbeiten des deutschen Physikers Johann Joachim Becher, der eine ganze Theorie der Vitrifikation entwickelt hatte, derzufolge der Mensch selbst aus »Glas« bestünde, sodass seine sterblichen Überreste dazu bestimmt wären, »schönes durchsichtiges Glas« zu werden!116 Wenn Rousseau von Transparenz spricht, ist man von einem bloßen Nachdenken über Fragen der Publizität weit entfernt. Ihm ging es vorrangig um das Ideal einer ganz auf die Verwirklichung des Gemeinwohls ausgerichteten Gesellschaft. Indem er die Unwägbarkeiten der Diskussionen und Verhandlungen durch die Tatsache einer unmittelbaren Übereinstimmung der Köpfe und Herzen ersetzte, essenzialisierte Rousseau die Entstehung des moralisch und politisch Guten auf radikale Weise. Wenn es an dieser Transparenz fehlte, musste ihm zufolge eine unüberwindliche Zwietracht triumphieren. Die Transparenz versetzte die Menschen somit in die Lage, dem göttlichen Plan einer guten Regierung der Menschheit gerecht zu werden. Doch während dieser Plan logischerweise nur als universeller denkbar ist, da Gott ein unbegrenztes Wissen über die für ihn vollkommen durchsichtige Welt besitzt, konnte für Rousseau eine »menschliche« Transparenz nur in bescheidenerem Maßstab, auf der Ebene eines Kleinstaates, zum Tragen kommen und ähnliche Wirkungen erzeugen. Viele Utopien der 113 Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen. 114 Ebd., S. 381. 115 Bruno Bernardi hat auf die Bedeutung dieser »chemischen Bilder« für die Konzeptualisierung des Allgemeinwillens hingewiesen. Vgl. Bernardi, La Fabrique des concepts. 116 Rousseau, Les Institutions chimiques, S. 24–25 (hier zitiert nach Starobinski, Rousseau, S. 382).

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»guten Gesellschaft« im 18. Jahrhundert teilten diese Perspektive.117 Doch während Rousseau die Transparenz in einem gleichermaßen moralischen und anthropologischen Sinne verstand, zeichneten Utopisten wie Étienne-Gabriel Morelly oder Dom Deschamps das prosaischere Bild einer Menschheit, die in das Muster einer normierten, einem gedanklichen und sprachlichen Konformismus unterworfenen Ordnung gepresst ist. Nur in manchen Reden der Französischen Revolution, etwa bei Robespierre oder Saint-Just, sind später noch Spuren der spezifisch Rousseau’schen Transparenz anzutreffen. Auch die in der revolutionären Ikonographie allgegenwärtige Symbolik des Auges, zugleich wachsames Auge des Volkes und Spiegel der sozialen Welt, kann man mit Rousseau in Verbindung bringen. Die Transparenz-als-Ideologie ist von anderer Art. Sie begreift sich als Politik und tritt in der heutigen Welt oft stillschweigend an die Stelle des alten Ideals, eine neue Welt zu erschaffen. Die amerikanischen muckrakers, jene Enthüllungsjournalisten, die in den USA des frühen 20. Jahrhunderts Wirtschaftsverbrechen und politische Korruption aufdeckten, waren die Ersten, die dieses Konzept formulierten. In den 1900er Jahren veröffentlichten die Redakteure des Cosmopolitan Magazine, von McClure’s und Every-body’s ihre Recherchen, die es ermöglichten, die korrupten Politiker und korrumpierenden Industriellen dieser Tage an den Pranger zu stellen.118 Sieht man von der sensationsheischenden Dimension ihres Tuns ab, so ging es ihnen darum, das Land wachzurütteln, in enger Zusammenarbeit mit der Progressive Movement. Sie gehörten zu jener Sorte von Predigern, für die Moral und Politik eine Einheit bilden. Lincoln Steffens etwa, einer ihrer prominentesten Vertreter, Verfasser des aufsehenerregenden The Shame of the Cities (1904), benutzte ein moralisch aufgeladenes Vokabular und warf mit Begriffen wie shame, sin, guilt, salvation, damnation, pride und 117 Diese Parallele wird in den Betrachtungen über die Regierung von Polen ausdrücklich gezogen: »Alle großen Völker werden durch ihre eigene Masse erdrückt, sie schmachten entweder […] in Anarchie oder aber unter subalternen Bedrückern, die ihnen die Könige aufzuzwingen genötigt sind, da sich eine Rangabstufung erforderlich macht«, heißt es in diesem Text. »Gott allein vermag die Welt zu regieren, und es bedürfte übermenschlicher Fähigkeiten, um große Nationen zu regieren« (S. 452). 118 Weinberg/Weinberg (Hg.), The Muckrakers.

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soul nur so um sich. Sie beförderten damit eine durchaus originelle Sicht der Demokratie, nämlich als eines Systems, das mehr durch Transparenz als durch den Allgemeinwillen definiert ist.119 »Leitet die Wasser des reinen Bürgersinns in die trüben Kloaken der Privatinteressen«,120 forderte der Herausgeber des Cosmopolitan Magazine. Über diesem Enthüllungs- und Erlösungsjournalismus stand als Motto eine berühmte Äußerung von Louis Bandeis vom Harper’s Weekly, der sich als Anwalt des Volkes verstand: »Publizität wird zu Recht als Heilmittel gegen die Gebrechen der Gesellschaft und der Arbeitswelt empfohlen. Sonnenlicht gilt als das beste Desinfektionsmittel und elektrisches Licht als der tüchtigste Polizist.«121 Dieses Bild des belebenden Sonnenlichts hat Amerika geprägt. Davon zeugt noch heute die Tatsache, dass eine der mächtigsten Stiftungen des Landes auf dem Gebiet der politischen Transparenz den Namen Sunlight Foundation trägt. Tatsächlich reicht die geschichtliche Verbindung zwischen Transparenz und öffentlichem Wohl viel weiter in die Vergangenheit zurück. Der mesopotamische Sonnengott Sˇamaˇs beispielsweise war gleichzeitig Gott der Gerechtigkeit. Er war der Allessehende, der die Welt durchschaubar machte. »Du bist der Enthüller der Missetaten und Verbrechen«, verkündeten die heiligen Text der Epoche. Er wurde somit als Garant einer guten Politik betrachtet, was die Tatsache belegt, dass er die auserwählte Gottheit ist, die am Kopfende der HammurapiStele vor dem babylonischen König thront.122 Auch Jean Bodin, um nur ihn unter den modernen Klassikern zu zitieren, unterstrich in seinen Büchern über den Staat den Wert der Transparenz als moralischer Indikator: »Wenn man einwendet, es sei nicht gut, […] die Geheimnisse der Geschlechter und Familien zu lüften, so entgegne ich dem, 119 Vgl. Schultz, »The Morality of Politics: The Muckrakers’ Vision of Democracy«. 120 Ebd., S. 529–530. 121 »Publicity is justly commended as a remedy for social and industrial diseases. Sunlight is said to be the best disinfectant; electric light the most efficient policeman« (Brandeis, »What Publicity Can Do«, in: ders., Other People’s Money and How the Banker Use it, S. 92). Das Buch ist hauptsächlich der Transparenz in der Geschäftswelt gewidmet. 122 Diese Stele mit dem Codex Hammurapi wird im Louvre aufbewahrt. Vgl. Charpin, »L’historien de la Mésopotamie et ses sources: autour du Code de Hammurabi«.

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daß es nur Betrüger, Falschspieler und solche, die andere mißbrauchen, sind, die sich dagegen wehren, daß man ihr Spiel aufdeckt, von ihren Machenschaften erfährt und ihre Vergangenheit entdeckt. Rechtschaffene Menschen dagegen, die das Licht nicht scheuen, werden immer ein Wohlgefallen daran haben, daß man sich ein Bild macht von ihrem Stand, ihrer Stellung, ihrem Vermögen und ihrem Lebenswandel.«123 Dessen ungeachtet wurde die Transparenz zwar von alters her gepriesen, doch stets als Mittel, sie galt nie an sich als vollendeter Ausdruck eines politischen Ideals wie in Amerika zuzeiten des Progressismus. Es ist eine in diesem Zusammenhang interessante Tatsache, dass zur selben Zeit in Europa mit dem Problem der Korruption ganz anders umgegangen wurde. Die Behandlung des Panama-Skandals in Frankreich belegt das auf eindrucksvolle Weise. Obwohl er ein enormes, bis dahin völlig unbekanntes Ausmaß erreichte, löste er keine Kampagne zugunsten größerer Transparenz aus. Es waren mehr die »unausrottbaren Mängel der Gesellschaftsordnung«, die am Pranger standen, als die unmittelbaren Betrügereien korrupter Politiker. Bezeichnenderweise legte Jean Jaurès den Akzent auf »den permanenten Skandal der kapitalistischen Ausbeutung«.124 Ein Historiker ging sogar so weit, vom Panama-Skandal lediglich als »kleinem Zwischenfall« zu sprechen, verglichen mit dem eigentlichen Wesen der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte.125 Die Fakten in der Affäre hatten die Käuflichkeit zahlreicher Abgeordneter enthüllt, doch stand in Wahrheit das parlamentarische System als solches, die »Korruptheit der Versammlungen«, wie man auf der extremen Rechten sagte, unter Anklage.126 Folglich erwartete man sich Lösungen in dieser Frage von einer Verän-

123 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, S. 313 (Sechstes Buch, zweites Kapitel). 124 Zit. n. Monier, »Enquêtes sur la corruption: Jaurès et la commission Rochette«, S. 72. 125 Bouvier, Les Deux Scandales de Panama, S. 8. 126 Vgl. zu den Reaktionen der Linken: Portalez, »La Revue socialiste face à la corruption politique«, und zu denen der Rechten: Dard, »Le moment Barrès: nationalisme et critique de la corruption« (beide, wie der oben genannte Artikel von Monier, aus einer sehr interessanten Sondernummer der Cahiers Jaurès zum Thema Korruption in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts).

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derung des politischen und gesellschaftlichen Systems – nicht von einer größeren Ehrlichkeit einzelner Personen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt die Transparenz als Ideologie, sogar von »neuer Religion«127 ist die Rede, eine Renaissance. Sie hat nach und nach einen zentralen politischen Stellenwert erlangt. Mit dem Siegeszug dieser Art von Transparenz verschwinden die eigentlich politischen und gesellschaftlichen Ziele beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft tendenziell aus dem Blickfeld. Und da, wie in jeder Religion, die größten Glaubenseiferer unaufhörlich an Einfluss gewinnen, wird die Forderung nach »immer mehr Transparenz« zum Maßstab des demokratischen Fortschritts. Vor einigen Jahren startete die Sunlight Foundation sogar eine große Kampagne in diesem Sinne, The Punch Clock Campaign, mit der sie die amerikanischen Parlamentarier veranlassen wollte, täglich ihren Terminkalender online zu stellen, um den Bürgern zu ermöglichen, ihr Tagesprogramm im Detail zu begutachten und zu bewerten.128 Auch wenn eine solche Transparenzideologie berechtigtes Misstrauen hervorrufen mag – man kann Transparenz nicht zu einer Politik sui generis machen –, müssen gleichwohl Transparenzverfahren entwickelt werden, die als Instrumente einen nützlichen Beitrag zur Erzeugung einer »Integritätsatmosphäre« in der jeweiligen Gesellschaft leisten. Man könnte in diesem Fall von einer instrumentellen Transparenzvorstellung sprechen. Einer Vorstellung, deren Präzisierung mit einer Auflösung und einer Klärung der Figuren dieser Transparenz verbunden ist, und zwar über die anfangs getroffene Unterscheidung ihrer drei Formen hinaus.

Klärungsversuche Wir haben in dieser Studie bereits die Publizität, die das Leben der Institutionen betrifft, von der Transparenz unterschieden, die sich auf die Situation von Personen bezieht.129 Wir haben ferner ein spezifi127 Meijer, »Transparency«. 128 Vgl. die heftige Reaktion von Lessig, »Against Transparency«. 129 Ich mache mir hier bereitwillig die Definition von Albert Meijer zu eigen: »Transparenz ist definiert als Verfügbarkeit von Informationen über einen Akteur, die anderen Akteuren ermöglicht, die Arbeit oder das Verhalten dieses Ak-

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sches Verständnis von Lesbarkeit entwickelt, mit ihrer Dimension des Verständlichmachens und der Interpretation der Welt. Wir haben des Weiteren das Recht auf Wissen als Durchbrechen der Geheimhaltung vom Recht auf Wissen als Durchsetzung des Open-Data-Prinzips unterschieden. Alle diese Praktiken unter den alleinigen Begriff der Transparenz zu fassen, wie es häufig geschieht, führt zu Missverständnissen, die vermieden werden müssen, weil sie letzten Endes zu Lasten des korrekten Verständnisses jeder dieser Kategorien gehen. Das Bemühen um Unterscheidung dieser Kategorien stellt also die eine Hälfte des Klärungsbedarfs in diesem Bereich dar. Die zweite Hälfte betrifft die Konflikte, die mehr und mehr zwischen den beiden Strukturprinzipien des demokratischen Lebens auftreten: dem Recht des Bürgers auf instrumentelle Transparenz und dem Recht des Individuums auf Intransparenz, das heißt auf Schutz seiner Privatsphäre (privacy). Der Bürger muss ein Recht auf Kontrolle derer haben, die ihn repräsentieren oder regieren, um sich von ihrer Integrität zu überzeugen, und zugleich muss das Individuum vor dem Blick der anderen und des Staates geschützt werden können. Letzteres Recht war in der Geschichte stets durch Übergriffe des Staates in Ausübung seiner hoheitlichen Funktionen gefährdet – Übergriffe, die heute überhandnehmen aufgrund einer Konzeption von Sicherheit und Terrorismusbekämpfung, die tendenziell auf einer unbegrenzten Datenversammlung über das Leben und Kommunizieren der Einzelnen beruht.130 Doch die Gefährdung rührt auch von der Tatsache her, dass Informationen über das Privatleben im Zeitalter eines zielgruppenorientierten Marketings zu einer hochwertigen Handelsware geworden sind. Politische Transparenz, sicherheitsbezogene Transparenz und kommerzielle Transparenz schreiten also in gleichem Maße voran, haben aber im Hinblick auf die Errichtung einer demokratischen Gesellschaft gegensätzliche Auswirkungen. Regelrechte »Transparenzteurs zu kontrollieren« – »Transparency ist defined as the availability of information about an actor allowing other actors to monitor the workings or performance of this actor« (Lessing, »Transparency«, S. 511). 130 Vgl. all die Debatten, die insbesondere durch die Überwachungsaktionen der amerikanischen National Security Agency ausgelöst wurden, sowie die anderen, weniger ausgeklügelten und flächendeckend angewandten Überwachungsformen.

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schlachten« durchziehen heute, mit vertauschten Fronten, jedes dieser drei Universen. Deshalb gilt es, eine grundlegende Unterscheidung zwischen befähigender Transparenz und invasiver Transparenz zu machen, je nachdem, ob man Akteur oder Betroffener ist. Und es wäre absurd, sie über einen Kamm zu scheren und die Gefahren, die zudringliche Formen von Transparenz für das Privatleben darstellen können, als Vorwand zu benutzen, um die demokratische Transparenz zu einem ungeeigneten Instrument zu erklären, die Integrität von Politikern und Politikerinnen positiv zu beeinflussen. Letztere wiederum können nicht das gleiche Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre für sich in Anspruch nehmen wie die Bürger, da der politische Teil ihres persönlichen Lebens in den öffentlichen und nicht den privaten Bereich fällt. Übrigens ist eine immer stärkere Angleichung zwischen der Situation jener speziellen Gruppe, die von den Prominenten gebildet wird, und jener der Personen des öffentlichen-politischen Lebens zu verzeichnen.131 Das Verhältnis, in dem sie stehen, variiert von Land zu Land, doch die allgemeine Tendenz geht dahin, dem Recht der Öffentlichkeit auf Transparenz den Vorrang einzuräumen vor dem Recht der »Persönlichkeiten« auf Schutz der Privatsphäre. Das ist ein auffälliger Trend in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der mehr und mehr dazu tendiert, der Informationsfreiheit generell den Vorzug gegenüber dem Schutz der Privatsphäre zu geben.132 Der dritte klärungsbedürftige Punkt ist die Beschaffenheit der instrumentellen Transparenz. Sie ist nämlich nicht bloß eine Technik präventiver Kontrolle. Sie ist auch eine Form der Ausübung von Bürgermacht. Denn diese Transparenz begründet eine Asymmetrie zwischen zwei Agenten, demjenigen, der einer zwingenden Anordnung unterliegt, und demjenigen, der sich in der Beobachterposition befindet.133 Letzterer offenbart sich somit als der Überlegene. Über das Ge-

131 Über die Art, wie sich Privatheit und Öffentlichkeit bei den Prominenten vermischen, vgl. die historische Studie von Lilti, Figures publiques. 132 Vgl. seine Entscheidung vom 14. Januar 2014. 133 Darin besteht ein Unterschied zur Rousseau’schen Transparenz als Gesellschaftszustand, die auf einer Gleichrangigkeit und Verallgemeinerung der inquisitorischen Blicke beruht.

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bot zur Transparenz wird die Abhängigkeit des Repräsentanten vom Repräsentierten oder des Regierenden vom Regierten am direktesten spürbar, mehr als über den Wahlnexus, bei dem die Abhängigkeit nur eine vorübergehende ist. Über die Verpflichtungen zur Transparenz verändert sich faktisch der Status der Repräsentanten und der Regierenden. Erstere bleiben zwar weiter von jeder konkreten Weisung entbunden, werden aber einem permanenten Zwang anderer Art unterworfen. Und Letztere sehen sich auf diesem Wege mit den Repräsentanten gleichgestellt. Im Hinblick auf diese Verpflichtungen wird der Unterschied zwischen beiden Kategorien hinfällig. Transparenz vereint also jene, die ihr unterliegen, zu einer Gemeinschaft der Verletzlichen, weil sie sie dem ständigen Blick ihrer Bürger-Richter aussetzt. Während die »klassische« Publizität auf dem Gedanken eines Austausches beruhte und eine gleichberechtigte Beziehung implizierte, führt die Transparenz einen Rangunterschied ein. Transparenz um der Integrität willen ist also unverkennbar zu einer der Ausdrucksformen der Volkssouveränität geworden. In diesem Sinne ist die permanente Abwehrhaltung der Politiker und Politikerinnen gegenüber der Transparenz zu verstehen sowie die Tatsache, dass sie unwillkürlich dazu neigen, in ihrer Durchsetzung so etwas wie eine gegen sie gerichtete Form der Diskriminierung zu erkennen. Das belegt auch die Art und Weise, wie sie häufig auf Journalistenfragen nach ihren Einkünften oder Vermögen reagieren: »Und Sie, wie viel verdienen Sie, was ist Ihre Wohnung wert?« Als wäre es gleichsam eine Ungerechtigkeit, dass »nur sie« gefordert seien, Transparenz zu zeigen.

Die Institutionen der Integrität Diese Institutionen haben einen im Wesentlichen präventiven Charakter. Die französische Haute Autorité pour la transparence de la vie publique (Hohe Behörde für Transparenz im öffentlichen Leben, HATVP ) ist dafür ein gutes Beispiel. Per Gesetz vom 11. Oktober 2013, unter dem Eindruck des Cahuzac-Affäre, ins Leben gerufen, markierte sie einen großen Fortschritt gegenüber den zuvor sehr viel begrenzteren Kontrollen sowohl der Wahlkampfabrechnungen als auch der Vermögen von Abgeordneten und staatlichen Funktionären (die theoretisch schon seit 1988 von einer allerdings mit sehr geringen Kontrollmöglichkeiten ausgestatteten Kommission für Transparenz in der Politik de330

klariert wurden). Mit dieser neuen Behörde134, die auf kollegialer Basis arbeitet, unterliegen nunmehr annähernd neuntausend Personen der Pflicht zur jährlichen Offenlegung ihrer Einkommen, Vermögen sowie Beteiligungen (alle Bestandteile dieser Erklärung werden äußerst detailliert aufgelistet). Davon betroffen sind die Minister, die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter, die Ministerialreferenten, zahlreiche Spitzenbeamte sowie die Mitglieder verschiedener unabhängiger Behörden.135 Die Einrichtung dieser Behörde ging nicht ohne heftige Diskussionen ab, auch wenn der Druck der Öffentlichkeit letztlich ausschlaggebend war. Die Abgeordneten der Opposition konnten dennoch die Regierung in mehreren Punkten zum Nachgeben zwingen, indem sie das Verfassungsgericht anriefen136, das namentlich die ursprünglich vorgesehene Erweiterung der Auskunftspflicht auf Kinder und Eltern kassierte, den Zugang der Öffentlichkeit zu Abgeordnetenunterlagen erschwerte, indem sie die Einsichtnahme auf Präfekturebene ansiedelte, und die direkten Weisungsbefugnisse an Abgeordnete beschränkte (die Hohe Behörde muss sich zu diesem Zweck an das Büro der parlamentarischen Versammlungen wenden, aus Respekt vor dem Prinzip der Gewaltenteilung). Doch auch in ihrer aktuellen Form hat diese Behörde begonnen, viele Dinge in Bewegung zu bringen. Indem sie die Erklärungen der Minister auf ihrer Website veröffentlicht, indem sie zweifelhafte Unterlagen an die Staatsanwaltschaft übergibt, vor allem aber, indem sie eine neue Einstellung zu all diesen Fragen befördert. Obendrein sieht das Gesetz vor, was ein ebenso einmaliger Vorgang ist, dass die Hohe Behörde von zivilgesellschaftlichen Organisationen angerufen werden kann, die sich der Bekämpfung der Korruption verschrieben haben. Seither hat sich eine besondere Beziehung zu Trans134 Deren Einrichtung auch von zwei kurz zuvor veröffentlichten Berichten inspiriert wurde. Dem von Sauvé (Pour une nouvelle Déontologie de la vie publique), der die Arbeit einer Reflexionskommission zur Vorbeugung von Interessenkonflikten im öffentlichen Leben zusammenfasst. Und dem einer Kommission für die Modernisierung und die Ethik des öffentlichen Lebens, unter dem Vorsitz von Lionel Jospin (Jospin, Pour un Renouveau démocratique). 135 Vgl. dazu den 2014 von der Haute Autorité pour la transparence de la vie publique unter HATVP.fr veröffentlichten Recueil des textes juridiques, um ihre Zuständigkeiten und ihre Arbeitsweise im Detail nachzuvollziehen. 136 Entscheidung vom 9. Oktober 2013.

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parency International France herausgebildet. Doch ist die Institution bestrebt, dabei nicht stehenzubleiben, und die Rolle, die Whistleblower auf ihrem Gebiet spielen könnten, schreckt sie nicht. Die Hohe Behörde, die seit ihrer Gründung von einem strengen und energischen Vorsitzenden geleitet wird,137 hat sich schnell als wichtiger Akteur in der politisch-moralischen Landschaft etabliert. Es bleibt festzuhalten, dass Whistleblower in den Vereinigten Staaten und Italien zwar besser geschützt sind als in Frankreich, hingegen das französische Instrumentarium in Sachen Offenlegung von Beteiligungen, Einkünften und Vermögenswerten der Führungskräfte in Politik und Verwaltung derzeit eines der komplettesten auf der Welt ist. In einem kürzlich auf Anfrage des Staatspräsidenten vorgelegten Bericht hat der Vorsitzende der Hohen Behörde weitere Anregungen zur Arbeitsweise seiner Organisation, zu Sanktionsmöglichkeiten im Falle von Zuwiderhandlungen sowie Art und Umfang der Kontrollen formuliert.138 Abgesehen von einer Reihe technischer (aber folgenreicher) Fragen, wie der Zusammenarbeit mit der sorgsam auf ihre Befugnisse bedachten Steuerverwaltung, sind es vor allem drei Vorschläge, die Beachtung verdienen: der Plan zur Überprüfung der steuerlichen Verhältnisse von Ministern im Vorfeld ihrer Ernennung; die Vorlage einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung durch Wahlkandidaten auf Landesebene und die Prüfung der finanziellen Verhältnisse von Bewerbern auf hohe Verwaltungsämter vor ihrer Ernennung. In allen drei Fällen handelt es sich um eine klare Stärkung der präventiven Kontrollfunktion. Die Rolle als Hüterin der Integrität, die einer solchen Behörde zukommt, ist Anlass genug, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass es immer unabhängige Organe sein müssen, die diese Kontrolle ausüben. Das ist beileibe nicht allgemein anerkannt. Viele Institutionen ziehen es nämlich vor, »keine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen«. Das galt lange für die katholische Kirche im Umgang mit Pädophilen, für die Polizei im Umgang mit ihren schwarzen Schafen 137 Nämlich Jean-Louis Nadal, ehemaliger Generalstaatsanwalt am Kassationsgericht, der für seine geistige Unabhängigkeit und seine unverblümte Ausdrucksweise bekannt ist. 138 Nadal, Renouer la Confiance publique.

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usw. Damit verkennt man allerdings die Bedeutung der Transparenz in solchen Belangen. Denn Transparenz ist nicht nur Voraussetzung für die Lebensfähigkeit der Demokratie. Sie ist auch für die Institutionen selbst von Vorteil. Auf diesen Punkt hat Jeremy Bentham aufmerksam gemacht: Eine Institution kann nicht glaubwürdig und legitim sein, wenn sie sich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zum Richter in eigener Sache aufwirft. »Interne Kritik«, betonte Bentham, »wird nicht ausreichen, um Rechtschaffenheit zu wahren, ohne Unterstützung einer Kritik von außen. Die Vorwürfe von Freunden fürchtet man wenig und die von Feinden lassen einen fast gleichgültig. Das parteiische Denken, in seinem kleinen Bezirk eingeschlossen, verfälscht Lob und Tadel gleichermaßen.«139 Transparenz festigt die Institutionen, indem sie ihr Bemühen um das Gemeinwohl unterstreicht. Das Bekenntnis zu ihren eigenen Schwächen beweist, dass sie sich nicht von der Außenwelt abgekapselt haben. Diese Problematik wurde in England bereits zur Zeit des Neunjährigen Krieges erkannt und diskutiert. Das Parlament hatte sich, wie erwähnt, gerade mit einer Accounts Commission versehen, doch waren es Angestellte der betroffenen Ministerien, die aus eigener Initiative, gleichsam als Vorläufer moderner Whistleblower, auf bestimmte Unterschlagungen aufmerksam machten, indem sie diese über Publikationen öffentlich anprangerten. Zum Beispiel wandte sich eine ganze Reihe von Pamphleten gegen die Verwaltung der Commission for Sick and Wounded innerhalb der Admiralität, einschließlich des Abdrucks von Beweisstücken für die Bestechlichkeit bestimmter Offiziere. Den Versuch, diese Probleme »intern zu regeln«, durchkreuzte eine massive, an das Unterhaus gerichtete Petitionskampagne und ebnete damit den Weg für eine neue Art direkter Einflussnahme der Bürger auf die Leitung des Gemeinwesens.140

Die Sanktionssysteme Le Balai – der Besen: diesen Titel wählte, unter dem Eindruck des Panama-Skandals, eine Zeitung, die ab 1891 in Frankreich erschien. Das Bild des Besens war tatsächlich allgegenwärtig in diesen Jahren, an 139 Bentham, »An Essay on Political Tactics«, S. 310. 140 Vgl. Neufield, »Parliament and some Roots of Whistle Blowing during the Nine Years War«.

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der Schwelle zum 20. Jahrhundert, in denen der Antiparlamentarismus zu einer festen Größe im politischen Leben des Landes wurde (das Gleiche ließ sich allerdings über Deutschland oder die Vereinigten Staaten sagen). Mit dem Besen waren die Wahlen gemeint: Sie galten vielen als Mittel, um korrupte Politiker zu entfernen, den »parlamentarischen Filz« zu beseitigen, den eine damals expandierende satirischkritische Presse anprangerte. Seither ist diese Vorstellung immer wieder aufgetaucht, bis zum heutigen Tag: man denke nur an den Slogan »Sie sollen alle abhauen«141, der bei den französischen Präsidentschaftswahlen von 2012 zu hören war. Mit manchmal überraschenden Wendungen, da man nicht selten erlebte, dass stark korruptionsverdächtige oder bereits wegen solcher Delikte verurteilte Kandidaten von den Wählern »begnadigt« wurden. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Korruption in vielen Ländern mit der Zeit immer aktiver bekämpft und die gesetzliche Handhabe bzw. die Ermittlungsarbeit spezieller Polizeieinheiten massiv verstärkt wurde. Führende Politiker landeten auf diese Weise vor Gericht und wurden zu manchmal hohen Strafen verurteilt. Aber sind strafrechtliche Sanktionen ausreichend, um diese Probleme zu bewältigten? Das ist die Frage, die wir hier stellen wollen. Unter Bezug auf die Terminologie in Philip Pettits Républicanisme könnte man bei der Bekämpfung der Korruption zwischen »Filtern« und »Sanktionen« unterscheiden.142 Mit Filtern sind die von uns erwähnten Formen der Aufsicht und Kontrolle gemeint; sie haben eine vorbeugende und abschreckende Funktion. Doch daneben muss auch die Art der Sanktionen, die den Delinquenten drohen, überdacht werden, um die Frage abschließend zu behandeln. Neben den üblichen Vergehen, wegen derer Politiker verurteilt werden können, gibt es nunmehr die neuen, gesetzlich definierten Deliktkategorien des Verstoßes gegen Transparenzauflagen. Ihre konsequente Verfolgung ist von entscheidender Bedeutung. Doch dabei darf 141 Qu’ils s’en aillent tous, Titel eines 2011 publizierten Werkes von Jean-Luc Mélenchon. 142 In seinem Buch (Pettit, Républicanisme. Une théorie de la liberté et du gouvernement) unterscheidet der Autor zwischen Filtern, Formen präventiver Kontrolle, die auf alle angewandt werden, und Sanktionen, die er für weniger wirksam hält, weil sie sich nur gegen Straffällige richten und nicht dazu beitragen, das Verhalten aller Bürger zu bessern.

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es nicht sein Bewenden haben. Es muss auch die Besonderheit des moralisch-politischen Schadens berücksichtigt werden, der aus den strafbaren Handlungen in diesem Bereich resultiert. Wenn das Strafrecht beispielsweise Steuerbetrug ahndet, so geschieht das, per definitionem, ohne Ansehen der Person, das ist geradezu das Fundament des Rechtsstaates. Hinsichtlich der moralisch-politischen Auswirkungen auf ein Land ist es jedoch absolut nicht das Gleiche, ob eine solche Tat von einer Privatperson oder einem gewählten Volksvertreter begangen wird. Im ersten Fall ist die Strafe die Buße für das Vergehen, die beiden entsprechen einander. Ganz anders, wenn der Schuldige eine bedeutende Persönlichkeit des politischen Lebens ist. Dann fällt das Vergehen auf die gesamte politische Klasse zurück und forciert ihre pauschale Ablehnung. Es ist also nicht nur eine Steuervorschrift verletzt, sondern das Vertrauen der Öffentlichkeit missbraucht, das Ansehen der demokratischen Institutionen beschädigt worden. Durch seine Steuerhinterziehung erweist sich der Täter als unwürdig, sein Amt zu bekleiden. Über das strafrechtliche Vergehen hinaus hat er sich der Demokratiebeleidigung schuldig gemacht, um in Anlehnung an das ehemalige Delikt der Majestätsbeleidigung zu sprechen.143 Wie ist dieser Dimension Rechnung zu tragen? Die Antwort auf diese Frage hat eine lange Geschichte, nämlich die der Ehrenstrafen. Es ist nicht uninteressant, deren Formen und Phasen zu rekapitulieren. Diesbezüglich sind zunächst stigmatisierende von degradierenden Ehrenstrafen zu unterscheiden. Beginnen wir mit Ersteren. Die Etymologie des griechischen stigma gibt hinreichend Aufschluss: das Wort bezieht sich auf ein sichtbares Zeichen, eine Tätowierung.144 In Athen konnten bestimmte Arten von Verbrechen die Verbannung oder den Verlust der Bürgerrechte nach sich ziehen; aber auch die Markierung von Gesicht oder Körper mit einem untilgbaren Mal, das dazu gedacht war, die Gesellschaft stets an das Vergehen des Betreffenden zu erinnern. Der Verurteilte konnte auch entkleidet auf einen Stein inmitten der Agora zur Schau gestellt oder zu einem »Schandspaziergang« durch die Stadt geführt werden. Die Römer besaßen ähnliche Praktiken (die sich bekanntlich in Europa bis Ende des 18. Jahrhunderts am 143 Vgl. Chiffoleau, »Le crime de majesté, la politique et l’extraordinaire«. 144 Vgl. Jones, »Stigma: Tattooing and Branding in Graeco-Roman Antiquity«.

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Leben hielten). Sie fügten ihnen allerdings das Konzept der Verstümmelung hinzu, das die Strafe um den Gedanken einer über die einfache Hinrichtung im Falle eines Todesurteils hinausgehenden physischen Zerstörung erweiterte. Diese Bestrafungsrituale von unerhört erfinderischer Grausamkeit wurden in Europa bis zur Aufklärung praktiziert (und theoretisch gerechtfertigt).145 Die Geschichte dieses barbarischen Strafsystems und seiner praktischen Anwendungen ist gut dokumentiert, ebenso wie die der Kämpfe, die für seine Abschaffung geführt wurden. Festzuhalten ist aber, dass die Idee stigmatisierender Strafen auch aus der heutigen Welt noch nicht gänzlich verschwunden ist. Man denke zum Beispiel an die Perp walks in den Vereinigten Staaten, bei denen Verdächtige der Presse vorgeführt werden und die nicht von ungefähr an die antiken Schandspaziergänge erinnern. Das public shaming in diesem Land verpflichtet zum Beispiel wegen bestimmter Sexualdelikte vorbestrafte Personen, den Grund ihrer Verurteilung per Aushang an ihrer Wohnungstür bekannt zu geben. Solche Praktiken, die offiziell dazu dienen, den gesellschaftlichen Widerwillen gegen derartige Verbrechen wachzuhalten und den Täter zu zwingen, sich im Bewusstsein seiner Schuld wieder in die Gesellschaft einzugliedern, werden zwar häufig kritisiert, haben aber auch leidenschaftliche Befürworter im Land, selbst in fortschrittlichen Kreisen.146 Anders gelagert waren die degradierenden Strafen. Sie zielen vorrangig darauf ab, den Ruf einer Person zu ruinieren, indem man sie für unwürdig erklärte. Insofern fielen sie nicht in das klassische strafrechtliche Repertoire. In Rom konnten die Censoren, die vor allem als Sittenwächter fungierten, zum Beispiel die Missachtung von Amtseiden, für schädlich erachtete Formen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinwohl oder sogar als übertrieben empfundene Zurschaustellungen von Luxus ahnden. Aber sie konnten keine wirklichen Strafen verhängen: weder einsperren noch zu Geldstrafen verurteilen. Ihre Recht145 Vgl. Mémoire sur les peines infamantes von Pierre-François Muyart de Vouglans (1780), im Anhang des Artikels von Michel Porret, »Atténuer le mal de l’infamie: le réformisme conservateur de Pierre-François Muyart de Vouglans«. 146 Vgl. zum Beispiel Braithwaite, »Shame and Modernity«; oder Kahan, »The Progressive Appropriation of Disgust«. Bezüglich einer systematischen Behandlung der Frage vgl. Nussbaum, Hiding from Humanity: Disgust, Shame and the Law; und Whitman, »What is Wrong with Inflicting Shame Sanctions?«.

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sprechung erstreckte sich lediglich auf den Ruf der Bürger, den sie antasteten, indem sie Ehren aberkannten oder die betreffende Person in eine andere Wählerklasse (tribus) versetzten (was einer Erniedrigung gleichkam).147 Solche degradierenden Strafen spielten in Europa bis zum 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Sie verdoppelten häufig, als symbolische Verschärfung, die strafrechtlichen Sanktionen gegen Personen, deren sozialer Status an die Zugehörigkeit zu einer als Stütze der Gesellschaft geltenden Körperschaft geknüpft war: Adelige, Kleriker, Inhaber öffentlicher Ämter. Die Ehrenstrafe bestand in diesem Fall darin, sie auszuschließen. Das war eine Art der öffentlichen Entehrung in einem Zeitalter, in dem diese Ehre häufig höher geschätzt wurde als das Leben selbst. Ein Mitglied des Parlement, das für schuldig befunden wurde, eine Ermittlung manipuliert zu haben, konnte über seine Amtsenthebung hinaus in öffentlicher Sitzung feierlich seiner roten Robe entkleidet werden. Ein zum Tode verurteilter Priester konnte öffentlich degradiert werden, indem man ihm Messgewand, Stola und Albe abnahm, die er tragen musste, als würde er eine Messe lesen, bevor man ihn, ebenfalls öffentlich, hinrichtete. Ein Adeliger konnte seine Titel einbüßen und aus dem Adelsstand verstoßen werden.148 Das waren Strafen, die nicht der Zuständigkeit des Gesetzes unterlagen, sondern zum Ausdruck brachten, auf welche Weise diese Körperschaften das öffentliche Vertrauen in ihre Tätigkeit zu wahren versuchten, nämlich indem sie diejenigen ausschlossen, die ihre dem Gemeinwohl verpflichteten Werte mit Füßen traten. Im Zuge der Französischen Revolution verlor die Ehre ihren Status als Privileg einer Minderheit. Damit war nun jeder imstande, der Unwürdigkeit beschuldigt zu werden, wenn er ernsthaft gegen das staatsbürgerliche Ethos verstieß, vor allem wenn er gewählter Vertreter war, da man damals von der Annahme ausging, die Bürger würden bei der Wahl ihrer Repräsentanten in erster Linie diejenigen berücksichtigen, die »des öffentlichen Vertrauens am würdigsten« seien.149 Die beiden für das Politikverständnis der Re147 Vgl. die Doktorarbeit von Bur, La Citoyenneté dégradée. Recherches sur l’infamie à Rome de 312 avant J.-C. à 96 après J.-C. 148 Vgl. die Beispiele, die von Merlin de Douai im Artikel »Dégradation civique« (in: ders., Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, Band 3) zitiert werden. 149 Dekret vom 29. und 30. Dezember 1789 über die Durchführung der Wahlen.

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volution zentralen Begriffe des Vertrauens und der Würde bildeten somit eine dauerhafte Einheit. Unwürdig waren jene Repräsentanten, die »das Vertrauen ihrer Auftraggeber verraten« hatten. Die grundlegende Kategorie politischer Unwürdigkeit stand im Mittelpunkt vieler zeitgenössischer Debatten, selbst wenn sich ihre gesetzliche Fixierung als schwierig erwies.150 Der Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1791 führte die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte ein, um die vermeintlich schlimmsten Verstöße gegen die Regeln des Zusammenlebens, in erster Linie den Missbrauch des öffentlichen Vertrauens, zu ahnden. Das Gesetzbuch von 1810 übernahm diese Strafe.151 Das Prozedere sah vor, den Verurteilten auf den Marktplatz des Gerichtsortes zu führen, wo der Protokollführer laut und vernehmlich folgende Worte an ihn richtete: »Euer Land hat euch einer ehrlosen Tat für schuldig befunden; Gesetz und Gericht erkennen euch die Ehrenrechte des französischen Bürgers ab.«152 Er scheint, dass im Laufe des 19. Jahrhundert nur wenige Abgeordnete zu dieser Strafe verurteilt wurden. Der Verlust der Bürgerrechte wiederum blieb lange eine mit bestimmten strafrechtlichen Verurteilungen verbundene Zusatzstrafe. Bei der spektakulären Degradierung von Hauptmann Dreyfus, dessen Degen am 5. Januar 1895 auf dem Hof der École militaire zerbrochen wurde, handelte es sich um eine allerdings einmalige Wiederbelebung des alten Rituals des unehrenhaften Ausschlusses aus einer Institution (übrigens ohne dass bei diesem Anlass dessen rechtliche Grundlagen geklärt worden wären). Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Ehrenstrafen mit dem Konzept der nationalen Unwürdigkeit (indignité nationale) ein spektakuläres Comeback in Frankreich. Die Idee, Akte passiver Kollaboration, das heißt geringfügiger oder moralischer Unterstützung der deutschen Besatzer, zu ahnden, war während der Resistance 150 Sie ist, nebenbei bemerkt, nicht zu verwechseln mit dem juristisch noch schwammigeren Begriff »Beleidigung der Nation« (crime de lèse-nation), der vor allem zu politischen Zwecken benutzt wurde. Vgl. Walton, »L’imputation de lèsenation«. 151 Dort in Artikel 8. Sie wurde 1832 dahingehend präzisiert, dass sie sich mit der Kategorie des »bürgerlichen Todes« deckte. 152 Vgl. den Artikel »Dégradation civique«, in: Merlin de Douai, Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, Band 3.

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herangereift.153 Nach der Befreiung wurden Sondergerichte, die sogenannten Zivilkammern (chambres civiques), gegründet, um über diese Unwürdigkeit zu befinden, aber auch ordentliche Gerichte kamen zum Einsatz. Neben Fällen aktiver Kollaboration, die mit Haftstrafen oder Todesurteilen (1500 Exekutionen) geahndet wurden, sowie Fällen »wilder« Säuberung (9000 Exekutionen ohne jede Rechtsgrundlage) wurden auf diese Weise auch 95000 Französinnen und Franzosen als »der Nation unwürdig« eingestuft. Die Begleitumstände der Verurteilungen sowie die begriffliche Unschärfe des den Straftatbestand definierenden Textes warfen zwar zahlreiche Fragen auf, die jedoch in den dringlichen Erfordernissen der Zeit untergingen. Dieses Verständnis von Unwürdigkeit hat sich in der Folge gewandelt, bevor das ganze Konzept allmählich in Vergessenheit geriet. Nachdem 1981 die Todesstrafe abgeschafft worden war, verschwand mit der Strafrechtsnovelle von 1994 auch die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte aus dem Gesetzbuch, was durch die Beibehaltung eines zeitlich begrenzten Verlustes der Bürgerrechte als Strafe nur symbolisch kompensiert wurde. Im Grunde hatte sich damit die Kategorie der Ehrenstrafen als solche klammheimlich verabschiedet.154 Dieser Wegfall sollte noch einmal überdacht werden in einer Zeit, in der das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Vertretern von Misstrauen beherrscht wird. Um verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen, wäre es vermutlich eine Überlegung wert, demokratische Unwürdigkeit als Strafe für der Korruption überführte Mandatsträger einzuführen. In Renouer avec la confiance publique hat der couragierte Jean-Louis Nadal ein neuerliches Nachdenken über dieses Thema angestoßen, indem er vorschlug, dass Nationalversammlung und Senat die Möglichkeit erhalten sollten, manche ihrer Mitglieder bei schwerwiegenden Verstößen gegen den Kodex vorbildlichen Verhaltens ihres Amtes zu entheben und den Entzug des passiven Wahlrechts im Hinblick auf seine verschärfte Anwendung zu erwägen,155 bis hin zu der 153 Zu dieser Episode vgl. das Standardwerk von Simonin, Le Déshonneur dans la République. 154 Vgl. Couvrat, »Les catégories des peines afflictives ou infamantes«. 155 Was bedeuten würde, dass der Richter besser imstande ist, diese Strafe zu beurteilen, als der Wähler, der einen Kandidaten nicht wiederwählen kann.

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Möglichkeit, ein endgültiges Wählbarkeitsverbot zu verhängen.156 Die Frage einer über das Strafrecht hinausgehenden moralischen Sanktionierung ist also nach wie vor ein Diskussionsthema, wenn es darum geht, ein höheres Integritätsniveau in der Politik zu gewährleisten.157

156 Eine Opinion-Way-Umfrage von November 2014 hat ergeben, dass 85 % der Franzosen eine solche Möglichkeit befürworten würden (Libération, 25. November 2014). Jean-Louis Nadal bedauert vor allem, dass der Ausschluss vom passiven Wahlrecht eine optionale Nebenstrafe ist, von der die Richter derzeit relativ selten Gebrauch machen. 157 Die französische Diskussion wurde Anfang 2015 durch Vorschläge unterlaufen, »nationale Unwürdigkeit« als Strafe über Terroristen zu verhängen, was dazu führte, dass diese Frage nicht mehr vorrangig im Zusammenhang mit der Integrität in der Politik behandelt wurde. Vgl. Jean-Jacques Urvoas, Rapport d’information sur l’indignité nationale. Der Bericht wurde am 25. März 2015 dem Premierminister übergeben, http://www.assemblee-nationale.fr/14/rap-info/i2677.asp [2. 6. 2016].

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Die zweite demokratische Revolution (Schluss) Die erste demokratische Revolution war auf die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts ausgerichtet. Sie wollte damit den Wahlbürger zum wesentlichen Akteur bei der Durchsetzung der Volkssouveränität machen. Diese Revolution liegt mittlerweile hinter uns, selbst wenn sie in einigen Ländern noch auf sich warten lässt. Allerdings hat sie keineswegs alle Hoffnungen erfüllt. Die Worte, die Flaubert in der Erziehung der Gefühle einem der 1848er-Revolutionäre in den Mund legte: »Wir haben das allgemeine Wahlrecht, jetzt werden wir glücklich sein«1, klingen in unseren Ohren geradezu lachhaft. Denn diese Geschichte war auch eine Geschichte ständiger Enttäuschungen.2 Folglich haben die Gesellschaften zwei Jahrhunderte lang unentwegt nach Methoden gesucht, die Unzulänglichkeiten und Anomalien, die ihren Frust beförderten, zu korrigieren. Wir sind heute am Ende dieses Erkundungszyklus angelangt. Veränderung der Wahlsysteme, Verbesserung der Repräsentativität der Gewählten, Umsetzung des Paritätsprinzips, Einschränkung der Ämterhäufung, Mitwirkung der Bürger bei der Kandidatenauslese, Einführung von Elementen direkter oder partizipativer Demokratie: Die Liste dieser Korrektive und Palliative ist seit Langem bekannt. Wo sie umgesetzt wurden, hatten sie positive Auswirkungen. Und es bleibt noch viel zu tun auf diesem Gebiet, um die fortdauernde Enteignung des staatsbürgerlichen Ausdrucks zu bekämpfen, ob es dabei um die Rolle des Geldes in Wahlkämpfen geht, die Vereinnahmung des Wahlprozesses durch die Parteiapparate oder die Tatsache fortbestehender, wenn nicht schlimmer werdender Reprä1 2

[Tatsächlich lautet der Satz: »Die Republik ist ausgerufen! Jetzt werden wir glücklich sein«, Flaubert, Die Erziehung der Gefühle, S. 396, AdÜ]. Deren Formen ich in Le Sacre du citoyen untersucht habe.

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sentationsdefizite. Doch die Verbesserungen in diesen Bereichen stoßen an eine doppelte Grenze. Zunächst die der impliziten Anlehnung an ein majoritäres Demokratieverständnis. Dieses Problem habe ich im Demokratische Legitimität behandelt, wo ich die Notwendigkeit aufzeigte, neue demokratische Institutionen einzuführen, die auf einer erweiterten und pluralisierten Sicht in Bezug auf den Ausdruck des Gemeinwillens beruhen. Doch eine noch gravierendere Einschränkung resultiert aus der Reduzierung des staatsbürgerlichen Ausdrucks auf die Wahl von Repräsentanten und Regierenden, das heißt auf ein simples Verfahren zur Beglaubigung der Mächtigen und zur Bestätigung der allgemeinen politischen Zielsetzungen. Diese Studie ging von der Feststellung der Untauglichkeit einer solchen Genehmigungsdemokratie aus, um auf dieser Grundlage zu erforschen, was ich »Betätigungsdemokratie« genannt habe. Diese Demokratie gründet sich auf die Festlegung der Prinzipien, die das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten dauerhaft regeln sollen. Die Bürger sind in diesem Fall keine »Souveräne für einen Tag« mehr, sondern auf kontinuierlichere Weise an der Kontrolle der Regierenden beteiligt, deren Handeln an die Einhaltung einer ganzen Reihe von Auflagen gebunden ist. In meinen Buch La Contre-démocratie habe ich begonnen, diese »postelektorale« Dimension zu erfassen, indem ich eine Analyse der auf Misstrauen gegenüber den Mächtigen beruhenden Formen des Bürgerengagements vornahm. An dieser Stelle hat sich der Fokus beträchtlich erweitert, nämlich auf die Erstellung einer allgemeinen Theorie demokratischer Kontrolle der Regierenden, ergänzt um eine Formulierung der Prinzipien demokratischen Handelns in der Politik.

Institutionen und Akteure der Betätigungsdemokratie Wir haben auf diesen Seiten die fünf wichtigsten Figuren der Betätigungsdemokratie (Lesbarkeit, Verantwortung, Reaktivität, Wahrsprechen, Integrität) in groben Zügen umrissen. Es handelt sich natürlich nur um einen ersten Entwurf, dennoch: Der konzeptuelle Rahmen steht. Hingegen sind wir bisher nur beiläufig auf die offenkundig entscheidende Frage nach den dafür relevanten Institutionen und Akteuren eingegangen, indem wir mehrfach zur Bildung »neuer demokratischer Organisationen« aufriefen. Es bräuchte ein weiteres Buch, um sie 342

eingehend zu behandeln. Zumal, wenn man berücksichtigt, dass es Sache der Erfahrung ist, allmählich ein klareres Verständnis des dafür Erforderlichen zu entwickeln. Denken wir beispielsweise daran, dass es nach der Eroberung des allgemeinen Wahlrechts noch Jahrzehnte dauerte, bis sich die Form »Partei« herausbildete, theoretisch reflektiert und verfassungsrechtlich verankert wurde, um das repräsentative Wahlsystem in seiner heute bekannten Form entstehen zu lassen. Ohne gleich in political engineering zu verfallen,3 will ich die vorliegende Arbeit dennoch nicht abschließen, ohne wenigstens einige Anregungen für die zukünftige Forschung/Debatte auf diesem Gebiet gegeben zu haben. Eine Demokratie, die bestrebt ist, die Qualität ihrer Abläufe zu verbessern, könnte sich um drei Pole herum organisieren: einen Rat für den demokratischen Prozess, als Hüter der juristisch formalisierbaren Prinzipien der Betätigungsdemokratie (vorrangig der Integrität der Regierenden und der Transparenz der Maßnahmen und Institutionen); öffentliche Kommissionen, die damit betraut sind, die demokratische Qualität des Zustandekommens politischer Konzepte und der Praxis der Verwaltungsapparate zu bewerten und die öffentliche Debatte rund um die behandelten Themen zu organisieren; zivile Wachsamkeitsorganisationen, die auf die Kontrolle der Regierenden (etwa in Sachen Reaktivität, Verantwortungsübernahme oder Kritik der politischen Sprache) spezialisiert sind und sich in den Bereichen Mitwirkung, Bildung und Information der Bürger engagieren. Diese drei Arten von Organisationen würden die Säulen einer Betätigungsdemokratie bilden. Auf dieser Grundlage könnte eine Charta des demokratischen Handelns diskutiert und per Abstimmung bestätigt werden, der ein ähnlicher Status wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zukäme. Ohne hier Details einer solcher Betätigungsdemokratie ausführen zu wollen, kann man dennoch zur Veranschaulichung und als Diskussionsanregung eine Skizze ihrer möglichen Gesamtarchitektur zeichnen.

3

Ich habe im Nachwort zu Guénard/Al-Matary (Hg.), La Démocratie à l’œuvre, die Gründe für meine Bedenken erläutert, mich in diese Richtung zu engagieren.

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Die Hauptaufgabe des Rates für den demokratischen Prozess, der auf kollegialer Basis organisiert ist, bestünde darin, in jeden der beiden erwähnten Bereiche zu intervenieren.4 Er würde auch für den Schutz von Whistleblowern sorgen. Aus Gründen der Effizienz müsste er über eigene Ermittlungsbefugnisse verfügen und in der Lage sein, Verwaltungen und Personen bindende Weisungen zu erteilen. Er könnte einen jährlichen Bericht zum Stand der Demokratie veröffentlichen, und die Regierenden müssten öffentlich zu seinen Kritiken und Vorschlägen Stellung beziehen. Diese herausragende Rolle würde implizieren, dass er eine stärkere Position innehätte als die diversen unabhängigen Behörden von heute und dass er verfassungsrechtlich als Ausdruck einer spezifischen, von Exekutive, Legislative und Judikative unterschiedenen Form von Staatsgewalt anerkannt würde. Die Anerkennung dieser »vierten Gewalt« ist eine der zentralen Herausforderungen beim Aufbau einer solchen Betätigungsdemokratie.5 Ebenso wie die Verfassungsgerichte als Hüter der Institutionen fungieren, hätte ein derartiger Rat die Aufgabe, über die Einhaltung der in der Charta fixierten Grundbedingungen des demokratischen Handelns zu wachen. Sein demokratischer Charakter wäre durch den Bestätigungsmodus seiner Mitglieder (einschließlich einer Anhörung durch die parlamentarischen Versammlungen), die Verpflichtungen zur Information der Öffentlichkeit und die Transparenzauflagen in Bezug auf seine eigene Arbeitsweise gewährleistet (sodass er selbst eine exemplarische Verkörperung der Betätigungsdemokratie wäre).

4

5

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Aufgaben, die heute in Frankreich teilweise von der Hohen Behörde für Transparenz im öffentlichen Leben wahrgenommen werden oder, in verkleinertem Maßstab, in den aktuellen Zuständigkeitsbereich der Kommission für die Zugang zu Verwaltungsdokumenten fallen. Diese beiden Institutionen haben eine viel geringere Macht als diejenige, die diesem Rat zukäme. Die fehlende verfassungsrechtliche Anerkennung dieser vierten Gewalt hat in Frankreich dazu geführt, dass das Verfassungsgericht der Hohen Behörde für Transparenz im öffentlichen Leben die Flügel stutzte. Über die Ideengeschichte der Ansätze zu einer solchen vierten Gewalt vgl. meine Ausführungen in La Démocratie inachevée, Kapitel »Les voies nouvelles de la souveraineté du peuple« und »La souveraineté complexe«; La Contre-démocratie, Kapitel »Le fil de l’histoire«; und Demokratische Legitimität, Kapitel »Warum es wichtig ist, nicht gewählt zu werden«.

Die öffentlichen Kommissionen wären dauerhafte Einrichtungen zur Bewertung der demokratischen Qualität von Planungs- und Entscheidungsformen öffentlicher Politik, sowohl hinsichtlich der Mitwirkung der Bürger an ihrer Umsetzung als auch der Lesbarkeit ihrer wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Auswirkungen. Ihre Zahl wäre beschränkt, und sie könnten sich auf wenige zentrale Bereiche verteilen, wie Gesundheit, Solidarität und Zusammenleben, Arbeit und Wirtschaft beziehungsweise Bildung, Forschung und Lehre. Sie würden auf spezifische Weise die Tätigkeit staatlicher Organe nach Art des französischen Rechnungshofes fortführen und die heute zum Teil von den parlamentarischen Versammlungen wahrgenommenen Funktionen durch ihre Erweiterung demokratisieren (einschließlich größerer Effizienz und Freiheit, da sie der Parteienlogik entzogen wären). Ferner bestünde ihre Aufgabe darin, die öffentliche Debatte über die damit verbundenen Fragen zu fördern, da sie aktivierende Instanzen einer im konkreten Sinne deliberativen Demokratie wären. Ihr demokratischer Charakter könnte durch eine Art der Zusammensetzung gewährleistet werden, bei der Personen, die aufgrund ihrer technischen Kompetenz von den großen Institutionen ernannt werden (Prinzip der Objektivität), per Zufall ausgeloste Bürger (Prinzip der Gleichwertigkeit aller Bürger) und Mitglieder ziviler Agenturen, die sich im fraglichen Bereich betätigen (Prinzip der Mitwirkung und der »funktionalen Repräsentativität«6), anteilig berücksichtigt würden. Ihre Gründung würde aufgrund eines Pendeleffekts dazu führen, die Tätigkeit der gewählten Versammlungen vorrangig im Rahmen der Orientierungsdemokratie anzusiedeln.7 Die zivilen Wachsamkeitsorganisationen wären gemeinnützige Vereine oder Stiftungen, die sich auf dem Gebiet des demokratischen Lebens engagieren. Wir haben im Hauptteil dieses Werkes unter anderem

6 7

Auf der Grundlage einer solchen funktionalen Repräsentativität sind die Gewerkschaften in Frankreich an einer ganzen Reihe von Gremien beteiligt. Vgl. zu diesem Begriff mein Werk La Question syndicale. Das würde im Falle Frankreichs dazu führen, auch die Rolle des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrats [Conseil économique, social et environnemental (CESE )] zu überdenken, der einen Kompromiss zwischen dem hier skizzierten Modell der Kommission und dem der parlamentarischen Versammlungen darstellt.

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eine amerikanische Organisation wie Common Cause erwähnt oder die verschiedenen nationalen Ableger von Transparency International. Sie sind noch schwach entwickelt im Vergleich zu Umweltorganisationen oder Wohlfahrtsverbänden. Doch könnten sie den Aufstieg einer neuen Art bürgerschaftlichen Engagements begünstigen, das auf die Bekämpfung jener Formen der Lüge, Manipulation und Verschleierung abzielt, die die Entstehung einer offenen Regierung behindern. Ein Engagement, das unmittelbare Wirkungen zeitigt und insofern attraktiver ist als der traditionelle Parteiaktivismus. Da politische Parteien oder Gewerkschaften in manchen Ländern öffentliche Zuschüsse für ihren Beitrag zur politischen und sozialen Demokratie erhalten, wäre dies auch für solche Wachsamkeitsorganisationen absolut denkbar. Ihre Repräsentativität beruht, wie bei den Gewerkschaften, auf der Zahl ihrer Mitglieder, ihrer Mobilisierungsfähigkeit oder dem Umfang ihrer Aktivitäten, hat aber auch einen funktionalen Charakter8, der sich aus der Besonderheit ihres Tuns ergibt: die Betätigungsdemokratie mit Leben zu erfüllen. Die Betätigungsdemokratie hätte somit ihre eigenen Organe. Die Strukturierung dieser Demokratie ist Ziel der zweiten demokratischen Revolution, und die zu diesem Zweck geschaffenen drei Kategorien von Institutionen hätten einen je verschiedenen Status und eigene Aufgaben, würden sich jedoch in ihrer gemeinsamen Rolle als Hüterinnen eines demokratischen Funktionierens der Regierungsorgane ergänzen. Ihr Handeln wäre jedoch nur dann in jeder Beziehung sinnvoll, wenn die Bürger sie sich zu eigen machen würden. Eine Verbreitung ihrer Aktionen und Tätigkeiten wäre dafür natürlich unerlässlich. Allerdings müsste man weiter gehen, um zu verhindern, dass sie nicht ihrerseits Gefahr laufen, zu erstarren und sich von der Außenwelt abzuschotten. Die Ausrichtung eines jährlichen Tages der Demokratie könnte für sie ein Weg sein, sich feierlich ihrer Rolle zu vergewissern und gleichzeitig die Bevölkerung unmittelbar in ihre Unternehmungen einzubeziehen. Dieser Tag könnte durch partizipative Foren und 8

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Es sei daran erinnert, dass dies die ursprüngliche Auffassung von Repräsentation war, bevor sie an die Bestätigung durch ein Wählervotum gekoppelt wurde. Vgl. dazu Reid, The Concept of Representation in the Age of the American Revolution.

schriftliche Stellungnahmen eingeleitet werden und Anlass für vielfältige öffentliche Debatten sein, über die in den Medien ausführlich berichtet wird. Die Regierenden würden ihrerseits ermuntert, sich dazu zu äußern, welche Antworten sie auf die dort formulierten Kritiken und Vorschläge zu geben gedenken. Nicht nur die Wähler, das ganze Volk könnte sich an diesen Tag zu seiner aktiven Bürgerschaft bekennen.

Funktionale Demokratie und Konkurrenzdemokratie Diese Betätigungsdemokratie hat insofern einen funktionalen Charakter, als sie nicht auf einem von strukturellen Spaltungen, ob ideologischen Gegensätzen oder Interessenkonflikten, durchzogenen Feld interveniert. Das Ziel, das sie verfolgt, ist von vornherein unumstritten, und ihre Methoden sind darauf ausgerichtet, größtmögliche Zustimmung zu erlangen. Deshalb kann sie nicht auf der Grundlage von Wahlen organisiert werden. Während die Orientierungsdemokratie zwangsläufig konfliktbehaftet ist, weil Regieren bedeutet, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen, die nur in Ausnahmefällen von allen geteilt werden. Man kommt um eine Abstimmung also nicht herum, wenn man eine Lösung finden will. Diese Unterscheidung ist grundlegend und charakteristisch für jede dieser beiden Formen der Demokratie. Das Problem der Wahlen besteht darin, dass sie nicht nur eine Richtungsentscheidung herbeiführen: sie nehmen praktisch die Form einer Auslese zwischen konkurrierenden Personen an. Und eben diese Konkurrenz erzeugt nachteilige Folgen für die Demokratie. Denn sie führt dazu, ein wahlpolitisches Angebot im Sinne vorschneller Versprechungen zu fördern. Und im Gegenzug für Ernüchterung zu sorgen, wenn die Gewählten, die nach einem erfolgreichen Aufstieg an die Macht gelangt sind, sich als unfähig erweisen, die Zusagen einzuhalten, die ihnen den Sieg gebracht haben. Dieser automatische Zusammenhang zwischen Wahlkonkurrenz und Abgabe inflationärer Versprechungen hat sich seit dem Niedergang der Revolutionsidee noch verstärkt, da Letztere es ermöglichten, diesen Konkurrenzgedanken mit dem des Systemwechsels zu verknüpfen. Abgesehen von einem Appell an die Ehrlichkeit der Politiker und Politikerinnen, dessen Wirksamkeit zweifelhaft ist, gibt es wenige institutionelle Korrektive, um dieses 347

Übel zu beseitigen.9 Mit Ausnahme des Losverfahrens, was einer seiner großen Vorzüge ist. Dennoch eignet sich dieses Verfahren besser für Wahlen, die einen repräsentativen Zweck haben als für solche, bei denen es um die Ernennung eines Exekutivorgans geht, was heute die große Herausforderung ist. Obendrein ist das Losverfahren untauglich, eine Richtungsentscheidung herbeizuführen.10 Man muss das Problem also als strukturelles betrachten, dessen Auswirkungen nur durch eine vitale Betätigungsdemokratie zu begrenzen sind. Indem sie beispielsweise einen größeren Zwang zum Wahrsprechen erzeugt. Doch ist es ebenso erforderlich, eine neue Art von Zukunftsbezug zu installieren, um die Versprechungsinflation einzudämmen.

Einen positiven Bezug zur Zukunft wiederfinden Das Versprechen in der Politik ist ein Abfallprodukt des Konkurrenzsystems. Letzteres kehrt übrigens die Regeln um, die auf dem Gütermarkt herrschen, wo unter solchen Bedingungen die Preise gesenkt werden, um Käufer anzulocken. Auf dem politischen Markt hingegen treibt die Konkurrenz sie in die Höhe! Das rührt daher, dass es sich um einen Terminmarkt handelt. Der Wähler kauft eine Option, er schließt eine Wette auf die Zukunft ab. Dieser Markt ist also ein spekulativer. Wird das Versprechen nicht eingelöst, das heißt, bleibt die Realität hinter den Erwartungen zurück, zahlt er die Differenz in der Münze der Enttäuschung, aber erst später. Er kann also versuchen, weiter auf diesem Markt zu spielen oder sich zurückziehen (durch Stimmenthaltung oder Ungültigwählen). Zur Realökonomie zurückzukehren, würde in diesem Fall bedeuten, Versprechungen durch Wahrsprechen zu ersetzen. Das macht übrigens den Unterschied zur Dynamik des Versprechens in einer Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen aus. Letztere begründet eine Form der Verbundenheit, die täglich auf die Probe gestellt wird. Das Wort steht in ständiger Spannung zu einem nüchternen 9 Das Verbot von Kandidaturen während der Französischen Revolution, von dessen Wiedereinführung wir nur träumen können, hatte, wir erinnern uns, genau die Funktion, dieses Sichüberbieten in Wahlversprechungen zu verhindern. 10 Man könnte in Betracht ziehen, die Mitglieder einer bestimmten Art von Gremien per Los zu ermitteln, aber nicht das Amt eines Staatspräsidenten oder Ministers.

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Blick auf die Nichterfüllung oder Missachtung des Versprochenen (»Es gibt keine Liebe, nur Liebesbeweise«, sagt das Sprichwort). Das politische Feld ist Schauplatz einer anderen Beziehung zwischen Absichten und Taten: Die Zukunft erscheint weniger als Resultat eines täglichen Aufbauwerks denn als Warten auf ein Ereignis, eine Entscheidung, einen Richtungswechsel, die ausreichend wären, um die Hoffnungen zu erfüllen. Aus diesem Teufelskreis zwischen überschießenden Versprechungen und frustriertem Rückzug auszubrechen, ist eine wesentliche Voraussetzung für den demokratischen Fortschritt. Doch kann dieser Ausbruch nicht nur im Modus der Einwilligung in »Sachzwänge«, der Unterwerfung unter einen bornierten »Realismus« oder gar der Verherrlichung einer wiederzubelebenden Vergangenheit erfolgen (worauf paradoxerweise manche Kritiken des Neoliberalismus hinauslaufen, denen zufolge die großen Schlachten um den Erhalt einer von Auflösung bedrohten Welt geschlagen werden, als ginge es um die Rückkehr in ein der Vergangenheit angehörendes goldenes Zeitalter11). Die Vorstellung einer Welt, die auf einen Erwartungshorizont hin ausgerichtet ist, gehört zum Wesen der Moderne und ist von ihr nicht zu trennen. Allerdings gibt es zwei Arten, diesen Erwartungshorizont zu begreifen. Zunächst unter dem Vorzeichen der Gabe oder des Wunders, als säkularisierte Version des religiösen Messianismus. Diese Auffassung war lange in der Linken vorherrschend, zumal der Revolutionsgedanke sich umstandslos in diese theologisch-politische Vision einfügte. Doch kann ein positives Bild der Zukunft auch anders gedacht werden: als Möglichkeit, die Welt zu meistern, als Fähigkeit, die Geschichte bewusst zu gestalten. Das setzt voraus, die Demokratie ausgehend von ihren Umsetzungsproblemen und den ständigen Gefahren ihres Abgleitens in eine oligarchische Herrschaft zu denken. Das heißt, sie als Arbeit an sich selbst zu verstehen, bei der die Debatte über ihre Funktionsbedingungen mit dem Verständnis der Produktionsbedingungen einer stärkeren Kommunalität verknüpft ist. Eben darauf bezieht sich das Konzept der Betätigungsdemokratie, dessen Umsetzung deshalb das Herzstück der anstehenden neuen demokratischen Revo-

11 »Früher war alles besser«, hört man häufig.

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lution darstellt. Ebenso wie der Geist von 1789 eine andere Deutung der sozialen Welt ermöglichte, jenseits der Einführung eines repräsentativen Wahlsystems, so könnte die Neudefinition der Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten den Weg zu einem klareren Verständnis der Realisierbarkeit einer Gesellschaft der Gleichen eröffnen.

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Namensregister Aegidius Romanus 276 Aischines 305–306 Aquin, Thomas von 276 Arendt, Hannah 176, 222, 299 Aristoteles 170 Aron, Raymond 132, 187 Assange, Julian 222 Babeuf, Gracchus 52 Bacon, Francis 55, 229 Bagehot, Walter 60 Balzac, Honoré de 55, 170, 257 Barmat, Julius 117 Barthélemy, Jean-Jacques 278 Beaumont, Gustave de 102, 106 Beccaria, Cesare 35–36 Becher, Johann Joachim 323 Beck, Ulrich 238 Becket, Thomas 275 Benoist, Charles 86 Bentham, Jeremy 36, 200, 204–205, 207, 212, 312, 333 Berdjajew, Nikolai 76 Bismarck, Otto von 108 Blackstone, William 229 Blanqui, Auguste 300–301 Bloch, Marc 214 Blum, Léon 70–72, 74–75, 122, 130, 135 Bodin, Jean 168–169, 325 Bossuet, Jacques-Bénigne 277 Bourdieu, Pierre 188–189

Bourgeois, Léon 58, 301 Briand, Aristide 66, 74 Brissot, Jacques-Pierre 48, 198 Brüning, Heinrich 119 Bryce, James 112 Buchanan, James 162–163 Buckingham, George Villiers, Duc de 229 Burke, Edmund 25, 215, 228 Bush, George W. 97, 126 Capitant, René 123, 129 Carbonnier, Jean 40 Castro, Fidel 284 Cavaignac, Eugène 104 Chardon, Henri 88–89 Charron, Pierre 173 Chávez, Hugo 154, 285 Churchill, Winston 307 Cicero, Tullius Quintus 173, 274 Ciliga, Anton 300 Cissey, Ernest de 58 Clastres, Pierre 183–184 Clemenceau, Georges 66, 72–74, 263, 305–307 Cloots, Anacharsis 56 Coke, Edward 230 Combes, Émile 58 Commission d'accès aux documents administratifs (CADA ) 219 Commission nationale du débat public (CNDP ) 268

373

Common Cause 217, 346 Commynes, Philippe de 167, 171, 318 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de 44, 48–49, 52, 304, 311 Constant, Benjamin 13, 212, 234, 252, 312 Cormenin, Louis-Marie de Lahaye de 260, 313 Cromwell, Oliver 111 Demosthenes 296, 305–306 Deschanel, Paul 66 Desmoulins, Camille 297 Destutt de Tracy, Antoine-LouisClaude 305 Disraeli, Benjamin 61 Dom Deschamps, Léger-Marie 324 Donoso Cortés, Juan 302 Dreyfus, Alfred 338 Dufaure, Jules 58, 102 Dupuy, Charles 58 Duquesnoy, Adrien 303 Durkheim, Émile 269–270 Duverger, Maurice 135–136 Ebert, Friedrich 109, 119 Ellsberg, Daniel 221 Elster, Jon 303 Erdo˘gan, Recep Tayyip 149 Ernaux, Annie 310 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 329 Faguet, Émile 87 Farge, Arlette 214 Farrell, Brian 136 Fayol, Henri 75, 85 Fénelon, François de 277 Ferrero, Guglielmo 141–142

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Ferri, Enrico 284 Ferry, Jules 58 Flaubert, Gustave 341 Follett, Mary P. 84 Foucault, Michel 204, 277, 294–296 Francueil, Louis Dupin de 323 Fréron, Louis 139 Gaitán, Jorge Eliécer 284–285 Gallup, George 266 Gambetta, Léon 57–58 Gaulle, Charles de 66, 70, 127–130, 132–134, 137, 146–147, 281 Girardin, Émile de 261 Gladstone, William Ewart 61 Goebbels, Joseph 118 Goodnow, Frank 82–83, 84 Grévy, Jules 57, 105, 116 Grimaudet de Rochebouët, Gaëtan de 58 Guez de Balzac, Jean-Louis 170 Guizot, François 251–253, 255–258 Habermas, Jürgen 258 Halévy, Daniel 58 Hamilton, Alexander 125, 152 Haute Autorité pour la transparence de la vie publique (HATVP ) 330 Hayek, Friedrich 162–163 Hébert, Jacques-René 52 Heine, Heinrich 298 Heinrich II . von England 275 Herriot, Édouard 66 Hindenburg, Paul von 119 Hitler, Adolf 12, 66, 118 Hobbes, Thomas 54 Jaurès, Jean 326 Joly, Maurice 174 Jouvenel, Bertrand de 77

Kant, Immanuel 300, 302, 306 Karl X. 92, 234 Kennedy, John F. 126 Klemperer, Victor 299 Kydland, Finn E. 162 La Mothe Le Vayer, François 173 Lamartine, Alphonse de 104, 107–108, 301 Latimer, William 229 Le Bon, Gustave 64–67 Le Chapelier, Isaac 264 Ledru-Rollin, Alexandre 104, 261 Lefort, Claude 283 Lenin, Wladimir Illjitsch Uljanow, genannt 66, 75–76, 151, 283, 300–302 Leroux, Pierre 104 Lincoln, Abraham 266 Lipsius, Justus 169 Lloyd George, David 73 Lorenzetti, Ambrogio 274 Louis-Philippe I. 232, 317 Ludwig IX . 103, 274 Ludwig XIV. 72, 208–209, 283 Mac Mahon, Patrice de 57–58 Machiavelli, Nicolas 67, 91, 95, 167, 171, 174–175 Mark Aurel 274 Marrast, Armand 102 Marx, Karl 72, 78, 140, 151 Mazarin, Jules 171, 252 Meinecke, Friedrich 117, 120 Mendès France, Pierre 79, 131 Michelet, Jules 38, 56, 268 Michels, Robert 23, 112, 113, 187 Mill, John Stuart 235 Mirabeau, Honoré-Gabriel Riqueti, Comte de 43, 297

Mitterand, François 131, 133 Mommsen, Wolfgang 118 Monis, Ernest 58 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 38, 174 Morelly, Étienne-Gabriel 324 Moscovici, Serge 64, 67 Musil, Robert 247–248 Mussolini, Benito 12, 66, 284 Nadal, Jean-Louis 332, 339, 340 Nader, Ralph 217 Napoléon I . 54–56, 111, 197, 247, 281 Napoléon III . 111, 148, 174, 281 Naudé, Gabriel 170–173, 252 Necker, Jacques 139, 195–196, 251–253 Nero, Claudius Caesar Augustus Germanicus 170 Nicole, Pierre 277 Nixon, Richard 126 Nora, Simon 288 North, Frederick 231 Obama, Barack 97, 219 Occupy Wall Street 27 Orwell, George 300, 309 Ostrogorski, Moïseï 23, 112 Paine, Thomas 279 Papen, Franz von 119 Pareto, Vilfredo 187 Pascal, Blaise 208 People's Lobby, The 217 Perón, Eva 285 Perón, Juan 284 Pettit, Philip 334 Philipp der Schöne 275 Philipp von Makedonien 296, 305

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Pizan, Christine de 276 Plutarch 274, 278 Podemos 27 Poincaré, Raymond 66, 73 Polybios 294 Prescott, Edward C. 162 Preuss, Hugo 110 Priezac, Daniel de 169 Proudhon, Pierre-Joseph 104, 181–183, 186 Public Citizen 217 Putin, Wladimir 149 Pyat, Félix 102–103 Quinet, Edgar 54, 55 Raffarin, Jean-Pierre 318 Rawls, John 224 Ribot, Alexandre 58 Robespierre, Maximilien de 41, 45, 50, 52, 102, 111, 199, 199, 200, 324 Roger-Collard, Pierre-Paul 233, 234 Roland de La Platière, Jean-Marie 257 Roosevelt, Theodore 66 Rousseau, Jean-Jacques 42, 91, 177–178, 320–324, 329 Saint-Just, Louis-Antoine-Léon de 51, 277, 324 Salisbury, Johannes von 275 Sarrien, Jean 58 Schmitt, Carl 81, 92–96, 97, 114, 115, 119 Schumpeter, Joseph 114 Sieyès, Emmanuel Joseph 42–43, 53, 94–95, 278, 279, 297–298, 304–305

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Sighele, Scipio 64 Simon, Jules 57 Sismondi, Jean-Charles Léonard Simonde de 311 Snowden, Edward 222 Solschenizyn, Alexander 283 Staël, Germaine de 53, 56 Stalin, Joseph 75, 283 Starobinski, Jean 322 Steffens, Lincoln 324 Sunlight Foundation 325, 327 Swift, Jonathan 300 Tarde, Gabriel 64–65 Tardieu, André 66 Taylor, Frederick Winslow 75, 84–85 Thiers, Adolphe 57 Tirard, Pierre 58 Tocqueville, Alexis de 69, 102, 106, 108, 214 Transparency International 331/332, 346 Tsipras, Alexis 315 Vaillant, Édouard 263 Vitrolles, Eugène-François-Auguste d'Arnaud, Baron de 233 Waldeck-Rousseau, Pierre 263 Walpole, Robert 231 Weber, Max 95, 110–115, 134, 141–142, 188–189, 245, 273, 286–287, 289, 297 WikiLeaks 222 Wilhelm der Eroberer 193 Wilkes, John 203 Wilson, Woodrow 82–83, 84

Zum Autor Pierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France und directeur de recherche an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). 2001 rief er den internationalen intellektuellen Workshop »La République des Idées« ins Leben, deren Vorsitzender er ist. Pierre Rosanvallon hat zahlreiche Schriften publiziert, die in 22 Sprachen übersetzt und in 26 Ländern herausgegeben wurden. 2016 wurde ihm der Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann verliehen. In der Hamburger Edition sind erschienen: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe (2010) und Die Gesellschaft der Gleichen (2013).

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