Die Götternamen in Platons «Kratylos»: Ein Vergleich mit dem Papyrus von Derveni [New ed.] 9783631565292, 3631565291

Der Papyrus von Derveni, ein allegorischer Kommentar eines orphischen Gedichts aus dem 4. Jahrhundert, erweist sich als

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German Pages 226 [225] Year 2007

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Die Götternamen in Platons «Kratylos»: Ein Vergleich mit dem Papyrus von Derveni [New ed.]
 9783631565292, 3631565291

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Die Gótternamen in Platons Kratylos

Studien zur klassischen Philologie Herausgegeben von Prof. Dr. Michael von Albrecht

Band 158

Peler Lan Frankfurt am Main - Berlin . Bern - Bruxelles

New York - Oxford. Wien

Barbara Anceschi

Die Gótternamen in Platons Kratylos Ein Vergleich mit dem Papyrus von Derveni

Peler Lan Internationaler Verlagder Wissenschafien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2002

Gedruckt auf alterungsbestándigem,

säurefreiem Papier.

D 16 ISSN 0172-1798 ISBN 978-3-631-56529-2 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2007 Alle Rechte vorbchalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhcberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulássig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfáltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany 12345 7 www.peterlang.de

Meinen Eltern

Vorwort Dic vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung ciner Heidelberger Dissertation, die Ende 2001 an der Fakultät für Orientalistik und Altertumswissen-

schaft vorgelegt wurde. Meinen aufrichtigen Dank móchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Dr. Glenn W. Most für die liebenswürdige Bereitschaft bei der Betreuung dieser Arbeit aussprechen, ohne die meine Promotion in Heidelberg nicht möglich gewesen wäre. Herzlich danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Herwig Górgemanns für die großmütige Förderung bei der Entstehung. dieser Untersuchung. Ferner danke ich Prof. Dr. David Sedley tür die wertvollen Hinweise während eines früheren Stadiums meiner Arbeit sowie Herrn Prof. Dr.

Michael von Albrecht für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Studien zur Klassischen Philologie“ beim Peter-Lang- Verlag.

B. A.

Der Kratylos-Text wird nach der neuen Oxford-Ausgabe (W.S.M. Nicoll, E.A. Duke, in Platonis Opera, vol. I, Oxford,

1995) zitiert. Die Anführungszeichen,

dic in der neuen Oxford-Ausgabe ein von Sokrates untersuchtes Wort hervorhcben, werden nicht gesetzt, da sich die gesonderte Hervorhebung nicht immer als hilfreich erwiesen hat. Der Papyrus von Derveni wird nach T.KouremenosG.M.Parássoglou-K.Tsantsanoglou (2006) zitiert.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos Kommentar zu den Gótternamen im Kratylos Hestia Die Vorfahren der Gótter Poseidon Pluton und Hades Demeter

Artemis Dionysos und Aphrodite Athena, Hephaistos und Ares Hermes Pan Die philosophischen Fragen in den Götternamen des Kratylos Hestia und die Vorfahren der Gótter: die Urszene der Philosophie Hades und Persephone: die Erkenntnisfrage Apollon: die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips Pan: das „Tragische‘ im λόγος Bibliographie

Einleitung Beim Kratylos gerät der Leser in eine widersprüchliche Situation. Der Text übt zum einen eine starke Faszination auf ihn aus, gleichzeitig fühlt er sich jedoch vom Text zurückgestoBen, besonders vom zentralen Teil, der den Wortanalysen — den so genannten Etymologien — gewidmet ist. In erster Linie wendet man sich dem Kratylos wegen des Themas -- der Beziehung zwischen einem Wort und einer Sache — zu; darüber hinaus aufgrund Platons Entscheidung, auf eine referentielle Sprache zu verzichten, die nicht alles in sich einschließt und die deshalb nur als indirektes Erkenntnismittel betrachtet wird; der Zusammenhang zwischen der Sprache und der Welt wird auseinandergerissen und Raum für die Ent-

faltung einer philosophischen Sprache geschaffen. All dies erscheint dem modernen Leser vertraut und es findet in seinen Ohren einen anachronistischen Widerhall zahlreicher Vorstellungen der modernen Sprachwissenschaft bzw. der Sprachphilosophie, was ihm die Lektüre zweifelsohne erleichtert. Dennoch gelingt es nicht, einen theoretischen Ansatz zu entwickeln, der den langen Mittelteil des Dialogs einschließt, da sich die übliche sprachwi haftliche bzw. sprachphilosophische Lesart hauptsächlich auf den Anfangs- und Endteil konzentriert Vor dem vielfältigen Umfang von Sokrates’ Wortuntersuchungen fühlt man sich verlegen und frustriert, da man keine befriedigende Erklärung dafür findet. Man wünschte sich beinah, dass dieser Teil einen geringeren Umfang

hátte, aber dadurch, dass er sich in der Mitte des Dialogs unweigerlich aufdrängt, kann man ihn nicht außer acht lassen. Neben all dem verursacht Sokrates’ Wortuntersuchung Verlegenheit, weil sie eine bizzare, gewagte und oft unverstándliche Sprachauffassung bekundet, die weit von jenem theoretischen Niveau entfernt ist, das das Thema des Dialogs in unseren Augen erzwingen müsste. Zum Verstündnis fehlt etwas, was den modernen Leser daran hindert, den Dialog mit der gewohnten Distanz zu lesen. Entweder heftet er sich zu sehr oder

zu wenig an den Text. Wer trotz allem Sokrates’ Wortanalysen mit Ernsthaftigkeit, man könnte sagen mit Wagemut angeht, bezieht sich in der Regel auf die Kategorie der „Parodie“ oder der „Polemik“, um ihnen eine einheitliche Interpretation zu geben. Innerhalb dieser Interpretationslinie lassen sich zwei emblematische Beispiele zitieren, die eine derartige Deutungsstrategie anwenden. In der Monographie von ! — Baxter (1992, 1) unterstreicht diese sehr verbreitete Tendenz der Kratyloskritik: „recent scholars have in the main concentrated on the opening and closing sections of the Cratylus, where we find what one might call the argumentative core of the dialogue, and have ignored the etymologies". Zum groBen Interesse, das der Dialog unter den modernen Wissenschaftlern weckt, siehe die umfangreichen bibliographischen Sammlungen von Derbolav 1972, 221-312 und Palmer 1989.

14

Einleitung

1940 setzt sich Victor Goldschmidt

mit Sokrates’

Wortuntersuchungen

auscin-

ander und betrachtet sie als einen der Analyse würdigen Gegenstand. Er fasst sic als etwas auf, was der platonischen Gedankenwelt

fremd

ist und beschreibt sic

deshalb als „une vaste encyclopédie de théories théologiques, cosmologiques el morales ayant trait à la conception du flux perpetuel“.” Goldschmidts Aufmerksamkeit konzentriert sich hauptsächlich auf die polemische Absicht, die Platon im Kratylos allgemein und bei den Wortanalysen im Besonderen gegen Heraklits Lehre des ewigen FlieBens zeigt, und unterstreicht in der konkreten Analyse alle im Text vermuteten Anspielungen auf die Vorläufer Platons, welche eine solche Theorie unterstützt haben. Die Tatsache, dass Sokrates dabei eine Reihe

von Analysen vorlegt, die sich nicht nur mit dem inhaltlichen, sondern auch mit dem lautlichen und graphischen Bestandteil der Worte auseinandersctzt, wird von ihm lediglich als eine Ausdrucksweise betrachtet, die Platon vom historischen Kratylos, seinem Lehrer in der Jugend, ererbt hätte. Dabei vernachlässig! Goldschmidt aber vóllig die Bedeutung, dic diese Wortanalysen in Bezug auf dic Sprachtheorie des Krarvlos einnehmen. In dieser Hinsicht wird verständlich, welches das größte Hindernis bei der Auslegung des Krarylos ist: Es ist die Un» fähigkeit die

Ausdrucksform

des Textes

(„la méthode

étymologique"

wie

sic

Goldschmidt bezeichnet) mit seinem Inhalt und mit ciner Gesamtinterpretation des Dialogs zu verbinden. Am entgegengesetzten Pol findet sich Timothy Baxters Arbeit, welche die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das im Dialog behandelte Sprachproblem richtet und die deshalb behauptet, dass „Plato etymologizes in the spirit of à whole variety of different thinkers, pocts and divines, demonstrating how thcy

got the relationship between language and reality all wrong".! Auch hier wird der enzyklopädische Charakter des Textes hervorgehoben und vor allem die Tatsache, dass Sokrates bei den Wortanalysen auf eine Weise vorgeht, die nicht die ihm eigene ist. Deswegen unternimmt Baxter eine Rekonstruktion des kulturcllen Horizonts, in den der Kratylos eingeflochten gewesen sein soll, um alle mög-

lichen polemischen Zicle von Sokrates" Wortuntersuchungen herauszufinden. Eine andere Reihe von Studien, dic noch zu dieser Interpretationslinie gehören, beschäftigt sich mit dem philosophischen Inhalt von Sokrates" Wortuntersu-

chungen und mit ihrem Verhältnis zum Denken Platons; sie beschränkt jedoch die Textanalyse auf ein Wort oder auf eine Wortgruppe und vernachlässigt völlig die Sprachproblematik, welche aber das Hauptihema des Dialoges ist. Hierfür ist die Arbeit von Pierre Boyancé exemplarisch. Beim Versuch, dasjenige zu

rekonstruieren, was er die „doctrine d'Euthyphron" nennt - d. h. die Lehre desjenigen, der die Wortanalyse Sokrates im Kratylos inspiriert hat? — bictet er cine

4

— Goldschmidt 1940, 93. — Baxter 1992, 98.

3 — Crar. 39604-5; 39931.

Einleitung

15

sorgfältige und brillante Analyse einiger Worterklärungen, die laut Boyancé cine Sammlung verschiedener pythagoreischer Doktrinen darstellt, die Platon zur Zeit des Kratylos ablehnte, die er aber später in sein eigenes philosophisches System integrierte.‘ Konrad Gaiser hingegen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Auslegungen von Πάν, δίκαιον, σῶμα. "Aıöng und δέον, um ihre theoretische Bedeutung zu unterstreichen, indem er bei der Analyse Themen und strukturelle Elemente vor Augen hält, die oft von der Kritik außer Acht gelassen werden. Laut Gaiser drücken die Erklärungen dieser Worte jeweils zwei Aspekte der Rcalität (Bewegung und Ruhe) aus, „die zwei verschiedenen Ansichten der Realität entsprächen”.° Zur gleichen Reihe gehören die Arbeiten, die sich lediglich auf eine einzige Wortanalyse beziehen und sic als autonomes Segment betrachten. Ein Artikel von Rein Ferwerda und cin anderer von Alberto Bernabé beschäfti-

gen sich mit der Analyse des röga-Abschnitts;’ der Vergleich mit den anderen platonischen Dialogen hilft dabei den Wissenschaftlern, festzustellen, in welcher

Bezichung er zur orphischen Lehre steht, die den Körper als Gefängnis betrachtct. Sambursky beschäftigt sich mit der Auslegung der Begrilfe ἐκούσιον und ἀνάγκη und zeigt ihre Verhältnisse zu den Lehren Demokrits und Pythagoras auf. Arbeiten, wie dic Studie von Paolo Wohlfahrt über Hades sowie die von Kyriakos Katsimanis und von Fernando Montrasio über die Auslegungen von Apollons Namen wollen mit Hilfe der Textanalyse und mittels eingehender Vergleiche mit dem Rest der platonischen Werke ihren philosophischen Inhalt hervorheben.” In ähnlicher Weisc beschäftigen sich Christina Schefer mit den vier Erklärungen von Apollons Namen, Catherine Lecomte und Hans Schwabl mit dem Namen der Athena und alle fragen sich, welche Rolle die jeweiligen Gót-

terfiguren im platonischen Denken einnehmen."ἢ Wer sich zwingt, eine einheitliche Erklärung des Dialogs zu liefern, kehrt zur Kategorie der Parodie oder der philosophischen Polemik als bindendes Element zurück. Wer den philosophischen Wert von Sokrates’ Untersuchungen bewerten will, begrenzt seine Analyse auf einige Worte, ohne dabei cine Gesamtinterpretation zu wagen. Um nicht Gefahr zu laufen, durch die Anwendung der Begriffe „Parodie“ und „Polemik“, die theoretische Bedeutung des Dialogs zu schmälern, müssen meines Erachtens diese Kategorien mit Aufmerksamkeit untersucht werden. Die Behauptung, dass Sokrates hier eine parodistische Haltung einnimmt, bedeutet in erster Instanz, dass ihm eine Verhaltensweise zugeschrieben wird, die sich

* — Boyancé 1941, 175. ^ — Gaiser 1974, 72. 1 _Ferwerda

1985; Bernabé

1992

sl Sambursky 1959,

? — Wohlfahrt 1990, Katsimanis 1971, Montrasio 1988. 10 — Schefer 1996, 109-124; Lecomte 1993; Schwabl 1997.

16

Einleitung

von seiner üblichen grundlegend unterscheidet."

In den platonischen

Dialogen

en zeigt sich Sokrates in der Regel von Ironie geleitet, so dass die Distanz zwisch die er pert ihm und seinen Gesprächspartnern unterstrichen wird. Dadurch verkör entfernt Erkenntnisbedingung des Menschen, der vom Vollbesitz des Wissens ist. Im Kratylos hingegen nimmt er den Standpunkt desjenigen ein, der Kenntnisse besitzt, die er überprüfen will. Er ist nicht derjenige, der weiB, dass er nicht weiß, vielmehr besitzt er ein Wissen, oder besser gesagt, er nimmt das Wissen anderer als das eigene an und ist bereit, seine Stichhaltigkeit zu überprüfen. Dat, her sind die Erfahrungen, die Sokrates im langen Teil der Wortanalyse sammel Bmit Modalitüten ausgeführt, die er von Anderen übemommen hat, um schlie

lich einige Aspekte davon ins Lächerliche zu ziehen. Für Goldschmidt besteht

der dieses Wissen, wie bereits erwühnt, aus einer Enzyklopädie der Meinungen

Autoren, welche die Lehre des ewigen FlieBens der Dinge vertreten haben; für Baxter hingegen ist es ein zusammengesetztes Wissen, das jedoch eine gewisse Sprachauffassung vertritt und die Wortanalyse als Untersuchungsmittel anwendet. Von diesem Interpretationsansatz ausgehend ist es mir dienlich, nicht sofort zu der polemischen oder parodistischen Absicht des Abschnitts Stellung zu nehmen, da dies meine Untersuchung in eine bereits festgelegte Richtung lenken würde; stattdessen werde ich mich mit dem Teil dieses Ansatzes auseinandersetzen, der Sokrates” mimetisches Verhalten unterstreicht. Dies erfordert jedoch die Erweiterung des kulturellen Horizonts, in welchen der Kratylos eingefügt war,

um den Ursprung dieser fremdartigen, „nicht sokratischen“ Haltung zu verstehen. Diesbezüglich ist Timothy Baxters Arbeit grundlegend. Auf ihrer Basis lie-

Be sich sagen, dass beinah die gesamte griechische Kultur (Philosophie, Tragódie, Sophistik, etc.) an derselben Sprachauffassung und an den denselben Untersuchungsmethoden teilhatte, die Sokrates im Krarylos anwendet. Innerhalb dicses sehr breiten Horizonts fällt meine Wahl, einer Intuition Walter Burkerts folgend," lediglich auf das Phánomen der Allegorese und im Besonderen auf den

Papyrus von Derveni. Durch einen eingehenden Vergleich mit dem Papyrus von Derveni werde ich versuchen den Krarylos aus einem neuen Blickwinkel zu lesen. Eine derartige Beschránkung des Untersuchungsfeldes aber erfordert zwei-

non Wichtig für meine Interpretation ist die Analyse von Rachel Barney (1996, 2001), die dieses eigentümliche Verhalten von Sokrates treffend beschreibt; dabei unterstreicht sie (1996, 60) vor allem den „agonistic" Charakter dieses Teils des Kratylos mit den Worten: „he agonistic character of the etymological section is, I believe, the key to understanding it, and has a number of complicated implications. The etymologies are to be understood as a triumphant display of competitive skill, in which Socrates beats the practitioners of strong ctymology own their own game". 12 [n cinem Artikel von 1970 nähert Burkert den Kratylos als Erster dem Papyrus von Derveni an, da er zwischen den beiden Texten eine Reihe von Ähnlichkeiten in Bezug auf ihre Sprachauffassung erkennt.

Einleitung

17

fellos eine Rechtfertigung, da hierdurch meiner Analyse sehr enge Grenzen gesetzt werden. Der Papyrus von Derveni ist ein außergewöhnliches Zeugnis. Er ist ein Originaltext aus dem 4. Jahrhundert, der in keiner Weise von Platon beeinflusst zu sein scheint. Es handelt sich um eine allegorische Deutung eines orphischen Gedichts, die jene Sprachauffassung vorlegt, die das Verhältnis zwischen der Sprache (in diesem Fall Orpheus’ Gedicht) und der Realität als naturgemäß und referentiell betrachtet und die die Wortanalyse als Untersuchungsmittel vorsieht; etwas, was dem, was im Kratylos vorkommt, sehr nahe steht. Das AuBerordentliche dabei ist aber das Selbstverstündnis, mit welchem eine derartige Sprachauffassung im Text aktiv und lebendig ist. Der Papyrus von Derveni stellt eine einmalige Chance für den modernen Leser dar, ein solches Phänomen zu verstehen. Darüber hinaus bietet er die Deutungsverfahren der Allegorese ohne jegli-

che Veränderung oder Vermittlung an; sie kommen im Text einfach als Anwendungen einer Unt

hungsmethode

vor. Vertieft man sich in den Papyrus von

Derveni, trotz all seiner gegebenen Schwierigkeiten in Bezug auf seinen lückenhaften

Zustand,

wird

man

ins Innere

einer zusammenhüngenden

und

wahren

Welt geführt, in welcher die allegorische Deutung cines orphischen Gedichts danach strebt, den wahren Sinn der Worte bzw. die Wahrheit des orphischen Gedichtes ans Licht zu bringen. Die Idee von einem an die Sache gebundenen Wort (in diesem Fall das Wort des Orpheus) ist hier eine lebendige, erlebte Erfahrung, die in ein religiöses System eingefügt ist, das die Errettung nach dem Tode verspricht." Der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni stimmt dieser Weltvorstellung ohne Vorbehalt zu; daraus gewinnt er sogar die Motivation zu seiner Auslegungsarbeit. Somit macht der Papyrus von Derveni deutlich, welche nicht nur sprachlichen, sondern auch eschatologischen

und philosophi-

schen Implikationen eine Sprachauffassung, die eine referentielle Bindung zwischen Wort und Sache behauptet, in der griechischen Welt übernehmen konnte. Es ist diese auBergewóhnliche Tatsache, die es erlaubt, den Krarylos in einem Stück zu lesen und ihn nicht mehr als einen in zwei Teile zerlegten Text (der Sprachtheorie auf der einen und der Wortuntersuchung auf der anderen Seite) zu betrachten. Im ersten Kapitel meiner Untersuchung erweist sich der Vergleich der Allegorese mit dem Kratylos als nutzbringend, um die Figuren der Sprachtheorie, die auf den ersten Seiten des Dialogs beschrieben wird, zu verstehen. Der νομοϑέτης findet seine Entsprechung in der Rolle des Dichters innerhalb der Allegorcse, da beide

den

Dingen

Namen

geben;

der ἐπιστάτης

übernimmt

eine auf gewisse

Weise mit jener des allegorischen Deuters vergleichbare Funktion der Überprüfung und der Interpretation; die Bindung zwischen dem Wort und der Sache !! — Diese Dimension des Papyrus von Derveni wurde erst deutlich, seitdem die ersten 4 Spalten des Papyrus in Laks/Most (1997) verüffentlicht wurden.

18

Einleitung

hen wird im Kratylos, wie im Papyrus von Derveni durch die Ähnlichkeit zwisc Vergleich den Bedeutungsträgern der analysierten Worte bezeugt. Durch diesen nach. geht meine Textanalyse Sokrates’ Untersuchung zur Richtigkeit der Worte Während Sokrates’ Auseinandersetzung mit der Sprache ändern sich die am Anfang des Dialogs vorgeschlagene Hypothese von einer wahrhaften und referentiellen Sprache

allmählich.

Beim

Versuch

seitens

Sokrates

die

Bindung

zwi-

schen der Sprache und der Welt aufzuzeigen, findet man sich hingegen lediglich in die Sprache bzw. in die Sprachgesctze verwickelt, die die Funktion der Sprache

bestimmen

und

ihre Veränderungen

regeln,

Gesetze,

die die

sprachliche

Kommunikation ermöglichen, die aber die Sprache von der Realität entfernen, weil sie keinen Bezug zu den bezeichneten Gegenständen haben und nur den ikationsbedingungen folgen. Die Tatsache, dass Sokrates während seiK ner Wortanalyse ununterbrochen von einem Bedeutungsträger zum anderen, von einer Bedeutung zur anderen übergeht, verursacht beim Leser ein Gefühl des Schwindels, er fühlt sich gleichsam in einen Strudel gezogen zu werden und den festen Boden unter den Füssen zu verlieren. Diese Vorstellung in einen Strudel hineingezogen zu werden, kommt auch im Text selbst vor und liefert einen wichtigen Hinweis zur Gesamtinterpretation des Dialogs, denn dieses Gefühl ist genau das, was nach Sokrates’ Meinung die Namensgeber empfinden, wenn sie die Welt in ständiger Bewegung beobachten; von diesem Gefühl werden sie bcherrscht und bei der Zusammensetzung der Worte werden sie zwangsläufig davon beeinflusst." Daher lässı Platon den Leser während der Wortanalyse Sokrates das gleiche Gefühl ganz bewusst nachempfinden. Beim Lesen soll er diesclbe Erfahrung wie der Namensgeber machen. Diese dem Dialog anhaftende Grundtendenz könnte dazu beigetragen haben, dass dic Interpreten diesen Teil des Kratylos so oft als einen Text scherzhalten Charakters, als cine Parodie gewertet haben. Beim Lesen des Kratylos wird man von der Überfülle der Sprache mitgerissen, von der Explosion des Lautmaterials, von den Paradoxien, die auf der semantischen Ebene auftauchen können, wenn man bei der Analyse der Lautkette der Sprache folgt. All dies produziert Verwirrtheit, Schwindel und manchmal cinen amüsanten Effekt. Diese Lesart und der Rückgriff auf den Kernpunkt der Allegorese, die ὑπόνοια, bietet die Möglichkeit, Platons Strategien in Bezug auf die im Kratvlos erwogenen Sprachprobleme gründlich zu verstehen. Dank des Vergleichs mit der Idee des rätselhaften Wortes, das gedeutet werden muss, geht aus dem Kra-

tylos die Dringlichkeit einer Theorie der Rütselhaftigkeit der Sprache hervor, eine Theorie, die wichtige Implikationen aus ästhetischen und epistemologischen Ebenen enthält. Nach dieser Theorie werden der Sprache der „modernen“ Men-

schen Merkmale der Tragödiensprache zugeschrieben; unsere Sprache ist also

4 __ Crat. 439b10-c6.

Einleitung

19

„tragisch“, d. h. vom Wahren entfernt und deshalb nicht referentiell." Darüber hinaus erregt der Vergleich mit der Allegorese noch andere

Überlegungen.

Im

letzten Teil des Dialogs wird eine erneute Überprüfung durchgeführt, die die referentielle Sprachtheorie der ersten Seiten des Kratylos mit den Modalitäten der Dialcktik untersucht. Es handelt sich um cine ποὺς Analyse, die sich jedoch die durch Sokrates" Wortuntersuchungen gewonnene Erfahrung zunutze macht und auf jenc U hungsverfahren zurückgreift. Bei den Wortanalysen wurden viele, der Allegorese ähnliche Mechanismen und Interg rfahren hcrangezogen,

um die Referenzialität der Sprache zu demonstrieren, ı nun werden

sie von der Dialcktik am Ende des Dialogs verwendet, um eine modifizierte, in gewisser Hinsicht entgegengesetzte These zu beweisen. Sokrates’ mimetische Haltung in Bezug auf ein fremdes intellektuelles Verhalten wie der Allegorese liefert daher der Philosophic neue Verfahren und neue Themen. Auch in diesem Sinn soll die theoretische Bedeutung des langen Abschnitts über die Wortanalysen bewertet werden. Aber der Vergleich mit dem Papyrus von Derveni erschöpft sich nicht in der Feststellung, dass im Kratylos eine Theorie der Rütselhaftigkeit der Sprache vorhanden ist und dann, dass die vielen Wortanalysen Sokrates in die sprachthe-

oretischen Überlegungen am Ende des Dialogs einbezogen werden, sondern der Papyrus von Derveni erlaubt uns, in die Tiefe der Mechanismen

einzudringen,

die Sokrates’ Analyse regeln, um damit in jenen Teil des Kratylos einzutreten, der schwieriger als jeder andere zu lesen ist. Er erlaubt in der Tat, eine „moder>“, bzw. »etymologische" Bewertung von Sokrates’ Sprachexperimenten zu verlassen, um eine „antike“ wiederzugewinnen, die nichts Erzwungenes oder Absurdes in seinem Verhalten erblickt." Der Versuch, eine derartige Lesart vorwiegend auf den Gütterabschnitt anzu-

wenden, die die Gestalt eines Kommentars -- das zweite Kapitel meiner Untersuchung - übernommen hat, wird durch die Natur des Papyrus von Derveni selbst hervorgerufen. Im Papyrus von Derveni wird dic theogonische Erzühlung cines

orphischen Gedichts als cin Offenbarungstext über dic Welt, ihre Struktur und ihre Entwicklung betrachtet. Die allegorische Deutung des orphischen Gedichts besteht in einem fortlaufenden Übergang von einer Ebene auf die andere, von jener der poctischen Erzählung zu jener der Welterklärung. Jedes Element des Mythos, jede Episode und jede Gottheit wird deswegen in cin Element oder in eine Entwicklungsphase des Universums übertragen, so dass die Theogonic des orphischen Gedichts als cine Kosmogonie gelesen werden kann. In diesem Sinn übernimmt die Analyse der Góttemamen cine besondere Funktion; sic sind die 1° — Was den Begriff „tragisch“ betrifft, der von meiner Analyse als „nicht referentiell” gedeutet wird, sicheS. 42-43, 159-160 und 211-213. — Dies scheint mir einer der wichtigen Beiträge von David Sedley (2003). In seiner Monographie über den Kratylos beweist der Wissenschaftler die absolute Selbstverständlichkeit von Sokrates" Sprachverhalten hinsichtlich der Kultur seiner Zeit.

20

Einleitung

Übergangsstelle von der einen zur anderen Ebene. Der Papyrus von Derveni bietet daher ein konkretes und gut dokumentiertes Beispiel dessen, was für die Allegorese die Auslegung cines Gótternamens bedeutet, und er erlaubt den dirckten Vergleich mit dem Gütterabschitt des Kratylos. In diesem Licht gelesen, erwirbt der Kratylos- Abschitt eine überraschende Komplexitüt. Als erstes wird crsichtlich, dass der Abschnitt von einer allegorischen Struktur getragen wird. Er ist wie eine Göttergenealogie geformt, auf die Sokrates seine Geschicklichkeit als allegorischer Deuter ausübt. Der Name cines jeden Gottes birgt in sich verschlüsselt ein Grundprinzip der Welt, welches mit ciner der Grundlagen der platonischen Philosophie zusammenfällt. Die Göttergencalogie des Kratylos verwandelt sich in einen Entwurf des philosophischen Systems Platons, da Sokrates in den Gótternamen dic Prinzipien und dic Fragestellungen der Philosophie enthüllt. Der Abschnitt fängt mit der Analyse des Namens der Hestia an, der in sich eine zweigliedrige Auffassung des ovcta-Begriffs enthält: Vorrangig wird der Name der Gottheit als Aussage des Scins gedeutet, gleich danach wird aber auch eine andere Namensauslegung vorgelegt, die die Göttin in die Darstellung des Bewegungs- und Veränderungsprinzips der Welt verwandelt. Dabei vereint Platon in Hestias Namen zwei entgegengesetzte Grundbegriffe seiner Philosophie, die aus der Überarbeitung der Gedankenwelt seiner Vorgänger hervorgehen: Auf der einen Seite die ontologische, aus dem parmenideischen Denkenggewon-

nene Dimension der Realität, auf der anderen dic heraklitische Lehre des ewigen Fließens. Mit einem außergewöhnlichen Spiel von Widerspiegelungen zwischen

dem Hauptthema des Dialogs und dem Götterabschnitt schließt Sokrates den Abschnitt über die Götternamen

mit der Untersuchung des Namens

des Gottes

Pan. Aus der Analyse dieses Götternamens geht cine Theorie des λόγος hervor, die mit den sprachtheoretischen

Ergebnissen

des Dialogs

zusammenfällt.

Hier

wird nämlich eine Theorie des Tragischen der Sprache ersichtlich, welche nur voll verständlich wird, wenn sie in Beziehung zur Gesamibearbeitung des Kratvlos gesetzt wird. Das Lesen dieses Abschnitts reduziert den Eindruck, dass der „Etymologienteil" im Kratylos nur eine Enzyklopädie der Vorgängerautoren Platons oder ein triftiges historisches Zeugnis eines bedeutenden Phänomens der griechischen

Kultur sei. Dieser Dialogteil scheint cher aus dem Inneren der platonischen Überlegungen hervorzugchen und immer eine bewusste und nach den eigenen philosophischen Zielen gerichtete Überarbeitung zu sein. Die Hauptfiguren der

Vergangenheit und ihre Gedankenwelt werden in den platonischen Schriften zu den Vertretern philosophischer Ansichten seiner Philosophie, sie sind die Sinnbilder seiner philosophischen Fragen. In diesem Sinn ist die Schreibweise Pla-

tons immer eine Inszenierung seines Denkens und dabei ist dic Allegorese im Kratylos, wie in den anderen Dialogen, cine der Mechanismen, welcher Platon dazu dient, die Vergangenheit und damit auch die Figuren des Mythos in scinc eigenen Überlegungen einzuschließen.

Einleitung

31

Der Vergleich mit dem Papyrus von Derveni eröffnet also cine neue Dimension der Untersuchung, dic das Problem der Darstellungs- und der Ausdrucksweise des platonischen Denkens betrifft. Es handelt sich hier um die Frage, mit welchen Modalitäten die Sprache die Realität ausdrückt - welches im Übrigen das Thema des Kratylos ist -, und daher, wie Platons Sprache scin Denken darstellt. Deshalb richte ich im letzten Kapitel dic Aufmerksamkeit auf anderc Dialoge, um diesen Mechanismus der Bcarbcitung des Mythos und der Vergangenheit zu verfolgen. In den anderen Dialogen finde ich dicselben Figuren und dicselben

Ausdrucksweisen

wie

im

Götterabschnitt

des

Kratylos;

und

in einem

dauernden Vergleich bestütigen Passagen aus den anderen Dialogen dic allegorisch-philosophische Lesart des Götterabschnitts des Krarylos und bisweilen be-

kommen sie dadurch cinen tieferen Sinn. Diese Feststellung wird hinsichtlich des Namens von Hades noch eindringlicher. Beim Vergleich mit dem Phaidon wird deutlich, dass die Struktur der Allegorese dazu dient, cines der wichtigsten Elemente aus Platons Philosophie darzustellen: Die Verschiebung des Seins und des Wissens an die Grenzen des menschlichen Lebens, nämlich zu Hades, der zur sinnbildlichen Darstellung dessen wird, was später als Metaphysik bezeich-

net worden ist. Im vorliegenden Fall werden die Allegorese und die Wortanalyse noch einmal als ein Werkzeug der Philosophie verwendet.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos Die Anfangsszene als Grundschema für den ganzen Dialog Die Anfangsszenen in den platonischen Dialogen enthalten Elemente, die sich für ein tiefes Verständnis des Textes als sehr wichtig erweisen. Zu Beginn des Dialogs wird der Leser an den Schauplatz geführt, an dem jedem Dialogpartner eine unterschiedliche Rolle zukommt und jeder einen eigenen theorctischen Standpunkt hinsichtlich des Themas des Dialogs vertritt. Mit ihrer Haltung und

ihren Gebürden bestimmen sie das theoretische Streitfeld, in dem sich der Gedankengang des Textes entwickelt, so dass eine gemischte typisch platonische Schreibweise entsteht, dic die dramatische und dialogische Text-Dimension mit

dem Anliegen der philosophischen Untersuchung vereint. Selbst auf den ersten Seiten des Kratylos scheinen die Hauptfiguren ein sinnbildliches Verhalten zu übernehmen,

indem

sie verschiedene

theoretische

Auffassungen

bezüglich der

Sprachprobleme verkörpern. Gaiser definiert die verschiedenen Thesen der Hauptfiguren folgendermaßen: „Der Dialog geht von der Alternative aus, ob die Richtigkeit der Namen von Natur (φύσει) besteht oder nur durch Konvention und

Gewohnheit (συνθήκη, ὁμολογία. νόμος, ἔϑος) festgelegt ist. In dem einen Fall wäre das sprachliche Zeichen

von der Sache her determiniert, in dem anderen

Fall ziemlich beliebig auswechselbar und insofem arbiträr. Hat der Name eine natürliche Richtigkeit, ist er wohl auch geeignet, die Sache zu kennzeichnen und etwas über sie auszusagen; ist die Richtigkeit dagegen nur willkürlich-konventioneller Art, dürfte sich seine Funktion auf das identifizierende Hinzeigen beschránken"*.! Weiter heißt es: „Die Position des Kratylos (Richtigkeit von Natur) verlangt - so will es Sokrates — eigentlich cine eleatische Seinstheorie als Basis;

die Position des Hermogenes (Richtigkeit nur durch Konvention) verträgt sich cher mit einem herakliteischen Relativismus“.? Sobald aber der Dialog in seiner Gesamtheit betrachtet wird, scheint es, als ob die cinzelnen Positionen der Dialogpartner die allgemeine theoretische Einstellung des Textes in Bezug auf das behandelte Problem ausdrücken; mit anderen Worten verdeutlicht die Anfangsszene des Kratylos den Ansatz, mit dem Platon an die Sprachprobleme herangeht. Der Dialog beginnt mitten im Gesprüch zwischen Hermogenes und Kratylos, das sich jedoch festgefahren hat." Um den beinah hoffungslosen Stillstand des ; — Gaiser 1974, 29. * — Gaiser 1974, 30. Dazu siehe noch Weingartner 1970. * — Baxter (1992, 14) sagt bedeutende Worte über dic Bedeutung der Anfangsszenc des Kratylos: „No real dialectic has taken place between Cratylus and Hermogenes; they have merely stated their positions and reached an impasse. The reason is simple. Cratylus' beliefs

24

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

Gesprächs zu überwinden, wendet sich Hermogenes an Sokrates und erzählt, dass Kratylos sich von seiner ausweichenden Haltung nicht abbringen lásst und keine befriedigenden Antworten auf seine Fragen geben will. Im Bemühen, den Schlüsselbegriff der kratyleischen Theorie (d.h. die naturgemäße Richtigkeit" (ὀρϑότης) der Worte)’ exakt zu begreifen, wollte Hermogenes von Kratylos wissen, ob er wirklich so heißt und ob „Sokrates“ der richtige Name für Sokrates ist. Kratylos bejahte dies. Als er aber dieselbe Frage auf die Namen aller anderen Menschen erweitert, bricht Unverständnis aus. In Kratylos’ Augen stellt nämlich

der Name

von

Hermogenes

eine Ausnahme

dar, weil

er sich

für ihn

nicht ziemt, nicht einmal, wenn die gesamte Menschheit dazu entschlossen wäre, ihn so zu nennen." Dieser beinah beleidigenden Äußerung, dic praktisch Hermogenes die Identität mit seinem Namen abspricht, lässt Kratylos cine ironische und aufgeblasene Haltung folgen, wodurch er sich ganz und gar weiterer Erklärungen entzieht. Hermogenes stóBt bei Kratylos auf AnmaBung, der glaubt,

nur weil Hermogenes es wolle, kónne er alles wissen und sogar alles vermitteln.' Das Unverstándnis zwischen Hermogenes und Kratylos wird erst später durch Sokrates geklärt: Dadurch dass Kratylos über dic Nicht-Ang heit von Hermogenes' Namen behauptete, wollte er schlieBlich nur einen Scherz über ihn machen,

weil

er, obwohl

er sich

reillich

bemüht,

welches

zu

erlangen,

kein

Vermögen besitzt. Deswegen sei er ungeeignet, die Nachkommenschaft des Gottes des Verdienstes zu verkörpern." Der Name Ἑρμογένης wird demnach implizit in zwei Teile zerlegt: 'Eouo- von Ἑρμῆς, der hier als Gottheit des erfolgreichen Handelns und des Verdienstes verstanden wird, und -γενὴς von γένος („Nachkommenschaft“).”

about language (and those of Hermogenes, as will be seen) destroy the possibility of dialectic: they cannot go beyond stating and restating their beliefs before lapsing into silence". — Hermogenes schildert die Sprachtheorie von Kratylos mit diesen Worten: Κρατύλος φησὶν ὅδε. ὦ Σώκρατες. ὀνόματος ὀρϑότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν. xai οὐ τοῦτο εἶναι ὄνομα ὃ ἄν τινες συνθέμενοι καλεῖν καλῶσι. τῆς αὑτῶν φωνῆς μόριον ἐπιφϑεγγόμενοι, ἀλλὰ ὀρϑότητά τινα τῶν ὀνομάτων πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν αὐτὴν ἅπασιν (Crat. 383a4-b2).

* — Crat. 38302-4.

^ _ “Οὐκοῦν καὶ Toig ἄλλοις ἀνθρώποις πᾶσιν. ὅπερ καλοῦμεν ὄνομα ἕκαστον. τοῦτό ἐστιν ἑκάστῳ ὄνομα." ὁ δέ. “Οὕκουν coi γε." ἡ δ᾽ ὅς |sc. Κρατύλος!. “ὄνομα Ἑρμογένης. οὐδὲ ἂν πάντες καλῶσιν ἄνϑρωποι" (Crus. 383b4-7).

? — Crat. 383b7-384.4.

* — So erklärt Sokrates die vermutliche Namenserklärung: ὅτι δὲ oU φησί σοι Ἑ ρμογένη ὄνομα εἶναι τῇ ἁληϑείᾳ. ὥσπερ ὑποπτεύω αὑτὸν σκώπτειν" οἴεται γὰρ ἴσως σὲ χρημάτων ἐφιέμενον κρήσεως ἀποτυγχάνειν ἑκάστοτε (Crat. 384c3-6). ! — Schon wenn Kratylos (383b2-4) behauptet hat, dass die Namen von Sokrates und Kratylos ihre richtigen Namen sind, bezieht er sich hüchstwahrscheinlich implizit auf Namenserklärungen, die dic wahre Natur beider Personen enthüllen. Siehe dazu Sedley 1998, 146, Anm. 26.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

25

Kratylos’ spielerischer Umgang mit der Sprache ist verblüffend. Genau betrachtet, sollte dic kratyleische Theorie das Wortspiel nicht zulassen; aber der Scherz zu Hermogenes! Namen bricht durch seine spaßigen Gedankenverbindungen die Beziehung zwischen Wort und Sache auf, die von Kratylos als unauflöslich und naturgemäß angegeben wurde. In diesem Punkt konzentriert sich die größte inhaltliche Spannung des ganzen Dialogs. Erstmals wird hier die Beweisführung über die Stichhaltigkcit von Kratylos' Meinungen mit ciner spiclerischen Haltung durchgelührt, so dass die Wortuntersuchung zum Wortspicl wird, etwas, was als Folge des Dialogs bei der langen Analyse über die wichtigen Bezeichnungen der griechischen Sprache gelegentlich vorkommt. Diese durch die Wortanalyse entdeckte Sprachdimension'” entkrüftet Kratylos" theoretischen Standpunkt und schafft Raum für einc in vieler Hinsicht andere Sprachtheoric, die erst am Ende des Dialogs offenbar wird. Hermogenes bleibt während des ganzen Dialogs emst, und da er nicht zur spielerischen Ebene der Sprache übergeht, versteht er den bissigen Scherz nicht. Im Versuch, ebenfalls so leichten Tones daherzureden, verknüpft er Kratylos’ hóhnisches und abweisendes Verhalten mit der orakelhaften Ausdrucksform und bittet Sokrates darum, sich an die Auslegung von Kratylos’ Orakel (τὴν Κρατύλον μαντείαν. 38445) zu wagen. Ebenso wie die rätselhafte Ausdrucksform der Orakel sollen auch die kargen und geheimnisvollen Worte von Kratylos ausgelegt werden, um deren Sinn zu verstehen. Dadurch

wird Kratylos zum

Vertreter cincr theoretischen Position, dic zwar für wertvoll crachtet wird, aber dennoch mysteriós blcibt. Sokrates

übernimmt

also die Rolle des Deuters der von

Kratylos nicht cin-

deutig ausgedrückten Gedanken über die naturgemäße Richtigkeit der Worte. Er tritt statt seiner auf und

liefert bereits durch

die Erklärung

von

Hermogenes"

Namen dic erste Wortanalyse, da sich Kratylos jeder Aufklürung entzicht. Das auswcichende Verhalten von Kratylos schafft im Text eine theorctische Lücke, die Sokrates ausfüllt. Nach dieser Struktur ist der ganze Dialog aufgebaut. Die danach von Sokrates vorgetragene komplexe Sprachiheorie (38606-390c5), die sich um die Figur des νομοϑέτης (388c1) dreht, wird anstelle der theoretischen Position von Kratylos ausgearbeitet und ersetzt sic, indem sie dic kurze und allgemeine Zusammenfas-

sung weiter entwickelt, die am Anfang des Dialogs dargelegt wurde." Der wei-

10 _ [n einem Aufsatz, in dem die Zweideutigkeit des Wortes στάσις (station, ,sedition") sowohl im Kratylos als auch in den anderen platonischen Dialogen untersucht wird, gelangt Nicole Loraux (1987, 60) zu der Auffassung, dass „le jeu platonicien sur stasis suppose que l'on n'énonce pas ce mot sans en assumer toute l'ambivalence". Auf dieser Basis zeigt die Wissenschaftelerin, wie Sokrates die kratyleische Position über die Sprache widerlegt, indem er die Zweideutigkeit der Worte aus der Sprache herausragen lässt. !! — Der Abschnitt wurde in der Anm. 4 zitiert. Er ist der einzige Bericht zu Kratylos" Theorie bis die des Nomothetes dargestellt wird.

26

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

tere Dialog entfaltet sich in dem theorctischen Rahmen, den Kratylos unausgefüllt ließ und den Sokrates nun durch seine Überlegungen füllt. Die Sprachtheorie des Nomothetes Wenn Sokrates sich mit fremden Theorien auseinandersetzt, beschränkt er sich nicht auf ihre neutrale und chronikartige Wiedergabe, sondern cr eignet sie sich an, indem er sie durcharbeitet. Durch die mimctische Aneignung des pegnerischen Standpunktes und durch die Verknüpfung zu feinsten Gedankenverbindungen faltet Sokrates die Theorie des Gegners vor den Augen der Leser aus-

einander und zeigt ihre Stärken und Schwächen auf. Dadurch gelingt es ihm, Argumentationen zu finden, die seine Gegner widerlegen." Etwas Ähnliches geschicht im Kratylos. Die Theorie über die „Richtigkeit“ der Worte wird von An-

fang an als eine selbständige, weiter entwickelte, nicht zum sokratischen Gedankengut gehörende Lehre vorgestellt. Als Vertreter der geschützten Sachkundigen wird Prodikos angeschen. Er verlangte für seine Vorlesungen zu diesem Thema bis zu 50 Drachmen. Da Sokrates aber nur eine Drachme zahlen konnte -- hier

wird Sokrates’ bissige Ironie unübersehbar - erhielt er eine sehr beschränkte

Ausbildung zu diesem Thema." Wenn also Sokrates beginnt, im Namen und an 2

.

.

N

foll

!* __ Diese typische Haltung von Sokrates kann durch Beispiele aus dem Protagoras, dem Euthydemos und dem Phaidros veranschaulicht werden, in denen Sokrates über die Grenze der sokratischen

Philosophie hinausgeht, um

mimetisch

intellektuelle

Haltungen

zu übernch-

men, die nicht den eigenen entsprechen. Dabei lässt Platon Sokrates in Wettstreit mit den Vertretern anderer, ja sogar entgegengesetzter Meinungen treten, um von Innen mit Hilfe der Ironie und der Komik die Gefahren und die Fehler derartiger Lehren zu zeigen. Dieses Überschreiten der gewühnlichen Grenzen, dieses Aneignen fremden Gedankengutes ist aber nie nur ein negatives Unternehmen, das vom Wunsch diktiert ist, den Gegner matt zu setzen. Es handelt sich um ein hilfreiches Verfahren, das der platonischen Philosophie neue Themen

und

neue Ausdrucksformen liefert. Hinsichtlich einer genauen Analyse der Simonidesinterpretation von Sokrates im Protagoras, in der für Sokrates nicht typischen Handlungsweisen

unter-

strichen werden, siche Most 1994, 127-131; zum Zuthydemos siche Sprague 1962. Betreffs des Phaidros zeigt Górgemmans (1993), dass Sokrates in diesem Dialog beschrieben wird, als er Athen, den Ort des dialektischen λόγος verlässt und sich cine andere Art von λόγος ancignet, der durch einc dichterische, dithyrambische Inspiration gekennzcichnet ist. In Bezug auf Kratylos' Wortuntersuchung behauptet Barney (1996, 109), dass in Platons Augen die Wortanalyse keine dialcktische, .sokratische" Ausdrucksweise sei, so wie die literarische Auslegungsarbeit (hierbei wird auf die Simonidesinterpretation im Protagoras verwiesen) oder wie die private und öffentliche Rhetorik (hier wird auf den Menexenos und auf die Rede von Lysias im Phaidros angespielt). Sie sind, sub-philosophical kinds of discourse". !* — Crat. 384b1-c1. Darüber hinaus betont Sokrates, dass sein Können in Bezug auf die Wortanalyse einer fremden Musa - oft wird diesbezüglich Euthyphron erwähnt - zu verdanken sei; vel. Crat.. 39641-39722; 39941; 399c4-400a43; 401e5: 4074d7-9; 409dl-2 (ἡ τοῦ Εὐθύφρονος μοῦσα), 428c6-M. Dazu siche das Kapitel von Gaiser (1974, 49-51): „Der Enthusiasmos des Sokrates".

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

27

Stelle von Kratylos die Theorie des Nomothetes zu beschreiben, setzt er sich mit einem Gebiet und mit ciner Lehre auseinander, die ihm fremd ist, die er aber bei

der Darlegung umgestaltet, indem er eine sokratische („platonisierte“) Auffassung der naturalistischen, kratyleischen Sprachtheorie wiedergibt. Die Art und Weise, wie die Schilderung erfolgt, bereitet latent scine Widerlegung vor." Von Anfang an führt Sokrates das Gesprüch nach den gewóhnlichen Mustern der platonischen Dialektik. Zuerst wendet er sich der Sprachaullassung von Hermogenes zu. In der Absicht, ihre Grundelemente zu untersuchen, erwägt cr das Prinzip der Konvention, nach der laut Hermogenes die Dinge ihre Namen bekommen, und er fragt sich, ob dasselbe Prinzip auch in Bezug auf die Realität gelten könne und ob daher der einzelne Mensch bestimme, wie die Existenz (die

οὐσία) der Dinge aussehen soll.'^ Sokrates gelangt zu einem negativen Schluss. Dic

relativistische

Theorie

des

Protagoras,

die den

Menschen

als

Maß

aller

Dinge sicht, wird mit Hermogenes" Einverständnis widerlegt, wie auch die auf paradoxe Weise entgegengesctzte, aber in den Folgen gleichwertige Theorie des Euthydemos."

Beide

Theorien

entbehren

des

Realitätsinns.

Deswegen

ist

Sokrates dazu gezwungen, dic Existenz ciner Realität (dic οὐσία) vorauszusctzen, dic für jeden einzelnen Gegenstand stabil ist." Auf der Basis dieses echt platonischen Grundsatzes entwickelt er die Theorie des Nomothetes." Im Gegensatz zu Hermogenes, der dic Rolle des einzelnen Menschen oder der Sprachgemeinschaft ohne Rücksicht auf den Gegenstand unterstreicht, kehrt Sokrates den Gesichtspunkt um und setzt dic οὐσία des Gegenstandes in die Mitte des Benennungsaktes. Auf diese Weise ist er in der Lage, die daraus folgende Natürlichkeit des Wortes und die Entsprechung zwischen Wort und Sache - die ὀρθότης der Worte — zu deuten und zu erklären, die am Anfang des Dialogs von Kratylos vertreten wurde, aber eine mysteriöse, nicht wirklich geklärte These blieb. Nach dieser Theorie soll die Sprache die Realität (die οὐσία) getreu

widerspiegeln, unabhängig der wankelmütigen und trügerischen Wahrnehmungen des Menschen.

H — Siehe dazu S. 40-52.

!5 — Crat. 384c6-385a1.

!^ _ Der Übergang von einem sprachtheoretischen Gesichtspunkt zu einem cher ontologischen wird ohne Umschweife dadurch unterstrichen, dass Sokrates? Analyse von den ὀνόματα

zu den ὄντα übergeht: Φόρε δὴ ἴδωμεν. ὦ Ἑομόγενες. πότερον καὶ τὰ ὄντα οὕτω ἔχειν σοι Fe,

(Crat. 385ς4- 5).

Crat. 385c4-38647. — δῆλον δὴ ὅτι αὐτὰ αὑτῶν οὐσίαν ἔχοντά τινα βέβαιόν ἐστι τὰ πράγματα. οὐ πρὸς ἡμᾶς. οὐδὲ ὑφ᾽ ἡμῶν ἑλκόμενα ἄνω καὶ κάτω τῷ ἡμετέρῳ φαντάσματι. ἀλλὰ καϑ᾽ αὑτὰ πρὸς τὴν αὑτῶν οὐσίαν ἔχοντα, ἧπερ πέφυκεν (Crar. 38649-04).

!? — Zum Begriff von οὐσία als cinem der charakteristischsten Elemente der platonischen Philosophie siehe S.61-63.

28

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

Darüber hinaus lässt sich die Theorie des Nomothetes als Versuch werten, dic Sprache als Schlüssel für den Zugang zur Realitüt zu verstehen. So projiziert Sokrates das Denkmuster von dem Handwerker (von dem δημιουργός) auf die Sprache, das oft in den platonischen Dialogen als Musterbeispiel dient." Jede Handlung, jeder Aspekt der Handwerkstätigkeit wird mit den BenennungsmMechanismen verglichen, um cine echte Sprachtheorie über die „Kunst“ des Benennens zu gründen. Der erste Schritt besteht in dem Nachweis, dass die Benen-

nung (das ὀνομάζειν) cin Akt ist, der gemäß seiner eigenen Natur vorzunehmen ist, wie es für das Schneiden und für das Verbrennen (diese sind die zwei ersten beispielhaften von Sokrates angegebenen Handlungen)" geschicht. Auf diese

Weise wird die Namensgebung zu jenen Tätigkeiten gerechnet, denen cine bestimmte Geschicklichkeit, eine gewisse Ausführungskunst zugeschrieben wird. Der Vergleich mit der Webkunst und dem Zimmerhandwerk zeigt, dass das Wort ein Werkzeug (öeyavov) ist, das bei der Namensgebung gebraucht wird,

wie das Webschiffchen und der Bohrer die angemessenen Werkzeuge lür die anderen oben genannten Handwerkskünste sind." Die Idee vom Wort als cin Werkzeug erlangt hier einen großen, sowohl epistemologischen, als auch ontologischen Wert. Hinsichtlich des Sprachgebrauchs gibt das Wort den Menschen die Möglichkeit, zu kommunizieren, in Bezug auf die Realität verleiht es hingegen die Fähigkeit, zwischen den Gegenständen zu unterscheiden und sie dadurch kennen zu lernen.” In der Abfolge der Argumentation ist Sokrates gezwungen, die Existenz eines

Handwerkers, eines ὀνοματουργός zu vermuten, der zur Herstellung von Worten fähig ist und der mit der Figur des Gesetzgebers (νομοϑέτης) gleichgesetzt wird. Durch die Unterscheidung zwischen dem Wort-Hersteller und dem Wort-

Benutzer wird dem Nomothetes der Dialektiker entgegen gestellt: Der Erste setzt die Worte aus lautlichen Bestandteilen zusammen, der letzte kann beim Fragen und Antworten überprüfen, ob die Worte kunstgerecht hergestellt wurden.” In den stilisierten Figuren des Nomothetes und des Dialektikers drückt Platon jeweils die Idcalisicrung des Entstehungsaktes und des Sprachgebrauchs aus. Ganz nach dem Beispiel des Handwerkers, der sich bei der Herstellung eines Gegenstandes auf ein Musterstück

bezicht, hält cs Sokrates für notwendig,

bei

der Wortbildung ebenfalls ein Muster vor Augen zu haben.” Das ist „das, was

2 _ Crat, 38666-39005; siche: ὁ τὴν τόχνην ἔχων (388e4-5): vgl. 38942. Zur Rolle des

fa

te ἀν

Ps -

t+ f. we

Y

ιουργός als Welischüpfer im Timaios, siche Tim. 28a61f. — Crat. 35741 -b4. — Crat. 387d10- 38829. — “Ovoua ἄρα διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον xai διακριτικὸν τῆς οὐσίας (Crus. 388b13«c1). QU Crat. 38812-38923. wo Crat. 390b1 -d7. © — Crat. 38925-390210.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

29

Wort ist“, das εἶδος des Wortes," wonach der Nomothetes bei der Wortbildung immer wieder schaut. Die Laute und dic Silben sind der Stoff, mit dem die Worte gebildet werden, genau so wie das Eisen für den Schmied und das Holz für den Zimmermann als Grundstoff gelten. Die Idec von einem εἶδος des Wortes ist das Element in der Theorie des No-

mothetes, bei dem die größte theoretische Spannung aulkommt. Dieser Begriff, der einer idealisierten Sprachsituation entspricht, wird notwendigerweise weiter

bearbeitet, als Sokrates ihn bei der langen Wortuntersuchung auf die Probe der gesprochenen Sprache stellt, und durch andere Begriffe wic dic δύναμις oder den τύπος Cines Wortes ersetzt." Charles Kahn" erläutet schr einleuchtend die wesentliche Funktion, die dem εἶδος des Wortes zugeschrieben wird, mit folgenden Worten: „the truc Form of Name represents the gencral sign relation (the relation between the word and what it signifies or „stands for") as required for the formulation and communication of truth in words, and that the form of a specific name (i.c. the Form of the name of a specific thing) is this same sign relation as specified by the nature of the thing named". Wenn er nachfolgend behauptet, dass ,,Plato's mention of the Form of Name is designed to bring us back from names as phonctic configurations to names as signs for things, and ultimately as signs for Forms," teile ich seine Meinung mit einer zusätzlichen Erläuterung. Das εἶδος des Wortes zeigt das Sinnverhältnis zwischen Wort und Sache, das für eine echte und wahrhafte Aussage bürgt, aber es besitzt auch einen gestalthalten Charakter."

Bei den handwerklichen Tätigkeiten muss nämlich die Funktion des zeugs mit seiner Gestalt übereinstimmen, da ihm nur dadurch ermöglicht seine Funktion zu erfüllen. So wird durch den Vergleich des eidog des schiffchens und des Bohrers mit dem εἶδος eines Wortes sowohl auf scine

Werkwird, WebFunk-

tion, (d.h. die Bedeutung des Wortes, scin Signifikat), als auch auf seine Gestalt

(den Bedeutungstrüger, sein Signifikant) hingewiesen. Dem Vergleich weiterfolgend, muss auch das εἶδος des Wortes irgendwie als cine „bedeutungs- (funktions-)volle Gestalt" oder als cine „gestalthafte Bedeutung" verstanden werden; das eldos des Wortes ist also eine gestalthafte Entität mit kommunikativem Zweck. Wenn also Sokrates die Wortanalyse beginnt, richtet sich seine Aufmerksamkeit sowohl auf dic Bedeutung des Wortes, als auch auf scinen lautlichen oder 27 __ Siehe: αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα (Crat. 3896-7); τὸ τοῦ ὀνόματος εἶδος (Crat. 390a6-7). Zu diesem schwierigen Begriff siehe Kahn 19732, 162-165; Aronadio, 1987 und in dem Aufsatz von Canto das Kapitel „Le nom-paradigme" (1987, 14-18).

28 __ Siche dazu S. 45-47, 50.

2% _ Kahn 19732, 162. Ὡς Kahn 19732, 165.

* — Kahn (19732, 165) hingegen scheint den lautlichen/graphischen Bestandteil im aides des Wortes komplett auszuschlieBen.

30

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

graphischen Aspekt." Im ersten Teil seiner Wortuntersuchung, die die „zusammengesetzten" Worte in Betrachtung zieht, geht die Analyse von einem Wort zum anderen über. In diesem Fall beweist dic lautliche Kette der Sprache (die manchmal in ihrer graphischen Dimension in Betracht gezogen wird) die Bezichung zwischen den Worten. Die lautliche Ähnlichkeit, die Assonanz zwischen den Worten bürgt für die referentielle Beziehung zwischen Wort und Sache.

Später dann, als Sokrates sich den „ersten“ Worten (πρῶτα ὀνόματα) widmet," bemüht er sich, den Zusammenhang

zwischen dem cinzclnen Laut und dem da-

mit bezeichneten Phänomen zu bestimmen: Die Laute, die kleinsten Bestandteile der Sprache, sind imstande, die Realität widerzuspiegeln, da sie im Mund des Menschen die von ihnen bezeichneten Phänomenen nachahmen. Bei diesem sonderbaren Versuch, eine atomare, intime Verbindung zwischen der Sprache und der Realität herzustellen, überwiegt die lautliche/graphische (oder besser buchstäbliche) Dimension der Sprache all ihre anderen Aspekte. Diesc kurze Analyse der Theoric des Nomothetes zeigt, dass es hier vicle Elemente gibt, die für dic platonische Einstellung typisch sind: I. die Gedankentührung, die sich um die Figur des δημιουργός der Wörter dreht; 2. das Grundprinzip, nach dem sich seine Tätigkeit richtet, d.h. der οὐσία; 3. die Annahme von eincm εἶδος des Wortes, das als Musterbeispiel bei der Wortbildung dient. Somit wird die Sprachtheorie Kratylos durch die Sprache und die Gedanken Platons ausgefüllt und umgedeutet. Berührungspunkte zwischen der Theorie des Nomothetes im Kratylos und der Allegorese Auf den ersten Seiten des Dialogs entwickelt Platon cine Sprachtheorie (die Theorie des Nomothetes),

sein das und dell

in der er annimmt,

dass die Sprache

rcalitätsgetreu

muss, damit cine wahrhafte Aussage móglich ist. Bis zu diesem Punkt stellt Textverständnis kein Problem dar und die Schreibweise Platons ist schlicht gewöhnlich. Man ist hingegen verwirrt, als dieses theoretische Sprachmodurch die lange Wortuntersuchung in der Mitte des Dialogs auf die Probe

gestellt wird, wobei der Grundwortschatz der griechischen Sprache zerlegt und

analysiert wird. In der außergewöhnlichen Art und Weise, wie sich Sokrates hier mit der Sprache beschüftigt, die sich in cine Explosion von Laut- und Gedankenverbindungen verwandelt, gibt cs etwas, was unserem Verstand entrinnt. Sokrates zeigt sich bei der Wortanalyse äußerst geschickt; das Untersuchungsverfahren und einige Vorgänge sind nur angedeutet, so als ob der Leser sic schon kennen würde. Solch einer Selbstverstündlichkeit im Umgang mit der δος Zur Bedeutung. die die graphische Dimension der Sprache nimmt siehe den Kommentar zu Poseidon, Hera und Pan. — Crat. 42464-427103.

bei der Wortanalyse

über-

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

3l

Sprache kann der moderne Leser nicht ganz folgen. Und dort, wo sich Sokrates bei der Analyse am erfahrensten zeigt, fällt es schwer, die Eigentümlichkeiten des Textes nachzuvollzichen. Der theoretische Rahmen des Dialogs reicht nicht aus. Platon setzt den Kratylos innerhalb der Überlegungen der Sophisten: Die Sprachtheorie des Nomothetes wird von Sokrates in Kratylos’ Namen entwickelt; Prodikos, ein weitcrer Sophist, ist derjenige, der wegen sciner Fachkenntnisse zur „Richtigkeit der Worte“ erwähnt wird." Sophisten sind auch Protagoras und Eutydemos, auf die sich Sokrates bei der Entwicklung der Theorie des Nomothetes bezicht. Trotzdem rcicht all dies nicht aus.

Dic in uns vom Text erweckte Verwirrung zwingt dazu, unseren Wissenshorizont auszudehnen. Die Monographie Timothy Baxters über den Kratylos gibt ein eingehendes Bild aller Kulturphänomene, die mit dem Krarylos in Verbindung gesetzt werden können. Im Kapitel „Etymologies and Etymologists" '* zeigt Baxter, dass die Wortuntersuchung cin verbreitetes Verfahren in der griechischen Kultur, auch über die Sophisten hinaus, war und als Beweisinstrument für jegliche Theorien verwendet wurde. Darüber hinaus macht er darauf aufmerksam, dass dic Sprachauffassung, die auf der Basis solcher Sprachpraktiken steht, seines Erachtens im Krarylos von Platon heftig bekümpft wird." In Bezug auf den von

Baxter geschilderten

Wissenshorizont

habe

ich mich entschieden,

meine Aufmerksamkcit ausschlieBlich auf die Allegorese zu richten, insbesondere

auf den

Papyrus

von

Derveni,

einem

auBerordentlichen

Zeugnis

dieses

Deutungsverfahrens. Nicht nur die verschiedenen, bei der Wortanalysc von Sokrates angewendeten Unt | fahren zeigen inhaltliche Ähnlichkeiten mit dem

Papyrus von Derveni, sondern auch die theoretischen Ansätze der

Sprachtheorie des Nomothetes erinnern in gewisser Hinsicht an die literarische Theorie der Allegorese. Der Vergleich mit dem Papyrus von Derveni bictet dem Leser die Gelegenhcit, das philosophische Terrain zu verlassen. Wir haben es beim Papyrus von Derveni mit einem Zeugnis zu tun, das von Platon nicht beeinflusst wurde. Auf-

grund der ähnlichen Unt gsverfahren, Gedankengänge und Beweisführungen bei der Wortanalysc, sowie der in vieler Hinsicht vergleichbaren Sprachauffassung, eignet sich der Papyrus von Derveni ohne weiteres dazu, der InterM — Zu Prodikos’ theoretischen Ansatz und seine Anwendung der Wortuntersuchung siehe das Kapitel „The Sophists" im Baxter 1992, 147-160: insbesondereS. 151-156. «— ‘ Baxter, 1992. 107-163. — Baxter (1992, 107) schreibt dazu: „Plato is tackling a wide variety of targets because he is battling against what he sces as a culture-wide mistaken belief in the power of names, ἃ belief sanctioned by the poems of the great Homer himself, and surviving in different manifestations down to Plato's own day". Am Ende der Arbeit (1992, 162) unterstreicht

Baxter noch einmal, dass „Plato is attacking the way in which various representatives of Greck culture have misunderstood the relationship hetween names and things".

32

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

pretation jenes Abschnitts des platonischen Dialogs näher zu kommen, der uns seltsam und unverständlich erscheint. Dennoch müssen wird uns bei der Anwendung des Papyrus von Derveni als Interpretationshilfe seine Randposition hinsichtlich der Geschichte der Allegorese immer vor Augen halten; denn es handelt sich um cinen allegorischen Kommentar zu einem orphischen Gedicht, das nur innerhalb ciner eschatologischen, mit dem Kultus eng verbundenen Weltanschauung an Sinn gcwinnt, wie der Fundort des Papyrus und die ersten Fragmente des Papyrus zcigen." Trotz des Abstandes des Papyrus von Derveni zum Kratylos, was das theoretische Ni-

veau und den philosophischen Inhalt betrifft, gewinnt der Papyrus vom Standpunkt meiner Untersuchung aus eine außergewöhnliche Bedeutung, da er eine anschauliche literarische Auslegungsmethode und Sprachauffassung vorlegt, die - wic Baxter gezeigt hat — in der griechischen Welt weit verbreitet war und alle Bereiche der griechischen Kultur durchdrang. Der Namensgeber . Die erste bedeutungsvolle Übereinstimmung zwischen der Sprachtheoric des Nomothetes im Kratylos und der Allegorese im Papyrus von Derveni besteht in der Funktion, die jeweils die Figuren des Nomothetes

und des Orpheus

über-

nehmen: Beide geben den Dingen dic richtigen Bezeichnungen." In beiden Fällen wird die Fähigkeit, die Dinge richtig zu bezeichnen, von ciner

ummittelbaren

Bezichung

zu

der

Wahrheitsquelle

versichert.

Was

die

Theorie des Nomothetes betrifft, wird sie von dem εἶδος der Worte dargestellt:

” — Siche dazu Most 1997. *5 — Im Papyrus von Derveni wird die Funktion von betont: τὸ δ᾽ ἐπὶ τούτωι" / * ᾿Οὐρανὸς Εὐφρονίδης. ὃς Νοῦν πρὸς ἄλληλα] Κρόνον ὀνομάσας / μέγα ῥέξαι τὴν βασιλείαν αὐτόν. Κρόνον δὲ ὠνόμασεν ἀπὸ τοῦ αὐτὸν λ]όγον (Spalte

14, 5- 10); τοῦτ᾽ οὖν τὸ πνεῦμα

Orpheus als Namensgeber immer wieder πρώτιστος βασίλευσεν". / κρούοντα τὸν φησὶ τὸν Οὐρανόν" ἀφ[αι]ρεϑῆναι γὰρ / / ëlelrou αὐτὸν xai τάλλα κατὰ T|óv

Ὀρφεὺς / ὠνόμασεν

Μοῖραν (Spalte

18, 2-

3): Ὀρφεὺς γὰ ο΄ / τὴν φρόνησιν Moigav ἐκάλεσεν (Spalte 18. 6-7); πάν τ΄ οὐ]ν ὁμοίωϊς ὠνόμασεν ὡς κάλλιστα mlôvlvaro (Spalte 22. 1); ἐκ [τοῦ Öle [rla ἐόντα ἕν [ἔκ]αστον κἐκ[λητ]αι ἀπὸ τοῦ " ἐπικρατοῦντος. Zev|c] πάντα κατὰ τὸν αὐτὸν / λόγον ἐκλήϑη (Spalte 19. 1-3); Ἀφροδίτη Οὐρανία / καὶ Ζεὺς καὶ ἀφροδισιάζειν καὶ ϑόρνυσϑαι καὶ [Πειϑὼ / καὶ Ἁρμονία τῶι αὑτῶι ϑεῶι ὄνομα κεῖται. ἀνὴρ / γυναικὶ μισγόμενος ἀφροδισιάζειν λέγεται κατὰ / φάτιν' τῶν γὰρ νῦν ἐόντων μιχϑέντων ἀλλ[η)λοις / Ἀφροδίτη ὠνομάσϑη. [Πειϑώ δ᾽ ὅτι εἶξεν τὰ ἐ[ό]ντα / ἀλλήλοί εἸσιν' εἰἤκειν δὲ καὶ πείϑειν τὸ αὐτὸν' [ἈΠομον α δὲ / ὅτι πολλὰ ..."leuoce τῶν ἐόντων ἑκάστωι]. / ἦν μὲν γίὰρ καὶ le ir) yoná c ῃ δὲ γενέσϑ[αι) ἐπεὶ / Maxim (Spalte 21, 5-14); [ἢ δὲ xai Μήτηρ xai Ῥέα xai "Hen ἡ αὐτή. ἐκλήϑη δὲ / Γῆ μὲν νόμωι,

Μήτηρ

δ᾽ ὅτι ἐκ ταύτης

πάντα

ylivlerar. / [ἢ

καὶ

Γαῖα

κατὰ

[γλῶσσαν ἑκάστοις.

Δημήτηρ [δὲ] / ὠνομάσϑη ὥσπερ ἡ [ἢ Μήτηρ. ἐξ ἀμφοτέρων ἔν] ὄνομα" / τὸ αὐτὸ γὰρ ἦν. ἔστι δὲ καὶ ἐν τοῖς "Tuve; eiglmlasvor "Δημήτηρ l'Pléa [ἢ Μήτηρ Ἑστία Avion". καλε[ϊτ]αι γὰ[] / xai Δηιὼ ὅτι eömilwIIm ἐν τὴι μείξει (Spalte 22, 7-13): vgl. noch Spalte 17.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

34

im Fall des Papyrus von Derveni hingegen muss man sich zum Verständnis an die komplexe Theorie der Allegorese wenden.” Wegen der Bezichung zwischen dem Dichter und der Gottheit kennt Orpheus wie Homer und Hesiod (die andcren „heiligen“ Dichter der Griechen) die Wahrheit zu jedem Aspekt des menschlichen Lebens, der Welt und ihrer Entwicklungsphasen. Laut der Allegorese ist nun der Dichter in der Lage, den Menschen die Wahrheit über die Welt zu vermitteln; dies aber geschieht nicht auf anschauliche Weise, sondern die Offenbarung creignet sich in ánigmatischer, verschlüsselter Form, dic nur Einge-

wcihten verstündlich ist." Der Deuter des Papyrus von Derveni, der das orphische Gedicht als cine Erzählung über „wichtige Dinge in Rätseln“ beschreibt," bietet dafür in seinem Kommentar eine theoretische Erklärung an. Da cs sich um cine offenbarte Wahrheit handelt, will der Dichter nicht, dass sic von uneingeweihten Ohren venommen wird, woraus die Notwendigkeit der rätselhaften Ausdrucksform des Textes und die ihr darauf folgende Auslegungstätigkeit resultiert." Orpheus hätte also eine wahre und wissenschaftliche Beschreibung der Mechanismen, die die Entstehung und das Leben des Universums regeln, in die Gestalt eines theogonischen Gedichts gehüllt. Für die Allegorese ist das Gedicht cine Erzählung,

in der die Götter und die Heroen dazu verwendet

werden, die

W^

n » . Doa ? — Zu ciner umfassenden Behandlung des Phünomens der Allegorese in der griechischen Literatur siche Tate 1927, 1930, 1934: Richardson 1975; Pépin 19766; Svenbro 1976; Most 1986; Cancik-Lindemaier und Sigel 1996. Zum Gebrauch dieser Interpretationsmethode im Papyrus von Derveni siehe Burkert 1968; 1970; Rusten 1985; Burkert 1986; Henry 1986; Laks 1997; Most 1997. Speziell zum Gebrauch der Allegorese bei den Pythagoreern siehe Delatte 1915; Détienne 1962. Bezüglich der allegorischen Deutung der homerischen Texte siche Wehrli 1928 und Buffiére 1956. ° _ Sehr nüchtern beschreibt der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni die sprachlich-literarische Auffassung, die seiner Deutungsarbeit zugrunde liegt: aeri δὲ ξ νη τις ἡ] πόησις / [κ]αὶ ἀνϑρώίποις) αἰνι γμ]ατώδης (Spalte 7, 4-5); ὅτι δ᾽ “ἐν χείρϊεσσιν 8AaB]ev" ἠινίζετο / wonele τ]άλλα τὰ πίοὶν μὲν ἄδηλα φαι)νόμεν[α. ἀλλ]ὰ / [β]βαιότατα νοηϑ]έντα. (Spalte 9, 10-12); ὅτι μὲν πᾶσαν τὴν πόησιν περὶ τῶν πραγμάτων / αἰνίζεται κα]ϑ᾽ ἔπος ἕκαστον ἀνάγκη λέγειν (Spalte 13, 5-6). Das Verb αἰνίττεσθαι ist der grundlegende Begriff, auf dem die Allegorese beruht. Wenn man voraussetzt, dass der Dichter αἰνίττεται. ist die Dekodierung und die Deutung des poetischen Texts notwendig. Zum speziellen Gebrauch dieses

Verbs

zusammen

mit

dem

Wort

αἵνιγμα

siche

Theuet.

19469,

Lys.

214d4,

Alc.

1

147b7; dazu siehe Richardson 1975. 67; Butfiére 1956, 48-51. 9 LL Jxeji [Ὀρφεὺ]ς aurlölg / läleier' αἰν[γμα]τα oux ἤϑελε λέγειν. [ἐν aivliruaolılv δὲ /

{μεγ]άλα (Spalte 7, 5-7). * — Diese Auffassung der Textdeutung gehört zu einer weiter gefassten Konzeption, dic die Bezichung zwischen Mensch und Gottheit in der griechischen Kultur betrifft. Jeden Ausdruck des Göttlichen, wie Träume, Prophezeiungen und Dichtungen, kann man nicht direkt verstchen, sondern er muss gedeutet werden.

34

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

Wahrheit in versteckter Weise kundzugeben. Die Theogonie von Orpheus wird daher in eine Kosmogonie umgedeutet." Gerade durch den Benennungsakt, auf den der Dichter seine Offenbarung stützt, wird die rátselhafte Form des Textes verursacht. Dem allegorischen Deuter des Papyrus von Derveni zufolge stellt Orpheus bei der Abfassung seines Gedichtes eine Reihe von Entsprechungen zwischen den Hauptfiguren des Mythos und den Grundelementen der Welt auf. Jedes Grundprinzip des Universums, jede Phase seiner Entwicklung entspricht einer Figur oder ciner Episode der dichterischen Erzáhlung. Als der Deuter bei der Auslegung des Gedichts an die Stelle kommt, an der die Figur von Moira erscheint, kann er behaupten, dass Orpheus dem crzcugenden und lenkenden Prinzip des Universums, dem πνεῦμα. den Namen „Moira“ gegeben hat." So denkt der Deuter aufgrund der Einführung ciner ncuen Figur in der Erzühlung des Dichters an cine neue Phase in der Entwicklung der Welt. Die Funktion der Wortuntersuchung Die Berührungspunkte zwischen dem Kratylos und dem Papyrus von Derveni beschrünken sich aber nicht nur auf die Analogie zwischen der Figur des Nomothetes und der Rolle des Orpheus als Inhaber der Wahrheit und als Namensgeber. Das auffälligste Merkmal beim Vergleich des Papyrus von Derveni mit

dem Kratylos ist die Anwendung der Wortanalyse als Auslegungsmethode - olt auch von den Interpreten als „Etymologie“ bezeichnet —, die im Kratylos als Beweismittel

für

die

Richtigkeit

der

Namensgebung

dient."

Durch

das

** — Die Allegorese setzt eine diskursive Ebene voraus, die in linguistischer Terminologie als figurativ bezeichnet werden könnte und unter der sich eine tieferliegende Ebene verbirgt, die das Statut der Wahrheit besitzt und in der Lage ist, die Struktur der Welt zu erfassen und darzustellen. Die allegorische Deutung wird zum Mechanismus, der den Text von einer Ebene zur anderen führt. Um

diese Vorgehensweise

zu erklären, vergleicht

Most (1997,

122) sic mit

einer halbdurchlässigen Membrane, durch die einige gedankliche Substanzen mit Hilfe der Osmose von einer Erzühlebene in die andere dringen. Zu den beiden Zeichensystemen, die die allegorische Deutung voraussetzt, siehe Cancik- Lindemaier und Sigel 1996.

1

Das Zitat (Spalte 18, 2-3) befindet sich auf S. 32, Anm. 38.

"5 __ Die Anwendung Sokrates’ Arbeit über stündnis verursachen: Etymologien im Sinne dass Etymologie"

des sprachwissenschaftlichen Fachausdrucks „Etymologie“, um auf die Sprache hinzuweisen, kann bei der Lektüre des Dialogs UnverEinerseits ist offensichtlich, dass es sich im Krarylos nicht um echte der modernen Sprachwissenschaft handelt. Dazu kommt die Tatsache.

als Fachwort

die vielfältigen Verfahren ausklammert, die Sokrates bei der

Wortuntersuchung benutzt. Siche zu diesem Punkt die umfassenden Überlegungen Baxters 1992, 57-62). * _ Unter modernem wissenschaftlichen Gesichtspunkt schreibt Genette (1972, 1030) dazu sehr einleuchtend: „On voit done que les étymologies" socratiques consistent en des manipulations lexicales assez diverses dans leur procédé, que la description la plus réductrice

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

AS

Zurückgreifen auf dieses Deutungsverfahren vermag Sokrates Hermogenes, der nicht ganz von der theoretischen Ausführung der Rolle des Nomothetes überzeugt ist, cinc praktische, konkrete Vorführung dessen darzubicten, was unter „naturgemäßer Richtigkeit der Worte" verstanden werden soll." Ab hier wird die Theoric des Nomothetes auf die Probe gestellt; dabei nimmt Sokrates mittels der Wortanalyse dic Rolle des Nachprüfers der Arbeit des Nomothetes an und gibt dadurch der zuvor erwähnten Figur des ἐπιστάτης Gestalt." Im Papyrus von Derveni wird cbenfalls die Wortuntersuchung als Auslegungsmethode angewandt. Wie bereits erwähnt, hat nach der literarischen Theorie der Allegorese Orpheus mit seinem Gedicht über die Götter eine Erzählung über die Welt und ihre Entwicklung auf rätselhafte Form vorgelegt. Deshalb sieht cs der allegorische Deuter als seine Aufgabe an, solche Rätsel im Text zu lósen und ihre verborgene Bedeutung, dic ὑπόνοια. ans Licht zu bringen." Die konkrete Auslegungsarbeit besteht in einer minuziósen Textanalysc, in der der Deuter zahlreiche Entsprechungen zwischen den Episoden der Thcogonie und den Phasen der Weltentwicklung erstellt. Zur Rechtfertigung dieser ne peut ramener à moins de deux classes: analyse et paronymic. Ce n'est donc pas par là qu'on peut en rendre compte. En revanche, un trait leur est commun à toutes, quels que soient les moyens mis en oeuvre - trait commun qui suffit à justifier leur présence dans un dialogue sur la ,justesse" des noms: c'est leur fonction de motivation. L'emploi de ce terme exige ici unc explication, ou du moins une précision: ordinairement, quand on parle de motivation du signe, que ce soit, comme Saussure, pour la nier, ou, comme Jespersen ou Sapir, pour l'affirmer (füt-ce partiellement), on pense à une relation directe entre signifié et signifiant, de type onomatopéique, comme dans cocorico ou patatras. De toute évidence, il n'y a rien de tel dans les étymologies socratiques. Mais on peut aussi envisager une motivation indirecte, dont les „motivations relatives" selon Saussure (dix-neuf, poir-ier) ne sont qu'un cas particulier. Comme on l'a toujours remarqué, il n'y a là, bien sûr, qu'un déplacement de 1" arbitraire”, puisque, si dix-neuf est motivé" par son analyse en dix + neuf, ses deux composants restent sans relation naturelle avec leurs signifiés respectifs; et l'on en dira évidemment autant d'une analyse telle qu' alerheia = ale + théia". — Nachdem Sokrates die Sprachtheorie des Nomothetes dargestellt hit, erwidert Hermogenes: iG μέντοι oU ῥᾷδιόν ἐστιν οὕτως ἐξαίφνης πεισϑῆναι. ἀλλὰ δοκῶ μοι ὧδε ἂν μάλλον πείϑεσθαι. ei μοι δείξειας ἥντινα φὴς εἶναι τὴν φύσει ὀρϑότητα ὀνόματος (Crat. 391a1-3). Der lange Teil des Dialogs, der an der Wortanalyse gewidmet ist, ist also als eine ἀπόδειξις zu betrachten, 3* Lo vouoSérov δέ γε. ὡς ἔοικε. ὄνομα. ἐπιστάτην ἔχοντος διαλεκτικὸν ἄνδρα, εἰ μέλλει καλῶς ὀνόματα ϑήσεσϑαι (Crat. 39045-7). Der ἐπιστάτης - hier ist der Dialektiker gemeint ist derjenige, welcher imstande ist, zu beurteilen, ob die Worte richtig gebildet wurden.

*9 — Laut Plutarch (de audiendis poetis 1904) ist ὑπόνοια der antike Begriff für jene Art von Interpretation, die später als ἀλληγορία bezeichnet wurde.

Das Wort

ὑπόνοια besitzt eine

innere Doppeldeutigkeit, weil sie sowohl den verborgenen Sinn bezeichnet, den der Dichter in

sein Werk einfügt, als auch das Ergebnis solcher interpretativen Arbeit, die diesen Sinn deutlich machen soll; dazu siehe Xen. Symp. 3.6. Plat. Resp. 11, 378d6-7 und Buffiére 1956, 45-48; Pépin. 1976%, 85-92; Richardson 1975, 65-67.

36

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

durchgehenden Übersetzungsarbeit, die den Text von einer Erzählebene auf die andere bringt, wendet der Deuter unterschiedliche Strategien an, unter denen dic Wortuntersuchung cine wichtige Rolle spielt. Um beispielsweise zu bewcisen, dass Orpheus durch den Namen von Moira das grundlegende und lenkende Prinzip des Universums bezeichnen wollte, bezieht sich der allegorische Deuter auf zwei Redewendungen, die sich beide um die Moira drehen: ,Moioav ἐπικλῶσαι |...] σφίσιν" υπὰ, ἔσεσϑαι ταῦϑ᾽ ἅσσα Μοῖρα ἐπέκλωσεν" (Spalte 18, 3-5). Die Ienkende Rolle, die Moira in Bezug auf das Schicksal der Menschen einnimmt, ermöglicht ihre Identifizierung mit dem πνεῦμα, dem kosmischen Führungsprinzip. Beide idiomatischen Ausdrücke werden als Beweis eingeführt, weil sic in ihrer versteinerten Form etwas von der ursprünglichen Bedeutung der Sprache bewahrt haben und deshalb für die Richtigkeit der Identifizierung bür-

gen.“ Im Fall einer anderen Gottheit - Kronos — wird die Beziehung zwischen dem Namen des Gottes und seiner kosmogonischen Funktion durch eine Erklärung begründet, die noch stärker an cine echte etymologische Ableitung erinnert. In diesem Fall behauptet der Deuter, dass Orpheus mit dem Namen Kronos (Κρόνος) „den Intellekt, der die Dinge gegeneinander stößt (xoovovra, τὸν Νοῦν πρὸς ἄλληλα! Κρόνον [sc. Ὀρφεὺς] ὀνομάσας. Spalte 14, 7) bezeichnet hat." Die Erklärung des Namens Κρόνος durch κρούειν wird von der Allegorese als Begründung angeschen, weshalb der Dichter bei der Namensgebung für cine Gouheit diese bestimmte Wahl getroffen hat. Die lautliche Nühe zwischen dem Na-

men des Gottes und dem Verb gilt als Beweis für die Richtigkeit der Namensgebung und daher auch der Deutungsarbeit." Die Theorie in den Worten Bei der Suche nach den Ahnlichkciten zwischen dem Papyrus von Derveni und dem Kratylos muss man sich schlicBlich fragen, welche Bedeutung die Wortun°® _ Zu dieser Stelle des Papyrus von Derveni siche den Kommentar zu Hestia, S. 58.

SU _ Schon kurz zuvor wurde auf die Ableitung Κρόνος « κρούειν hingedeutet: τοῦτον σὺν τὸν Κρόνον / qevéaSai φησὶν ἐκ τοῦ "MAiov τῆι Γι. ὅτι αἰτίαν ἔσχε / διὰ τὸν ἥλιον κρούεσϑαι πρὸς ἄλληλα (Spalte 14, 2-4). —

Neben

Μοῖρα

und

Κρόνος findet sich noch

in der Spalte 21

(4-14) die Anwendung

der

Auslegung von Gótternamen, um dic Figur ciner Gottheit in cin Prinzip des Universums oder in cine kosmogonische Phase umzuwandeln; der Abschnitt wird auf S. 32, Anm. 38 zitiert. Dort werden die Namen von Ἀφροδίτη, Πειϑώ und Ἁρμονία durch die Namensanalyse als die Ansammlung («ἀφροδισιάζειν und «πείϑειν und die harmonische («ἀρμόττειν) Zusammensetzung der Partikel gedeutet. Etwas Ähnliches kommt auch im Fall von Γῆ. Μήτηρ. Ῥέα. "en und Δηιώ (Spalte 22, 7-13) vor. Dieser Abschnitt wurde auf S. 32, Anm. 38 zitiert. Die Wortuntersuchung

im Papyrus

von

Derveni

wird auch

bei der Erklürung

von

Elementen angedeutet, die keine Göttheiten sind. Siche dazu ἄδυτον, das in &- und -δυτον zerlegt wird und die Bedeutung von οὐ δύνει (Spalte 11, 2-3) übernimmt; siehe noch aidoiog Gehrwürdig", Spalte 13, 4-9), der von αἰδοῖα abgeleitet wird.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

37

tersuchung für beide Texte annimmt. Soweit es den Papyrus von Derveni anbelangt, ist es einleuchtend.

Der allegorische Deuter nutzt alle móglichen

Mittel,

unter anderem auch die Wortanalyse, um den verborgenen Sinn - dic ὑπόνοια im orphischen Gedicht ans Licht zu bringen, der sich als cine wissenschaftliche Theorie der Weltentstehung erweist. Hinsichtlich des Kratylos ist das Verständnis erschwert. Laut der Sprachtheorie des Nomothetes stimmt dasjenige, was Sokrates innerhalb der Worte sucht, mit dem εἶδος überein. Dic Richtigkeit des Wortes

hängt demnach

von der Geschicklichkeit des Nomothetes ab, das εἶδος

durch das Sprachmaterial nachzubilden. Deshalb versuchen Sokrates und Hermogenes, durch ihre Wortanalyse zu überprüfen, ob die Sprache der Forderung

der Entsprechung zwischen Wort und Sache nachkommt und einen wahrheitsgetreuen Sinngchalt besitzt. Bei der Lektüre dieses sehr ausgedehnten Teils des Dialogs gewinnt man allerdings desöfteren den Eindruck, dass der Leitgedanke nicht mehr erkennbar bleibt, welchem Sokrates bei der Analyse folgt. Der Leser befindet sich im Strudel der Wortuntersuchungen, die cine unglaubliche Fülle von Lauten und Bildern erwecken. Vom Rausch der Sprache betäubt, verliert man das Ziel der Wortanalyse aus den Augen, cin Effekt, der sicherlich von Platon gewollt ist und der zur Grundtendenz des Dialogs gehört, die die Kraft und die ungeheure

Potentialität der Sprache zur Schau stellen will. Sobald man

sich jedoch intensiv mit den einzelnen Abschnitten des Dialogs auseinandersetzt, kann man mit mehr Klarheit erkennen, was bei der ersten Lektüre noch im Dunkeln blieb. Zuerst werden von Sokrates die Gründe untersucht, die Homer dazu gebracht hätten, den beiden trojanischen Heroen die Namen Hcktor und Astyanax zu ge-

ben." Das Auslegungsmuster erinnert stark an dic Allegorese. Homer, der „heilige" Dichter schlechthin, der die Wahrhcit kennt, gab den Figuren scines Gedichts die Namen nach einer bestimmten Weltanschauung. Das Benennen folgte einem cinfachen Gesetz: die Abstammung

vom Vater zum Sohn.” Sokrates for-

dert, dass dasselbe auch mit den Namen der Menschen passieren soll, d.h. dass jedem der Name aus der Abstammung gegeben werden soll, ebenso wie die Bc-

*5 _ Crat. 392d11-393c7. Im vorhergehenden Abschnitt (39142-39263) setzt sich Sokrates mit den Stellen von Homer auseinander, in denen behauptet wird, dass die Götter und die Menschen unterschiedliche Worte für dieselben Dinge benutzen. Nachdem die Fülle von dem Fluss Σκάμανδρος. der von den Gütter Ξάνϑος genannt wird, von dem Vogel χαλκίς / κύμινδις oder von Βατίεια / Μυρίνη dargestellt worden sind, lässt Sokrates davon ab. weil die Untersuchung der Gründe, weshalb die von den Göttern verwendeten Worte besser als die anderen wären, für seine und Hermogenes" Kräfte zu schwierig ist, und deshalb beschließt er. sich Themen — zuzuwenden, die zugänglicher für den Menschen sind, und zwar der Untersuchung der Namen Ἀστυάναξ und Ἕκτωρ.

— Ein Aufsatz von Rosenmeyer (1998, 52-54) hebt deutlich die Bedeutung des Prinzips der „Filiation” als linguistische Regel im Kratylos hervor.

38

Sprachtheorie und Allegorese im Kratvlos

nennung jedes einzelnen Lebewesens nach seiner Gattung erfolgt.” Das ist der Grund, weshalb Sokrates in den Namen von Hektor und Astyanax die königliche Rolle sicht, dic sich von Generation zu Generation übertragen hat. ^ Der Name Ἀστυάναξ wird implizit in ἄστυ und ἄναξ zerlegt und bekommt so die Bedeutung von „Herrscher der Stadt". Ἕκτωρ hingegen wird einer komplizierteren Untersuchung unterzogen. Das Wort ἕκτωρ wird als Synonym von ἄναξ betrachtet und durch Kontraktion des Ausdrucks κρατεῖ re αὐτοῦ καὶ κέκτηται xai

ἔχει αὐτό erklärt. Die Bedeutung der Namen der trojanischen Heroen wird von der Stammesgeschichte festgelegt: In Bezug auf Hcktor wird ein Vers Homers zitiert, der seine Leistung als Verteidiger und Retter der Stadt prcist."' Auf diesen Seiten setzt sich cine cigentümliche Auffassung der Sprache durch. Die Namen von Hektor und Astyanax werden als Synonyme verstanden, die die Essenz beider Figuren -- König zu scin -- bezcichnen.^" In seiner Analyse zeigt Sokrates, dass dic Namen nach einem Modell gebildet worden sind, das in der modernen Sprachwissenschaft als Semem des Kónigtums - βασιλεύς zu sein/ - bezeichnet werden kónntc. Dieses Element, das nach der Theoric des Nomothetes als εἶδος des Namens definiert wird, wird in das Sprachmatcrial ein-

getaucht und deshalb in unterschiedliche Formen wic Ἕκτωρ und Ἀστυάναξ dckliniert. Spáter fügt Sokrates auch die Bezeichnung Ἀρχόπολις hinzu. Sokrates" Vorgehensweise kann schematisch folgendes dargestellt werden: [βασιλεύει

|

Ἕκτωρ = ἄναξ

|

Ἀστυάναξ (ἄστυ + ἄναξ)

|

Ἀρχέπολις (ἄρχων * πόλις)

(κρατεῖ τε

αὐτοῦ καὶ κέκτηται καὶ ἔχει αὐτό) Ein ähnliches Schema scheint in dem

folgenden Abschnitt wiederzukchren, der

sich mit dem Stamm der Pelopiden beschäftigt.” Auch in diesem Fall folgt die 55 _ Crar. 393b7-c6. δ. Crat. 392b3-393b4. — οἷος γάρ σφιν ἔρυτο πόλιν xai τείχεα μακρά (Hom. /l. XXII, 507 in Crar, 392e1). — Sokrates erklärt das Problem wie folgt: ὥσπερ © νυνδὴ ἐλέγομεν. AoruavaË τε xai Ἕκτωρ οὐδὲν τῶν αὐτῶν γραμμάτων ἔχει πλὴν τοῦ ταῦ. ἀλλ᾽ ὅμως ταὐτὸν σημαίνει (Crat. 394b7-c1); was beide Namen bedeuten, wird gleich im Anschluss gesagt: βασιλέα σημαίνει

sx

(Crat. 394c4). — Crat. 394e8-396c3.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

39

Analyse der männlichen Abstammungslinie von Orestes zu dessen Vater Agamemnon und weiter zu Atreus, Pelops und Tantalos und schließlich zum góttlichen Geschlecht der Triade: Zeus, Kronos und Uranos. In den Namen der Heroen erkennt man einen tierischen, extremen, vom Unglück geprägten Charakter, der in jeder Generation fortlebt. In beiden Abschnitten tritt die Namenserklürung als Modalität auf, die das Schicksal einer Figur zu bestimmen versucht und die in gleicher Weise auch in anderen Erscheinungen des Mythos vorkommt: In der Tragódie^' konzentriert sich dieses Verfahren z.B. auf die Namen

der einzelnen Figuren und in der Ko-

mödie nimmt es die charakteristische Form der sprechenden anspielungsreichen Namen an." Hier angekommen, relativiert Sokrates alles, was er bisher behauptet hatte und er entscheidet sich, die Analyse der Eigennamen aufzugeben; denn solche Namen werden oft wegen der Familiengeschichte gegeben, oder weil sie als ein gutes Omen für den Neugeboren gedacht sind. Sie sind also, was die Realität betrifft, keine zuverlässigen Zeugen. Stattdessen verspricht sich Sokrates von der Untersuchung der Bezeichnungen cwiger und naturgemäßer Gegenstände (τὰ ἀεὶ ὄντα xai πεφυκότα,

Crat. 397b7-8)

mehr Erfolg. Es beginnt ein langer

Abschnitt, der sich wesentlich von den beiden vorhergehenden unterscheidet; Sokrates entdeckt durch die Wortanalyse des gesamten griechischen Grundwortschatzes eine wissenschaftliche Theorie: die Lehre Heraklits über das unaufhörliche FlieBen der Dinge. Die Untersuchung beginnt mit der Auslegung des f^ _ Ὁρέστης bedeutet laut Sokrates: τὸ ϑηριῶδες τῆς φύσεως xai τὸ ἄγριον αὐτοῦ xai τὸ ὀρεινόν (Crat. 394c10- 11). Aus diesem Ausdruck kann man schließen, dass der Name durch das Adjektiv TÓ ὀρεινόν erklän wird. Ἀγαμέμνων wird durch Kontraktion vom Ausdruck ἀγαστὸς κατὰ τὴν ἐπιμονήν (Crat. 395b1) abgeleitet, der seine ungeheure Entschlossenheit bei der Bclagerung von Troia unterstreicht. Schürfer ist der tragische Zug bei der Analyse vom Ἀτρεύς durch die Erinnerung an dic Ermordung von Chrysippos und an das Festmahl für den Bruder Thyestes. Solche Ereignisse werden als ζημιώδη xai ἁτηρὰ πρὸς ἀρετήν (Crat. 395b5) bezeichnet, wobei eine erste Assonanz zwischen dem Adjektiv ἁτηρόν und dem Namen des Heroen festgelegt. wird, der cine Reihe von substantivierten Adjektiven (τὸ areigés, τὸ ἄτρεστον und τὸ ἀτηρόν. Crat. 395c1-2) folgt, die noch deutlicher die Bedeutung des Namens erklären. Πέλοψ wird in πελ- von πέλας und von -of (vel. ὄψις) zerlegt. Hiermit wird ihm die Bedeutung von „demjenigen, der nah sicht” / „demjenigen, der nur die nah liegenden und gegenwärtigen Dinge sieht" (vgl. τὸν rà ἐγγὺς ὁρῶντα. 395c4: τὸ ἐγγὺς μόνον ὁρῶν xai τὸ παραχρῆμα. 395d1-2), so dass er nicht vorhersehen kann, welche verheerenden Folgen seine Taten für das zukünftige Geschlecht haben werden. Für Τάνταλος werden zwei Namenserklärungen vorgelegt. Die erste bezieht sich ausdrücklich auf die erlittene Bestrafung

im Hades (die τανταλεία (395c1), das „Schwanken“ des Steins über seinem Kopf); die zweite

bezeichnet ihn deshalb als ταλάντατος (39562). ^! __ Als Beispiel siehe die Auslegung des Namens von Dionysos bei den Bakchen des Lripides auf S. 139-140. ΟΣ Siehe dazu als Beispiel in der Lysistrate von Aristophanes die Namen Myrrine und Kinesias; siche dazu Henderson 1987, 174.

40

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

Wortes ϑεοί durch Sev," ctwas, was das heraklitische Prinzip des ewigen FlicBens als wesentliche Eigenschaft der Realität ankündigt; während der langen Wortuntersuchung wird explizit darauf hingewiesen, dass dicjenigen, die den Dingen dic Bezeichnung gaben, eine solche Einstellung hatten." Auf den letzten Seiten des Dialogs, wo Sokrates die Notwendigkeit sieht, manche Worte aber-

mals zu untersuchen, weil sie die gegensätzliche Auffassung Heraklits auszudrücken scheinen, wird noch einmal in aller Deutlichkeit betont, das die heraklitische Theorie des ewigen Fliessens die Bildung der Worte inspiriert hat. In diesem Teil des Dialogs liegt der Abschnitt über die Gótternamen, der Gegenstand meiner Untersuchung sein wird. Das Rätsel der Sprache Die Allegorese als Entschlüsslungsmethode der Dichtungssprache zeigt zahlreiche Berührungspunkte mit der Sprachtheorie des | Nomothetes. Die Entschlüsslungsarbeit, dic bald von dem allegorischen Deuter, bald von Sokrates ausgeführt wird, zielt in beiden Fällen darauf ab, unter der oberflächlichen Ebene der Sprache die Wahrheit (cine wissenschaftliche Theorie über die Welt) zu enthüllen. Darüber hinaus wird in beiden Fällen dic Wortanalyse als Mittel eingesetzt,

um

die Richtigkeit

der gegebenen

Bezeichnungen

aufzuzeigen.

Es

gibt jedoch ein Element, das auf den ersten Blick hiermit nicht vergleichbar ist. Die allegorische Methode bietet eine Auffassung der Dichtungssprache, die einc rütselhafte und änigmatische Färbung aufweist. Der Text wird als Rebus betrachtet, unter dem das wahre Wissen verborgen ist; die Allegoresc zielt darauf ab, die versteckte Lehre zu enthüllen. Bei der Theorie des Nomothetes hin-

gegen kommt das Rätsel in der Sprache nicht vor. Der Akt des Benennens wird mit der Geschicklichkeit eines Handwerkers durchgeführt und er soll der Natur der Gegenstände gemäß sein. An der Stelle einer wissenschaftlichen Theorie, die ^! — Crat. 397c4-d7. t. X0. Kai μήν, νὴ τὸν κύνα. δοκῶ Ye μοι οὐ κακῶς μαντεύεσϑαι. 0 xai νυνδὴ ἐνενόησα. ὅτι οἱ πάνν παλαιοὶ ἄνϑρωποι οἱ τιϑέμενοι τὰ ὀνόματα παντὸς μᾶλλον. ὥσπερ καὶ τῶν νῦν οἱ πολλοὶ τῶν σοφῶν ὑπὸ τοῦ πυκνὰ περιστρέφεσϑαι ζητοῦντες ὅπῃ ἔχει τὰ ὄντα εἰλιγγιῶσιν. κἄπειτα αὑτοῖς φαίνεται περιφέρεσϑαι τὰ πράγματα καὶ πάντως φέρεσϑαι' αἰτιῶνται δὴ οὐ τὸ ἕνδον τὸ παρὰ σφίσιν πάϑος αἴτιον εἰναι ταύτης τῆς δόξης. ἀλλὰ αὐτὰ τὰ πράγματα οὕτω πεφυκέναι. οὐδὲν αὐτῶν μόνιμον elvar οὐδὲ βέβαιον. ἀλλὰ ῥεῖν καὶ φέρεσϑαι καὶ μεστὰ εἶναι πάσης φορᾶς καὶ γενέσεως ei. λέγω δὲ ἐννοήσας πρὸς πάντα τὰ νυνδὴ ὀνόματα. EPM. Πῶς δὴ τοῦτο. ὦ Σώκρατες. EU). Οὐ κατενόησας ἴσως τὰ ἄρτι λεγόμενα ὅτι παντάπασιν ὡς φερομένοις τε καὶ ὀέουσι καὶ γιγνομένοις τοῖς πράγμασι τὰ ὀνόματα ἐπίκειται (41 Ib3-c10). — ὡς ToU παντὸς ἰόντος TE καὶ φερομένου xai ῥέοντός φαμεν σημαίνειν ἡμῖν τὴν οὐσίαν τὰ ὀνόματα (436e2-4); siche noch die folgenden Worte von Sokrates: Ἕτι τοίνυν τόδε σκεψώμεϑα. ὅπως μὴ ἡμᾶς τὰ πολλὰ ταῦτα ὀνόματα ἐς ταὐτὸν τείνοντα ἐξαπατᾷ. ei τῷ ὄντι μὲν οἱ ϑέμενοι αὐτὰ διανοηϑέντες γε ἔϑεντο ὡς ἰόντων ἁπάντων ἀεὶ καὶ ῥεόντων - φαίνονται γὰρ ἔμοιγε αὐτοὶ avro) διανοηϑῆναι (439b10-c4).

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

41

unter der Dichtungssprache liegt, tritt der Gedanke von einem εἶδος des Wortes auf, das sich für die Wortbildung als Modell herausstellt. In der Theoric des

Nomothetes gibt es also keinen Raum für das Rätsel; erst, als sich Sokrates anschickt, diese Theorie auf die Probe der Wortanalyse zu stellen, ragt etwas aus der Auseinandersetzung mit dem Sprachmaterial hervor, das auf ein rütsclhaftes Element der Sprache hinweist. Die Wortanalyse enthüllt allmählich, was als „die platonische Theorie über die Rätselhaftigkeit der Sprache" betrachtet werden könnte:

Das Änigma, gegen das Sokrates immer wieder stößt, liegt nicht in ci-

nem Text, wie im Gedicht von Orpheus bei dem Papyrus von Derveni, sondem es ist das Rätsel, das der Sprache immer innewohnt.

Schon am Anfang der Wortuntersuchung in Bezug auf den Namen von Atreus taucht cine Terminologie auf, die stark an die zur Allegorese gehörende Theorie des „verborgenen Sinnes", der ὑπόνοια," erinnert: ἡ οὖν ToU ὀνόματος ἐπωνυμία σμικρὸν παρακλίνει xai ἐπικεκάλυπται. ὥστε μὴ πᾶσι δηλοῦν τὴν φύσιν τοῦ ἀνδρός" τοῖς δ᾽ ἐπαΐουσι περὶ ὀνομάτων ἱκανῶς δηλοῖ ὃ βούλεται ὁ Ἀτρεύς. καὶ γὰρ κατὰ τὸ ἀτειρὲς καὶ κατὰ τὸ ἅτρεστον καὶ κατὰ τὸ ἀτηρὸν πανταχῇ ὀρϑῶς αὐτῷ τὸ ὄνομα κεῖται."

Der Verleihung des Namens Atreus wird cine leichte Veränderung oder Verstellung zugeschrieben, so dass die Bedeutung von Ἀτρεύς nicht für jeden verständlich

ist^

Der

Name

verlangt,

entschlüsselt

zu

werden.

Durch

die

Gegenüberstellung mit drei, in Bezug auf das Lautmaterial ihm sehr nahe stehenden

Adjektiven

(τὸ ἀτειρές, τὸ ἄτρεστον und τὸ ἀτηρόν) wird dic lautliche

Form des Namens erklärt. Diese Namensgebung wird auch auf der Bedeutungsebene gerechtfertigt, indem die verhängnisvollen Wechsclfälle erwähnt werden, die nach dem Mythos über diese Figur erzählt werden." Die Verben παρακλίνειν und ἐπικαλύπτειν weisen auf das Verstellungspotential der Sprache hin, ohne dass aber dafür irgendeine theoretische Begründung gegeben wird." Dies ist eine der Stellen, bei der am offensichtlichsten wird, dass Sokrates von einem Instrumentarium Gebrauch macht, das der Allegorese entlichen ist. % — Siehe S. 35, besonders Anm. 49.

*? __ Crat. 395b5-c2. *

__

Im

Kommentar

Gegenüberstellung

von

zur der

Namensauslegung Mehrheit

der

von

Menschen.

llades die

die

wird

unterstrichen,

Bedeutung

der

dass

Worte.

die nicht

versteht, mit dem Sachkundigen an die Allegorese erinnen. Siehe dazu S. 91-92. Ὁ, 8 Te γὰρ ToU Χρυσίππου αὐτῷ φόνος xai ἃ πρὸς τὸν Θυέστην ὡς ὠμὰ διεπράττετο (Crat. 395b2-3). Ὁ. Die gleiche Terminologie befindet sich im Krarylos auch im Abschnitt über Tantalos: καὶ ἀτεχνῶς ἔοικεν ὥσπερ ἂν εἴ τις βουλόμενος ταλάντατον ὀνομάσαι ἀποκρυπτόμενος ὀνομάσειε καὶ εἴποι ἀντ᾽ ἐκείνου Τάνταλον. τοιοῦτόν τι καὶ τούτῳ τὸ ὄνομα ἔοικεν ἐκπορίσαι ἡ τύχη τῆς φήμης (395el-5), über Thetys: ἀλλὰ μὴν τοῦτό γε ὀλίγου auto λέγει ὅτι πηγῆς ὄνομα ἐπικεκρυμμένον ἐστίν (402c6-7); über Hera: ἴσως δὲ μετεωρολογῶν ὁ νομοϑέτης τὸν ἀέρα Ἥραν ὠνόμασεν ἐπικρνπτόμενος. ϑεὶς τὴν ἀρχὴν ἐπὶ τελευτήν (404c2-4).

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Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

Im Laufe des Dialogs wird durch die Wortuntersuchung mit immer größerer Genauigkeit gezeigt, wo die rätsclhafte, zweideutige und deshalb gefährliche Natur der Sprache liegt. Der jetzige Aspekt der Sprache, der teilweise nicht anschaulich ist und deshalb eine Erklürung fordert, ist nach Sokrates' Meinung nicht auf den ursprünglichen Benennungsakt zurückführbar. Es ist hingegen dem Einfluss der Sprecher zuzuschreiben, die im Verlaufe der Zeit aus ästhetischen Gründen den Worten einen prunkvollen, theatralischen, den Tragódien zugehórigen Aspekt verliehen haben, so dass ihre wahre Bedeutung verschleiert worden

ist." Nicht der schöpferische Urakt des Benennens verursacht das Rätsel in der Sprache, es ist der Sprachgebrauch, der das zweideutige, rätselhafte Element in die Sprache cingeführt hat. In cinem Abschnitt am Ende der Wortuntersuchung wird mit äußerster Deutlichkcit diese Sprachauffassung vorgelegt. Nachdem Sokrates eine sehr kompliziertc und unwahrscheinliche Erklärung des Wortes τέχνη gegeben hat, sagt Hermogenes verwirrt: ,xai μάλα γε γλίσχρως. ὦ Σώκρατες". Das ist das erste Mal, dass Hermogenes über Sokrates’ Namenserklärungen Zweifel aufkommen und er zwingt Sokrates dazu, eine der wichtigsten

Überlegungen

des Krarylos über die Mechanismen

der Sprachent-

wicklung zu liefern: ὦ μακάριε. οὐκ οἷσϑ᾽

ὅτι τὰ πρῶτα

ὀνόματα τεϑέντα κατακέχωσται

ὑπὸ τῶν βουλομένων τραγῳδεῖν αὐτὰ. περιτιϑέντιων γράμματα ἐξαιρούντων εὐστομίας ἕνεκα καὶ πανταχῇ στρεφόντων. καὶ καλλωπισμοῦ καὶ ὑπὸ χοόνου. ἀληϑείας οὐδὲν φροντίζοντες. πολλὰ ἐπὶ τὰ πρῶτα ὀνόματα συνεῖναι ὅτι ποτὲ βούλεται τὸ

ἤδη

καὶ ὑπὸ

Ι.. .] ἀλλὰ τοιαῦτα οἶμαι ποιοῦσιν οἱ τῆς μὲν τὸ δὲ στόμα πλάττοντες. ὥστ᾽ ἐπεμβάλλοντες τελευτῶντες ποιοῦσιν μηδ᾽ ἂν ἕνα ἀνθρώπων ὄνομα. 7"

?! _ Der Drang des Sprechers zum schönen Klang wird im Dialog öfter als Grund für die Veränderung der Sprache genannt: Die Urform φυσέχη wurde in ψυχή umgewandelt, um sie zu verschönern (κομψενόμενον. Crat. 400b3); der im Text

nicht bezeugten,

aber vom

Kontext

geforderten Form *Tlocıdav (vgl. ποσίδεσμος. 40265) wurde ein e hinzugefügt, weil man die (wahrscheinlich lautliche) Würde und Schönheit des Wortes (εὐπρεπείας ἕνεκα, 402c6) erhühen wollte; die Veründerung der Urform Φερέπαφα in der attischen Form Φερρέφαττα wird der Vorliebe zugeschrieben, die die heutigen" Sprecher für den Wortklang zum Nachteil der Wahrheit (εὐστομίαν περὶ πλείονος ποιούμενοι τῆς ἀληϑείας. 40447-8) haben: aus demselben Grund (εὐστομίας ἕνεκα, 412c2) wird die Einfügung vom x in διαϊόν angenommen, so dass δίκαιον herauskommt; aufgrund eines Verbesserungswunsches (ἐπὶ τὸ κάλλιον. 407c2) wird dic Veränderung von '119ovon in ASmvaa vorausgesetzt; anstatt Εἰρόμης wird dem Gott der Name Ἑρμῆς gegeben, um ihn zu verschönern (καλλωπίζοντες. 40863), so wie ἀναστρωπὴ in ἀστραπή geänder wurde, um die Schónhcit des Wortes zu erhöhen (χαλλωπισϑεῖσα. 409c8-9); vgl. βλαβερόν aus βονλαπτεροῦν (καλλωπισϑέν, 41704). ^ — Crat. 414c3. Siche noch dazu die Sokrates" Behauptung: ἀλλὰ μὴ ὡς ἁληϑῶς. τὸ ToU 'Βρμογένους. γλίσχρα ἡ ἡ ὁλκὴ αὕτη τῆς ὁμοιότητος (Crat. 435c4-5).

7! — Crat. 414c3-d3.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

43

Der unaufhórliche Drang des Menschen nach dem schónen Klang in der Sprache hat im Laufc der Zeit cinen allmühlichen Wandel verursacht, welcher die Bcdeutung und die Laut-Gestalt der ursprünglichen Worte „begraben“ und verborgen hat. Dieses Sprachphänomen, das bis zur Einfügung, zur Entfernung oder sogar zur kompletten Verdrehung der Buchstaben in einem Wort führen kann, wird von Sokrates mit dem Verb τραγῳδεῖν bezeichnet, d.h. der Sprache den Stil zu geben, der für die Tragódie charakteristisch ist. Die Sprache hat cine ticfgehende Wandlung erfahren, die die äußerlichen und lautlichen Eigenschaften der Worte auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts betrifft." Der Zeit - ein Begriff, der in der platonischen Philosophie unter Spannung steht - kommt im Hinblick auf die Sprachphänomene cine sehr wichtige Bedcutung zu, weil das Vergehen der Zeit das ist, was die menschliche Sprache von ihrem wahren und referentiellen Sinn-

gehalt entfernt hat. Der moderne Mensch, der im Dialog von Sokrates verkörpen wird, besitzt demnach

eine Sprache, die tragödienhafte Züge

aufweist und die

gleichzeitig ihre ursprüngliche Bindung an die Realität zu Gunsten einer äußerlichen, lautlichen Schönheit verloren hat. Das Thema des tragödienhaften Charakters der Sprache kommt auch im Abschnitt über den Namen Pans vor. Im

Abschluss der Analyse der Gótternamen wird die Sprache der Menschen als „tragisch“ bezeichnet, weil sie im Gegensatz zum göttlichen und wahrhalten λόγος fabelhafte und betrügerische Elemente, die typisch für die Tragödie sind, cinbezicht.” Bei

der

Auslegung

der

Gottheit,

die

den

Götter-Abschnitt

ab-

schließt, findet man eine Theorie über die Sprache, die durch das Tragische gekennzeichnet ist. Die Gegenüberstellung zwischen der modernen Sprache (ἡ véa φωνή), dic bc-

trügerische und der Tragódiensprache ühnliche Züge besitzt und der ursprünglichen, alten Sprache (ἡ παλαιὰ

φωνή). in der die Worte noch ihre wahre Bedeu-

tung aufwcisen, kommt im Dialog ausdrücklich zur Sprache." Hierzu legt Sokrates etwas Vergleichbares mit einem Lautgesetz aus, wobei er die Neigung 74 — Siehe dazu auch: eûorouiav περὶ πλείονος ποιούμενοι τῆς ἁληϑείας (Crat. 404d7-8). ^5. - Siehe den Kommentar zu diesem Abschnitt auf S. 159-160 6 ἡ μὲν νέα φωνὴ ἡμῖν ἡ καλὴ αὕτη καὶ τοὐναντίον περιέτρεψε μηνύειν τὸ δέον xai τὸ ζημιῶδες. ἀφανίζουσα ὅτι νοεῖ. ἡ δὲ παλαιὰ ἀμφότερον δηλοῖ 5 βούλεται τοὔνομα (Crat. 418b3-6). Im gesamten Abschnitt des Krarylos über die Wortuntersuchungen gibt es oftmals Hinweise auf die „alte Sprache". die die wahre Bedeutung der Worte bewahrt: xai ἕν γε τῇ ἀρχαίᾳ τῇ ἡμετέρᾳ φωνῇ αὐτὸ συμβαίνει τὸ ὄνομα Ise ‚Jannoves anstatt δαίμονες] (398b7-8). κατὰ τήν ATTUCV τὴν παλαιὰν φωνήν (39842- 3x αἱ μὲν δὴ diga ἉἈττικιστὶ ὡς τὸ παλαιὸν ῥητέον. εἴπερ βούλει τὸ εἰκὸς εἰδέναι (410c6-7); οὐ γὰρ νόησις τὸ ἀρχαῖον ἐκαλεῖτο. ἀλλ᾽ ἀντὶ τοῦ τα εἰ ἔδει λέγειν δύο. νοέεσιν (41102-3); ἀλλ᾽ οὐκ ἐὰν τῷ ἀρχαίῳ ὀνόματι |sc.Oróv] χοῇ. ὃ πολὺ μᾶλλον εἰκός ἐστιν ὀρϑῶς κεῖσϑαι ἢ τὸ νῦν |sc. δέον] (418e11-419a1): κατὰ τὴν ἀρχαίαν φωνήν (419b2-3); ἐν δίκῃ μὲν ἂν ἕρπνουν καλούμενον. ὑπὸ χρόνον δὲ τερπνὸν παρηγμένον (419d2-4); διὰ ταῦτα ἀπὸ τοῦ ἐσρεῖν ἔσρος τό γε παλαιὸν ἑκαλεῖτο -- τῷ γὰρ οὐ ἀντὶ τοῦ ὦ ἐχρώμεϑα -, νῦν δ᾽ ἕρως κέκληται (4201 - 3): οὐ γὰρ Ara ἐχρώμεϑα ἀλλὰ εἰ τὸ παλαιὸν (426ς4).

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Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

der Sprache nach Formen in Betrachtung zieht, die an die Erhabenheit der Tragódiensprache erinnern: In manchen Worten lässt sich beispielsweise die Änderung des ı zu e oder des à zu ζ beobachten." Diese lautliche Umwandlung bringt eine Wortveránderung mit sich, so dass die ursprüngliche Bedeutung der Worte verloren geht; bloß das alte Wort drückt die Meinung dessen aus, der es bildete. Die Wiederherstellung der verlorenen Wahrheit, bzw. Sokrates’ Auslegungsarbeit bewegt sich also auf einem Gebiet, in dem die Erscheinungen betrügerisch sein kónnen und die Untersuchung keine erkennbare Grenze besitzt: man läuft stándig Gefahr, die Wahrheit nicht zu erreichen und Opfer von Täuschungen zu werden." Auf diese Gefahr machte Sokrates schon bei der ersten Darstellung seiner Unt | thode aufmerksam, als er die Namen Ἕκτωρ und

Ἀστυάναξ analysierte. Es stellt sich also heraus, dass es sich bei den zwei Eigennamen eigentlich um Synonyme handelt, obwohl sie in ihrer lautlichen Form sehr verschieden sind. Obwohl sie nur das + miteinander gemein haben, sind sie gleich, was die Bedeutung angeht, weil beide die Zugehórigkeit von Vater und Sohn zum königlichen Geschlecht aussagen.” Um sich mit einer derartigen Eigentümlichkeit der Sprache auseinanderzusetzten, wendet sich Sokrates zunächst in Form eines Musterbeispiels an die

Buchstaben des Alphabets und ihre Bezeichnungen: οὐδὲν ποικίλον, ἀλλ᾽ ὥσπερ τῶν στοιχείων οἶσϑα ὅτι ὀνόματα λέγομεν ἀλλ᾽ οὐκ αὐτὰ τὰ στοιχεῖα, πλὴν τεττάρων, ToU E καὶ τοῦ 'T καὶ τοῦ O καὶ τοῦ Ω: τοῖς δ᾽ ἄλλοις φωνήεσί τε καὶ ἀφώνοις οἶσϑα ὅτι à περιτιϑέντες ἄλλα γράμματα λόγομεν, ὀνόματα ποιοῦντες" ἀλλ᾽ ἕως ἂν αὐτοῦ δηλουμένην τὴν δύναμιν ἐντιϑῶμεν, ὀρϑῶς ἔχει ἐκεῖνο τὸ ὄνομα καλεῖν ὃ αὐτὸ ἡμῖν δηλώσει. οἷον τὸ Bira: ὁρᾷς ὅτι τοῦ ἧτα καὶ τοῦ ταῦ καὶ τοῦ ἄλφα προστεϑέντων οὐδὲν ἐλύπησεν, ὥστε μὴ οὐχὶ τὴν ἐκείνου τοῦ στοιχείον φύσιν δηλῶσαι ὅλῳ τῷ ὀνόματι où ἐβούλετο ὁ νομοϑέτης" οὕτως ἠπιστήϑη καλῶς ϑέσϑαι τοῖς γράμμασι τὰ ὀνόματα P!

7? _ (rat. 418b8-c3. e, ἡ und C werden im Vergleich zu den Lauten : und à in der ursprünglichen Sprache als μεγαλοπρεπέστερα (418c3) empfunden. Siehe auch im 418d4, dass das Wort ἡμέρα, das Sokrates aus der vermutlichen Urform ἱμόρα abgeleitet hat, als τετραγῳδημένον beschrieben wird. 78 __ Sokrates sagt zu Hermogenes: ole9a. οὖν ὅτι μόνον τοῦτο δηλοῖ τὸ ἀρχαῖον ὄνομα τῆν διάνοιαν τοῦ ϑομόνον (Crat. 418c8-9). ? _ Siehe z.B. Sokrates’ Überlegungen über die Gefahren bei der Wortuntersuchung und die Kriterien, denen man folgen soll: ZN. Ei δ᾽ αὖ τις ῥάσει καὶ ἐντιϑέναι καὶ ἀξαιρεῖν ἅττ᾽ ἂν βούληταί τις εἰς τὰ ὀνόματα, πολλὴ εὐπορία ἔσται καὶ πᾶν ἂν παντί τις ὄνομα πράγματι προσαρμόσειεν. EPM. Ἀληϑῆ λέγεις. Ef. Ἀληϑῆ μέντοι. ἀλλὰ τὸ μέτριον οἶμαι dei υλάττειν καὶ τὸ εἰκὸς σὲ τὸν σοφὸν ἐπιστάτην (Crat. 414d7-e3). — ὥσπερ ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν, Ἁστυάναξ τε καὶ Ἕκτωρ οὐδὲν τῶν αὐτῶν γραμμάτων ἔχει πλὴν τοῦ ταῦ. ἀλλ᾽ ὅμως ταὐτὸν σημαίνει ((γα!. 394b7-c1).

8! — (rat. 393d7-e9.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos Dem

Buchstaben

B, der sowohl

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als graphisches Zeichen, als auch als Laut /b/

verstanden wird, ist die Bezeichnung βῆτα zugeteilt, indem zum B noch ἡ. τ und a hinzugefügt werden. Das, was als cine unpassende Erweiterung oder als eine ungelegene Veränderung des Zeichens erscheinen könnte, becintrüchtigt den Bedeutungsinhalt kaum, da die Bedeutung des Buchstaben B durch ihre Bezeichnung (Bra) auf zutreffende Weisc ausgedrückt wird: Die δύναμις vom „B“ (d.h. der Lautwert des Buchstaben) und die δύναμις von ‚Byra“ (d.h. die Bedeutung der Buchstab g) entsprechen sich vollkommen und bürgen für eine erfolgreiche Aussage. Durch die Ausnutzung der Polysemie des Begriffs δύναμις („Kraft“, „Wert“, Bedeutung") wird die Verbindung zwischen dem

Wort (βῆτα) und der Sache (dem Laut /b/) versichert. Das von Sokrates in

dicsem Fall gewählte Beispiel erreicht sein Ziel, weil es die graphische Dimension der Schrift ausnutzt. In seiner graphischen Gestalt, die mit einem platonischen Ausdruck als εἶδος bezeichnet werden könnte, drückt der Buchstabe B den

für ihn kennzeichnenden lautlichen Gehalt aus, weil das B unmittelbar cin semantischer Gegenstand ist. So wird also das Hinzufügen von anderen, nicht zutreffenden Buchstaben bei der Bildung der Bezeichnung als cine Möglichkeit verstanden, die der Nomothetes ausnützen könnte, die aber in keinem Fall den Bedeutungsgehalt beeinflussen würde. Das Beispiel der Buchstaben diente dazu, den Standpunkt des Nomothetes zu erläutern. Die äußerliche Verschiedenheit bei der Wortbildung kann somit als unproblematisch angeschen werden, ohne dass auf cine wahre und richtige Aussage verzichtet werden muss. Im Anschluss an diese Erläuterung wird der Standpunkt desjenigen besprochen, der sich mit den Worten auseinandersetzi und sie untersucht. Gerade jetzt zeigen sich die Gefahren in aller Deutlichkeit, die sich in der Sprache verbergen. Sokrates greift daher zu cinem neuen Vergleich, der dic Bedeutung der Worte (ἡ τῶν ὀνομάτων δύναμις) mit der Wirkung der Medikamente (ἡ τῶν φαρμάκων δύναμις) gleichsetzt. Wie sich der Arzt durch die unterschiedlichen Farben und Gerüche,

die jeweils dasselbe

Heilmittel

annehmen

kann,

nicht täuschen

lässt

und immer dessen therapeutische Wirkung kennt, so soll sich auch derjenige, der die Bedeutung der Worte (ihre δύναμις) untersucht, nicht erschüttert lassen, wenn von einem Wort ein Buchstabe weggenommen oder hinzugefügt worden ist oder wenn sogar die Bedeutung des Wortes von ganz unterschiedlichen Buchstaben ausgedrückt wird: ποικίλλειν δὲ ἕξεστι ταῖς σνλλαβαῖς. ὥστε δόξαι ἂν τῷ ἰδιωτικῶς ἔχοντι ἕτερα εἶναι ἀλλήλων τὰ αὐτὰ ὄντα" ὥσπερ ἡμῖν τὰ τῶν ἰατρῶν φάρμακα χοώμασιν καὶ ὀσμαῖς πεποικιλμένα ἄλλα φαίνεται τὰ αὐτὰ ὄντα. τῷ δέ γε

ἰατρῷ. ἅτε τὴν δύναμιν τῶν φαρμάκων σκοπουμένῳ. τὰ αὐτὰ φαίνεται. καὶ οὐκ ἐκπλήττεται ὑὑπὸ τῶν προσόντων. οὕτω δὲ ἴσως καὶ ὁ ἐπιστάμενος πεοὶ ὀνομάτων τὴν δύναμιν αὐτῶν σκοπεῖ, καὶ οὐκ ἐκπλήττεται ei τι πρόσκειται

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Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos γράμμα ἢ μετάκειται ἢ ἀφήρηται. ἢ καὶ ἐν ἄλλοις παντάπασιν γράμμασίν ἐστιν ἡ τοῦ ὀνόματος δύναμις."

Durch diesen Vergleich stellt Sokrates die Sprache also als cin Gebiet dar, für das man Sachkenntnis besitzen muss. Derjenige, der eine Wortuntersuchung vornimmt, láuft Gefahr, vom äuBerlichen Aspekt der Worte abgclenkt zu werden und dadurch ihren wahren Sinn zu verkennen. Dieses Bild, das dic Worte mit den φάρμακα der Medizin vergleicht, verleiht der Sprache eine zweideutige unq unbeständige

Eigenschaft, so dass die Worte jeweils die Funktion

eines thera,

peutischen Heilmittels oder eines todbringenden Giftes übernehmen kónnen."*

Die sprachliche δύναμις ist als cine Weiterentwicklung des Grundprinzips der Theorie des Nomothetes anzuschen, das am Anfang des Dialogs als εἶδος des Wortes bezeichnet wurde." Es handelt sich hier um cine theoretische Differenzierung, dic für die Sprachtheorie im Kratylos grundlegend und not. wendig ist; ohne sie wäre Sokrates’ Wortanalyse nicht möglich. Das εἶδος des Wortes,

das von

Nomothetes

postuliert

wird,

ist cine

Entität, die sowohl

die

Gestalt als auch den Inhalt eines Wortes in sich birgt, und dic cs erlaubt, sich den Benennungsakt als den Moment vorzustellen, in dem der Handwerker das Modell des Wortes in seinen lautlichen Gehalt umsetzt. Nach dieser Theorie ist dic äußere Form und die Funktion des Wortes (der Signifikant und das Signifi. kat) ein einziges Wesen, das jeweils bei den verschiedenen Sprachgruppen in ei. nen eigenen Sprachstoff (das entsprechende phonetische System jeder Sprache) geformt

wurde."

Bei

der

Wortanalyse

muss

die

Anfangsthcorie

in

diesem

#2 _ Crat. 394a5-b7. ** .— Siehe dazu Derrida (1968), der seine Aufmerksamkeit platonischen

Gedankenwelt,

das das

Wort

als φάρμακον

speziell auf das Thema

darstellt,

richtet,

und

auf all

der seine

philosophischen Verflechtungen hingewiesen hat. — Bei der Unterscheidung zwischen einem ,.nom-paradigme" und einem ..nom-sémeion" innerhalb der im Kratylos dargelegten Sprachtheorie scheint Monique Canto (1987) cine Klassifizierung vorzuschlagen, die sich von der von mir benutzten (εἶδος und δύναμις des Wortes) kaum unterscheidet. Von dem Satz xai κατὰ γράμματα xai κατὰ συλλαβὰς ἑκάστῳ τῶν ὄντων σημεῖόν τε καὶ ὄνομα ποιῶν ὁ νομοϑέτης (Crat. 427c7-8: siehe auch Crat. 432eS43322) angeregt, behauptet Canto (1987, 22): „le semeion doit contenir l'élément distinctif, le

type ou nipos, qui caractérise l'objet que ce mot désigne et le distingue des autres, ce qui réunit dans le sémefon à la fois le caractère éidétique de l'être intelligible et l'iconicité du sensible". Sie (1987, 24) führt ihre Überlegung weiter mit den Worten: „Les difficultés qui marquent la définition du sémeion sont issues de la tentative d'articuler l'aspect éidétique οἱ l'aspect sensible du nom et de faire d'une telle articulation un nom qui en effet soit opératoire et puisse remplir les fonctions du nom-instrument". Cantos. Ansatz stimmt insoweit mit meinem überein, denn auch sie (987, 24) sicht in dem ,.nom-sémeion" ein Element der Unsicherheit bei der sprachlichen Kommunikation: „Le sémeion permet de comprendre comment le langage n'est pas seulement un genre de l'être, mais peut aussi jouer le róle d'une méchané, d'une machinerie qui produit les effets du discours, les images ct les apparences". *$ — So wird der Hinweis auf eine einzige „Richtigkeit" der Worte für alle Sprachen gerechtfertigt. Siche Crat. 383a4-b2 (zitiert S. 24 bei Amn. 4), und Crar. 3908-9.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos wesentlichen

47

Punkt geändert werden, so dass Sokrates die Verschiedenheit der

Worte in verschiedenen Sprachen, in der Sprache selbst und in Bezug. auf dic Ursprache

begründen

kann. Der Begriff der sprachlichen δύναμις besiegelt im-

plizit die Dichotomie zwischen dem graphisch-lautlichen Aspekt des Wortes und seiner Bedeutung, die cine Trennung der Beziehung zwischen Wort und Sache herbeiführt. Er führt unvermeidlich ein Element der Unsicherheit und Gefahr in das Gebiet der sprachlichen Kommunikation cin.

Die Widerlegung Kratylos’ sprachtheoretischen Standpunkts Im ersten Teil des Dialogs trágt Sokrates die Theorie des Nomothetes im Namen

von Kratylos’ Sprachauffassung vor, die sich auf eine referentielle und natürliche Beziehung zwischen Wort und Sache gründet. Dabei verwendet er aber eine Fülle von Themen und Bildern, die zu den typischen platonischen Gedankengüngen gehören. Diesem Teil folgt cine sehr ausgedehnte Analyse des Grundwortschatzes der griechischen Sprache, die sich als eine praktische Vorführung dieser Theorie erweist. Im Laufe dieser Wortanalyse wandeln sich jedoch die theoretischen Richtlinien allmählich, so dass der anfängliche Ansatz graduell korrigiert wurde; die geforderte Übereinstimmung zwischen Wort und Sache wird in Frage gestellt, so dass sogar eine Theorie der Rütselhaftigkcit bis zu ciner des Tragischen in der Sprache entwickelt wird, die Raum für Irrtum und

Täuschung schafft. Am

Schluss

des

Dialogs,

als der

Rausch

der betäubenden

und

manchmal

verwirrenden Bilder, Laut-Assonanzen und Gedanl Jungen bei der Wortuntersuchung sein Ende findet, nimmt der Text wieder die typisch dialektische Gestalt eines Gesprächs zwischen Kratylos und Sokrates an. Jetzt wird Kratylos als Gesprächspartner wieder mit einbezogen; die lange Sprachanalyse wurde, wie es heißt, in seinem Namen durchgeführt und Sokrates fragt nun, ob er mit allem einverstanden sei, was bis jetzt besprochen wurde oder ob er etwas Besseres vorzulegen hat. Dem Aufbau des Textes zufolge, könnte man den Eindruck gewinnen, dass nun eine schlichte Umkehrung des Standpunktes vorkommt, mit dem Sokrates an die Sprachphänomene herangeht: An diesem Punkt

übernähme er die Rolle des Konventionalisten, der gegen Kratylos’ Sprachauffassung kämpfi, so wie er vorher gegen Hermogenes'

konventionalistische Posi-

tion lange argumentierte. Der Dialogaulbau ist aber nur bedingt symmetrisch. Der Kratylos besteht nicht aus zwei Teilen (der erste würc im Übrigen viel zu lang), in denen Sokrates abwechselnd, bald mit Hermogenes, bald mit Kratylos #6 __ αὕτη μοι φαίνεται. ὦ Ἑρμόγενες. βούλεσϑαι εἶναι ἡ τῶν ὀνομάτων ὀρϑότης. εἰ μή τι ἄλλο Κρατύλος ὅδε λέγει (Crat. 4274 - 3}; siche noch: ὥστε τούτου γε ἕνεκα ϑαρρῶν λέγε. εἴ τι ἔχεις βέλτιον. ὡς ἐμοῦ ἐνδεξομόνον. εἰ μέντοι ἔχεις τι σὺ κάλλιον τούτων λέγειν. οὐκ ἂν ϑαυμάζοιμι (428a8-b2).

48

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

spricht und immer dic entgegengesetzte Position in Bezug auf die Sprache ein, nimmt. Die Umkchrung der dialogischen Situation dreht sich hier wie zuvor um die Sprachtheorie des Nomothetes und besteht aus ciner kritischen Überprüfung einiger Grundelemente dieser Theorie.” Erstens wird dic Figur des Nomothetey, in seiner Funktion sowohl als Namensbildner (derjenige, der die Namen zu, sammensetzt), als auch als Namensgeber (derjenige, der den Dingen die Namen, gibt) untersucht; zweitens wird das Konzept der sprachlichen ὀρθότης überprüf, und zu guter letzt wird die Auffassung widerlegt, die in den Worten das Wissen über dic Welt enthüllt. Diese Überprüfung wird mit Modalitäten durchgeführt die typisch für αἷς platonische Dialcktik sind, dic aber auch - dies ist der Punkt, der für meine Un.

tersuchung sehr wichtig ist — unter dem Einfluss der Erfahrung stehen, die Sokrates durch die eben erfolgte Wortanalyse gesammelt hat. Vom Standpunk, des dialogischen Aufbaus heißt dies, dass Kratylos zu einer neuen theoretischen Position gezwungen werden soll, indem er genótigt wird Zugestündnisse, zu Gunsten cines neuen Ansatzes zu machen. Zu diesem Zweck verwende Sokrates als Argumentationsmittel den Vergleich zwischen der Kunst des Be. nennens, wie man sie von Nomothetes kennt, und der Malkunst. Sokrates entwickelt die ganze Argumentationsfolge auf der Basis des μίμησις- Begrifls und der vielen Ähnlichkeiten zwischen der sprachlichen und der malerischen Darstel.

lung, so dass der Name sogar als εἰκών bezeichnet wird." Mit Sicherheit ist dies der Wendepunkt der theoretischen Überlegungen zur Sprache im Kratylos. Es is nämlich das Konzept der „sprachlichen Darstellung", dass das naturgemäße ung referentielle Verhältnis zwischen Wort und Sache in Frage stellt und dazu fühn, dass die Sprache sowohl durch einen gewissen Grad von Ungenauigkeit, als

auch durch Konvention gekennzeichnet ist, so dass eine unvermeidliche Tren. nung zwischen Wort und Sache entsteht.

Das erste von Kratylos erzwungene Zugestündnis" betrifft die Figur des No. mothetes als denjenigen, der den Dingen dic richtigen Bezeichnungen gibt und der aus diesem Grund für cine wahrhafte und korrekte Aussage in der Sprache bürgen soll. Das Thema der Bezeichnung der Dinge durch ihre Namen als wesentliche Funktion der Sprache hat sich von Anfang an als theorctischer Spannungspunkt in Kratylos’ Sprachtheorie gezeigt, als die fehlende Entsprechung — Sokrates sagt Kratylos folgende Worte, um zur Überprüfung aufzufordern: δοκεῖ οὖν μοι χρῆναι ἑπανασκέψασϑ αἱ τί καὶ λέγω (Crat. 42802-3); darauf sagt er: dei δή, ὡς ἔοικε. ϑαμὰ μεταστρέφεσϑαι ἐπὶ τὰ προειρημένα. καὶ πειρᾶσϑαι. τὸ ἐκείνου τοῦ ποιητοῦ. βλέπειν “ἅμα πρόσσω καὶ ὀπίσσω" (428d5-8). — Zum ὄνομα-μίμημα siehe: οὐκοῦν καὶ τὸ ὄνομα ὁμολογεῖς μίμημά τι εἶναι τοῦ πράγματος: (Crat. 430a12-b1); und auch 430e10-11; zum ὄνομα-εὐκὼν siche: καλὴ ἡ εἰκὼν ἔσται - τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ὄνομα (Crat. 431d4-5). 9 _ Der Abschnitt (Crat. 42867-43127) endet nämlich mit den folgenden Worten von Kratylos: Ἐϑόλω σοι. ὦ Σώκρατες. συγχωιρῆσαι xai ἔστω οὕτως (Crat. 431u6-7).

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

49

und die Unangemessenheit zwischen dem Namen Hermogenes und sciner Person behauptet wurde.” Jetzt wird dieser Aspekt dank des Rückgriffs auf den Vergleich mit der Malerei wieder aufgenommen. Wic es bei der Malkunst verkehrt sein kann, cin Bild einem ihm nicht entsprechenden Gegenstand zuzuschreiben - wie es beispielsweise beim Portrát einer Frau passieren kann, das cinem Mann zugeschrieben wurde -, so kann dasselbe auch in der Sprache zwischen den Worten und den Dingen geschchen. Die falsche Zuschreibung eines Namens

verursacht

eine

offensichtliche

Trennung

— cine.

Nicht-Übereinstim-

mung - zwischen der Sprache und der Realität, und somit wird Kratylos’ Sprachtheorie in Frage gestellt. Als Sokrates zum zweiten Punkt seiner Überprüfung (zur Figur des Nomothctes als Namensbildner) übergeht, werden dann die aus der praktischen Wortanalyse

gesammelten

Erfahrungen

in der platonischen

Dialektik

systematisch

eingegliedert. Sich an den Vergleich zwischen der Sprach- und der Malkunst haltend, erklärt Sokrates, dass mit den Worten dasselbe geschieht, was bei der Herstellung von Bildern zu beobachten ist: Man kann alle gecigneten Farben und

Formen

verwenden,

einige auslassen

und

hinzufügen, so dass das Ender-

gebnis besser oder schlechter sein kann." In dieser Argumentation von Sokrates, die vorsieht, dass der Nomothetes bei der Bildung der Worte einige Buchstaben beliebig auslassen oder hinzufügen kann, erkennt man eindeutig die Vorgehensweise, die Sokrates bei seiner Wortanalyse zahlreiche Male verwendet hat, um die Worte minuziös zu zerlegen und wiederherzustellen.”” Diesmal wird aber eine eingehende Erklärung dafür gegeben, die auf der Auffassung des Wortes als Abbildung (εἰκών) beruht. Das Wort bezeichnet den Gegenstand, in dem es ihn in gewisser Weise beschreibt; man könnte fast sagen, es ist sein Porträt. Die Funktion des Wortes beschränkt sich aber nicht nur darauf, den Gcgenstand zu kennzeichnen und aufzuzählen, sondem es drückt auch etwas von sciner qualitativen Beschaffenheit aus." Eine derartige Spracheigenschaft schließt unmittelbar einen gewissen Grad von Ungenauigkeit cin. Sowohl bci der Zusammensetzung der Worte wie bei den Abbildungen ist es notwendig, ei” _ Der Text bezieht sich ausdrücklich auf die Nicht-Angemessenheit des Namens Hermogenes: οἷον εἴ τις ἀπαντήσας σοι ἐπὶ ξενίας. λαβόμενος τῆς χειρὸς εἴποι" “Χαῖρε. ὦ ξένε ᾿Αϑηναῖε. ve Σμικρίωνος Ἑρμόγενες." οὗτος λέξειεν ἂν ταῦτα ἢ φαίη ἂν ταῦτα 7) εἴποι ἂν ταῦτα ἢ προσείποι ἂν οὕτω σὲ μὲν οὔ. Ἑρμογένη δὲ τόνδε: ἢ οὐδένα: (Crat. 420ς3-7). Zur Rolle von Hermogenes" Namen bezüglich der Sprachtheorie im Kratylos siehe S. 24-25 und den Kommentar S. 149-152.

PU — Crat. 431c4-8. 9? _ Crat. 431028.

?! — Crat. 432a8-b4. Der Vergleich der Worte mit den Zahlen, d.h. der Vergleich zwischen zwei

verschiedenen

Darstellungsmodalitäten, hat die Absicht

hervorzuheben, dass die Worte

nicht nur den Gegenstand bezeichnen (denotative Sprachfunktion), sondern auch etwas von seiner Beschaffenheit (konnotative Sprachfunktion) ausdrücken.

50

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

nige Elemente dungsmerkmal

des Abgcbildeten auszulassen, um stattdessen das Unterscheides Gegenstandes - den τύπος — hinzuzufügen. Andemfalls

würde man Gefahr laufen, eine in jeder Hinsicht vollkommene Wiedergabe des Originals herzustellen, ganz. so, als ob man in das Abbild des Kratylos alles, was zu ihm gehört, wie z. B. Weichheit, Körpertemperatur, Bewegung, Seele und Verstand einflóBen und somit cin perfektes, nicht vom Original unterscheidbares Duplikat herstellen würde: Nicht Kratylos und seine Abbilung wären das Ergebnis, sondern zwei Kratyloi." Auch in diesem Fail nimmt das Konzept vom τύπος des Wortes durch einen neuen flüchtigen Hinweis auf die Bezeichnungen der Buchstaben" das Denkmodell wieder auf, das — wie bercits gesehen -- am Anfang des Dialogs die theoretische Grundlage für die Wortuntersuchung bildete. Dadurch wird cin Teil der konkreten Erfahrung, die Sokrates wührend seiner Sprachanalyse sammelte, für die Dialcktik wiedergewonnen. So gelingt es Sokrates, Kratylos zum Eingestündnis zu bewegen, dass das Wort keine Offenbarung des Gegenstandes durch Buchstaben und Silben sein kann." Deshalb muss man für dic Worte eine andere ὀρϑότης, ein anderes Gesetz als die perfekte Ähnlichkeit (ὁμοιότης) fin-

den, das die Beziehung zwischen Wort und Sache crklüren soll." Und genau diese Frage nach dem Sprachgesetz, nach der ὀρϑότης in der Sprache ist das nächste von Sokrates behandelte Thema. Bei der Überprüfung des Begriffs der ὀρϑότης der Worte wird dic Lautsymbo-

lik als Beweisverfahren abermals eingeführt. Dafür bedicnt sich Sokrates der Analyse von σκληρότης, in welchem Wort das à vorhanden ist, ein Buchstabe. der sowohl nach Sokrates als auch nach Kratylos die Bedeutung von „Härte“, gut zum Ausdruck bringt. Das Wort enthält aber auch das A, das im Vergleich zum ὁ sein Gegenteil, nämlich λεῖον („das Glatte"), μαλακόν (,das Weiche“) ausdrückt, so dass Kratylos sogar zur Behauptung gelangt, dass es besser wäre, in diesem. Wort anstatt À das ὁ zu setzen." Dennoch beeinträchtigt die Nicl ti g zweier oder mehrerer Laute den Sinngchalt des Wortes nicht für die korrekte. Sprachübertragung. Aus dieser Feststellung geht hervor. N _ móregov Κρατύλος ἂν xai εἰκὼν Κρατύλου τότ᾽ sim τὸ τοιοῦτον. ἢ δύο Κρατύλοι: (Crat. 432c4- 5).

VS ia xai ὄνομα τὸ μὲν εὖ κεῖσϑαι. τὸ δὲ μή. xai μὴ ἀνάγκαζε πάντ᾽ ἔχειν τὰ γράμματα. ἵνα κομιδῇ ἡ τοιοῦτον οἷόνπερ οὗ ὄνομά ἐστιν. ἀλλ᾽ da καὶ τὸ μὴ προσῆκον γεάμμα ἐπιφόρειν. [.. ] xai μηδὲν ἧττον ὀνομάζεσθαι τὸ πρᾶγμα καὶ λέγεσϑαι. ἕως ἂν ὁ τύπος ἑνῇ τοῦ πράγματος περὶ οὐ ἂν ὁ λόγος ἡ. ὥσπερ ἐν τοῖς τῶν στοιχείων ὀνόμασιν. εἰ μέμνησαι ἃ νυνδὴ ἐγὼ

καὶ

Ἑομογένης

ἐλέγομεν

(Crat.

4324} -433:.2).

Sokrates

bezieht

sich

hier

auf

den

vorausgegangen Abschnitt (Crat. 3934d7-09), in dem die Buchstaben als Modell für die Wortuntersuchung verwendet wurden. ^ καὶ μὴ ὁμολόγει δήλωμα συλλαβαῖς καὶ γράμμασι πράγματος ὄνομα εἶναι (433b2-3). 97 — Zum Konzept der ὁμοιότης der Worte siche: 433c1, 434a1-2, 4, 5. b5, 6 (ὁμοιότητα).

95 — Crat, A34c1-d12.

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

SI

dass in der Sprachmitteilung ein gewisser Grad von Konvention zum Sprachverständnis beiträgt, so dass Sokrates das kratyleische Konzept Worte durch die sprachliche συνθήκη ersetzen kann.”

der ὁμοιότης

der

Die letzten Seiten des Dialogs beschäftigen sich mit der Funktion, die das Wort

in der Sprache annimmt.

Kratylos vertritt die These, dass es die Aufgabe

des Wortes ist, zu belehren, so dass man getreu seines Mottos sagen kann: „Wer die Worte kennt, kennt auch die Dinge". Demnach besitzt also das Wort nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern cs enthält auch einen kognitiven Wert, da es von Kratylos als Offenbarung (δήλωμα) beschrieben wird. Auf dicser Basis wollte Sokrates mittels seiner langen Wortuntersuchung beweisen, dass alle Worte die heraklitische Lehre des ewigen Fließens in sich bergen. Jetzt stellt er sich nun Kratylos' Erkenntnistheorie entgegen und weist mit Dringlichkeit auf die Gefahren hin, dic die Worte in sich bergen kónnen: Wir kónnen von

ihnen getäuscht werden." Um sich dieser Argumentation entgegenzusetzen, die

seine Sprachauffassung zu nichte macht, unterstreicht Kratylos die Harmonie, die dem

Sprachsystem

zugrunde

liegt, da alle Worte

in der Sprache dic Lehre

Herakliis über das ewige Fließen ausdrücken." Als Gegenargument bezicht sich Sokrates auf die geometrischen Figuren, die gut gestaltet und harmonisch aussehen, aber auf einer falschen Grundlage beruhen. Das - so argumentiert Sokrates — könnte beim Nomothetes der Fall gewesen sein; er könnte ein harmonisches Sprachsystem gebildet haben, in dem alle Worte dic Lehre Heraklits

ausdrücken, das aber auf der Basis einer falschen, irrtümlichen Weltanschauung beruht.'”

Nachdem

der Standpunkt

des Nomothetes

untersucht wurde, wendet

sich Sokrates dem Wortsystem an sich zu. Mit einer Gegenanalyse, dic viele Worte erneut untersucht, wird gezeigt, dass manche Begriffe cine Theoric ausdrücken, die sich der heraklitischen Lehre entgegenstellt."" Auch in diesem Fall

” __ ἀναγκαῖον ὀρϑότητα

δὲ ἡ xai τῷ

(435c5-7).

Zu

dieser

φορτικῷ Stelle

τούτῳ des

προσχρῆσϑαι.

Dialogs

siche

die

τῇ συνθήκῃ. Worte

Kahns

εἰς ὀνομάτων (1973.

158):

«Socrates has after all made some positive use of the convention-theory. Against Cratylus he has shown that, attractive as the principle of similarity between name and nominatum may be, there must also be some element of convention involved in the sign-relation, since the name is never a perfect likeness of the thing and nevertheless we understand one another (434c-435b; also 432b-d).

10 oc ἂν τὰ ὀνόματα ἐπίστηται. ἐπίστασϑαι καὶ τὰ πράγματα (Crus. 43545-6). — Φέρε δὴ. ἐννοήσωμεν. ὦ Κρατύλε. εἴ τις ζητῶν τὰ πράγματα ἀκολουϑοὶῖ τοῖς ὀνόμασι. σκοπῶν οἷον ἕκαστον βούλεται εἴναι, do! ἐννοεῖς ὅτι οὐ σμικρὸς κίνδυνός ἐστιν ἐξαπατηϑῆναι: (Crat. 436a0- b3). Qo γὰρ ἄν ποτε οὕτω σύμφωνα

ἦν αὐτῷ ἅπαντα

(sc. τὰ ὀνόματα) (Crus. A36c4-5).

— Crat. 436c7-el. M — Crat. 43661-43747. Sokrates behauptet sogar, dass es einen Aufstand der Worte gibt, was ihre Bedeutung anbelangt. Zum Ausdruck ὀνομάτων οὖν στασιασάντων (43842). der die Widersprüchlichkeit in der Wortbedeutung unterstreicht, siehe Loraux 1987.

52

Sprachtheorie und Allegorese im Kratylos

wird bei einer dialektischen Auscinandersetzung dasselbe Verfahren benutzt. das von Sokrates bei der Wortanalyse bereits unzählige Male verwendet wurde. Sokrates’ Sprachauffassung geht allmählich aus dem Text hervor und präzisiert sich während des gesamten Dialogs im Kontrast zu den theoretischen Positionen seiner Gesprächspartner. Obwohl Kratylos und Hermogenes entgegengesetzte Sprachauffassungen vertreten, sind beide jeweils von einer Sprachtheorie überzeugt, die die vollkommene Zuverlässigkeit und Widersp losigkeit in der Sprache behauptet. Ihnen zufolge sind Sprachaussagen immer korrekt und legitim: Für Kratylos werden sie von der Natur selbst bestimmt und sind deshalb verbindlich, für Hermogenes wird die absolute Legitmität der Sprache durch die Übercinkunft und die Gewohnheit des cinzelnen Sprechers garantiert, ohne jegliche Rücksicht auf den bezeichneten Gegenstand. Sokrates akzeptiert keine der beiden Lösungen, daher schafft er für die Sprache einen Raum, in dem die Überprüfbarkeit jeder einzelnen Behauptung und auch ihrer Widerlegung möglich ist. Ihm zufolge ist es notwendig, dem λόγος Raum für Wortspiele, für Irrtümer, für Ränke zu schaffen, so dass zugleich der dialektische Nachweis von falschen und richtigen Aussagen gestattet ist."

WS __

Siehe

hierzu

das

Buch

von

Adolfo

Levi

(1970),

Fehler im sprachlichen Ausdruck platonischen Gedankenguts sieht.

Raum

zu

schaffen

der

in dem

einen

der

Versuch

zentralen

Platons,

dem

Punkte

des

Kommentar zu den Gótternamen «cu. 40042-40845) 400 d 2. πεοὶ δὲ τῶν ϑεῶν ὀνομάτων Der Abschnitt über die Gótternamen stellt eine genau definierte Texteinhcit im langen Abschnitt des Kratylos über die Wortuntersuchungen dar. An dieser Stelle schlägt Hermogenes Sokrates vor, die Gótternamen zu untersuchen; am Ende des Abschnitts schließt Sokrates die lange Analyse mit dem Satz: ἀπαλλαγῶμεν ἐκ τῶν ϑεῶν (Crat. 408d5). Schon Gaiser (1974, 54) erkennt, dass der Abschnitt über die Götter cine abgeschlossenc Einheit im Dialog darstellt, indem er ihn unter der Bezeichnung „400D408D Götternamen der Mythologie" registriert.

d 4-5. κατὰ τίνα ποτὲ ὀρϑότητα αὐτῶν τὰ ὀνόματα κεῖται; Hermogenes schlägt Sokrates vor, die Untersuchung über die , Richtigkeit" (Angemessenheit) der Worte fortzusctzen und dabei dic Namen der Gôtter der Analyse zu unterziehen. Das Wort ὀρϑότης ist der Schlüsselbegriff des ganzen Dialogs und drückt dic Grundvorstellung der Sprachthcorie des Nomothetes (Crur. 386c6-390c5) aus, dic jedes Wort und in diesem Fall die Gótternamen als richtig bezeichnet, wenn die Natur und das Wesen des benannten Gegenstandes durch seine Bezeichnung wiedergegeben werden. Dahinter steckt die Forderung, dass die „Richtigkeit“ und Angemessenheit der Worte erst dann gegeben ist, wenn das Wort mit der bezeichneten Sache in Übereinstimmung steht, d.h. dass es ihr vollkommen entspricht. Dic ὀρϑότης erweist sich also als Gesetz - Sprachgesctz .. das die referentielle Beziehung zwischen Wort und Sache erklären kann. Dic

Bedeutung der ὀρθότης der Worte und besonders der Götternamen gewinnt an Sinn, wenn man sich ein in der griechischen Welt sehr verbreitctes Deutungsverfahren - die Allegorese - vor Augen hält. Hierfür ist vor allem der Papyrus von Derveni ein außerordentliches Zeugnis. Der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni analysiert eine orphische Theogonic, um ihre tiefliegende Bedeutung ans Licht zu bringen. Sein Deutungsverfahren

beruht auf der Vorstellung, dass

der Dichter dank seiner eigentümlichen Bezichung zur Gottheit die Wahrheit bcsitzt und durch sein Gedicht über die Gótter dic Wahrhcit über die Entstehung und dic Entwicklung des Universums ausdrücken wollte. Nach der Meinung des

allegorischen Deuters enthält also dic orphische Theogonie unter der bildlichen Ebene eine Kosmogonic. Es handelt sich um cine Offenbarung über die Struktur und das Leben der Welt, die in einer änigmatischen Form vollzogen wird und die Gestalt einer mythischen Erzählung übernimmt. Der Dichter verfasst sein Gedicht, indem cr den Prinzipien und den Phänomenen der Welt Namen - Gótternamen - gibt, so dass daraus eine Theogonie entsteht. Für die Allegorese wird die Namensfindung zum grundlegenden Akt des Dichtens, ein Akt aber, der änigmatisch bleibt und decodiert werden soll. Natürlich soll der allegorische Deu-

54

Kommentar zu den Götternamen

ter bei seiner Analyse den Weg rückwárts durchschreiten, der zur Entstehung der Theogonie geführt hat und die Gründe erklären, weshalb der Dichter jene Gótternamen gewählt hat und welche Bedeutung sie haben. Zu diesem Zweck bezieht er sich oft auf den Lautgchalt der Sprache. Dic Lautühnlichkeit zwischen Götternamen und Weltprinzip beweist dic Richtigkeit und die Angemessenheit des Gôttemamens in Bezug auf das Weltprinzip, das damit ausgedrückt wird. Obwohl der Begriff ὀρϑότης in der allegorischen Tradition nicht belegt ist, erweist sich die Neb tellung der Allegorese und des Kratylos als sehr hilfreich. Wenn man sich nämlich die Allegorese als Hintergrund bei der Lektürc des Kratylos vor Augen hält, wird vieles klarer. Die Aufforderung von Hermogenes, die „Richtigkeit“ der Götternamen zu prüfen, könnte heißen, dass Sokrates auf das Feld jener eigentümlichen Auslegung gedrängt wird, die die mythischen Figuren in theoretische Begriffe umwandelt.

Er ist angeregt,

Erklä-

rungen über die Götternamen zu geben. d 7. ἕνα μὲν τὸν κάλλιστον τρόπον Als Antwort auf Hermogencs’ Aufforderung, mit denselben Modalitäten (κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον, 400d3) auch dic AnaIysc der Góttemamen

weiter zu führen, legt Sokrates cine Überlegung thcorcti-

schen Charakters vor. Die erste Modalität der Untersuchung, dic als die beste angesehen wird, besteht schlechthin in der Aussage, dass ınan nichts über die Götter weiß, nicht einmal wie sie sich untereinander nennen. Sokrates bleibt jc-

doch cine andere Möglichkeit, eine andere Art und Weise, dic Untersuchung über die Richtigkeit der Götternamen vorzunehmen: die Erforschung der von der religiösen Tradition und den Bräuchen überlieferten Namen. Eine derartige Unterscheidung zwischen den Göttern und ihren Namen enthält in sich auch cine epistemologische Aufteilung zwischen dem Wahrheitsort, an dem die Götter wohnen und dem Bereich, wo ausschließlich die Bräuche und die Meinungen der Menschen zu finden sind. Eine vergleichbare Unterteilung zwischen Góttern / Menschen und Wahrheit / Lüge findet sich im Abschnitt über Pan. 401 a 3-6. ἀλλὰ |sc. σκεψόμεϑα) περὶ τῶν ἀνθρώπων, ἥν ποτέ τινα δόξαν ἔχοντες [sc. οἱ ἄνϑρωποι! ἐτίϑεντο αὐτοῖς |sc. τοῖς Seoig| τὰ ὀνόματα Nach der Erkenntnis, dass über die echten Namen

der Götter keine Aussage

zu machen

ist, weil man sie nicht kennt, beschränkt sich Sokrates darauf, die Ansichten der Menschen zu untersuchen, die den Göttern die Namen gaben. In den Worten von Sokrates erkennt man die Denkstruktur wieder, die auf die Theorie des Nomothctes am Anfang des Dialogs beruht. Dort wurde angenommen, dass es beim Ursprung der Sprache einen Namensgeber gab, der den Dingen den richtigen Namen gab; nun wird das anfängliche Sprachmodell auf die wirkliche Sprache angewandt und dabei bedeutenden Veränderungen unterzogen. Die Bezichung zwischen dem Gegenstand und seinem Namen wird jetzt nicht mehr als naturgemäß angeschen. Der Anspruch, dass die Sache, in dicsem Fall die Götter, mit

Kommentar zu den Gôtternamen

ihrem Namen bestcht nicht Die Sprache senheit wird

SS

eng verbunden ist, wie es die Theorie des Nomothetes verlangt, mehr, da die Menschen die echten Namen der Gôtter nicht kennen. ist cin Produkt des Menschen und ihre Richtigkeit und Angemesdurch die Überlieferung und die Konvention (νόμῳ; vgl. νόμος,

400c1; νενομίσϑαι, 401a1-2) gewährleistet. Auf diese Weise wird der Grundgc-

danke der naturalistischen Sprachthcorie, die an die Möglichkeit glaubt, vom Namen auf die Sache schließen zu können, zerstört und damit auch dic Grundlage jener von Sokrates an dem ganzen griechischen Wortschatz angewandten Wortuntersuchung, die vorgibt, damit die Wahrheit zu enthüllen, denn durch dic

Analyse der Götternamen erfährt man nur die Meinung derjenigen, dic den Góttern ihre Namen gaben.

Hestia, 401b1-d7 40101. ἀφ᾽ Ἑστίας ἀρχώμεϑα

Sokrates’ Untersuchung des Namens

Hestia nimmt ihren Anfang mit der Erwähnung eincs Sprichwortes (ἀφ᾽

von

Ἑστίας

ἄρχεσϑαι), das eine wichtige Rolle für das Verständnis des ganzen Abschnitts spielt. Dank einer geringfügigen semantischen Abweichung, dic die semantische Fülle des Wortcs ἀρχή ausnützt, übernimmt das Sprichwort cine zweifache Bedeutung. Dic verschiedenen Bedeutungen dieses Sprichwortes hat Preuner (1886-1890, 2616-2618) untersucht; ein Verzeichnis der Belege

in der griechi-

schen Literatur geben Leutsch, Schneidewin 1839, I, 14, Anm. 40. Das Sprichwort kann heißen: 1. „Mit dem richtigen, gchôrigen Anfang beginnen“; vgl. Aristoph. Ves. 845-846: ἀλλ᾽ ἵνα / ἀφ᾽ Ἑστίας ἀρχόμενος ἐπιτρίψω τινά. In diesem Fall bekommt es seine Bedeutung aus der Sitte, Opfer und jeden anderen religiösen Akt mit cinem Gebet oder mit cinem Trankopfer an Hestia zu beginnen; vgl. z.B. Hom. Hymn. XXIX, 5-6; Pind. Nem. 11, 6; Sophocl. Chrys. Frg.

658

Nauck;

Aristoph.

Av.

865;

Eurip.

Phaeth.

Frg.

781,

35-37

Nauck.

Selbst der Kratylos gibt ein ausdrückliches Zeugnis von dieser Sitte: τὸ γὰρ πρὸ πάντων ϑεῶν τῇ Ἑστίᾳ πρώτῃ προϑύειν (401d1-2). Oder 2. „Vom Kern / vom Zentrum beginnen", „mit dem wichtigsten Element anfangen". Hiermit wird die Betonung auf Hestia als Herd des Hauses gelegt. Im religiösen Gedankengut der Griechen verkörpert dic Göttin das Zentrum: Sic ist der häusliche Herd jedes griechischen Hauses (ἑστία), sic ist dic Feuerstätte der Stadt (κοινὴ &oria), d.h. dic religiöse Darstellung ihres politischen Zentrums. Zu dieser eigentümlichen Rolle der Göttin in der griechischen Kultur siche Vernant 1963. Belege des Sprichwortes in dieser Bedeutung findet man in Plutarch de communibus notitiis adv. Stoicos 1074c; in Philo Jud. in Flaccum 534 Mangey. Die erste Bezeugung des Sprichwortes mit diesem Sinn befindet sich in der griechischen Literatur gerade in Platon am Anfang des Euthyphron (3a3-8). Don kommentiert Sokrates die Handlung des Meletos, Ankläger in dessen Prozess, ironisch mit den Worten: πλείστων καὶ μεγίστων ἀγαϑῶν αἴτιος τῇ πόλει γενήσεται, ὥς γε TO εἰκὸς συμβῆναι ἐκ τοιαύτης ἀρχῆς ἀρξαμένῳ.

Und Euthyphron erwidert: Βουλοίμην ἄν. ὦ Σώκρατες, ἀλλ᾽ ὀρρωδῶ μὴ τοὐναντίον γένηται" ἀτεχνῶς γάρ μοι δοκεῖ ἀφ᾽ ἑστίας ἄρχεσϑαι κακουργεῖν τὴν πόλιν. ἐπιχειρῶν ἀδικεῖν σέ.

Euthyphron macht ein Wortspicl, das die von Sokrates eben benutzte ctymologische Figur (ἐκ ἀρχῆς ἄρχεσϑαι), durch das Sprichwort ἀφ᾽ Ἑστίας ἄρχεσϑαι ersetzt. Diese Variation erlaubt es ihm, hervorzuheben, dass Melctos’ Anklage

Hestia

57

kein guter Anfang ist -- wie Sokrates ironisch behauptet hatte -, sondern cin schlimmer, weil er das Zentrum der Stadt triffi, nämlich Sokrates. Der Gebrauch des

Sprichwortes

durch

Euthyphron

ruft cine

versteckte

Identifizierung

zwi-

schen Hestia und Sokrates hervor, die ihre gemeinsamen Merkmale in den Vordergrund stellt: Beide repräsentieren das Zentrum und das Fundament der Stadt.

Im Kratylos nimmt das Sprichwort ἀφ᾽ Ἑστίας ἄρχεσϑαι beide oben genannte Bedeutungen an. Es bestimmt dic Rolle der Góttin sowohl als erstes Element ciner Reihe als auch als grundlegendes Element. Vom Standpunkt der Textglicderung rechtfertigt das Sprichwort die Vorrangstellung Hestias innerhalb der göttlichen Genealogie im Kratylos: Im vorangehenden Abschnitt (Crat. 400e1-

40122) kündigte Sokrates an, die von der religiösen Tradition überlieferten Góttemamen untersuchen zu wollen; nun gibt ihm diese an den religiösen Gebräuchen orientierte Redewendung Anlass dazu, cine Analyscanordnung cinzuführen, die mit den religiösen Gewohnheiten (κατὰ τὸν νόμον 401b1-2) übcrcin-

stimmt. Wenn man aber die Bedeutung bedenkt, die das Sprichwort im Euthyphron annimmt, wo Hestia und Sokrates als gründende Elemente der Stadt, als ἀρχαί betrachtet werden, dann wird dic Erklärung des Namens von Hestia im Kratylos auch verständlich, die die Góttin mit der οὐσία, dem grundlegenden Element der Welt, identifiziert. Das Sprichwort ἀφ᾽ Ἑστίας ἄρχεσϑαι kündigt die Übcreinstimmung zwischen der herkómmlichen Figur der Góttin und der in ihrem Namen entdeckten philosophischen Grundlage an: Es unterstreicht den gemeinsamen Wesenszug - ἀρχή zu scin - zwischen Hestia und der οὐσία. Einc eigentümliche

Anwendung

des Sprichwortes

im Kratylos

findet sich bci

Plu-

tarch: δεῖ γὰρ ὥσπερ ἀφ᾽ ἑστίας τῆς τῶν ὅλων οὐσίας ἄρχεσϑαι τὴν ζήτησιν (Plut. de primo frig. 948 b 7-8). Durch diesc Formulierung macht Plutarch die Bezichung zwischen Hestia und der οὐσία deutlich und gibt fast cine Auslegung des Kratylos-Abschnitts. Sokrates’ Zurückgreifen auf ein Sprichwort, um dic Untersuchung von Hestias Namen einzuleiten, lässt sich mit gleichartigen Verfahren in der allcgorischen Deutung vergleichen. Der Gebrauch von Redewendungen, Sprüchen und Sprichwörtern, um eine Figur in einem Gedicht allegorisch zu erklären, ist im Papyrus von Derveni gut bezeugt. Nach dem Autor des Papyrus enthält das Sprichwort etwas von der Ursprache, das die allegorische Deutung wiederzugewinnen versucht. Burkert (1970, 445) erklárt auf beispielhafte Weise diese cigentümliche Sprachauffassung: „Mais leur langage (sc. ‚tous les hommes‘, ‚la multitude", ,nous-mémc") renferme quand méme des traces de l'originaire, méme

si elles sont obscurcies.

Comprendre les mots du poéte, c'est retrouver la vérité de l'étre présente dans le langage". Innerhalb der Allegorese ist cs deshalb legitim, auf herkömmliche Sprechweisen zurückzugreifen, um zur wahren Bedeutung des Gcdichts zu kommen.

58

Hestia

Im Papyrus von Derveni lässt sich der Gebrauch von Sprichwórtern als In, strument der allegorischen Deutung erstmals in den Spalten 18-19 beobachten, Hier meint der allegorische Deuter, dass man

die Gestalt der Moira als Hauch

(τὸ πνεῦμα, Spalte 18, 2) oder als göttliche Intelligenz (ἡ φρόνησις ToU Sob, Spalte 18, 10) zu deuten hat; somit wird die Góttin des Schicksals als mythische Darstellung des rationalen Prinzips ausgelegt, auf das sich dic Ordnung der Welt gründet. Um dic Beziehung zwischen diesen zwei Elementen, zwischen einer Figur des Mythos und einem Weltprinzip zu beweisen, bedient sich der allegori. sche Deuter traditioncller, formelhafter Wendungen

: „Moigav / ἐπικλῶσαι

[.-.]

σφίσιν" (Spalte 18, 3-4) und „EreoIaı ταῦϑ᾽ ἅσσα Μοῖρα / ἐπέκλωσεν" (Spalte 18, 4-5)

., deren

Bedeutung

ihm

zufolge

(Spalte

18, 5-6) den

gewöhnlichen

Menschen nicht bewusst sei. Er hingegen ist befähigt ihre wahre Bedeutung dar. zulegen, da er in die von Orpheus offenbarte Doktrin cingeweiht ist; der Aus. druck „Moira hat gesponnen" mag demnach heißen, dass Moira (d.h. Zeus’ Weisheit), dic im System der von dem allegorischen Deuter vorgenommenen Identifizierungen mit der Luft identifiziert wird, die Dinge der Welt ordnet. Der Text lautet: πάντων γὰρ ὁ ἀὴρ ἐπικρατεῖ τοσοῦτον ὅσον βούλεται. 'Moigay' δ᾽ ᾿ἐπικλῶσαι"

λέγοντες τοῦ Διὸς τὴν φρόνησιν ἐπικυρῶσαι

λέγουσιν τὰ ἐόντα καὶ τὰ γινόμενα καὶ τὰ μέλλοντα, ὅπως χρὴ γενέσϑαι τε xai eivai xali] παύσασϑαι (Spalte 19, 3-7).

Die Umwandlung von der mythischen Sprache in eine wissenschaftliche Be. schreibung der Weltstruktur wird hier durch dic phonctische Nähe der gebrauch. ten Verben sichergestellt. All diese Verben sind aus der Práposition ἐπί im Sinne von „oben“, „von oben“, „in souveräner Weise“ und einem Verb, das mit x be-

ginnt, zusammengesetzt: «(ἀέρα ἐπικρατεῖν", „Moigav ἐπικλῶσαι“", «τὴν φρόνησιν ἐπικνρῶσα!"“.. Ein weiteres Beispiel des Gebrauchs idiomatischer Wendungen im Papyrus von Derveni befindet sich in der Spalte 21. Dic Erscheinung der himmlischen Aphrodite (Ἀφροδίτη Οὐρανία) in der orphischen Theogonie wird als der Augenblick ausgelegt, in dem sich dic Partikcl zusammensetzen, aus denen die Welt besteht. Auch in diesem Fall legt der allegorische Deuter seine Auslegung dar, indem cr den idiomatischen Gebrauch (κατὰ φάτιν, Spalte 21, 8-9) des Ausdrucks ἀφροδισιάζειν als Beweis anführt. Der Autor argumentiert auf folgende Weise:

ἀνὴρ

γυναικὶ μισγόμενος ἀφροδισιάζειν λέγεται κατὰ φάτιν. τῶν γὰρ νῦν ἐόντων μιχϑέντων ἀλλ! ἡ]λοις Ἀφροδίτη ὠνομάσϑη (Spalte 21, 7-10).

Hestia

sy

Hier wird der Beweis durch die Herleitung Ἀφροδίτη < ἀφροδισίζειν unterstützt, die ein moderner Sprach haftler natürlich umgekehrt führen würde. Siche auch

in Spalte 23,

10 den Gebrauch der idiomatischen

Wendung

μεγάλους

ouai“. b 1. ἀφ᾽ Ἑστίας Mit der Untersuchung des Namens von Hestia eröffnet Sokrates die lange Analyse über die Gótternamen, dic wie eine göttliche Genealogie gestaltet wird: Auf Hestia folgen die Ahnen der Gótter Okcanos und Tethys, Kronos und Rhea, später deren Söhne usw. Jedoch gehört die Göttin nicht vollständig zu dieser Genealogie.

Was

ihre Person betrifft, wird keinerlei Abstam-

mung angegeben: Sie nimmt weder die Rolle der Mutter, noch die der Tochter, noch die der Schwester oder der Ehefrau ein. Ihre isolierte Stellung unter den anderen Göttern entspricht ihrer Rolle im Mythos, der schr spärliche Erzählungen über die Göttin bictet. Bei Hesiod (Theog. 454) und bei Pindar (Nem. 11,1) wird kurz auf ihre Abstammung von Kronos und Rhea hingewiesen. Die homerische Hymne an Aphrodite (Hom. Hymn. V, 21-22 und 29-32) liefert cinen wei-

teren Hinweis, indem sie erwähnt, dass die Göttin die Ehe verachtet; stattdessen crhält sie als Geschenk von Zeus dic privilegicrte Rolle als Mittelpunkt des Hauses. Die Hymne an Hestia (Hom. Hymn. XXIX, 13-14) unterstreicht die besondere Bezichung der Göttin zu Hermes. In seinem Kommentar zum Kratylos cr-

klärt Proklos (p. 79 Pasquali) die herausgehobene Stellung der Göttin, indem er einen Vers zitiert, der bisher niemandem zugeschrieben werden konnte: Ileeoßurarnv δὲ ϑεῶν

Ἑστίαν κελαδήσατε, κοῦροι. Eine ähnliche Formulierung

findet sich in der homerischen Hymne an Aphrodite: πᾶσιν δ᾽ ἐν νηοῖσι ϑεῶν τιμάοχός ἐστιν, / xai παρὰ πᾶσι βροτοῖσι ϑεῶν πρέσβειρα τέτυκται (Hom. Hymn. V., 31-32). b 8-9. μετεωρολόγοι τινὲς xai ἀδολέσχαι Der zuvor dargcelegten Arbeitshypothese (400c1-401a6) zufolge, nach der Sokrates dic Ansichten der Menschen, die den Góttern ihre Namen gaben, untersuchen will, wird dic Identität derjenigen preisgegeben, dic den Namen Hestia für die Göttin gewählt haben: Es sind dic μετεωρολόγοι.

Die Bezeichnung μετεωρολόγοι

wird in 401d4

mit dcm

Ausdruck οὗτοι xa9' Ἡράκλειτον (401d4) präzisiert; kurz darauf (402a4) wird sogar Heraklit erwähnt. Siehe dazu auch μετεωρολόγοι in 404c2. Mit der Bezcichnung wurden in der wissenschaftlichen Polemik des 5./4.Jh. die Wissenschaftler versehen, die durch den Entwurf von Kosmogonien versuchten, den Ursprung und den Aufbau der Welt zu erklären. Siche Gorg. Hel.13 (82B11 DK); Eurip. Frg. 913 Nauck; Hippocr. de vet. med. 1, 3 und zum hippokratischen Abschnitt siche der Kommentar von Jouanna (1990, 158, Anm. 4), der dic Polemik in ihren Einzelheiten äußerst klar darlegt. Außerdem wird dieser Ausdruck durch das Wort ἀδολέσχης deliniert, das im Griechischen vorwiegend den ncgativen Sinn von ,Schwátzer", „Plaudertasche“ hat; vgl. Aristoph. Nub. 1485;

60

Hestia

siehe noch ἀδολεσχία in Isocr. adv. Soph. 8, Antid. 262. Das Zusammenbringen dieser beiden Begriffe im KratyAos scheint die Hauptkritik hervorzurufen, die im 5. Jh. an dem hypothetischen Charakter der kosmologischen Erforschungen geübt wurde. Sie wurden nämlich bezichtigt, auf Voraussetzungen und auf uni-

versalen Prinzipien zu beruhen, die sich nicht beweisen licßen, weil sie unsichtbare und unglaubliche Dinge als Gegenstand ihrer Spekulationen hatten. Siche besonders Gorg. Hel.13 (82B11 DK). Bei Platon kommen die beiden Begriffe μετεωρολόγοι und ἀδολέσχαι zusammen im Phaidros (269c4-270a8) vor, in welchem Sokrates mit äußerster Ironie Anaxagoras wegen genau derselben Vermischung von Rhetorik und Wissenschaft angreift; in der Politeia (VI, 488c348922) und im Politikos (299b2-8) werden sie hingegen mit polemischer Absicht cingesetzt, um die Gefahr der Verwechslung des wahren Philosophen mit einem μετεωροσκόπος Te xai ἀδολέσχης (Politeia) oder mit einem μετεωρολόγος, ἀδολέσχης Tig σοφιστής (Politikos) abzuwenden. Die Forschungsliteratur hat darin cine Anspiclung auf das Schicksal des historischen Sokrates

schungen

geschen,

der beschuldigt

beschäftigt

Aristoph. Nub. 228,

und 188;

wurde,

sich

die traditioncllen Plat. Apol.

18b7-8,

mit

Götter

kosmologischen

ersetzt

zu

Nachfor-

haben;

19b4-5, 26d1-c4. Zum

vgl.

Abschnitt

des Politikos siehe z.B. den Kommentar von Campbell (1867, 153, Anm. 6). c 1. τὰ ξενικὰ ὀνόματα Dies ist ciner von vielen im Dialog enthaltenen Bezügen zur Vielfültigkcit der griechischen Dialekte; siche beispielsweise bei 434c7-8 die Anspiclung auf eine Besonderheit des euböischen Dialekts, der am Ende des Wortes anstatt Sigma das Rho (σκληρότης )σκληροτήρ) setzt. Im Fall von Hestia ist es gerade die Untersuchung von zwei nicht-attischen Formen des Wortes οὐσία, der áolischen ἐσσία und der dorischen weia, die Sokrates die Möglichkeit gibt, seine Analyse zu glicdern und somit zwei verschiedene, gegensátzliche Erklárungen ihres Namens zu geben. c 4-5. κατὰ τὸ ὅτερον der modernen Linguistik abstrakten Nomens auf trachtet, ebenso wie das hat. Siehe Chantraine

ὄνομα τούτων Damit wird auf ἐσσία angespielt. Von wird das äolisch-dorische Wort ἐσσία als Bildung eines -ia aus dem femininen Partizip des Verbs „Sein“ bcattische Wort οὐσία sich aus dem Partizip οὖσα gebildet

1933,

117;

1968, 840; Frisk, Il, 1970, 449; Buck

19732,

129. Der Ausdruck ἐσσία findet sich neben dieser Stelle im Kratylos nur noch im Philolaus ap. Stob. I, prooem. coroll.,

3 (Wachsmuth-Heuse).

Durch die Anwendung der äolischen Form ἐσσία scheint Sokrates, die lautliche Verschiedenheit zwischen dem attischen Wort οὐσία und dem Namen der Göttin (Ἑστία) umgehen zu wollen. Die Namenserklürung Ἑστία < ἐσσία. dic später noch von einer Zwischenstufe (Ἑστία < ἐστί < ἐσσία) vervollständigt wird, erscheint so plausibler.

Hestia

6l

Dic Anlautsaspiration des Namens der Góttin scheint kein Problem für Sokrates darzustellen, obwohl sie weder in οὐσία noch in ἐσσία erscheint. Im gesamten Kratylos erweist sich das Vorhandensein oder das Nichtvorhandensein der Anlautsaspiration nicht als Element, das Sokrates bei der Wortanalyse berücksichtigt. In cinem vorhergehenden Abschnitt (398d1-e3) wurde zum Beispiel das

Wort ἥρως durch ἔρως erklärt und die anfängliche Aspirata wurde zusammen mit der Änderung der Quantität (die vielleicht noch als bedeutender gelten darf) als eine kleine Veränderung (σμικρὸν παρηγμένον ἐστίν, 398d5) betrachtet. Sichc auch das Wort οὐρανία, das durch den Ausdruck ὁρῶσα Ta ἄνω (396c1) erklärt wird und dic Namenserklárung von Hades, Hera und Hephaistos und Hermes; zu diesem Problem siche Leroy, 1967, 240. Dazu ist jedoch zu bemerken,

dass selbst im Kratylos (41234; 43727) der Hauchlaut wie ein eigener Buchstabe behandelt wird. Das Interesse am Namen Hestia lüsst sich auch in anderen antiken Texten finden. Eine Liste anderer Namenserklärungen bei antiken Autoren findet sich in Süß, „Hestia“, RE, 1260 und in Preuncr 1886-1890, 2606-2609. In den homerischen Hymnen auf Hestia und auf Aphrodite wird der Name der Göttin in Bezug zu ἕζεσϑαι gestellt, indem die Rolle der Gottheit des Hauses, die das Zentrum des häuslichen Lebens darstellt, unterstrichen wird; vgl. xai τε μέσῳ οἴκῳ xaT

ἄρ᾽ ἕζετο πῖαρ ἑλοῦσα (Hom. Hymn. V. 30), Ἱστίη |...) ἕδρην ἀίδιον ἔλαχες Gom. Hymn. XXIX 1-3). Indem Euripides auf dasselbe Merkmal der Göttin, jedoch auf kosmischer Ebene, zurückgreifl, assoziiert er den Namen von Hestia mit dem Verb ἦσϑαι: Ἑστίαν δέ σ᾽ oi σοφοὶ βροτῶν καλοῦσιν ἡμένην ἐν αἰϑέρι

(Frg. 944 Nauck). Die Erklärung des Namens Ἑστία durch οὐσία ist hingegen nur im Kratylos zu finden. ς 5. ἡ τῶν πραγμάτων οὐσία Gôttin

Zur Erklärung der Bedeutung des Namens der

Hestia, die in der griechischen

Kultur den Herd und somit dic Identität

und die Existenz des Hauses darstellt, schlägt Sokrates cine erste, grundlegende Assoziation vor, indem cr Ἑστία mit dem Wort οὐσία (c 3) in Verbindung sctzt. Diese Verbindung wird sogleich durch den Ausdruck ἡ τῶν πραγμάτων οὐσία (c5) genauer bestimmt. Victor Goldschmidt (1940, 121) übersetzt οὐσία mit res familiaris, wobei er die Assoziation von Hestia mit dem semantischen Feld Herdfeuer-Haus-Familie als grundlegend angibt. Eine solche Interpretation kann nicht akzeptiert werden.

Die Übersetzung von οὐσία mit res familiaris berück-

sichtigt nicht den Kontext, in dem sich das Wort οὐσία befindet. Der Wesenszug, der in diesem Abschnitt dic Góttin charakterisiert, ist ihre privilegierte Stellung bci den Opferungen (d1-2): Hestia ist die erste (πρώτῃ) Göttin, der zu Beginn jedes Rituals Opfer dargebracht werden und stellt deshalb den Anfang (ἀρχή) eines jeden religiósen Aktes dar. Zu Hestia als πρώτη siche: τὸ γὰρ πρὸ πάντων ϑεῶν τῇ Ἑστίᾳ πρώτῃ προϑύειν (Crat. 401d1-2); zu Hestia als ἀρχή siche: ἀφ᾽ Ἑστίας ἀρχῶμεϑα (Crat. 401b1) und meinen Kommentar. οὐσία. Am Ende

62

Hestia

des 5. Jh. erscheint das Wort οὐσία über die gewöhnliche Bedeutung von „Vermógen" hinaus auch mit einem anderen Sinn, der aus der philosophischwissenschaftlichen Reflexion über die Natur der Welt hervorgeht, eine Reflexion, dic ihren Ursprung im parmenideischen Ausdruck für das „Sein“ (ro ὄν) hat. Innerhalb solcher Überlegungen wird οὐσία nicht mehr als nominale Ableitung des mit dem Dativ gebildeten Verbs εἶναι (ἔστι μοι, „ich habc" / „ich besitze“ > οὐσία = „das Vermôgen“) verstanden, sondern wird zur nominalen Form dieses Verbs im Sinnc von „existieren“, „real / wahr sein". Zu einer tiefergehenden Untersuchung über den oùcia-Begriff in der attischen Prosa des 5. / 4. Jh. und seine Ableitung vom Verb εἶναι siche Kahn 1973, 457-462. Wie Kahn (1973, 458-459) überzeugend aufgezeigt hat, dient das Wort οὐσία in cinem Werk des Corpus Hippocraticum zum Beispiel dazu, dic Existenz eines Gegenstandes zu bezeichnen, sci es, dass es sich um die Existenz der Medizin als τέχνη im Streit mit jenen handelt, die ihre Wissenschaftlichkeit anzweifelten (ἡ οὐσίη τῆς τέχνης, De Arte V, 3, 12-14 Jouanna), sci es, dass es sich etwa durch ein Paradox auf die vermutete Existenz von Dingen bezicht, die nicht cxistieren, (οὐσίη τῶν un ἐόντων, De Arte M, 1, 11-12 Jouanna).

Ein Fragment von Gebrauchs von οὐσία, οὐσία schr annähert: à nach dem von Burkert

Philolaos liefert ein weiteres Zeugnis dieses besonderen das sich dem Ausdruck im Kratylos ἡ τῶν πραγμάτων ἐστὼ τῶν πραγμάτων. Ich gebe das Fragment (44B6 DK) (1962, 233-234) festgelegten Text wieder:

à μὲν ἐστὼ τῶν πραγμάτων ἀίδιος ἔσσα & καὶ αὐτὰ μὲν ἁ φύσις ϑείαν Te καὶ οὐκ ἀνϑρωπίνην ἐνδέχεται γνῶσιν πλήν γα ἢ ὅτι οὐχ οἷον T ἣν οὐδενὶ τῶν ἐόντων καὶ γιγνωσκομένων ὑφ᾽ ἁμῶν γεγενῆσϑαι μὴ ὑπαρχούσας τᾶς ἐστοῦς τῶν πραγμάτων, ἐξ ὧν συνέστα ὁ κόσμος [...].

Das dorische Wort ἐστώ ist aus der Wurzel ᾿ἐσ- (εἰμί) gebildet und hat dieselbe Bedeutung wie die attischc οὐσία; siehe dazu Huffmann 1993, 130. Die Ausdrücke im Kratylos und im Philolaos sind also gleichwertig. Im Text von Philolaos wird mit ἐστώ die notwendige Bedingung für dic Existenz der Dinge der Welt angegeben, jenes Element also, das ihnen die Existenz gibt, sic real macht und das, wenn es es nicht gäbe, ihre Nichtexistenz implizieren würde. Philolaos enthält sich aber jeder näheren Erläuterung und lässt dieses Konzept als einfache Voraussetzung und als Postulat seiner cigenen Untersuchung stehen. Siehe den von

Burkert

(1962,

237-238)

und

von

Huffmann

(1993,

131-132)

gegebenen

Kommentar zum Fragment von Philolaos. Diese Texte bezeugen die philosophische Anwendung des Begriffes οὐσία: aber erst mit Platon wird dieses Wort in den Mittelpunkt der philosophischen Untersuchung gestellt. In einem wichtigen Abschnitt des Phaidon, bestimmt Sokrates den Gegenstand der philosophischen Untersuchung mit einer Formulicrung - ἡ οὐσία τῶν ἁπάντων - die mit dem Ausdruck ἡ τῶν πραγμάτων οὐσία im Kratylos zu verglcichen ist.

Hestia

63

Nachdem Sokrates seinen Gesprächspartner gefragt hat, ob cs etwas Gerechtes an sich oder etwas Schönes an sich oder etwas Gutes an sich, usw., gäbe, sagt er schließlich: λέγω δὲ περὶ πάντων. οἷον μεγέϑους. περὶ, ὑγιείας. ἰσχύος. καὶ τῶν ἄλλων ἑνὶ λόγῳ ἁπάντων τῆς οὐσίας ὃ τυγχάνει ἕκαστον ὅν (Phaed. 654012-c1). Ich verstehe die Satzkonstruktion so, wie sie Burnet (19567) in scinem Kommen-

tar zu 65d13 erklärt: „In this sense (sc. οὐσία = rcality) the term οὐσία was not familiar at Athens (where it meant

‚property‘, ‚estate‘), and it is explained by ὃ

τυγχάνει ἕκαστον ὄν, ‚what a given thing really is’ “; siche dazu auch Loriaux 1969, I, 85-86. Indem Platon hier vom kopulativen Gebrauch des Verbs εἶναι zur Bedeutung von „existieren“ / „wahr sein“ übergeht, crarbcitct cr ein neues philosophisches Konzept, das auf originelle Weise seinen Gedanken charakterisieren wird. Das Wort οὐσία bezeichnet in der Tat die eigene Existenz cines einzelnen Gegenstandes und gleichzeitig das, was die Existenz aller Gegenstände erschaffl, d.h. was alle gemeinsam miteinander haben. Aus scmantischer Sicht

muss dic platonische οὐσία als zweideutiger und polysemantischer Begrilf verstanden werden, die die für den platonischen Gedanken charakteristische Spannung zwischen Einzelnem und Allgemeinem ausdrückt. Zur besonderen Bedeu-

tung, die der Begriff οὐσία in den platonischen Dialogen einnimmt, Loriaux 1955, 15-40; Classen 1959, 158-162 und Kahn 1973, 460-462.

siche

c 6-7. ὅτι γε αὖ ἡμεῖς τὸ τῆς οὐσίας μετέχον ἐστίν φαμέν Mit diesem Satz unterstreicht Sokrates das Ableitungsverhältnis zwischen οὐσία und ἐστί und trägt dazu bei, dic Auslegung des Namens

der Göttin (Ἑστία

- ἐστί < ἐσσία

=

οὐσία) zu vervollständigen. Wie Joachim Classen (1959, 158-162) schlüssig zeigt, ist das Ableitungsverhältnis zwischen dem Wort ovoia und dem Verb eivaı von entscheidender Bedeutung für das platonische Denken. Im Eurhyphron wird diese Bezichung bei der Suche nach der Definition eines Konzeptes - was das Heilige ist verwendet, indem nach dem universalen Element gesucht wird, das das Heilige charakterisiert: καὶ

κινδυνεύεις,

Εὐϑύφρων.

ἐρωτώμενος

τὸ

ὅσιον

ὅτι

TOT

ἐστίν.

τὴν

μὲν

οὐσίαν μοι αὐτοῦ οὐ βούλεσθαι δηλῶσαι. πάϑος δέ τι περὶ αὐτοῦ λέγειν. [...]: ὅτι δὲ ὄν. οὕπω eines

(Eutyphr. 1186-01).

Siche auch im Menon (7201 -2): εἴ μον égouévou μελίττης περὶ οὐσίας ὅτι ποτ᾽ ἐστίν. Zu diesen Abschnitten siehe dic Bemerkung von Classen (1959, 160). Im Phaidon wird die Ableitung dazu verwendet, um den Giegenstand der philosophischen Forschung zu kennzeichnen: λόγω δὲ περὶ πάντων [...]. xai τῶν ἄλλων ἑνὶ λόγῳ ἁπάντων τῆς οὐσίας. ὃ τυγχάνει ἕκαστον ὅν (Phaed. 65d12-cl).

64

Hestia

Neben diesem Abschnitt zitiert Classen (1959,

161) auch

101c2-9. Zur Interpre-

tation dieses Phaidon-Abschnitts als Anspielung auf die sogenannte „Ideenichre“ siehe den Kommentar von Loriaux

1969, I, 83; Dorter 1982, 27-28 und Kahn

1988, 254-255. Mit dem Ausdruck οὐσία 0 τυγχάνει ἕκαστον 0v signalisiert Platon, dass er den Begriff οὐσία nicht in seiner gebräuchlichen Bedeutung verwendet, sondern dass cr auf cin theorctisches Konzept seiner Philosophie verweist;

zu der besonderen Bedeutung, die der Begriff ovoia in diesem Abschnitt übernimmt, siehe meinen Kommentar zu Crat. 401c5. Im Verlauf des Phaidon wird die Ableitung οὐσία « elvaı beinahe zu einem philosophischen Beweis. Beim Nachweis der Existenz der Seele und derer Unsterblichkeit sagt Simmias lich:

näm-

ἐρρήϑη γάρ που οὕτως ἡμῶν εἶναι ἡ ψυχὴ καὶ πρίν εἰς gana. ἀφικέσϑαι ὥσπερ αὐτὴ ἔστιν ἡ οὐσία ἔχουσα τὴν ἐπωνυμίαν τὴν τοῦ 0 ἔστιν (Phiaed. 92d7-c1). Ich folge dem

von

Loriaux

(1969,

1, 155) vorgeschlagenen

griechischen

Text

und seiner Deutung. Er übersetzt: „On l'a dit, n'est-ce pas: notre âme existe, avant même sa venue dans un corps, de même qu'existe la Réalité idéale qui lui appartient; cette Réalité qui reçoit, de fait, 1’ appellation d’ être" ". Siche auch αὐτὴ ἡ οὐσία ἧς λόγον δίδομεν τοῦ εἶναι xai ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι (Phaed.78d1-2) und den Kommentar von Loriaux 1969, 1, 164-165. Dic Ableitung οὐσία < εἶναι dient nun Platon dazu, zu crklären, dass dic Aussage des Scins immer auch die Idee der Existenz in sich birgt. Die Auslegung von Hestias Namen bringt die Figur der Góttin mit jener Funktion des Verbs „Sein“ - ἐστί - in Übereinstimmung, die den Gegenstand bestimmt und ihm die Existenz verleiht. Hestia wird zur Personifizicrung der Prädikation des Seins, zur Darstellung einer Realität, die durch das „Scin“ charaktcrisicrt wird, einer Realität, die schlichtweg ist. Ihre Namenserklärung drückt daher ein Charakteristikum platonischen Denkens aus: Was den lautlichen Bestandteil betrifft, wird eine Auslegung (Ἑστία = οὐσία < ἐστί) gegeben, die in den platonischen Dialogen als philosophischer Beweis gilt; zudem stellt die Göttin den Grundsatz der platonischen Philosophie (dic οὐσία) dar. τὸ τῆς οὐσίας μοτόχον In der Begründung der ersten Auslegung des Namens der Hestia erscheint cin anderer grundlegender Gedanke der Philosophie Platons, und zwar die Lehre der Teilhabe des Gegenstandes

am

Scin. μετέχειν

ist das

Verb, mit dem Platon dieses schr komplizierte Konzept bezeichnet. Sichc, z. B.. Phaed.

100c5-6,

101c2-9. Bei Aristoteles (Metaph.

A, IX, 991a) wird μετέχειν

als Fachbegriff der platonischen Philosophie angeschen. — &erív Dic Herausgeber der alten sowie der neuen Oxford-Ausgabe schreiben ἔστι als Orthotonon nach der byzantinischen Konvention, dic festlegt, dass ἐστί mit einem Akzent auf der ersten Silbe versehen werden muss, wenn es in der Bedeutung „cxistieren" erscheint. Im Kratylos-Abschnitt hingegen ist die Akzentuicrung vorzuzichen, dic den Akzent des enklitischen ἐστί ausschließlich von seiner Stellung im

Hestia

65

Satz abhängig macht. Auf diese Weise stimmt der Name der Göttin phonctisch mit seiner Auslegung (Ἑστία < ἐστί) vollständig überein, abgesehen von der Aspiration des Anlautes, die jedoch bei vielen Wortanalysen im Kratylos keine Bedeutung hat; siehe dazu meinen Kommentar zu Crat. 401c4-5. Kahn (1973, 420-434) stellt in aller Deutlichkeit die Probleme dar, dic sich beim Vergleich

der antiken Zeugnisse über die Betonung von &ori mit der Akzentuicrung der mittelalterlichen Handschriften sowie mit der Praxis der ncuzeitlichen Herausgeber ergeben. Bezüglich der Formulierung des Phaidon ὃ ἔστι (7402, d6, 750], b6, d2), merkt er (1973, 420-421) zum Beispiel an, dass die handschriftliche Tradition immer die enklitische Akzentuierung (0 ἐστι) vorweist. Zu diesem Punkt muss noch erwähnt werden, dass schon Loriaux (1955, 23-26) dieses Problem analysiert hatte. Er entschied sich aber zu ἔστι als Orthotonon, da er „o

ἔστι" als einen technischen Ausdruck in Platons philosophischer Sprache bctrachte.

d 3-4. ὅσοι δ᾽ αὖ ὠσίαν |sc. καλοῦσιν! Zuerst erklärt Sokrates den Namen von Hestia durch die äolische Form von οὐσία (écaia), dann schickt er sich an, die dorische Form - waia - zu untersuchen. In der ersten Auslegung ihres Namens hat Sokrates großen Wert darauf gelegt, den Anfangstcil Ἐσ- von Ἑστία zu rechtfertigen: Aus οὐσία lässt sich schlecht dirckt Ἑστία machen, deshalb zeigt er, dass in zwei verwandten Formen (ἐσσία, ἐστί) ἐσ- auftritt. Was aber die

dorische Form betrifft, fehlt jedoch jede lautliche Rechtfertigung, die aus weia Ἑστία macht. Die Erklärung von woia durch «Sei», zeigt also lediglich cinc alternative Auffassung von οὐσία, dic auf diejenigen zurückgeführt wird, die wie Heraklit glauben, alles sci in steter Bewegung (d4). Die lautliche Beziehung von dem Götternamen und weia bleibt völlig im Dunkeln. ὠσίαν ὠσία ist nur noch bei Ocell. ap. Stob. I, 20, 3; Archyt. ap. Stob. I, 41, 2 (Wachsmuth-Heuse) bclegt. Das Wort wird von Sokrates vom Verb ὠϑεῖν durch den Rückgriff auf das substantivierte Partizip τὸ ὠϑοῦν abgeleitet und erhält deshalb neben der Bcdeutung

von

„Realität“

(=

οὐσία)

auch

die

Bedeutung

von

„Schub“,

„Stoß“.

Dank dieser Worterklärung verwandelt sich woia zu einem polysemantischen Begriff, in dem zwei Konzepte - das Scin und die Bewegung - nebeneinander bestehen. Das Verb ὠϑεῖν ist cin Wort mit einer starken bildlichen Konnotation: Es bedeutet „drängen“, „stoßen“, „schieben“. Seine Anwendung bei der Bcschreibung Hestias erzeugt cine gewisse seltsame Auffassung von der Realität, in der dic Welt durch heftige Stöße vorangetrieben wird. Das Zusammenkom-

men der körperlichen Dimension dieses Verbs und der Schilderung einer Gottheit schafft einen Effekt überraschender Übertreibung. d 5-6. τὸ οὖν αἴτιον xai TO ἀρχηγὸν αὐτῶν „Dic Ursache und das Fundament aller Dinge [sc. τῶν πάντων]"“, d.h. das Entstchungs- und Entwicklungsprinzip des Universums. Mit diesem Ausdruck weist Sokrates auf das Prinzip, das in

66

Hestia

dem Namen von Hestia enthalten ist: Durch die Namenserklärung Ἑστία = οὐσία = ὠσία < τὸ ὠϑοῦν wird nämlich dic Góttin in das grundlegende Prinzip der Welt verwandelt. Die beiden hier verwendeten Begriffe, die auf die philosophische Funktion des „Prinzips“ oder der „Ursache“ hindeuten, haben cine schr starke metaphori-

sche Konnotation. τὸ αἴτιον schwankt zwischen der ursprünglichen Bedeutung „das, welches verantwortlich ist", die aus der juristischen Sprache stammt, und der abstrakten Bedeutung „Ursache“; dazu siehe Lloyd 1971?, 230-231. Das Wort ἀρχηγός hingegen ist in ἀρχ-ηγός zerlegbar. Da ἄγω in dem Wort enthalten ist, hat man immer an einen Vorgang zu denken. Chantraine (1968, 119) gibt die folgende Definition: ainsi ἀρχηγός ‚qui est à l’origine" (trag.), mais aussi Chef (B., /Esch)". ἀρχηγὸς kann im religiösen Bereich den Gründer einer Stadt

bezeichnen (οἷς τῆς πόλεως Seóg ἀρχηγός τίς ἐστιν; Alyuntioti μὲν τοὔνομα Νηίΐίϑ, Ἑλληνιστὶ δέ [...] ᾿Αϑηνᾶ, Plat. Tim. 21e4-6; siche auch Sophocl. Oedip. Col. 60) oder kann die Figur des militärischen Führers (Ἑλλήνων

ἀρχηγός

|...)

Παυσανίας, Thucyd. I, 132) meinen. Auch wenn das Wort als abstrakter Begriff verwendet wird, behält es seine bildliche Konnotation bei; siche. σχεδὸν ὡς eineiv ἀρχηγὸν xai μόνον αἵτιον γίνεται στάσεως (Polyb.

z.B.: xai 1, 66, 10;

siche auch Il, 21, 8). Zur Verwendung in den kosmologischen Theorien von Ausdrücken, dic aus dem politischen und sozialen Lcben entliehen sind, siche das Kapitel „Metaphor and Imagery in Greek cosmological Theories" in Lloyd (19712, 210-232); besonders zu den Begriffen αἴτιον und ἀρχή siche Lloyd 1971?, 230-231; zum Konzept von einem hóchsten Prinzip siehe seine Analyse (19712,

219)

des

Fragments

12 (DK)

von

Anaxagoras,

in dem

der

νοῦς

als

αὐτοκρατές definiert wird. Bei seiner Analyse zeigt sich Lloyd (1971?, 231, Anm. 2) allerdings erstaunt über dic Tatsache, dass der Begriff ἀρχή so selten in den Fragmenten der Vorsokratiker und ausschließlich in der zeitlichen und räumlichen Bedeutung von „Anfang“ zu finden ist, nie aber - wie in der späteren Philosophie - als Begriff,

der das Grundprinzip des Universums bezeichnet. Darüber hinaus betont er (1971?, 232), dass dieser Begriff, auch wenn er bci Aristoteles von jeglichem bildlichen Zusammenhang befreit ist, immer zwischen der Bedeutung „starting point‘ und „seat of authority" schwankt und eine innewohnende Zweideutigkeit

beibehält. Im Abschnitt des Kratylos über Hestia zeigt sich in aller Deutlichkeit die Spannung, dic das Wort ἀρχή in der philosophischen Sprache innchat, wenn das Sprichwort ἀφ᾽ Ἑστίας ἄρχεσϑαι am Anfang des Abschnittes (bl) und der Ausdruck τὸ αἴτιον xai τὸ ἀρχηγόν

nebencinander gestellt werden.

Siehe zur An-

wendung des Sprichwortes in diesem Abschnitt meinen Kommentar. Um die Vorgánge zu verstehen, dic cine Figur des Mythos (in diesem Abschnitt Hestia) zu ciner ἀρχή (einem philosophischen und wissenschafilichen Prinzip) verwandeln, hilft wieder der Rückgriff auf dic Allegorese, und beson-

Hestia

67

ders auf den Papyrus von Derveni. In Spalte 8 (3-5) zicht der allegorische Deuter den Beginn der Herrschaft von Zeus und seiner Abstammung in Betracht, indem er zwei Versc des orphischen Gedichtes zitiert, die von Zeus’ Machtergrei-

fung auf Kosten des Vaters Kronos erzählen: ὅπως δ᾽ ἄρχεται ἐν τῶ[ιδε δη]λοῖ' “Zeug μὲν ἐπεὶ δὴ παίτρὸς éolù πάρα ϑέϊσϊ᾽φατον ἀρχὴν [à uci» τ᾽ ἐν χείρεσσι ElAlaßlev xJali] δαίμον[α] κυδρόν".

Mit der Mchrdeutigkeit des Begriffes ἀρχή spielend scheint der allegorische Deuter eine Entsprechung zwischen dem Verb ἄρχεσϑαι (3), mit dem er den Beginn der Herrschaft von Zeus bezeichnet, und dem aus dem orphischen Gedicht entnommenen Ausdruck ἀρχὴν λαμβάνειν (4-5) zu postulicren. Auf diese Weise fällt der zeitliche Anfang der Herrschaft von Zeus mit sciner königlichen Machtergreifung zusammen. Im weiteren Fortgang des Papyrus ist glücklicherweise cine Spalte erhalten geblieben, in der gerade das Auslegungsverfahren der Allegorese anschaulich

erklärt wird, das den zeitlichen Anfang einer neuen Herrschaft im orphischen Gedicht als das Eintreten einer neucn, dic Welt beherrschenden Macht durch die

Polysemie des Begriffs ἀρχή (Anfang / Macht, Prinzip) deutet. In Spalte 15 (6-

8), auf den orphischen Vers: “ἐκ ToU δὴ Κρόνος abris, ἔπειτα δὲ weriera Zeug”:

folgt der Kommentar des Autors: λέγει τι ‘8x τοῦδε [aloxn ἐστιν, ἐξ ὅσον βασιλεύει ἥδε GOXN

:

Laks und Most (1997,

16) übersetzen den Satz wie folgt: „he says that the bc-

ginning (arche) dates from the time since this particular rule (arche) has been king"; Tsantsanoglou und Parássoglou (2006) übersetzen auf ähnliche Weise: „He means something like, from that time (ἐκ τοῦδε) is the beginning (ἀρχὴ) | from which this magistracy (ἀρχή) reigns". Der orphische Vers beschreibt den Übergang von Kronos' Herrschaft auf Zeus, also Zeus’ Machtübernahme auf Kosten des Vaters. Der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni interpretiert diese mythische Episode als eine wissenschaftliche Beschreibung des Übergangs von einem kosmologischen Zustand zu einem anderen, indem er Kronos mit der Hitze und Zeus mit der Luft, dem

ordnenden Prinzip des Universums, identifiziert. Der Übergang der Herrschaft

von Kronos auf Zeus wird deshalb als Entwicklung geschen, dic sich weg von einer kosmischen Situation, in der dic Hitze über die Materie vorherrscht, hin zu einer neuen kosmologischen Ordnung bewegt, die auf einem rationalen Aufbau " Universums basiert. Was die wissenschaftliche Theorie betrifft, dic von dem allegorischen von Derveni i benutztA wird, wi i » (1958) und LaksDeuter (1997).des Papyrus py siche Burkert

68

Hestia Nur wenn man an den Überset

hani

der Allcgorcse denkt, der

eine Thcogonic in eine wissenschaftliche Beschreibung der Weltentstehung umwandelt, wird der Kommentar des allegorischen Deuters verständlich. Er entdeckt nämlich in dem orphischen Gedicht den Beginn einer neuen kosmologischen Ära durch das Aufcinanderfolgen eines kosmologischen Prinzips auf ein anderes. Die Übereinstimmung zwischen dem Anfang von Zeus’ Herrschaft und seiner Machtergreifung wird zum Anfang einer ncuen, von einem kosmologischen Prinzip gekennzeichneten Ordnung. Solche Entsprechung drückt sich durch den Begriff gy» aus, der die semantische Übereinstimmung beider Konzepte erlaubt. Die Polysemie des Begriffs ist hier eben jenes verbindende Element zwischen der poetischen Erzählung von Orpheus und der wissenschaftlich geprägten Interpretation der allegorischen Deutung. Durch das letzte Zeugnis des Papyrus von Derveni wird verständlich, wie der Begriff ἀρχή in der philosophischen Sprache der technische Ausdruck für das organisicrende Prinzip des Universums werden konnte. In Spalte 19 führt der allegorische Deuter mit der Identifikation zwischen Zeus und dem ἀήρ fort. Dic Gleichsetzung ist nur deshalb möglich, weil der erste -- Zeus - im orphischen Gedicht, und das zweite - ame - im Leben des Universums eine identische Funktion einnehmen. Beide sind betraut mit der Rolle der Herrschaft über andcre Gegenstände, einc Funktion, die im Text durch das Verb ἐπικρατεῖν angezeigt

wird: ἐκ [τοῦ δὶὲ [r]à ἐόντα ἕν [ἕκ]αστον xéx[Amr]a: ἀπὸ τοῦ ἐπικρατοῦντος. Zebls] πάντα κατὰ τὸν αὐτὸν / λόγον ἐκλήϑη- πάντων γὰρ ὁ ἀὴρ ἐπικρατεῖ / τοσοῦτον ὅσον βούλεται (Spalte 19, 1-4). Diese Auslegung wird durch die allego-

rische Deutung des orphischen Gedichtes bestátigt. Der Dcuter zitiert zunüchst einen orphischen Vers: “Ζεὺς βασιλεύς. Ζεὺς δ᾽ ἀρχὸς ἁπάντων ἀργικέραυνος" (Spalte 19, 10). Darauf folgt sein Kommentar: [βασιλέ]α ἔφη εἶναι ὅτι πολλῶϊν τῶν ἀρ]χῶν μία [πασῶν κ]ρατεῖ καὶ πάντα τελεῖ (Spalte 19, 11-12). Der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni bietet hier eine Übereinstimmung zwischen den Begriffen des orphischen Gedichtes (βασιλεύς und ἀρχὸς ἁπάντων) und seinem Kommentar (πολλῶ[ν τῶν &o|xàv μία / [πασῶν

x]earei

xai πάντα τελεῖ) an. Auch in diesem Fall dient der Begriff ἀρχή als Bindungsglied zwischen den Figuren des Mythos und den ordnenden Prinzipien der Welt. Dic Aussage des orphischen Gedichtes -- Zeus sei cin König und ein Führer wird vom allegorischen Deuter fast wórtlich genommen und umschricben, indem er den Gott mit dem in der Welt herrschenden Prinzip, mit dem ἀήρ, identifiziert. Das gleiche Verfahren ist im Hestia-Abschnitt vorhanden: Die Göttin kommt im Text am Anfang dergganzen Gencalogic vor und wird durch das Sprichwort ap Ἑστίας ἄρχεσϑαι als ἀρχή dargestellt. Gerade diese Charakterisicrung cr-

Hestia

69

laubt Sokrates die Gôttin als οὐσία, also als Ursache und Fundament aller Dinge

(τὸ αἴτιον καὶ τὸ ἀρχηγόν [sc. τῶν navrwv]) zu deuten.

Dic Auslegung des Namens der Hestia lásst sich graphisch wic folgt darstellen: Ἑστία ἐσσία -

οὐσία

- ὠσία

|

|

ἐστί

τὸ ὠϑοῦν

| Ἑστία „einc Realität, dic schlechthin iss“

„einc Realität, die durch das Stoßen charakterisiert wird“

Die Vorfahren der Gótter, 401e1-402d4 401 e 1-2. μετὰ Untersuchung des Rhca und Kronos, den Stammbaum Verfahren wieder

δ᾽ Ἑστίαν δίκαιον Ῥέαν xai Κρόνον ἐπισκέψασϑαι Nach der Namens der Hestia richtet Sokrates scinc Aufmerksamkeit auf dic im Mythos als Eltern der Göttin gelten. Indem Sokrates von Hestia hin zu deren Eltern verfolgt, nimmt er dasselbe auf, das er in cinem vorangehenden Abschnitt (394c8-396c3)

verwendct hatte, ein Verfahren, das bei der Namensanalyse

vom

Kind zum Va-

ter aufsteigt. Dadurch war er bci der Untersuchung des Namens von Orest bis zu Uranos gelangt. Was den Namen von Kronos betrifft, bezicht er sich sogar ausdrücklich auf jene Reihe von Namenserklärungen, und es scheint, als ob er auch hier den gleichen Weg durchschreiten móchte, den er kurz zuvor gegangen war. Der Satz καίτοι τό γε ToU Κρόνου ὄνομα ἤδη διήλθομεν (401c2-3) bezicht sich nämlich auf 396b5-7. Eine neue Inspiration (σμῆνός τι σοφίας. 40165) veranlasst ihn aber dazu, den Gótterstammbaum neu zu schreiben und neue Erklärungen für dic Góttemamen zu formulieren. Jenc Reihenfolge, dic gänzlich auf den männlichen Zweig - Zeus-Kronos-Uranos - bezogen war und die Sokrates zuvor eindeutig als hesiodcisch (τὴν Ἱσιόδου γενεαλογίαν, 396c4) cingcordnet hatte, tritt nicht mchr auf; nun wird eine neue Gencalogic aufgerichtet, die durch

Götterpaare charakterisiert ist: Zuerst Kronos und Rhea, und ferner, wenn man den Stammbaum hinaufgeht: Okeanos und Tethys. Als Stütze für die neue Gcnealogic zitiert Sokrates einen Vers des 14. Buches der //ias, in dem Okeanos als Zeuger der Götter und Tethys als ihre Mutter bezeichnet wird: Ὠκεανόν τε ϑεῶν γένεσιν xai μητέρα Τηϑύν (Hom. //. XIV, 201, 302). Darüber hinaus zitiert

er noch zwei weitere Verse, die Orpheus zugeordnet sind. In ihnen wird dic Vereinigung zwischen den beiden Gottheiten als dic erste unter den Gótter gepriesen: Ὠκεανὸς πρῶτος καλλίρρος ἦρξε γάμοιο, / ὅς ba κασιγνήτην ὁμομήτορα, Τηϑὺν ὄπυιεν (Frg. 15 Kern). Neben Homer und Orpheus ist Hesiod der andere zitierte Dichter, der aber nur namentlich erwähnt und von dem kein einziges Zitat angegeben wird. Zur Unterstützung der neuen Gencalogie werden also dic drei „heiligen Dichter" der Griechen - Homer, Orpheus und Hesiod - erwähnt. Der Stammbaum der Góttergencalogie des Kratylos unterscheidet sich aber von dem hesiodeischen, da hier Okcanos und Tethys als Eltem von Kronos und Rhca auftreten und daher nicht zu den Titanen gchôren. In der Thcogonie von Hesiod hingegen treten alle vier - Okeanos, Thetys, Kronos und Rhea - als Kinder von Uranos und Gaia und damit als Titanen auf. Dieser Abschnitt des Kratylos stellt einen neuen Stammbaum dar, der nicht hesiodeisch ist und sich von der Genealogic im Crat. 396c4 deutlich unterscheidet. e 5. ἐννενόηκά, τι σμῆνος σοφίας Das Thema vom „Schwarm der Weisheit". von dem Sokrates sich ergriffen fühlt, gehört zu einem umfangreichen Motiv

Die Vorfahren der Götter

71

(dem Leitmotiv des ἐνθουσιασμός), das die Wortanalysen des Kratylos begleitet und umschreibt. Siehe Hermogenes' Ausruf hinsichtlich der Wortanalyse von Sokrates: xai μὲν δή. ὦ Σώκρατες. ἀτεχνῶς γέ μοι δοκεῖς ὥσπερ oi

ἐνθουσιῶντες ἐξαίφνης χρησμῳδεῖν (Crat. 396d2-3); siche noch dazu die Bilder von der Wagenfahrt (407d7-9) und vom Löwenfell (41126). Wic Gaiser (1974, 49-53) in sciner Monographie zeigt, ist dieses Thema bei Platon immer zwcideu-

tig: Neben einer negativen, von ciner ironischen Haltung begleiteten Nuance kann es auch einen philosophischen Kern enthalten. 402 a 4-6. Τὸν Ἡράκλειτόν μοι δοκῶ xaSogüy παλαί᾽ ἄττα σοφὰ λέγοντα,

ἀτεχνῶς τὰ ἐπὶ Κρόνου καὶ Ῥέας, ἃ καὶ Ὅμηρος ἔλεγεν

In einem Tonfall, der

an eine traumhafte Vision denken lässt, behauptet Sokrates, dass sowohl Heraklit als auch Homer sich mit der längst vergangenen Epoche von Kronos und Rhca bescháftigt haben. Diese Aussage, die verblüffend sein könnte, weil sic den „Dichter“ Homer und den „Philosophen“ Heraklit wegen eines vermuteten gemeinsamen Interesses vereinigt, gewinnt an Sinn, sobald sie mit der Allegorcsc in Zusammenhang gebracht wird. Eine vergleichbare Stelle befindet sich im Symposium (195b5-c6), in dem Hesiod und Parmenides gemeinsam erwähnt und beide mit Modalitäten interpretiert werden, dic stark an die Allegorese erinnern. Der Abschnitt wird aufS. 96 zitiert. Ein solches Deutungsverfahren basiert auf der Annahme, dass dic von den Dichter verfassten Theogonien auf rätselhafte und verschleierte Weise die Wahrheit über die Welt in sich bergen, eine Wahrhcit, die sich als einc wissenschaftliche Theorie über den Ursprung und die Entwicklung der Welt enthüllt. Durch die Entschlüsselung von thcogonischen Erzählungen kann der allegorische Deuter nämlich den wahren Sinn des Textes entdecken und damit die Beschreibung einer Kosmogonie aus einer Theogonic hcrauslesen. Zu den thcoretischen Grundlagen der Allegorese siche S. 32-36. An dieser Stelle des Kratylos scheint Sokrates nach demselben Verfahren der Allegorese zu handeln: Er wird selbst zum allegorischen Deuter, imitiert diese Deutungsmethode, indem er dieselben argumentativen Strategien sowohl auf Homer als auch auf Heraklit anwendet. Aus der kurzen Analyse einer Sentenz von Heraklit und aus einigen Versen von Homer geht hervor, dass beide dasselbe Thema - nämlich die alten Zeiten von Kronos und Rhea - behandelten, weil beide vom Ursprung und der Entwicklung des Universums gesprochen haben. Dank dieses mimetischen Spiels wird cin impliziter Wettbewerb mit den Vertre-

tern dieser interpretativen Methode eingeführt, der Sokrates dazu bringt, sic bis zum Äußersten zu treiben. Zur Wortanalyse des Kratylos als „a agonist display" sich Barncy

1996, 96-119.

72

Die Vorfahren der Gótter

a 8-10. Λέγει που Ἡράκλειτος ὅτι πάντα χωρεῖ xai οὐδὲν μένει, xai ποταμοῦ bon ἀπεικάζων τὰ ὄντα λέγει ὡς “δὶς ἐς τὸν αὐτὸν ποταμὸν οὐκ ἂν euBainc” Bei seiner Analyse wendet sich Sokrates zunächst der heraklitischen Theorie zu, die im unaufhórlichen FlieBen aller Dinge dic tragende Struktur des Universums sicht. Die erste Formulierung der Theorie — πάντα χωρεῖ xai οὐδὲν uévei — ist in neutralen und nicht bildhaften Begriffen formuliert. Die neue wie dic alte Oxford-Ausgabe setzt sie in Anführungszeichen, als ob sic ein wórtliches Zitat wäre. Meiner Meinung nach ist sie cher cine allgemeine Wiedergabe der heraklitischen Lehre, so wie kurz zuvor mit fast denselben Worten die Gedanken der Anhänger Heraklits geäußert wurden: rà ὄντα ἰέναι τε πάντα xai μένειν οὐδέν (401d5). Die zweite Formulierung - δὶς ἐς τὸν αὐτὸν ποταμὸν οὐκ ἂν ἐμβαίης - hingc-

gen, die kurz danach folgt, ist die cigentliche Sentenz Heraklits, die das berühmte Bild des Fließens des Flusses als Metapher für die Struktur des Universums vorlegt. Um die Bedeutung dieses letzten Satzes deutlich zu machen und ihn mit dem vorangchenden

in Einklang zu bringen, unterzicht Sokrates den Satz ciner

Art von Deutungsarbeit, die an die Verfahren der Allegorese erinnert. Der Interpretationsschlüssel, der es erlaubt, die heraklitische Sentenz „ınan kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ in die allgemeine Umschreibung „alles bewegt sich und nichts bleibt feststchend" zu übersetzen, ist die Bejahung der Äquivalenz zwischen dem Bild des fließenden Flusses (00% ποταμοῦ) und der Wirklichkeit (τὰ ὄντα). Nur so ist es móglich, den Satz des Heraklits wirklich

als cine Aussage über die Struktur der Welt zu verstehen. Die erste Formulicrung lásst sich also als Ergebnis der Auslegung der Fluss-Sentenz betrachten, dic gleich danach folgt. Der Übergang zwischen der eigentlichen Sentenz und seiner Auslegung wird von einem der grundlegenden Mechanismen der allegorischen Methode gestützt: Die Wortanalyse. Im Verb χωρεῖ kann man dic Form ῥεῖ enthalten sehen, die auf das Fließen des heraklitischen Flusses (9o) ποταμοῦ) anspiclt und die in der Namenserklärung von Rhca (Ῥέα < ῥεῖν) wieder auflaucht. Darüber hinaus kann

man hinzufügen, dass das Verb ἰέναι in ciner vorhergehenden Formulierung - τὰ ὄντα

ἰέναι Te πάντα

καὶ μένειν οὐδὲν (401d5)

-- den

Platz cinnimmt,

den

hier

χωρεῖ hat. Dice Wahl von χωρεῖ scheint also kontextgebunden zu sein. Der Ausdruck - πάντα χωρεῖ -- drückt die unaufhórliche Bewegung aller Dinge aus, in-

dem er das Bild des heraklitischen Flusses verbirgt. Die Formel πάντα ῥεῖ, die in der Vulgata dic übliche Formulierung der Lehre Heraklits repräsentiert, wäre also schon hier latent vorhanden. Siche auch am Ende des Dialoges: καὶ doxei ταῦτα πάντα, ῥεῖν (439d4) und wieder im 439c3, 44047, c7, d2.

In diesem Abschnitt behandelt Sokrates die Sentenz Heraklits, als ob sic wie cine Allegorie ausgedrückt wäre und cr benutzt dasselbe Untersuchungsverfahren, das er auch

für die Verse

von

Homer

und Orpheus

verwendet

hatte.

Bei

Die Vorfahren der

Gótter

73

Sokrates' Analyse werden all jene Elemente hervorgehoben, die in der Sprache einen metaphorischen und konnotativen Charakter besitzen; denn dafür eignet sich die änigmatische, andeutende Sprache Heraklits in besonderem Maße.

Auch im Papyrus von Derveni wird eine Sentenz Heraklits auf eine Art und Weise zitiert, die sehr stark an die Stelle des Kratylos erinnert. Heraklits Sentenz wird vom allegorischen Deuter zitiert, um die Existenz einer universalen Ordnung zu verfechten und dadurch scinc eigene Textanalyse zu unterstützen: ὅσπερ [sc. HodxAeirroc] ἴκελα ἱμυϑοϊ]λόγωι λέγων [$99:] “mAılos ...).ov κατὰ φύσιν ἀνθρω[πηϊου] εὕρος ποδός [éori.]

τὸ wléyeSols οὐχ ὑπερβάλλων- εἰκίότας oùlgous ε[ὕρους]

[dov- εἰ δὲ μ]ὴ. Ἐοινύεῖς] νιν ἐξευρήσονῖσι. Δίκης ἐπίκουροι) (Spalte 4, 4-9).

Was ἵκελα [μυϑο]λόγωι anbelangt, zitiere ich den (1997, 11, Anm. 4), einem Vorschlag von wuSolAoywı λέγων [ἔφη]; 1997, 129 und 135) siehe noch dazu die Ergänzung von Sider (ὅσπερ 1997,

Text, so wie es Laks und Most Tsantsanoglou (ὅσπερ ixeAloi folgend, vorgeschlagen haben; ixeA[a iego]Adywı λόγων [ἔφη];

129 und 135). Tsantsanoglou und Parássoglou (2006) schreiben hingegen:

ἵκελα [ἀστρο]λόγωι. In der Sentenz Heraklits wird die Ordnung der Welt von den Erinnyen, den Helferinnen der Dike, dargestellt, die der Sonne nicht erlauben, ihre Grenzen zu überschreiten. Ohne den implizierten Übergang von einer dichterischen und

bildlichen Sprache zu einer eher neutralen und wissenschaftlichen, wäre der ganze Gedankengang nicht verständlich.

Wenn die Ergänzung angenommen wird, die Heraklit zu einem μυϑόλογος oder zu iegóAoyog einem (6) macht, wird offensichtlich, dass der alleogorische Deuter des Papyrus von Derveni das Werk Heraklits als etwas sicht, das ciner mythischen und religiósen Schrift ähnlich ist. In einem Aufsatz David Siders

werden die Motive untersucht, weshalb Heraklit im Papyrus von Derveni auf diese Weise zitiert wird. Sider erkennt in der formalen und inhaltlichen Nähe zwischen Heraklit und Orpheus, weshalb Heraklit eine Autorität ist, welche die

Argumente eines allegorischen Interpreten unterstützen kann. Sider (1997, 146) argumentiert: „not only do both poct and philosopher express interest in the same

topics [...], they both do so, according to the Commentator,

language which necds unpacking".

in cnigmatic

“δὶς ἐς τὸν αὐτὸν ποταμὸν οὐκ ἂν ἐμβαίης"

Kirk (1954, 369-380, besonders 373) sieht Heraklits Sentenz über das FlicBen des Flusses im Kratylos als einc platonische Umschreibung des Frag. 22B12 DK an. Obwohl Kahn (1979, 168-169) cinräumt, dass die Art, wic dic heraklitische

Sentenz im Kratylos zitiert wird, nicht die übliche für wórtliche Zitate ist, ncigt er trotzdem dazu, sie als cin unabhängiges

Fragment

Folge von Frag. 12 cingcordnet werden kónnte.

zu betrachten, das in dic

74

Die Vorfahren der Götter

b 1-3. Tí οὖν; δοκεῖ σοι ἀλλοιότερον Ἡρακλείτου νοεῖν ὁ τιϑέμενος τοῖς τῶν ἄλλων ϑεῶν προγόνοις Ῥέαν τε καὶ Koövov; In diesem Abschnitt geht Sokrates zur Analyse einiger den Dichtern entliehenen Zeugnissen über und erklärt, dass es cine Übereinstimmung von Themen und Bildern mit der Sentenz von Heraklit gibt: Wie Heraklit die Struktur der Welt mit dem Bild des flieBenden Flusses beschrieben hattc, so stellen die Dichter den Ursprung und das grundlegende Prinzip der Welt dar, indem sie Góttergestalten an den Beginn ihrer Theogonie setzen, die dasselbe Bild vom Fließen des Wassers in sich bergen. Gemäß den gebräuchlichen Verfahren der Allegorese bürgt die Wortuntersuchung für den Übergang der im Mythos auftretenden Figuren (Kronos und Rhea) zum Prinzip der Wirklichkeit, d.h. zur Idee des Fließens des Wassers. τοῖς τῶν ἄλλων ϑεῶν προγόνοις Ῥέαν τε καὶ Κρόνον Rhca und Kronos werden als προγόνοι τῶν ἄλλων ϑεῶν benannt. Die Anfangsstellung, die sic im Mythos einnchmen (sie werden als Erste geboren und sind die Stammeltern der gesamten göttlichen Genealogie), ist das Merkmal, das ihre Umwandlung in das Entstchungs- und Entwicklungsprinzip des Universums erlaubt. Sie werden zu bildlicher Darstellung der γένεσις der Welt. Ῥέαν — Dic traditionelle Gestalt der Göttin lässt einige Elemente durchscheinen, die sie in Bezichung zum Wasser setzen, wie es die Auslegung ihres Namens im Kratylos (Ῥέα « ῥεῦμα. ῥεῖν) vcrlangt. Ernst Mayer („Neda“, RE, 2170) ist es gelungen, drei sehr späte Zeugnisse aufzufinden, dic

dieses Merkmal der Göttin untermauern; vgl. Callim. Hymn.

I, 10-41; Strab.

VIII, 3, 22, 348; Paus. VIII, 38, 3; 41, 2. Die Zeugnisse berichten, dass der Fluss Arkadiens, der nach der Nymphe Neda benannt ist, dank Rhcas Eingreifen - sie

wollte den neugeborenen Zeus waschen - dem bloßen Stein entsprang. In der orphischen Tradition finden sich wcitere Hinweisc darauf. In seinem Kommentar

zitiert Proklos (in Crat. p.81

Pasquali) zur Erklärung des Namens

von Rhea im Kratylos drei Verse, dic aus den chaldäischen Orakeln (56 Majercik) stammen sollen. In dem ersten — Pein Toı νοερῶν μακάρων πηγὴ Te

ὁοή Te - scheint der Dichter dank der lautlichen Ähnlichkeit zwischen 'Peí und

o) auf eine etymologische Beziehung zwischen den beiden Worten anzuspiclen. Sich auf diesen Vers berufend bestreitet Hans Lewy (1978?, 84, Anm. 65) die Gleichsetzung von Ῥείη mit Rhea, weil sic nicht zum chaldäischen Panthcon

gehört. Festugiére hingegen (1966-1968, V, 117, Anm. 1) hält an der Gleichsetzung fest, denn er vermutet, dass Proklos’ Fehler darin besteht, dass er die orphische λόγια als chaldáische versteht. Akzeptiert man Festugiéres Hypothese, dann wäre der betreffende Vers Teil einer sehr viel älteren Tradition als der des chaldáischen Orakels. Die Datierung bleibt aber problematisch und deshalb auch, ob Platon von dieser Tradition beeinflusst werden konnte. Schließlich hat Timothy Baxter (1992, 120-121) vermutet, dass Pherekydes'

Werk die Zielscheibe für Sokrates’ Untersuchung gewesen sein könnte. Er beruft sich auf das Zeugnis von Herodot, der behauptet, dass Pherckydes (Frag. 7B9 DK) Rhea als Ῥῇ bezeichnet habc. Dabei folgt Baxter der Analyse von

Die Vorfahren der Götter

75

Gomperz (1929) der Fragmente 7 und 9 (DK) von Pherckydes. Gomperz vermutete, dass die kontrahierte Form des Namens der Göttin, die Pherckydes verwen-

dete, auf das Verb ῥεῖν anspiclt. Dadurch konnte die Göttin zu einem der grundlegenden Konzepte der Philosophie Pherekydes (der &xgon im Frag. 7B7 DK) in Bezichung gesetzt werden. Meines

Erachtens gibt es nicht genügend

Beweise

für die Behauptung, dass

Platon im Kratylos auf irgendeine Weisc von Pherekydes becinflusst worden ist. Dass

Pherekydes

die Form

Ῥῇ

verwendet,

bedeutet nicht, dass er dadurch auf

das Verb ῥεῖν anspiclen will. Wie Hermann Schibli in seiner Monographie über Pherckydes (1990) gezeigt hat, lässt sich diese Form als cine normale Entwick-

lung des jonischen Dialekts erklären, der -eia, -éa, -év zu -ÿ zusammenzicht. Bezüglich der Form Ῥῆ schreibt Schibli (1990, 17, Anm. 8): „It is not certain what Pherckydes might have intended by a strange form. If he meant to link Ῥῆ to ῥέω |...], he would have done better to keep the familiar Ῥέα. But it is debatable in the first place how idiosyncratic this usage of Ῥῆ is, for it may represent

a nonnal development in lonic from -eia, -éa., -ér to -5". Darüber hinaus macht Martin West (1963, 170) auf den Zusammenhang aufmerksam, der im Fragment 7 auftritt, und behauptet, dass die ἐκροή cine Flut oder cine Quelle sein muss, die mit den Seelen der Toten in Verbindung steht. Eine Gleichsetzung von der ἐκροή und Rhea würde aus der Göttin cine Gottheit der Unterwelt machen, und das entspräche keiner der überlieferten Belege über ihre Figur. Aber auch wenn man diese Gleichsetzung akzeptieren würde, hätte sie keine Relevanz für die Auslcgung von Rheas Namen im Kratylos, denn im platonischen Text liegt die Aufmerksamkeit auf einem anderen Element: auf der ununterbrochenen Bewegung des Wassers. Κρόνον In Bezug auf die Auslegung von Kronos’ Namen weist Heindorf darauf hin, dass Buttman richtig behauptet hat, dass Platon im Namen

Κρόνος das Wort xeouvös gesehen haben musste, da im Griechischen der Unterschied zwischen dem Vokal o und dem Diphthong ov gering ist: „propter minimam inter o ct ov apud antiquos differentiam", in Heindorf 1806, 65-66, Anm. 41. David Robinson (1995, 64) macht darauf aufmerksam, dass in der Bewcisführung des Philologen cine Ungenauigkeit aufgetreten ist und argumentiert: „In

Attic inscriptions earlier than 403 B.C. βουλή (cxempli gratia) was indeed usually (officially and perhaps archaistically) spelt βολή, and Plato is certainly relying here on a suggestion that the familiar Κρόνος was an ‚old spelling! which may perhaps really have represented the word generally spelt as xgovvóg". Deshalb emendiert er die Stelle zu Koovvov. Darüber hinaus kann noch erwähnt werden, dass in dem Papyrus von Derveni (Spalte 14, 7) der Name des Gottes

durch das Verb κρούειν erklärt wird: κρούοντα τὸν Νοῦν πρὸς ἄλληλ[α] Κρόνον ὀνομάσας. Der Unterschied zwischen o und ov beeinträchtigt auch im Papyrus von Derveni dic Namensanalysc nicht. Unter den Zeugnissen, die Pohlenz gesammelt hat, um zu dokumentieren, dass Kronos in der griechischen Welt den Gott des Regens und der Emtec reprä-

76

Die Vorfahren der Gótter

sentierte, tritt eines, das sich für dic Interpretation dieses Kratylos-Abschnitts als sehr bedeutsam erweist, hervor. Siche das Kapitel über Kronos als „Wetter- und Erntegott" von Pohlenz RE, 1987. Zur Bedeutung des Wassers bei der Darstellung Kronos in der griechischen Kultur siehe das Kapitel „Kronos als umoris und frigoris deus" von Mayer 1890-1894, 1471-1477. Eine Münze (Head HN. 145), die aus Himera stammt und auf dic Jahre 413/408 datierbar ist, zeigt Kronos’ Kopf umgeben von den Großbuchstaben KPONO-X. Auf der Rückseite ist im Zentrum cin Blitz dargestellt, der von zwei Ähren flankiert wird. Pohlenz interpretiert den Blitz als cine Anspiclung auf Kronos als dem Gott des Regens, von dem die Ernte, die durch die beiden Ähren dargestellt wird, abhängt. Auf dieser Münze befinden sich alle Elemente, auf denen dic Auslegung von Kronos’ Namen im Kratylos basiert: Auf der einen Seite gibt es die Schrift KPONOZ, auf der anderen Seite die Darstellung fruchtbringenden, ertragreichen Wassers.

von

Kronos

als

Gott

des

b 4. δευμάτων ὀνόματα Im Fall von Rhea und Kronos wird im Text keinerlei Art von Namenserklärungen gegeben. Es wird lediglich gesagt, dass sie ῥευμάτων ὀνόματα sind. Deswegen hat man den Eindruck, dass dic Bedeutung dieser Namen dem zeitgenössischen Leser ohne weitere Erklärung verständlich gewesen sein müss. ῥεῦμα, das fließende Wasser, drückt die Tätigkeit, die Be-

wegung des ῥεῖν aus. Dic ῥευμάτων ὀνόματα sind also als „die Namen in Verbindung mit der Idee des geiv“ zu verstehen. Das lässt vermuten, dass der Name Ῥέα dank der lautlichen Verwandtschaft implizit direkt von der Wurzel des Verbs ῥεῖν abgeleitet wird. Die Göttin wird auf diese Weise zur Verkörperung des FlieBens des Wassers. Was Kronos hingegen anbelangt, wurde die implizite Ableitung Κρόνος < κρουνός vorgeschlagen. Siehe dazu meinen Kommentar zu Crat. 403b3. b 4. ὥσπερ αὖ Ὅμηοος Um zu zeigen, dass die Gestalten von Okeanos und Tethys das heraklitische Prinzip des ständigen Flicßens in sich bergen, zitiert Sokrates aus zwei Dichtern: Homer und Orpheus. Im homerischen Vers werden Okeanos als γένεσις ϑεῶν und Tethys als μήτηρ ϑοῶν genannt. Sokrates macht dazu keine Aussage, aber wenn man dic allegorische Methode auf diese Formeln anwendet, wird deutlich, dass sic sich als Darstellung der Zeugung des Universums verstehen lassen. Genauso kônnen dic zitierten Verse von Orpheus eine Anspielung auf die heraklitische Theorie des unaufhörlichen Flicßens sein, da Okeanos der Beiname καλλίρροος zugeschrieben wird und er und Tethys das erste Paar des ganzen Güttergeschlechts sind. Der Vergleich mit cinem Abschnitt der Meraphysik verstürkt die Annahme. dass die allegorische Methode in diesem Kratvlos-Abschnitt angewendet wird. Als erster hat Bruno Snell (1944, 177-182) die Verbindungspunkte zwischen den beiden Texten hervorgehoben, indem er den Abschnitt des Kratylos mit der-

Die Vorfahren der Götter

77

jenigen Stelle in der Metaphysik vergleicht, an der Aristoteles von den vernutc-

ten Verwandtschaften zwischen der Lehre von Thales und einigen dichtcrischen Texten spricht. Snell zeigt, dass sowohl der Kratylos-Abschnitt als auch die Metaphysik dieselbe Struktur besitzen. In der Metaphysik spielt Aristoteles auf dicjenigen an, die beanspruchen, Thales" Lehre in den Texten antiker Dichter-Theologen aufgefunden zu haben: Εἰσὶ dé τινες oi καὶ τοὺς παμπαλαίους xai πρώτους ϑεολογήσαντας οὕτως οἴονται Ὠκεανόν τὸ γὰρ καὶ Τηϑὺν ἐποίησαν τῆς τῶν ϑεῶν ὕδωρ. τὴν καλουμένην ὑπ᾽ τιμιώτατον μὲν γὰρ τὸ πρεσβύτατον, ὅρκος

πολὺ πρὸ τῆς νῦν γενέσεως xai περὶ τῆς φύσεως ὑπολαβεῖν" γενέσεως πατέρας καὶ τὸν ὅρκον αὐτῶν Στύγα [τῶν ποιητῶν]: δὲ τὸ τιμιώτατόν ἐστιν (Metaph. A, MI, 983b-984a).

Im Kratylos hingegen ist Sokrates derjenige, der dic Ähnlichkeiten zwischen den Texten der Dichter und der Lehre des Heraklits hervorhebt. Die Tatsache, dass im Kratylos und in der Metaphysik der Vers 201 des 14. Buches der /lias -Ὠκεανόν τε ϑεῶν γένεσιν xai μητέρα Tdi -- erscheint, lässt Snell (1944, 173) vermuten, dass es cine gemeinsame Quelle gibt, die sowohl Platon als auch A-

ristoteles benutzt haben: Es handelte sich hierbei vermutlich um das Buch des Sophisten Hippias. Snell (1944, 180-181) behauptet, dass der Sophist jene Zeugnisse gesammelt habc, die in der griechischen Kultur das Wasscr als grundlegendes Prinzip der Welt bezeichnen. Die so zusammengestellte Zitatensammlung sci dann sowohl von Platon als auch von Aristoteles benutzt worden. Platon

habe aus dem Buch des Sophisten ausschließlich die Dichtungszitate entnommen und Thales durch Heraklit ersetzt. Diese Ersctzung bezeichnet Snell (1944, 174) als das „scherzende Spiel", als den „Witz“ Platons.

In einem Aufsatz, der die gesamte Problemstellung erneut untersucht, versucht Jaap Mansfcld unter Beibehaltung der Haupthypothesc Snells das Problem der Ein- oder Ausschließung der Zitate Heraklits zu lösen, indem cr (1983, 52)

zeigt, dass über Thales hinaus auch der Hinweis auf Hcraklit als eine dem Hippias zugehörige Argumentation zu betrachten sci: In allen Zeugnissen tritt das Bild vom Wasser in Erscheinung. Auch wenn die Hypothese der gemeinsamen Quelle nicht völlig überzeugend ist -- in Wirklichkeit ist es wahrscheinlicher, dass Aristoteles vom Kratylos beeinflusst wurde -, bleibt es Mansfelds bedeu-

tender Beitrag, gezeigt zu haben, dass sowohl im Kratylos als auch in der Metaphysik cin Verfahren wirksam ist, das an die Allegorese erinnert. Mansfeld (1983, 51) schreibt in aller Deutlichkeit: Consequently, what Hippias did was to interprct poctical tion“.

statements

in a way

reminiscent of allegorical

interpreta-

Dic Art und Weisc, wie Aristoteles den homerischen Vers über Okcanos Tethys zitiert, enthüllt dieses Deutungsverfahren. Aristoteles macht sich Zweideutigkeit des Begriffes γένεσις zunutzc, der im Griechischen sowohl exakten Augenblick der Geburt eines Gegenstandes als auch den Prozess

und die den der

78

Die Vorfahren der Gótter

fortgesetzten Veränderung der Wirklichkeit bezeichnen kann, und er übersetzt den homerischen Vers mit dem Ausdruck: πατέρες τῆς γενέσεως. Mansfeld (1983, 47) behauptet dazu: „the paraphrase given by Aristotle turns this into another statement, for it transforms Occanus and Tethys into the ‚parents of becoming" (genesis). The paraphrase, then, exploits the ambiguity of genesis: both Origin’ and ,becoming'". Entsprechend den eigentümlichen Verfahren der Allegorese wird die homerische Beschreibung von der Geburt der Gótter, in der Okeanos als Erzeuger und Tethys als Mutter des Góttergeschlechts betrachtet wurden, in eine Aussage über den Ursprung des Universums verwandelt. Wie Mansfeld (1983, 47) richtig betont, ist Aristoteles’ Einstellung gegenüber diese Interpretationsweise von dichterischen Texten sehr polemisch, und er schreibt dazu: „Aristotle explicitly rejects the view of those who want to find anticipations of Thales” statement that water is the arche of things in the old theologizing poets" (1983, 48). In Übereinstimmung mit seinen philosophischen Ansätzen bcabsichtigt der Philosoph hier, dic Distanz zwischen Thales als dem Begründer der Philosophie und den Dichter-Thcologen zu betonen. Platons Absichten im Kratylos hingegen scheinen gänzlich anderes inspiriert zu sein. Dic Auslegungsarbeit, die Sokrates in gleicher Weisc an der Sentenz von Heraklit und an den Dichtungszitaten durchführt, zcigt schlieBlich, dass es zwischen dem „Wissenschaftler“ und dem „Dichter“ nicht nur eine vermutcte Identität der Ar-

gumente gibt, sondern offensichtlich auch Ähnlichkeiten auf der Ausdrucksebene: Das FlieBen des heraklitischen Flusses entspricht dem Fließen von Okeanos und Rhea, der Quelle Kronos und dem Sickern und Tröpfeln von Tethys. b 4-5. “Ὠκεανόν Te ϑεῶν γόνεσίν" φησιν "xai μητέρα Τηϑύν"

Der Vers der

llias (Hom. Il. XIV, 201 und 302), den Sokrates zitiert, stammt aus ciner Rede von Hera, in der die Göttin erzählt, wie ihre Mutter Rhea sie Okcanos und

Tethys anvertraute, damit sic geschützt vor den Kümpfen zwischen Kronos und Zeus aufwachsen konnte. Wic Martin West (1983, 119-120) richtig unterstreicht, entstammt der homerische Abschnitt einer anderen Tradition als der he-

siodeische, einer Tradition, nach der Okeanos und Tethys nicht den Titanen angehörten und deshalb der Titanomachie fremd sind. Im Abschnitt der //ias sind die beiden Gottheiten nicht die Kinder von Uranos und Gaia, sondern sie nchmen selbst die Rolle der Vorfahren des ganzen Götterstammbaums ein. Ὠκεανόν

Die Auslegung von Okeanos'

Namen

wird im Krarylos nicht behan-

delt. Das hat sicher damit zu tun, dass er für den Eigennamen cines Flusses gehalten wurde: Okcanos ist in der griechischen Kultur der Urfluss, von dem alles seinen Anfang nimmt; er fließt an den äußersten Rändern der Welt ununter-

brochen im Kreis. Von ihm werden alle Flüsse, die Quellen und das Meer ständig mit Wasser gespeist. Proklus (in Crat. p. 81 Pasquali) gibt eine andere Namenserklärung mit der Ableitung von ὠκύτης und νοῦς („Geist ! keit“). ss:

5

M

Lii —

Die Vorfahren der Götter

79

b 7-cl. Ὠκεανὸς πρῶτος καλλίρροος ἦρξε γάμοιο, / Og δα κασιγνήτην ὁμομήτορα Τηϑὺν ὄπυιεν Wic der Vers von Homer so stellen auch dic beiden orphischen Versc Okeanos und Tethys als ursprüngliches Paar der Góttergencalogie dar und schlieBen

deshalb

ihre Abstammung

von

Uranos

und Gaia aus;

siehe dazu West 1983, 118-119. In diesen Versen wird cine gemeinsame Mutter (vgl. ὁμομήτορα, cl) erwähnt. Anhand zahlreicher Zeugnisse, die in der orphischen Tradition die Nacht als Symbol einer primordialen Macht bezeichnen, lässt sich die

Hypothese

formulieren, dass die Mutter, auf die hier angespielt

wird, mit der Nacht identifiziert werden könnte; siche Arist. Metaph. A, 6, 1071b = Frg. 24 Kem; Arist. Metaph. N, 4, 1091b; Damascius, de principiis 1, 319, 8-11; vgl. Aristoph., Aves, 693-703. In den orphischen Versen des Kratylos würde also eine Tradition dargelegt, in der cs am Beginn der göttlichen Abstammung kcinen Platz für Uranos und Gaia gab, da Okcanos und Tethys direkt von der Nacht abstammen. Diese Hypothese, die nach dem heutigen Stand der

Forschung nicht bewiesen werden kann, findet ihre Unterstützung, wenn man beide dem vorher zitierten Vers der Ilias (XIV, 201, 302) - Ὠκεανόν re ϑεῶν γένεσιν xai μητέρα Τηϑύν gegenüberstellt, der in diesem Abschnitt des Kratylos erscheint. Für diesen Abschnitt der //ias gelangt West (1983, 120) zur gleichen Schlussfolgerung: Okeanos und Tethys werden dort nicht nur als Vorfah-

ren der Götter dargestellt, sondern die Nacht nimmt cine überaus wichtige Rolle ein, indem ihre Macht die von Zeus noch übersteigt. Es wäre also möglich, dass beide Zeugnisse des Krarylos - der Vers Homers und dic orphischen Verse dieselbe Tradition darlegen. Eine andere Theogonic orphischen Ursprungs, die sich im Timaios (40d641a3) befindet, zeugt hingegen von der Existenz einer orphischen Tradition,

nach der das Paar Uranos-Gaia von Okcanos und Tethys abstammt. Die Gencalogie beginnt nämlich im Timaios mit Uranos und Gaia, auf diese folgen Okcanos und Tethys, die dann - wie im Abschnitt des Kratylos -- die Eltern von Kro-

nos und Rhea werden. Darüber hinaus lässt sich dort noch die Figur des Phorkys finden.

Den

Abschnitt

im Timaios mit den orphischen Versen

im Kratylos ver-

gleichend formuliert West (1983, 120) die Hypothese, dass dic orphische Theogonic, dic Platon kannte, cinen Kompromiss zwischen der Priorität von Okcanos und von Tethys und jener von Uranos und von Gaia darstellte. Die erstere sei wahrscheinlich

einer älteren mythologischen Tradition zuzuschreiben, der auch

die beiden orphischen Verse des Kratylos angchóren. Die letztere wäre von Hcsiod bezeugt. West vermutet auch, dass die beiden orphischen Verse im Kratylos ursprünglich für cine Thcogonie verfasst wurden, für dic sie cine exakte und wörtliche Bedeutung hatten und dass sie später in cine Theogonic -- „die Thcogonic des Kompromisses"

- eingeflossen scien, die von Platon im Timaios be-

zeugt wird. Daher wurde die ursprüngliche Bedeutung der Verse notwendiger-

80

Die Vorfahren der Gótter

weisc modifiziert. Zu ciner hóchst kritischen Analyse der Rekonstruktion Wests siehe Brisson 1985, 402-405. b 5-6. οἶμαι δὲ xai Ἡσίοδος Die Behauptung, dass Okeanos und Tethys neben Homer und Orpheus auch bei Hesiod die Rolle der Vorfahren der Götter einnehmen, bereitet dem Verständnis einige Schwierigkeiten. Bei der im Kranlos vorgeschlagenen Góttergencalogie erscheinen Okcanos und Tethys als Vorfahren der Gótter, denen Kronos und Rhca folgen. Zur Unterstützung dieser Genealogie werden zwei Verse von Orpheus und cin Vers von Homer zitiert. Was Hesiod anbelangt, wird kein Zitat vorgelegt, sondern nur flüchtig auf den Dichter hingewiesen. In der Tat übernehmen Okcanos und Tethys in der hesiodeischen Thcogonie nicht die Rolle der Vorfahren der Gótter, sondern sic gehóren zusammen mit Rhea und Kronos zu den Titanen und stammen von Gaia und Uranos ab. Siehe dazu Theog. 133-136. Die Formulierung, die zwischen den Zitaten aus Homer und Orpheus lediglich den Satz οἶμαι

δὲ xai Ἡσίοδος

hinzufügt,

verrät also cine bewusste

lronic

und zeigt cine verdüchtige Unsicherheit gegenüber der hesiodeischen Thcogonic, die kurz zuvor (396c4) sogar die Grundlage der Wortanalyse

von Sokrates

gewesen ist. Um die ironische Absicht dieses Satzes hervorzuheben, ist mir ferner daran gelegen, einen Abschnitt aus dem Phaidon zu erwähnen. Phaidons Aufzählung der Personen, die in den letzten Stunden vor Sokrates’ Tod anwesend waren, schlicBt mit dem Satz: Πλάτων δὲ οἶμαι ἠσθένει (Phaed. 59b10). Durch diesen Ausdruck ruft Platon einen durchaus eleganten Verfremdungseffekt hervor und es gelingt ihm, beinahe die narrative Fiktion aufzubrechen und dem Leser die Distanz zwischen ihm als Autor des Textes und dem Ich-Erzähler (Phaidon) deutlich bewusst zu machen. Platon stellt sich dadurch als unwichtige Randfigur hin. Im Kratylos trägt dic Ironie dazu bei, den Unterschied zwischen der Gencalogie Hesiods und der Homers und Orpheus deutlich zu machen. Damit hebt Platon cine andere mythische Tradition hervor, die an den Anfang ihrer eigenen Theogonic Okcanos und Tethys setzt. ς 4-5. τὸ μέντοι τῆς Τηϑύος οὐκ ἐννοῶ ὄνομα τί βούλεται Den Auslegungen der Gótternamen dieser Gruppe (Kronos, Rhea und Okcanos) hat Sokrates nur cine kurze Erörterung gewidmet, die dem antiken Leser unmittelbar verständlich gewesen scin muss und die auch seinem Gesprächspartner innerhalb der narrativen Fiktion anscheinend keine Probleme bereitete. Für Tethys aber verlangt Hermogenes cine spezifische Erläuterung, denn er sagt ausdrücklich, dass er die Bedeutung des Namens der Góttin nicht versteht. Sokrates schlägt daraufhin cine höchst komplizierte Namensanalysc vor. € 6. Ἀλλὰ wmv τοῦτό γε ὀλίγον αὐτὸ λόγει In scinem Kommentar zum Kratylos bemerkt Stallbaum die komische Wirkung, die Sokrates’ Äußerung hervor-

Die Vorfahren der Götter

8l

ruft: Nachdem Sokrates behauptet hat, der Name von Tethys erkläre sich „fast von selbst", legt er eine sehr komplizierte und geschraubte Auslegung vor. Zum Lemma ὀλίγου αὐτὸ λέγει" schreibt Stallbaum (1835, 101): „hoc propemodum sponte declarat, ut non opus sit multa cura et studio. Nihilominus nominis originatio ab co proposita longissime cst arcessita et ob id ipsum perridicula“. € 6-7. ὅτι πηγῆς ὄνομα Emixexgumävov ἐστίν — Tethys" Name ist eine verborgene Bezeichnung für Quelle. In dieser Aussage ist das grundlegende Konzept der allegorischen Deutung enthalten. In seiner Dichtung stellt der Dichter die Wahrheit auf rätselhafte und für den gemeinen

Menschen nicht unmittelbar ver-

ständliche Weise dar. Deshalb ist der Deuter zur Entschlüsselung der tieferen, versteckten Bedeutung - der ὑπόνοια des poetischen Textes - gezwungen. Zum Konzept der ὑπόνοια in der Allegorese siche S. 35. Der Gebrauch des Verbes ἐπικρύπτειν als Terminus der allegorischen Deutung kommt in den platonischen Dialogen

háufig

vor;

siche

Crat.

404c3,

421b;

Theaet.

1804].

Auf ähnliche

Weise wird im Kratylos (395b5-8) auch das Verb ἐπικαλύπτεσϑαι benutzt. c7-d

2. τὸ γὰρ διαττώμενον xai τὸ ἠϑούμενον πηγῆς

ἀπείκασμά, ἐστιν" ἐκ

δὲ τούτων ἀμφοτέρων τῶν ὀνομάτων ἡ Τηϑὺς τὸ ὄνομα σύγκειται

Die Analyse

von Tethys" Namen richtet sich nach der Auslegung von Kronos' Namen. In jcncm Fall wurde der Name des Gottes implizit - dies ist meine bevorzugte Lesart durch das Wort κρουνός erklärt, jetzt wird Tethys ebenso zur Darstellung einer Quelle (πηγῆς ἀπείκασμα), da die Verben, aus denen ihr Name zusammengesetzt ist, das Fliessen des Wassers ausdrücken. Allerdings scheint der Gedan-

kengang dieses Mal erzwungen zu sein. Sokrates’ Anspruch einer völligen Identitát zwischen dem Namen der Göttin und der Idee der Quelle reibt sich in Wirk-

lichkeit mit der Komplexität des Auslegungsverfahrens. Das Verfahren, das Sokrates hier anwendet, ist tatsächlich áuBerst komplex. Proklus (in Crat. p. 83 Pasquali) erklärt es mit großer Klarheit. Es verweist auf

zwei Phasen: Erstens auf die Verschmelzung der beiden Verben (τὸ διαττώμενον ı τὸ ἠϑούμενον = "Διαττηϑύς), zweitens auf den Wegfall des ersten Wortteils, woraus Τηϑύς entsteht. Die Auslegung von Thetys' Namen entfernt sich weit

von den Kriterien der MáBigung und der Wahrscheinlichkeit, welche nach Sokrates die Wortanalyse leiten müssten; vgl. ἀλλὰ τὸ μέτριον οἶμαι δεῖ φυλάττειν καὶ τὸ εἰκὸς σὲ τὸν σοφὸν ἐπιστάτην (Crat. 414c2-3). Der ganze Abschnitt scheint vom Kontrast zwischen der Verkündung der Selbstverständlichkeit des Namens der Göttin und der interpretativen Virtuosität des Ausl rfahrens gekennzeichnet, so dass cin Effekt hervorgerufen wird, der der Komik nicht entbehrt. Auch die Verben, von denen der Name der Göttin abgeleitet wird, lassen den Verdacht ciner bewusst komischen Absicht entstehen. Beide bezeichnen das Fließen des Wassers oder einer anderen flüssigen Substanz in geringer Quantität und mit besonderen von äußeren Einflüssen

82

Die Vorfahren der Gótter

hervorgerufen Modalitäten, dic oft mit manuellen Arbeiten in Verbindung stchen:

das

Durchsickern

und

das

Tröpfeln.

Siche

dazu:

χρυσὸς

ἠθημόνος

διὰ

πέτρας (Plat. Tim. 5904); xai τῆς μολυβδαίνης τρίψας ὡς λειότατον διαττήσας. ξυμμίξας, ἕψειν (Hipp. Ulc. 424 Littré VI); ἔχει δὲ τὸ φαρμακῶδες τοῦτο ὃ καλεῖται ῥοῦς ἐν αὐτῷ ὁστῶδες ὃ καὶ ῥοῦ διηττημένης ἔχει πολλάκις (Theophr. Hist. plant. 3, 18, 5). Im Sophistes bezeichnen dic beiden Verben genau diejenigen Tätigkeiten, die der niedrigen Arbeit angchôren: SE. καί μοι λέγε" τῶν οἰκετικῶν ὀνομάτων καλοῦμεν ἄττα που: OEAI. Καὶ πολλά: ἀτὰρ ποῖα δὴ τῶν πολλῶν πυνϑάνῃ: SE. Τὰ τοιάδε. οἷον διηϑεῖν τε λέγομεν xai διασήϑειν καὶ διαττᾶν βράττειν (Sophist. 226b2-6).

καὶ

Der Abschnitt des Sophistes verstärkt also den Verdacht, dass Sokrates cinen bewusst verhóhnenden und komischen Ton anschlägt, wenn cr die Gestalt der Göttin mit niedrigen körperlichen Tätigkeiten assoziiert. Durch die Auslegung ihres Namens wird Tethys als Darstellung des heraklitischen Prinzips des ewigen Fließens aufgefasst, jedoch unter seinem demütigeren und einfacheren Aspekt: Tethys wird zur „durchsickernden und tröpfelnden“ Göttin. Bei der Behandlung der im Timaios (40c) enthaltenen Theogonie verweist Proklus in seinem Kommentar auf die Namenscrklürung im Kratvlos und bczieht sich, was Tethys betrifft, auf den Abschnitt des Sophistes, um zu unterstreichen, dass die beiden Verben cinen Akt der Unterscheidung und der Trennung ausdrücken: ταῦτα γὰρ ὀνόματά, ἐστι διακριτικά (Proc. in Tim, 179 Diehl) πηγῆς ἀπείκασμα Der Name der Göttin wird als „ ‚lautliche‘ Darstellung einer Quellc“ bezeichnet, denn die Verben, aus denen ihr Name zusammengesetzt ist, drücken das Flicßen von Wasser aus. Das Wort ἀπείκασμα. das die sprachliche Widerspicgelung der Dinge bezeichnet, nimmt das Verb ἀπεικάζειν wieder auf, das kurz zuvor die Verbildlichung des heraklitischen Grundprinzips der Welt durch das Bild des Flusses beschrieb: xai ποταμοῦ ῥοῇ ἀπεικάζων τὰ ὄντα |sc. Ἡράκλειτος] λέγει ὡς |...) (Crat. 40229-10). Auch wenn das semantische Feld dieser beiden Begriffe schr breit ist, ist zu bemerken, dass sie in gewissen Kontexten zu der von der Allegorese benutzten Terminologie gezählt werden. Zu einer nicht allegorischen Benutzung von εἰκάζειν und εἰκών siche Radermacher (19542, 273), der zu einer Stelle in den Fröschen (906) des Aristophanes behauptet, dass das εἰκόνας Asyeıv „keine Bildrede im Sinne der hohen Poesie", sondern viel mehr „eine Form der Witzelei” sci, „die man als εἰκάζειν bezeichnete und dic, wie jegliches σκῶμμα, einer nic-

deren Sphärc angehörte“. Dabei zitiert er Platons Menor (80c) und das Symposium (215a). An der Stelle des Gorgias (493a1-c3), an der Sokrates die allegorische Ausle-

gung cines Mythos crörtert, der das Schicksal der Uneingeweihten im Hades beschreibt - sic sind dazu verdammt, Wasser durch lóchrige Sicbe in löchrige Gefäße zu gießen -, erscheint das Verb ἀπεικάζειν, um dic Arbeit des Dichters zu

Die Vorfahren der Gótter

83

bezeichnen, der den eigenen Gedanken in ,allegorischer"^ Form darstellt. Ein vollkommenes Verständnis des Abschnitts wurde dank der Auslegungsarbeit von Dodds (1959, 296-299) móglich, der klar zwischen dem Autor des Mythos

über Hades und dem allegorischen Deuter, der seines Erachtens aller Wahrscheinlichkeit nach ein Vertreter der pythagorcischen Schule war, unterscheidet.

Dem allegorischen Deuter zufolge wollte der Dichter durch das Bild eines durchlôcherten Gefäßes die Unersättlichkeit der von den Begierden beherrschten Seclen beschreiben: τῶν δ᾽ ἀνοήτων τοῦτο τῆς ψυχὴς où αἱ ἐπιϑυμίαι εἰσί, [...] ὡς τετρημένος eim mí3oc, διὰ τὴν ἀπληστίαν ἀπεικάσας (Gorg. 493b1-3); siche noch: τὴν δὲ ψυχὴν κοσκίνῳ ἀπήκασεν τὴν τῶν ἀνοήτων ὡς τετρημένην (Gorg. 493cl); auch hier wird dic Secle der Unsinnigen so beschrieben, als ob sic durchlóchert wie cin Sieb wäre. Der Vergleich zwischen der Secle und cinem durchlöcherten Gefäß wird durch ein gemeinsames Merkmal beider Elemente

ermöglicht: So wie sich die Gefäße der Verurteilten im Hades niemals füllen werden, weil sie Löcher haben, so sind die Seelen der unsinnigen Menschen von einem unerfüllbaren Verlangen beherrscht, von einer ἀ-πληστία, dic -- wie dic Etymologie des Wortes zeigt (verneinendes à- und die Wurzel des Verbs πίμπλημι,

„füllen“) - , dic „Unausfüllbarkcit‘“ der Seele anzeigt. Innerhalb der

allegorischen Terminologie also bezeichnet ἀπεικάζειν den cinzelnen Akt des Dichters, der in seiner Dichtung mittels einer poctischen, bildhaften Schilderung (die durchgelöcherten Gefäße der Uneingeweihten im Hades) auf die Unersätt-

lichkeit der Scelen unsinniger Menschen hindeutct. Für den allegorischen Deuter bestcht genau darin der cigentümliche Akt des Dichtens, nämlich, die Realität in Rätseln durch ständige Vergleiche auszudrücken. Eine solche Transposition geschicht nie willkürlich, sondern immer anhand cines gemeinsamen Merkmals, in diesem Fall durch den Begriff der Unausfüllbarkcit (der ἀπληστία) beider Elemente. Für die Allegorese wird also das Dichten zur Suche nach Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ausdrucksebenen, die ofl durch eine lautliche Bezichung abgesichert wird. Indem der Dichter die Wirklichkeit poctisch darstellt, erschafft er fortlaufende Vergleiche, die der allegorische Deuter dekodicren soll.

Im Papyrus von Derveni findet man die einfache εἰκάζειν -- mit derselben Bedeutung: ἀλλὰ δηλοῖ ὧδε λέγων" "αἰδοῖον κατέπινεν. ὅς αἰϑέρα ἔκϑορε πρῶτος". ὅτι μὲν πᾶσαν τὴν πόησιν περὶ τῶν πραγμάτων

Form

dieses Verbs

αἰνίζεται κία)ϑ᾽ Enog ἕκαστον ἀνάγκη λέγειν. ἐν τοῖς alidoiolis ὁρῶν τὴν γένεσιν τοὺς ἀνθρώπουϊς)

νομίζονί τας ellvaı τούτωι ἐχρήσατο. ἄνευ δὲ τῶν

αἰδοίων [οὐ γίν]εσϑαι. αἰδοίωι εἰκάσας τὸν ἡλιοίν") (Spalte 13, 3-9). Bevor der allegorische Deuter mit der Analyse cines Verses beginnt, der ihm of-

fensichtlich besonders schwierig zu sein scheint, weist er auf die Grundlagen

84

Die Vorfahren der Gótter

seiner interpretativen Praxis hin: Der Dichter stellt cine Erörterung über die Wirklichkeit an, die aber in Rätseln (αἰνίζεται) ausgedrückt ist; deshalb bedarf sie einer minuziösen Analyse, die jedes Rätsel Vers für Vers löst. Unmittelbar darauf zeigt der allegorische Deuter seine Fähigkeit zur Entschlüsselung der Dichtungsprache: Orpheus will mittels der Geschlechtsorgane des Uranos dic Sonne (αἰδοίωι εἰκάσας τὸν ἥλιο[ν], 9) darstellen. Die Gleichsetzung von Uranos’ Geschlechtsorganen mit der Sonne beruht auf cinem gemeinsamen Merkmal beider Elemente: die Fähigkeit zur Zeugung. Wenn also mit dem Verb αἰνίττεσθαι die dichterische Aktivität bezeichnet wird, dic darin besteht, einen Text über die Phünomenc des Universums in Rätselform

zusammenzusetzen,

dann

bezeichnet

εἰκάζειν

den

einzelnen

Akt

der

dichterischen Schöpfung, der sich in einer Tätigkeit der ständigen Übertragungen ausdrückt.

Siche dazu: βασιλεῖ de αὐτὸν εἰκάζει (Spalte

19, 8). Siehe noch

προσφερέστατον (Spalte 18, 8) und προσφέρειν (Spalte 19, 8). Die Auslegung der Namen der Góttervorfahren lässt sich graphisch wie folgt darstellen: OQxeavoçs

Τηϑύς τὸ διαττώμενον ^

»,

+ τὸ

^

Ψ

ἠϑούμενον ’

"Διαττηϑὺς Ῥηϑύς — Urfluss"

„die durchsickernde und tröpfelnde Göttin”

Κρόνος

Ῥέα

κρουνός

τὸ ῥεῦμα, ῥεῖν

„die Quelle“

„das fließende Wasser“

Poseidon, 402d11-403a3 402 d 7. Τοὺς ἀδελφοὺς δὴ αὐτοῦ λέγωμεν

Nach der Auslegung der Namen

der Vorfahren der Gótter gcht Sokrates über zu der folgenden Generation, zu Kronos' Kindern. Die Formulierung des Satzes, mit dem Sokrates dic Erklürun-

gen von Zeus’, Poscidons und Hadcs' Namen verkündigt - τοὺς ἀδελφοὺς δὴ αὐτοῦ [sc. Διὸς] λέγωμεν -- erinnert an einen Passus der /lias, in der Poseidon Iris erklärt, wie die Welt unter den drei Söhnen von Kronos aufgeteilt wurde: Τρεῖς yàg τ᾿ ἐκ Κρόνου εἰμὲν ἀδελφοί, ous τέκετο Ῥέα. / Ζεὺς xai ἐγώ. τρίτατος δ᾽ "Aiömg, ἐνέροισιν ἀνάσσων (Hom. /l. XV, 187-188). Schon Proklos (in Crat.. p.83 Pasquali) hatte dic Bezichung zwischen den Versen der //ias und dem Abschnitt des Kratylos hervorgehoben. d 11. Τὸ μὲν τοίνυν τοῦ Ποσειδῶνος

Für Poseidons Namen werden von Sok-

rates nacheinander und ohne Wertung oder Bevorzugung drei Auslegungen vor-

gestellt. Die erste erklärt den Namen durch das Kompositum ποσίδεσμος („Fessclung der Füße“); die zweite zerlegt den Namen in das Syntagma πολλὰ εἰδώς (..vicl wissend“) und die letzte bringt den Gótternamen mit dem Partizip ὁ σείων („derjenige, der [sc. die Erde] erschüttert „) in Bezichung. e 5. Ποσειδῶνα ὡς ποσίδεσμον Dic crste Auslegung erklärt den Namen [Ποσειδῶν aus dem Kompositum ποσί-δεσμος. Im Verlauf des Dialogs wird der Begriff δεσμός als gleich bedeutender Ausdruck wie das Partizip τὸ δέον gcbraucht; siche dazu: τὸ δέον φαίνεται δεσμὸς εἶναι (418c7). Berücksichtigt man die semantische Entsprechung zwischen δεσμός und τὸ δέον, so ist es möglich, den impliziten Ablauf der Wortuntersuchung zu rekonstruieren, der den Namen des Gottes durch ποσίδεσμος erklärt. Ποσειδῶν lässt sich als cin zusammengesetzter Name interpretieren, der aus ποσί und aus δῶν (der zusammengezogenen Form des Partizip Präsens Maskulinum des Verbs δεῖν) gebildet wird: *Ilociδῶν: obwohl δεῖν zwcisilbig ist, kann dieses Verb die Kontraktion von eo vor-

weisen; siehe zum Beispiel τῷ δοῦντι in Crat. 419b4 und τὸ δοῦν in Crat. 421c5. Das e, das noch fehlt (*Tloor-dwv > Ποσ΄ε»ι-δῶν > Ποσειδῶν) - erklärt Sokrates würde aus ästhetischen Gründen hinzugefügt (Craft. 402c5-6). Der Name des Gottes nähme somit die Bedeutung „derjenige, der die Füße fesselt" an. Die erste Namenserklärung folgt dem typischen Verfahren der Allegoresc: Die spezifische Eigenschaft cines Elementes (ἡ τῆς ϑαλάττης φύσις. c2) - in diesem Fall die Fähigkeit des Mceres, dic Bewegungen der Menschen zu verhindern, die vorwärts gchen wollen - wird im Gôticrnamen enthüllt. Poscidon besitzt hier die Eigenschaft, die ihm auch in der epischen Pocsie zugeschrieben wird: Er ist der Herrscher des Mecres (ἄρχων. c4); siehe dazu Hom., //. XIII, 1731; XV, 184-199; Od. V, 282-385. Besonders bei der Beschreibung des Gottes

86

Poseidon

im 13. Buch der //ias (Hom., //. XIII, 17-38) gibt es viele Elemente, die auch im

Kratylos vorkommen. Dort wird geschildert, wie Poseidon mit drei großen Schritten in die Meeresticfe zu seinem vergoldeten Wohnsitz hinabsteigt und wie er, nachdem er seinen Wagen bestiegen hat, unter dem Jubel der Mcerestiere durch das Meer bis hin zum Lager der Achäer fährt. Bei dieser Schilderung wird die Aufmerksamkeit des Lesers immer wieder auf die Füße des Gottes gelenkt: Αὐτίκα δ᾽ ἐξ ὄρεος à κατεβήσετο παιπαλόεντος κραιπνὰ ποσὶ ποοβιβάς" τρόμε δ᾽ οὔρεα μακρὰ καὶ ὕλη ποσσὶν ὑπ ᾿ ἀϑανάτοισι Ποσειδάωνος iἰόντος. eic μὲν ὀρόξατ᾽

Aiyas

ἰών. τὸ δὲ τέτρατον

ἵκετο τάκμωρ.

(Hom., //. XIII, 17-21).

Jedoch werden nicht nur die Füße des Gottes zweimal erwähnt und mit dem Attribut

der Unsterblichkeit

verschen,

sondern

auch

deren

Leistungsfähigkeit.

deren Schnelligkeit und Kraft, die sogar Berge und Wälder erzittern lassen. Für unsere Untersuchung ist es bezeichnend, dass der Name des Gottes im Vers 19 unmittelbar dem Wort ποσσίν folgt. Darüber hinaus wird berichtet, wie sich das Meer vor dem dahinfahrenden Wagen des Gottes unter dem Jubel der Mcerestiere teilt; siehe: γηϑοσύνῃ δὲ ϑάλασσα διίστατο (Hom. //. XIII, 29). Wie im Kratylos (402c3-4) wird der Triumph des Gottes über das Meer gefeiert. Am Ende seiner triumphalen Fahrt hält Poscidon seine Pferde an, schirrt sic aus und bindet ihnen die Beine mit goldenen Stricken, um sie festzuhalten; siche: ἀμφὶ δὲ ποσσὶ

πέδας ἔβαλε χρυσείας. / ἀρρήκτους ἀλύτους. ὄφρ᾽ ἔμπεδον αὖϑι μένοιεν, νοστήσαντα ἄνακτα (Hom. /. XIII, 36-38). Am Schluss der Schilderung erscheint also noch cinmal das anfüngliche Motiv der ersten Auslegung des Namens von Poseidon im Kratylos, das ihn als denjenigen, der „dic Füße fesselt hinstellt. e 5-6. τὸ δὲ ἃ ἔγκειται ἴσως εὐπρεπείας ἕνεκα

Für dic notwendige Einfügung

von e, d.h. dem Übergang von ἘΠοσι-δῶν zu Ποσζελι-δῶν > Ποσειδῶν, wird cinc Begründung gegeben, die die ästhetische Dimension der Sprache berücksichtigt. Zahlreich sind dic Stellen, die auf cine ästhetisierende Neigung der Sprach-

entwicklung hinweisen, siche noch dazu die Abschnitte über Persephone, Athena und Hermes. e 6 - 403 a2. τάχα δὲ οὐκ ἂν τοῦτο λόγοι, ἀλλ᾽ ἀντὶ ToU σῖγμα δύο λάβδα ro πρῶτον ὀλέγετο, ὡς πολλὰ εἰδότος τοῦ ϑεοῦ Die zweite, schr konzise Auslegung von Poscidons Namen macht ihn zum „Gott, der viel weiß“ (πολλὰ εἰδώς). Dic Erklürung konzentriert sich ausschlicBlich darauf, dic Veránderung des Gôtternamens auf die lautliche/graphische Ebene der Sprache zu rechtfertigen. Der Salz - ἀντὶ ToU σῖγμα δύο λάβδα τὸ πρῶτον ἐλέγετο -, der sich auf den Anfangsteil des Namens bezicht, der sich von IIOAA- (πολλά) zu ΠΟΣ- (Ποσεἰδῶν) verwandelt, wird vollständig verständlich, wenn man sich die graphische

Poseidon

87

Dimension der Sprache vor Augen hält. Wird nämlich das Doppel-A in IIOAAA gedreht, ergibt sich Z: AA U X. Wenn man überdies daran denkt, dass das a bei πολλά durch Elision wegfällt, wird die ganze Transformation durchsichtig: IIOZEIAQN « TIO«AA?[A] EIAQX. In Bezug auf diese Namenserklärung ist cs verwunderlich, dass hier das wichtige Thema der Erkenntnis so oberflächlich aufgegriffen wird,

und völlig aus dem Zusammenhang

ge-

rissen ist und erst später bci der Namenserklärung des Gottes der Unterwelt eine genauere Behandlung erfährt. Die Künstlichkcit des Ableitungsverfahrens könn-

te auf einc Steigerung der Komik hinweisen. Baxter (1992, 116) interpretiert das völlig anders. Er sicht in dieser Etymologie „a Platonic hint as to the true nature of divinity“.

a 2-3. ἴσως δὲ ἀπὸ τοῦ σείειν ὁ σείων ὠνόμασται" πρόσκειται δὲ τὸ πεῖ xai Die dritte Namenserklärung zeigt Poscidon in seiner epischen Rolle τὸ δέλτα als Erderschütterer. Wie bei den vorhergehenden Namenserklürungen ist auch

hier das Auslegungsverfahren äußerst kompliziert. Heindorf (1806, 68, Anm. 42) hat als erster bemerkt, dass man gezwungen ist, den Artikel des Partizips σείων cinzubezichen, um den Namen des Gottes (ὁ σείων > «Πρό-σεί-«δ»ων) zu

erhalten. Vielleicht sollte man diese letzte Auslegung als den paradoxen Abschluss einer komischen Steigerung betrachten, dic der Text durch dic drei AusIcgungen von Poscidons Namen zeigt. Wegen ihrer Komplexität und ihrer

Künstlichkeit kann die angewandte Verfahrensweise mit der der Tethys verglichen werden; siehe dazu S. 81.

Die drei Auslegungen von Poseidons Namen darstellen:

lassen sich graphisch wie folgt

Ποσειδῶν [Ιοσειδῶν

ὁ ποσίδεσμος ὁ ποσὶ δῶν Toc ιδῶν ^ e

ΠΟΣΕΙΔΩΝ

IIOAAA ΕἸΙΔΩΣ | A^ J x

"Ποσειδῶν

ὁ σείων ὁ dei wv ^ ^ T



| [[οσειδῶν

ΠΟΣΕΙΔΩΝ

lloceıdav

* ὁ ποσὶ δῶν < δεῖν

πολλὰ εἰδώς

ὁ σείων

derjenige, der die Füße fesselt“

„viel wissend"

„der Erderschütterer“

Pluton und Hades, 403a3-404b4 Der Abschnitt über den Namen der Unterwelt-Gottheit weist einen sehr komplizierten Textaufbau auf, die Proklus (in Crat. p.87 Pasquali) mit großer Genauigkeit erfasst: Ὅτι κακῶς τινας ἀναλύοντας τὸ μὲν τοῦ Πλούτωνος

ὄνομα eig τὸν ἐκ τῆς

γῆς πλοῦτον διά τε τοὺς καρποὺς καὶ τὰ μέταλλα. τὸν δὲ Ἀίδην εἰς τὸ ἀιδὲς καὶ σκοτεινὸν καὶ φοβερόν. ἐπιρραπίζει νῦν ὁ Σωκράτης. εἰς ταὐτὸν ἄγων σημαινόμενον τὰ δύο ὀνόματα, τὸν μὲν Πλούτωνα ὡς νοῦν εἰς τὸν τῆς φρονήσεως πλοῦτον. τὸν δὲ Ἀίδην εἰς τὸν εἰδότα νοῦν τὰ πάντα.

Zunüchst greift Sokrates zwei Namensauslegungen auf, dic auf der herkómmlichen Darstellung der Gottheit basicren. In Bezug auf das Bild von Pluton als eIcusinischer Gottheit, dic im Kreis der Mysterien als Spender von Reichtum dargestellt wird, wird der Name des Gottes (Πλούτων) durch den Terminus πλοῦτος erklärt; der andere Name des Gottes (Ἅτδης) wird mit dem Adjektiv ἀιδές in Bczichung gesetzt, so dass die Auslegung scines Namens das gebräuchliche Bild des Herrn der Toten als unsichtbare und schreckliche Gottheit wiedergibt. Siche als Beispiel dazu dic Darstellung des Hades in dem 5. Buch der Odysee. Angeregt durch Hermogenes, der wissen móchte, welche Ansicht Sokrates dazu

ver-

tritt, werden gleich darauf zwei neue Namenscrklärungen gegeben, die sich auf eine vóllig unterschiedliche, cher philosophische Deutung der Gottesfigur beziehen. 403 a 3-4. τὸ δὲ Πλούτωνος Die Namenserklürung Πλούτων < πλοῦτος muss für den Sprecher des Altgriechischen unmittelbar verständlich gewesen sein. Seit der Name Πλούτων belegt ist, also ungefähr scit Beginn des 5. Jh., wurde das Wort πλοῦτος im Namen des Gottes aufgefasst. Aischylos spricht sogar von

einem Fluss namens Pluton, dessen Wasser wie Gold ist: οἱ χρουσόρρυτον / οἰκοῦσιν ἀμφὶ νᾶμα Πλούτωνος πόρου (Aesch. Prom. Vinct. 805-806). Zu dem Namen

Πλούτων

siehe

Richardson

1974,

320;

zu

der

Bezichung

zwischen

Πλούτων und πλοῦτος siche Zwicker, „Plutos“, RE, 1027-1028. Aristophanes macht sic sogar zum Inhalt eines Scherzes. Nachdem im Text auf die Namenserklärung Πλούτων «πλοῦτος ausdrücklich angespiclt wird, lässt der Komódiendichter eine Erklärung zum Namen der Gottheit folgen, dic dem Tauschhandel auf dem Marktplatz entlichen ist: xai μὴν πόϑεν Πλούτων γ᾽ ἂν ὠνομάζετο, εἰ μὴ τὰ βέλτιστ᾽ ἔλαχεν: ὃν δέ σοι φράσω.

ὅσωι τὰ κάτω κρείττω ᾽στιν ὧν ὁ Ζεὺς ἔχει. ὅταν γὰρ ἱστῆις. τοῦ ταλάντου τὸ ῥέπον κάτω βαδίζει, τὸ δὲ κενὸν πρὸς τὸν Δία (Arist. Ταγηνισταί, Frag. 504 PCG).

Pluton und Hades

#9

Hermann Usener stellt bei Aristophanes sogar eine Austauschbarkeit der beiden Begriffe fest. Im Plutos (727) bezeichnet die Form Πλούτων, dic Person dic dic Verkörperung des Reichtums ist und durch die die Komödie ihren Namen bekommt. Zum Beweis des wechselseitigen Gebrauchs beider Formen zitiert Usener (1896, 16-17) noch Sophocl. /nachos Fragg. 251 und 261 Nauck.

a 4. κατὰ τὴν ToU πλούτου δόσιν Dic Auslegung des Namens Πλούτων durch πλοῦτος wird mit Hilfe des Ausdrucks κατὰ τὴν τοῦ πλούτου δόσιν gestützt, der dem Gott die Bedeutung „der Spender des Rcichtums" eintrágt. Der Beiname πλουτοδότης wird Pluton in Luc. Tim. 21 und Orph. Hymn. 18, 4-5 zugeschricben; siehe dazu Zwicker RE, 1028. Auch wenn Nilsson (1967, 471) die Etymo-

logic Plutons im Kratylos für korrekt hält, bemerkt er, dass Πλούτων, wie alle Substantivc, dic auf - ὧν enden, statt „Reichtumspender“, „derjenige, der Reichtum besitzt" bedeutet. Dic Figur des Plutons als πλουτοδότης ist auf dic Rolle zurückführbar, dic dicser Gott in den eleusinischen Mysterien innchat. In cinem Passus der hesiodischen Theogonie ([sc. Πλοῦτος] τῷ δὲ τυχόντι xai οὗ κ᾽ ἐς χεῖρας ἵκηται. / τὸν δὴ ἀφνειὸν ἔϑηκε, πολὺν δέ οἱ ὥπασεν ὄλβον. 973-974) tritt Plutos in der Funktion des Spenders von Reichtum auf. Er wird dort (Hes. Theog. 969) als Sohn der Demeter und deshalb als Teil des Mythos betrachtet, der den cleusinischen Mysterien zu Grunde liegt. Im Hinblick auf dic hesiodeischen Verse kommentiert West (1966, 422): „usually the functions arc distinct: crops arc the concern of Demeter and Persephone, and Hades-Pluto is lord of the dead. But his part in the Persephone-myth presupposes that he too has power over thc crops, at lcast in a negative way: he can guard his wealth and hold it in the carth". Das interessanteste Zeugnis aber licfert cine Vase aus Lokroi, datierbar ungefähr auf dic Mitte des 6. Jh., die cine der ältesten bildlichen Darstellungen der Mysterien von Eleusis ist. Zur Abbildung der Vase, Kommentar und weiterführender

Bibliographie siehe Metzger

1965, 8-9. Das erhaltenc Bruchstück

zeigt

Demeter auf einem Wagen in Begleitung von Triptolemos, Athene, Herakles und Hermes sowie einer männlichen, reich gekleideten Figur mit einem Zcpter, neben der eine Inschrift mit dem Namen Πλουτοδότας" eingefügt ist. Henri Metzger (1965, 9) behauptet, dass sie eine der grundlegenden Figuren der cleusischen Welt ist, eher der Spender von Reichtum als der Reichtum selbst. Martin Nilsson (Nilsson 1967°, 860) nimmt Metzgers Analysc auf und fügt hinzu, dass die Darstellung fast die Illustration einiger Verse der Hymne auf Demeter zu sein scheint. Zu diesem Punkt siche auch Richardson 1974, 319-320. In dem homerischen Hymnus wird erzählt, dass die beiden Göttinnen der Unterwelt (Demeter

und

Persephonc)

Plutos (den Spender von

Menschen schicken, die sic lieben:

Reichtum) zum

Haus der

90

Pluton und Hades

aja, δέ oi πέμπουσιν ἐφέστιον ἐς μέγα δῶμα Πλοῦτον, ὃς ἀνθρώποις ἄφενος ϑνητοῖσι δίδωσιν (Hom.

Hymn.

M, 488-489).

In Bezug auf die Verse des homcrischen Hymnus argumentiert Zwicker („Plutos", RE, 1041), dass Plutos, der Gott des Reichtums der Erde, wahrscheinlich gerade in Eleusis zum Gott der Toten wurde, wo die Veränderung des Namens von Πλοῦτος zu Πλούτων erfolgt wäre. Wenn

man die Gleichsetzung der Figur

auf der Vase mit dem Gott der Unterwelt akzeptiert, wäre dies diesclbe Darstellung von Pluton als πλουτοδότης, dic auch im betreffenden Abschnitt des Krarılos in Erscheinung tritt. Auch Goldschmidt (1940, 123) setzt die Auslegung des Namens Pluton im Kratylos mit den Versen der homerischen Hymne in Verbin-

dung. a 4-5. ὅτι ἐκ τῆς γῆς κάτωθεν ἀνίεται

ὁ πλοῦτος

Dice Begründung der Na-

menserklärung - „der Reichtum wird aus dem Inneren der Erde gewonnen“ scheint auf eine Rationalisierung des elcunisischen Mythos anzuspielen. Pluton wird in diesem Abschnitt als Gott der Unterwelt und als Ackerbaugottheit dar-

gestellt, ebenso wie im eleusinischen Kult. Dieser Charaktcrisicrung folgend kann Sokrates argumenlieren, dass der Name der Gottheit dic Bedeutung von „Spender des Reichtums" annimmt, da der Reichtum aus dem Inneren der Erde. dem Wohnort des Gottes also, gewonnen wird. Victor Goldschmidt (1940, 125)

glaubt, dass der rationalisierende Gedankengang dieses Kratylos-Abschnitts starke Ähnlichkeiten mit jener Rationalisierung hat, dic in einem Fragment von Prodikos bezeugt ist. Der Sophist (84B5 DK) behauptet nämlich, dass Demeter als Ernährung, Dionysos als Wein, Poseidon als Wasser usw. angesehen worden sind: Πρόδικος δὲ ὁ Κεῖος ᾿ἥλιον, φησί, xai σηλήνην xai ποταμοὺς καὶ κρήνας καὶ καϑόλου πάντα τὰ ὠφελοῦντα τὸν βίον ἡμῶν οἱ παλαιοὶ ϑεοὺς ἐνόμισαν διὰ τὴν ἀπ᾿ αὐτῶν ὠφέλειαν. καϑάπερ Λὶ ύπτιοι τὸν NeiÀov' καὶ διὰ τοῦτο τὸν μὲν ἄρτον Δήμητρα νομισϑῆναι, τὸν δὲ οἶνον Διόνυσον. τὸ δὲ ὕδωρ Ποσειδῶνα. τὸ δὲ πῦρ “Ἥφαιστον καὶ ἤδη τῶν εὐχρηστούντων ἕκαστον.

Dieser Gedankengang ähnelt demjenigen, den wir später bei der Namensanalyse einer anderen Gottheit, der Demeter, finden werden, die ebenso Teil des Kreises

der Mysterien von Eleusis ist. Die Auslegung ihres Namens - διδοῦσα ὡς μήτηρ (Crat. 404b9) - wird durch die Wendung κατὰ τὴν δόσιν τῆς ἐδωδῆς erklärt, die stark an jene (κατὰ τὴν ToU πλούτου δόσιν) erinnert, dic für Pluton benutzt wird. a 5-6. 0 δὲ Ἅιδης Was die erste Auslegung von Hades' Namen anbelangt. so macht Sokrates dazu keine genauen Angaben. Er beschränkt sich darauf, zu bestätigen, dass dic meisten (οἱ πολλοί) scincn Namen als τὸ ἀιδές interpretieren. weswegen sic ihn fürchten. Es ist offensichtlich, dass der Name Ἅιδης implizit in zwei Teile zerlegt wird: à- privativum und -ıöng, abgeleitet von der Wurzel

Pluton und Hades

9l

iö-, welche auch im Verb ἰδεῖν auftaucht, so dass dem Gott die Bedeutung des „Unsichtbaren“ gegeben wird. Wie Sokrates selbst behauptet, handelt es sich hier um eine sehr verbreitete, volkstümliche Namenserklärung. Für cine Liste der Stellen, in denen sich in der griechischen Literatur diese Namenserklärung

findet, ebenso wie für die anderen Etymologien zu Hades in der Antike siche Wüst, Pluton“, RE, 990-991.

Schon Homer macht sich die Auslegung von Ἅιδης durch ἀιδές zunutzc, um die Auswirkungen der Tarnkappc des Hades zu erklären: αὐτὰρ ᾿Αϑήνη / δῦν᾽ ‘Ados κυνέην, μή μιν ἴδοι ὄβριμος Ἄρης (Hom. II. V, 844-845). Sophokles spielt

darauf an, um den Eindruck des Schreckens und des Todes zu beschreiben, den der Gott hervorrief: κακὰν ἐλπίδ᾽ ἔχων / ἔτι μέ ποτ᾽ ἀνύσειν τὸν ἀπότροπον ἀΐδηλον Ἅιδαν (Sophocl. Aiax 606-607). Siche auch Aristoph. Ach. 390. Die Namenserklärung von Ἅιδης durch ἀιδές kommt noch an anderen Stellen der platonischen Dialoge vor. Sic taucht in einem Abschnitt des Gorgias (393alc3) auf, in dem Sokrates die allegorische Deutung cines Mythos über das Schicksal der Nichteingeweihten im Jenseits schildert. Siehe Dodds’ Kommentar (1959, 297-298) zu diesem Abschnitt. Die Namenserklärung ist auf cinen Nebensatz — ἐν Ἅιδου - TO ἀιδὲς δὴ λέγων (Gorg. 493b4-5) — begrenzt, und der Sinn, den sie innerhalb der komplizierten Auslegung des Mythos hatte, bleibt gänzlich im Dunkeln. Es lässt sich lediglich behaupten, dass es sich dabei um cin Mittel handelte, dessen sich der allegorische Deuter für seine Analyse bedicnte. Innerhalb der Diskussion über die Unsterblichkeit der Scele kommt dicselbe Erklärung des Namens von Hades im Phaidon noch einmal vor, und dient dazu, die Ähnlichkeit zwischen der Seele und dem Ort zu beweisen, zu dem sic sich nach dem Tod begibt: ἽΙ δὲ ψυχὴ ἄρα. τὸ ἀιδὲς. τὸ εἰς τοιοῦτον τόπον ἕτερον οἰχόμενον γενναῖον καὶ καϑαρὸν xai aid, εἰς Ἅιδου ὡς ἀληϑῶς. παρὰ τὸν ἀγαϑὸν καὶ φρόνιμον ϑεόν. ol, ἂν ϑεὸς ϑέλῃ. αὐτίκα καὶ τῇ ἐμῇ ψυχῇ ἱτέον (Phaed. 80d5-8).

Dic Seele, die als ἀιδές („unsichtbar“), im Text sogar als τὸ ἀιδές („das Unsichtbarc") beschrieben wird, erreicht einen Ort, Hades, der ihr ähnlich weil cbenfalls unsichtbar ist. Die Reihe τὸ ἀιδές - ἀιδῆ - εἰς Ἅιδου bezeugt auf der lautlichen Ebene der Sprache die Beziehung zwischen Scele und Hades und wird bei der platonischen Argumentation zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Diescl-

be Namenserklärung findet sich noch in Phaed. 81c11. Zu den philosophischen Implikationen, die dic Auslegung von Hades’ bringt. siche S. 188-193, besonders S. 189.

Namen

im

Phaidon

mit

sich

a 6. οἱ πολλοί Die Analyse von Hades" Namen beruht auf der Gegenüberstcllung zwischen denjenigen, dic als οἱ πολλοί bezeichnet werden und den Namen des Gottes nach seiner traditionellen Gestalt als τὸ ἀιδές („das Unsichtbarc“) austegen,

und

Sokrates, der gleich danach

eine ganz andere Namenserklärung

92

Pluton und Hades

geben wird; siche auch den folgenden Hinweis von Sokrates: πολλαχῇ ἔμοιγε δοκοῦσιν ἄνϑρωποι διημαρτηκέναι περὶ τούτου ToU ϑεοῦ τῆς δυνάμεως xai φοβεῖσθαι αὐτὸν οὐκ ἄξιον «ὃν» (403b2-4). Die Gegenüberstellung erinnert hier in ihrer Struktur durchaus an dic Allegoresc. Auch im Papyrus von Derveni stellt sich der Deuter den πολλοί gegenüber, die sich bezüglich der Götter irren und deshalb ihre Namen falsch deuten. Der Deuter hingegen gibt vor, mehr als die anderen zu wissen und deshalb die authentische Interpretation der Góttergestalten und derer Namen licfern zu können. Siche dazu: τοῦτο τὸ ἔπος nalea]ywyov πεπόηται xai Tolis] μὲν / πολλοῖς ἄδηλόν ἐστιν. τοῖς δὲ ὀρϑῶς γιγνώσκουσι / εὔδηλον ὅτι “ὭὨκεανός" ἐστιν ὁ ἀήρ. ano δὲ Zeus (Spalte 23, 1-3). Im Kratylos wird Sokrates selbst zum allegorischen Deuter, da er sich der Meinung der πολλοί entgegensetzt und dic authentische Natur des Gottes enthüllt. Dies geschicht durch die Entdeckung cines Grundclementes, námlich des Wissens, innerhalb des Gótternamens, das aber an den

Rand der menschlichen

Existenz gesetzt wird. Zum philosophischen Inhalt dieses Abschnitts siche S. 181-193. a 7-8. xai φοβούμενοι τὸ ὄνομα Πλούτωνα καλοῦσιν αὐτόν Wegen der Angst. die der Name Hades (Ἅιδης « ἀιδές) cinflóBt, wurde scin anderer Name, und zwar Pluton, bevorzugt. Im Phaidon (79b7-15), wie Paolo Wohlfahrt (1990, 25) mit Recht unterstrichen hat, findet sich dasselbe ángstliche Verhalten wie im Kratylos gegenüber dem Adjcktiv ἀιδές. Den drängenden von Fragen Sokrates. der die Seele als ἀιδές definieren möchte, widersetzt sich Kebes hartnäckig und greift zu verschiedenen Hilfsmitteln, um das Adjektiv ἀιδές nicht auszusprechen. Am Ende erhält Sokratcs nur eine barsche und knappe bejahende Antwort. Sokrates fragt: Aid&c ἄρα |sc. ἡ ψυχή]; Kebes antwortet: Ναί. b 2-4. Πολλαχῇ ὅμοιγε δοκοῦσιν ἅἄνϑρωποι διημαρτηκόναι περὶ τούτου ToU ϑεοῦ τῆς δυνάμεως καὶ φοβεῖσϑαι αὐτὸν οὐκ ἄξιον «ὃν» Sokrates stellt zunächst die einzelnen Deutungsfehler heraus, die von den πολλοί hinsichtlich der Gestalt

des Gottes der Unterwelt begangen wurden des Aufenthalts im Jenseits, andererseits gibt sen Zustand, in welchem man sich dort nach ncue, die der Natur der Gottesfigur gemäße schen Charakter besitzt.

einerseits fürchten sic dic Ewigkeit es dic Besorgnis um den kórperlodem Tod befindet - dann folgt die Darstellung, die cher philosophi-

b 7-8. τὰ δ᾽ ἐμοὶ δοκεῖ πάντα ἐς ταὐτόν τι συντείνειν, xai ἡ ἀρχὴ ToU SeoU καὶ τὸ ὄνομα Damit kündigt Sokrates die Absicht an, dic Widerspiegelung der Macht des Gottes in seinem Namen zu zeigen. Durch dic Analyse môchte cr in Hades’ Namen dic Gegenwart eines Prinzips (ἀρχή) oder einer Funktion (δύναμις, vgl. πεοὶ rovrov τοῦ ϑεοῦ τῆς δυνάμεως 403b3) nachweisen, dic grundlegend für die Welt sind. Die exakte Widerspicgelung, das refcrentielle Verhält-

Pluton und Hades

93

nis zwischen Wort und Sache, zwischen dem Namen cines Gottes und seiner Macht über die Welt ist einer der wichtigsten Grundsätze der Allegoresc. c 1-3. eine γάρ μοι, δεσμὸς ζῴῳ ὁτῳοῦν ὥστε μένειν ὁπουοῦν, πότερος ἰσχυρότερός ἐστιν, ἀνάγκη ἢ ἐπιϑυμία; Die Untersuchung zur Bedeutung der δεσμοί von Hades findet im Text mittels cincr raschen Abfolge von Fragen und Antworten zwischen Sokrates und Hermogenes statt, so dass sich die Namensauslegung in eine dialektische Diskussion verwandelt. Wenn Hades die sokratische Rolle des Dialcktikers in diesem Abschnitt übernimmt, dann ist auch der Text so gestaltet, dass er der sokratischen Form der Dialektik als Ausdrucksform entspricht. δεσμός Das Thema, das den Abschnitt über den Gott der Unterwelt am stärksten prägt, ist das Bild der „Fessel“ (δεσμός) als das charakteristische Merkmal

des Hades. Gaiscr (1974, 70) hebt hervor, wie schr das Thema

des Bindens das Leitmotiv des gesamten Abschnitts darstellt. Er vermutet sogar, dass Platon implizit auf eine Ableitung (Ἅιδης « ἀεὶ δήσας) anspiclen will, deren Entdeckung dem Leser überlassen sci. Gerade die Suche nach der Funktion des δεσμός des Hades, εἰς als zwingende Fesscl (ἀνάγκη) oder als Fessel der Begierde (ἐπιϑυμία) zu betrachten, treibt Sokrates dazu, die Unterweltgottheit in den Inhaber und Spender des Wissens zu verwandeln. Bald stellt Sokrates fest, die cinzige Möglichkeit, für den Gott die Seelen im Jenseits an sich zu binden, sei deren Wunsch, sich selbst im Umgang

mit ihm zu verbessern. In der griechischen

Kultur nimmt

das Thema

des Bindens - setzt man es in

Bczichung zum Tod - einen negativen Wert an: Moira und Atc zum Beispiel umschlingen mit dem Druck der Angst und des Todes; siche: μοῖρα πέδησε (Hom. /L IV, 517); ἄτῃ ἐνέδησε βαρείῃ (Hom. //. IX, 18). Wie Schreckenberg (1964, 67-68) anmerkt, sind das Tóten und das Fesseln für Pindar Synonyme: πέφνε δὲ τρεῖς xai δέκ᾽ ἄνδρας" τετράτῳ δ᾽ αὐτὸς πεδάϑη (Pind. Frag. 135). In dem aischyleischen Agamemnon bezeichnet Kassandra in ihrem Delirium den Tod als „das Netz des Hades" (δίκτυον Ἅιδου, Aesch. Agam. 1115). Zur symbolischen Bedeutung des Bindens im Zusammenhang mit dem Tod in der gricchischen Kultur siche Gallini 1960, 550-551; Schreckenberg 1964, 66-71. Zu den verschiedenen Bedeutungen, die es in der griechischen Religion und im Mythos annehmen kann, siehe Schuhl 1949; Merkelbach 1971; Delcourt 19822; Burkert 1996, 118-121. Zu einer Analyse dieses Symbols in den verschiedenen Kulturen siehe Eliade 1947-1948. Der Kratylos legt eine Umkehrung der Polarität dieses Symbols vor, so dass es zur bildhaften

Darstellung

der Wissensübertragung

wird.

Zunüchst

werden

die δεσμοί von Hades als dic stärksten Fesseln vorgestellt, die es gibt: Sie hindern die Seelen daran, aus dem Hades zu flichen: τῷ ἰσχυροτάτῳ δεσμῷ (403c6); eineg μέλλει τῷ μεγίστῳ δεσμῷ κατέχειν (d2). Dank der intellektualistischen und philosophischen Vision des Jenseits, so wie es in diesem Abschnitt

94

Pluton und Hades

vorgestellt wird, sind dic schónen Reden dic Fesseln, durch die der Gott die Seclen zurückhált: καλούς τινας [...] λόγους (403c2-3). Dazu kommt noch ein letztes Bild, das sie als Zauberei oder magische Bindung darstellt, dic nicht nur die Seclen, sondern sogar die Sirenen verzaubert, die ja als Zauberinnen schlechthin im

Mythos bekannt sind: κατακεκηλήσϑαι ἐκείνας (sc. τὰς Σειρῆνας) Te xai τοὺς ἄλλους πάντας (403e1-2). In der ganzen Wortuntersuchung des Kratylos nimmt das Thema des Bindens eine äußerst wichtige Rolle an. Es hat eine negative Bedeutung, sofern es das Gegenteil der heraklitischen ov) darstellt - in welchem Fall es die Bedeutung von „Behinderung der Bewegung" annimmt -, es kann aber auch, wie Konrad Gaiser (1974, 68) gezeigt hat, cine vóllig positive Bedcutung annehmen, wie es im Fall der Erklärungen von σῶμα (4000). von δεόν (418a-419b) und von Ἅιδης ersichtlich ist. Siche dazu das Kapitel seiner Monographie über den Krarvlos (1974, 68-71) „Die Zweideutigkeit des Gebundenscins". Gaiser stellt fest, dass die unterschiedlichen

Bewertungen,

die dieses Thema

im Kratvlos jeweils cr-

hält, nur dann verständlich werden, wenn das Gegensatzpaar Bewegung/Ruhc als Ausdruck

zweier entgegengesetzter

Sichtweisen

der Welt

verstanden

wird.

Dazu schreibt Gaiser (1974, 72): „Es hat sich gezeigt, dass dem Etymologienteil des Kratylos ein differenzierter Begriff der Bewegung (Veränderung, Fluss) wie auch der Ruhe (Bindung, Stillstand) zugrunde licgt. Beide Begriffe erscheinen unter prinzipiell verschiedenen Gesichtspunkten und erfahren je diametral verschiedene Wertungen. Bewegung und Ruhe stchen hier also in cinem spannungsreichen dialcktischen Verhältnis zucinander: man muss jeweils fragen. welche Art der ‚Bewegung‘

oder ‚Ruhe‘ gemeint

ist, und die extremen Gegen-

sätze scheinen sich zu berühren. Im Großen und Ganzen sind zwei Aspekte zu unterscheiden, die zwei verschiedenen Ansichten der Realität entsprechen“. Dieser Gegensatz, den Gaiser im ganzen Dialog sicht, ist die Struktur, die der Götterabschnitt bis zum Hades formt. Hestia enthält beide Aspekte. Sie stellt cine Realität dar, die einfach gegeben ist und gleichzeitig unter heftigen Stößen steht; in den Namen der Vorfahren der Götter wird hingegen ausschließlich das heraklitische Prinzip der 60% entdeckt: In Kronos verbirgt sich das Bild einer Quelle (xeovvos); Rhca ist die Personifikation des heraklitischen Fließens; Okca-

nos ist der Urfluss; Tethys repräsentiert das Durchsickern und das Trópfeln des Wassers. Daher muss man sich fragen, welche Bedeutung dic δεσμοί von Hades innerhalb einer solchen Struktur übernehmen. Dic Auslegung des Namens der Unterweltgottheit (Ἅιδης < ἀ-εἰδέναι = „derjenige, der gemeinsam mit... weiß" siche dazu S. 100-101) ermöglicht den Übergang von der mythischen Szene, in der Hades die Seelen mit seinen Reden unterhält und an sich bindet, hin zur Darstellung eines Segments der Realität. Hades verwandelt sich damit in den Ort des Wissens. Wenn man den Überset Ι der Allegoresc Berade auf das Bild der Fesseln des Hades ‘anwendet, ist man gezwungen, sic als bildliche Darstellung einer wesentlichen Eigenschaft der Rcalität anzuschen. Dabei

Pluton und Hades

95

handelt es sich um ein kohäsives und zwingendes Prinzip: das Wissen. Zu dieser Funktion, die Platon dem Wissen zuschreibt, siche S. 184-193. ὥστε μένειν ὁπουοῦν

Der plótzliche Tonwechsel

im Text, der in Sokrates! Untersuchung ei-

nc noue, eher dialektische Nuancierung hervorruft, lässt die Frage aufkommen, ob es unter der Oberfläche ciner Analyse, die sich mit der Bedeutung der Attri-

bute eines Gottes - den δεσμοί von Hades -- beschäfligt, eine philosophische Dimension gibt. Die Frage stellt sich mit Dringlichkeit, wenn man bedenkt, dass

dem ganzen Götter-Abschnitt eine allegorische Struktur zugrunde liegt. Die

Formulicrung des Textes

ὥστε

μένειν ὁπουοῦν - regt uns an, cine auf

den ersten Blick unwahrscheinliche und in gewisser Hinsicht gewagte Analogie vorzunehmen, die aber durch die Feststellung der Funktion der δεσμοί in der platonischen

Gedankenwelt

an Glaubwürdigkeit

gewinnt: der Vergleich zwischen

der Formulierung — ὥστε μένειν ὁπονοῦν - und cincr der wichtigsten Passagen des parmenideischen Gedichtes. Durch cine derartige Gegenüberstellung wird einem klar, dass bei Platon das Bild des Bindens cine philosophische Dimension besitzt und vor allem, dass es aus der Bearbeitung der parmenideischen Bildwelt

entstanden ist, die das ov und seine Funktionen bezeichnet. Parmenides verwendet die Figur von Ananke und „die Schlingen der Begren-

zung" (πείρατος ἐν δεσμοῖσιν. 31), um zu beschreiben, was Barbara Cassin (1987, 167) als logische Selbstbeschránkung des ov definiert hat: ταὐτόν τ᾽ ἐν ταὐτῷ TE μένον xa S' ἑαντό τε κεῖται χοὕτως ἔμπεδον αὖϑι μένει" κρατερὴ γὰρ ἀνάγκη πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει. τό μιν ἀμφὶς ἐέργει

(Frag. 28B8, 29-31 DK).

Dic Formel im Kratylos — ὥστε μένειν ὁπουοῦν - scheint der verallgemeinerte und

prosaische

μένει

Ausdruck

des parmenideischen

Verses

-- χοὔτως

ἔμπεδον

αὖϑι

zu sein. Freilich sind die Bilder in beiden Texten schr verschieden: Ei-

nerscits gibt es das parmenideische 6v, das Ananke „in den Schlingen der Be-

grenzung" zurückhält, so dass er sich immer selbst ähnlich bleibt und dadurch seine Identität bewahrt, andrerseits tritt die Gottheit - Hades - auf, die als Wissensinhaber beschrieben wird und gleichzeitig einen Ort - das Jenseits -- darstellt, eine Gottheit, bei der man sich fragt, welche Bedeutung seine δεσμοί haben.

An

dieser Stelle ist es aber zunächst wichtig, das Gemeinsame

zweier so

verschiedener Darstellungen hervorzuheben: dic δεσμοί. Sie erfüllen in beiden Fällen eine bindende Funktion, wobei die Bindung immer als Wissensbindung oder als Wissensübertragung zu verstehen ist. Dic δεσμοί binden also, halten zusammen, gleichzeitig verknüpfen sie und verbinden, übertragen Kenntnisse und verleihen Identität.

Dic Deutung der δεσμοί von Hades im Krarylos wird erst in jeder Hinsicht verständlich, wenn man sich dic Bedeutung des ganzen Abschnitts vor Augen hált. [n diesem Teil des Kratylos wird Hades durch den Üb mus der Allegoresc in dic mythische Darstellung der οὐσία umgewandelt, d.h. in

96

Pluton und Hades

die bildliche Schilderung jener philosophischen Geste, mit der Platon das Wissen und mit ihm das Sein an den Rand des menschlichen Lebens setzt. Durch die Untersuchung der Figur des Hades im Phaidon beabsichtige ich, aufzuzeigen. dass eine derartige Darstellung aus der Bearbeitung der Bildwelt von Parmenides hervorgeht. Daraus wird klar, dass die δεσμοί des Hades im Kratylos als Wiederaufnahme der Attribute des ὄν von Parmenides zu interpretieren sind. Zur

Untersuchung der Bedeutung von Hades im Phaidon siche das Kapitel „Die Figur von Hades im Phaidon" (S. 188ff.) und vor allem in Bezug auf die Thematik

des Bindens S. 190-193. € 2-3. ἀνάγκη ἢ ἐπιϑυμία Die Wahl zwischen Notwendigkeit und Begierde ist für Platon eine philosophische Frage, die er von Parmenides übemommen hat: Sic betrifft das lenkendc Prinzip des Universums. Den philosophischen Inhalt dieser Wahl zu erkennen, bedeutet dic allegorische Struktur des Abschnitts zu Hades in allen Einzclheiten wahrzunchmen. Das heißt, dass man dic tragende Struktur des Abschnitts - die Allegorese - gründlich untersuchen muss, damit man versteht, wie sich cinc Figur des Mythos in ein Prinzip der Realitát verwandelt. In diesem Fall handelt cs sich um eine Struktur, die die Unterwelt in den Ort des Wissens und deshalb auch des Seins

umwandelt. Vor allem sind cinige Stellen aus dem Symposium hilfreich, diese Dimension des Textes ans Licht zu bringen. Die Wahl zwischen Anankc und Eros befindet

sich am Anfang der Rede Agathons; anders als im Kratylos kommt im Symposium der Gott Eros als die mythische Verkörperung der ἐπιϑυμία vor: ἐγὼ δὲ Φαίδρῳ πολλὰ ἄλλα ὁμολογῶν τοῦτο οὐχ ὁμολογῶ. ὡς Ἔρως Κρόνου καὶ Ἰαπετοῦ ἀρχαιότερός ἐστιν. ἀλλά φημι νεώτατον αὐτὸν εἶναι ϑεῶν καὶ ἀεὶ νέον. τὰ δὲ παλαιὰ πράγματα περὶ ϑεούς. ἃ Ἰ]σίοδος καὶ Παρμενίδης λέγουσιν, Ἀνάγκῃ καὶ οὐκ Ἔρωτι γεγονέναι. εἰ ἐκεῖνοι ἀληϑῇ ἔλεγον" οὐ γὰρ ἂν ἐκτομαὶ οὐδὲ δεσμοὶ ἀλλήλων ἐγίγνοντο καὶ ἄλλα πολλὰ καὶ βίαια, εἰ Ἔρως ἐν αὐτοῖς ἦν. ἀλλὰ φιλία καὶ εἰρήνη. ὥσπερ νῦν. ἐξ οὗ Ἔρως τῶν ϑεῶν βασιλεύει (Symp. 195b6-c6).

Ananke ist die Gottheit, dic am Anfang aller Góttergeschichten steht, erst später folgt Eros, der dic jetzige Zeit beherrscht. Dies ist Agathons These, dic sich Phaidros' These entgegenstellt und zu ihrer Unterstützung das Paar Hesiod und Parmenides zitiert. Meine bevorzugte Textauslegung, die Ananke und Eros als bildliche Darstellungen kosmogonischer Kräfte - bald Zwang und Gewalt, bald Liebe und Fricden - deutet, hängt von der Bedeutung des Ausdrucks „die alten Geschehnisse bei den Göttern, die Hesiod und Parmenides erzählen“ ab, ein Satz, der den Interpreten schon immer viele Schwicrigkeiten bereitet hat, weil es schwierig ist. zu verstehen, worauf er sich bezicht. Siche Bury 19732, 23; Dover, 1980, 125: für weitere Hinweise siehe Morrison 1964, 50. Während es überhaupt nicht

Pluton und Hades

97

problematisch ist, Kastrationen, Gefangennahmen und Gewalttaten in der Theogonie

von

Hesiod

aufzufinden,

so ist dasselbe

bei Parmenides

nicht móglich.

Auf der Grundlage unserer Kenntnisse und der überlieferten Fragmente scheint es unwahrscheinlich, dass Kronos’ Kastration und Japctos’ Fesselung zum Gcsamtprojekt des parmenideischen Gedichts gehörten. Die Deut keiten des Textes ließen sich überwinden, wenn man die eigentümliche Natur. des S Abschnitts bedenkt. Es scheint hier nämlich eine gewisse Deutungsmodalität i im Text aktiv zu sein, die stark an dic

Allegorese erinnert: Hesiod und Parmenides werden in einem Atemzug erwähnt, weil beide als Wissensinhaber jener vergangenen und göttlichen Phänomene, die die Entstchung und die Entwicklung der Welt betreffen, gelten und beide stehen Seite an Seite, durch mythisch-bildhafte Ausdrucksart vereinigt. In diesem Sinne erinnert das Paar Hesiod - Panncnides schr stark an cin anderes Paar (Homer Heraklit),

das

im

Abschnitt

des

Kratylos

über die Vorfahren

der Götter vor-

kommt. Dem Satz Agathons - τὰ δὲ παλαιὰ πράγματα περὶ ϑεούς. ἃ Ἡσίοδος καὶ [Παρμενίδης λέγουσιν (Symp. 195c1-2) - ist der Ausdruck Sokrates im Kratylos sehr ähnlich, der die Sentenz Heraklits über das ewige Flicßen den homeri-

schen Versen über die Vorfahren der Gótter gegenüberstellt: τὸν Ἡράκλειτόν μοι δοκῶ καϑορᾶν mGÀaí ἄττα σοφὰ λέγοντα, ἀτεχνῶς τὰ ἐπὶ Κρόνου καὶ Ῥέας, ἃ καὶ Ὅμηρος ἔλεγεν (Crat. 402a4-6). Im Abschnitt des Kratylos wird dem Paar Homer - Heraklit cin gemeinsames Interesse für die vergangene Zeit von Kronos und Rhea zugeschricben und gleichzeitig wird der Grund dafür in einer für uns auf den ersten Blick überraschenden Behauptung erklärt: Dic In-

haltsähnlichkeit zwischen Homer und Heraklit wird durch den Begriff 00% erkannt, der sowohl in Heraklits Lehre, als auch bei den Namen der Góttervorfah-

ren im Homer enthalten ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es möglich zu behaupten, dass Heraklit und Homer von denselben Themen sprechen, weil beide sich mit dem Ursprung und den ordnenden Prinzipien der Welt, mit der ἀρχαί, beschäftigten und dabei dieselbe bildhafte Sprache benutzten. Der SymposiumAbschnitt weist eine vergleichbare Struktur auf. Hesiod und Parmenides werden als Zcugen zitiert, da beide Anankc an den Ursprung der Góttergenealogic setzen, sie als Entstehungs- und Führungsprinzip des Universums interpretieren und darauf Eros folgen lassen. Während- wie bereits gesagt - der Hinweis auf Hesiod keine Verstä hwicrigkeit bereitet, so muss man, was Parminides betrifft, die Erklärung für Agathons Behauptung in der bildhaften Mischsprache von Parmenides finden. In der Rede von Phaidros am Anfang des Dialogs, in der

Eros und nicht Ananke als der älteste aller Götter gelobt wird, kommt etwas Ähnliches vor und neben Hesiod wird cin Vers von Parmenides zitiert, wobei die gemischte, andeutende Sprachweise von Parmenides dazu beiträgt, Phaidros’ These zu beweisen. Der Text ist zwcideutig und lässt die Wahl zwischen ciner

Lesischen hisch-! und einer phil logisch streng myt art offen: γονῆς γὰρ Ἔρωτος οὔτ᾽ εἰσὶν οὔτε λέγονται ὑὑπ᾽ οὐδενὸς οὔτε ἰδιώτου

98

Pluton und Hades

ovre ποιητοῦ, ἀλλ᾽ Ἡσίοδος πρῶτον μὲν Χάος φησὶ γενόσϑαι ---- αὐτὰρ ἔπειτα / l'ai εὐρύστερνος, πάντων ἕδος ἀσφαλὲς aisi, ἠδ᾽ Ἔρος. ἹἩΙσιόδῳ δὲ καὶ Ἀκουσίλεως σύμφησιν μετὰ τὸ Χάος δύο τούτω γενέσϑαι. lv τε καὶ Ἔρωτα. Παρμενίδης δὲ τὴν γένεσιν λέγει --- πρώτιστον μὲν Ἔρωτα ϑεῶν μητίσατο πάντων. οὕτω πολλαχόϑεν ὁμολογεῖται ὁ Ἔρως ἐν τοῖς πρεσβύτατος εἶναι (Symp. 178b2-c11). Siehe noch eine Stelle der Metaphysik (A, TI, 984b23-31). in der Aristoteles eine explizit kosmologische und philosophische Auslegung der in Phaidros zitierten Verse von Heisod und Parmenides darlegt: ὑποπτεύσεις δ᾽ ἄν τις Ἡσίοδον πρῶτον ζητῆσαι τὸ τοιοῦτον, κἂν εἴ Tig ἄλλος ἔρωτα 4 ἐπιϑυμίαν ἐν τοῖς oUciv ἔϑηκεν ὡς ἀρχὴν, οἷον καὶ Παρμενίδης" οὗτος γὰρ κατασκευάζων τὴν τοῦ παντὸς γένεσιν “πρώτιστον μέν" φησιν “ἔρωτα ϑεῶν μητίσατο πάντων", Ἡσίοδος δὲ “πάντων μὲν πρώτιστα χἄος γένετ᾽, αὐτὰρ ἔπειτα γαῖ᾽ εὐρύστερνος. ἠδ᾽ ἔρος ὅς πάντεσσι μεταπρέπει ἀϑανάτοισιν". ὡς δέο;: ἐν τοῖς οὖσιν ὑπάρχειν τιν᾽ αἰτίαν ἥτις κινήσει

καὶ συνάξει

τὰ πράγματα.

Man

beachte, dass hier neben Eros dic ἐπιϑυμία als ἀρχή zitiert wird. Im Phaidros sind also Hesiod und Parmenides durch ihre bildhafte, von Figuren des Mythos (Ananke und Eros) angereicherte Sprache Seite an Seite gestellt, aber auch durch die Tatsache, dass sie über dieselben Grundprinzipien der Welt. über dieselben ἄρχαί sprechen. Die Frage nach der stärksten Bindung zwischen ἀνάγκη und ἐπιϑυμία. die sich im Hades-Abschnitt des Kratylos stellt, wird erst voll verständlich, wenn man die Aufmerksamkeit auf das Ende des Symposions richtet, und zwar dorthin, wo Diotima ihre Rede über den Dämon

Eros hält. Das Thema der Bindung

- der Bindung von Eros in Bezug auf die Bildwelt von Parmenides - kommt sehr deutlich in seiner ersten Beschreibung, dic die Pricsterin vorlegt, zum Ausdruck:

ἐν μέσῳ δὲ ὃν ἀμφοτέρων [sc. τῶν ἀνθρώπων τε xai τῶν ϑεῶν] συμληροῖ. ὥστε τὸ πᾶν αὐτὸ αὑτῷ συνδεδέσϑαι — (Symp. 202c6-7). Wenn viele Interpreten (Mourelatos 1970, 162; Solmsen 1971, 261; Teloh

1981,

1971, 62-70; Spraguc

131) für den letzten Teil der Rede der Diotima zahlrei-

che Entsprechungen zwischen der Figur des Eros und den Merkmalen des parmenideischen ov erkannt haben, registrierten die Gelehrten in dieser ersten Bcschreibung des Gottes keinerlei Hinweise auf den Eleaten. Jedoch bearbeitet Platon schon hier Elemente der parmenideischen Vorstellungswelt. Der dämonische Eros wird als kosmische Kraft und Erzeuger vorgestellt, und in die Mitte zwischen die Menschen und dic Gótter gestellt, und zwar genauso, wie dic parmenideische δαίμων vom Zentrum aus alles lenkt. Siche dazu Frag. 12: ev ài μέσῳ τούτων (sc. τῶν στεφανῶν) δαίμων, ἢ πάντα κυβερνᾷ. Zu diesen Merkmalen kommt noch dic kosmische Funktion des Eros als Garant der Identität und der Kohäsion der Welt hinzu, die durch den Ausdruck ὥστε τὸ πᾶν αὐτὸ αὑτῷ συνδεδέσϑαι beschrieben wird, die an das panncnideische Bild der Fesseln Anankes (Frg. 28B8, 29-31) erinnert. Parmenides" Verse werden auf S. 95 zitiert.

Pluton und Hades

99

Eros, der von Diotima beschrieben wird, verrcinigt in sich jene Bilder, die Parmenides bei der Beschreibung sowohl von Eros als auch von Ananke verwendet hat, und - was noch wichtiger ist — er wird als Wissensbindung verstanden.

Dies ist die Funktion des Dámons

Eros und deshalb wird er als Philosoph

(Symp. 203d7) und Sophist (Symp. 20348) dargestellt, eine Beschreibung, die exakt der Figur des Hades (φιλόσοφος, 40422) im Kratylos entspricht. An Stelle von Eros oder Anankc, die bald von Phaidros bald von Agathon bevorzugt werden, stellt Diotima am Ende des Dialogs cinen philosophischen Eros als Wissensbindung zwischen Góttern und Menschen vor, cine Struktur, dic auch im Hades-Abschnitt des Kratylos vorhanden ist, wo auf die Frage nach der stárksten Bindung zwischen ἀνάγκῃ und ἐπιϑυμία cine vergleichbare Antwort gegeben wird: Die stärkste Bindung ist das Wissen, die Begierde nach Kenntnissen.

In der Hades-Schilderung des Kratylos fehlt aber völlig das kosmologische Element: Der bindende und kohäsive Charakter der δεσμοί von Hades bestcht lediglich darin, K ikati iticl zu sein. Darüber hinaus ist Hades im Gegensatz zum Dümon Eros im Symposium, der als Wissensvermittler zwischen den Góttern und den Menschen beschrieben wird, als Gottheit der Unterwelt ins Jenseits verbannt, obwohl

er ebenso als Wissensinhaber

und sogar als Wissen

selbst geschildert wird. Dies wird verstándlich, wenn man bedenkt, dass nach meiner Textauslegung Hades im Kratylos die bildhafte Darstellung eines Elcments verkórpert, was von Aristoteles als wesentlich für das platonische Denken bezeichnet wird: der so genannte χωρισμός, die Trennung zwischen der Wissensund der Seinsdimension und der Welt. Siche dazu S. 180, Anm. 22. Auf die Frage, welches als kohäsives und ordnendes Prinzip zwischen Notwendigkeit und Begierde zu wählen ist, wird im Kratylos cinc echte platonische Antwort - das Wissen - gegeben, dic aber nicht als Zugangsschlüssel zur Welt verwendbar ist, weil es ins Jenseits verbannt ist. Zu diesem Punkt siche das Kapitel „Die Wiedergewinnung der Erkenntnis in der Welt im Phaidon“ (S. 20211.), das zeigt, dass im ersten Teil des Phaidon das Seinsprinzip und somit das Erkenntnisprinzip wie im Kratylos ins Jenseits verwiesen wird, um es im zweiten Teil wicderzugewinnen. Diese Struktur ist auch im Krarylos vorhanden, in dem das Erkenntnisprinzip für den Menschen durch Apollon und Pan wicdergewonnen wird. e 4-5. τόλεος σοφιστής τε xai μέγας εὐεργέτης τῶν παρ᾽ αὐτῷ Das Bild des schrecklichen Gottes der Finsternis, das Homer beschrieben hat (siehe z.B. die berühmte Definition von Hades in der Jlias XV, 188 als ἐνέροισιν ἀνάσσων). wird durch das Bild des „hervorragenden Lehrers“, des „großen Wohltüters" und des

„Philosophen“

(gYıAocopos,

404a2),

der

die

Scelen

mit

schönen

Reden

(καλούς τινας [...] λόγους λέγειν. 403c2-3) unterhält, ersetzt. Das Jenseits wird in den Ort der vollkommenen

Erkenntnis verwandelt. Hades scheint die sokrati-

sche Rolle des Dialektikers zu verkörpern. Zum Bild von Hades im Kratylos als

100

Pluton und Hades

ein autre

Socrate"

siche

Boyancé

1941,

163, Anm.

I; Wohlfahrt

(1990,

19)

spricht von einem „alter Socrates". e 5-6. ὅς γε xai τοῖς ἐνθάδε τοσαῦτα ἀγαϑὰ ἀνίησιν Um cine neue Erklärung für Plutons Namen zu formulieren, benutzt Sokrates nochmals das traditionelle Bild des Gottes als „Spender des Reichtums" durch die Wiederaufnahme des zuvor benutzten Ausdrucks: ὅτι ἐκ τῆς κάτωθεν ἀνίεται ὁ πλοῦτος (Crar. 40344-5). Zu Pluton als „Spender des Reichtums" siehe S. 89-90. Diesmal aber schenkt Pluton auf Grund seiner neuen Charakterisicrung nicht die Produkte der Erde, sondern das Wissen. Wie bei der ersten Auslegung wird sein Name durch den Begriff πλοῦτος erklárt, aber diesmal wird er wegen ciner lcichten semantischen Abweichung als „derjenige, der den Reichtum des Wissens besitzt", „reich an Wissen" gedeutet; vgl.: οὕτω πολλὰ αὐτῷ τὰ περιόντα ἐκεῖ ἐστιν (Crat. 403c6). Proklos (in Crat. p. 87 Pasquali) erklärt scinen Namen mit dem Ausdruck ,,róv τῆς φρονήσεως πλοῦτον"". Dasselbe positive Bild von Pluton erscheint auch im 8. Buch der Nomoi, in welchem behauptet wird, dass dic Krieger ihn verchren müssen, weil er der Beste für das menschliche Geschlecht sci: ὡς ὄντα ἀεὶ τῷ τῶν ἀνθρώπων γένει ἄριστον (Leg. VIII, 828d3). Dic Grundvorstellung, die von dieser Namensauslegung ausgeht und in vielen anderen Dialogen zu finden ist, beruht auf der Idee. dass das philosophische Wissen der wahre Reichtum für den Menschen sci. Siche dazu eine Stelle im Phaidros (279c1), in der Sokrates ausruft: πλούσιον ài νομίζοιμι τὸν σοφόν; zu dieser Stelle siehe außerdem den Aufsatz von Gaiser 1989.

Siehe

noch

Resp.

VII,

521a2-4

und

die

idiomatischen

Ausdrücke

ὑπὸ

πλούτου τῆς σοφίας im Euthyphron (12a5) und πλουσιώτερος εἰς τὸ γῆραἀναφανήσῃ φρονήσεως im Politikos (261e6-7) und siche dazu Louis 1945, 135. e 5. τοσαῦτα ἀγαϑά Dic Wendung τοσαῦτα ἀγαϑά crinnert an die μεγίστα ἀγαϑά, die Sokrates im Phaidon (6421-2) nach dem Tod zu erhalten hofft. 404 a 5. ἔχοντας δὲ τὴν ToU σώματος πτοίησιν xai μανίαν Boyancé (1941. 163-164) hebt hervor, dass die im Kratylos benutzten Begriffe mroimois und μανία, welche dic schädlichen

Wirkungen

beschreiben, die der Körper an

der

Seele verursacht, die richtige Bedeutung erst annehmen, wenn man die philosophische Transposition der orphischen κάϑαρσις vor Augen hat, wie sie im Phaidon durchgeführt ist. Zu der Bezichung dieses Abschnitts mit den Phaidon siche S. 179ff. b den kcit nen

3. ἀπὸ τοῦ πάντα τὰ καλὰ Namen von Hades durch die besteht darin, zu verstchen, durchführen wollte. Einige

εἰδέναι Dic zweite Namensauslegung crklürt Formel πάντα τὰ καλά εἰδέναι. Die Schwicrigwie Platon diese Namensauslegung im EinzelInterpreten glauben, sic bestehe aus der cinfa-

Pluton und Hades chen Ableitung Ἅιδης < εἰδέναι; siche Goldschmidt

101 1940, 125; Gaiser (1974, 55)

schreibt: (πάντα τὰ καλὰ) εἰδέναι . (alles Schöne) wissend". Timothy Baxter (1992, 104) nimmt eine Ableitung aus der gesamten Formel (πώντα τὰ καλὰ εἰδέναι) an. Andere zerlegen den Namen der Gottheit in Analogie zur ersten Namensauslegung in ἀ- und -:9yc: Die Wurzel ià- wird hier in Beziehung zum Perfekt eidevaı gesetzt und à- hätte einen intensiven und keinen verneinenden Wert. Heindorf (1806, 72) schreibt: „quasi [...] littera α ἐπίτασιν quondam significaret“ und Stallbaum (1935, 106) kommentiert: „Nam Ἅιδης ducitur ἀπὸ τοῦ πάντα͵ εἰδέναι, ut a sit ἐπιτατικόν, siculi in ἅπαντες", Hades’ Name crhält also die Bedeutung von „derjenige, der wirklich weiß“. Es gibt ein Element innerhalb des Kratylos selbst, das dieser Lösung den Vorzug gibt, wenn auch mit ciner kleinen Veränderung. Wenig später im Text (405c6-e2) wird der Name von Apollon in à-/&- copulativum und -πολῶν zerlegt. So erhält er die Bedeutung „desjenigen, der [sc. die himmlischen Kreisläufe] in Einklang bringt", d.h. desjenigen, der das Universum harmonisch bewegt. Dic kopulative Bedeutung des Anfangs-a wird von Sokrates ausdrücklich durch den Satz ὅτι τὸ ἄλφα σημαίνει ὁμοῦ

(405c8-9) erklärt. Wenn

man also annähme, dass das Anfangs-a auch für

den Hades cine kopulative Bedeutung habe, dann nähme der Name des Gottes dic Bedeutung von „derjenige, der gemeinsam mit... / zusammen mit... weiß“ an. Dicse Lösung hat den Vorteil, dass sic sich an das von Sokrates im Kratylos vorgeschlagene Jenseitsbild fügt: Sic zeigt Hades als Philosoph, der gemeinsam mit den Seclen weif.

102

Pluton und Hades

Die Untersuchung des Namens der Unterweltgottheit lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

Die herkömmlichen Namenserklärungen

Dic von Sokrates vorgeschlagenen Namenscrklärungen

Gottheit der Unterwelt

[ Πλούτων πλοῦτος

|

Gottheit der Unterwelt

| "Aids τὸ ἀιδές

[| [lAovTuv

|

| Ἅιδης

πλοῦτος

a ἰδὲς

a 10eç

„Reichtum von der Erde erzeugt"

@-privativum * ἰδ- « ἰδεῖν

„Reichtum = Wissen“

&-copulativum + eidevaı

.Reichtumspender*

,,Der/Das

„Reich

„derjenige,

Unsichtbare“

an Wissen“

der gemeinsam mit... weiß“

Demeter, 404b8-9 404 b 8. Δημήτηο Die Erklärung Demeters Namen ist schr knapp gefasst. Sie besteht lediglich aus dem Hinweis auf den Namen der Góttin (Δημήτηρ), aus der Begründung der Auslegung (xarà τὴν δόσιν ἐδωδῆς) und aus einem Ausdruck, aus dem die eigentliche Auslegung (διδοῦσα ὡς μήτηρ) hervorgeht. b 8. xarà τὴν δόσιν ἐδωδῆς Die Formulierung des Textes und dic Figur der Góttin, die aus der Auslegung ihres Namens ergeben, ähneln stark dem, was schon im Abschnitt über Pluton zu beobachten war. Wic bereits Pluton so wird auch

Demeter

mit derjenigen

Funktion

identifiziert, die sic in der griechischen

Religion, insbesondere in Eleusis cinnimmt. Sic wird als diejenige Gottheit dargestellt, dic dic Früchte der Erde spendet, indem sic als πλουτοδότειρα beschricben wird. Diese Funktion in Bezug auf Demeter ist durch ein orphisches Fragment überlicfert: [ἢ μήτηρ πάντων. Δημήτηρ πλουτοδότειρα (Orph. Frg. 302 Kem).

Boyancé (1974, 107, Anm. 54) sicht eine enge Verbindung zwischen diesem orphischen Vers und der Namenserklärung von Demeter im Kratylos. Bezüglich ihrer Charakterisierung ist cs wichtig, einen Abschnitt aus den Nomoi (VI, 782b4-5) heranzuzichen, in welchem dic eleusinische Triade - Demeter, Perscphone und Triptolemos - vorkommt und von „ta Δημητρός re xai Κόρης δῶρα" die Rede ist. Victor Goldschmidt (1940, 125) hingegen führt die Auslegung von Demeters Namen auf die von Prodikos vorgenommenc rationalistische Erklärung der Gótternamen zurück, in der dic Góttin mit dem Getreide gleichgesctzt

wird. Für das Fragment von Prodikos siche S. 90. b 9. διδοῦσα ὡς μήτηρ Der Name der Góttin wird in zwei Teile zerlegt. Der erste Teil (An-) wird auf das Verb διδόναι zurückgeführt. Sokrates gibt mehrere ähnlich klingende Silben: zuerst δόσιν dann ἐδωδῆς und schlicBlich διδοῦσα; daraus kann man das Passendste für die Auslegung nehmen, also δη- aus ἐδωδῆς. Der zweite Teil des Namens der Göttin (μήτηρ) bereitet keine Schwicrigkeiten, da er mit der vorgeschlagenen Auslegung übcreinstimmt. Die Auslegung von Demcters Namen lässt sich graphisch wic folgt darstellen:

Δημήτηρ Δη-

-μήτηρ

διδοῦσα ὡς μήτηρ „die Mutter, die gibt"

Hera, 404b9-c5 404 b 9. Ἥρα Hera und die darauf folgende Perscphone stellen zwei Beispiele von ἱεροὶ γάμοι dar. Bei Hera wird auf ihre Verbindung zu Zeus hingewiesen, ein Gôtter-Paar, das in der griechischen Kultur als Archetyp der Ehe gilt; Kerényi (1972, 45) beschreibt die Bezichung zwischen beiden Göttern folgendermaßen: „Zeus und Hera sind das archetypische Paar, Zeus der Mann und Gatte - sogar Brudergattc -, Hera die Frau und Gattin, doch nur als Frau und Gattin, nicht als Mutter, charakterisiert".

Perscphone hingegen wird im Text in

ihrer traditionellen Rolle als Ehefrau des Hades dargestellt; siche σύνεστιν αὐτῇ [sc. Περσεφόνῃ] ὁ Ἅιδης (Crat. 404d5-6). € L. ἐρατή τις Sokrates schlägt eine erste Verbindung vor. dic den Namen der Göttin (Ἥρα) neben das Adjektiv ἐρατή und kurz darauf das Partizip ἐρασϑείς stellt und die Göttin als ,Gclicbte von Zeus" charakterisiert. Platon mag an cine Augmentform wie ἡράσϑη gedacht haben. Solche Darstellung erinnert an cinen Abschnitt aus dem 14. Buch der Z/ius (293-353), in dem das Zusammentreffen von Hera und Zeus auf dem Berg Ida erzühlt wird. Der ἔρως, den Hera bci Zeus weckt, zicht sich durch dic gesamte Passage, und die Góttin erhált ihre Gestalt, insofem sic für den Góttervater einc

Quelle des Verlangens darstellt. In dem Abschnitt erscheint zwcimal die gleiche Struktur: Der Name der Göttin wird an den Versanfang - an cine emphatische Stelle - gestellt, und kurz darauf folgt die Beschreibung des ἔρως. den Hera in Zeus weckt. Auf Grund dieser Neb tell wird cinc Assonanz zwischen "Hoa. und dem

Verbstamm ἔραμαι

(δρ-) deutlich sichtbar, genau

wic im

Kratylos ("Moa « ἐρατή / ἐρασϑείς). Der Name der Göttin erscheint das erste Mal im Abschnitt der //ias im Vers 292, als sic den Berg Ida erreicht; gleich danach wird das große Verlangen beschrieben, das Zeus empfindet, als er Hera sieht: ὡς δ᾽ ἴδεν. ὥς μιν ἔρως πυνικὰς φρένας ἀμφεκάλυψεν (Hom., //. XIV, 294).

Kurz darauf, nachdem Zeus im Vers 313 sich an dic Góttin durch Nennen ihres Namens

gewandt hat, schildert er die Verwirrung, dic ihr Anblick bei ihm

her-

vorrufl, mit den Worten: οὐ γὰρ πώ ποτέ μ᾽ ὧδε ϑεᾶς ἔρος οὐδὲ γυναικὸς ϑυμὸν ἑνὶ στήϑεσσι περιπροχυϑεὶς ἐδάμασσεν (Hom., //. XIV, 315-316).

Letztlich behauptet Zeus, dass keine von ihm gelicbte Frau mit Hera vergleichbar sei. und schließt seine Rede ab, indem er noch einmal das Thema des ἔρως aufgreift: ὡς σέο νῦν ἔραμαι καί με γλυκὺς ἵμερος αἱρεῖ (Hom., //. XIV, 328).

Hera

105

Schon Proklos (in Crat. p. 93 Pasquali) bezicht sich bei der Auslegung von Hcras Namen im Kratylos auf jenen Abschnitt aus dem 14. Buch der /lias.

c 2. τὸν äéça Ἥραν Dic Assonanz ἀέρα Ἥραν kommt bereits im 21. Buch der /lias vor, in welchem Hera durch das Herbeirufen dichten Nebel dic Flucht der Trocr behindert: ἠέρα 9 "Tem πίτνα πρόσϑε βαϑεῖαν ἐρυκέμεν (Hom., //. XXI, 6-7).

Dic Bczichung zwischen diesem Abschnitt der /lias und dem des Kratylos wurde schon im Kommentar von Proklos (in Crat. p. 94 Pasquali) hervorgehoben. Goldschmidt (1940, 125) greifl den Hinweis von Proklos wieder auf und fügt die Behauptung von Menander (Menand. rher. 1, 5, 2 = 31A23 DK) hinzu: Empedokles und Parmenides hátten in ihren „Hymnen“ von der Göttin als ἀήρ gesprochen. Als Argumentationsstütze zitiert Goldschmidt das Frg. 6 (DK) von Empedokles über die vier Wurzcln, aus denen alles gebildet ist, wo Hera ledig-

lich als φερέσβιος und nicht explizit als ἀήρ dargestellt wird: τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε" / Ζεὺς ἀργὴς "Mon Te φερέσβιος ἠδ᾽ Ἀϊδωνεύς / Νῆστίς 9᾽. ἥ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον. Nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit den möglichen Identifikationen zwischen den im Frg. 6 genannten Göttern und den entsprechenden Elementen, hält Wright (1981, 165, siehe auch dic Tabelle auf S. 23) die Überlieferung, die wahrscheinlich auf Theophrast zurückgcht, für die überzeugendste: Hera soll mit ἀήρ gleichgesetzt werden. Überzeugt von dieser Identifizierung, setzen Spraguc (1972, 169), Wright (1981, 165) und Baxter (1992, 124, 142) das

Fragment von Empedokles mit dem Abschnitt des Kratylos in Beziehung. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass bci Empedokles dic Identifizierung von

Hera mit ἀήρ nicht auf der Basis ciner lautlichen Ähnlichkeit wie im Krarylos

stattfindet, sondern sich auf eine semantische Verknüpfung stützt: Beiden Elementen - Hera und ἀήο — kann das Epitheton φερέσβιος zugeschrieben werden. Es sei noch erwähnt, dass der Vers (6) des 21. Buches der /lias, in dem die gleiche Erklärung von Heras Namen wie im Kratylos (Ἥρα < ἀήρ) vorkommt, "Teil des Materials ist, von dem Thcagenes von Rhegion Gebrauch machte. Wahrscheinlich wurde einc Episode aus dem 21. Buch (489-496) - der Sieg Hcras über Artemis — vom Begründer der Allegoresc als Sieg der Luft über den Mond angesehen. Siche hierzu die Analyse von Svenbro 1976, 116 ff. Deshalb

führt Buffiere (1956, 136) die Namenserklärung Ἥρα « ἀήρ im Krarylos ausdrücklich auf das Identifikationssystem von Theagenes von Rhegion zurück. Darüber hinaus kann noch erwähnt werden, dass nach Buffiére dic Episode der /lias über das Zusammentreffen

von

Hera

und

Zeus

(XIV,

293-353). die

meines Erachtens im Kratylos evoziert wird, von der allegorischen Deutung bchandelt wurde. Buffiérc (1956, 106-115) gelingt es nämlich, eine allegorische

106

Hera

Auslegung der Episode zu rekonstruieren: Hiernach würde Zeus mit dem Áther (aime) und Hera mit der Luft (ane) identifiziert. Er beruft sich allerdings — das muss betont werden - hauptsächlich auf spätere Quellen. Laut der wissenschaftlich orientierten allegorischen Auslegung stellt also die Vereinigung der beiden Götter die Vermischung von Luft und Äther dar. Als Argumentationsstütze könnte das 3. Buch der Politeia dienen, denn dort wird behauptet, dass dieselbe Stelle der /lias neben anderen zensiert werden sollte, da sic laut Sokrates ansıö-

Big geschrieben und ungecignet für dic Erzichung der Jugend sei: δοκεῖ σοι ἐπιτήδειον εἶναι πρὸς ἐγκράτειαν ἑαυτοῦ ἀκούειν νέῳ; |...] ἢ Δία, καϑευδόντω: τῶν ἄλλων ϑεῶν τε καὶ ἀνθρώπων ὡς, μόνος ἐγρηγορὼς ἃ ἐβουλεύσατο. τούτω. πάντων ῥᾳδίως ἐπιλανϑανόμενον διὰ τὴν τῶν ἀφροδισίων ἐπιϑυμίαν. καὶ οὕτως ἐκπλαγέντα ἰδόντα τὴν Ἥραν. ὥστε μηδ᾽ εἰς τὸ δωμάτιον ἐθέλειν ἐλθεῖν. ἀλλ᾽ αὐτοῦ βουλόμενον χαμαὶ συγγίγνεσϑαι, λέγοντα ὡς οὕτως ὑπὸ ἐπιϑυμίας ἔχεται. ὡς οὐδ᾽ ὅτε τὸ πρῶτον ἐφοίτων πρὸς ἀλλήλους φίλονς λήϑοντε τοκῆας (Resp. II], 390b3-c6). Auch an einer anderen Stelle (Resp. Il, 378d3-7) wird deutlich erklärt, dass viele der „zu zensierenden" Abschnitte, Gegenstände von allegori-

schen Auslegungen waren, um sie wahrscheinlich von der Anklage der Amoralität freizusprechen. Wenn all diese Elemente im selben Augenblick betrachtet werden, könnte man die Hypothese aufstellen, dass die beiden im Krutylos vorgeschlagenen

Namensauslegungen (Ἥρα « ἐρατή / ἐρασϑείς und Ἵ]ρα < ame) nicht Teil zweier verschiedener Interpretationen der Gótterfigur sind, sondern cher zwei Phasen ciner einzigen allegorischen Auslegung, dic in der Liebe, im ἔρως der beiden Gótter, die Vereinigung zweier grundlegender Elemente der Wirklichkeit sieht. Denkt man an das von Thcagenes von Rhegion entwickelte Identifikationssystem zwischen den Góttern und den Naturelementen, so kónnte cines dieser Elcmente das ἀήρ sein, auch wenn betont werden muss, dass dieser Vorschlag aut Grund einer lückenhaften Überlicferungslage nicht beweisbar ist und deshalh eine reine Hypothesc bleiben muss. Baxter (1992, 93, Anm. 49) hingegen unterscheidet klar zwischen einer ersten Etymologie ("Ilea < ἐρατὴ), dic er als „a ‚traditional‘ interpretation“ bezeichnet, und ciner zweiten (Ἥρα « ἀήρ), die er als „a ,physicalist allegory/ctymology“ definiert. Für ihn (1992,

110, Anm.

17)

sind beidc Etymologien nicht miteinander vercinbar. € 3-5. Sei; τὴν ἀρχὴν ἐπὶ τελευτήν" γνοίης δ᾽ ἄν, εἰ πολλάκις λέγοις τὸ τῆς Ἥρας ὄνομα Der Namensgeber hat den ersten Buchstaben a von ἀήρ an das Ende des Wortes gesetzt und hat den Namen der Göttin gebildet. Hierbei schlägı Sokrates ein ungewöhnliches Verfahren vor, das stark an cin Kinderspiel crinnert: die leiernde Wiederholung des Namens der Göttin. Spricht man den Namen “Tea mehrmals hintereinander, erhält man eine Lautreihe - ἽΠραηραηρ a ἢ o aus der sich das Wort ajo bildet. Stallbaum (1835, 107) schreibt bei der Ausci-

Hera

107

nandersetzung mit einigen Erklärungen antiker Gelehrter zu dieser Stelle: „Sed hi omnes lusum Platonis facetissimum non senserunt". Bei dieser Namenserklárung

wird die Anlautaspiration außer Acht gelassen,

wie es sonst im Kratylos häufig geschieht; siehe dazu die Abschnitte über Hestia, Hades, Hephaistos und Hermes. Betrachtet man die graphische Dimension der Sprache, wird die Namenserklärung der Göttin wesentlich einhelliger.

Die

Majuskelschrift

zwischen

beiden

hebt das

Vorhandensein

Wörtern - die Aspiration

bei

des U

h

Ἥρα,

dic bei ἀήρ

kmals

nicht

vor-

kommt - auf, so dass eine Beziehung der beiden Begriffe (HPA < AHP) deutlich wird.

Die Auslegung von Heras Namen lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

"Mea ἐρατή / ἐρασϑείς ("ἠράσϑη) ‚die Geliebte“

HPA — AHP (ἀήρ)

AMP...AHPAHPAHPA...HPA „das Aer“

Persephone, 404c5-d8 404 c 5. Φερρέφαττα Form

Φερρέφαττα

vor.

Üblicherweise kommt in den attischen Inschriften die Siche

dazu

Bräuninger,

„Persephonc“,

RE,

945

und

Richardson 1974, 170. Auch Φερσεφόνη oder Φερσεφόνεια erscheinen in den attischen Inschriften und in anderen Gebieten Griechenlands; siehe noch dazu Pind. Οἱ. 14, 21; Isthin. 8, 55; Nem. 1, 14; Pyth. 12, 2; und ein Fragment (133) von Pindar, das Platon im Menon 81b ziticrt; Simonid. 124 B Bergk / 131 Diehl. Bei Homer (/l. IX, 457, 569) findet man hingegen ausschließlich die nicht-

aspirierte Form Περσεφόνεια; in der Odyssee erscheint sie häufig in den 10. und Il. Büchern; siehe noch Hes. Theog. 768, 774 und Hom. Hymn. M, 337, 348. 359, 370, 493. Zu Πεοσεφόνη

siche Hes. Theog.

913; Hom.

Hymn.

I, 56, 360,

387, 405. b 5. πολλοί

Die Meisten fürchten - so Sokrates - den Namen der Gôttin.

weil sie, was die „Richtigkeit der Wörter‘ (b7) und deshalb auch den

Namen

Perscphones betrifft, unerfahren sind. Sokrates hingegen stellt die Göttin und ihren Namen

sehr positiv dar. Wie bereits beim Gott der Unterwelt und anschlie-

Ben bei Apollon wird der Abschnitt durch dic Gegenüberstellung von den πολλοί und Sokrates in cinen allegorischen Kontext eingebettet, in dem Sokrates zum allegorischen Deuter des Gótternamens wird; siehe dazu S. 91-92. b 8. Φεοσεφόνην

Sokrates erklärt, dass die meisten Menschen den Namen der

Göttin fürchten, weil für sic die Form Φερσεφόνη etwas Bedrohliches ausdrückt.

Es wird im Text nicht ausdrücklich gesagt, aber es ist anzunchmen, dass die Ursache darin liegt, dass der letzte Teil des Namens der Góttin mit dem Stamm φον- („töten“, vgl. φονεύειν, ἡ φονή „das Blutbad") in Bezichung gebracht wird. Auch wenn Sokrates behauptet, dass diese Auslegung des Namens der Göttin zu seiner Zeit weit verbreitet war, finden wir im Kratylos den ersten Beleg dafür. Spätere Belege über andere Auslegungen ihres Namens zerlegen ihn gleichfalls in zwei Teile: Der erste wird mit dem Verb φέοβειν („ernähren“) oder mit dem Verb φέρειν („erzeugen“) in Beziehung gebracht; der zweite hingegen wird wie

im Kratylos durch das Verb φονεύειν erklärt; siehe in Orph. Hymn. XXIX, 16: Φεοσεφόνη" φέρβεις γὰρ ἀεὶ xai πάντα qoveveig; in Kleanthes findet man die Formulierung: τὸ διὰ τῶν καρπῶν φερόμενον xai φονευόμενον πνεῦμα (SVF. 1. 124, 22 = Plut. De Is. et Osir. 377d); siche dazu Bräuninger, „Persephone“,

RE.

946. Laut dieser Namenserklärungen, dic sich im Einklang mit der Funktion der Göttin in den eleusischen Mysterien befinden, versinnbildlicht Persephone den Zyklus des Lebens und des Todes, der mit dem Rhythmus der Felder verbunden ist. Auf der Grundlage dieser späten Überlieferungen und durch kein anderes Element gestützt, könnte man die Hypothese

formulieren, dass auch im Kranos

Persephone

109

der Name der Göttin in zwei Teile zerlegt wird und zwar so, dass der erste Teil vom Verb φέρειν und der zweite von φονή / φονεύειν abgeleitet wird. Den Ausdruck φόνον φέρειν kann. man bci Hom. //. XVII, 757 finden: σμικρῆσι φόνον φέρει ὀρνίϑεσσι; es gibt auch entsprechende Ausdrücke wie φόνον πράσσειν in Pind. Nem. 3, 46 oder φόνον ἐξεργάσασϑαι in Plat. Leg. 86926. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass auch der erste Teil des Gótternamens berücksichtigt wird. Der Name der Góttin der Unterwelt übernáhme demnach auch dic Bedeutung von „Todesbringer“.

c 8-di. τὸ δὲ μηνύει σοφὴν εἶναι τὴν ϑεόν Wic schon bei Hades und später bei Apollon, legt Sokrates auch bei Persephone cine erste weit verbreitete, volkstümliche Auslegung vor, dic der Göttin eine erschreckendc Rolle zuweist, um

sie dann durch eine neuc, positive zu ersetzen, die sich in Platons philoso-

phische Ausarbeitungen cinbetten lässt. Sokrates vertritt die These, dass der Name der Góttin zeigt, dass sic eine weise Gottheit ist, ganz wie es sich für die Braut des Hades ziemt, des Gottes, der zuvor als perfekter Lehrer und Philosoph definiert

wurde.

Formulierung

Auf der

Basis

des

Weisheitsbegriffs

(σοφία),

der durch

die

ἡ ἐπαφὴ τοῦ φερομένου („das Befühlen dessen, was in Bewegung

ist") bestimmt wird, wird der Name der Göttin als Φερέπαφα ncu gestaltet. Sok-

rates geht in diesem Fall bei der Analyse so weit, einen neuen Namen der Göttin vorzuschlagen. d 3. Φερέπαρα Der Name der Göttin scheint implizit in zwei Teilc (Φερἐπαφα) zerlegt zu werden. Der erste Teil φερ- wird mit der medialen Form des Partizips Präsenz von φέρειν (τὸ φερόμενον. „das, was sich bewegt") in Verbindung gebracht; der zweite Teil wird dem Substantiv ἐπαφή aus dem Verb ἐπαφᾶν („anfassen“, berühren") zugeordnet. Durch die Auslegung ihres Namens wird Persephone zur Göttin, dic durch das Betasten dessen, was sich bewegt, zur Erkenntnis gelangt. d 3. διὰ τὴν σοφίαν xai τὴν ἐπαφὴν ToU φερομένου Der ganze Abschnitt über Persephone dreht sich um den copia-Begriff, so dass die Göttin auf eine gewisse Weise zu dessen Personifikation wird, da laut Sokrates die Definition von σοφία in ihrem Namen liegt. Nachdem Persephone zu einer weisen Göttin erklärt wur-

de, gibt Sokrates eine erste Begriffsbestimmung von σοφία: Gre γὰρ φερομένων τῶν πραγμάτων τὸ ἐφαπτόμενον xai ἐπαφῶν xai δυνάμενον ἐπακολουϑεῖν σοφία ἂν εἴη (404d1-3). Darauf folgt dic wirkliche Definition von σοφία (,.ἡὴ ἐπαφὴ τοῦ φερομένου", 404d4), die zur Erklärung des Namens der Góttin wird. Eine sehr ähnliche Erklärung des Wortes σοφία kommt später im Kratylos vor: ἀλλὰ μὴν ἥ ye σοφία φορᾶς Eyarteodaı σημαῖνει. σκοτωδέστερον δὲ τοῦτο καὶ ξενικώτερον' ἀλλὰ δεῖ ἐκ τῶν ποιητῶν ἀναμιμνήσκεσϑαι ὅτι πολλαχοῦ λέγουσιν περὶ ὅτου ἂν τύχωσιν τῶν ἀρχομένων ταχὺ προϊέναι ἐσύϑη φασίν.

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Persephone Λακωνικῷ δὲ ἀνδρὶ τῶν εὐδοκίμων καὶ ὄνομα dv Σοῦς" τὴν γὰρ ταχεῖαν ὁρμὴν οἱ “Λακεδαιμόνιοι τοῦτο καλοῦσιν. ταύτης οὖν τῆς φορᾶς ἑπαφὴν σημαίνει ἡ σοφία. ὡς φερομένων τῶν ὄντων (Crar. 41201.-8).

In beiden Abschnitten des Kratylos - in der Auslegung von Persephones Namen und

in der Analyse

von σοφία — erkennt

Victor Goldschmidt

(1940,

135) die

gleiche Erkenntnistheorie, die nach einer Aussage von Aristoteles Demokrit und anderen Gelehrten zugeschrieben wird, cine Theorie, die nur die réalités sensibles" zulässt, d.h. die Gegenstände, die man durch Berührung erfassen kann. Aristoteles’ Überlieferung zu Demokrit lautet:

Δημόκριτος

δὲ

xai

oi πλεῖστοι

αἰσϑήσεως. , ἀτοπώτατόν

τι

ποιοῦσ' ἐν"

τῶν

φυσιολόγων.

πάντα

γὰρ

τὰ

ὅσοι

αἰσϑητὰ

λέγουσι περὶ ἁπτὰ ἁ

ποιοῦσιν.

καίτοι εἰ οὕτω τοῦτ᾽ ἔχει, δῆλον ὡς καὶ τῶν ἄλλων αἰσϑῆσεων ἑκάστη ἁφή τίς ἐστιν (68A119 DK = Arist, de sens. 4, 442429).

Die richtige Intuition Goldschmidts erweist sich in mancher Hinsicht auf Grund seiner falschen Interpretation des vopia-Abschnittes getrübt. Die Aufmerksamkeit des Gelchrten richtet sich auf das Verb eganreo9aı, als ob es der Schlüssel-

begriff beider Wortanalysen

wäre. Er hält die Worte φορᾶς ἐφάπτεσθαι

in

412b1-2 für die Erklärung des Wortes σοφία. In Wirklichkeit ist aber diese Formulierung nur der Ausgangspunkt für die eigentliche Wortanalyse, die kurz danach mit «ταύτης οὖν τῆς φορᾶς ἐπαφὴν σημαίνει ἡ σοφία" (Crat. 412b7-8)

folgt. Die Wortanalyse von σοφία beginnt, indem zwei, auf den ersten Blick überra-

schende Begriffe in Betracht gezogen werden: I. Die Verbalform ἐσύϑη, von der Sokrates behauptet, dass es sich um ein poetisches Verb handelt, das die Dinge beschreibt, welche sich plötzlich in Bewegung setzen: ἀλλὰ δεῖ ἐκ τῶν ποιητῶν

ἀναμιμνήσκεσϑαι

ὅτι

πολλαχοῦ

λέγουσιν

πεοὶ

ὅτου

ἂν

τύχωσιν

τῶν

ἀρχομένων ταχὺ προϊέναι ἐσύϑη φασίν (412b3-5); 2. Der Name eines berühmten Lakedämoniers, Zoüg, der aber auch der Begriff sein kann, mit dem dic Lakedämonier eine schnelle und plötzliche Bewegung bezeichnen: Λακωνικῷ δὲ ἀνδρὶ τῶν εὐδοκίμων καὶ ὄνομα ἦν ZXoUg τὴν γὰρ ταχεῖαν ὁρμὴν oi Λακεδαιμόνιοι τοῦτο καλοῦσιν (412b5-7).

Diese lange, erläuternde Ausführung, die die Ausdrücke ἐσύϑη und σοῦς cinbezicht, bekommt

nur einen Sinn, wenn sic dazu dient, das Anfangssigma

von

σοφία zu crklüren. Beide Begriffe beginnen mit dem Sigma: σοῦς und ἐσύϑη von σεύω. Akzeptiert man diese Hypothese, wäre die Auslegung von σοφία die Kontraktion von σοῦ ἐπαφή und übernähme dic Bedeutung von „mit dem Tastsinn jene Bewegung

wahrnehmen", die durch das Verb σεύω ausgedrückt wird oder

die bei den Lakedämoniern den Namen σοῦς trägt. Wenn man diese neue Formulierung der Bedcutung von σοφία mit der Namensauslegung

von Persephone

konfrontiert, lässt sich feststellen, wie ähnlich

beide sind: σοφία « σοῦ ἐπαφή und Φερέπαφα « τοῦ qegopévou ἡ ἐπαφή. Das grundlegende Wort für beide Worterklärungen ist also ἐπαφή. Auf diese Weise

Persephone

"ΠῚ

ist es möglich, richtig einzuschätzen, welches Verhältnis es zwischen dem Wort ἐπαφή und der ἁφή gibt, die in dem von Goldschmidt zitierten Fragment Demokrits vorkommt. Fügt man außerdem - wie Baxter treffend beobachtet hat noch hincin, dass der Begriff σοῦς mit Demokrit in Zusammenhang zu bringen ist, hat man die Bestätigung, dass Goldschmidt auf den richtigen theoretischen Rahmen -- Demokrit und die Theorie über die „realites sensibles"- hingewiesen hat, in dem sich Sokrates bei der Analyse des Namens von Persephone bewegt.

Baxter (1992, 156-157) zitiert auch die folgende Überlieferung zu Demokrit:

λέγων [sc. Δημόκριτος) “σοῦν" τὴν κίνησιν τῶν ἄνω φερομένων σωμάτων (68A62 DK). ἐπαφήν ἐπαφή drückt den Tastsinn, d.h. dic Empfindungen aus, die der Kórper und besonders dic Hände haben, wenn sie Gegenstánde berühren; siche dazu: ἄλλο τι ToU μὲν σκληροῦ τὴν σκληρότητα διὰ τῆς ἐπαφῆς αἰσϑήσεται. καὶ τοῦ μαλακοῦ τὴν μαλακότητα ὡσαύτως (Theaet. 186b2-4). ἐπαφή ist cin Wort, das im Corpus Hippocraticum zusammen mit dem Verb ἐπαφᾶν gebraucht wird, um die ärztliche Anamnese durch das Betasten der Körpersteile zu bezeichnen. Siehe in de morbis mulierum VIII, 254, 7-8 Littré: xai 4v ἐπαφήσῃ τῷ δακτύλῳ, τῇσι κνήμῃσι καὶ τοῖσι ποσὶν ἐμπλάσσεται 2οϑροειδέα; der Ausdruck tai ἥν ἐπαφήσῃ TQ δακτύλῳ" kommt auch in de morbis mulierum Ν1Π, 342, 13; 352, 2 Littré vor; dic Formulierung καὶ ἥν ἐπαφήσῃ" hingegen in 344, 5; 360, 7-8 Littré. Siehe auch de glandulis VII, 556, 4 Littré: [sc. die Drüsen] τὸ εἶδος λευκαὶ xai οἷον φλέγμα. ἐπαφωμένῳ δὲ οἷον εἴρια; und de glandulis VIII, 572, 9 Littré: τὸ γὰρ ἄρρεν ναστόν ἐστιν xai oiov εἷμα πυκνὸν xai ógéovri xai ἐπαφωμένῳ; siehe auch de glandulis VII, 572, 11 Littré. Dic außergewöhnliche bildhafte Konnotation von ἐπαφή lässt die Göttin der Erkenntnis, die beim Betasten der sich bewegenden Dinge beschrieben wird, in

cinem eigenartigen Licht erscheinen. Im Mythos gibt es die Figur von Ἕπαφος, der Sohn der lo und Vorfahre des Danaos, der ebenso durch die Erklárung seines Namens charakterisiert wird und deshalb stark an die Namensauslegung von Perscphone im Kratylos erinnert.

Ἕπαφος wird dank der Berührung (ἐπαφή) durch Zeus’ Hand geboren; siche Aesch.

Supp.

45-48.

In Aischylos’

Tragódic

wird

auch

gesagt, dass

das Gc-

schlecht des Epaphos (ἐξ ἐπαφῆς κἀξ ἐπιπνοίας Διός" (Supp. 17-18) geboren wird; siche auch Supp. 313; Zeus selbst wird von den Flehenden ἐφάπτωρ (Supp. 1066, 313) genannt. Im Prometheus von Aischylos wird Zeus’ Zeugungsgeste

mit dem

Erwerb

von

rung. durch die Epaphos gcboren

Wissen

in Verbindung

wird, gibt auch

gebracht.

Die Berüh-

lo den Verstand zurück:

ἐνταῦϑα δή σε Ζεὺς τίϑησιν ἔμφρονα / ἐπαφῶν ἀταρβεὶ zeigt xai Svyav μόνον. /

ἐπώνυμον δὲ τῶν Διὸς γεννημάτων / τέξεις κελαινὸν Ἔπαφον (Acsch. Prom. 848-851).

112

Persephone

d 7. εὐστομίαν

Die Veränderung an Persephones Namen, die laut Sokrates

stattfand, als die Göttin die attische Form (Degoéparra) annahın, wird aus Liebe zum schönen Klang (εὐστομία) vorgenommen; vielleicht ist damit die Dissimila-

tion (7 und e sind zwei Labiale) gemeint. Das impliziert, dass der von Sokrates angenommene ursprüngliche Name (Φερέπαφα) von cinem attischen Sprecher als extrem kakophonisch empfunden

wurde.

Dies ist eine der vielen Stellen

im

Kratylos, wo eine ästhetisierende Sprachentwicklung angenommen wird. Siche dazu dic Abschnitte über Poseidon, Athena und Hermes.

Die Auslegung von Persephones Namoen lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

die volkstümliche Namensauslegung

die von Sokrates vorgeschlagene Namensauslegung Φερρέφωττα

|

Φερσεφόνη

/— φέρειν + gov ] „Todesbringer“

|

Φερέπαφα

rob φερομένου jimugh — „das Betasten dessen,

was sich bewegt“

Apollon, 404d8-406a3 404 e 1. περὶ τὸν Ἀπόλλω Apollon befindet sich im Krarylos in der Mitte der Gôttergencalogie; er stellt ihr Zentrum dar. Als erster von Zcus' Söhnen erwühnt, scheint er die Stelle des Vaters einzunehmen, weil Sokrates geschickt mittels einer narrativen List vermeidet, Zeus’ Namen zu untersuchen: Im 4024-5 spielt Sokrates fluchartig auf cine Erklärung des Namens von Zeus an, die zuvor (395c5-396b3) schon dargelegt wurde. Daher entsteht der Raum für cine an

Wichtigkeit und Funktion vergleichbare Figur, die von Apollon eingenommen wird. Zu all dem kommt hinzu, dass der Abschnitt vier Namensauslegungen vorstellt, die für korrekt angeschen werden cine einmalige Tatsache für den Kratvlos „weil alle innerhalb des Götternamens enthalten sind. Natürlich werden auch für die Namen anderer Gottheiten mehrere Erklärungen vorgeschlagen, jedoch sind cs jeweils höchstens drei und immer deren Alternativen. Sichc z.B. die drei Namenserklärungen (Crat. 406b1-6).

von

Poseidon

(Crat. 402d11-403a3)

und Artemis

e 1. πολλοί Sokrates vergleicht die eigene sehr komplizierte Namenscrklärung Apollons mit einer, die den πολλοί zuordnet wird und Apollon zu einer

Gottheit macht, die Zerstörung und Tod verursacht, so ähnlich wie es bei Hades

und Persephone geschehen war. Hiermit stellt er den Abschnitt in einen rein allegorischen Rahmen. Zum Gegensatz zwischen der Namenserklärung von Sokrates und der von den πολλοί als Struktur, die auf die Allegorese zurückführbar ist, siehe S. 91-92. e 1-2. πεφόβηνται περὶ τὸ ὄνομα ToU ϑεοῦ, ὥς τι δεινὸν μνηνύοντος Die mcisten fürchten die Gottheit, weil sic ihren Namen als etwas Bedrohliches empfinden. Dank eines Hinweises am Ende des Abschnitts ist cs möglich, mit Sicherheit die Form herauszufinden, auf der diese Namensauslegung beruht. Dort (405c1 -2) erklärt Sokrates, dass in der ursprünglichen Namensform des Gottes -

Ὁμοπολῶν = Ἀπολῶν - cin A angefügt worden sci, sonst ergäbe sich eine Homonymic mit einem Begriff negativer Bedeutung. Sokrates bezieht sich offensichtlich auf das Partizip Futur des Verbs ἀπολλύναι (ἀπολῶν), das sich -- abgeschen von der Akzentuierung - durch dic Einfügung cines À in den Namen des Gottes (Ἀπόλλων) verwandelt. Es ist also móglich, dass nach Sokrates" Mcinung die πολλοί gerade dic crschreckende Form ἀπολῶν im Namen Apollons sahen und deshalb den Gott fürchteten. Die Namenserklärung Ἀπόλλων < ἀπολῶν, die einen bekannten Zug der Gottesfigur aufnimmt - man denke zum Beispiel an das Gemetzel der Söhne der Niobe, das die Gottheit zusammen mit der Schwester Artemis ausführt, oder an die von ihm verursachte Pest im I. Buch der //ias — , ist auch durch einige vor-

114

Apollon

platonische literarische Quellen bezeugt. Siche dazu Wernicke, , Apollon”, RE. 2. Im Agamemnon legt Aischylos der Kassandra cine Anrufung Apollons in den Mund, die auf derselben Namensauslegung beruht: ὦπολλον. ὥπολλον

ayvıar , ἀπόλλων ἐμός ἀπώλεσας γὰρ οὐ μόλις τὸ δεύτερον (Aesch. Agam.

Zu einer Fragment καὶ σφεας Hipponax:

1080-1082).

möglichen Anspielung auf diese Namenserklürung siche auch da: von Archilochos: Ἄναξ Ἄπολλον, xai σὺ τοὺς μὲν αἰτίους / σήμαι: ε ὄλλυ᾽ ὥσπερ ὀλλύεις (Frg. 27 PLG* Il Bergk) und das Fragment von “Ἀπό σ᾽ ὀλέσειεν Ἄρτεμις" — “σὲ δὲ κὠπόλλων" (Fre. 31 PLG: 1]

Bergk / West 25). In einem Fragment des Phaethon

bictet Euripides sogar cine

explizite Erklärung des Götternamens an, dic auf die Auslegung Ἀπόλλων « ἀπολῶν hinweist. Vor der Leiche seines Sohnes Phaethon ruft Klymene zum Himmel: ὦ καλλιφεγγὲς ἽΪλι᾽. ὥς μ᾽ ἀπώλεσας καὶ τόνδ᾽ * Ἀπόλλων δ᾽ ἐν βροτοῖς καλῇ ὅστις τὰ σιγῶντ᾽ ὀνόματ᾽ οἶδε δαιμόνων (Eurip. Phaeth. Frag, 781, 11-13 Nauck).

e 8. Ἐγὼ πειράσομαι φράσαι 6 γέ μοι paiveraı Emphatisch schreibt Sokrates die komplizierte Untersuchung zum Namen Apollons sich selbst zu. Ein erster Hinweis dazu findet sich schon bei 404c5 in seinen Worten: ὡς ἐμοὶ δοκεῖ Siehe etwas Ähnliches im Abschnitt von Hades (Crat. 403c1). e 8 - 405 a 1-2. οὐ γὰρ ἔστι ὅτι ἂν μᾶλλον ὄνομα ἥρμοσεν ἕν 0v τέτταρσι δυνάμεσι ταῖς τοῦ ϑεοῦ Mit großer Emphasc unterstreicht Sokrates die Besonderheit von Apollons Namen. Obwohl er eins ist, ist er in der Lage. die vier Funktionen des Gottes anzunehmen, da er sich harmonisch in vier Formen deklinicren lásst: Seine Fühigkeit auf dem Gebict der Medizin wird durch die Form Ἀπολούων ausgedrückt, die auf dem Gebict der Wahrsagckunst durch die Form Ἄπλουν, seine Tüchtigkeit

im Bogenschießen

durch

Ἀειβάλλων

und seine Gc-

schicklichkeit in der Musik durch Ὁμοπολῶν. Einige Textelemente lassen vermuten, dass bei der Erklärung des Gótternamens Begriffe aus der Musiktheorie übernommen worden sind und besonders. dass dabei die Funktion der mittleren Saite innerhalb des Tonsystems des Tetrachords, der μέση als Model diente. Erstens behauptet Sokrates, dass sich der Name auf die vier ,,Funktionen" des Gottes „stimmen“ lässt. Sowohl δύναμις („Funktion“ einer Musiknote innerhalb eines harmonischen Systems) als auch

ἁρμόττειν („stimmen“) sind Begriffe aus der Musiktheorie. Zur δύναμις als Fachbegriff der Musikthcorie siehe das zweite Buch der Harmonik von Aristoxenos, das vor allem dem Problem der δύναμις der Töne gewidmet ist. Siche zui

Apollon

115

Bedeutung von δύναμις in der Musiktheorie Da Rios 1954, 151 und Michaclides 1978, 88. Der Name selbst wird als εὐάρμοστον (40547) beschrieben, so wic es bei der Saite eines Instruments geschieht, und es konnte auch nicht anderes sein, da der Gott selbst als μουσικός beschrieben wurde (ἅτε μουσικοῦ ὄντος τοῦ ϑεοῦ. Crat. 40547). Die Fähigkeit des Namens Apollons, sich in die vier Funktionen des Gottes „stimmen“ zu lassen, wird verständlich, wenn man an die Funktion der mittleren Saite, an die μέσῃ eines Musikinstruments denkt. Wenn die Lyra oder die Kitha-

ra diejenigen Instrumente, die eine wesentliche Rolle im Musikunterricht und in der Musiktheorie spielten - gestimmt wurden, dann wurde der μέση, der zentralen Saite des Heptachords — noch besser ist in diesem Fall an cin Tetrachord zu denken - cine bestimmte Tonhóhe (τόνος) zugcordnet, auf deren Grundlage dank der weiteren Berechnung der Intervalle auch dic anderen Saiten des In-

strumentes gestimmt wurden; siehe dazu Landels 1999, 92-93. Dieses Verfahren wird anschaulich, wenn man in Erwägung zieht, dass dic griechische Musik kein System der absoluten Tonhóhen besaß wie cs in der mitteleuropäischen Musik der Neuzeit der Fall ist. Jede Melodie beruhte auf einem System von Intervallen,

welches der Wert «8. Dic stimmte; sitzt dic

mehr oder weniger als cine Oktave umfassen konnte, innerhalb derer der Noten jedes Mal neu festgelegt wurde; siche dazu Landels 1999, μέση war also die zentrale Stütze, die das musikalische System bcsiche Schlesinger 19702, 182-188; West 1992, 219. [m Tonsystem bcμέση in sich alle Intervalle und Funktionen der anderen Saite, obwohl

sie eine Saite ist wie alle anderen. Auf ähnliche Weise enthält der Name

Apol-

lons alle Funktionen und Bedeutungen des Gottes, obwohl er nur ein einziger Name ist. τάτταρσι δυνάμεσι ταῖς ToU ϑεοῦ Sokrates’ Untersuchung zielt darauf ab, dic vier Bereiche (Medizin, Wahrsagekunst, Bogenschießen und Musik), deren Schutzgottheit Apollon ist, im Namen des Gottes ausfindig zu machen. Hier scheint wieder die Denkstruktur der Allegorese vorhanden zu sein, die innerhalb des Gótternamens ihre eigene Natur entdecken will. Die Bezic-

hung zwischen der Natur des Gegenstandes (des Gottes Apollon) und scines Namens (Ἀπόλλων) wird durch den Gebrauch des Begriffs δύναμις ermöglicht: Einerseits bezeichnet δύναμις die „Macht“

Apollons oder, um cs genaucr auszu-

drücken, scinen „Wirkungsbereich“, andererseits bezeichnet dieses Wort die .Bedeutung" seines Namens. Die sprachliche Analyse zur Bedeutung seines Namens (ἡ δύναμις ToU ὀνόματος) stimmt somit mit der Untersuchung über die

Eigenschaften der Gottheit und seiner Macht (ἡ δύναμις τοῦ eov) überein und

dank der Bedeutungsfülle des Begriffes δύναμις zeigt sich auch eine vollkommene Übereinstimmung zwischen der Gottheit und seinem Namen. Siche dic Ausdrücke:

τὴν

δύναμιν

τοῦ

ϑεοῦ

(404c6);

τέτταρσι

δυνάμεσι

ταῖς

ToU

ϑεοῦ

(405al-2); τὴν δύναμιν τοῦ ὀνόματος (405c3-4) und τῶν τοῦ ϑεοῦ δυνάμεων (40682).

116

Apollon

a 8. πρῶτον μὲν γὰρ ἡ κάϑαρσις xai oi xaSaguoi Die erste Namenserklärung behandelt Apollon als Gott der Medizin mit besonderer Berücksichtigung der Reinigungsprozessc. Später (405b6) wird er sogar als ὁ καϑαίρων Seóg beschricben. Zu Apollon als Gott der Medizin siche 405c1: (sc. Ἀπόλλων] ὡς ἰατρὸς ὦ: und ἰατρική in 40583. a 8-9. xai κατὰ τὴν ἰατρικὴν xai κατὰ τὴν μαντικήν Bei der Beschreibung der therapeutischen Tátigkciten, dic auf Apollon als Gott der Medizin zurückzuführen sind, findet man cinen doppelten Hinweis sowohl auf die Medizin als auch auf dic Wahrsagekunst. Auf den ersten Blick könnte es merkwürdig erscheinen, da die erste Namensauslegung ausschließlich der Medizin gewidmet ist und erst die zweite von Apollon als Schutzgott der Mantik handelt. Das klän sich

jedoch

auf,

wenn

man

an

die

traditionelle

Darstellung

Apollons

als

ἰατρόμαντις denkt, die dieselbe Assoziicrung zwischen Medizin und Wahrsagekunst vorlegt. Zur Darstellung Apollons als ἰατρόμαντις in der griechischen Kul-

tur siche z.B.: (sc. Ἀπόλλων] ἰατρόμαντις δ᾽ ἐστὶ καὶ τερασκόπος / xai τοῖσι: ἄλλοις δομάτων καϑάρσιος (Acsch. Eum. 62-63); [sc. Ἀπόλλων) ἰατρὸς ὧν καὶ μάντις (Aristoph. Plut. 11). In einem Aufsatz, der gänzlich dem ApollonAbschnitt des Kratylos gewidmet ist, analysiert Montrasio (1988, 231) genau dic im Text enthaltene

Anspiclung

auf Apollon

als ἰατρόμαντις.

Apollon

war

der

Schirmherr der Heiler und Wahrsager der archaischen Epoche, die das Böse, das den Menschen

befällt, als Schmutz (μίασμα) ansahen, der abgewaschen

werden

musste. Das Böse konnte cthischen Ursprungs scin, d.h. cine Schuld aufgrund einer Bluttat, oder es konnte physischen Ursprungs scin, d.h. eine Krankheit. die, jedenfalls dieser Weltsicht zufolge, stets auf die Verletzung eines religiösen Tabus zurückzuführen war. Die Priester Apollons wendeten sich an dic Wahrsagekunst, um die Ursache dicses Übels zu diagnostizieren und an die Reinigungsverfahren, um cs zu heilen. Ein vielsagendes Beispiel der Praktiken der

Wunderärzte und Wahrsager findet sich im ersten Buch der /lius (Hom. //. 1, 92100). Kalchas, der Apollonpriester, wird von Achilles gerufen, um die Ursachen der Pest aufzudecken, die gegen die Achäcr wütet. Dank seiner prophetischen Fähigkeiten erklärt Kalchas, dass Apollon erzürnt ist, weil Agamemnon den Priester Chryses schlecht behandelt hat, als er zum Lager der Achäer gekommen

war, um die gefangene Tochter freizukaufen. Erst wenn ihm die Tochter wiedergegeben wird und reinigende Opfer dargebracht werden, wird sich der Gott und mit ihm auch die Pest besänfligen lassen. Siche die Analyse dieser Episode von Parker 1983, 209-210, Burkert 1996, 102 ff. Die Reinigung zielt also auf die Bescitigung des μίασμα und auf die Wicderherstellung des psycho-physischen Gleichgewichts des Menschen. Im Kratylos-Abschnitt wird nur indirckt und andeutend durch die Formulierung καὶ κατὰ τὴν ἰατρικὴν xai κατὰ τὴν μαντικήν auf Apollon als ἰατρόμαντι: Bezug genommen. Platon hält die traditionelle Figur des Gottes im Hintergrund.

Apollon ohne

dass sic jemals

genaue

Konturen

117

annimmt.

Die mythische

Situation, die

etwa durch dic Figur des ἰατρόμαντις hervorgerufen wird, bei der der Mensch als Gegenstand einer cinzigen reinigenden Praxis auftritt, wird im Text von der zcrstückelten historischen Realität überlagert und jene einheitliche Wissenswelt di-

ürctisch auf Medizin und auf Mantik aufgeteilt. Siche dazu Parker 1983, 210. Die medizinische Kunst, dic sich als wissenschaftliche Disziplin erst im 6.5. Jh. entwickelt hat, bericf sich ausdrücklich auf Apollon. Der Übergang von der ursprünglichen Figur der Heiler und Hellscher zu der des Arztes und Wissenschaftlers der historischen Epoche hat in der wissenschafllichen Terminologie der Medizin Spuren hinterlassen. Das Konzept der κάϑαρσις zum Beispiel, auf das sich die gesamte Namensauslegung stützt, nimmt cine wichtige Rolle im Corpus Hippocraticum cin. Es bezeichnet jenen Prozess, der das Equilibrium der Körpersäfte oder der vitalen Prinzipien des Menschen wiederherstellt, dic durch die Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht wurden. Siche dazu Parker

1983, 213-214. Im Bercich der traditionellen Religion hingegen ist Apollon in erster Linie der Gott der Wahrsagekunst und der Orakel. Diese Rolle wird ihm natürlich auch von Platon zucrkannt; siehc dazu z. B.: οὗτος γὰρ δήπου ὁ ϑεὸς περὶ τὰ τοιαῦτα πᾶσιν ἀνϑοώποις πάτριος ἐξηγητὴς τῆς γῆς ἐπὶ τοῦ ὀμφαλοῦ καϑήμενος ἐξηγεῖται (Resp. IV, 427c1-4); siche auch Apol. 20e6-21a9. Apollon übernimmt dic Zuständigkeit für dic Reinigungsritualc, insbesondere nach einer Bluttat, da die Verunreinigung (μίασμα) einer der Gründe war, wegen der er am hüufigsten zu Rate gezogen

wurde.

Robert Parker (1983,

138-140) macht ausgerechnet

in ei-

nem platonischen Text cin Beispiel zu diesem Phänomen ausfindig. Im 9. Buch der Nomoi

(865al

ff.) werden

verschiedene

Möglichkeiten angegeben, wie ein

Mensch ermordet werden kann und deren jeweilige Bestrafungen. Im Verlauf dieser Abhandlung erweist es sich als notwendig, dass das Heiligtum von Delphi die Art des Reinigungsrituals festlegt, das sich bei den verschiedenen Mordfällen eignet: καϑαρϑεὶς κατὰ τὸν ἐκ Δελφῶν κομισϑέντα περὶ τούτων νόμον ἔστω καϑαρός (Leg. IX, 865b1-2). In der Kategorie, die Wahrsagekunst

und Reinigungsrituale miteinander ver-

bindet, tritt in der historischen Epoche neben den „institutionellen“ Ritualen der Reinigung auch das Phänomen

der „Wanderer/Reiniger“ auf. Siche die Ausdrü-

cke μάγοι re xai καϑάρται xai ἀγύρται xai ἀλαζόνες (Morb. Sacr. M, 3-4 Jones) und ἀγύρται xai μάντεις (Resp. Il, 364b5); siehe dazu Parker 1983, 210-213 und Jouanna 1992, 263-268. Sie, dic ebenfalls Erben der Tradition der antiken Hciler-Hellseher waren, teilten mit der traditionellen Religion dic Idec, dass das Bóse eine Art Schmutz (μίασμα) ist, der weggewaschen werden muss. Dic Formel (ἀγύρται xai μάντεις. Resp. Il, 364b5), mit der Platon sie definiert, lässt vermuten, dass die Hellseherei auch diesen Personen dazu diente, den Ursprung des Bösen festzustellen, der durch die Reinigung beseitigt werden sollte.

118

Apollon

a 9 - b 2. xai ai τοῖς ἰατρικοῖς φαρμάκοις xai ai τοῖς μαντικοῖς περιϑειώσεις τε καὶ τὰ λουτρὰ τὰ ἐν Toig τοιούτοις xai ai περιρράνσεις Die Text. Formulierung richtet sich auf die Unterscheidung zwischen den Heilmitteln der Medizin und denen der Wahrsagckunst. Die im Text erwáhnten Reinigungspraktiken durch Ráucherungen (περιϑειώσεις) und Bäder (λουτρά) sind Bestandteile der Reinigungsrituale, die von der traditionellen Religion und den καϑάρται vorgeschrieben werden; siehe dazu Parker 1983, 207 ff., 224-227. Jedoch sind Abführen, heiße Bäder und Rüucherungen auch dic geläufigsten Heilmittel, die

von der hippokratischen Medizin vorgeschrieben werden; siche dazu Parker 1983, 214-215. περίρρανσις ist der einzige Begriff im Text der anscheinend aus. schließlich den Reinigungsritualen zugeschrieben werden muss. Die Reinigung durch Besprengen war in der griechischen Religion wie in vielen anderen Reli. gionen sehr geläufig. So wurden z.B. vor den Tempeln Gefäße mit Wasser (περιρραντήρια) aufgestellt, damit die, die hineingingen, sich mit cinigen Wassertropfen besprengen konnten. b 3-4. καϑαρὸν παρέχειν τὸν ἄνθρωπον xai xarà τὸ σῶμα καὶ κατὰ, τὴ, ψυχήν Alle Reinigungspraktiken, die in dem Abschnitt beschrieben werden und dic unter dem Patronat Apollons stehen, streben danach, den Menschen in

seiner Gesamtheit καϑαρός zu machen. Der Text jedoch behauptet, dass die Reinigung xai κατὰ τὸ σῶμα xai κατὰ τὴν ψυχήν vollzogen werden muss. Damit hebt er die beiden Teile (Seele und Körper) hervor, aus denen der Mensch erfasst wird und auch die Disziplinen, die für beide Teile zuständig sind: Der Mc.

dizin wird die Heilung des Kórpers zugeschrieben, der Wahrsagekunst die der Seele. In Wirklichkeit gründet sich die religiöse Reinigung auch in der historischen Epoche weiterhin auf der Annahme, dass der Gegenstand der Reinigungxrituale der Mensch in seiner Gesamtheit sci. Dic ausgeprägte Unterscheidung zwischen den beiden Disziplinen hängt mit der Leib/Scele-Antithese zusammen. die sich am Ende des 5. Jh. entwickelte und durch Sokrates und seine Schüler

geradezu dogmatisch wurde. Das philosophische Projckt Platons zielt letztlich darauf ab, die religiöse Reinigung durch die Philosophie als Disziplin zu ersutzen, die sich mit der Seele beschäftigt. Siehe dazu der Abschnitt im Phaicden: (67c5-d2), in dem die intellektuelle Untersuchung mit der Reinigung gleichgesetzt wird; siehe hierzu S. 185. Meine Lesart weicht grundlegend von der Montrasios (1988, 232-240) ab, der aus dem

Text die Idee von der Harmonw

zwischen der Secle und dem Körper herausliest. b 6-7. ὁ ἀπολούων τε xai ἀπολύων τῶν τοιούτων κακῶν Nach dem ersten Teil, in dem Apollon in Bezug auf seine reinigenden Eigenschaften beschrieben wird, geht Sokrates zur eigentlichen Namensanalyse über. Vom Gott der Reinigung (ὁ καϑαίρων ϑεός, b6) wird cine erste Definition ὁ àmoAovwv" gegeben. die ihn als „denjenigen, der [solche Übel (d.h. körperliche und scelische

Apollon

119

μίασμα) abwäscht“ bestimmt. Nur mit der Konjunktion xai verbunden, dic explikativ ist, folgt einc Weiterentwicklung derselben Definition (6) ἀπολύων τῶν τοιούτων κακῶν" („derjenige, der von derartigen Übeln befreit"), die wegen einer schr starken Lautähnlichkeit (ἀπολούων ἀπολύων) an die erste gebunden ist. Die erste Definition, dic auf das physische Waschen anspielt, geht zu einem Verb (ἀπολύειν) über, das umfassender ist und auf die Beseitigung und Befreiung vom Übcl hinweist. Die Einführung von ἀπολύειν am Ende der Auslegung des Gótternamens scheint eigentlich gänzlich überflüssig zu sein, wenn man bedenkt, dass die endgültige Namenserklärung Ἀπόλλων 4 ἀπολούειν ist. Das wird, wie Stallbaum (1835, 111) betont, auch durch das Partizip ἀπολούοντος im Crat. 40623 bestätigt. Die unmittelbar darauf folgende Wiederholung durch die Ausdrücke ἀπολύσεις und ἀπολούσεις (Crat. 405b9) bckräfligt aber das Gewicht dieser Assoziation. Auch die Tradition macht uns auf eine Schwierigkeit bei der Lektüre dieses Abschnitts aufmerksam, wenn sic im Kodex W die Lesart Ἀπολύων bei 405c1 anstelle von Ἀπολούων anführt. Um diese Schwierigkeit zu lösen, schlügt Heindorf (1806, 74-75) vor, dic Stelle in ἀπολύων ἢ ἀπολούων umzuündern. In der Tat stellt die Einführung von ἀπολύειν cin interpretatives Problem dar. Wenn die erste von Sokrates vorgeschlagene Namenserklärung (Ἀπόλλων ( ἀπολούειν) dem traditionellen Bild von Apollon ἰατρόμαντις entspricht, dann liefert das Verb ἀπολύειν cine ungewöhnliche und überraschende Interpretation des Gottes. Im Bereich der Medizin bezeichnet das Verb ἀπολύειν den Prozess der Genc-

sung von einer Krankheit oder einem Leidenszustand. Siehe bei Hypokrates: [οὔρον] ἐβδομαῖον ἀπολύει (Coac. V, 712, 11-12 Littré); rà ἀπολύοντα (de humoribus. V, 482, 17 Littré); siche auch 4ph. IV, 500, 7 Littré. Bei Platon tritt cs in der Bedeutung „von den Wehen befreien“ auf: siehe Symp. 206c1; Theaet. 184b1. Der Gebrauch des Wortes ἀπόλυσις im Kratylos (405b9), das von diesem Verb abgeleitet wird, bestätigt die „medizinische“ Interpretation des Begriffs. Im Corpus Hippocraticum bezeichnet ἀπόλυσις die Auflösung, die Beseitigung cines pathologischen Zustandes, die Heilung einer Krankheit; siche z. B.: κρίσις δὲ ἀπόλυσις νούσου (Praec. IX, 270, 13 Littré); χαλεπωτέρη ἡ ἀπόλυσις γίνεται (Coac. V. 664, 9 Littré); ϑάσσους ποιέει τὰς ἀπολύσας (Coac. V, 664, 12 Littré); χαλεπαὶ ai ἀπολύσεις γίνονται (de nat. hom. VI, 56, 17 Littré). Wenn also ἀπολύειν und ἀπόλυσις als medizinische Begriffe aufgefasst werden, dann ist das erste Bild, das uns der Text vermittelt, die Beschreibung von Apollon Schirmherrn der Medizin, der den Menschen von seinen Krankheiten befreit.

als

Wenn man jedoch das Verb ἀπολύειν im wórtlichen Sinn als „aufbinden“ / „losbinden“ versteht, dann nimmt der Name Apollon die Bedeutung „desjenigen, welcher von den Übeln losbindet / befreit“ an. Damit wird cin Bild des Gottes ins Leben gerufen, das sich von sciner traditionellen Erscheinung entfernt und das in der griechischen Religion nicht belegt ist. Wie Clara Gallini (1960, 537) in ihrem Aufsatz zum „Gott, der losbindet" bemerkt, werden die Beinamen

120

Apollon

λύσιος und λυαῖος ausschließlich Dionysos zugeschrieben, dic er ausnahmsweise mit Artemis λυαία in Syrakus und mit den λύσιοι Seoi der Politeia (11, 36637: teilt. Für diese ganz und gar untypische Darstellung Apollons findet sich eine Erklárung, wenn man die Namensauslegung in der gesamten Struktur des Ab. schnitts betrachtet, in den sie cingefügt ist. Das semantische Feld, das um dic dem ἀπολύειν entgegengesetzte Tätigkeit - das Binden - kreist, nimmt innerhalb des Abschnitts über dic Gótternamen eine grofic Bedeutung an. Der Gott der Unterwelt besitzt als besonderes Merkmal die δεσμοί: Hades ist im Kranlos der Gott, der dic Seelen mit den Schlingen des Wissens an sich bindet. Siehe meine Analyse auf S. 93ff. Nun steht der Leser bei Apollon vor einer Gottheit, die dic entgegengesetzte Tätigkeit ausführt, nämlich die des Losbindens und des Beffeıens. Der Text scheint also zwei sich zueinander spicgelbildlich verhaltende F1. guren zu zeigen: Hades, der bindet und Apollon, der losbindet und befreit.

Das Konzept der Reinigung ist ein weiteres Element, das die beiden Götie: verbindet. Im Abschnitt über den Gott der Unterwelt nahm Hades nur Seelen zu sich, die rein von allen Übeln und körperlichen Leidenschaften waren: ἐπειδὰν «

Ψυχὴ καϑαρὰ ἢ πάντων τῶν περὶ τὸ σῶμα κακῶν xai ἐπιϑυμιῶν (404al-2) Damit spielt cr auf den Zustand der Scele nach dem Tod an, wenn sie vom Körper getrennt ist. Wenn man cinc inhaltliche Entsprechung zwischen beiden Ab. schnitten annimmt, dann entstcht ein Mythos über das Schicksal des Menschen vor und nach dem Tod. Apollon

wird zu dem

Gott, der die Menschen

von

den

kórperlichen und seelischen Übeln befrcit und sic zum Status der Reinheit fühn. damit sic im Jenseits das Wissen genießen können. Vom Standpunkt des religiösen Denkens aus rufen die Eigenschaften, die A. pollon durch die Auslegung seines Namens zugeschrieben werden, einen radikalen Wechsel seiner traditionellen Figur hervor und verwandeln ihn in eine Gotuheit, die die typischen Merkmale ciner Mysterien-Gotthcit annimmt. Innerhalb der Mysterien ist Dionysos der Gott, dem die Rolle des Befreiers von den Übeln zukommt und deshalb den Beinamen λύσιος trägt. Zwei Goldblättchen in der Form von Efeublättern, die auf der Brust ciner Frau in cinem Grab in Pelinna in Thessalien gefunden wurden und dic auf ungeführ 300 v. Chr. datiert werden. bezeugen ohne jeden Zweifel diese Funktion von Dionysos in den Mysterien: εἰπεῖν Φερσεφόναι σ᾽ ὅτι Βάκχιος αὐτὸς ἔλυσε.

Die Goldblättchen sind bei Tsantsanoglou/Parássoglou 1987 veröffentlicht: siche zu diesem Thema Burkert 1994, 28. Zur Bedeutung von ἀπολύειν im Phaidon siche mein Kapitel „Die Funktion der Philosophie im Abschnitt über Apollon als Gott der Medizin" (S. 194ff.).

c 2. κατὰ δὲ τὴν μαντικὴν Dic zweite Auslegung von Apollons Namen behandelt die Gottheit in der Funktion des Gottes der Wahrsagekunst. Apollon: Name wird durch das Adjektiv ἁπλοῦς (τὸ ἁπλοῦν, „das Einfache", „das Schlich-

Apollon

121

te") erklärt, das wiederum als τὸ ἀληϑές („das Wahre“) gedeutet wird. Darüber hinaus verstürkt Sokrates seinc Auslegung (Ἀπόλλων € τὸ ἁπλοῦν). indem er sich auf die thessalische Form des Gótternamens Ἅπλουν berufl. Wie oft im Kratylos ist die Anlautsaspiration von ἁπλοῦν kein Problem bei der Wortuntersuchung; siehe dazu S. 61. Dic Assoziation ἁπλοῦν ἀληϑές ruft in Bezug auf die Wahrsagekunst dic traditionelle Figur von Apollon als Orakelgott hervor, der dem Menschen den Zugang zur Wahrheit verschafft und zugleich durch die Verschlüsselung seiner Äußerungen eine Distanz zwischen Góttlichem und Menschlichem herstellt. c 2-3. xai τὸ ἀληϑές τε xai τὸ ἁπλοῦν Bei Platon drückt das Wortpaar ἁπλοῦν]άληϑές immer eine wahrhafte und aufrichtige Einstellung aus, sci es, dass sie den Göttern, den Heroen oder den Menschen zugeschrieben wird: ὁ 3eog [sc. ὁ Ἀχιλλεὺς] ἁπλοῦν xai ἀληϑὲς Ev τε ἔργῳ xai λόγῳ. Resp. Il, 382e8-9; ἀπλούστατος

καὶ ἀληϑέστατος, Hipp. min. 364c7-9; 365b4; [sc.avno] ἁπλοῦς δὲ

καὶ ἀληϑὴς ἀεί, Legg. V, 738e7. ce 4. Ἄπλουν Außer im Kratylos, in dem diese Form von Apollons Namen den Thessaliern zugeschrieben wird, ist sie in der Tat auch in Larissa (1G9(2).1027; 9(2).512.19, 5. und 2. v. Chr.), einer Stadt in Thessalien belegt; siche dazu LSJ (1996), Supplement, 42. Was die Bezichung von Apollon und Thessalien im Mythos angeht, sollte noch erwähnt werden, dass berichtet wird, dass

der

Gott

Reinigung

in Thessalien

suchte,

nachdem

cr nach

der Tötung

Pythons Delphi verlassen hatte; vgl. Eur. Alc. 6ff. c 5. διὰ δὲ τὸ ἀεὶ βολῶν ἐγκρατὴς εἶναι τοξικῇ Ἀειβάλλων ἐστίν Dic dritte Auslegung des Namens von Apollon fällt kurz und schlicht aus. Der Name wird auf cine Urform Ἀειβάλλων zurückgeführt, die sich mit Hilfe des Satzes τὸ ἀεὶ ϑολῶν ἐγκρατὴς elvai als ὁ ἀεὶ βάλλων (,. derjenige, der immer schießt“) interpretieren lässt. Zu Apollon als Bogengott siche z. B. die Beinamen: ἑκηβόλος, Hom. /1. 1, 14, 96; ἕκατος, Il. 1, 385; ἀργυρότοξος. Il. 1, 37: κλντότοξος, Il. XV, 55.

c 6-7 κατὰ δὲ τὴν μουσικὴν — Dic vierte und letzte Namenserklürung setzt sich mit Apollon als Gott der Musik auseinander und übernimmt deshalb innerhalb des Abschnitts über den Gott eine besondere Bedeutung. Die lange Na-

mensuntersuchung steht ganz unter dem Postulat der Harmonie (siche ἁρμόττειν im 405al; Apollons Name wird sogar als εὐάρμοστον (405a7) bezcichnet und der Gott als μουσικός (a7) benannt). Die Sprache der Namensanalyse sclbst verwendet Flemente aus der Musiktheorie. Siche dazu S. 1141T.

c 7-9 δεῖ ὑπολαβεῖν, ὥσπερ τὸν ἀκόλουϑόν τε xai τὴν ἄκοιτιν, ὅτι τὸ ἄλφα σημαίνει πολλαχοῦ τὸ ὁμοῦ Der Textablauf und die Satzsyntax erweist sich bei der ersten Lektüre als mühsam und dem Verständnis nicht leicht. Dic Schwic-

122

Apollon

rigkeit liegt in Sokrates’ Bemühungen, die auf die Erklärung des lautlichen Bc. standteils des Gôttemamens

gerichtet sind, und

zwar auf die Bestimmung der

richtigen Bedeutung des Anfangs-a seines Namens. In dieser Absicht entwickeli sich der ganze Abschnitt, erst später wird die neue Auslegung des Namens uni der Figur des Gottes dargelegt. Durch das Beispiel von @-x0Aoudog und &-xoizi; wird dem Anfangs-a cin kopulativer Wert (ὁμοῦ „zusammen mit") zugeschricben; siche noch 405d5-7. Sokrates’

Auslegung

des

Anfangs-a

beider

Worte

findet

in der

modernen

Sprachwissenschaft ihre Bestätigung: ἀκόλουθος ist aus einem ἀ- mit kopulati. ver Bedeutung, das vom indocuropäischen *sm- („zusammen mit") abstamnnı. und dem Substantiv κέλευϑος (, Weg") zusammengesetzt und nimmt die Bedeu-

tung „derjenige, der mit... den Weg zurücklegt", , Weggeführte" an. Das plc: che geschicht mit ἄκοιτις („Bettgenossin“, „Ehefrau“), das aus dem kopulativer &- und κοίτη („Ruhestätte“, „Lager“*) gebildet ist. Zum Begriff ἀκόλουθος sich Frisk 1960, 1, 55 und Chantraine

1968, 48-49 und zu ἄκοιτις Frisk 1960, I, 54-5:

und Chantraine 1968, 48. c9 - di xai ἐνταῦϑα τὴν ὁμοῦ πόλησιν xai περὶ τὸν οὐρανόν, oU; δὴ πόλοι: καλοῦσιν, καὶ περὶ τὴν ἐν τῇ δῇ ἁρμονίαν, 4j δὴ συμφωνία καλεῖται Nach dem Abschnittsanfang, der den Zweck hat, den Leser über den kopulativen Wer des Anfangs-a (= ὁμοῦ) zu informieren, geht Sokrates zur eigentlichen Analys;

des Gótternamens über. Dabei wird cin abstrakter Begriff - die ὁμοῦ πόλησις eingeführt, die sich später als die echte Bedeutung von Apollons Namen erweisi Apollon wird nämlich zum Lenker der ὁμοῦ πόλησις. der Bewegung in der Welt. dic an einem rationallen, bzw. musikalischen und matematischen Prinzip orien.

tiert ist. Siche mcinen Kommentar auf S. 127ff. Wenn dic ὁμοῦ πόλησις erwähnt wird, ist klar, dass der Leser implizit ange. regt werden soll, ὁμοῦ durch das Anfangs-a mit kopulativen Wert zu ersetzten. da er über den Wert des Anfangs-a (= ὁμοῦ) bei ἀκόλουθος und ἄκοιτις soeben informiert wurde. Damit kommt man zu cincr implizierten neuen Wortprägun: ("ἀ-πόλησις), dic die Bedeutung von Apollons Namen in jeder Hinsicht erklá rt. so wie es später im Text mit aller Deutlichkeit geschicht: ἡ ὁμοῦ πόλησις / ἡ *à πόλησις = ὁ ὁμο-πολῶν = ἀ-πολῶν ) ἀπόλζλγων = Ἀπόλλων. καὶ περὶ To: οὐρανόν, οὗς δὴ πόλους καλοῦσιν Die gleiche Bewegung - cin Herumgchen und Herumkreisen -, die durch den Begriff ὁμοῦ πόλησις bezeichnet wird, zeigt sict sowohl bei den Himmelsbewegungen (περὶ τὸν οὐρανόν) als auch im Raum de: Tonbewegung cines Liedes (περὶ τὴν àv τῇ δῇ ἁρμονίαν). Um das Verháltni: zwischen dem allgemeinen Prinzip der ὁμοῦ πόλησις und den Himmelsbewcgungen zu unterstreichen und irgendwie zu beweisen, verwendet Sokrates da: Wort πόλος („Himmelsgewölbe“, „Himmel“, hier im Plural „die Pole"). Dadurc* zeigt sich die lautliche Bezichung, sozusagen dic ctymologische Ableitung vcr πόλησις aus πόλος. Dic Satzkonstruktion soll also heißen: περὶ τὸν οὐρα:ὁ:

Apollon

123

(περὶ) oUg δὴ πόλους καλοῦσιν. Der Relativsatz mit δή ist explikativ: (sc. das Herumkreisen) um den Himmel, d.h. die ,Kreisenden' (die Polc)". πόλους Wic Chantrainc (1968, 878) bemerkt, ist πόλος im Griechischen ein Fachbegriff, der stets mit der Idee einer Kreisbewegung verbunden ist und sich auf verschiedene Situationen anwenden lässt: Bei der Bezeichnung der Achse oder ihrer Enden, um die die Himmelssphäre

dreht, oder der runden

Scheibe der Sonnenuhr, auf

der sich der Schatten bewegt. Die Beziehung zwischen dem Begriff πόλος und dem Verb πολεῖν, mit dem das Wort πόλησις durch dic Auslegung von Apollons Namen (ὁμο-πολῶν) im Text in Verbindung gebracht wird, erschien dem Griechischen offensichtlich. In den Vögzeln macht Aristophanes daraus sogar ein Wortspicl: LIL. oixioare μίαν πόλιν. Ell. ποίαν δ᾽ ἂν οἰκίσαιμεν ὄρνιϑες πόλιν: MEI.

ἄληϑες: ὦ σκαιότατον εἰρηκὼς ἔπος. / βλέψον κάτω. ἘΠ. καὶ δὴ βλέπω.

ΠΕῚ. βλέπε νῦν ἄνω. ETI. βλέπω. HEIL. περίαγε τὸν τράχηλον. ET. νὴ Δία 7 ἀπολαύσομα! τί γ᾽. εἰ διαστραφήσομαι. ΠΕῚ. εἴδές ri; EIT. τὰς νεφέλας γε καὶ τὸν οὐρανόν. IIEI. οὐχ οὗτος οὐν δήπον ᾽στὶν ὀρνίϑων πόλος. ἘΠ. πόλος: τίνα τρόπον; lE. ὥσπερ εἰ λέγοις. τόπος. ὅτι δὲ πολεῖται τοῦτο καὶ διέρχεται / ἅπαντα διὰ τούτον. καλεῖται νῦν πόλος. / ἣν δ᾽ οἰκίσητε τοῦτο

καὶ φράξηϑ᾽ ἅπαξ. / ἐκ τοῦ πόλον τούτον κεκλήσεται πόλις

(Aristoph. Av. 173-184).

Pisthetairos schlägt dem Wiedehopf vor, cine Stadt (πόλις) der Vögel zu gründen und sic im Himmelsgewólbe (πόλος) anzusicdeln, einem Ort, der sich bewegt (ὅτι δὲ πολεῖται τοῦτο, Aristoph. Av. 181). Wenn das Himmelsgewölbe (πόλος) von den Vógeln bewohnt und befestigt wird, ándert es scinen Namen zu πόλις und wandelt sich vom Himmelsgewölbe zur Stadt. Die etymologische Bezichung zwischen dem Begriff moAog und dem Verb πολεῖν wird auch von der modernen Sprachwissenschaft bestätigt. Sowohl πόλος als auch πολεῖν stammen vom Verb πέλομαι (,, werden", „existieren“) ab, dessen ursprüngliche

Bedeutung

„sich bewegen"

gewesen

sein muss, wie die mit ihm

zusammengesetzten Worte bezeugen. Während Chantrainc (1968, 877-878) sich nicht darauf festlegt, ob πόλος cine nominale Ableitung des Verbs πολεῖν ist, oder im Gegenteil πολεῖν cin von πόλος abgcleitetes Verb, entscheidet sich Frisk (1970, 1I, 500) eindeutig für die erste Möglichkeit. καὶ περὶ τὴν ἐν τῇ φδῇ ἁρμονίαν, 1j δὴ συμφωνία καλεῖται Nach dem Himmelsgewölbe erwähnt Sokrates die andere Spháre, in der dic ὁμοῦ πόλησις in Erscheinung tritt, d.h. das Tonsystem eines Liedes. In den parallelen Sätzen entspricht οὐρανός ἁρμονία und πόλοι συμφωνία; deshalb sollte man die Begriffe so auffassen, dass sic in dieses Schema

passen. Der Satz könnte etwa so formuliert werden:

Die Tonbewegung

cines Liedes vollzieht sich im Raum der ἁρμονία und ergibt dic συμφωνία. dic feste Norm, an der sich dic Bewegung orientiert. Nun sind σύμφονοι dic Intervalle Quarte, Quinte

und Oktave, die in der Tat das Grundgerüst des Tonsystems

bilden. Man kónnte demnach sagen: Die Stimme bewegt sich im Tonsystem

124

Apollon

(ἁρμονία)

und

orientiert

sich

an

den

Intervallen

Quarte,

Quinte

und

Oktave

(συμφωνία). d 1-3. ὅτι ταῦτα πάντα [...] ἁρμονία τινὶ πολεῖ ἅμα πάντα

Gegen die Kor-

rektur von Ast, der in 405d3 anstatt πολεῖ πολεῖται schrieb, hält Boyancé (1941.

148-149), wie die Herausgeber der neuen Oxford-Ausgabe, an der überlicferten Lesart πολεῖ fest, weil er glaubt, dass das Subjekt des Verbs Apollon selbst ist: siehe auch Boyancé 1936, 97. In diesem Punkt folgt ihm auch Schefer (1996.

120). πολεῖν aber ist fast immer intransitiv: „herumgehen“ (vgl. Eur. Alc. 29, Or. 1270), so wie das περιπολεῖν der Sterne (vgl. Tim. 4143, Phaedr. 252c.5). So ix es wahrscheinlicher, dass ταῦτα

πάντα

Subjckt

ist. Erst nachdem

Apollon

mit

ἐπιστατεῖ (d3) als maßgeblicher Lenker der ἁρμονία des Ton- und Sternsystems vorgestellt wurde, geht

Platon

zu seiner neuen

Wortschópfung

ὁμοπολῶν

(d4)

über, das nun durch αὐτὰ πάντα (d4) transitiv gemacht wird. d 2. ὥς φασιν oi κομψοὶ περὶ μουσικὴν xai ἀστρονομίαν Wie Pierre Boyance (1941, 148) richtig behauptet hat, erinnert diese Formulicrung an cine Stelle in der Politeia, in der Platon die Pythagorcer ausdrücklich als diejenigen beschreibt, die zwischen

der Musik

und der Astronomie

eine direkte Verwanut-

schaft sahen: κινδυνεύει, ἔφην, ὡς πρὸς ἀστρονομίαν ὄμματα πέπηγεν. ὡς πρὸς ἐναρμόνιον φορὰν ὦτα παγῆναι. καὶ αὗται sc. ἀστρονομία und μουσικὴ) ἀλλήλων ἀδελφαί τινες αἱ ἐπιστῆμαι elvat, ὡς οἵ τε Πυϑαγόρειοί φασι καὶ ἡμεῖς. d) Γλαύκων, συγχωροῦμεν (Resp.VM, 530d6-9).

Wie im Kratylos-Abschnitt wird hier ebenso von zwei Bewegungsarten gesprochen: Dic erste handelt von der Bewegung der Gestime (αἱ ἄστρων φοραί, Resp VII, 53024), mit der sich die Astronomie bescháfligt, dic zweite bezicht sich auf die harmonische Bewegung (ἐναρμόνιος φορά), dic der Musik angehórt. Nach den Pythagoreern sind beide Bewcgungsarten und demzufolge auch beide Disziplinen, die sich mit ihnen beschäfligen, direkt

miteinander verbunden.

Nach

ihrer Überzeugung ist der Kosmos ein riesiges Musikinstrument, dessen Teile und Bewegungen den Gesetzen der musikalischen Theorie folgen und eine kosmische

Harmonie

schaffen.

Deshalb

verschafft die Musik

Zugang

zu den

Gie-

heimnissen des Universums. Siehe dazu West 1992, 234-235. Im Schluss-Mythos der Politeia (Resp. X, 616d6-617b7) bietet Platon cine raffinierte Version dieser pythagorcischen Lchre an, die üblicherweise als „Theoric der Harmonie der Sphären“ bezeichnet wird. Siehe dazu Schavernoch 1981. 63-73. Dort wird wiederum Musik und Astronomie unauflöslich miteinandei verbunden. Auf der Bahn jedes einzelnen Planeten befindet sich cine Sirenc. dic cinen Ton angibt; die Vercinigung aller Stimmen der Sirenen erschafft die kosmische Harmonie. Siehe besonders dic Ausdrücke: ἐκ πασῶν δὲ ὀκτὼ ovour:

Apollon μίαν

ἁρμονίαν

συμφωνεῖν

(Resp.

X,

617b6-7)

125 und



τῶν

Σειρήνων

ἁρμονία

(Resp. X, 617c4). Ein pythagoreisches Akusma, das für uns wegen scines Alters eines der wert-

vollsten Dokumente der Pythagoreer ist, bestátigt, dass die Grundvorstellung dieses Mythos zweifellos auf den Kern der ältesten Doktrinen des pythagoreischen Wissens zurückgeht. In der typischen Formel der pythagoreischen Akusmata, dic auf eine Frage die Antwort folgen lassen, wird die Frage gestellt, welches das Orakel des Heiligtums von Delphi sei. Die Antwort besteht aus einem rütsclhaften Ausdruck: die τετρακτύς. Wic Delatte (1915, 253-254) anmerkt, wirft dieses Wort schon vom sprachlichen Standpunkt her Probleme auf, denn es bezeichnet einerseits den „vierten Teil" ciner Einheit oder aber -- und das ist wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, wie die antiken Autoren dieses Wort ver-

wendeten — dic „Einheit von vier Dingen“, die Vierheit. Dicser Begriff wird unmittelbar darauf von einer ebenso mysteriösen Behauptung erläutert, und zwar, dass die τετρακτύς die Harmonie darstellt, in der sich die Sirenen befinden: τί ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς μαντεῖον: τετρακτύς" ὅπερ ἐστὶν ἡ ἁρμονία. ἐν ἡ αἱ Σειρῆνες (lambl. De vita Pvth. 82 Nauck).

Das Bild der durch αἷς Sirenen erzeugten kosmischen Harmonie ist genau jenes, das im Schlussmythos der Politeia erscheint. Zum Zusammenhang zwischen dem pythagorcischen Akusma und dem Schluss-Mythos der Politeia siehe Delat-

te 1915, 260. Ein

weiteres

Dokument

(der Schwur der Pythagorcer), das ebenfalls auf die

älteste pythagorcische Tradition zurückgeht, bestätigt darüber hinaus, dass die τετρακτύς das Geheimnis über das Leben des Universums darstellte, welches Pythagoras seinen Anhängern offenbart hattc. In der Formel dieses Schwurs ist die τετρακτύς in der Tat als „die Quelle und die Wurzel der ewigen Natur“ definiert: οὐ. μὰ τὸν ἁμετέρᾳ γενεᾷ παραδόντα TÉTQUXTUV παγὰν ἀενάου φύσεως ῥίζωμά τ᾽ ἔχουσαν.

Ich folge beim Schreiben des pythagoreischen Schwurs Burkert (1962, 170); siche dazu auch Delatte 1915, 249-253. Dieses Wissen, das sorgsam bewacht und heimlich von der pythagoreischen Schule überlicfert wurde, ist leider nur von spáten und zuweilen zweifelhaften Quellen bezeugt, so dass eine Rekonstruktion schwierig und riskant ist. Zu cincr

detaillierten Diskussion über dic Quellen und einen Rel | crsuch dieser Theorie siehe Delatte 1915, 254-258 und Burkert 1962, 66-64, 170-172. Vom mathematischen Blickwinkel aus besteht das geheimnisvolle pythagorcische Symbol aus der Summe der vier ersten Zahlen (1+2+3+4=10). Es ist das zeugende Element der Dekade und mit ihr aller Zahlen; cs symbolisiert den Übergang von der Einheit zur unendlichen numerischen Verschiedenheit. Darüber

126

Apollon

hinaus haben die Verhältnisse, in denen die ersten vier Zahlen zueinander ste. hen, auch für die Musiktheorie cine große Bedeutung, weil sic die grundlegen. den harmonischen Verhältnisse ausdrücken: 2/1 als der mathematische Aus. druck für die Oktave, 2/3 für die Quinte und 4/3 für die Quarte. Schließlich isi dic geometrische Darstellung der τετρακτύς das gleichseitige. das perfekte Drei.

eck. Das pythagoreische Symbol lässt sich graphisch wie folgt darstellen: ° 2

! Intervall der Oktave

e

3

|

! Intervall der Quinte

e.

4

e

+

o

) Intervall der Quarte

Bei ciner für die pythagorcische Schule typischen Vermischung, die Mathem:. tik, Musik und Astronomie in einer einzigen Disziplin vereint, repräsentiert di. τετρακτύς das harmonische Gesetz, das das Universum lenkt. Walter Burkert (1962, 171) warnt meines Erachtens zu Recht vor komplizier.

ten und gefährlichen Rekonstruktionen und behauptet, es sei plausibel, den Kern der pythagorcischen Wissenschaft in einer Gesamtheit von einfachen Vorstel. lungen zu bestimmen: Die Überzeugung, dass die Zahl für „das Weiseste" steht, oder die Entdeckung, dass die Zahl 10 aus den ersten vier Zahlen zusammengesetzt ist, oder die

Idec, dass es eine mathematische

Ordnung

des

Universum;

gibt. Diese elementaren Schlüsse sollten deshalb nicht mit ausgefcilten philoso. phischen Theorien oder außergewöhnlichen mathematischen oder astronomıschen Entdeckungen in Verbindung gebracht werden. Burkert (1962, 329) be. hauptet zu Recht, dass die Vorstellung von der Existenz einer kosmischen

Har.

monie möglicherweise ihren Ursprung in der einfachen Assoziation zwischen den sprichwöntlichen

sieben

Saiten

der Lyra

und den ebenso

sprichwörtlichen

sieben Planeten gehabt hat. Siche dazu den Artikel von Frieder Zaminer (1984, der auf der Grundlage der großen Symmetrie zwischen dem System der Planeten und dem der Noten vermutet, dass der Name der Noten von astronomischen

Un.

tersuchungen abstamme. Es lässt sich folglich annehmen, dass die älteste Versi. on solcher Vorstellung nicht von „einer Harmonie der Spháren" handelte, wie wir cs vom Mythos am Ende der Politeia kennen, sondern dass sie auf de: grundlegenden Assoziation zwischen dem Kosmos und der Lyra basierte. Dic siebensaitige Lyra wäre so als konkrete Darstellung der τετρακτύς anzuscher:

und folgt man dieser Analogie, dann gäben dic harmonischen Akkorde der sicben Saiten der Lyra dic Intervalle wieder, die die Bewegung und die Entfernun.

gen der Sterne zueinander fortlegen. Die als τετρακτύς verstandene Lyra würde damit

für die pythagoreische

Schule

als großes

interpretatives

Paradigma

zu:

Erklärung der Mechanismen der Welt dienen, das Musik, Mathematik und Ast: ronomic unauflóslich miteinander verbindet.

Apollon

137

Christina Schefer (1996, 118-124) hat die Beziehung zwischen dem pythagoreischen Symbol der τετραχτύς und der Figur des Apollon als Gott der Musik im Kratylos mit Nachdruck hervorgehoben. Ein erster Hinweis dazu findet sich schon bei Boyancé 1941, 149. Die Wissenschaflerin (1996, 120) behauptet,

dass die ,pythagorisierende" Interpretation Platons im Gott der kosmischen

Harmonie

und zum

Kratylos Apollon „zum

Repräsentanten der Tetraktys“ macht.

Auch die Tatsache, dass es vier Auslegungen von Apollons Namen gibt, gibt Schefer (1996, 122-123) Anlass zu behaupten, dass Apollon als Personifikation von τετρακτύς zu verstehen wäre. Die Identifizierung Apollons mit der τετρωκτύς

würde

aus der Gottheit die Darstellung der Idee des Guten

machen.

Nach der Wissenschaftlerin wird dieselbe Vorstellung später von Platon in der Politeia entwickelt, in der Apollon das ὥγαϑόν darstellt. Der Kratylos würde also ein früheres Stadium der Ausarbeitung bezeugen und die Gottheit wäre auf eine Repräsentation des „obersten Weltprinzips" beschränkt. Dazu siehe Schefer

1996. 120-121. d 3-5. ἐπιστατεῖ δὲ οὗτος ὁ ϑεὸς τῇ ἁρμονίᾳ ὁμοπολῶν αὐτὰ πάντα xai κατὰ ϑεοὺς καὶ κατ᾽ ἀνθρώπους Nach der Beschreibung der ὁμοῦ πόλησις. der spcziellen Bewegung, dic sowohl dic Himmelsgewölbe als auch das Tonsystem jedes Liedes betrifft, geht Sokrates zu der Figur von Apollon über, die als Macht über solche Bewegungen beschrieben wird: Er lenkt dic „gemeinsame Bahn“ (αὐτὰ πάντα) der Töne im Tonsystem (ἀρμονία). wie dic der Sterne im Himmel-

system, das ebenfalls ἁρμονία genannt werden kann. Der Ausdruck κατὰ ϑεοὺς xai κατ᾽ ἀνθρώπους bezicht sich also einerseits auf die „göttliche“, himmlische, mit dem Himmelsgewólbe verbundene Bewegung, andrerscits auf die „menschliche" Bewegung, dic in diesem Fall als dic Bewegung der Musik zu verstehen ist.

πάντα

καὶ κατὰ

SeoUg xai κατ᾿

üy9gumou;

Auf Grund ciner formalen

und inhaltlichen Ähnlichkeit nähert Pierre Boyancé (1941, 155-156) dicse Formulierung aus dem Kratylos cinem Ausdruck im Theaitetos (πάντα |...] τὰ ἐν δεοῖς τε καὶ ἀνθρώποις, 153d2-3) an, der alle Phänomene bezeichnet, die im Himmel und auf der Erde geschehen. Ebenso wie im Kratylos so kommt auch ım Zheaitetos-Abschnitt cine von allegorischen Zügen geprägte Wicderbearbcitung der pythagoreischen Theorie der kosmischen Harmonic vor, obwohl die Rolle des Lenkers des Universums im Theaitetos der Sonne zugeschrieben wird, während sie hingegen

im Kratylos von Apollon (ἐπιστατεῖ, 40543) in Form sci-

ner mythischen Darstellung verkórpert wird. Die befremdliche allegorische Deutung im Theaitetos (153c9-d5) fasst eine Passage des 8. Buches der Zlias zusammen, in der Zeus den Gióttem damit droht, die Erde und das Meer mit einem goldenen Seil an eine Spitze des Olymps zu fesseln: xai

em

τούτοις

τὸν

κολοφῶνα.

προσβιβάζω

τὴν

χρυσῆν

σειρὰν

ὡς

οὐδὲν

ἄλλο ἢ τὸν ἥλιον Ὅμηρος λέγει. καὶ δηλοῖ ὅτι ὁ ἕως μὲν ἂν ἡ περιφορὰ 1 κινουμένη xai ὁ ἥλιος. πάντα ἔστι καὶ σῴζεται τὰ ἐν ϑεοῖς τε καὶ

128

Apollon ἀνθρώποις. εἰ δὲ σταίῃ τοῦτο ὥσπερ δεϑέν. πάντα χρήματ᾽ καὶ γένοιτ᾽ ἂν τὸ λεγόμενον ἄνω κάτω πάντα:

Die Drohungen

von Zeus an die Giötter sind in dem

ἂν διαφϑαρείη

Abschnitt der //ias folgen-

dermaßen formuliert: γνώσετ᾽ ἔπειϑ᾽ ὅσον εἰμὶ ϑεῶν κάρτιστος ἁπάντιων. εἰ δ᾽ ἄγε πειρήσασϑε. Seoi, ἵνα εἴδετε πάντες" σειρὴν χουσείην ἐξ οὐρανόϑεν κρεμάσαντες πάντες T ἐξάπτεσϑε ϑεοὶ näcai τε ϑέαιναι" ἀλλ᾽ οὐκ ἂν ἐρύσαιτ᾽ ἐξ οὐρανόϑεν πεδίον δὲ Ζῆν᾽ ὕπατον μήστωρ᾽. οὐδ᾽ εἰ μάλα πολλὰ κάμοιτε. ἀλλ᾽ ὅτε δὴ καὶ ἐγὼ πρόφρων ἐϑέλοιμι ἐρύσσαι, αὐτῇ κεν γαίῃ ἐρύσαιμ᾽ αὐτῇ τε ϑωαλάσσῃ: σειρὴν μὲν κεν ἔπειτα περὶ ῥίον ()ἡὐλύμποιο δησαίμην. τὰ δέ x αὖτε μετήορα πάντα γένοιτο" τόσσον ἐγὼ περί T εἰμὶ ϑεῶν περί T εἴμ᾽ ἀνθρώπων (1om. 4. VII, 17-27).

Das goldene Seil, mit dem Zeus droht, die Erde und das Meer mit allen Gütterr: zu fesseln, wird im Theaitetos mit der Drehung der Sonne um die Erde und

letzt-

lich mit der Sonne selbst verglichen. Diese Assoziation beruht auf zwei Eigen. schaften, die beide besitzen: die gelbe Farbe und die Kreisform, die einmal von: Seil des Zeus um die Erde und um das Meer und ein anderes Mal von der Bahn

der Sonne um dic Erde gezeichnet wird. Nach Boyancé wird die Assoziation nui verständlich, wenn man voraussetzt, dass das Gestim mit der μέση, der mittleren Saite der Lyra, identifiziert wurde. Boyancé (1941, 156, Anm. 1) schreibt: ἢ] me paraît possible que ce soit l'idéc de lien (ξύνδεσμος) jointe à cette fonction de mése qui ait permis l'exégése singulière du 7héététe qui voit dans le Soleil sı bizarrement une chaine". Diese Textauslegung wird auch von Schefer (1996, 122) akzeptiert, die zu diesem Punkt behauptet: „Offenbar steht dahinter die |. dec des σύνδεσμος, cin Begriff, der die Funktion der μέσῃ wiedergibt‘. Aufgrund eincs für die pythagorcische Schule typischen Verhaltens hat sich: der allegorische Deuter an das homerische Gedicht gewandt, um seine eigene wissenschaftliche Theorie bestätigt zu schen. Dadurch hat er innerhalb der Re.

von Zeus im 8. Buch der /lias eine Anspiclung auf dic ursprüngliche Theorie de: kosmischen

Harmonie wieder erkannt, die sich auf die Identifizierung des

Um.

versums mit der Lyra stützt. Die Textauslegung verwendet das Bild der Lyr. und der μέση, der mittleren Saite des Musikinstruments, als Auslegungsmuste: Der Text wird erklärt, indem ständige Verbindungen zwischen dem Homer:

Abschnitt und der Interpretation des allegorischen Deuters hergestellt werder: Nach dieser Deutung weist nämlich das goldenc Scil bei Homer auf die mittlere Saite der kosmischen Lyra hin, und die mittlere Saite der Lyra weist wiederu::: auf die kreisfórmige Bewegung der Sonne um die Erde. Auf der Basis diescdreigegliederten Schemas entspricht Zeus’ Drohung, die Erde und das Meer zu sammen mit allen Göttern an die Spitze des Olymps zu binden, der Aufhebun:

Apollon

129

der Funktion der μέση als Ursache des Tonsystems, die wiederum innerhalb des

Himmelssystems den Abbruch der Sonnenbewegung bedeutet und damit die Weltkatastrophe. Zum Interesse der pythagoreischen Gemeinschaften des 5. und 4. Jh. für Homers und Hesiods Gedichte, das auch durch die Existenz von Sammlungen bezeugt ist, die ausgewählte Passagen dieser Autoren beinhalten, sic-

he Delatte 1915, 109 ff.; im Besonderen zum Gebrauch der Allegorese durch die Pythagorcer siehe Delatte 1915, 114-136 und Detienne 1962, 61-81.

Ohne cine dirckte Bezichung zwischen der allegorischen Deutung im Theaitetos und dem Apollon-Abschnitt im Kratvylos anzunchmen wie Boyancé, kann man vermuten, dass dic vierte Namensauslegung von Apollon auf dic pythagoreische Theorie der kosmischen Harmonie hinweist, und zwar auf ihre ursprüngliche Form, die das Universum als ein riesiges Musikinstrument, d.h. als cine lyra versteht und auf dieser Basis die „Musik und die Astronomie" (405d1) eng

miteinander. verbindet. Innerhalb dieses interpretativen Paradigmas wird Apollon im Kratylos die Rolle der μέση zugeschrieben, wie der Sonne im Theaitetos,

da beide als Lenker des Universums beschrieben werden. In seinem Artikel zitiert Boyancé einige Abschnitte aus dem 19. Buch der peripatetischen Sammlung, dic unter dem Namen Problemata bekannt ist und in der Fragen der Musikthcorie behandelt werden. Man findet hier einige Elemente, die die Theorie stützen, dass Apollon, der Gott der Musik, der μέσῃ entspricht. Das Problem Nummer 20 wirft die Frage auf, warum die ganze Melodie ver-

stimmt klingt, wenn die μέσῃ verstimmt ist, etwas was bei den anderen Saiten nicht passiert. Dic Lösung wird in der Häufigkeit gesucht, mit der ein guter Mu-

siker diese Saite anschlägt. Als Erklärung wird cin Vergleich mit der grammatikalischen Konjunktion, dem so genannten σύνδεσμος, wic re und καί angestellt. Wenn diese Konjunktionen, die in den Sätzen am häufigsten verwendet werden, ausgelassen würden, dann wäre die Sprache nicht mehr Griechisch: καϑάπερ ἐκ τῶν λόγων ἐνίων ἐξαιρεϑέντων συνδέσμων οὐκ ἔστιν ὁ λόγος

Ἑλληνικός. οἷον τὸ τε καὶ τὸ καὶ. ἕνιοι δὲ οὐθὲν λυποῦσιν διὰ τὸ τοῖς μὲν ἀναγκαῖον

εἶναι χρῆσϑαι

πολλάκις, εἰ ἔσται λόγος.

τοῖς δὲ μή. οὕτω καὶ

τῶν φϑόγγων ἡ μέση ὥσπερ σύνδεσμός ἐστι, καὶ μάλιστα, τῶν καλῶν. διὰ τὸ πλειστάκις ἐνυπάρχειν τὸν φϑόγγον αὐτῆς (Prob. XIX, 20, 9192).

Das Problem 36 bietet cine andere Lósung für das vorhergehende Problem an: Die μέση repräsentiert dic Ursache des Akkords (τὸ αἰτίον τοῦ ἡρμόσϑαι) und der Kohärenz (τὸ αἰτίον τοῦ συνέχοντος) für alle Saiten; denn die Saiten stehen in einer bestimmten Beziehung zur μέση. und ihre Stellung hángt im Tonsystem von ihr ab:

130

Apollon ἢ ὅτι τὸ ἠομόσϑαι ἐστὶν ἁπάσαις τὸ [δὲ] ἔχειν πως πρὸς τὴν μέσην [ἀπάσαις]. καὶ ἡ τάξις ἡ ἑκάστης ἤδη à” ἐκείνην: ἀρϑέντος οὖν τοῦ αἰτίου ἠομόσϑαι καὶ τοῦ συνέχοντος οὐκέτι ὁμοίως φαίνεται ὑπάρχειν (Prob. XIX, 36. 920b).

Beide Texte unterstreichen ausdrücklich die Funktion der μέσῃ als Bindung zw ,.

schen den Tönen; solche Funktion mag sich in Sokrates’ Emphase bei der B.. stimmung des Anfangs-a im Namen von Apollon - es sollte einen kopulativen Wert im Sinne von ὁμοῦ oder ἅμα besitzen - widerspiegeln. Das Wesentliche für die Identifizierung von Apollon mit der μέσῃ ist mit Si.

cherheit die Tatsache, das die mittlere Saite der Lyra als Zeugungsprinzip jede, Tonsystems verstanden wird, das die Verhältnisse (Intervalle) zwischen den Sa. ten unverändert hält, auch wenn das System bei der Ausführung cines Liedes in Bewegung gebracht wird, so wie Apollon rationelle, nämlich mathematisch. und

musikalische

Verhältnisse

unter den

Gegenständen

und den

Phänomen

des Universums festlegt und behält, auch wenn das Weltsystem in Bewegun; ist. Zur Analyse dieser Eigenschaften der μέση in Bezug auf die antike Musikthe. orie siche das Kapitel „The Mese as Arche“ bci Schlesinger 1970, 182-190, b. sonders

184. Zu der μέση als ἀρχή siche noch Aristoteles, Metaph. A, XI,

101 sr

und Problemata XIX, 33, 920a. el. Ὁμοπολῶν Der Name Ἀπόλλων wird in zwei Bestandteile zerlegt: A. πόλλων. Dem Anfangs-a ist am Beispiel von ἀ-κόλουθος und von ἄ-κοιτις die Bedcutung von ὁμοῦ zugeordnet. Das zweite Segment -πόλλων wird von moÀc,.. dem

Partizip Präsens des Verbs πολεῖν (intr. „herumgehen“,

trans. „bewegen“

drehen") abgeleitet, dem ein A hinzugefügt wurde, um den Namen des Gottes (Ἀπόλλων) vom Partizip Futur des Verbs ἀπόλλυμι (ἀπολῶν) zu unterscheiden. da sonst der Gott mit einer schrecklichen Bedeutung ausgestattet werden würde. Siehe zu dieser Namensauslegung, die in der griechischen Kultur sehr weit verbreitet war meinen Kommentar auf S. 113-114. Der Name Apollon (Ἀπόλλεω: ı wird also in der Form Ὁμο-πολῶν („der, der zusammen mit... / ,harmonisch' be-

wegt“) neu interpretiert und so zur Personifikation der ὁμοῦ πόλησις.

Apollon

131

Die Auslegung von Apollons Namen lässt sich graphisch wic folgt darstellen:

Dic herkómmliche Namenserklärung Ἀπόλλων “ὁ ἀπολῶν (< ἀπολλύναι) „Der Zerstörer“

Die vier von Sokrates vorgeschlagenen Erklärungen des Namens von Apollon Die vier δυνάμεις von Apollon ἡ ἰατρική

ἡ μαντική͵

ἡ τοξική

ἡ μουσική

wichtige Unterbegriffe

κάϑαρσις

τὸ ἀληϑές

ἁρμονία

Ἀπόλλων Ι

Ἀπολούων

Ἅπλουν

Ἀειβάλλων

Ὁμοπολῶν

ὁ ἀπολούων τε καὶ ἀπολύων

τὸ ἁπλοῦν

ὁ ἀειβάλλων

ὁ ὁμοπολῶν

„Der Einfache“, „der Schlichte“

„derjenige, derimmer schießt“

„derjenige, der zusammen mit./ harmonisch bewegt“

τῶν τοιούτων κακῶν

„derjenige, der solche Übel [d.h. körperliche und seclische = μίασμα] abwäscht und davon befrcit^

Die Musen, 406a3-6 406 a 3-4 τὰς δὲ Μούσας Unmittelbar auf die Untersuchung von Apollons Namen folgt der Abschnitt über die Musen. Damit wird indirckt auf ihre traditionelle Rolle als Apollons Begleiterinnen hingewiesen. Siehe hierzu die Beschreibung Apollons am Ende des ersten Buches der /lius

(Hom. //. I, 601- 604).

wo cr, begleitet von den Musen, die Lyra spielt. Zu dem auf Apollon bezogenen Epitheton μουσηγέτης siche Orph. Hymn. 34, 6; Pínd. Frg. 12 (82) Schneidewin. Auch Proklos (in Crat. p. 102 Pasquali) weist bei der Auslegung der Namen der Musen im Kratylos auf Apollons Rolle als μουσηγέτης hin. Der Name Μοῦσα; wird zusammen mit scinem Derivat μουσική von Sokrates durch das Verb μῶσϑαι („begehren“, „wünschen“, „suchen“) erklärt, das wiederum durch die

Begriffe ζήτησις und φιλοσοφία erklärt wird. Dank der Namensanalyse werden dic Schutzgóttinen der Künste zum Symbol der philosophischen Forschung. Dic Namenserklärung könnte auch von der dorischen Form dieses Namens (Μῶσαι ı beeinflusst sein. a 5. xai τῆς ζητήσεως Te xai φιλοσοφίας

Das Verb μῶσϑαι, dass laut Sokra-

tes den Namen der Musen erklärt, wird durch den Ausdruck ζήτησίς τε φιλοσοφία definiert. Somit ist in den Namen der Musen auch die Definition

καὶ dci

Philosophie enthalten. Die hier behandelten Themen spicgeln das authentischste platonische Denken wieder. ζήτησις, ein Wort, das als philosophischer Begritt schon vor Platon zu finden ist, kennzeichnet in Platons Werk Sokrates’ intellek tuelles Handeln. Siehe in Parmenides: ὁδοὶ |...] διζήσιος (28B2, 2 DK) und Bo.

3; B7 DK; und in Heraklit: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν (22B101 DK). Das gilt natürlich nur, wenn man voraussetzt, dass δίζημι das jon. Âquivalent für das attische ζητῶ ist. In der Apologie wird mit dem Wort ζήτησις auf Sokrates’ ,, Nach forschungen“ zum Orakel Apollons hingewiesen, die ihn dazu bringen, sein Leben der Philosophie zu widmen. Sokrates behauptet nämlich: xai πολὺν μὲν xoo:o: ἠπόρουν τί ποτε λέγει" ἔπειτα μόγις πάνυ ἐπὶ ζήτησιν αὐτοῦ τοιαύτην cid ἐτραπόμην (Apol. 2167-8), siehe auch Apol. 2305. Im Phaidon weist dieses Wort explizit auf intellektuelle Überlegungen hin: Ti δὲ δὴ πεοὶ αὐτὴν τὴν τᾶς φρονήσεως κτῆσιν: πότερον ἐμπόδιον τὸ σῶμα ἢ οὔ. ἐάν τις αὐτὸ ἐν τῇ Imrmesı κοινωνὸν συμπαραλαμβάνῃ: (Phaed. 6539-b1). Zum Gebrauch von ζήτησις im Phaidon als bewußter Hinweis Platons auf die Sprache des Parmenides siche s. 170. Mit der Einführung des Wortes φιλοσοφία

ralen Punkte des platonischen Denkens.

gelangt man zu einem der zent-

In scinem Werk schlägt Platon eine

neue durch die Analyse des Wortes begründete Auffassung von φιλο-σοφία vot. dic das Wort als Liebe zum Wissen interpretiert, indem die intellektuelle Tätig-

keit als unaufhörliche Forschung verstanden wird. Zu Platons Deutung von φιλοσοφία siche Classen 1959, 148-150. In diesem Zusammenhang sei noch er:

Die Musen

133

wähnt, dass Platon in der Akademie den Muscn einen Altar (ein μουσεῖον) weih-

te; siehe dazu Diog. Lacrt. 4, 1 und 19. Bezüglich der Identifizierung zwischen φιλοσοφία

und μουσική,

die darüber hinaus im Phaidros (259d3-7) vorkommt,

berief sich schon Proklos (in Crat. p. 103 Pasquali) auf den Abschnitt des Phaidon (6123-4), in dem die Philosophie als die μεγίστη μουσική definiert wird. Zur Identifizierung zwischen Musik und Philosophie im platonischen Denken siehe Boyancé 1937; Schefer 1996, 142-145. Bei der Auslegung der Namen der Musen werden diese Gottheiten mit der ζήτησις (der Suche nach der Erkenntnis) und der φιλοσοφία (der Liebe zum Wis-

sen) verbunden, wodurch sie sich als dic Personifikation der intellektuellen Haltung, als cine liebende Suche nach dem Wissen interpretieren lassen. Von dicsem Standpunkt aus kann dic Philosophie, dic als Liebe, Begierde und Schnsucht nach dem

Wissen

betrachtet wird, mit der μουσωκή in ihrem ausschließli-

chen Streben nach dem Schónen identifiziert werden. Hierzu kann man auf die Rede von Diotima (Symp. 210e2-2122a7) über das καλόν als Ziel der philosophischen Suche hinweisen. Es ist also eine ästhetische Grundsatzerklärung, die die Philosophie unter das Patronat der Muscn stellt.

Die Auslegung des Namens Μοῦσαι lässt sich graphisch wie folgt darstellen: Μοῦσαι

μῶσϑαι „begehren“, „wünschen“, „suchen“

Leto, 406a6-b1 406 a 6. Λητώ Die Analyse des Namens von Leto befindet sich zwischen dem Abschnitt über die Musen und dem der Artemis. Dadurch wird die Góttin als Begleiterin Apollons Gefolges in ihrer Rolle als Mutter des Gottes charakterisiert. ἃ 6. ἀπὸ τῆς πρᾳότητος τῆς ϑεοῦ der Theogonie

Hesiods beschrieben

So wie die Göttin in einem Abschnitt von wird, stellt die Erklárung des Namens

der

Göttin im Kratylos Leto als wohlwollende und sanfte Göttin dar, wie es Wehrli („Leto“, RE, 572) erkannt hat: Λητὼ xvavönenAov ἐγείνατο, μείλιχον aiei, ἥπιον ἀνθρώποισι καὶ ἀϑανάτοισι ϑεοῖσι. μείλιχον ἐξ ἀρχῆς. ἀγανώτατον ἐντὸς Ὀλύμπον (Hes. Theog. 406-408).

a 7. κατὰ τὸ ἐϑελήμονα εἶναι ὧν ἄν τις δέηται Auf Grund eines eigentümlichen Charakterzuges der Góttin -- der Sanfimut (πρᾳότης) -- wird die erste Definition von Leto („willig sein zu allem, worum

man sie bittet") gegeben, in dem

das Adjektiv ὀϑελήμων vorkommt, das mit der Form des Namens der Göttin (A4j9w) durch Assonanz verbunden ist. ἐϑεολήμων enthält beide Namensteile der Göttin, auch wenn sie umgekehrt (è$e=Amuwr) vorkommen. a 7-8. oi ξένοι Die Namensauslegung Letos geht von einer Form des Namens der Göttin aus, die Sokrates explizit als nicht-attisch bezeichnet, da er behauptet, dass viele ξένοι die Göttin mit dem Namen An9w benennen. Zur Tatsache, dass man sich im Kratylos oft auf die nicht-attischen Dialekte bezieht, siche

die Anmerkung über die ξενικὰ ὀνόματα im Abschnitt über Hestia auf S. 60. a8. Ληϑώ

Vom Kratylos abgesehen, ist die Form Ληϑώ sonst nicht belegt:

vgl. Wehrli, „Leto“, RE, 572.

Diesbezüglich

ist es aber von

Bedeutung

anzu-

merken, dass die in der Antike verbreitetste Auslegung von Letos Namen den Namen der Göttin durch den Begriff An9n erklärt und die scheinbar von der Form Ληϑώ herrührt; siehe dazu Wehrli, „Leto“, RE, 572. a 9. πρὸς τὸ μὴ τραχὺ ToU ἤϑους ἀλλ᾽ ἥμερόν re xai λεῖον Die Namenscrklärung der Göttin bezieht sich auf eine nicht-attische Form Ay9w, die durch dic Kontraktion des Ausdrucks τὸ λεῖον τοῦ ἤϑους „die Milde (eigentlich „das Glatte“) des / ihres Charakters“ entstanden ist. Die Verschmelzung von Aeiov und ἦϑος hätte die Ursprungsform Aendw ergeben. Auf diese Weise wird Leto als die Göttin „des sanften

Charakters“ gedeutet.

Felix

Buffiere (1956,

290)

und

Leto

135

Jasper Svenbro (1976, 118) führen diese Namensauslegung auf Theagenes von Rhegion zurück und bringen als Beweis den Abschnitt des Kratylos, obwohl Svenbro sich weniger entschieden als Buffiére in seiner Argumentation zeigt. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Kratylos eine gänzlich andere Namenserklä< rung (Λητώ € τὸ λεῖον τοῦ ἤϑους) als die durch Theagenes gegebene (Λητώ λήϑη) vorweist. Darüber hinaus beschäftigt sich unsere einzige Quelle, die das von Theagenes von Rhegion (8A2 DK) entwickelte Identifikationssystem zwischen den Figuren der Gótter und den Elementen der Welt liefert, nicht mit Letos Namen. Letztlich sind alle Belege, die die Namensauslegung Ληϑώ < A79» enthalten, sehr spát datiert. Der Abschnitt des Krarylos kann demnach nicht verwendet werden, um diese Namensauslegung auf Theagenes von Rhegion zu-

rückzuführen. Die Auslegung von Letos Namen lässt sich graphisch wie folgt darstellen: Λητώ Ληϑώ Λεηϑώ τὸ λεῖον ToU ἤϑους „die Milde [eigentlich „das Glatte"] des / ihres Charakters“

Artemis, 406b1-6 406 b 1-2. Ἄρτεμις Mit der Untersuchung des Namens von Apollons Schwester endet die Gruppe (Musen, Leto, Artemis), die im Zusammenhang mit der Figur von Apollon steht. Die drei von Sokrates vorgeschlagenen Auslegungen von Artemis’ Namen geben alle das gleiche Bild der Göttin wieder: Artemis wird als jungfräuliches Mädchen, als eine παρϑένος beschrieben. In dieser Hinsicht gibt der Kratylos das Bild der Góttin so wieder, wie es im Epos vorkommt.

welches, wie Burkert (1977, 234) zu Recht anmerkte, völlig die Figur der Göttin als Πότνια ϑηρῶν ignoriert. Man denke hierzu an die Episode der Odyssee (Hom. Od. VI, 102-109), in der die Jungfrau Nausikaa mit Artemis verglichen wird. Man beachte besonders den Vers 109: ὡς 4j γ᾽ ἀμφιπόλοισι μετέπρεπε παρϑένος ἀδμής. Der Abschnitt, in dem drei Namenserklárungen unmittelbar aufeinander folgen, ohne dass dabei eine bevorzugt wird, erinnert stark an den Passus zum Namen

von

Poseidon

(402d11-403a3).

Auch

im

Fall

dieses

Gottes

wurden

drci

Namenserklärungen ohne jedes Werturteil einander gegenübergestellt. Wie bei Artemis so stellt auch bei Poseidon die zweite Namenserklärung einen änigmatischen Hinweis auf das Problem der Erkenntnis dar, indem der Name von Poscidon von πολλὰ εἰδώς abgeleitet wurde. b 2. τὸ ἀρτομές Zunächst wird im Kratylos der Name der Góttin wegen ihres Wunsches Jungfrau zu bleiben (ἡ τῆς παρϑενίας ἐπιϑυμία) durch das Adjektis ἀρτεμές („nicht geschnitten", „intakt“, „unversehrt“) erklärt. Durch die starkc Assonanz zwischen Ἄρτεμις und ἀρτεμές liegt der Wesenszug der Jungfräulichkeit der Góttin innerhalb ihres Namens. Die Namensauslegung scheint von einer großen Unmittelbarkeit geprägt zu sein. Von einer wissenschaftlichen Sicht bchauptet aber Chantraine (1968, 117), dass die Etymologie im Kratylos (Ἄρτεμις « ἀρτεμές) als eine obscura per obscuriora Erklärung zu erachten ist, da keincrlei Beziehung zwischen den beiden Begriffen besteht. b 2. xai τὸ κόσμιον Das Adjektiv àgreués wird durch den Begriff κόσμιο: definiert und vervollständigt, indem er ihm jenen moralischen Sinn verleiht, den der Zusammenhang verlangt. Der Zusatz ist insofern nötig, weil, wie Wernicke (,Artemis", RE, 1337) anmerkt, ἀρτεμές nie verwendet wird, um „die jungfräuliche Unverletzbarkeit‘ auszudrücken.

b 3. ἴσως δὲ ἀρετῆς ἵστορα Obwohl auch die zweite Namensauslegung aut den ersten Blick dasselbe Bild der Göttin wie die andere vorlegt, weil die Tugend einer παρϑένος die Jungfräulichkeit ist, lässt sie sich auf einen in höherem

Artemis

137

Maße ethisch-philosophischen Ansatz zurückführen, da ihr Name durch den Ausdruck ἀρετῆς ἵστωρ („der Tugend kundig“) erklärt wird. b 4-5 τάχα 8’ ἂν xai ὡς τὸν ἄροτον μισησάσης τὸν ἀνδρὸς ἐν γυναικί Die letzte Auslegung erklärt den Namen durch den Ausdruck τὸν ἄροτον μισήσασα (,dicjenige, die das Pflügen hasst“). Wie zuvor bei Ἄρτεμ-ις < ἀρετῆς ἵστωρ wird auch bei der letzten Auslegung der Name der Göttin in zwei Teile zerlegt: Der erste Teil, 'Agre-, wird durch den Begriff ἄροτος erklärt; der zweite, -μις, durch das Partizip μισήσασα. Die Metapher aus dem Bereich der Landwirtschaft, die den sexuellen Akt mit dem Pflügen des Bodens gleichsetzt, findet sich bereits in einem Passus der 7heogonie Hesiods, in dem das Zusammentreffen zwischen Demeter und lason beschrieben wird: Δημήτηρ μὲν Πλοῦτον ἐγείνατο δῖα ϑεᾶων Ἰασίῳ ἥρωι μιγεῖσ᾽ ἐρατῇ φιλότητι vei Evı τριπόλῳ (Hes. Theog. 969-971). Zu diesem Abschnitt schreibt West (1966, 423): „We are evidently dealing with

the mythical projection of a primitive fertility ritual in which sympathetic magic was allied to practical agricultural measures. [...] The act of ploughing and sowing was felt to be closely analogous to sexual intercourse as their association in Greek metaphor shows“. Siehe dazu noch die athenische Formel παίδων ἐπ᾽ ἀρότῳ γνησίων bei der EheschlieBung; vgl. Menander PK. 435-436. Ein Passus aus dem Hippolytos von Euripides weist die gleiche landwirtschaftliche Metapher vor, wobei sie sogar mit der Figur von Artemis in Bezug gesetzt wird: σοὶ τόνδε πλεκτὸν στέφανον ἐξ ἀκηράτου λειμῶνος. ὦ δέσποινα, κοσμήσας φέρω, ἔνϑ᾽ οὔτε ποιμὴν ἀξιοῖ peoßeıv βοτὰ οὔτ᾽ ἦλϑέ πω σίδηρος, ἀλλ᾽ ἀκήρατον μόλισσα λειμῶν ἠρινὴ διέρχεται (Eurip. Hipp. 73-77).

Das Artemis gewidmete Feld, aus dem Hippolytos die Blumen für ihren Kranz gepflückt hat, ist unversehrt wie die Góttin: Noch nie ist es von einer Herde abgeweidet worden, noch nie wurde es durch ein Werkzeug des Menschen „entweiht". Der σίδηρος in diesem Abschnitt wird häufig als Sichel verstanden, was allerdings die Analogie zum Bild des Pflügens im Kratylos zunichte machen würde. In seinem Kommentar zum Fippolytos behauptet Barrett (1964, 171) hingegen, dass man den σίδηρος (das „Eisen“) als „agricultural implements of all kinds‘ verstehen muss. Dic Unverletzbarkeit also, die dic Analogie zwischen Artemis und dem ihr gewidmeten Feld ermóglicht, scheut jede Art des menschlichen Eingriffs, der seinen

ursprünglichen Zustand verändert. Außer der Viehzucht werden deshalb

alle landwirtschaftlichen Aktivitáten wie das Pflügen verbannt.

138

Artemis

Die Auslegung des Namens von Artemis lásst sich graphisch wie folgt darstellen: Ἄρτεμις Ἄρτεμις

Ἄρτεμ-ις

Ἄρτε-μις

τὸ ἀρτεμός

ἀρετῆς ἵστωρ

τὸν ἄροτον μισήσασα

„nicht geschnitten“, „unverschrt“

„der Tugend kundig“

„diejenige, die das Pflügen hasst“

Dionysos und Aphrodite, 406b7-d2 406 b 7 - d 2. ὁ Διόνυσός Te xai Ἀφροδίτη Der ganze Abschnitt über Dionysos und Aphrodite ist von einer heiteren und vergnügten Stimmung durchzogen. Sokrates weist zuerst auf die Namensauslegungen beider Gótter hin, dic von ernsthafter Natur (σπουδαίως, b2) sind, über die er aber keine weiteren Auskünfte. geben will; er erklärt sich hingegen bereit, den scherzhaften Grund (τὸν παιδικὸν [sc. τρόπον), c2) zu offenbaren, weshalb dic beiden Gôtter ihre Namen tragen, in der Überzeugung, dass auch die Götter das Spiel lieben: sıhonaionoves γὰρ xai οἱ Seoi (406c2-3). Sokrates’ Analyse offenbart in den Namen dieser Gottheiten die beiden Hauptvergnügungen der Menschen: der Wein und dic Licbe. Die Gegenüberstellung zwischen

dem, was

in Bezug auf die Bedeutung der

Wörter als σπουδαῖον und dem, was hingegen als παιδικόν bezeichnet wird, hat auch Folgen in Hinblick auf die Sprachtheoric, dic im Kratylos erarbeitet wird. Bis zu diesem Zeitpunkt nahm Sokrates bei der Analyse der Góttemamen zwei verschiedene Haltungen ein: Einerseits schlug er Namensauslegungen (vgl. die Abschnitte über Hades, Persephone und Apollon) vor, die er anderen Auslegungen, dic als falsch betrachtet wurden gegenüberstellte, andererseits setzte er ver-

schiedene Namenserklärungen (vgl. die Abschnitte über Poseidon, Leto und Artemis) nebeneinander, ohne ihnen ein Werturteil zuzuordnen. Bei Dionysos und

Aphrodite gewinnt er eine neuc Spracheinstellung: Die Wortuntersuchung darf auch verwendet werden, um komische, amüsante Aspekte der Gottheit zu enthüllen. Auf diese Weise wird die Wortanalyse zum παιδιά, an dem sich auch die Gótter erfreuen. Für Sokrates wird die phonische Kette der Sprache zum Ort des

Sprachspicls. Siehe auch den Abschnitt des Phaidros (276d1-63), in dem das Schreiben als eigentümliches Spiel des Philosophen angeschen wird.

c 1. τὸν μὲν οὖν σπουδαῖον Außer der Namenserklärung scherzhafter Natur, die Dionysos als Gott des Weines und des Rausches interpreticrt, spielt Sokrates auf eine andere Auslegung des Götternamens mit emsthaftem Charakter an, dcren Inhalt sich jedoch nicht feststellen lässt. Dazu lässt sich nichts weiter sagen, als dass eine andere Erklärung des Namens von Dionysos bei den Bakchen des kuripides belegt ist, die Διόνυσος als „Sohn des Zeus" deutet, indem der Name in Διός und vermutlich in υἱός / ὑός zerlegt wird. Diesbezüglich siche Burkert 1977. 253. Die Namenserklärung eröffnet Euripides’ Tragödie. Dionysos selbst stellt sich dem Publikum mit den Worten vor: "ix Διὸς παῖς τήνδε Onßaiav χϑόνα Διόνυσος (Eurip. Bacch. 1-2).

Im weiteren Verlauf der Tragödie wird die Auslegung des Namens des Gottes zum impliziten Beweis zugunsten seiner umstrittenen Abstammung von Zeus:

140

Dionysos und Aphrodite ἐπεί μ ᾿ ἀδελφαὶ μητρός. ἅς ἥκιστ᾽ ἐχρῆν. Διόνυσον οὐκ ἔφασκον ἐκφῦναι Διός (Eurip. Bacch. 26-27).

Die Erklärung des Namens von Dionysos durchzicht die gesamte Tragödie. Siehe: ὁ δαίμων ὁ Διὸς παῖς (Eurip. Bacch. 417); Διόνυσος αὐτός μ᾽ εἰσόβησ᾽. ὁ coi Διός (466); ὦ Διὸς παῖ / Διόνυσε (550-551); ὁ Σεμέλας, ὁ Διὸς παῖς (581):

γνώσεται δὲ τὸν Διὸς, / Διόνυσον (859-860). € 3. Διόνυσος

Dionysos wird als „derjenige, der den Wein gibt“ (ὁ διδοὺς τὸ;

οἶνον) dargestellt, weshalb die scherzhafte Form seines Namens Διδοίνυσος postuliert wird. Bei sciner Analyse fährt Sokrates mit der Untersuchung des letzten Teiles des Namens (-οίνυσος < οἶνος) fort und zeigt, welche Wirkung der Wein auf den Menschen hat. Das Wort οἶνος wird als das, was viele Trinkende „glauben lässt, vernünftig zu sein“ (οἶνος = ποιεῖ οἴεσθαι νοῦν ἔχειν) interpretiert, weshalb es die Form οἰόνους cinnehmen soll. Dank dieser in zwei Phasen getcilien Namenserklärung wird Dionysos in seiner traditionellen Figur als Weingott dargestellt, der dem Menschen einc berauschende Exstase, eine μανία zuteil werden

lässt, die cine trügerische Bew

veränderung des Menschen hervorrutt.

Siche dazu die Darstellung der Figur des Dionysos seitens Burkert (1977,

251-

260), der die Gottheit grundlegend als Weingott beschreibt. c 7-d 2. περὶ δὲ Ἀφροδίτης οὐκ ἄξιον Ἡσιόδῳ ἀντιλέγειν, ἀλλὰ συγχωρεῖν ὅτι διὰ τὴν (dx) τοῦ ἀφροῦ γένεσιν Ἀφροδίτη ἐκλήϑη Bei der Analyse des Namens von Aphrodite bezieht sich Sokrates ausdrücklich auf cinen Abschnitt der Theogonie von Hesiod, in dem die Bedeutung des Namens der Góttin durch den Hinweis auf ihre Geburt erklärt wird. In diesem Abschnitt erzählt der Dichter. dass rings der Genitalien von Uranos, die Kronos abgeschnittenen und ins Meer geworfenen hat, ein weiBer Schaum hervorgegangen war, aus dem Aphrodite geboren wurde. Bei der Schilderung dieser mythologischen Episode erklärt Hesiod selbst den Namen der Góttin mit den Worten: τὴν δ᾽ Ἀφροδίτην [ἀφρογενέα τε ϑεὰν καὶ évorépavor Κυϑέρειαν) κικλήσκουσι Jeoi τε καὶ ἀνέρες. οὕνεκ᾽ ἐν ἀφρῷ ϑοέφϑη (Hes. Theog. 195-198). Hierbei handelt es sich um eine der Passagen der griechischen Literatur, in de-

nen der Dichter selbst die Technik der Namensauslegung anwendet, um die Natur einer Gottheit oder nur einen Aspckt von ihr zu erklären. Diesbezüglich siche den Artikel von Bernabé 1992, insbesondere S. 41.

Dionysos und Aphrodite Da Sokrates der Autoritát des

Dichters

141

nicht widersprechen

will, bezicht er

sich auf den Abschnitt der Theogonie mit folgenden Worten: ὅτι διὰ τὴν (Ex) τοῦ ἀφροῦ γένεσιν Ἀφροδίτη ἐκλήϑη.

Bezüglich der Formulierung des Satzes ist es jedoch notwendig zu unterstrcichen, dass hier ein textkritisches Problem vorliegt. Wie Goldschmidt (1940, 127) zu Recht hervorgchoben hat, ist das ἐκ vor τοῦ ἀφροῦ cinc Emendation von

Hermann und taucht bei keinem Zeugen der handschrifilichen Tradition auf. Die Emendation

ist meines Erachtens nicht nótig. Wenn

man den Text ohne die Er-

günzung von ἐκ — ἡ ToU ἀφροῦ γένεσις - lässt, ist cs wesentlich besser möglich, die Pointe zu verstehen, die der Name

der Göttin nach Sokrates’ Aussage

ent-

halten sollte. Ausgehend von der Formulierung dieses Satzes scheint der Name Aphrodites in zwei Teile zerlegt worden zu sein: Aqoo- bezieht sich offensichtlich auf ἀφρός und -dirn entspricht der γένεσις, im Sinne von Erzeugung und geht wahrscheinlich aus dem Verb διδόναι (durch das Partizip Präs. Fem. διδοῦσα) hervor. Siehe dazu cine áhnliche Erklárung bei der Untersuchung von Demeters Namen Δημήτηρ = διδοῦσα ὡς μήτηρ. Auf diese Weise ließe sich der Name der Göttin durch die Formulierung *«) τοῦ ἀφροῦ διδοῦσα (,dicjenige, die Schaum erzeugt") erklären. Wie im Fall von Dionysos, der dic berauschende Wirkung des Weins auf den Menschen darstellt, so würde Aphrodites Name jene Wirkung in sich bergen, die die Góttin auf die Menschen ausübt: Die sexuelle Erregung und der sexuelle Akt, dessen eindeutiges Zeichen der Samenerguss ist. Siehe als Beispiel die von LSJ gegebene

Definition von ἀφροδίαζω: „have sexual intercourse". Die Ablei-

tung von Ἀφροδίτη aus ἀφροδιάζειν findet sich im Papyrus von Derveni (Spalte XXI, 7-10). Eine solche Textsauslegung lässt sich durch einige Verse Hesiods (190-192) stützen, die kurz vor den cben zitierten stehen: ἀμφὶ δὲ λευκὸς / ἀφρὸς ἀπ᾿ ἀϑανάτου χροὸς ὥρνυτο" τῷ δ᾽ ἔνι κούρη / ἐϑρόφϑη. Hier wird die Geburt der Göttin aus dem Schaum

beschrieben, der um Uranos’ Genitalien entstanden ist;

der Schaum des Meers ist natürlich gemeint, der sich aber mit dem „Schaum“ des Samens von Uranos' Genitalien vermischt hat.

142

Dionysos und Aphrodite

Die Auslegung der Namen phisch dargestellt werden:

von Dionysos und Aphrodite kann wie folgt gra-

Διόνυσος Διδοίνυσος /

\

ὁ διδοὺς τὸν οἶνον „derjenige, der den Wein gibt“

οἴεσϑαι νοῦν ἔχειν ποιεῖ „der glauben macht, vernünflig zu sein“

Ἀφροδίτη ἡ τοῦ ἀφροῦ γένησις "m ςτὸν ἀφρὸν διδοῦσα Ἀφρο-δίτη „diejenige, dic Schaum erzeugt"

Athena, Hephaistos und Ares, 406d3-407d4 406 d 3-4. EPM. Ἀλλὰ μὴν οὐδ᾽ ASwvüc Ἀϑηναῖός γ᾽ àv, ὦ Σώκρατες,

ἐπιλήσῃ, οὐδ᾽ Ἡφαίστου Te καὶ Ἄρεως Von Hermogenes angeregt, untersucht Sokrates eine weitere Gruppe, dic aus den Góttern Athena, Hephaistos und Ares besteht. Der Grund, weshalb Hermogenes diese Namen von Sokrates untersuchen lässt, besteht in ihrem besonderen Verháltnis zu Athen: Hermogenes behauptet nämlich, dass Sokrates, der ein Athener ist, geradc Athena nicht verges-

sen darf. Dann werden dic anderen Gótter (Hephaistos und Ares) hinzugefügt. Zum

Verhältnis zwischen dicsen Gotthciten lässt aber wenig sagen. Zum engen

Verhältnis zwischen 19827,

Athena und Hephaistos innerhalb Attika siche Delcourt

193; dazu siche auch die Hymne

an Hephaistos (Hom.

Hymn.

XX,

1-4),

in der Athena und Hephaistos den Menschen die Künste Ichren; in Hesiod (Theog. 570-587) wirken die beiden Gótter zusammen bei der Schöpfung von Pandora. Für das Bild von Ares, der in seiner Funktion als brutaler und gewaltsamer Gott des Krieges Athena gegenübergestellt wird, siche Hom. //. V, 890ff.; XV. 110-142; XX, 48-53; XXI, 391-433. Die Beziehung zwischen den drei Góttern und der Stadt Athen, taucht in der platonischen Ausarbeitung über die Rolle

des Staats auf. In der in den Nomoi beschriebenen Stadt versinnbildlichen diese Gottheiten dic Unterteilung der Bevölkerung in Klassen: Hephaistos und Athena sind mit der Klasse der Handwerker betraut, die für den Unterhalt der Stadt notwendig ist; Ares und Athena hingegen vertrcten die Klassc der Krieger, die für dic Verteidigung und den Schutz der Stadt verantwortlich sind: ‘Ilgaicrov xai Ἀϑηνᾶς ἱερὸν τὸ τῶν δημιουργῶν γένος, ot τὸν βίον ἡμῖν συγκατεσκευάκασιν τέχναις. Ἄρεως δ᾽ αὖ καὶ Ἀϑηνᾶς οἱ τὰ τῶν δημιουργῶν σῴζοντες τέχναισιν ἑτέραις ἀμνντηρίοις ἔργα (Leg. XI, 920d-e). d 10. Παλλάδα Sokrates’ Analyse, dic sich mit beiden Namen der Göttin, Πωλλάς und A9qva, beschäftigt, konzentriert sich auf ein einziges Segment des Mythos der Góttin: ihre Geburt aus dem Haupte des Zeus. Dieser Aspckt ist von Schwabl (1997, 39-40) unterstrichen worden. Athena wird in diesem Abschnitt in ihrer traditionellen Darstellung beschrieben, in der sie bereits bewaffnet tanzend aus dem Haupte von Zeus geboren wird. Der Text bezicht sich insbesondcre auf den rituellen Brauch des bewaffneten Tanzes zu Ehren der Góttin. Dazu siehe: ἡ δὲ αὖ που παρ᾽ ἡμῖν κόρη xai δέσποινα, εὐφρανϑεῖσα τῇ τῆς χορείας παιδιᾷ, κεναῖς χερσὶν οὐκ φήϑη δεῖν ἀϑύρειν. πανοπλίᾳ δὲ παντελεῖ κοσμηϑεῖσα. οὕτω τὴν ὄρχησιν διαπεραίνειν (Leg. VII, 796b6-c2). Zum Verhältnis zwischen dem Passus aus dem Kratylos und dem aus den Nomoi siehe Lecomte 1993, 225-226; zum bewaffneten Tanz zu Ehren der Athena siehe Burkert 1977, 169. Schwabl (1997, 38-39) bezieht die Beschreibung der Athena im Krarylos auf cine verbreitete Art der Darstellung der Góttin in der bildenden Kunst des 5. Jh.

144

Athena, Hephaistos und Ares

(siehe LIMC, II, 1, 985ff., 1021-1023), die die Athena bei ihrer Geburt aus dem Haupte des Zeus in voller Bewaffnung schildert; diesbezüglich zitiert er auch die homerische Hymne an Athena (XXVIII, 4-6).

d 12. ἀπὸ τῆς ἐν Toig ὅπλοις ὀρχήσεως

Das Segment des Mythos, an dem

Sokrates seine Analyse durchführt, ist das Bild der bewaffnet tanzenden Göttin.

Dazu siehe oben. Das Tanzen wird das charakteristische Merkmal der Göttin. ex gibt den Anstoß zur Namensanalyse. ὀρχεῖσϑαι (406a2) wird durch den Rückgriff auf das Verb μετεωρίζειν (406e2) - vom Boden oder mit den Händen sich selbst oder einen anderen Gegenstand erheben - erklärt, das wiederum mit dem Verb πάλλειν / πάλλεσϑθαι („schütteln“, „schwenken“) gleichgesetzt wird. Dank der lautlichen Ähnlichkeit zwischen diesem Verb und dem Namen der Göttin Παλλάς -- kann dic Untersuchung zu Ende gebracht werden. 407 a 8. τοῦτο [sc. τὸ τῆς Ἀϑηνᾶς ὄνομα] ἐμβριϑέστερον,

ὦ φίλε

Nach der

Analyse von Πάλλας untersucht Sokrates den anderen Namen der Göttin (ASnvä), wobei er von Anfang an angibt, dass dieser größere Schwierigkeiten

als der erste bereitet. Die Untergliederung dieses Abschnitts in drei Teile wurde eingehend von Schwabl (1997, 40) analysicrt. Zucrst erinnert Sokrates daran. dass der Großteil der Interpreten von Homer in Athena die bildhafte, mythische Darstellung des νοῦς und der διάνοια sahen. Dann merkt er in Bezug auf diese In. terpretation an, dass auch derjenige, der die Sprache erfunden hat, die gleiche Vorstellung von der Góttin wie die Deuter Homers gchabt haben müssen Schließlich gibt er zwei Erklärungen des Namens ASmvä, dic beide vom Aus.

druck ,,4 Seovoa“ (= ἡ SeoU νόησις / n rà Seia νοῦσα) ausgehen, indem er often. sichtlich auf den Mythos der Geburt der Góttin aus dem Haupte des Zeus anspielt. Ihnen folgt cine andere Namenserklärung, dic sich wesentlich von den ersten beiden unterscheidet.

a 8-9 ἐοίκασι δὴ xai oi παλαιοὶ τὴν AScmvüv νομίζειν ὥσπερ οἱ νῦν περὶ Ὁμήοου δεινοί͵ Aus dem Abschnitt zu Athenas Namen geht mit aller Deutlichkeit hervor, dass dic Struktur der Allegoresc als Model für die Sprachtheorie im

Kratylos dient. Hier kommen die zwei Hauptfiguren vor, auf denen die Allego. rese beruht: der Dichter (ποιητής, 407b1) -- in diesem Fall Homer - und dic allcgorischen Deuter (oi νῦν περὶ Ὁμήρου), die dic Interpretation der Figur der Güttin liefern. Was die Sprachtheorie betriffl, so kommen viele Entsprechunger zum Vorschein: Der Dichter entspricht demjenigen, der die Namen gab: ὁ τὰ ὀνόματα ποιῶν (407b3); siche auch: ὀνοματουργός (38921), νομοϑέτης (388. 4}: die anderen Stellen, in denen im Kratylos der Namensgeber erscheint, werden von Rijlaarsdam (1978, 149) angezeigt. Die Rolle des Deuters bei der Untersuchung der Götternamen wird hingegen von Sokrates selbst übernommen. οἱ vi: περὶ Ὁμήρου δεινοί Was dic Identität der Interpreten Homers angeht, lässt sich

Athena, Hephaistos und Ares

145

anmerken, dass Theagenes von Rhegion in seinem Identifikationssystem Athena mit der φρόνησις gleichgesetzt hat: ὁμοίως 803^ ὅτε xai ταῖς διαϑέσεσι ὀνόματα Sev τιϑέναι, τῇ μὲν φρονήσει τὴν ASmväv (8B2 DK). Siehe dazu Svenbro 1976, 116-118. Dieselbe Identifikation taucht in der von Demokrit (68B2 DK) gelieferten Erklärung des Beiwortes der Göttin Τριτογένεια auf. Zur großen Rolle, die diese Identifikation in der Tradition der allegorischen Interpretation gespielt hat, siche Buffière 1956, 279-289 und Schwabl 1997, 42-50.

b 4-5. ὡσπερεὶ λόγει ὅτι ἃ ϑεονόα ἐστὶν αὕτη Iyse vorgestellt, die den Namen

Zunächst wird eine erste Ana-

der Góttin durch den Ausdruck ,;j ϑεοῦ νόησις"

erklärt. Sokrates bemüht sich in diesem Fall alle Zwischenstufen zu erklären. Der Name der Göttin wird in drei Teile (Ἀ-ϑη-νᾶ) zerlegt, die durch die Kontraktion des Ausdrucks „n ϑεοῦ νόησις" (der Artikel ἡ inbegriffen) entstanden sind. Um den Übergang von ἡ, das sowohl im Artikel als auch innerhalb des Wortes νόησις erscheint, zu a ( ᾿Αϑηνᾶ) zu erklären, weist Sokrates auf den nicht-

attischen Brauch hin, das a anstelle des ἢ zu verwenden, wobei er wahrscheinlich an den dorischen Dialekt denkt. In Bezug auf das Wortende (νοη)-σις, das nicht in der Ursprungsform auftaucht, wird eine cinfache Elision postuliert.

Dadurch verwandelt sich der Ausdruck „9 ϑεοῦ νόη(- σις)" zu à ϑεονόα und durch weitere Kontraktion zu A3qvá. Neben dieser Namensauslegung wird noch eine andere Namenserklärung ohne Präferenzen gegeben, die der ersten aber schr ähnlich ist. Was sich ändert, ist die Bedcutung, die das mittlere Glied des Namens (Ἀ-3η-νᾶ) annimmt. Dies ist nicht mehr als das Denken „des Gottes“ (ἡ 5&oU

νόησις), sondern als das Denken „von göttlichen Dingen" (τὰ Seia) zu ver-

schen, so dass die Göttin als „diejenige, die göttliche Dinge denkt“(ἡ τὰ ϑεῖα .oüra) beschrieben wird. " b 8. οὐδὲν δὲ ἀπέχει καὶ τὴν ἐν τῷ 9j9ei νόησιν Als Alternative zu den Namensauslegungen, bei denen Athena mit der göttlichen Intelligenz gleichgesetzt wird, gibt Sokrates eine letzte Namenserklärung an, die sich sowohl wegen des lautlichen als auch des inhaltlichen Aspekts klar von den vorhergehenden unter-

scheidet. Der Endteil des Namens (A39-va) wird durch das Wort νόησις erklärt, der Anfangsteil hingegen (A3y-vä) wird auf das Wort ἦϑος zurückgeführt, so dass die Form ἸΙϑονόη (b9) aus dem Ausdruck ἡ ἐν τῷ ἦϑει νόησις („der Verstand im eigenen Charakter") entsteht. Die Tatsache, dass dic Góttin als Darstellung ciner bestimmten charakterlichen Veranlagung angeschen wird und dass in der Erklärung ihres Namens das Wort ἦϑος benutzt wird, nähert der Abschnitt über Athena dem der Leto an. Auch in Letos Fall verbarg sich hinter dem Namen der Göttin cine Charaktereigenschaft: Indem der Name der Göttin vom

Ausdruck To λεῖον τοῦ Sous abgeleitet wurde, wurde Leto zur Darstellung der l.icbenswürdigkeit ihres Charakters.

146

Athena, Hephaistos und Ares

€ 1-2. παραγαγών I...) ἐπὶ τὸ κάλλιον Im Laufe der Zeit wurde dic Ursprungsform des Namens der Göttin (Ἠϑονόη « ἦϑος + νόησις) in die Form AS«và umgewandelt, die im attischen Dialekt verwendet wird, um ihn zu verschönern. Der Ausdruck παράγειν ἐπὶ τὸ κάλλιον, welcher die sprachliche Veränderung definiert, erinnert stark an einen Ausdruck aus dem Papyrus von Derveni. Um Orpheus' poetisches Tun zu beschreiben, der sein Gedicht in einer Form vorlegt, die für die meisten nicht richtig verständlich ist, schreibt der allcgorische Deuter: τοῦτο τὸ ἔπος nalça}ywyôv πεπόηται xai τοῖϊς] μὲν πολλοῖς ἄδηλόν ἐστιν. τοῖς δὲ ὀρθῶς γινώσκουσι εὔδηλον ὅτι [...] (Spalte 23. 1-3).

Burkert (1968, 95) übersetzt diesen Satz wie folgt: „Diesem Vers hat Orpheus eine besondere Wendung gegeben, und den meisten ist es unklar, denen aber. die die rechte Erkenntnis haben, ist es vóllig klar, dass [..]". Dabei weist Burkert (95, Anm.

4) auf einen anderen

Beleg von παφάγειν in einem allegori-

schen Kontext (Gorg. 493a6) hin. Das Verb παράγειν. das im Papyrus von Derveni den Akt des poctischen Tuns bezeichnet, beschreibt im Kratylos den Sprachgebrauch, der auf Grund ästhetischer Bedürfnisse die Sprache so verändert, dass sie verschleiert erscheint und deshalb der Analyse unterzogen werden

muss. ὀπὶ τὸ κάλλιον Dies ist cine der vielen Stellen im Kratylos, wo auf die ästhetisierende Neigung bei der Sprachentwicklung hingewiesen wird. Siehe dazu auch Poseidon, Persephone und Hermes. c 3. EPM. Ti δὲ δὴ τὸν Ἥφαιστον, πῇ λέγεις;

Im Abschnitt zum Namen

Hephaistos gibt cs einige unklare Stellen, die das Verständnis erschweren.

Dic

eigentliche Namenserklürung scheint aber in der gewohnten Form abzulaufen: Der Name des Gottes (Ἥφαιστος) wird durch den Ausdruck paeos ἵστωρ (,.des Lichtes kundig“) erklärt. Dadurch wird er als Gott des Lichtes und des Feuer: geschildert, eine Darstellung, die mit der traditionellen Figur des Gottes als Schirmherr der Schmiedekunst in Einklang steht. Bezüglich des metonymischen Gebrauchs seines Namens als Bezeichnung des Feuers findet sich bei Malten („Hephaistos“,

RE,

329)

eine

Liste der Stellen

in der griechischen

Literatur.

Hinsichtlich Hephaistos’ Identifikation mit dem Feuer ist anzumerken, dass sie bereits im Identifikationssystem von Theagenes von Rhegion (842 DK) über die Theomachie der /lias auflaucht. Die positive Interpretation dieser Gottheit im Kratylos wird vom Bild des Hephaistos als Schutzgottheit der handwerklichen Tätigkeiten in den platonischen Dialogen bestätigt. Im Mythos des Protagoras (321c7-d3) über Prometheus repräsentiert Hephaistos zusammen mit Athena die Handwerkskunst

(ἔντεχνος

σοφία),

die

Prometheus

den

Menschen

zusammen

mit dem Feuer geschenkt hat, um ihr Leben zu erleichtern. Im Mythos

des

Kritias

und

(109c4-d2)

über

den

Ursprung

der

Stadt

Athen

wird

Athena

Athena, Hephaistos und Ares

147

Hephaistos das Gebiet Attikas zugeschrieben, weil beide Liebhaber des Wissens und der Künste sind. c 4. γενναῖον Das Wort wird nur in Bezug auf die Menschen, nie auf Gottheiten gebraucht, weil es nicht der Würde eines Gottes entspricht. Dass hier mit diesem Adjektiv Hephaistos bezeichnet wird, ist die erste Auffälligkeit des Abschnitts. c 6. Φαῖστος Das Wort φαῖστος als Adjektiv ist nicht belegt. Im LSJ (1996) findet es sich nicht. Bei Passow ist das Adjektiv φαιστός / φαῖστος mit der Bedeutung „leuchtend“, „hell“ und dem „zw.“ = zweifelhaft belegt. Φαῖστος ist nur als Eigenname

ciner Person oder ciner kretischen Stadt (ἡ φαιστός) zu verste-

hen. Zum Φαῖστος siche Hom. //. V, 43; zur φαιστός siche Hom. //. I1. 488, Od. III. 296. Dem Text zufolge scheint das Wort φαῖστος als Kontraktion des Ausdrucks φάεος ἵστωρ verstanden zu werden. c 6-7. τὸ ra προσελκυσάμενος Sowohl die atypische Darstellung von Hephaistos als γενναῖος, als auch die Einfügung eines ἡ vor φαῖστος lassen Stallbaum cine spielerische Absicht in dieser Namenserklärung vermuten. Stallbaum

(1835, 117) schreibt bezüglich des Satzes von Sokrates 5j τὸν γενναῖον τὸν "eátog jotoga”“: „num generosum illum lucis scientem interrogas, non sordidum officinae praesidem? Qua interrogatione ludibundus simul nominis etymon tangit, siquidem Ἥφαιστον signifi-

cat φάος ct ἵστωρ essc appellatum. Nihilominus autem deinde aliam magis etiam

ridiculam afferens originationem eum ait Φαῖστον sive Lucium dictum esse litera 4 praefixa". c 10. τὸν Ἄρη

Was den Namen von Ares betrifft, werden nacheinander zwei

Namensauslegungen ohne jedwede Bevorzugung und ohne Erlüuterung der verwendeten Vorgehensweise angeführt, die beide auf dem traditionellen Bild der Gottheit als Gott des Krieges (πολεμικὸς Seóc) und als Archetypus des Kriegers beruhen. In Preller-Robert (1964*, 336-337) findet sich folgende Definition des Ares: „So ist auch des Ares Gestalt, seine Ausrüstung, sein ganzes Auftreten das Musterbild eines kriegerischen und von der Furie der Schlacht ergriffenen Helden“. Siehe dazu auch Burkert 1977, 262-264.

d 1. κατὰ TÓ üggev Die erste Namensauslegung verweist auf das Adjektiv ἄρρεν („männlich“), das daraufhin vom Begriff ἀνδρεῖον (,.tapfer“) definiert wird. d 3. ἄρορατον Bei der zweiten Namensauslegung wird der Name des Gottes durch das Adjektiv ἄρρατον (,,etwas, was nicht bricht“, von ἀ-ῥαίω) erklärt.

148

Athena, Hephaistos und Ares

Die Auslegung von Athenas Namen lässt sich graphisch wie folgt darstellen: Παλλάς πάλλειν / πάλλεσϑαι „schütteln“, „schwenken“

Ἀϑηνᾶ Ἀ-ϑη-νᾶ ἡ ϑεοῦ νόησις N

Ἀϑη-νᾶ

ἡ τὰ ϑεῖα νοοῦσα

ἡ ἐν τῷ ἤϑει νόησις

N

ι ι a @ & ϑεο-νόα

LU

|

|

A.99.và „Das Denken

des Gottes"

H3o-vón à

|

A

Sao-vóa,

|



- Sn

- νᾶ

Ἀϑη-νᾶ

diejenige,

der Verstand

die göttliche Dinge

|

im eigenen Charakter“

/das Göttliche

denkt“

Die Auslegung von Hephaistos’ Namen lässt sich graphisch wie folgt darstellen Ἥφαιστος H

+

Φαῖστος

D

φάεος

ἵστωρ

»des Lichtes kundig"

Athena, Hephaistos und Ares

Die Auslegung von Ares' Namen lásst sich graphisch wie folgt darstellen: "A

τὸ ἄρρεν „das Männliche“

τὸ ἄρρατον „etwas, was nicht bricht“

149

Hermes, 407d6-408b6 407 e 1-3. ZN. Ἀλλὰ ποιήσω ταῦτα, ἔτι γε ὃν égóuevóc σε περὶ Ἕρμοῖ. ἐπειδή we καί οὔ φησιν Κρατύλος Ἑρμογένη εἶναι Nach der Auslegung des Namens von Ares äußert Sokrates nachdrücklich den Wunsch, die Untersuchung der Gótternamen zu unterbrechen und sich anderen Themen zu widmen. Nur die Eindringlichkeit, mit der Hermogenes wissen will, warum sein Name nach Kratylos' Meinung nicht zu seiner Persönlichkeit passt, zwingt Sokrates, zur Analyse von Hermes’ Namen überzugchen, der in „Hermogenes“ enthalten ist. Die Suche nach der Bedeutung von Hermogenes' Namen zieht sich wie

ein

roter Faden durch den ganzen Dialog. Er trägt dazu bei, die Texteinheit zu bil. den und das theoretische Streitfeld des Gesprächs zu bestimmen und einzugren. zen. Der Kratylos beginnt mit der Darlegung der gegensätzlichen Positionen von Hermogenes, der für eine Sprache als festgelegte Konvention pládiert, und

Kra-

tylos, der zwischen dem Wort und der bezeichneten Sache cine natürliche und bindende Beziehung sieht. Am Anfang des Gesprüchs (383b6-384a4) steht dic Auslegung von Hermogenes! Namen als Symbol der Unvereinbarkeit beider Sprachthcorien, aber auch als Symbol für ihre geringe theoretische Stichhaltis. keit. Nach Hermogenes soll Kratylos in cinem vorangegangenen Gespräch bchaup-

tet haben, dass Hermogenes nicht scin Name sein könne, auch wenn die gesamt. Menschheit ihn so nennen würde (“Οὔκουν σοί γε." ἦ δ᾽ ὅς, “ὄνομα Ἑρμογόνης. οὐδὲ ἂν πάντες καλῶσιν ἄνϑρωποι", 383b6-7). Nach Kratylos’ Ansicht ist die Übereinkunft, die den Menschen erlaubt, das Wort ,, Hermogenes" als Eigenname zu gebrauchen, weder gültig noch zulässig, wenn der Name nicht mit der Natur der bezeichneten Person übereinstimmt. Als ob Sokrates die Auseinandersetzung über solche Sprachauffassungen besünftigen möchte, die beinah zu einer persönlichen Angelegenheit geworden ist, greift er in das Gespräch ein und erklärt (384c3-6), dass Kratylos sich wahrscheinlich mit dieser AuBerung einen Spaß mit Hermogenes erlaubt habe und auf cine scherzhafle Erklärung des Na-

mens hinweisen wollte: Hermogenes, der kcin Vermógen besitzt und sich ver. gcblich bemüht, welches zu erlangen, kónne kein Nachkomme

von Hermes dem

Gott des erfolgreichen Handels und des Verdienstes sein, wie man aus seinem Namen schließen könnte. Mit diesen Worten spielt Sokrates auf cine Namenserklärung an, die Ἑρμογένης in zwei Teile (Ἑρμῆς und γένος) zerlegt und ihm die Bedeutung

von

,Nachkommenschafi

des

Hermes"

vericiht.

Hermogenes

(384c10-d7) setzt Sokrates’ Vermittlungsversuch scine eigene konventionelle Sprachauffassung entgegen: Alle Namen sind legitim, wenn sie von einer Sprachgemeinschaft anerkannt sind — das ist die einzige Voraussetzung - und dazu führt er als konkrete Bcispiele die Namen der Sklaven an, dic beliebig nach dem Wunsch ihrer Herren gegeben und verändert werden.

Hermes

[5]

Die Anfangsszene eróffnet also die theoretische Auseinandersetzung, indem der Name von „Hermogenes“ als Musterbeispiel verwendet wird. Die drei Gesprüchspartner stellen drei Thesen vor, die in der Diskussion über das Sprachproblem eine Rolle spielen:

Kratylos, der Vertreter der naturalistischen

Position, folgt seiner eigenen

Sprachtheorie bis ins Extrem und riskiert dabei, sic durch die Möglichkeit, dass ein Name - in diesem Fall der Name von Hermogenes - mit dem bezeichneten

Gegenstand in keinem Fall übereinstimmt, selbst zu widerlegen. Hermogenes vertritt klar dic konventionelle Position, aber er kann sie schlecht begründen und vermittelt somit den Eindruck, dem Problem nicht gewachsen zu sein. Sokrates, der die konventionelle Theorie als plausibel zu akzeptieren scheint (vgl. Ἴσως μέντοι τὶ λέγεις, ὦ Ἑρμόγενες" σκεψώμεϑα de, 385a1-2), versucht während des Gesprächs dank einer ersten Namensauslegung (die von Hermoge-

nes" Namen) die kratyleische These zu retten. Solche theorctische Haltung von Sokrates zieht sich durch den ganzen Abschnitt des Dialogs über die Wortunter-

suchungen und sie wird bereits auf diesen ersten Seiten des Kratylos von einer scherzhaften und spielerischen Haltung gegenüber der Sprache begleitet, die Raum für das Wortspiel lásst. Im Abschnitt zu Hermes erscheint die Frage nach der Bedeutung des Namens

von Hermogenes erneut. Diesmal schlágt Sokrates cine andere Erklürung vor, die ihn nun nicht mehr als den Gott des Handels und des Verdienstes, sondern

als den Gott, der „sich das Sprechen ausdachte" ausweist. Auf Grund der unterschiedlichen Deutung des Gottesbildes, das Hermes mit dem λόγος in Verbindung bringt, ist es Hermogenes selbst, der der anfánglichen Behauptung Kratylos über seinen Namen recht gibt: Er gesteht nämlich cin, dass er kein Nachkomme von Hermes (Ἑρμο-γένης) sein kónne, da er kcin guter Redner sei. Damit geschieht der erste paradoxe Bruch zwischen dem Wort und der Sache, der die beiden Sprachtheorien in Frage stellt. Hermogenes, energischer Verfechter der Richtigkeit jedes Sprachbegriffs, erkennt die Identität nicht an, die ihm sein Name verleiht. Mit einer heftigen Bemerkung (τὸ ἐμὲ μὴ εἶναι Ἑρμογόνη, 408b5), akzeptiert er die Móglichkeit einer anderen Wortrichtigkcit, die nicht von der Sprachgemeinschafl, sondern vom semantischen Wert der Worte bestimmt wird. Im selben Augenblick aber entkráftet Hermogenes' Zugeständnis Kratylos' theoretische Position, weil Hermogenes der lebende Beweis dafür ist, dass es einen Zwiespalt zwischen dem Wort - Hermogenes - und dem bezeich-

neten Gegenstand - seine Person — geben kann. Das Problem zu Hermogenes’ Namen kommt noch ein drittes Mal im Kratylos vor und zwar im letzten Teil des Dialogs, wo Sokrates die bereits nachgewiesene Nichtübereinstimmung zwischen Hermogenes und dessen Namen als erstes Argument benutzt, um Kratylos' naturalistische Theorie zu widerlegen. Die Hinweise auf die Namenserklärung von Hermogenes findet man im Crar.

152

Hermes

429b12-c3, aber Sokrates’ Argumentation gcht soweit (Crar. 431a6-7), das. Kratylos das erste Mal eine mógliche Nicht-Ang heit der Worte gegen. über dem bezeichneten Gegenstand zugeben muss. Durch die Suche nach der Bedeutung des Namens von Hermogenes, die thevretisch beiden analysierten Sprachmodellen Schach bietet, ergibt sich eine dritic. weder naturalistische noch konventionclle Position, die durch Sokrates selbs: verkörpert wird, die aber unausgesprochen bleibt und dennoch wie ein Negat abdruck im Text vorhanden

ist. Gaiser (1974, 32) schreibt dazu: „Vielmehr me-

difiziert er (sc. Sokrates] beide Thesen und macht zugleich klar, dass keine allein zur Lósung des Sprachproblems ausreicht. Die Lósung liegt für ihn darin. dass die beiden Bedingungen zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen“. e 5-6. Ἀλλὰ μὴν τοῦτό Ya ἔοικε περὶ λόγον ri εἶναι, ὁ Ἑρμῆς — Dic erste. grundlegende Assoziation, mit der der Abschnitt über Hermes beginnt, verbinde: den Gott mit dem λόγος; dies wird das Thema des ganzen Abschnitts sein, der ir. drei Teile gegliedert ist. Der Erste (407c6-408a2) legt die traditionelle Darstellung des Gottes dar, der zweite (408a3-5) beschäfligt sich mit der Namensauslegung, der dritte und letzte (408a5-b3) inszeniert den Urakt der Namensgebung.

die Szenc nämlich, in der der Namensgeber Hermes, dem Gott, der sich der λόγος ausdachte, den Namen gibt. e 6 - 408 a 2. τὸ γὰρ ὁρμηνέα εἶναι xai τὸ ἄγγελον xai τὸ κλοπικόν Te xai τὸ ἀπατηλὸν ἐν λόγοις καὶ τὸ ἀγοραστικόν, περὶ λόγου δύναμίν ἐστιν πᾶσα αὕτη x πραγματεία Der erste Teil des Abschnitts über Hermes (407e6-408a2) beschreibt den Gott in seiner traditionellen, vom Mythos überlieferten Rolle, dic all seine Aktivitäten eng mit dem λόγος in Verbindung setzt. In Bezug auf seine Funktion als „Götterbote“ wird er zuerst als ἑρμενεύς (,,Übersctzter") dargestellt und gleich danach wird er als ἄγγελλος („Bote“) bezeichnet. Zu dieser Eigenschaft des Gottes siehe Hom. Od. V, 43-54; XXIV, 1-14; zum Ausdruck κῆρι: ϑεῶν siehe Hes. Op. 80; zum κῆρυξ ἀϑανάτων Hes. Theog. 939. In seiner anderen charakteristischen Eigenschaft als betrügcrische Gottheit, die mit der anthropologischen Figur des ,Trickster* in Zusammenhang gebracht wurde, wird οἱ als Dieb (κλοπικός), als Betrüger bei Rechnungen (ἀπατηλὸς ἐν λόγοις) und als Händler (ἀγοραστικός) dargestellt. Zur Darstellung von Hermes als „Trickster siehe Burkert 1977, 244; zum mythischen Diebstahl von Apollons Rindern siche Hym. Hom. IV, 14-17; zum Hermes als Dieb siehe auch Hom. //. V, 385-391. XII, 109; und auch Hes. Op. 67 und 78, wo der Gott Pandora einen diebischen Charakter (ἐπίκλοπον ἦϑος) schenkt. Die beiden ersten Bezeichnungen zeigen die Funktion des λόγος als Καὶ il I; die letzten drei hingegen sctzen die Bedeutung von λόγος im Sinne von „Berechnung“, „Rechnung“ voraus

und stellen ihn als cin Instrument des Betrugs und der Täuschung dar.

περὶ

Hermes

153

λόγου δύναμν Der Ausdruck deutet auf die Rhetorik: die beeinflussende Macht des Logos; vgl. Gorgias 82B11, 14 DK. a 3-5. ὅπερ οὖν xai ἐν Toig πρόσϑεν ἀλόγομεν, TO εἴρειν λόγον χρεία ἐστί, τὸ δέ, οἷον καὶ Ὅμηρος πολλαχοῦ λέγει, ἐμήσατό φησιν, τοῦτο δὲ μηχανήσασϑαί ἐστιν Der zweite Teil des Abschnitts über Hermes legt die eigentliche Auslegung seines Namens durch die Spaltung des Götternamens in zwei Teile ('Egμῆς) vor. Der erste ('Ee-) wird durch das Verb eigerv („sprechen“) erklärt, das sofort als „Gebrauch des λόγος" (xoeía, λόγου, 408a3-4) definiert wird. Der zweite Teil (-μῆς) wird auf die Form ἐμήσατο zurückgeführt, die ausdrücklich der homerischen Sprache zugeschrieben und mit dem Verb μηχανᾶσϑαι erläutert wird. Der Name sollte also als „derjenige, der sich das Sprechen ausdachte“ (,,0 τὸ λέγειν τε καὶ τὸν λόγον μησάμαενος" / „ös τὸ εἴρειν ἐμήσατο") verstanden werden. Die durch die Verbindung der beiden Elemente (sigeıv und ἐμήσατο) entstandene Gründen

Form hat also den Namen Εἰρέμης (b2) crgeben, das aus üsthetischen von den Sprechern zu Ἑρμῆς umgeformt worden ist. Wie so oft im

Kratylos scheint auch in diesem Fall die Anlautsaspiration dem Auslegungsverfahren kein Problem zu bereiten. Siehe noch die Namenserklürung von Hestia, Hades, Hera und Hephaistos und besonders S. 61. Wie Buffière (1956, 290) bemerkt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass Platon auf dic älteste allegorische Tradition zurückgreift, wenn er den Namen von Hermes mit dem λόγος assoziiert. Diesc Deutung ist seit der allegorischen Auslegung

der

Theomachie

im

20.

und

21.

Buch

der //ias

von

Theagenes

von

Rhegion (8B2 DK) belegt. Die Hinweise darüber beschránken sich darauf, den Gott mit dem λόγος gleichzusetzen und sagen nichts zum Kontext, also zur Gesamtbedeutung dieser Identifizierung; es ist also nicht möglich festzustellen, welche Beziehung zwischen dieser allegorischen Auslegung und dem betreffenden Abschnitt im Kratylos genau besteht. Es sei aber an dieser Stelle betont, dass Platon Hermes nicht mit dem λόγος gleichsetzt, sondern ihn zum „Erfinder des λόγος" macht. ὅπερ οὖν xai ἐν Toig πρόσϑεν ἐλόγομεν Sokrates bezieht sich damit auf 398d7-8. ἐμήσατο Dem Ausdruck ἐμήσατο wird im Text eine spezielle Konnotation zugeteilt, da Sokrates ihn explizit mit der homerischen Sprache in Verbindung bringt. Das Verb μήδομαι nimmt bei Homer die Bedeutung von „raten“, „anralen“ an; vgl. Hom. //. Il, 260; Od. V, 189. Die Form ἐμήσατο hingegen drückt bei ihm immer das Ersinnen eines niedertrüchtigen Plans aus, der zu einem grásslichen Verbrechen führt. Dreimal erscheint diese Form in Bezug auf den gewaltsamen Tod Agamemnons. In der Erzählung von Nestor im 3. Buch der //ias steht sie zweimal für die Handlungen Aigisthos, der Agamemnon durch einen Betrug umbringt (ὥς τ᾽ Αἴγισϑος ἐμήσατο λυγρὸν ὄλεϑοον, Hom. Od. III, 194; τόφρα δὲ ταῦτ᾽ Αἴγισϑος ἐμήσατο οἴκοϑι λυγρά, Hom. Od. Ill, 303); in der Episode, in der Agamemnon dem in den Hades herabgesticgenen Odysseus von seinem Tod erzählt, bezeichnet ἐμήσατο den von

154

Hermes

Klytaimestra geplanten Tótungsakt (οἷον δὴ καί κείνη ἐμήσατο ἔργον àsixi. Hom. Od. XI, 429). Ein anderes Mal beschreibt der Ausdruck die Tat von Antiphantes, dem König der Laistrygonen, der einen Gefährten des Odysseus isst (ὃς δὴ τοῖσιν ἐμήσατο λυγρὸν ὅλεϑρον, Hom. Od. X, 115). Schließlich steht er für Melanthios’ Vorgehen, der gegen seinen Herrn ein Komplott schmicdet und heimlich Waffen zu den Freiern bringt (ἵν᾽ ὑπερβασίας ἀποτίσῃ / πολλά.-. ὅσσας οὗτος ἐμήσατο σῷ ἐνὶ οἴκῳ, Hom. Od. XXII, 167-168). | Im Kratylos wird die Form ἐμήσατο durch die Bedeutung des Verb. μηχανᾶσθαι erklärt. Dieses Wort hat seinen Hintergrund in den Geschichten von Erfindem. Das Verb bezeichnet das Schaffen durch jegliche Kunst oder εἰς. schicklichkeit. Diese Bedeutung ist selbst im Homer bezeugt: Hom. 7. VI. 177. μηχανᾶσθαι kann aber auch eine negative Färbung und dadurch dic Bedeu-

tung von „Ränke schmieden“ übernehmen; siehe Hom. Od. III, 207; XVII, 49. XXII, 432. Hermes’ Name weist auf die Erfindung der Sprache, der Sprachkunst hin. cıne Erfindung, die immer ein Element von Ränke, Betrug und Lüge in sich biret

Eine deartige Auslegung wird auch dadurch bestätigt, dass der Gott Pan, dessen Name gleich danach untersucht wird und der als Hermes” Sohn dargestellt wird,

den λόγος vertritt, der einen doppelten Charakter besitzt: Er kann wahr und götlich sein, oder Lüge und Betrug ausdrücken. Die Beziehung zwischen

Hermes

und Pan, Vater und Sohn (Vater des λόγος

und λόγος selbst) unterstützt eine Textauslegung von kulturhistorischem Chara, . ter, die Hermes als Erfinder der Sprachkunst erklärt. Die Beziehung beide: Gottheiten regt uns aber gleichzeitig dazu an, cine andere Dimension des Textes zu untersuchen, die sich, wie ofl im Krarylos, als wesentlich

ständnis erweist. Der Name

für das Text οἱ.

Pans wird im folgenden Abschnitt als πᾶν

(dı.

„All“, das Universum") ausgelegt und verkörpert das Prinzip - den λόγος ... de

das Universum bewohnt. Angesichts der eigentümlichen Bedeutung von p; und dem Verhältnis Vater-Sohn (Hermes-Pan) ist es angebracht, sich zu fragen. ob schon bei der Auslegung des Namens von Hermes cinc allegorische Lesa:: erlaubt ist, die die Bedeutung des Gótternamens - „derjenige, der sich dic Spra-

che ausdachte“ - in eine Beschreibung einer Phase der Weltentwicklung, d.h von der Entstehung eines kosmischen Prinzips umwandelt. Auch in diesem Fall kann der Papyrus von Derveni dabei helfen, diese |». mension des Textes ans Licht zu bringen. In Spalte 23 wird ein orphischer Vi. kommentiert, in dem das Verb ἐμήσατο vorkam, um die Geburt von Okcanos .. bezeichnen; in diesem Fall wird ἐμήσατο vom allegorischen Deuter als Schónfungsakt einer kosmischen Macht, die Okeanos schafft, gedeutet. Die Spaltc lau tet folgendermaßen:

Hermes

155

τοῦτο τὸ ἕπος παϊρα]γωγὸν πεπόηται xai Tolic] μὲν πολλοῖς ἄδηλόν ἐστιν. τοῖς δὲ ὀρϑῶς γινώσκουσι

εὔδηλον ὅτι “Ὥκεανός" ἐστιν ὁ ἀήρ. ἀὴρ δὲ Ζεύς.

οὔκουν “ἐμήσατο" τὸν Ζᾶνα ἕτερος Ζεὺς, ἀλλ᾽ αὐτὸς αὑτῶι “σϑένος μέγα". οἱ δ᾽ οὐ γινώσκοντες τὸν Ὠκεανὸν ποταμὸν δοκοῦσιν εἶναι ὅτι “εὐρὺ ῥέοντα" προσέϑηκεν (Spalte 23, 1-7).

Der orphische Vers wiedergegeben. Es schen Form μήσατο das Epitheton ἐνοὺ

wird in dieser Spalte des Papyrus von Derveni nicht ganz ist anzunehmen, dass das Verb ἐμήσατο (4) in seiner poetivorkam und es als Objekt Ὠκεανός (3) hatte, ergänzt durch ῥέων (6). Möglicherweise kam auch der Ausdruck σϑένος

μέγα vor. Martin West (1983, 115) rekonstruiert den Vers (36) folgendermaßen:

μήσατο δ᾽ Ὠκεανοῖο μέγα σϑένος εὐρὺ ῥέοντος. Zum Gebrauch des Begriffs unearo

im orphischen Gedicht nach der Rekon-

struktion von West siehe auch Vers 35, 38, 43.

Dieser Vers fügt sich in einen Teil des orphischen Gedichts ein, in dem eine Reihe von Gottheiten (Aphrodite, Peitho, Harmonia) vorkommen, die Zeus ge-

biert und die eine kosmische Aufgabe übernehmen. Wie bei einer wirklichen Kosmogonie entstehen schließlich Okcanos, die Flüsse, die Sonne, der Mond und

die

Sterne.

Zum

Versuch,

den

Inhalt des orphischen

Gedichts zu rekon-

struieren siehe West 1983, 84-94; Laks 1997, 122-123; Most 1997, 118-119. In Wests Rekonstruktion wird die Geburt dieser Gottheiten immer mit dem Verb μήσατο angezeigt. In dieser Phase der kosmogonischen Schilderung wird Zeus zuerst mit Metis (Spalte

15, 6-13; siehe den Kommentar von West

1983, 87) und dann mit Moira

(Spalte 18-19; siehe den Kommentar von West 1983, 90) in seiner Funktion als lenkendes Prinzip des Universums assoziiert.

Der allegorische Deuter identifiziert Zeus mit dem ἀήρ oder dem νοῦς, also dem rationalen Prinzip, das das Leben des Universums steuert, und deutet den Ausdruck ἐμήσατο als kosmogonischen Akt einer rationalen und ordnenden Kraft, die Okeanos erschafft. Zur Technik des allegorischen Deuters des Papyrus von Derveni, die Figuren des orphischen Gedichts zu überlappen, um ein einziges rationales Prinzip herauszuarbeiten, siche Burkert 1970, 445-447; zum philosophischen System des allegorischen Deuters des Papyrus von Derveni und scinen Beziehungen zu Anaxagoras und Diogenes von Apollonia siehe Burkert 1968, 98-99 und Laks 1997, 129-131. Walter Burkert hat den im orphischen Gedicht erscheinenden Begriff épsjcaro mit dem Frg. 13 (DK) von Parmenides in Zusammenhang gebracht: πρώτιστον μὲν Ἔρωτα ϑεῶν μητίσατο πάντων.

Mit μητίσατο beschreibt Parmenides die Erschaffung von Eros - eine kosmogonische Kraft -, durch einen rationellen Akt.

156

Hermes

Durch die Auslegung seines Namens wird Hermes im Kratylos also als Ertinder der Sprache dargestellt; cr vertritt den Archetyp des Namengebers. Die Figur des Gottes lässt sich als Beschreibung der Erschaffung eines kosmischen λόη ος verstehen, besonders, wenn man sich das Verhältnis zwischen der Gottheit uni seinem Sohn Pan vor Augen hält, denn Pan übernimmt später eine kosmische Funktion. a 7 ὡσπερεὶ ἐπιτάττει ἡμῖν ὁ νομοϑότης Darin besteht der letzte Teil des Abschnitts (408a7-b3), der von cher dramatischem Charakter geprágt ist. Paradoxerweise wird hier die Szene beschrieben, in der der Namengeber - der No. mothctes - jenem Gott den Namen gibt, der die Erschöpfung der Sprache personifiziert. Sokrates beschwórt den Moment, in dem der Namengeber den Menschen dic Anweisung

gibt, die Gottheit als „Os τὸ εἴρειν ἐμήσατο" (, ‚derjenige.

der sich das Sprechen ausdachte“) zu bezeichnen. In einem ironischen Spiel der Widerspiegelung gibt der Namengeber dem Gott den Namen, der seinen mythischen Archetyp darstellt. b 2-3. νῦν δὲ ἡμεῖς, ὡς οἰόμεϑα, καλλωπίζοντες τὸ ὄνομα Ἑρμῆν καλοῦμε: Hier wird wie bei Poseidon, Persephonc und Athena behauptet, dass ästhetische Motive zur Basis der Sprachentwicklung gehören. Dic Auslegung von Hermes’ Namen lässt sich graphisch wie folgt darstellen:

Εἰρέ-

μης \

ὃς τὸ εἴρειν

ἐμήσατο

„derjenige, der sich das Sprechen ausdachte“

Pan, 408b7-d5 408 b 7-8. Kai τό γε τὸν Πᾶνα ToU '"EguoU εἶναι ὑὸν διφυῆ ἔχει τὸ εἰκός, ὦ ἑταῖρε Der Abschnitt über Pan, der sich am Ende der langen Untersuchung der Gótternamen befindet, ist wegen der behandelten Themen und einiger Erzählelemente eng mit dem vorausgchenden Abschnitt zu Hermes’ Namen verbunden. Beide Abschnitte drehen sich um den Begriff λόγος: Hermes personifiziert

den Schöpfungsakt der Sprache; Pan hingegen stellt dank der Namensauslegung Ilav < πᾶν die Wirkung des λόγος in der Welt dar. Hinsichtlich der Beziehung der beiden Figuren in ihrer jeweiligen Funktion als Vater und Erfinder des λόγος (Hermes) und als λόγος in seiner lebendigen Tätigkeit (Pan) wird im Kratylos die gencalogische

Struktur berücksichtigt,

die die beiden

Gottheiten

mytholo-

gisch mitcinander verbindet. Dieses gencalogische Verhältnis (Vater-Sohn) ist der Interpretationsschlüssel des gesamten Abschnitts. Der Grund, weshalb Sokrates die Untersuchung von Pans Namen vornimmt, ist die Legitimität der ver-

wandtschaftlichen Bezichung zwischen beiden Göttern. Die Untersuchung des Namens von Hermes schloss damit ab, dass Hermogenes zugab, kein Nachkomme

von Hermes sein zu können, wie sein Name (Ἑρμῆς

+ γένος) vermuten

ließe, da er kaum rhetorische Fähigkeiten besäße. Jetzt, bei der Vorstellung Pans als Personifizierung des λόγος. stellt Sokrates cinen Sohn von Hermes dar, der im Gegensatz zu Hermogenes ein chelicher Nachkomme ist. Wenn Hennogenes kein Nachkomme von Hermes ist, da er nicht „geschickt im Reden“ (οὐ

εὐμήχανος λόγον, 408b5) ist, so ist Pan hingegen sein legitimer Sohn, da er in sich jene μηχανή trägt (siche die Definition des λόγος als ψευδής (408c3) und noch 408c6-9), die schon den Vater charakterisierte und dic im Hinblick auf die Sprachtheorie die Nichtübereinstimmung von Hermogencs’ Namen mit seiner

Person verursacht.

τό γε τὸν Πᾶνα ToU Ἑρμοῦ εἶναι ὑόν

des Vater-Sohn-Verháltnisses,

Zum Verständnis

das die Grundstruktur des Abschnitts bestimmt,

ist es nochmals nützlich, den Papyrus von Derveni hinzuzuzichen, denn er bringt die allegorische Dimension des Textes ans Licht. In Spalte 14 wird von Kronos' Geburt und von der Entmachtung scines Vaters Uranos berichtet: τοῦτο οὖν τὸν Κρόνον γενέσϑαι φησὶν ἐκ τοῦ

Ἡλίου τῆι Ui, ὅτι αἰτίαν ἔσχε

διὰ τὸν ἥλιον κρούεσϑαι πρὸς ἄλληλα.

διὰ τοῦτο λέγει “ὃς μέγ᾽ ἔρεξεν". τὸ δ᾽ ἐπὶ τούτωι" "Οὐρανὸς Ebpeovièns. ὃς πρώτιστος βασίλευσεν". κρούοντα τὸν Νοῦν πρός ἄλληλία] Κρόνον ὀνομάσας μέγα ῥέξαι φησὶ τὸν Οὐρανόν (Spalte 14, 2-8).

Die Episode, die im orphischen Gedicht mit aller Wahrschcinlichkcit als die Fnunannung des Vaters durch den Sohn beschrieben wurde, wird vom allegorischen Deuter des Papyrus von Derveni in eine Erzühlung über die Erschaffung

158

Pan

des Universums umgewandelt. Der Deuter identifiziert Uranos mit der Sonne und Kronos wegen der Auslegung seines Namens (Κρόνος < κρούειν) mit dem Zusammenstoßen der Partikel, aus denen sich die Welt zusammensetzt. In den Zeilen 3-4 wird die Beziehung zwischen Vater und Sohn als ein Verhältnis zw. schen Ursache und Wirkung interpretiert: Die Sonne (Uranos) verursacht durch ihre Hitze das ZusammenstoBen der Partikel (Kronos). Laut dem allegorischen Deuter wird dieses Phänomen vom Dichter dadurch ausgedrückt, dass Kronvs dem Uranos nachfolgt. Nach diesem Schema wird auch der Ausdruck ὃς μέ: ἔρεξεν" im Gedicht erklärt. Nach Meinung des allegorischen Deuters ist diese Formulierung keine Anspielung auf einen Gewaltakt von Kronos gegen Urano... sondern eine auf die Bewegung und das Zusammenstoßen, das das Elemen: „Kronos“ zu Gunsten

seines Vaters vollzieht. Eine ähnliche Beziehung

verbin-

det im Kratylos die Figuren Pan und Hermes. Durch seine Analyse erkennt So. rates im Namen des Hermes die Entstehung und die Schöpfung des λόγος un im Namen des Pans seine Wirkung in der Welt. Wie im Papyrus von Der en die Figur des Kronos, so stellt Pan im Kratylos die konkrete Verwirklichung dei Potentialität des Vaters dar.

€ 2-3. ὁ λόγος τὸ πᾶν σημαίνει καὶ κυκλεῖ xai πολεοῖ ἀεί, xal ἔστι διπλοῦς. ἀληϑής τὸ xai ψουδής Dieser Satz wird durch einen kunstvollen Aufbau, 4. mit der Zweideutigkeit einiger Worte und mit der Überlagerung verschieden. Bilder spielt, konstruiert. Wie häufig in den platonischen Schriften, so gew inn; man auch hier den Eindruck, dass das Thema des Abschnitts seine Ausdrucks form bestimmt, so dass die zwei Gesichter Pans, der sowohl für eine wahrheit.. getreue Ausdrucksform als auch für cine lügnerische steht, in der Doppeldeuti E. keit der Begriffe, in einer reichen und zweideutigen Sprache wieder zu findeist. Wie Boyancé (1941, 150) erkannt hat, wird der λόγος in diesem Fall ni.1nur einfach als die Sprache der Menschen verstanden, die „dans notre bouche. tourne et retourne ‚toutes choses““, sondern er besitzt auch hier eine kosmisch. Dimension. Boyancé (1941, 150, Anm. I) betont, dass die Begriffe τὸ πὰ: κυκλεῖ und πολεῖ auch als wissenschaflliche und kosmologische Ausdrücke « v standen werden können. Der λόγος ist das, was allem (τὸ πᾶν), d.h. den Dinger: über die man spricht, und so auch dem Universum, einen Sinn gibt und umkreis und immer herumläuft. Dieses Bild bereitet das Folgende (408c5-9) vor. D Logos

hat keinen

festen Sitz, er ist einmal

hier, einmal dort. So ist auch

seit

Charakter einmal wahr einmal falsch. In der ersten Eigenschaft ist er oben“. ^. den Göttern, in der letzteren „unten“, bei den Menschen. Das ist also der genau,

Sinn von κυκλεῖ, das intransitiv wie πολεῖ ist: Er kreist zwischen Oben und U: ten. Die Polysemie der Sprache ermöglicht es Sokrates, zwei völlig verschieden. Kontexte zusammenzufügen und unauflöslich miteinander zu verbinden ja: Leben des Universums und die Kommunikation zwischen den Menschen .. i: dem er ihnen ein einziges Gesetz, den λόγος zugrunde legt.

Pan

159

Die gleiche Gegenüberstellung, die mit den Gegensätzen darüber/darunter, göttlich/menschlich (κατὰ ϑεοὺς xai κατ᾽ ἀνϑρώπους, 405d4-5) spielt, erscheint auch in dem Abschnitt über Apollon als Gott der Musik. Die von den Gättern bewohnte Region wurde in jenem Fall mit dem Himmelsgewólbe gleichgesetzt,

das dem künstlerischen und musikalischen Ausdruck der Menschen gegenübergestellt wurde. Was jedoch bei Apollon ein durchaus rationales Element mit musikalischem und mathematischem Charakter war, das in die Welt ein Prinzip der

sicheren Erkenntnis einführte, zeigt hier zwei Seiten, eine wahre und eine falsche (ἀληϑές, ψευδές), etwas, was die Möglichkeit des Irrtums und der Lüge impliziert.

c 5-9. οὐκοῦν τὸ μὲν ἀληϑὸς αὐτοῦ λεῖον xai ϑεῖον xai ἄνω οἰκοῦν ἐν τοῖς ϑεοῖς,

τὸ

δὲ

ψεῦδος

κάτω

ἐν τοῖς πολλοῖς

τῶν

ἀνθρώπων

καὶ τραχὺ

καὶ

τραγικόν ἐνταῦϑα γὰρ πλεῖστοι οἱ μῦϑοί Te καὶ τὰ ψούδη ἐστίν, περὶ τὸν

τραγικὸν βίον Diesen Teil des Abschnitts über Pan könnte man als die „Theorie über den λόγος" bezeichnen. Die Beschreibung der zwei Seiten des λόγος wird auf dem Gegensatz wahr und falsch aufgebaut, zu dem sich andere Gegensatzpaarc (glatVrau, góttlich/menschlich, hoch/tief) gesellen. Der λόγος offenbart sich also durch zwei Modalitäten, nämlich durch die Wahrheit und die Lüge, die beide einen Teil der Wirklichkeit abdecken: Der „wahre“ λόγος wohnt in den oberen Regionen, in denen sich die Götter aufhalten, der „falsche“ und lügnerische λόγος hingegen in den darunter liegenden Gebieten, er wohnt unter den Menschen, in den verschiedenen kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen. Das Element, das Pans Umwandlung in die Personifizierung der zweigeteilten Struktur des λόγος erlaubt, ist das Adjektiv τραγικόν. Dieses Adjektiv wird Pan zugeschrieben, weil der Gott ein „tragisches“ (τραγοειδής, d2) Aussehen hat, da sein Körper dem Bock (τράγος) ähnliche Züge - die Bocksfüße — besitzt. Das Adjektiv kann aber auch auf den λόγος zurückgeführt werden, weil der λόγος unter den Menschen tragôdienhafie Züge besitzt. Es ist offensichtlich, dass im Text implizit auf eine Auslegung des Wortes τραγῳδία hingewiesen wird, bei der das Wort in zwei Teile (τράγος und δή) zerlegt wird und die Bedeutung von „der Gesang des Bocks“ übernimmt. In diesem Sinn kann der Text behaupten: So wie der Unterleib des Gottes Pan „tragisch“ ist, so ist auch der Aéyog unter den Menschen, der Formen des Bockgesangs (d.h. der Tragödie) aufweist, tragisch. Eine „tragische Lebensweise" (τραγικὸς βίος, c9) ist also das Leben der Menschen, da es vom Wahren entfernt ist und von betrügerischen Erzählungen und Lügen beherrscht wird. In Bezug auf die Sprachtheorie des Krarylos übernimmt der Gott Pan eine wesentliche Rolle, da er den Menschen einen λόγος verkündet, der jedoch nicht die dem Wahren getreue Übereinstimmung zwischen Wort und Sache zusichern kann. „Tragisch“ heißt hier also „nicht referentiell". Ein vergleichbarer theoretischer Ansatz bezüglich des Begriffs „tragisch“, der auf der gleichen Gegenüber-

160

Pan

stellung zwischen

teia von ἄρα τῆς

Wahr und Falsch beruht, befindet sich im X. Buch der Po/i-

an der Stelle, wo die Dichter aus „tragisch“ als “von der Wahrheit ἔσται xai ὁ τραγῳδοποιός, εἴπερ ἀληϑείας πεφυκώς, καὶ πάντες οἱ

der Stadt verbannt werden. Zur Bedeutung entfernt" siehe Politeia X, 597e6-8: ταῦτ΄ μιμητής ἐστι, τρίτος τις ἀπὸ βασιλόως xai ἄλλοι μιμηταί.

c 11-di. Ὀρϑῶς ἄρ «ἂν» ὁ πᾶν μηνύων καὶ ἀεὶ πολῶν Πὰν αἰπόλος Die Namensauslegung von Pan (Πάν « πᾶν) wird durch das Epitheton αἰπόλο(.Ziegenhirt") gestützt und erklärt, indem der Ausdruck „Il&v αἰπόλος" als ὁ πᾶ: μηνύων xai ἀεὶ πολῶν zu verstehen ist. Auf diese Weise wird der Name Ila: durch Assonanz an das Adjektiv πᾶν („alles“; τὸ πᾶν = das Universum) angefügt und αἰπόλος als Kompositum aus ἀεί und dem Partizip Präsens des Verb. ToÀeiv (ὁ πολῶν, „derjenige, der herumgeht"*) angesehen. Wie in den anderen Auslegungen der Götternamen findet die Analyse von Pans Namen eine unmittelbare und einleuchtende Erklärung, wenn man die graphische Dimension der Sprache beachtet. Siehe dazu die Abschnitte über Poseidon und Hera. Unte: phonetischem Gesichtspunkt unterscheiden sich der Góttemame Πάν und das Adjektiv πᾶν nur durch ihre Akzentuierung und die Länge des Vokals a. Wenn man beide Begriffe in der Majuskelschrift betrachtet, fallen keinerlei Unterschiede mehr auf; diese Schreibweise eliminiert die Unterscheidung kmale Beide werden mit dem Zeichen ΠΑΝ dargestellt. Der älteste Text, dessen Datierung wahrscheinlich vor dem Kratylos anzusetzen ist, und der die Namensauslegung Πάν « πᾶν darlegt, ist die homerische Hymne an Pan. In ihrer Ausgabe der homerischen Hymnen ráumen Allen. Holliday und Sikes (1980?, 402-403)

zwar cin, dass die Hymne

nicht

mit

Si-

cherheit datiert werden kann, vermuten aber, dass sie im 5. Jh. entstanden ist. Siehe noch dazu Cässola 1975, 364. Am Ende der Hymne kann man lesen: Πᾶνα δέ μιν καλέεσκον ὅτι φρένα πᾶσιν ὅτερψε (Hom.

Hymn. XIX, 47).

Die Hymne präsentiert die gleiche Namensauslegung (Πᾶνα « πᾶσιν) und dic gleiche Situation (Pans Benennung) wie der Kratylos, nur die Begründung ist eine andere: Die Götter geben Hermes’ Sohn den Namen Pan, weil er den Geist aller Anwesenden erfreut hat. Siehe auch dic Verse 45-46: πάντες δ᾽ ἄρα ϑυμὸ: ἔτερφϑεν / ἀϑάνατοι. Es gibt aber noch einige Elemente, die sowohl im Kranlos, als auch in der homerischen Hymne vorkommen. In der Hymne wird Pan von Anfang an als Sohn des Hermes (siehe Vers 1: 'Egueíao φίλον γόνον) und als Hirtengott (siche Vers 5: νόμιον Jeöv) vorgestellt; außerdem wird der Gott bci seinem ununterbrochenen Umherwandern

in den Bergen und entlang der Bäche

beschrieben; es ist ein ständiges Umherirren an allen von ihm geliebten Orten. siche dazu die Verse: 3; 8-14; 20-21; 22. Hinsichtlich Pans gencalogischer Herkunft, seiner Charakterisierung als Gott der Hirten und nicht zuletzt wegen de:

Bedeutung seines Namens enthält die homerische Hymne - eine der wenigen Iı-

Pun

161

terarischen Überlieferungen, die diese Gottheit betreffen — alle Elemente des Mythos, die auch im Xratylos genannt werden. Die Hymne weist hingegen keine Spur auf, die Pan zu einer Gottheit kosmischen Charakters macht. Bezüglich der

Figur des Pans als eine Gottheit mit kosmischem Charakter, siche den Artikel von Roscher (1893) „Pan als Allgott“; Roscher sieht in dem Transformationsprozess des Gottes, von einem Hirtengott hin zu einer kosmischen Gottheit, das Eindringen von Elementen der ägyptischen Religion in Griechenland; schon im 8./7. Jh. wurde Pan mit dem ägyptischen Gott Chnum-Mendes identifiziert. Herbig (1949, 63-69) widmet

seiner Monographie

über Pan cin ganzes Kapitel

darüber und gibt an, dass man die Figur des kosmischen Pan schon im 5. Jh. finden könne. Brommer (,,Pan", RE, 1005-1006) hingegen glaubt, dass sie eine sehr späte Schópfung sei, die man in die neronische Zeit einordnen kónne. Zu bemerken

ist, dass weder

Herbig

noch

Brommer

den Kratylos-Abschnitt

über

Pan als die erste Überlieferung des kosmischen Pans in ihre Überlegungen cinbeziehen. Ein anderer Text, der nicht nur die Auslegung Πάν « πᾶν enthält, sondem Pan auch als Besitzer der universellen Harmonie vorstellt, ist die dieser Gottheit gewidmete orphische Hymne, die aber zeitlich in dic späte Kaiserzeit einzuordnen ist und die deshalb für unsere Untersuchung in keiner Weise nütz-

lich sein kann. Siehe Orph. Hymn. XI, 1, 6, 11. Für weitere Hinweisc zu Πάν < πᾶν siche Pease 1968?, 1111 und Borgeaud 1979, 113, Anm. 259. αἰπόλος [πὶ Fall von Pan wird bci der Namensuntersuchung nicht nur der Name in Betracht gezogen, sondern auch eines seiner Beiwörter, ein Vorgehen, das wiederum auf die Tradition der Allegorese zurückzuführen ist. Im Papyrus von Derveni wird ebenso das Epitheton einer Gotthcit analysiert, um die allegorische Identifikati-

on der Gottheit mit einem Element der Welt zu stützen. Um zu beweisen, dass im orphischen Gedicht Okcanos nicht als cin Fluss interpretiert werden soll, sondern als große Kraft, der sich Zeus bemüchtigt hat, zieht der allegorische Deuter des Papyrus von Derveni das Epitheton εὐρυρόων von Okeanos in Betracht. Laut dieses Interpreten deutet das Adjektiv nicht auf die grofien Fluten des Flusses Okeanos hin, wie die meisten Menschen annehmen. Dank des Vergleichs mit dem idiomatischen Ausdruck μεγάλους ῥνῆναι", der diejenigen bezeichnet, die eine große Macht besitzen, glaubt der allegorische Deuter die wahre Natur des Gottes enthüllen zu kónnen, indem cr Okeanos als die Darstellung des σϑένος von Zeus auslegt: οὔκουν “ἐμήσατο" τὸν Ζᾶνα ἕτερος Ζεὺς, ἀλλ᾽ αὐτὸς αὐτῶι “σϑένος μέγα". οἱ δ᾽ οὐ γινώσκοντες τὸν Ὠκεανὸν ποταμὸν δοκοῦσιν elvat ὅτι “εὐρὺ ῥέοντα" προσέϑηκεν. — ὁ δὲ σημαίνει τὴν αὑτοῦ γνώμην ἐν τοῖς λεγομέν[ο)ις καὶ νομιζομένοις ῥήμασι. καὶ γὰρ τῶν ἀν(ϑ)ρώπων τοὺς μέγα Övvarloulvrag

"μεγάλους" φασὶ ᾿ῤνῆναι᾽ (Spalte 23. 4-10).

162

Pan

Das gleiche Bild des fließenden Wassers als Zeichen der Kraft und der Macht findet man sowohl in der Figur des Okcanos wie in dem vom allegorischen Deuter zitierten idiomatischen Ausdruck. Eine analoge Vorgehensweise lässt sich in der Analyse Demokrits über das Epitheton von Athena Τριτογένεια entdecken, die uns die doxographische Tradı-

tion (68A2 DK) liefert. Der Philosoph identifiziert die Göttin genau wegen dicses Epithetons mit der Weisheit, denn er erklärt, dass das Weisesein drei Früchte

hervorbringt: gut zu denken, gut zu sprechen und gut zu handeln. d 1-2. διφνὴς Ἑρμοῦ ὑός, τὰ μὲν ἄνωϑεν λεῖος, τὰ δὲ κάτωθεν τραχὺς xai τραγοειδής Hier wird die Identifikation zwischen den zwei Seiten des Gottex und der zweigeteilten Struktur des λόγος verdeutlicht: Wie Pan in 408b7, di als διφνής bezeichnet wird, so wird der λόγος in 408c3 als διπλοῦς definiert. Durch den Gebrauch der Begriffe Aeïov/roaxv (τραγοειδές) wird die Assoziation zu :schen dem λόγος und der Figur von Pan verständlich, so wie die Gottheit manchmal in der Ikonographie dargestellt wird, d.h. mit einem menschlichen Kopf und einem unbehaarten Oberleib und mit einem behaarten unteren Teil und mit Ziegenbeinen. Obwohl in der traditionellen Ikonographie Pan auf verschiedene Arten dargestellt wird, ist sein wie auch immer geartetes Aussehen aber stets eine Mischung aus Mensch und Ziege, wobei beide Komponenten jedoch unterschiedlich ausgeprágt sein kónnen. In der figurativen Kunst wird οἱ manchmal mit einem menschlichen Oberkörper - manchmal mit zwei kleinen Hórnem auf dem Kopf - und dem Unterkörper eines Bocks dargestellt. Durch die Verschiebung der Begriffe λεῖον und τραχύ, die als Attribute der Gottheit zu Eigenschaften des λόγος verstanden werden, wird die Identifikation möglich: Das Himmelsgewölbe bewegt sich ruhig und ohne Reibungen (Asio: ı. so wie auch der obere Kórperteil Pans glatt und unbehaart (Aeiov) ist; die Sprache der Menschen hingegen ist herb (τραχύς) und in ihrer Ausdrucksform assımilierbar mit der Sprache der Tragödie (τραγικός), wie auch der untere Kôrperteil Pans rauh (τραχύς) ist und aus Bocksbeinen (τραγικός, τραγοειδής) besteht.

Pan

163

Dic Auslegung des Namens von Pan lässt sich graphisch wie folgt darstellen: ὁ λόγος

Πὰν αἰπόλος

ΠΑΝ

τὸ πᾶν σημαίνει καὶ κυκλεῖ καὶ πολεῖ ἀεί

ὁ πᾶν μηνύων καὶ ἀεὶ πολῶν

ΠΑΝ (τὸ πᾶν)

„die Sprache gibt allem einen Sinn,

„derjenige, der allem einen Sinn gibt

kreist und läuft immer herum"

und immer herumläufi“

„Das Alles“, „Das Universum“

Die philosophischen Fragen in den Gótternamen des Kratylos Die Analyse des Götter-Abschnittes im Kratylos hat mit großer Deutlichkeit gezeigt, dass der Text eine allegorische Struktur aufweist. Sokrates hält sich bei der Untersuchung der Gótternamen an dic Regeln der allegorischen Deutung, dic sich unter anderem

aus dem

Papyrus

von

Derveni

in der konkreten

Praxis

der Textdeutung erfahren lassen. Sokrates' Untersuchung wird mit denselben theoretischen Grundlagen und denselben Modalitäten wie dic Allegorese durchgeführt, dennoch treten in dieser Hinsicht manche wichtige Unterschiede deutlich zutage.

Im Gegensatz zum Papyrus von Derveni, bei dem cin Gedicht von Orpheus als einziges und unbestrittenes Zeugnis cines offenbarten Wissens angesehen wird, findet man im Krarylos nicht ein einziges ,heiliges" Schriftstück, in dem Antworten auf alle Fragen zu finden sind; die Wissensquelle besteht im Kratylos aus der überlieferten Tradition in weiterem Sinne des Wortes. Bei der Untersuchung der Vorfahren der Gótter werden zum Beispicl alle drei „heiligen“ Dichter (Homer,

Hesiod,

Orpheus)

einer nach

dem

anderen

erwähnt.

Im

Fall von

Aphrodite wird hingegen lediglich Hesiod zitiert. Als Sokrates den Namen von Hestia analysiert, wird auf einen Brauch hingewiesen, der festlegt, beim Opfern mit dieser Göttin zu beginnen. Bei den Kindern von Kronos spielt Sokrates auf jene Episode des Mythos an, in der die Aufteilung der Welt unter Zeus, Poscidon und Hades erzählt wird. Für Pan wird bei der Analyse ein Epitheton hinzugezogen. Aus diesen unterschiedlichen Materialien, die aus einer Mischung von Dichterzitaten und herkömmlichen

Bräuchen

bestehen, schöpft

Platon frei und

uneingeschränkt wie aus einem riesigen Sammelbecken die einzelnen Teilstücke für seine eigene Erzählung über die Götter. Die Reihenfolge der Götternamen bildet eine Genealogie: Abgeschen von Hestia, die eine besondere Rolle im Text einnimmt, beginnt der Abschnitt mit den Vorfahren der Götter (Okcanos und Thetis, Kronos und Rhea), er geht über zu den Kindern des Kronos (Zeus, Po-

seidon, Hades, Demeter und Hera) und kommt dann zur nächsten Generation: Persephone, einer Tochter der Demeter, und zu den Kindern von Zeus und Hera (Apollon mit seinem Gefolge, Dionysos, Aphrodite, Athene, Hephaistos, Ares, Hermes und dessen Sohn Pan).

Nach den Regeln der Allcgorese sollte der allegorische Deuter den Text sciner Analyse unterziehen, um den verborgenen, auf änigmatische Weise ausgedrückten Sinn ans Licht zu bringen, wobei sich -- wie zum Beispiel im Papyrus von Derveni - der erzühlte Mythos in eine wissenschaftliche Abhandlung über das Universum und seine Entwicklung umwandeln würde. Der Text, an dem

166

Die philosophischen Fragen in den

Gótternamen

Sokrates seine Deutungsarbeit vornimmt, erweist sich hingegen als der schlichte Stammbaum der Götter (das Göttersystem), der lediglich aus ihren Namen he: steht. Nicht einmal von einer Thcogonie kann die Rede sein, da die Kategoricr

zeitlicher Entwicklung im Text nicht vorhanden sind. Darüber hinaus hat es den Interpreten schon immer vicle Probleme bereitet. zu erkennen, welche Absichten Sokrates bei seiner Deutungsarbeit verfolut Konrad Gaiser hebt die Existenz einer Interpretationslinie hervor, die behauptet. dass sich dic zahlreichen Worterklärungen im Kratylos auf traditionelle oder aui andere von Philosophen entlehnte Theorien beziehen, die Platon durch seine Analyse

als

„Scheinwissen“

kritisieren

will.'

Dieser

Teil

des

Kratylos

stel;

durchaus cine umfassende Reflexion über das Wissen dar, meines Erachten. handelt es sich aber nicht um eine Enzyklopädie des Wissens anderer Autorec sondern um eine Reflexion des eigenen philosophischen Systems, die durch Wortuntersuchungen

gestützt wird.

Die Gencalogic der Götter verwandelt

dis SIC

durch die Analyse der Gótternamen in das Begriffssystem Platons oder, andere formuliert, in einen skizzenhaften Entwurf philosophischer Fragen, die Plau. auf der Basis seiner Philosophie aufwirft. All dies wird zweifellos von Sokrates mit der Leichtigkeit eines Spieles getrichen, das nicht immer konsequent ist un4 manchmal zum Extremen neigt. Man könnte fast sagen, dass der Gótterabschni:; im Kratylos ein Bilderrätsel ist, dessen Lósung das Begriffssystem Platons isi. Sokrates" Übersetzungsarbeit wird durch die Tatsache ermöglicht, dass de: Góttername nicht nur seine lautlichen Bestandteile enthält, sondern auch eine:: eigenen Wesenszug, eine bestimmte Stellung in Bezug auf die anderen Gütter1: guren. Genau dieses Element, das immer etwas Bildhaftes besitzt, verknüpft

Gótternamen mit dem in ihm enthaltenen philosophischen Begriff. Dieses

de:

V,

gehen wird am Anfang des Götterabschnitts bei der Analyse der Vorfahren

de:

Götter schr deutlich von Sokrates beschrieben. Die Namen der Vorfahren de: Götter enthalten den Grundbegrilf der heraklitischen Theorie über das ewig. FlicBen der Dinge: die @gon. Dabei wird auch die Sentenz Heraklits einer Anal: x unterzogen, die in der gov) den wesentlichen GrundbegrifT dieser Lehre sicht. I); Qo?) erweist sich dadurch als ein bildhaftes Element, das den Übergang von cine traditionellen, mythischen Ebene zu einer wissenschaftlichen, philosophische: erlaubt. So wird eine Eigenschaft der Sprache - ihre Bildhaftigkeit — in Jc Vordergrund gestellt, die für die Sprache allgemein sowie für die philosophisch.

Sprache ununterdrückbar ist. Durch die Analyse der Gótternamen erkennt Sokrates also die ihnen zugrun delicgende philosophische Begrifllichkeit. Der von Gaiser beschriebene F1: druck, dass man im Kratvlos vor einer enzyklopädischen Sammlung des phil:

sophischen Wissens steht, ist also in gewisser Hinsicht korrekt, aber es hanc sich wie gesagt nicht um das Wissen der anderen, sondern es ist eine Reflex ! — Gaiser 1974, 48.

Die philosophischen Fragen in den Gótternamen

167

über die Bilder und die Themen der Vorgänger, die Platon als eigenen Wissenshorizont wählt und in den Dialogen verwendet. Erst wenn man die Aufmerksamkeit auf die anderen Dialoge richtet, ist man in der Lage, zu verstehen, welche Bedeutung diese Arbeit über die bildliche Vorstellungswelt der philosophischen Tradition für die gesamte Philosophie Platons annimmt. Die ununterdrückbare bildhafte Dimension der Sprache, die die „allegorische“ Spielerei im Krarylos hervorhebt, und die Fragen, die sie an die Philosophie stellt, durchzieht die philosophischen Überlegungen und die Schreibweise Platons in Gánze.

Hestia und die Vorfahren der Gótter: die Urszene der

Philosophie

Der Abschnitt über die Gótternamen beginnt mit der Analyse von Hestia (Ἑστία), deren Name mit dem Wort οὐσία verknüpft wird. Durch die zweigeteilte Sprachanalyse, die von οὐσία zum Namen der Góttin übergeht, entstehen aus dem Namen der Göttin zwei entgegengesetzte Realitätsauffassungen. Einerseits wird durch den Rückgriff auf dic äolische Form von οὐσία (écoía) im Namen der Göttin „eine Realität“ ersichtlich, „die schlechthin ist“ (ἐστί). andererseits wird durch die Analyse der dorischen Form weia, der dic Bedeutung «on τὸ ὠϑοῦν

(,das, was drängt / stößt“, „der Schub“)

zugeteilt

wird,

auf die

he.

raklitische Vorstellung der Realität als ewiges Fließen hingewiesen, die sich kurz danach in den Namen der Vorfahren der Götter enthüllt. Genau betrachtet, handelt es sich hier um die Gegenüberstellung zweier phi. losophischer Grundprinzipien, die verschiedene, gegensätzliche Aspekte der Re

alität betonen: Das erste weist auf das eigentliche Realitütsprinzip hin, das mu dem schlichten Sein identifiziert wird, das andere ist als Triebprinzip autzutas sen. Die philosophische Gegenüberstellung, die in dem Wort οὐσία und deshalb in Hestia selbst ersichtlich wird, stellt cin Problem dar, das Platon vielleicht meh als alle anderen bescháftigt hat: Die Rechtfertigung der unaufhórlichen und un vermeidlichen Veränderung der Realität, wobei das Bedürfnis nach einem festen Erkenntnisgegenstand bewahrt bleiben muss, d.h. nach einem Gegenstand. dci von der Vergänglichkeit der Welt befreit ist.' Der Vergleich mit cinem Abschnitt der Metaphysik des Aristoteles hilft date: zu verstehen, wie stark dieser Abschnitt des Krarylos in einen rein philosophi schen Kontext eingefügt ist, in dem die grundlegenden Fragen der Philosophe diskutiert

werden.

Am

Beginn

des

Passus,

den

man

die

erste

kritische

Ge

schichte der Philosophie nennen könnte, definiert Aristoteles das Begriftssystem. das er bei der Auslegung der Autoren der Vergangenheit benutzt: τὰ δ᾽ αἴτια λέγεται τετραχῶς. ὧν μίαν μὲν αἰτίαν φαμὲν εἶναι τὴν οὐσίαν καὶ τὸ τί ἦν εἶναι (ἀνάγεται γὰρ τὸ διὰ τί εἰς τὸν λόγον ἔσχατον. αἴτιον δὲ καὶ ἀρχὴ τὸ διὰ τί πρῶτον). ἑτέραν δὲ τὴν ὕλην καὶ τὸ ὑποκείμενον. τρίτην δὲ ὅϑεν ἡἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως. τετάρτην δὲ τὴν ἀντικειμένην αἰτίαν ταύτῃ. τὸ οὗ ἕνεκα καὶ τἀγαϑόν (τόλος γὰρ γενέσεως καὶ κινήσεως πάσης τοῦτ᾽

! — Siehe dazu die Worte von Sokrates im Kratylos: Ἀλλ᾽ οὐδὲ γνῶσιν εἶναι φάναι εἰκός. Κρατύλε. εἰ μεταπίπτει πάντα χρήματα καὶ μηδὲν μένει (440a6-7).

? — Aristot. Metaph. A, IIT, 983a.

.

ἐστίν).

Hestia und die Vorfahren der

Gótter

169

Das System der Ursachen nähert sich demjenigen, welches im Hestia-Abschnitt wirksam ist, stark an. Es besteht aus zwci Begriffspaaren: ἡ οὐσία / ἡ ὕλη auf der einen Seite, ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως / τὸ ἀγαϑόν auf der anderen. Der erste Begriif der beiden Paare findet scine genaue Entsprechung in der ersten Namensauslegung von Hestia: Die aristotclische οὐσία, die vom Ausdruck

τὸ τί ἦν definiert wird, entspricht der ersten Namenserklärung der Göttin: Ἑστία « ἐστί < ἐσσία = οὐσία, das Bewegungsprinzip (ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως) hingegen entspricht der zweiten Namenserklärung: Ἑστία = οὐσία = ὡσία « τὸ ὠϑοῦν. Im Gegensatz zum Begriffssystem des Kratylos, dem ausschließlich die Gcgenüberstellung Sein / Bewegung zugrunde liegt, findet man bei Aristoteles dic Erweiterung um zwei neue Begriffe: die ὕλη und das ἀγαϑόν. Über die Gemeinsamkeiten der Begriffsbest hinaus fällt die lexikalische Nähe jener Ausdrücke auf, die das Konzept der Ursache bezeichnen. Alle in diesem Ab-

schnitt vorgestellten Begriffe werden als τὰ αἴτια definiert. Besonders die erste Kategorie — die οὐσία — wird in der Metaphysik als αἴτιον καὶ ἀρχή bezeichnet, eine Wendung, die sehr stark an den Ausdruck τὸ αἴτιον xai τὸ ἀρχηγόν im Kratylos erinnert. Was im Kratylos in eine Góttergenealogie cingelügt wurde und dic Gestalt ciner allegorischen

Auslegung

übernahm,

reduziert sich bci Aristoteles zu einer

wissenschaftlich neutralen Schilderung der grundlegenden Kategorien, zu ciner rcin philosophischen Erórterung, und sie verlicrt jedwede mythische oder bildliche Konnotation.

ἡμεῖς vs. Heraklit und seine Anhünger Während die Identität derjenigen, die das grundlegende Prinzip der Realität in einem dynamischen und treibenden Element erkennen, explizit im Text von Sokrates angegeben wird — sie werden als die Anhänger Heraklits bezeichnet -, so kommt im Hestia-Abschnitt kein Hinweis auf eine entgegengesetzte Position vor. Das einzige Text-Merkmal, das als Anspielung darauf verstanden werden könnte, ist die eindringliche Wiederholung des Pronomens ἡμεῖς." Im Hinblick auf die Sprachanalyse, die Sokrates in diesem Abschnitt vomimmt, lässt sich ἡμεῖς — im Gegensatz zu anderen vorher genannten Dialekten - als „wir, die im Attischen sprechen“ deuten. Die erste Auslegung des Namens von Hestia wird in der Tat günzlich im attischen Dialekt vorgenommen, da sie von der Analyse eines äolischen Wortes (écaia) ausgeht. Sokrates gelangt sogar zur Annahme, cinen attischen Ursprung des Wortes ἐσσία zu vermuten.”

' — Crat. 401d5-6. * —

Crat. 40166, c8.

ἧς Crat. 401c8-9.

170

Die Urszene der Philosophie

Wenn man aber den ganzen Aufbau der beiden Wortuntersuchungen betrachtet, so lässt sich die Gegenüberstellung wir/sie leicht in cine Gegenüberstellung

philosophischen Charakters umwandeln, und zwar zwischen denen, die die Bejahung des Seins predigen und denen, die von der Universalitàt der Bewegung ausgehen. Das zweimal wiederholte „wir“ lässt an eine Gruppe denken, die sich

gegen jene wendet, die die Lehre Heraklits vertreten.“ und deren Wortführer Sokrates selbst ist.

Der Begriff οὐσία bei Platon: ein parmenideisches Erbe Die Analyse eines Abschnitts des Phaidon macht deutlich, dass der platonische

Begriff οὐσία, so wie er in der ersten Auslegung von Hestias Namen vorgestellt wird, aus der Umarbeitung des parmenideischen Seins-Begrilfes hervorgeht. In den ersten Seiten des Phaidon, in denen ein umfassendes Porträt der Philos phie, ihrer Wirkung und ihres Unt

hungsgegenstandes

entworfen

wird,

fin

det sich eine äuBerst pessimistische Schilderung des menschlichen Erkenntnis. vermögens. Nach Sokrates’ Ansicht ist der menschliche Körper nichts andere. als ein Hindernis für die intellektuelle Forschung, denn die sinnlichen Wahr. nehmungen sind weder präzise noch einhellig und können sogar täuschen.” De, einzige Weg, die Wahrheit zu erkennen, ist, jede Beziehung zum Körper zu

vermeiden und sich ausschließlich auf das Denken zu verlassen." Schon bei οἱ ner derartigen Beschreibung der Erl isbedingungen lässt sich ein starken Einfluss der parmenideischen Lehre auf Platon feststellen. Die programmatische Wahl, den λόγος als einziges Forschungskriterium zu benutzen, um die Wahrheu zu erfassen, und dic daraus folgende Verachtung der Sinne als Forschungsin strumente geht auf den Eleaten zurück." Es kommt dazu, dass der gesamte Ah. schnitt mit Elementen durchwoben ist, die an eine Wiederaufnahme parmenide:.

scher Themen erinnern: Die geistige Forschung wird am Beginn des platoni. schen Abschnitts als ζήτησις definiert." Wie Kahn bemerkt, ist dieses Wort der prosaische Ausdruck für die poctischere, von Parmenides gebrauchte δίζησις. * — οὗτοι nad‘ Ἡράκλειτον (Crat. 401d4). ? — Phaed. 6549-43. Kahn (1988, 254-255) hat die Umarbeitung, die Platon gegenüber de parmenideischen Theorie in diesem Abschnitt vorgenommen hat, schlüssig aufgezeigt. Zur: Einfluss der parmenideischen Gedankenwelt auf Platon siche noch die von Dixsaut (1987

219-221) und von Thanassas (1996, 17) durchgeführten Analysen des Sophistes. — Das Thema des λόγος als einziges Erkenntnisinstrument wird wiederholt bekräftigt -ı Phaed. 65c2 mit dem Begriff λογίζεσϑαι. in 65c5 mit dem emphatischen λογίζεται am Satz.ufang: weiterhin mit διανοηϑῆναι in 6503-4, mit αὐτῇ τῇ διανοίᾳ in 65c8, mit μετὰ -.. λογισμοῦ in 6641.

m Frg. 2887. 5-6 DK. — Phaed. 65410. "Kahn

(1988, 254) zeigt den Zusammenhang

zwischen

δίζησις im Pamenides (rg.

2887

2 DK) und ζήτησις im Phaidon. Dazu lässt sich ergänzen, dass derselbe Ausdruck auch : :

Hestia und die Vorfahren der Gótter

171

Darüber hinaus kónnen die beiden Sinne (der Gesichts- und der Gehórsinn), dic

im Phaidon die Unzuverlässigkcit der Wahrnehmungsorgane versinnbildlichen, mit den blinden und tauben Menschen des sechsten Fragments in Beziehung gesetzt werden." Das, was jedoch den philosophischen Kontext des Hestia-Abschnitts am meisten erhellen könnte, ist dic Bestimmung der οὐσία im Phaidon als Ziel der philosophischen Suche. Dies geschieht mittels eines Satzes, dessen Formulicrung durchaus signalisiert, welche ncue, philosophische Bedeutung dem Wort οὐσία zugetcilt werden soll: λέγω δὲ περὶ πάντων. οἷον μεγέϑους πέρι. ὑγείας, ἰσχύος, καὶ τῶν ἄλλων Evi λόγῳ ἁπάντων τῆς οὐσίας ὃ τυγχάνει ἕκαστον ὄν.' Sokrates gelangt zu dieser neuen und origincllen Identifikation des Ziels der Philosophie, nachdem andere Begriffe benannt wurden. Zunüchst erscheint die Wahrheit (ἀλήϑεια, 65b2,9) zweimal, darauf der Ausdruck τὰ ὄντα (65c3) - ei-

ne im Attischen gebráuchliche Wendung, die die Bedeutung von .die Tatsachen“ oder „die Dinge der Welt" besitzt -, dem eine unleugbare ontologische Dimension zugrunde liegt. SchlicBlich erscheint der parmenideische Fachausdruck τὸ ὃν (65c9). Sowohl die Wahrheit als Ziel der philosophischen Suche als auch der Ausdruck τὸ 0v setzen den platonischen Passus mit der Aufforderung der Góttin des parmenideischen Gedichts in Verbindung, die fordert, jenen Weg

einzuschlagen, der in ,das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit", zum àv führt. Platon

nähert

sich

schrittweise

von

der

Wahrheit

ausgehend

dem

öv

und

gelangt zur οὐσία als Ziel der Erkenntnis. Somit lässt er seinen eigenen Begriff von „Wirklichkeit“ aus dem Parmenideischen hervorgehen. Hiermit signalisiert

er deutlich, welche bedeutsame Rolle Parmenides’ Gedankenwelt für seine eigene Philosophie übernimmt.'* Ein weiteres streng sprachliches

Element

lässı vermuten, dass Platon durch

die Namensauslegung Ἑστία < ἐστί < ἐσσία = οὐσία cine Göttin schaffen wollte, die zur bildlichen Darstellung des parmenideischen Seins-Prinzips werden

Erg. 6 vorkommt, wo das Problem der Wahrnehmung als Grundlage der geistigen Untersuchung gründlich erörtert wird. —

ὄψις Te xai ἀκοή (Phued, 6562); bei Parmenides: κωφοὶ ὁμῶς

τυφλοί τὸ (Fre. 28B6, 7:

Y 1. Frg. 7.4 DK). — Phaed. 65d12-cl.

H — Siehe dazu Kahn 1973, 332; 455.

I5 ἠμὲν Ἀληϑείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ (Fre. 28B1. 29 DK). — In der Analyse dieses Abschnitts des Phaidon zeigt Kahn (1988, 255), wie die platonische Ausarbeitung des Seinsbegriffs sich aus der parmenideischen Idee entwickelt, die dem Scin und jedem seiner Prüdikationen das Merkmal der Wahrheit zuordnet. Über diesen Abschnitt des Phaidon hinaus berücksichtigt Kahn auch das 5. Buch der Politeia (475-476), um seine These zu stützen.

172

Die Urszene der Philosophie

soli." Der Ausdruck ἐστί, der im Namen der Góttin mitschwingt, nimmt

in Par-

menides’ Gedicht eine besondere Bedeutung an: ἐστί ist ohne Zweifel die einzige gestattete Prädikation des ὄν und kennzeichnet den zur Wahrheit führenden Weg der Forschung." Platon selbst hebt diesen Aspekt des parmenideischen Gedankens in einem Abschnitt des Sophistes hervor: Nach der Untersuchung des parmenideischen ὄν bleibt von dessen Gedanken nur die Aussage des Seins

ἐστί — übrig." Es scheint deshalb glaubwürdig, das Platon auch im Krarvl/os durch die erste Auslegung des Namens

von Hestia seine Verpflichtung

gegen-

über Parmenides deutlich machen wollte. Die heraklitische Qo Im Namen von Hestia kann man das Spannungsfeld erblicken, in das sich die Philosophie Platons einfügt, dessen Pole einerseits die Bejahung des Seins. andrerseits das Triebprinzip der Realität sind. Die Göttin mit ihrem Namen

be.

stimmt dic theoretischen Grenzen der Philosophie Platons, sie vereinigt in sich die beiden grundlegende

Aspekte der Realität und lässt sic in sich zusammen

wohnen. All dies geschieht aber — wie es typisch für Platon ist — in Form cine dramatisch dargestellten Konflikts zwischen einem .,wir", in dem sich Parmenides und seine Nachfolger verbergen, und Heraklits Lehre über das ewige Fließen. Ein Abschnitt des Theaitetos verdeutlicht, wie sich die platonische

Philoso

phie innerhalb der Auseinandersctzung zwischen den beiden gegensätzlichen Weltanschauungen entfaltet.? In jenem Passus des Theaitetos werden zuerst dic Verfechter der Theorie genannt, dic behaupten: ἔστι μὲν γὰρ οὐδέποτ᾽ οὐδέν. ἃς, δὲ γίγνεται."

So tritt auf dieser Seite zuerst Protagoras als Vertreter einer

Er.

kenntnistheorie auf, die das Wissen als Wahrnehmung auffasst. Nach Protagoras entstehen Wahrnehmung und wahrgenommener Gegenstand erst durch eine we chselseitige Bewegung, so dass jede Art von autonomer Existenz ausgeschlossen ist. Deshalb — so behauptet Sokrates - ist man laut dieser Theorie dazu gezwun gen, das Sein überall auszuschließen, da nichts aus sich selbst heraus existiert.

7

Schon Stallbaum weist in seinem

Kommentar

(1835, 97-98) auf die ..Eleaten"

als

\e:

treter dieser Namenserklärung hin. — Siehe: ἡ μὲν sc. ὁδός], ὅπως ἐστίν τε xai ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι. / πειϑοῦς ἐστι waren. ἁληϑείῃ γὰρ ὀπηδεῖ. / 2 δ᾽. ὡς οὐκ ἔστιν τε xai ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι (28B2, 3-5 DK). κει τὸ λέγειν τε νοεῖν T' ἐὸν ἔμμεναι. ἔστι γὰρ εἶναι. / μηδὲν δ᾽ οὐκ ἔστιν (28B6, 1-2 DK: un: noch: μόνος δ᾽ ἔτι μῦϑος ὁδοῖο / λείπεται, ὡς ἔστιν (28B8, 1-2 DK): ἡ δὲ κρίσις περὶ τοί τοι ἐν τῷδ᾽ ἐστιν. / ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν (28B8, 15-16 DK). Zur Rolle des ἐστί bei Parmenides sieh Thanassas 1996, 51-65. — Sophist. 244b6-245e7. Diesbezüglich siche die von Dixsaut (1987. 228-242, besonde:241 )entfaltete Abschnittsanalyse. - — Theaet. 152d2-e8.

?! — Theaet. 1526].

Hestia und die Vorfahren der Gótter

173

xistiert, sondern alles von einem ewigen Werden bestimmt ist. Dann folgen Heraklit und

Empedokles,

Verfechter der wissenschaftlichen Theorie, die die

Lehre des Protagoras unterstützt, indem sie das grundlegende Prinzip der Welt in der Bewegung sehen. Letztlich werden die Dichter Epicharm und Homer bcnannt, die ebenfalls diese Weltanschauung vertreten. Bereits anhand der Reihenfolge der Aufzählung, die Epicharm und Homer mit Heraklit assoziiert, lässt sich schon die Ähnlichkeit mit dem Hestia-Abschnitt des Krarylos?" erkennen, in

dem Heraklit ebenfalls im selben Atemzug mit den wichtigsten Dichtern (Homer, Orpheus und Hesiod) erwähnt wird. Im Theaitetos wird all diesen Denken

und Dichtern, dic als Vertreter der gesamten Bandbreite des Wissens erwähnt werden, Parmenides gegenübergestellt.*

In einem nachfolgenden Abschnitt des Theuitetos wird diese Gegenüberstellung wieder vorgeschlagen, obwohl sie diesmal einen parodistischen Ton annimmt, der die Epigonen der beiden Schulen lächerlich macht. Auf der ciner

Seite stchen die Anhänger von Heraklit, die behaupten, dass sich dic Welt in einer immerwährenden Bewegung befindet, auf der anderen Seite stehen die vielen Μέλισσοί

τε xai Παρμενίδαι,᾽" die an ein einziges und unbewegliches Ganzes glauben." Das, was an diesem Passus des Theaitetos mein Interesse am stárksten weckt, ist die Tatsache, dass das heraklitische Bild des tlieBenden Flusses wie im Kra-

tylos zur sinnbildlichen Darstellung des Tricbprinzips der Realität wird. Wie bereits erwähnt, steht bei der Aufzählung der Verfechter der Bewegungstheorie neben Heraklit auch Homer: ἔστι μὲν γὰρ οὐδέποτ᾽ οὐδέν. ἀεὶ δὲ γίγνεται. καὶ περὶ τούτου πάντες ἑξῆς oi σοφοὶ πλὴν Παρμενίδου συμφερέσϑων. ΠΙρωταγόρας τε καὶ Ἡράκλειτος καὶ Ἐμπεδοκλῆς. καὶ τῶν ποιητῶν οἱ ἄκροι τῆς ποιήσεως ἑκατέρας. κωμῳδίας μὲν Ἐπίχαρμος. τραγῳδίας δὲ Ὅμηρος. (ὃς) εἰπών -Ὠκεανόν τε ϑεῶν γένεσιν καὶ μητέρα Τηϑύν πάντα

εἴρηκεν

ἔκγονα

cons Te

xai

κινήσεως.

’? __ Siehe: ὡς τὸ πᾶν κίνησις ἦν καὶ ἄλλο παρὰ τοῦτο οὐδὲν (Theaet. 15624-5) und οὐδὲν εἶναι £y αὐτὸ xaS' αὑτό, ἀλλά τινι ἀεὶ γίγνεσθαι. τὸ δ᾽ εἶναι πανταχόϑεν ἐξαιρετέον (Theaet. 157a8- bl). — Crat. 402ad-c3. —- καὶ περὶ τούτου πάντες ἑξῆς oi σοφοὶ πλὴν — Theuet. 180e2.

[Παρμενίδου συμφερέσϑων (Theaet.

152c1-3).

^^ Thwaet. 17946-18155; siehe dazu die Ausdrücke: πάντα κινεῖται (Theaet. 18047) und ὡς & τε πάντα ἐστὶ καὶ ἕστηκε αὐτὸ ἐν αὐτῷ (Theaet. 8003-4). — Kirk (1954, 369-370) zeigt deutlich, dass die heraklitische Lehre des unaufhórlichen FlieBens auf dieselbe Weise nicht nur im Krarvlos, sondern auch im Theaitetos dargeboten wird und dass sie in derselben Form von Aristoteles und der späteren Tradition akzeptiert wird. Darüber hinaus betont der Wissenschaftler (1954, 370), dass es sich um eine Interpretation der heraklitischen Doktrin handelt, die - soweit uns Heraklits Lehre bekannt ist = „certainly puts the emphasis in the wrong place".

"LLL Theaet. 152e1-8.

174

Die Urszene der Philosophie

Ganz wie im Kratylos zitiert Sokrates auch hier den Vers 201 des 14. Buches der Ilias, auf den dieselbe Auslegung folgt: Der Fluss Okeanos ist die poetische Darstellung des heraklitischen Prinzips des unaufhörlichen FlicBens. Weiter unten im Dialog fasst Sokrates die Gedanken

der verschiedenen

Ver-

fechter des ewigen FlicBens zusammen und erklärt: κατὰ μὲν Ὅμηρον xai Ἡράκλειτον καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον φῦλον olov ῥεύματα κινεῖσϑαι τὰ πάντα."

Homer und Heraklit werden hier Seite an Seite gestellt. Nicht nur, weil beide dic Idee vertreten, dass alles in Bewegung sei, sondern auch weil sie dieselbe biluliche Sprache sprechen. Wie im Kratylos behauptet Sokrates, dass beide die Din. ge durch das Bild des FlieBens des Flusses versinnbildlicht haben. Im Anschluss daran verweist Thcodoros dirckt auf die erst kurz zuvor ausge-

führte heraklitische Theorie, indem er erklärt, dass man sie laut Sokrates

auf

Homer oder vielleicht sogar auf noch ältere Quellen zurückführen müsse: καὶ γάρ, ὦ Σώκρατες. περὶ τούτων τῶν Ἱ Ιρακλειτείων ἢ. ὥσπερ σὺ λέγεις. Ὁμηρείων καὶ ἔτι παλαιοτέρων."

Schließlich nimmt Sokrates die Gegenüberstellung der Anhänger der Bewegungstheorie und der Verfechter des unbewegten Seins wieder auf und unterteilt die erste Gruppe in zwei neue: die antiken Dichter und die jüngeren und weise. ren Persönlichkeiten.” Heraklit taucht in dieser Liste nicht mehr auf. Es ist anzunehmen, dass er endgültig in die Reihe der Dichter aufgenommen

wurde,

de.

nen noch einmal zugeschrieben wird, die Entstehung aller Dinge im Bild des Flusses (d.h. in den Gestalten von Okeanos und Tethys) verborgen zu haben. Letztmalig taucht das Thema des Fließens des heraklitischen Flusses auf. al. Sokrates die Anhänger dieser ‚Theorie beschreibt und sie mit dem parodistischen Ausdruck oi ῥέοντες definiert."

Auch in den Nomoi lässt sich beobachten, dass das Bild des Flusses verwen det wird, um die Frage nach dem Bewegungsprinzip bildlich darzustellen. In: 10. Buch der Nomoi wird das Problem der Existenz der Götter im Hinblick au: die Struktur der Welt formuliert. Es lásst sich bercits daran cine erste Ahnlichkeit mit dem Kratylos erkennen, denn für beide Texte gilt dasselbe: „von der Göttern sprechen“ heißt, „von den Prinzipien zu sprechen, dic die Welt lenken"

M — Theaet. 160d6-8. αι

Theaer. 179e3-5. — τὸ δὲ δὴ πρόβλημα ἄλλο τι παρειλήφαμεν παρὰ μὲν τῶν ἀρχαίων μετὰ ποι σεν. Ν ἐπικρυπτομένων τοὺς πολλούς, ὡς 4) γένεσις τῶν ἄλλων πάντων ἴβκεανός Ta xai V ut ως ῥεύματα τυγχάνει καὶ οὐδὲν ἕστηκε. παρὰ δὲ τῶν ὑστέρων ἅτε σοφωτέριον ἀναιξα: ἀποδειχνυμένων (Theaet. 180c7-d4). —O— Theaet. 18135; siehe am Ende des Kratylos eine weitere sehr polemische und parodist sche Definition der Anhänger des Heraklits, die auf demselben Bild beruht: ὥσπει κατάρρῳ νοσοῦντες ἄνϑρωποι (Crat. 44001).

Hestia und die Vorfahren der Gótter

175

Zunächst wird die Theorie beschrieben, die erklürt, dass das Gelüge der Welt durch die Eigenschaften der Grundelemente (Feuer, Wasser, Erde und Luft) be-

stimmt wird und dass deshalb die Welt weder das Werk ciner Intelligenz, noch eines Gottes oder einer Kunst sei, sondern dass sie das Werk der Natur und des Zufalls ist." Diese Theorie, die als Grundelemente der Welt einzig die materiellen Prinzipien postuliert und dic allein den Zufall zum einzigen universellen Prinzip macht, verneint letztlich jedes mógliche góttliche Element in der Welt und wird von dem Athener angefochten. Er zeigt nämlich, dass die Seele der Ur-

sprung und die Ursache aller Veränderungen in der Welt ist" und dass sie vor den stofflichen Elementen existiert und dass sie deshalb cine Vorrangstellung gegcnüber der Materie cinnimmt. So schickt sich der Athener an, zu zeigen, dass dic Seele und nichts anderes das Universum beherrscht, da sie ihm eine gercgelte und intelligente Bewegung aufprügt, die an der Bahn der Gestime beobachtet werden kann." Die komplexe Beweisführung über dic Existenz der Gótter wird mit dem Bild des Flusses eröffnet. Das Bild wird dazu benutzt, die Schwierigkeit des Beweisganges darzustellen: Der Athener schlägt vor, zunächst das schwierige Problem zu durchwaten, indem er allein diese Frage ausführlich behandelt; jedoch verspricht er, wieder durch den Fluss des Problems zu den anderen Gesprächspart-

nern zurückzukehren, falls es ihm die Schwierigkeit der Erórterung erlauben sollte.“ Darüber hinaus ist das Bild des Flusses das Symbol des Problems selbst, d.h. die Fragestellung, ob es überhaupt müglich sei, in der unvermeidbaren Veränderung der Welt eine göttliche Ordnung festzustellen, die dem Menschen ein sicheres Wissen über die Dinge der Welt garantiert und ihn vom epistemologischen Nihilismus rettet." Deshalb sieht sich der Athener dazu gezwungen, in den Fluss zu steigen, um dessen Sinn zu finden.

* — Leg. X, 889b1-889c6. M _ Leg. X, 895c10-896b1. M Leg. X, 8997-10; siehe dazu Górgemanns 1960, 195-198. M__ αἱ καϑάπερ ποταμὸν ἡμᾶς ὅδει τρεῖς ὄντας διαβαίνειν ῥέοντα σφόδρα. νεώτατος δ᾽ ἐγὼ τυγχάνων ἡμῶν καὶ πολλῶν ἔμπειρος ῥευμάτων. εἶπον ὅτι πρῶτον ἐμὲ χρῆναι πειραϑῆναι κατ᾽ ἐμαυτόν. καταλιπόντα ὑμᾶς ἐν ἀσφαλεῖ. σκέψασϑαι εἰ διαβατός ἐστι πρεσβυτέροις οὖσι καὶ ὑμῖν, ἢ πῶς ἔχει. καὶ φανέντος μὲν ταύτῃ. καλεῖν ὑμᾶς τότε καὶ συνδιαβιβάζειν ἐμπειρίᾳ. οἱ δὲ ἄβατος ἦν ὡς ὑμῖν, ἐν ἐμοὶ τὸν κίνδυνον γεγονέναι. μετρίως ἂν ἐδόκουν λέγειν. καὶ δὴ καὶ νῦν ὁ μέλλων ἐστὶ λόγος σφοδρότερος καὶ σχεδὸν ἴσως ἄβατος ὡς τῇ σφῷν ῥώμῃ (Leg. X. 892d6-c7).

7 __ Leg. X, 896c8-897c9.

Hades und Persephone: die Erkenntnisfrage Der Text bringt die beiden

Unterweltgottheiten,

Hades und

Persephonc,

in Zu.

sammenhang mit der Frage der Erkenntnis. Hades verkörpert den Ort des Wis. sens, der vom Menschen erst nach dem Tod erreichbar ist, wenn sich die Seele vom Kórper befreit hat. Persephone wird als seine Gattin vorgestellt und stellt das Thema der Erkenntnis in Bezug auf die sinnlichen Wahrnehmungen dci immer in Bewegung stehenden Wirklichkeit dar. Die verschiedenartige Charak terisierung der beiden Gottheiten erhält einen umfassenderen Sinn, wenn sie in die allgemeine Struktur des Götter-Abschnitts eingeordnet wird. Am Anfang des Abschnitts lassen sich in Hestias Namen zwei unterschiedliche, gegensätzlich« Weltanschauungen entdecken: Auf der einen Seite ist Hestia die Personifikation einer Realität, die schlechthin ist, auf der anderen stellt sie das Triebprinzip dur Dinge dar. Berücksichtigt man die Struktur, die in Hestias Namen das Sein von Parmenides und das ewige Fließen von Heraklit als theoretische Gegenpole ne beneinander existieren lassen,' liegt die Vermutung nah, dass die beiden Götte, der Unterwelt gleichfalls unter dieselbe Aufteilung fallen und zwei unterschied. liche, entgegengesetzte Auffassungen des Erkenntnisprozesses darstellen. Had. versinnbildlicht die Erkenntnis jener Realität, die durch das schlichte Sein cha. rakterisiert wird, das dem parmenideischen öv verpflichtet ist, Persephone hin. gegen scheint Hades' Spiegelbild zu sein, da sie die Erkenntnis der Welt in Be wegung verkörpert, wie sic von Heraklit beschrieben wurde. Eine Passage des Sophistes, in der der Fremde von Elea den schweren Kamp zwischen den „Giganten“ und den „Freunden der Formen" beschreibt, kann be: der Feststellung helfen, welche Rolle beide Unterwelt-Gottheiten innerhalb de: Gedankenwelt Platons übernehmen.’ In diesem Abschnitt werden zuerst die An sichten der „Giganten“ vorgestellt, dic die Wirklichkeit (die οὐσία. mit dem σῶμα identifizieren, da für sie ausschließlich das existiert, was Widerstand leis tet und durch den Tastsinn (ἐπαφή) erkennbar ist.‘ Den δεινοὶ ἄνδρες — wie Theaitetos „die Giganten“ definiert - werden die „Freunde der Formen“ gegen übergestellt, die behaupten, dass die echte Wirklichkeit (ἡ ἀληϑινὴ οὐσία.) aux körperlosen

Formen

bestcht,

die

nur die

Intelligenz

wahrnehmen

kann.’

Di

„Freunde der Formen“ glauben außerdem, dass die „somatische“ Realität de: „Giganten“ einfach als ein Werden in ständiger Bewegung (γένεσις Yegous: s betrachtet werden muss. Bei der Schilderung der Weltvorstellung der „Gigan ! — Was die Lehre von Parmenides und Heraklit in der Auslegung des Namens von Hes::. betrifft, siehe S. 169-172.

? — Sophist. 245e6-246c4.

"- 0 παρέχει προσβολὴν καὶ ἐπαφήν τινα (Sophist. 246a1 1 -bl). 7 νοητὰ ἅττα καὶ ἀσώματα εἴδη (Sophist. 246b7-8). — Sophist. 246b6-c2.

Hades und Persephone

77

ten“ verwenden die „Freunde der Formen" das gleiche Bild von einer Welt in Bewegung, das auch im Persepl Abschnitt des Krarylos vorkommt.“ AuBerdem wird das charakteristische Element der Erkenntnistheorie der „Giganten“, also die körperliche Wahrnehmung der Realität, mit dem gleichen Begriff — die ἐπαφή — ausgedrückt, auf den sich im Krarylos die Auslegung des Namens der Göttin stützt.’ In Bezug auf die Darstellung von diesen entgegengesetzten Erkenntnistheorien im Sophistes haben die Interpreten schon immer versucht, die möglichen historischen Persönlichkeiten herauszufinden, die Platon im Text andeutet, die jedoch anonym bleiben." Unter den vielen Vorschlägen scheint bis heute der von Comford der beste zu sein: Die „Giganten“ stünden nicht für eine bestimmte Schule, sondern man könne in ihnen die Tradition der Milesier bis hin zu den Atomisten erkennen, ohne die Überzeugung der „average men“ außer Acht zu lassen.” Die „Freunde der Formen“ stehen hingegen für die italische Tradition von Parmenides über die Pythagorcer bis hin zu Platon selbst, der diese Theo-

rien im Phaidon überarbeitet und später im Parmenides kritisiert." Wie oft aber, wenn Platon auf fremde Theorien verweist, handelt es sich um Ideen, die Aspckte seines cigenen Philosophierens ausdrücken und die er benutzt, um die philosophische Szene seiner Dialoge zu bewegen. Die Bearbeitung der Vergangenheit geschieht also bei Platon immer mit Modalitäten, die von seiner eigenen Argumentation abhängig sind. Deshalb ist die Wiedergabe der Theorien der Vorgänger nie ein objektives und historisches Zeugnis, sondern ein Zeichen für eine seinem Denken innewohnende Problematik. Speziell zur Gigantomachie des Sophistes bemerkt Cornford: „here, as always, Plato is philosophising, not writing the history of philosophy. When he criticises individual schools, it is only to determine what he can take from them and what he must reject". Diese Auffassung des platonischen Schreibens kann aber noch genauer prüzisiert werden, wenn man eine Überlegung Rosens zu dic-

ser Stelle des Sophistes einführt. Der Wissenschaftler unterstreicht, wie der Fremde von Elea den Begriff ovoia benutzt, um das Thema zu bezeichnen, für das sowohl die „Giganten“ wie auch die „Freunde der Formen" ihre Schlacht schlagen. Der Fremde von Elea geht nämlich von der eben durchgeführten Ana-

^ — Die Auslegung des Namens von Persephonc im Kratylos geht vom Ausdruck ἅτε γὰρ ἐρομένων τῶν πραγμάτων (Crat. 404d1-2) aus. — Die Urform des Namens der Göttin Φερέπαφα (Crat. 40443) wird als ἡ ἐπαφὴ ToU φερομένου | (404d4) gedeutet. — Zu einer Aufzählung der vorhergehenden Interpretationen siehe Cornford 1978'*, 231. Anm. 2 und Movia 1991, 251, Anm. 3 und4, 254 Anm. 3. ' — Comford, 197811, 231-232. 9.Cornford, 197813, 229 und 242ff.

!! — Cornford, 1978!3, 230.

178

Die Erkenntnisfrage

lyse des Monismus des parmenideischen ov zu der der platonischen οὐσία über. Somit fügt Platon die gesamte Gigantomachie in scine eigene philosophische

Untersuchung ein. Im Abschnitt des Sophistes werden also zwei Weltanschauungen und die entsprechenden Erkenntnistheorien gegenübergestellt, die die theoretischen

Gegen-

pole des Gedankengutes Platons bezeichnen und die jeweils auch den Figuren von Hades und Persephone im Kratylos entsprüchen. Auf einer Seite gibt es dic Wahrneh theorie der »Giganten", die enge Bezichungen zu der Erkenntnistheorie des. Theaitetos hat," und wie die Figur von Persephone im Kratylos

unter der Vorstellung steht, dass die Realität aus cinem Werden in ständiger Bewegung besteht. Aul der anderen Seite gibt cs die Theorie der „Freunde de Formen“, die einen dem Phaidon sehr ähnlich seienden Ansatz hervorbrinpt, i dem

sie bloß an einen von der nackten

Intelligenz vollzogenen

zess glaubt — eine Vorstellung, die zweifelsohne mehrere

Erkenntnispre.

Berührungspunkte

zum Hades-Abschnitt aufweist.

Der Phaidon als Schlüsseltext für die Figur von Hades Auch wenn der philosophische Rahmen bezüglich der Figur von Persephone in: Kratylos entworfen werden konnte, da alle inhaltlichen Motive auf Heraklit

und

auf eine Erkenntnistheorie der körperlichen Wahrnehmung hinweisen, bleibt dic philosophische Dimension von Hades dennoch im Dunkeln. So ist für ein

4 — Rosen 1983, 212. ; — Dazu siehe Cornford 1978", 245. — Wenn man sich speziell auf den Begriff éra« konzentriert, der hinsichtlich der N menserklärung von Persephone auf die Tradition der Atomisten anzuspielen scheint, wii, klar, dass auch in diesem Fall eine reformierte, eine „platonische” Version dieser Lehre νον gestellt wird. Der Begriff, der von der Überlieferung als charakteristisch für Demokrit un. Leukipp (68A48b34 DK= Arist. de gen. et corr. A, 2, 316313; 67A7 DK = Arist. de pen. corr. À, 8, 325b) angesehen wird, scheint ἀφή zu sein. Er bezeichnet die Berührung der an: maren Abdrücke, die aus jedem Gegenstand entstehen, auf den Tastsinn. Die Wahrnehmun; entsteht aus dem Einschlagen der Atome auf den Tastsinn, also aus dem Kontakt (ao ra: ihnen. Die Perspektive der Atomisten steht also außerhalb desjenigen, der die Wahrnehimun. empfindet. Bei Platon hingegen bezeichnet ἐπαφή den Tastsinn der Hand und, im Allgeme: nen, des Körpers. Damit wird eine Vision der Wahrnehmung vom menschlichen Standpunx ausgehend beschrieben. Bei Platon wird ἀφή nur einmal benutzt, um den Tastsinn auszudru cken (Resp. VII, 523e6), normalerweise benutzt er in diesem Sinne ἐπαφή. Auch in der Erzan lung des Fremden von Elea werden die „Giganten“ gleichfalls durch die Aktivitäten tue Hände charakterisiert; siehe dazu: ταῖς χερσὶν [...] περιλαμβάνοντες (Sophist. 24649-10Y; «ict auch ταῖς χερσὶν συμπίεζειν (Sophist. 247c6). Der Gebrauch von ἐπαφή verrät also die int pretative und philosophische Arbeit Platons an der Theorie von Leukipp und Demokrit, inde: er sich diesen Begriff zu cigen macht.

Hades und Persephone

179

gründliche Auslegung dieses Abschnitts ein eingehender Vergleich mit dem Phaidon erforderlich. Eine lange Forschungstradition unterstreicht die starken inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den Themen des Phaidon und denen des Hades-Abschnitts. Schon Heindorf erkannte bedeutende Ähnlichkeiten zwischen Hades, der im Kratylos als Philosoph dargestellt wird und den Verkehr zu den kórperlosen Seelen

sucht

und

der Rolle des

Philosophen

im Phaidon,

der, soweit es ihm

möglich ist, sich jeden körperlichen Umgangs enthalten soll. In jüngerer Zeit betont auch Victor Goldschmidt, dass das Thema der Trennung von Seele und Körper als Voraussetzung für das Wissen ein wesentlicher Bestandteil beider Dialoge ist.'^ Desweiteren lässt sich noch Pierre Boyancés Behauptung hinzufügen, der Abschnitt des Krarylos erinnere an den „mysticisme du Phédon"" Pierre Boyancé hebt diesbezüglich hervor, dass die im Kratylos benutzten Begriffe πτοίησις und μανία, ἢ die die schädlichen Auswirkungen bezeichnen, die durch den Körper an der Scele hervorgerufen werden, ihre Erklärung in der philosophischen Transposition der orphischen κάϑαρσις des Phaidon finden." Das im Phaidon entscheidende Element für die Auslegung der Figur von Hades ist ohne Zwcifel die platonische Umgestaltung der Mysteriendoktrinen, allerdings hat dies den modernen Interpreten schon. immer gewisse Probleme bereitet. Bluck zum Beispiel, der dieser Dimension des Textes viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, schreibt sehr vorsichtig in einem Ergünzungskapitel, in dem er die verschiedenen platonischen Zeugnisse in Bezug auf die „Orphic Mysteries" untersucht hat: „We cannot, then, be quite certain that Plato's references in the Phaedo are to Orphic doctrine, but we have no ground for denying that they could be, and it seems very likely that they are”. Teils sind die Schwierigkciten der Tatsache zuzuschreiben, dass die Mysterien dank neuer archäologischer Funde erst kürzlich klare Konturen annahmen und somit bewiesen werden konnte, dass sie eine eschatologische Dimension besaßen. Auf zwei goldenen, cfeuI$__ Heindorf 1806, 71. Der von ihm zitierte Abschnitt des Phaidon ist: ὁ φιλόσοφος ἀπολύων ὅτι μάλιστα τὴν ψυχὴν ἀπὸ τῆς ToU σώματος κοινωνίας διαφερόντως τῶν ἄλλων ἀνϑρώπων (Phaed. 64e8-65a2). Auch Stallbaum (1835, 105) bezieht sich in seinem Kommentar auf diese Phaidon-Stelle.

!% _ Goldschmidt 1940, 123-124. 17.Boyancé 1941, 161.

!* — Crat. 40435. '9 _ Boyancé 1941, 163-164. Friedlünder (19642, 11, 193) schreibt dazu: „Wird hier [sc. im Kratylos| nicht durch alles mythische und etymologische Spiel hindurch die Welt des Phaidon sichtbar: Reinheit der Seele vom Leibe, Vollendung des philosophischen Strebens im Tode, Tod und Erkenntnis”. Auch Wohlfahrt (1990, 22 und 27-29) führt den Dualismus zwischen Secle und Kórper im Kratylos auf den Phaidon zurück; Baxter (1992, 104-105) sicht darin eine - vielleicht ironische - Anspielung auf die Theorie der Anamnesis, wie sic im Phaidon dargelegt wird.

20 _ Bluck 1955, 196. 2:

180

Die Erkenntnisfrage

fórmigen, auf ca. 300 v. Chr. datierbaren Blättchen, die aus einem Grab aus Pelinna in Tessalien stammen und erst 1987 entdeckt wurden, bezicht man sich explizit auf ein Leben nach dem Tod und identifiziert Bacchius als den Gott, der die Befreiung der Secle vom Körper und ihre Wiedervereinigung mit der Gottheit erlaubt: νῦν ἔϑανες καὶ νῦν ἐγένον. τρισόλβιε. ἅματι τῶιδε. εἰπεῖν Day σ᾽ ἐφόναι σ᾽ ὅτι Βάζκ)χιος αὐτὸς ἔλυσε. κἀπιμένει σ᾽ ὑπὸ γῆν τέλεα ἄσί(σλαπερ ὄλβιοι ἄλλοι."

Vergegenwürtigt man sich die eschatologische Dimension, wird der Denkvor. gang im Phaidon durchsichtig. Dem Versprechen einer jenseitigen Errettuns verbunden mit den Riten zu Dionysos’

Ehren verleiht Platon eine Struktur,

die

zu einem der wichtigsten und am schwersten nachvollziehbaren Punkte seine: philosophischen Architektur gehören: die Trennung — der χωρισμός, wie Aristo teles sie nennt”? -- zwischen dem Ort des Seins (und des Wissens) und dem des Werdens. Das Jenscits der Mysterien, das der Eingewcihte erreichen wird, wenn die Seele von den Sorgen des weltlichen Lebens befreit sein wird, verwandelt

sich im Phaidon in den Ort der Erkenntnis."

Auf den folgenden Seiten werde ich die vielen Ähnlichkeiten der philosophi schen Umgestaltung der Jenscitsvorstellung der Mysterien, so wie sie im Pi don in Erscheinung tritt, mit der Figur des Hades im Kratylos vergleichen. Im ?! — Siehe dazu Burkert 1994", 27-28; der Text der Goldblätichen wurde in Tsantsanoglou

Parässoglou (1987) veröffentlicht.

— Aristoteles sieht gerade in dem χωρισμὸς das charakteristische Element der platonischer Philsophie gegenüber der pythagorcischen Tradition und der Position von Sokrates (Arısı Metaph. M, IV, 1078b30 ff.; siche auch A, VI, 987b31 ff.); siehe dazu Burkert 1962, 514 Zum Gebrauch von χωρίς und χωρισμός als philosophische Begriffe bei Platon siehe 2.83. δ. phist. 24847, Parm. 130b1-5; 130c5-d2; zur Bedeutung der Abschnitte des Parmenides siche Dorter 1994, 27-31. χωρίζειν (Phaed. 6766) erscheint im Phaidon im ersten Teil des Dial; wo Sokrates mit der Umgestaltung der Mysterienstruktur in philosophischem Sinn beschäftigt: ist. Siche auch den wiederholten Gebrauch von χωρίς in 6465-8, der den Zustand des Ge renniseins zwischen der Secle und dem Körper nach dem Tod kennzeichnet. © — Ein ganzes Kapitel des Buches von Dies (19722, 443-449) über Platon ist de: rasposition doctrinale" gewidmet, wie sie Platon im Phaidros und im Phaidon vornimnu Dieser Interpret (19722, 444) glaubt, dass Platon den Orphismus und den Mystizismus meh: nur „en ornement littéraire, mais en doctrine" umgestaltet. Siehe dazu auch Riedweg (1987 der für das Symposion und für den Phaidros zeigt, wie Platon von den Mysterien nicht nur dr bildliche Sprache übernimmt, sondern wie er seine eigenen Gedanken nach ihrer Struktc: formt. Diese Umstellung umfaßt nicht nur die Bilder und die metaphorischen

Ausdrücke.

die

in den Orpheus zugeschriebenen heiligen Texten vorkommen, sondern auch ihre eschatoto; sche Dimension. Platon beschränkt sich also im Phaidon nicht darauf, sich der Mysterien Sprache zu bedienen oder ihre eindrucksvollen Bilder zu benutzen, sondern soweit zu gehen sie Segment für Segment zu übernehmen, auch ihre tiefgründige eschatologische Struktur «ur: zuwenden, um dadurch scine eigenen Gedanken zu gestalten.

|

Hades und Persephone

181

Phaidon wird der mystische Ort, an dem sich die Seelen mit der Gottheit nach dem Tod wiedervereinigen, in einen Ort verwandelt, an dem die einzige Móglichkeit für den Menschen besteht, die vollkommene Erkenntnis zu erreichen. Auf vergleichbare Weise beschreibt der Hades-Abschnitt im Kratvlos eine Vorstellung des Jenseits, in der Hades die Rolle des Philosophen einnimmt, mit den Seclen spricht und ihnen Kenntnisse vermittelt. Bei der Umwandlung der Unterweltgottheit in den Ort der Erkenntnis übernimmt das Thema der δεσμοί sowohl im Phaidon als auch im Kratylos eine wesentliche Rolle, was Parmenides sowie seinem Einfluss auf das platonische Denken zuzuschreiben ist.

Die Jenseitsvorstellung der Mysterien als Ort der Erkenntnis Der Akt der philosophischen Umgestaltung der Mysterienstruktur legt im Phaidon Konturen innerhalb des Textes fest und wird als ,,Apologic" definiert, * da Sokrates sich vor seinen Freunden verteidigen muss, weil er keine Angst vor dem Tod zeigt und sich leicht mit seinem Schicksal, d.h. unter anderem mit dem

Abschied von seinen Freunden, abfindet. Nicht nur dieses Thema (warum sich der Mensch nicht vor den Tod fürchten soll) ist demjenigen identisch, welchem

der Hades-Abschnitt im Kratylos seinen Ursprung gibt, sondern auch die Strategic, die diese Angst bekämpfi — die Gleichsetzung des Jenseits mit dem Wissen - ist dieselbe." Dic ausdrückliche Identifizierung des Jenseits mit dem Ort des Wissens findet im Teil des Phaidon statt, in dem Sokrates von den Gedanken der „wahren Phi-

ML

Phaed. 63b1-84b7. Die Ausdrücke ἀπολογία und ἀπολογεῖσϑαι erscheinen am Anfang

des Abschnitts und grenzen

ihn klar ab; siehe Phaed. 6302, b4-5, d2 und 69c4. Schon

Burnet

(1956?, 27) unterstreicht die narrative Einheit dieses Teils des Phaidon, gefolgt von Bluck (1955, 46) und Dorter (1982, 20-21). Der Anfang des Abschnitts (63b4-64a3) ist stark von der Mystcrienvorstellung gekennzeichnet. Sokrates" Hoffnung, nach dem Tod zu den guten und weisen Göttern (παρὰ ϑεοὺς ἄλλους σοφούς τε xai ἀγαϑούς, 6367) zu kommen und dadurch die μόγιστα ἀγαϑά (6421-2) zu erlangen, soll auf eine Doktrin von jenseitigen Belohnungen und Strafen zurückgeführt werden, die typisch für die Mysterien- Vorstellung ist, welche dem Eingeweihten einen privilegierten Status zuschreibt. Speziell der Ausdruck πάλαι λόγεται bei 63c6 ist cine direkte Anspielung auf geheimnisvolle Doktrinen; siche dazu den Kommentar Burnets (19567) zu 63c6; Bluck 1955, 45, Anm. 1; Loriaux 1969, I, 72. — Crat. 403b4-7. Das Thema der Angst vor dem Tod durchzicht als Leitmotiv den gesamten Abschnitt des Phaidon:

Von den Anregungen

von Simmias (63a4- 10), die dic Diskussion

darüber ins Leben ruft, bis zu Sokrates" Äußerungen über die Unsterblichkeit der Seele (63b59. 61c5-68a3, 6864-6, 6948-13). — In diesem Abschnitt des Phaidon wird die Identifikation des Jenseits mit dem Wissen durch die Umgestaltung der Mysterienvorstellungen durchgeführt. Die Verwandlung der traditionellen Figur des Hades geschieht aber erst später im Phaidon, wo sich die Gleichsetzung von Hades mit der οὐσία beobachten lässı. Siche dazu S. 188ff.

182

Die Erkenntnisfrage

losophen" berichtet." Nachdem die „wahren Philosophen“ erkannt haben, dass es dem Menschen unmöglich sei, die Wahrheit zu Lebzeiten zu erreichen, bliebe nichts anderes übrig, als zwischen zwei Altemativen zu wählen: Entweder wird

die absolute Unmóglichkeit der Erkenntnis erklärt, so dass man in einen totalen epistemologischen Skeptizismus verfällt, oder man verlagert das Wissen an die Grenzen des Lebens, indem man einen Ort (das Jenseits) annimmt, an dem dic Seele imstande sei, das Wissen zu erreichen." Die Beschreibung, wie an diesem

Ort Kenntnisse erworben werden, geschieht dank der Anwendung der Myste. rienvorstellung, die die Wiedervereinigung der Secle mit der Gottheit und die Fortsetzung der Feierlichkeiten im Jenseits verspricht," eine Szene, die sehr an das Zusammentreffen zwischen den körpernlosen Seelen und Hades erinnert, die im Kratylos beschrieben wird. Der Text ist so abgefasst: καὶ οὕτω μὲν καϑαροὶ ἀπαλλαττόμενοι τῆς ToU σώματος ἀφροσύνης. ὡς τὸ εἰκὸς μετὰ τοιούτων τε ἐσόμεϑα καὶ γνωσόμεϑα δὶ ἡμῶν αὐτῶν πᾶν τὸ εἰλικρινές. τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ἴσως τὸ ἀληϑές" μὴ καϑαρῷ γὰρ καϑαροῦ ἐφάπτεσϑαι μὴ οὐ ϑεμιτὸν ἡ.

Jedes Element der Darstellung aus den Mysterien wird in einen philosophischen Gedanken übersetzt: Das Jenseits -- in den Mysterien der Ort der Reinheit — wir mit der Wahrheit (τὸ ἀληϑές) identifiziert, d.h. mit dem Ziel der philosophi schen Suche; das mystische Versprechen, das die Seele nach dem Tod „rein mii den Reinen“ " sein wird, wird als Umgang mit dem Wissen (γνωσόμεϑα) neu ? — Phaed. 66b1-67b2. Die Hoffnung nach der Erkenntnis im Jenseits wird später im PA don (6767-c3, 67c10-68a3) noch bekräftigt.

— εἰ γὰρ μὴ οἷόν τε μετὰ τοῦ σώματος μηδὲν καϑαρῶς γνῶναι. δυοῖν ϑάτερον. 4j οὐδαμει: ἔστιν κτήσασϑαι τὸ εἰδέναι ἢ τελευτήσασιν (Phaed. 66c4-6). ? — Die gleiche Mysterienvorstellung herrschte am Beginn des Phaidon (63b4-c7) vor und taucht später im Dialog (Phued. 69c3-d1) wieder auf. An diesen Stellen wird berichtet, da. die reinen Seelen der Eingewcihten mit den Göttern wohnen werden, während die der Nicht eingeweihten dazu verurteilt werden, im Schlamm des Hades zu verharren. Diese Beschrei bung erinnert an einen Abschnitt der Politeia: Bezüglich Musaios' Texten wird erzählt, dass die Gerechten nach ihrem Tod damit belohnt werden, mit den Heiligen (ὅσιοι) zu speisen. während die Ungerechten dazu verurteilt werden, im Schlamm des Hades zu versinken un: Wasser zu schleppen. West (1983, 23-24) setzt diese beiden platonischen

Abschnitte

mit

der

Eleusischen Mysterien in Verbindung. Siche dazu das bereits erwähnte Goldblüttchen (s 180) aus Pelinna, welches ungefähr auf das Ende des 4. Jh. datiert wird. Hier wird die Beluh nung im Jenseits in der Form einer Weiterführung der Feierlichkeiten der Mysterien zu Ehrer des Dionysos und vor allem in der Wiedervercinigung mit den anderen Scligen (κἀπιμένει c ὑπὸ γὴν τέλεα ἄσ(σγαπερ ὄλβιοι ἄλλοι) dargestellt. Das Bläuchen ist bei Tsantsanoglou., P. rássoglou (1987) veröffentlicht; für eine Analyse siehe Burkert 1994", 27-28. *o— Phaed. 6746-b2. X. — Drei Goldblättchen orphisch-bakkischen Ursprungs (A 1-3 Zuntz), die bei Thurioi ge funden wurden und aus der Mitte des 4. Jh. stammen, bestätigen, dass die beiden Elemente. auf die sich die platonische Umgestaltung stützt - der Zustand der Reinheit der Seele und dus Erreichen eines reinen Ortes, an dem die Reinen wohnen - wieder in die Vorstellungswelt de dionysischen Mysterien einziehen. Alle beginnen mit dem Satz: ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν xa Sep à

Hades und Persephone

183

definiert. In dieser Hinsicht ist eine Besonderheit in der Syntax des Abschnitts zu beachten. Robert Loriaux schlägt vor, μετὰ τοιούτων (sc. καϑαρῶν) als Neutrum und nicht als Maskulinum anzusehen und es auf die reinen Formen zu be-

ziehen." Er übersetzt es demzufolge: „nous vivrons— c'est vraisemblable- en la

compagnie de réalités pures comme nous"." Die dem Text innewohnende grammatische Mehrdeutigkeit ist anscheinend von Platon gewollt; er benutzt sie, um auf den Moment des Übergangs von der Mysterienvorstellung zu seiner philosophischen Neubestimmung hinzuweisen. Auch das mystische Thema der Reinheit der Seele als wesentliche Vorausset-

zung für die jenseitige Rettung des Eingeweihten ist ein weiteres Element, wodurch sich der Phaidon dem Hades-Abschnitt des Kratylos annähert. Ebenso wie im Kratylos so ist auch im Phaidon die von den Übeln und Leidenschaften des

Kórpers befreite Seele die wesentliche Voraussetzung mit Hades und daher für die Erkenntnis." Im Kratylos bolisches Bild ausgedrückt: Die Seele kónnte nicht im wenn sie von der Leidenschaft und dem Wahnsinn des

nicht einmal durch die berühmten Fesseln des Kronos."

für das Zusammentreffen wird es durch ein hyperJenseits gehalten werden, Kórpers beherrscht wäre,

Im Phaidon wird das mystische Thema der Reinheit der Seele explizit auf cinen philosophischen Horizont zurückgeführt und in allen Einzelheiten dargestellt. Der Zustand der Reinheit verwandelt sich für den Philosophen in den Zustand, der die Erkenntnis

ermóglicht.

Nach

den

, wahren

Philosophen"

ist dic

Seele nicht in der Lage, die Wahrheit zu ergreifen, solange sic vom Übel des Körpers durchdrungen ist.“ Die einzige Möglichkeit, das Wissen zu erreichen, besteht darin, die Gemeinschaft mit dem Körper während des Lebens möglichst zu vermeiden und sich in Erwartung der Erkenntnis nach dem Tod rein zu halten." Die Quelle der Verunreinigung, die in den Mysterien entweder als vererbte oder als vom Eingeweihten begangene Schuld betrachtet wird, verwandelt sich im Phaidon in den existentiellen kórperlichen Zustand des Menschen, der den Philosophen an der Wahrheitssuche hindert. Der Kórper verursacht Gefühlsveränderungen, die die intellektuelle Arbeit stóren;" sich vom Körper zu befreien, heißt also, rein werden und den idealen Zustand für den Lernprozess erreichen. χϑονίων βασίλεια; in den Blüttchen A 2 und A 3 (Zuntz) fleht wahrscheinlich die Seele des Toten Persephone an, sie zum Ort der Reinen (ὅδρας ἐς εὐαγέων) zu schicken. Zur Beziehung zwischen diesen Blüttchen und den dionysischen Mysterien siehe Burkert 1994", 38. "__ Loriaux 1969, I, 91-92.

** — Loriaux 1969, I, 206. ML

ἐπειδὰν ἡ ψυχὴ xa9agà, Jj πάντων τῶν περὶ τὸ σῶμα κακῶν xai ἐπιϑυμιῶν (Cra. 4041-2).

5 — Crat. 404a5-7.

^ L— Phaed. 66b5-7. ”_ Phaed. 671-6. M _ ἐρώτων δὲ xai ἐπιϑυμιῶν καὶ φόβων xai εἰδώλων παντοδαπῶν xai φλναρίας ἐμπίμπλησιν ἡμᾶς πολλῆς (Phaed. 66c2-4); siche auch Phaed. 8136-8, 82c3-4, 83b6-c3.

184

Die Erkenntnisfrage

Der Phaidon spricht nicht ausdrücklich vom religiósen μίασμα, aber die verwendete Sprache spielt klar darauf an." Die Tatsache, dass die Seele, wenn sie vom

Kórper getrennt ist, als rein (καϑαρά)

betrachtet wird, impliziert, dass

der

Kórper als die Quelle der Verunreinigung, als μίασμα, angesehen wird. Viele Elemente nähren also den Phaidon dem Hades-Abschnitt im Kratylos an. Was hingegen auf den ersten Blick keine Entsprechung findet, ist das Thema der δεσμοί von Hades, auf die der ganze Abschnitt im Krarvlos beruht. In der Tai fehlt im Phaidon jeder Hinweis auf die Tatsache, dass die Seelen auf irgendeine Weise im Jenseits zurückgehalten werden. Die δεσμοί erscheinen im Phaidon nur als Merkmale des Kórpers, die die Seele an den Kórper fesselt, nie aber als Attribut von Hades. Die δεσμοί im Phaidon Im Phaidon writt das Bild der δεσμοί des Körpers während des letzten Akts der philosophischen Umgestaltung der dionysischen Mysterien in Erscheinung, un zwar wührend der Gleichsetzung der Reinigungsrituale mit der philosophischen Aktivitát." Der Text ist folgendermaßen formuliert:

9 __ Der Ausdruck συμπεφυρμένη |...| ἡμῶν ἡ ψνχὴ μετὰ τοιούτου κακοῦ |sc. ToU σώματος] (Phaed. 66b5-6) regt, wie Burnet (19567. Anm. zu 66b5) anmerkt, das Gegenteil van xaSagorra;ra, (6567) an. Das Verb φύρειν lüsst im Text das Bild des Blutes aufleuchten, dur die Seele durchtränkt. Dasselbe Bild wird später vom Ausdruck μηδὲ ἀναπιμπλώμεϑα τῆς τούτου |sc. τοῦ σώματος] φύσεως (Phaed. 6724-5) wieder aufgenommen. Das Thema de: durch den Körper verunreinigten Seele taucht im Verlauf des Textes explizit wieder aut [sc ψυχὴ] μεμιασμένη xai ἀκάϑαρτος Tov σώματος (81b1-2). Zum Thema des μίασμα, in dc; griechischen Religion siche das Buch von Parker (1983), das ausschließlich diesem Argument gewidmet ist. — Was eine Reinigungs- und Einweihungspraxis in den Mysterien war, dic es dem Men. schen erlaubte, den nötigen Zustand für die jenseitige Errettung zu erlangen, wird hier durch die Tütigkeit des Philosophierens ersetzt. Wie Parker (1983, 282) bemerkt, nimmt die intel lektuelle Aktivität im Phaidon die kathartische und rettende Funktion des Wassers, der Fac: und des Schweinblutes bei den Reinigungsritualen cin; siehe dazu auch Burkert 1962. 1.43 Was in diesem Abschnitt vorgeschlagen wird, ist eine Lebensform, die nach einer jenseiti gen Belohnung strebt. Darin haben viele Wissenschaftler eine Anspielung auf den πυϑα γόρειος τρόπος ToU βίου gesehen; siehe dazu Loriaux 1969, I, 109-111; Parker 1983, 282-283. Natui lich lassen sich in einen solchen kulturellen Horizont auch andere Autoren einfügen: Empe dokles zum Beispiel mit seinem Interesse für dic καϑαρμοί, Heraklit und wahrscheinlich auct: Pherekydes, auch wenn es schwierig ist, ihren Einfluss auf Platon genau zu beurteilen, da uns ihre Gedanken nur in einer fragmentarischen Form vorliegen. Zur Rolle und Bedeutung uc: eschatologischen und mystischen Doktrinen bei diesen Autoren siehe die Analyse von Sc. ford 1986, 10-20. In diesem Kontext scheint aber Platons Originalität darin zu bestehen, dass die intellektuelle Tätigkeit als cigentlicher Reinigungsakt betrachtet wird, der die Seele ac: das Jenseits vorbereitet; siehe dazu Burkert 1962, 145.

Hades und Persephone κάϑαρσις δὲ εἶναι ἄρα. οὐ τοῦτο συμβαίνει, χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ à τοῦ σώματος τὴν πανταχόϑεν ἐκ τοῦ σώματος συναγείρεσϑαί τὸ δυνατὸν καὶ ἐν τῷ νῦν παρόντι καὶ ἐν τῷ ὥσπερ δεσμῶν ἐκ τοῦ σώματος:

àὅπερ πάλαι ἐν τῷ λόγῳ ψυχὴν καὶ ἐϑίσαι αὐτὴν τε καὶ ἀϑροίζεσϑαι. καὶ ἔπειτα μόνην καϑ᾽ αὑτὴν.

185 λέγεται. τὸ καϑ' αὑτὴν οἰκεῖν κατὰ ἐκλυομένην

Zunächst wird die philosophische Katharsis mit Hilfe des Verbs χωρίζειν als Trennung der Seele vom Körper bestimmt. Die Erklärung dieses Ausdrucks findet sich wenige Zeilen später, wo der Tod durch die Worte λύσις und χωρισμός definiert wird." In der Mysteriensprache bezeichnet λύσις die Befreiung vom Leiden des täglichen Lebens, sei es durch den Tod, sei es durch die Reinigungsriten während des Lebens." Darauf folgt dic Beschreibung der intellektuellen Aktivität im Sinne einer mystischen Erzählung der Mysterien über die Seelenwanderung ins Jenseits. Durch den Akt der Konzentration und Introjektion (αὐτὴν καϑ᾿ αὑτὴν πανταχόϑεν ἐκ τοῦ σώματος συναγείρεσϑαί Te καὶ ἁϑροίζεσθαι)" übt der Philosoph seine Fähigkeit, die Seele vom Körper zu trennen, so wie jeder einzelne Reinigungsakt bei den Riten der Mysterien cine Vorwegnahme der endgültigen Befreiung und der Reise ins Jenseits darstellt. Es folgt die abschließende Phase der intellektuellen Übung, die die Secle unabhängig von jeder körperlichen Unterstützung ausführt, so als würde die Seele ganz alleine für sich wohnen. Der Gebrauch des Verbs οἰκεῖν im Text evoziert den von den Mysterien versprochenen Aufenthalt des Eingeweihten in der Nähe der Gótter. Wenig später wird im Phaidon auf ähnliche Weise daran erinnert.'*

Die wichtigste Anspielung auf dic Mysterienvorstellung, die durch die Formel ὅπερ πάλαι ἐν τῷ λόγῳ λέγεται “7 eingeführt wurde, ist — wie Bluck zu Recht

3! — Phued. 67c5-d2. 2. οὐκοῦν τοῦτό γε ϑάνατος ὀνομάζεται. λύσις xai χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος (Phaed. 6744-5); siehe auch 6747, 9. 3^ — Siehe dazu Phaedr. 224 und Resp. M, 365a. Der gleiche Sprachgebrauch findet sich bei Pindar: ὄλβιοι δ᾽ ἅπαντες αἴσᾳ λυσιπόνων τελετᾶν (Pind. Frag. 131a). Zum Thema der „Befrciung" als Ziel der dionysischen Mysterien siehe Burkert 1994", 28, 30 und 1996, 118-119. — Hackforth (1955, 52, Anm. 3) beobachtet, dass Platon in diesem Abschnitt beinah dic Prüsenz einer vitalen Kraft im Kürper voraussetzt, nümlich die Seele, die sich im Moment der intellektuellen Konzentration aus dem Körper zurückzicht und in sich selbst versenkt. 35. οἰκεῖν [...] μόνην xa9' αὑτήν (Phaed. 6709-41). ὁ μετὰ Sev οἰκήσει (Phaed. 69c7); siehe auch die Definition des Todes als μετοίκησις in der Apologie (4069). 7 Phaed. 67c5-6. Diese Formulierung bezeichnet bei Platon gewöhnlich die dem Orpheus zugeschriebenen ἱεροὶ λόγοι; siehe Burnet 19567, Anm. zu 67c5; Bluck 1955, 52, Anm. I, und vor allem die Diskussion von Loriaux 1969, I, 93; gegen die inhaltliche Verbindung dieses Abschnittes des Phaidon mit den orphischen Texten wenden sich Hackforth 1955, 52, Anm. 2 und Galopp 19832, 227, Anm. 11.

186

Die Erkenntnisfrage

hervorhebt'* — in all ihrer plastischen Kraft im Bild der Ablósung der Seele vom

Körper enthalten, als ob sie sich aus Fesseln befreie: [sc. τὴν ψυχὴν] ἐκλνομόνην ὥσπερ δεσμῶν ἐκ τοῦ σώματος. 3

*

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.

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49

Zur Unterstützung der These, die dieses Bild mit den Mysterien verbindet, zitiert Bluck jenen Abschnitt im Krarylos, in dem die orphische Doktrin ausdrücklich

den Körper als Gefängnis (δεσμωτήριον) deutet.” Dasselbe Bild findet sich darüber hinaus in einem anderen Abschnitt des Phaidon, in dem Sokrates auf die geheime Doktrin hinweist, nach der sich der Mensch in einer Art Gefängnis (φρουρά) befindet, aus dem er nicht flichen darf."

Wie im Kratylos zeigt sich also auch im Phaidon das Thema der δεσμοί mit. tels verschiedener metaphorischer Ausdrücke." Die δεσμοί des Kórpers kónnen im Phaidon

folgendermaBen

verstanden

werden:

1. als

Ketten

innerhalb

des

mystischen Bildes vom Körper als Gefüngnis;" 2. als Zaubersprüche; das wo. schieht, weil cinige Wörter (xatadeouoi, καταδέσεις, καταδεῖν), die cine magi. sche Handlung ausdrücken, dicselbe Wurzel besitzen, dic auch im δεσμός vor.

** — Bluck 1955, 52, Anm. 1. 9 — Phaed. 6741-2. Dieses Bild taucht noch an anderen Stellen des Dialogs auf: ψυχὴν |. : διαδεδεμένην ἐν τῷ σώματι καὶ προσκεκολλημένην (8201-2); καταδοῖται ψυχὴ ὑπὸ GLO, zc, 83d1-2); siehe auch 8425; 9241. " — Bluck 1955, 52, Anm. 1. Die Erklärung des Wortes σῶμα im Kratylos (400c4-7; lautet δοκοῦσι μέντοι μοι μάλιστα ϑέσϑαι oi ἀμφὶ Ὀρφέα τοῦτο τὸ ὄνομα. ὡς δίκην διδούσης τῆς ψυχῆς ὧν δὴ ἕνεκα δίδωσιν, τοῦτον δὲ περίβολον ἔχειν. ἵνα σῴζηται. δεσμωτηρίου εἰκόνα. 7i. diesem Abschnitt siehe die Aufsätze von de Vogel 1981; Ferwerda 1985 und Bernabé 1994. 8 l6 μὲν οὖν ἐν ἀπορρήτοις λεγόμενος περὶ αὐτῶν λόγος. ὡς ἕν τινι φρουρᾷ ἐσμε: κυ. ἄνθρωποι καὶ οὐ δεῖ δὴ áavróv ἐκ ταύτης λύειν οὐδ᾽ ἀποδιδράσκειν (Phaed. 6262-5), Mur kónnte vermuten, dass sich die φρουρά des Phaidon und das δεσμωτήριον des Kratvlos au: denselben Kern der orphischen Erzählungen bezichen, dic Platon kannte und die von der Sec le sprachen, die zur Bestrafung für irgendeine schwere Schuld im Körper eingekerkert ist. Zu einer möglichen Beziehung zwischen den beiden Abschnitten der platonischen Dialoge siche Bluck 1955, 195-196 und Loriaux 1969, 1, 59-63; zur Herkunft dieses Bildes aus einen 1 orph, schen Gedicht siehe West 1983, 21 und 264 und Burkert 1994", 15-16. S2 __ Siehe dazu den Kommentar zu Crat. 403c2 (δεσμός) auf S. 93tf. Im Timaios wird die selbe Terminologie in wissenschaftlichem Sinn umgedeutet. Die Fesseln, die die Seele um Körper festhalten, symbolisieren das Prinzip des Lebens, das den Menschen an seine: körperlichen Zustand bindet. Siche: oi γὰρ τοῦ βίον δεσμοί, τῆς ψυχῆς τῷ owma-; συνδουμένης. ἐν τούτῳ (sc. uveAdo| διαδούμενοι κατερρίζουν τὸ ϑνητὸν γένος (Tim. 733.5... siehe auch Tim. 7345-7. ' — Siehe Pliaed. 6262-5; 82d9-c7. Dieses Bild taucht auch in der Behauptung von Sokr.uten (Phaed. 62b6-c8) auf, dass die Menschen, die nichts anderes sind als κτήματα, der Gotter. nicht das Recht haben, die Ketten des Gehorsams abzuwerfen. Auf der Ebene der dramati schen Darstellung des Dialogs wird dasselbe Thema in der Szene (Phaed. 5926-6007) wiede. aufgenommen, in der Sokrates im Kerker von den Ketten befreit wird.

Hades und Persephone

187

kommt; 3. als bildliche Darstellung eines psychischen Zustandes, und zwar all

derjenigen Verwirrungen der Seele, die der Körper hervorruft.

Beide, sowohl die δεσμοί des Kórpers im Phaidon als auch die δεσμοί des Hades im Kratylos, erfüllen dieselbe Funktion: Die Seele soll an einem bestimmten

Ont, bald im Kôrper, bald im Jenseits, festgchalten werden. Beide Orte sind von einer entgegengesetzten Charakterisierung gekennzeichnet: Das Jenseits wird mit dem Ort der Erkenntnis identifiziert, der Kórper wird hingegen als Hindernis für den Lernprozess beschrieben; durch eine kräftige Metapher wird der Kórper im Phaidon sogar als der Ort der Unkenntnis bezcichnet: xai [sc. ψυχὴν] ἐν πάσῃ ἀμαϑίᾳ [sc. ἐν Tip σώματι. siche 8262] κυλινδουμένην. δ

Das einzige in dieser Hinsicht abweichende Element zwischen beiden Dialogen ist also die Tatsache, dass die δεσμοί im Phaidon als Attribute des Kórpers, im Kratylos hingegen als Attribute von Hades auftreten. Wenn aber die Figur von Hades im Phaidon einer sorgfältigen Analyse unterzogen wird, geht aus dem Text deutlich hervor, dass das semantische Feld, das sich um den Begriff „Binden“ dreht, auch das Jenseits und nicht nur den Körper einschließt. Durch eine tiefgehende philosophische Ausarbeitung der traditioncllen Figur der Unterweltgottheit wird Hades im Phaidon zur bildhaften Darstellung der οὐσία, der die Eigenschaft der Unauflösbarkeit zugeteilt wird. Diese Eigenschaft - die Unmóglichkeit,

gelóst, aufgclóst,

zerstórt zu werden

— erweist

sich für

meine These als entscheidend, weil sie, auch verneinend, das Bild des „Bindens", der δεσμοί impliziert. Es handelt sich — wie wir bald sehen werden - um

eine Eigenschaft, die Platon aus dem Bild der δεσμοί als Merkmale des parmenideischen ὅν übernimmt und auf die οὐσία überträgt. In diesem Sinne ähnelt sich in beiden Dialogen die Figur von Hades stark: Die im Kratylos beschriebene Jenscitsszene zeigt Hades, der die Seelen an sich bindet, wobei der Akzent hauptsáchlich auf die Qualität der Fesseln bzw. auf ihre Festigkeit gelegt wird, im Phaidon ist das Jenseits, das mit der οὐσία identifiziert wird, mit der Seele verbunden, so dass beide unauflósbar und deshalb unsterblich sind.

M γοητευομένη [sc. ψυχὴ! ὑπ᾽ αὐτοῦ |sc. σώματος] ὑπὸ Ta τῶν ἐπιϑυμιῶν καὶ ἡδονῶν {Phaed. 8163-4). Die Philosophie als μαλότη ϑανάτου (81a2) ist für den Menschen die einzige Möglichkeit, diesen Zauber zu bannen: ἀλλὰ χρὴ |...] ἐπάδειν αὐτῷ ὁκάστης ἡμέρας ἕως ἂν ἐξεπάσητε (Phaed. 7769-10). 9* — Siche z.B.: πλάνης xai ἀνοίας xai φόβων xai ἀγρίων ἐρώτων καὶ τῶν ἄλλων κακῶν τῶν ἀνθρωπείων ἀπηλλαγμένῃ [sc. ψυχῇ] (Phaed. 8146-8); siehe auch 8203-4, 83b5-7. Wic von Gallini (1960, 542) angemerkt, kommt dieses Motiv schon bei Pindar vor: (λύει) δυσφόρων σχοινίον μεριμνᾶν (Pind. Frag. 248 Schroeder). Zur Frage, welche psychische Realität sich hinter diesem Symbol verbirgt, siehe Gallini 1960, 536-549. T — Phaed. 8204-5; siehe dazu noch: ἀπαλλαττόμενοι τῆς τοῦ σώματος ἀφροσύνης (Phaed 6147).

138

Die Erkenntnisfrage

Die Figur von Hades im Phaidon Wie bereit dargelegi!" verwandelt sich das Jenseits zu Beginn des Phaidon dank der intensiven Umarbeitung der Mysterienvorstellungen in den Ort des Wissens und der Erkenntnis, wodurch dem Philosophen das Ziel seiner intellektuellen Forschung gesichert wird. In diesem Fall konzentriert sich die Umgestaltung des Jenseits auf eine anonyme Vorstellung aus den Mysterien, die nur durch das Adverb ἐκεῖ oder den Ausdruck παρὰ ϑεούς angezeigt werden." Hades als Gouheit oder als konkrete Darstellung des Jenseits erscheint nur in seiner traditioncl-

len Funktion als Ort der Verurteilung und der Bestrafung und übernimmt keine sonderliche philosophische Bedeutung.” Erst nach diesem Abschnitt, der als ei ne ,,Apologie" bezeichnet wird,“ rückt Hades ins Zentrum der platonischen Un tersuchung," wobei er nicht nur die Funktion des Ortes des Wissens einnimmt.

sondem auch die Qualität des Seins gewinnt und sich somit mit dem platoni schen οὐσία identifizieren lässt. Dieser Teil des Phaidon, der eine dreigeteilte Beweisführung zur Unsterblichkeit der Seele enthält, ** beginnt programmatisch

mit den Worten: Σκεψώμεϑα δὲ αὐτὸ τῇδέ πῃ. eir ἄρα ἐν Ἅιδον εἰσὶν αἱ ψυχαὶ τελευτησάντεω: τῶν ἀνθρώπων εἴτε καὶ ov. M

37 Siehe S. 181ff. über den Abschnitt des Phaidon 63b1-84b7. 96 iei: Phaed. 6441. 6708: ἐκεῖσε: 68a1; ἐκεῖ: 68b4; ἐκεῖσε: 60d5; ἐκεῖ: 692: παρὰ ἄλλους σοφούς τε καὶ ἀγαϑούς: 6307. c2: μετὰ τοιούτων |sc. Sea]: 678.

Se:

$9 — In seiner traditionellen Darstellung erscheint Hades als der Ort der Toten in diesem Ab schnitt nur ein einziges Mal (Phaed. 6845) und er wird nicht von der philosophischen V et

wandlung beeinflusst. An einer anderen Stelle (Phaed. 6965-6) erscheint Hades als Ort den Schmerzen und der Strafc. "an Siehe dazu S. 181, Anm. 24. — Dorter (1982, 21) schreibt in Bezug auf die Rolle des Hades im Phaidon:

„Here

to

the

traditional religious conception is supplanted by a philosophical revision of it, with Hades now representing, as the context shows, the invisible, intelligible realm of pure thought, ne:

the visible but inaccesible land of which Homer wrote." Zur Figur von Hades im ῥῆμά; schreibt Wohlfahrt (1990, 25): „Hades ἃ l'Invisibile per eccellenza,€ intelligente,à dio e m

ció immortale: vi ἃ dunque congruenza tra il dio Hades e le realtà che successivamente (1031 assumeranno il nome tecnico di εἴδη." Schefer (1996, 163) sieht die Beziehungen zwischer der Figur von Hades im Phaidon und der Auslegung des Namens von Hades im Krarvlos un: behauptet: „dazu kommt, dass die Etymologie in Kratylos letztlich denselben Gott beschw or: wie der Phaidon“, Gott, der nach Schefer mit dem „Reich der Ideen" zu identifizieren sei — Phaed. 1064-8142. Für die Unterteilung dieser langen Argumentation in drei Abschnitic übernehme

ich die von

Loriaux

(1969,

I, 117.

132,

163) benutzte Terminologie,

auch

wenr

meine eigene Textunterteilung nicht genau mit derjenigen dieses Autors übereinstimmt: Tei

(70c4-72d10):

,l'argument

des contraires";

Teil

2 (7261-7849):

„argument

de

réminiscence"; Teil 3 (78210-81a2): l'argument de l'affinité de l'âme avec les objets de i.

pensée". — Phaed. 7004-5.

.

Hades und Persephone

189

Wie Kenneth Dorter mit Recht betont, impliziert dieser Satz über die Unsterb-

lichkeit der Seele hinaus auch die Existenz des Hades selbst mit allem, was dazugchört.“ Die Beweisführung endet mit einem eschatologischem Mikromythos über das Schicksal der Seele nach dem Tod, der eindrucksvoll mit der Gleichsetzung der mythischen Figur von Hades und dem Ort des Seins und des Wissens in folgenden Worten schließt: Ἡ δὲ ψυχὴ ἄρα. TO ἀιδές. τὸ εἰς τοιοῦτον τόπον ἕτερον οἰχόμενον γενναῖον καὶ καϑαρὸν και ài. εἰς Ἅιδου ὡς à ἀληϑῶς. παρὰ τὸν ἀγαϑὸν καὶ φρόνιμον ϑεόν, ol, ἂν ϑεὸς ϑέλῃ, αὐτίκα καὶ τῇ ἐμῇ ψυχῇ ἱτέον. s

Die hier beschriebene Szene greift auf den traditionellen Mythos der Seelenwanderung in die Unterwelt zurück, Hades aber steht nicht mehr allein für dic traditionelle Unterweltgottheit, er wurde vorher ciner philosophisch oricntierten

Neubestimmung unterzogen, dic ihn zur bildhaften Schilderung der οὐσία, dem Ort des Seins und des Wissens umwandelte. Die Überlappung zwischen der Gottheit und dem von ihr vertretenen Ort wird durch die Verwendung einer griechischen Redewendung (εἰς Ἅιδου, eigentlich „ins Haus des Hades") ermöglicht, die die Funktion des Ortes auf den Gott Hades projiziert. Die philosophische Verwandlung der Figur von Hades ergibt sich durch die Ausnutzung der lautlichen Nähe zwischen dem Adjektiv ἀιδές, das dem Ort (τόπος) zugeschricben wird, und dem Namen des Gottes (Ἅιδης). Durch cin Verfahren, das stark an die Untersuchung der Gótternamen im Kratylos und allgemein an die Allegorese erinnert, lässt sich im Namen

des Gottes (Ἅιδης) der Wesenszug der Un-

sichtbarkeit (ro ἀιδές) wahrnehmen. Unmittelbar darauf weist Platon mit dem Zusatz παρὰ TOv ἀγαϑὸν xai φρόνιμον Seóv^ auf die Identifikation zwischen dem Ort des Seins und dem Gott der Unterwelt hin.* Später vereinigen sich dicse beiden Ausdrucksebenen deutlich, sowohl die traditionelle als auch die philosophische, mit dem Satz: (sc. vorn), εἰς τὸ ὅμοιον αὑτῇ τὸ ἀιδὲς ἀπέρχεται. TO Yeiov τε xai ἀϑάνατον xai φρόνιμον.

Die Scele geht zu cinem On, der durch drei Adjektive φρόνιμον) bezeichnet wird, die sowohl zur οὐσία gchóren, als der Unterwelt gecignet sind. In diesem Fall richtet sich Platons Aufmerksamkeit auf den Unsichtbarc (τὸ ἀιδές) ist die Seele, die zu einem Ort geht, der

(ϑεῖον, ἀϑάνατον. auch für den Gott Begriff ἀιδές: Das ebenso unsichtbar

^! — Dorter 1982, 34. — Phaed. 8095-8. — Auch an anderen Stellen des Phaidon, an denen die Anspiclung auf dic Namenserklirung des Gottes vorkommt, tritt diese Zweideutigkeit 2utage: ἡ τοιαύτη ψυχὴ βαρύνεταί τε xai ἔλκεται πάλιν εἰς τὸν ὁρατὸν τόπον φόβῳ τοῦ ἀιδοῦς τε xai Ἅιδου (Phaed. 81c9-11). "7 _ Phaed. 814-5.

190

Die Erkennmisfrage

(18%) ist wie sie, sie geht zum Ort des Unsichtbaren (eis "Aidov). Auf den vo: rangegangenen Seiten übernahm das Adjektiv ἀδιάλυτον dieselbe verbindende Funktion

zwischen

der Secle

und

ihrem

Aufenthaltsort

nach

dem

Tod

-- die

οὐσία — wie das Adjektiv ἀιδές, so dass dadurch die Unauflôsbarkeit, d.h. die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wurde.

Die Verwendung

dieses Adjektivs

-

ἀδιάλντον — stellt einen wichtigen Wendepunkt zwischen den von unserer Ana lyse verglichenen Szenen - zwischen der mythischen Darstellung des Hades im Kratylos, der die Scelen durch seine unlósbaren Binden an sich bindet und «ei philosophischen Beschreibung der οὐσία im Phaidon, ein Ort, der unlósbar wc die Seele ist, dar. Platons Übersetzungsarbeit wird aber erst verstándlich, wenn das Thema des unauflósbaren Bindens der δεσμοί von Hades im Krarvlos sowie

der unauflósbaren οὐσία im Phaidon als Bearbeitung des Themas der δεσμοί εἰς: ὄν im Parmenides erkannt wird. Erst dann lässt sich das Umwandlungsverfahren einer mythischen Vorstellung als philosophische Akt verstehen.

Die Unauflösbarkeit der οὐσία im Phaidon

Bei der dritten und letzten Beweisführung über die Unsterblichkeit der Seele, die das „Argument der Affinitát" zwischen dem

ΕΠ

ἜΠΗ

tand

(der

für

Pla.

ton der οὐσία gleich ist) und dem Erkenntnisorgan (der Scele) darlegt, schreitei die Argumentation von Sokrates fort, indem das Prädikat der Unauflósbark eit. d.h. die Unsterblichkeit des Erkenntnisgegenstands, auf das Erkenntnisorg:san projiziert wird: Σκόπει δή. ἔφη. ὦ Κέβης. εἰ ἐκ πάντων τῶν εἰρημένων τάδε ἡμῖν συμβαίνει. τῷ μὲν ϑείῳ καὶ ἀϑανάτῳ καὶ νοητῷ καὶ μονοειδεῖ καὶ ἀδιαλύτῳ καὶ ἀεὶ ὡσαύτως κατὰ ταὐτὰ ἔχοντι ἑαυτῷ ὁμοιότατον εἶναι ψυχή."

Mit der zwcifachen Behauptung, dass das Sein einerseits unauflósbar und ande rerseits dic Scele dem Sein ähnlich ist, gelang es Sokrates zu beweisen, d UNS auch die Scele unauflósbar und deswegen unsterblich ist. Diese Argumentation von Sokrates beginnt einige Seiten Zuvor mit der Be schreibung der ovoia als Erkenntnisziel durch den expliziten Rückgriff auf jenen Teil am Anfang des Dialogs, wo - wie wir schon gezeigt haben - die οὐσία Vorstellung durch die Bearbeitung des parmenideischen öv entwickelt wurde. indem sie mit dem Status der Selbständigkeit und der Selbstbezüglichkeit aus gestattet wurde. Jetzt bei weiterer Bestimmung scheint der Philosoph auf die

"δ" e Phaed. 80410-b3. — Die Ausdrücke, die sich auf den vorhergehenden Abschnitt (Phaed. 6544-66410) bezw hen, lauten: Ἴωμεν δή. ἔφη. ἐπὶ ταὐτὰ ἐφ᾽ ἅπερ ἐν τῷ ἔμπροσϑεν λόγῳ (Phaed. 78. 10. U: und οὐκοῦν καὶ τόδε πάλαι ἐλέγομεν (79c2). Zu den Beziehungen zwischen der platonischez οὐσία und dem parmenideischen ὅν siehe S. 170ff.

Hades und Persephone

191

selbe Art fortzufahren und schreibt die Prädikate des parmenidcischen ov der οὐσία zu:” αὐτὴ ἡ οὐσία ἧς λόγον δίδομεν. τοῦ εἶναι καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι πότερον ὡσαύτως ἀεὶ ἔχει κατὰ ταὐτὰ 5 ἄλλοτ᾽ ἄλλως: αὐτὸ τὸ ἴσον. αὐτὸ τὸ καλόν. αὐτὸ ἕκαστον ὃ Eatı , τὸ Ov, μή ποτε μεταβολὴν καὶ ἡντινοῦν ἐνδέχεται: ἢ ἀεὶ αὐτῶν ἕκαστον ὃ ἐστι. μονοειδὲς ὃν αὐτὸ xa9' αὑτό. ὡσαύτως κατὰ ταὐτὰ ἔχει καὶ οὐδέποτε οὐδαμῇ οὐδαμῶς ἀλλοίωσιν οὐδεμίαν ἐνδέχεται:

Vor allem einige sprachliche Elemente können zur Überlegung veranlassen, dass es in diesem Abschnitt wiederum cine bewusste und deutlich erkennbare Wicderaufnahme der parmenideischen Gedanken gibt. Nachdem Platon charakteristische Ausdrücke seiner philosophischen Sprache (οὐσία, αὐτὸ TO ἴσον, αὐτὸ τὸ καλόν und αὐτὸ ἕκαστον 0 ἐστι) benutzt hat, führt er die parmenideische Formel

τὸ ὄν ein, als ob er eine Verpflichtung gegenüber Parmenides unterstreichen wolle. Mittels der Formel μονοειδές („aus einer einzigen Form“), die in sich die grundlegende Entitát der platonischen Philosophie (εἶδος) enthält,” scheint der

Philosoph das parmenideische Adjektiv μουνογενές („aus einer einzigen Art") oder nach einer anderen Lesart μουνομελές („aus einem einzigen Teil bestchend“) 7 auszuarbeiten. Auch die Idee, dass die Identität des Seins in all seinen Erschcinungslormen mit dem Problem der Bewegung eng verbunden ist, scheint Platon von Parmenides geerbt zu haben. Im Phaidon- Abschnitt behauptet er nämlich, dass das Gleiche an sich, das Schóne an sich, all das, was nur „an sich" ist, frei von jeder Art

von Bewegung, demnach also auch frei von jeder Art der räumlichen, zeitlichen und qualitativen Veränderung (μεταβολή. ἀλλοίωσις) ist. Dies geschieht mit 70

.

.

.

.

.

.

.

^

.

— Hiermit wiederholt Platon cine Vorgehensweise, die alle Wissenschaftler und Philosophen nach Parmenides ausgeführt hatten. Zur Rezeption des Parmenides von Seiten der Vorsakratiker siche Solmsen 1971, 63([.; Teloh 1981, 236. Anm. 55; Coxon 1986, 22-29. ?! — Hier folge ich Kahns Vorschlag (1973, 420-434), was die Akzentuierung von ἐστί betrifft; siche dazu dic ausführliche Diskussion des Problems auf S. 64-65.

"? — Phaed. 78d1-7.

”° — Zum Ausdruck μονοειδές schreibt Hackforth (1955, 81, Anm. 2): It has the same force as πᾶν ὁμοῖον which Parmenides asserts of his £v ov viz. the denial of intenal difference or distinction of unlike parts". 4 _ Frag. 28B8, 4 DK. μουνογενές wird von Tarán (1965, 82, 88-93), Mourelatos (1970, 95) und Heitsch (1991, 24) übernommen. 7 _ μουνομελές wird von Gallop (1984, 64) übernommen; οὐλομελός kommt bei 28B8. 4 DK und bei Casertano (1989?,

18) vor.

?^ _ Zu diesem ausgedehnten Konzept der Bewegung (κίνησις), das jede Art von Veränderung des Gegenstandes mit einschließt, siche den Abschnitt der Nomoi (Leg. X. 893b6804ς8). in welchem die zehn möglichen Bewegungen aufgezählt werden. Neben den Bewegungen im Raum (Kreisbewegung, Bewegung von On zu Ort mit einem Zentrum, Bewegung von Ort zu Ort mit mehreren Bewegungszentren) gibt es die Zusammenfügung, die Zerglicderung, die Vermehrung, die Verringerung, die Zerstörung, die von außen hervorgerufene Bc-

192

Die Erkenninisfrage

denselben Modalitáten, mit denen Parmenides beim ὄν vorging. Um solche thematische Abhängigkeit zwischen Parmenides und Platon zu beweisen, ist es an

dieser Stelle angebracht, einige Verse des Gedichts von Parmenides über das ὅν zu zitieren: αὐτὰρ ἀκίνητον μεγάλων ἐν πείρασι δεσμῶν &cTiy ἄναρχον ἅπαυστον. ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεϑρος τῆλε μάλ᾽ ἐπλάγχϑησαν. ἀπῶσε δὲ πίστις ἀληϑής. ταὐτόν τ᾽ ἐν ταὐτῷ τε μένον xaS' ἑαυτό τε κεῖται χοὕτως ἔμπεδον αὖϑι μένει. κρατερὴ γὰρ ἀνάγκη πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει. τό μιν ἀμφὶς ἐέργει. οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν ϑέμις εἶναι.

Durch das Bild der Fesseln drückt Parmenides einerseits das Problem der Identität des ὄν von einem physischen, andrerseits von einem logischen Gesichtspunki aus. Die Fesseln machen das ov unbeweglich und damit ist es an keiner zeitlichen und generativen Veränderung beteiligt. Darauf gründen sie seine Selbsibezüglichkeit und Autonomie.

Wic

Barbara Cassin

richtig bemerkt,"

lassen

sich

die Fesseln als Attribute des ὄν in zwei Typen unterscheiden: Zunächst wird die Stillegung des ov innerhalb der physischen Grenzen beschrieben - in diesem Fall erscheinen die durch die Fesseln gesetzten Grenzen im Plural (μεγάλως; c πείρασι δεσμῶν) — daraufhin folgt die logische Selbstbeschrünkung des ὄν, die ihm notwendig ist, um seine Identität zu bewahren -- und dieses Mal erscheini die logische Grenze im Singular (πείρατος ἐν δεσμοῖσιν). Die δεσμοί des oy, die die Bewegung im Raum (ἀκίνητον), die Beteiligung an der zeitlichen Dimension (ἄναρχον, ἄπαυστον) und an jeder gencrativen Verwandlung (ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεϑρος / τῆλε μάλ᾽ ἐπλάγχϑησαν) verhindern, verwandeln sich bei Platon in ein Attribut der οὐσία, in das Adjektiv ἀδιάλυτον, das sich als wesentlich bei der Beweisführung über die Unsterblichkeit der Seele erweist.

Auf ähnliche

Weise

verwandelt sich bei ihm auch die Formulierung des Eleaten — ταὐτόν τ΄ ;. ταὐτῷ τε μένον —, die aber immer noch cine räumliche Dimension verrät, in ci. nen eindeutigen Ausdruck logischer Identität (ὡσαύτως ἀεὶ ἔχει κατὰ ταὐτὰ. Schließlich wird die parmenideische Bezeichnung der Unabhängigkeit und de Selbstbezüglichkeit des ὄν (xa9' ἑαυτό re κεῖται) im platonischen Dialog in ci. nen technischen Ausdruck übersetzt, der die Selbstbezüglichkeit des Seins (αὐτὸ xa3' αὑτό) anzeigt. Das Schlüsselkonzept der Unauflósbarkeit der οὐσία fügt sich also natürlich in das weite semantische Feld des Phaidon cin, das durch das Bild des „Bindens“ polarisiert wird. Zuerst tritt es durch das Zurückgreifen auf die Mysterienvortel wegung und jene Bewegung. die als wahre Veränderung und Bewegung aller Dinge bezeich net wird, die Selbstbewegung. m ἐστίν an Stelle von ἔστιν ist die Version von Coxon (1986, 69). D — Frag. 28B8, 26-32 DK. — Cassin 1987, 167.

Hades und Persephone

193

lung auf, die die Seele so beschreibt, als ob sie im Kórper gefesselt wäre und als ob der Tod die Auflósung jener kórperlichen Fesseln sei. Spáter im Dialog wird dasselbe Bild verwendet, um den zusammengescetzten und zur Auflösung verurteilten Körper der Seele und dem Sein gegenüberzustellen, da beide unauflósbar und aus diesem Grund unsterblich sind. Das Thema des Bindens scheint zwischen beiden Vorstellungen, derer sich Platon im Phaidon bedient, zwischen der Mysterien- Vorstellung des Körper-Gefängnisses und der von parmenideischen Themen inspirierten οὐσία- Vorstellung eine Brücke zu schlagen. Die δεσμοί des Kórpers haben die Funktion, die Secle während des Lebens zurückzuhalten. Sobald sich aber die Seele von den kórperlichen Fesseln befreit hat, nimmt sie an einer anderen Art von Bindung teil, an der Bindung des Seins. Die Charakterisierung der οὐσία als unauflósbar ist mit Sicherheit das Element, das die philosophische Argumentation des Phaidon dem Hades-Abschnitt im Kratylos am meisten annähert. Die Figur von Hades im Kratylos, der die Seele mit der stärksten Bindung an sich fesselt, wird sozusagen zur bildhaften Darstellung der im Phaidon entwickelten οὐσία- Vorstellung. Die δεσμοί von Hades, auf die der ganze Kratylos- Abschnitt beruht, erweisen sich aber als nicht anderes als seine Reden, durch dic er die Seclen verzaubert und an sich bindet. Sic übemchmen eine doppelte Funktion: Erstens die Scelen im Hades fest zu halten und zweitens ihnen Wissen zu vermitteln. Sie werden im Kratylos keineswegs mit dem

Problem der Unsterblichkeit der Seele in Verbin-

dung gebracht, was hingegen im Phaidon der Fall ist. Ihre Funktion im Kratylos ist ausschlieBlich vom Thema des Dialogs bestimmt: Die Jenseitsszene im Kratylos beschreibt die ideale Situation der Kommunikation, in der die vollkomme-

ne Erkenntnis möglich ist. Die Worte und Reden von Hades sind der exakte Ausdruck seines Wissens. Unter dem Gesichtspunkt der im Kratylos ausgearbeiteten Sprachtheorie verkórpert diese Szene die theoretische Position, die Kratylos in Bezug auf die Sprache vertritt: die Entsprechung zwischen Wort und Sache, d.h. eine vollkommene, referenticlle und naturgetreue Aussage. Gerade dies

könnte der Grund scin, weshalb der Hades-Abschnitt im Krarylos in gewisser Hinsicht bizarr erscheint." In der Tat liegt in der Szene, in der Hades von wissbegierigen Seelen umgeben die Rolle des vorbildlichen Lehrers übernimmt etwas Merkwürdiges zuweilen Komisches und Erzwungenes. Platon scheint damit ausdrücken zu wollen, dass eine solche theoretische Position in Bezug auf die Sprache nur im Hades möglich sei.

M. — Viele Interpreten haben betont, dass der Hades-Abschnitt von cinem ironischen und scherzhaften Ton durchdrungen ist. Siehe Goldschmidt 1940, 124, Anm. 1; Boyancé 1941. 161; Baxter 1992, 104.

Apollon: Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips Die zentrale Position innerhalb der Genealogie des Kratylos, die Komplexität der Namenserklärung -- in Gesamten sind cs vier Auslegungen, dic alle als kor-

rekt angesehen werden — und schließlich die auflósende Rolle des Gottes im Hinblick auf die Erkenntnisprobleme, die bei der Analyse der anderen Gottheiten aufgetaucht sind, machen Apollon zur Schlüsselfigur in der Góttergenealogic

des Kratylos. Obwohl es im Text keine ausdrücklichen Hinweise dafür gibt. scheinen

sich alle vier Namenserklürungen

ausschlieBlich

um

das

Erkenntnis-

problem zu drehen. Die erste Untersuchung über Apollon als den Gott der Me. dizin erblickt in seinem Namen einen Reinigungsprozess, der als notwendige Voraussetzung für die Erkenntnis gedeutet werden kann. Das hier behandelte Thema - das Wissen und die Wahrheit sind dem Menschen nicht unmittelbar

zugänglich - kommt auch in der zweiten Namenserklärung vor, wo das Wahre (τὸ ἀληϑές) ausschließlich durch die Wahrsagekunst greifbar wird, womit aut die Distanz zwischen dem Menschen und dem Wissen hingewiesen wird. Die dritte Namensauslegung betont dicse ontologische und epistemologische Sıruktur durch das Bild des Bogenschusses, das den Begriff der Genauigkeit mit dem Tod assoziiert. Die vierte Namenserklärung, dic Apollon als Schutzgottheit de Musik

und dadurch

der Philosophie

darstellt!

deutet

schließlich

auf eine

Εἰ-

kenntnismöglichkeit hin, die auch für den lebendigen Menschen gilt. Hier stell Apollon ein Prinzip dar, das nach der pythagoreischen Lehre der kosmischen Harmonie die Himmelsbewegungen mit den Musikbewegungen eines Liedes. d.h. die Astronomie mit der Musik, in Verbindung setzt. Er ist die Gottheit, die in eine Welt ständiger Veränderung cin rationales, matematish-musikalisches, und daher für den Menschen erkennbares Prinzip setzt. Die erste Namenserklürung, die Apollon als den Gott der Medizin ausweisı und die letzte, die ihn als den Gott der Musik darstellt, sind, wie sich im Folgenden zeigen wird, für meine Analyse besonders aufschlussreich.

Die Funktion der Philosophie im Abschnitt über Apollon als Gott der Medizin Wie im Apollon-Abschnitt so werden auch in den anderen platonischen Diale gen die Reinigungsverfahren der Medizin und der religiösen Riten dazu benutzt.

aufzuzeigen,

welche

Funktion

der Philosophie

zukommt.

Die

medizinische

Kunst dient für Platon als musterhaftes Beispiel cines äußerst komplizierten. vielfältigen und wissenschaftlichen Wissens. Dank der Analogie zwischen dei

Seele und dem Körper ist das Paradigma des Arztes, der der Spezialist für den ! — Siehe dazu den Kommentar zu den Musen, in dem die Musik mit der Philosophie gleich gesetzl wird.

Apollon

195

Körper ist, eines der am meisten benutzten Hilfsmittel Platons, um die psychische Wirklichkeit zu untersuchen.? Das Bild der Krankheit der Seele bezeichnet zum Beispiel in einem ethischen Zusammenhang die Ungerechtigkeit (ἀδικία) oder die Bosheit des Menschen (κακία). Beschäftigt sich Platon mit der Theorie der Erkenntnis, so wird die Krankheit der Seele zur Unwissenheit (Gpa9ía).* Im

platonischen Denken werden die κακία und die ἀδικία der Seele auf Grund des sokratischen Paradoxes — niemand begeht freiwillig eine Ungerechtigkeit - eigentlich mit der ἀμαϑία gleichgesetzt. Die Fehler des Menschen sind immer darauf zurückzuführen, dass er nicht weiß, was das Gute ist, demnach wird also die Ungerechtigkeit auf ein kognitives Defizit zurückgeführt. Dieses ethisch-

philosophischen Ansatzes zufolge ist die schlimmste Krankheit, dic den Menschen befallen kann, die Unwissenheit.‘ Platons Antwort, den Leiden der Menschen beizukommen, ist natürlich die Philosophie. Dadurch erklärt sich, warum Apollon, der Gott der Philosophie, im Kratylos das Aussehen cines Arztes an-

nehmen kann, der die Menschen von den Übeln befreit. Das Bild des „Seelenarzies“ lässt sich auch in anderen platonischen Texten finden. Beispielweise wird im Protagoras" ein Vergleich gezogen, bei dem dem Arzt und dem Sportlehrer, die die Kenner bei der Unterscheidung der giftigen und essbaren Speisen sind, eine mysteriöse Figur — der ἰατρικὸς πεοὶ τὴν ψυχήν" — cntgegengesctzl wird. Diese vermag zu erkennen, welche Doktrinen nützlich für die Seele sind

und welche ihr schaden. Im Sophistes entwickelt sich die medizinische Reinigung sogar zum Paradigma, auf dessen Grundlage die Tätigkeit des Philosophen geformt wird." Der Text enthält wieder einen Vergleich: Die Ärzte, die in der Lage sind, alles aus dem Kórper zu entfernen, was ihm schadet, werden denen entgegengesetzt, die die Secle reinigen.” Die Spezialisten der Scelenreinigung, die zunüchst mit den Sophisten gleichgesetzt werden, aber die sich in Wirklichkeit als Vertreter einer edlen Sophistik'” — der Philosophie — entpuppen, haben die Aufgabe, durch ihre philosophischen Widerlegungen die Meinungen zu ent-

fernen, die die Erkenntnis behindern. Ebenso wie im Abschnitt des Protagoras erscheint auch im Sophistes ein diätologisches Bild der Philosophie. Die Erἡ. Zur Bedeutung der Metaphern, die mit der Figur des Arztes verbunden sind, siehe Wchrli 1951; Vegetti

1966,

1967,

1968,

1969.

— Zur ἀδικία siehe τὸ νόσημα τῆς ἀδικίας (Gorg. 480b1): Resp. X, 609c2-d2; zur xaxia hingegen: κακία δὲ νόσος [sc. τῆς ψυχῆς) Te xai αἶσχος xai ἀσϑένεια (Resp. IV, 444ei-2). * — Eine Übersicht der Stellen bei Platon, an denen dieses Bild auftaucht, findet man bei Louis

*— ^ — ?— #_

1945,

133-134.

Siehe den Ausdruck τὴν μέγιστην νόσον àpaSíay im Tim. 88b5. Prot. 313a1-314b4. Prot. 313ς2. Sophist. 230c4-c4.

? — Der auf die Secle bezogene Ausdruck oi καϑαίροντες erscheint bei Sophist. 230c4-5. I0. ἡ γένει γενναία σοφιστική (Sophist. 231 b8).

196

Die Wiedergewinnung des Erkenninisprinzips

kenntnisse stellen die Nahrung der Secle dar. Hat die Scele verdorbene Nahrung zu sich genommen, dann verursacht dies einen pathologischen Zustand, der die Heilung durch den Arzt nótig macht. Dic κάϑαρσις ist also die Aufgabe der Philosophie, indem

sie die Hindernisse, die der Erkenntnis

im

Wege

stechen,

ent.

fernt. Das Gleichgewicht der Seele wiederherzustellen, sie in jenen Zustand zurückzuführen, in dem ein Lernprozess möglich ist, dies ist die eigentliche Autgabe der philosophischen Widerlegung (ἔλεγχος), die aus diesem Grund im Sophistes als μεγίστη xai κυριωτάτη τῶν καϑάρσεων definiert wird." Wie häufig im Kratylos so ist es auch im Fall von Apollon als dem Gott der Medizin wesentlich, die Aufmerksamkeit auf den Phaidon zu richten, um einige Elemente im Text besser zu verstchen. Bei der Untersuchung des Hades-Abschnitts im Krarvlos war es für cine

sorg-

fältige Analyse nötig, auf den ersten Teil des Phaidon zurückzugreifen, um die Funktion der δεσμοί als Attribut des Gottes der Unterwelt und seiner Rolle als absoluter Inhaber des Wissens verstehen zu können. Die Analyse zeigte, dass die Figur der Unterweltgotthcit einer grundlegenden Umgestaltung unterzogen wurde und dank des Rückgriffs auf die Mysterien von Dionysos mit dem Ort der Erkenntnis identifiziert werden konnte. Dadurch, dass die philosophische Tätigkeit im Phaidon als reinigende Praxis (als κάϑαρσις) verstanden wird, nimmt sie eine eschatologische Dimension an, die die Scele auf die Loslösung vom Körper und auf die Wiedervereinigung mit der vollkommenen Erkenntnis im Jenseits vorbereitet." Es wurde in jenem Zusammenhang schon darauf hingewiesen dass man die Bezeichnung der kathartischen Wirkung der Philosophie als Ag, auf die Mysterienvorstellung zurückführen muss." Nun kommt dasselbe seman. tische Feld im Apollon-Abschnitt des Kratylos vor, das die κάϑαρσις als Aufl. sung bezeichnet. Der Name des Gottes wird durch die Begriffe ἀπολούει: ἀπολύειν erklärt und somit zur Personifikation der reinigenden und befreienden Funktion der Philosophie. Man könnte fast dic Behauptung aufstellen, dass Pia. ton durch die Namensauslegung Ἀπόλλων « ἀπολύειν den letzten Akt der philo. sophischen Umsetzung der Mysterien von Dionysos vollziehen wollte, die cr im Phaidon begonnen hatte: Die Gottheit Dionysos, dic in den Mysterien die Men schen von den Übeln befreit, wird im Kratvlos durch Apollon ersetzt, der innerhalb des platonischen Denkens dic Rolle des kathartischen Gottes der Philoso.

phie annimmt."

!! — Sophist. 23048-9. Schon Goldschmidt (1940, 125), Montrasio (1988, 233) und Schete: (1996,

115)

haben

die

Ähnlichkeiten

zwischen

den

beiden

Passagen

im

Kratylos

und

un

Sophistes hervorgchoben. — Siehe dazu S. 185ff. [E]

— Siche dazu S. 185 und noch S. 119-120. H — Zur Bezichung zwischen Apollon und Dionysos im Phaidon siche Schefer

182.

1996.

174

Apollon

197

Im Phaidon ist es móglich, eine anfangs anonym bleibende Gottheit aufzuspüren, die die Menschen befreit, indem sie ihnen den Tod gibt. In einer Passage jenen Dialogs, der das Problem des Selbstmords behandelt und sein Verbot beschreibt, das durch die Mysterien erlassenen wurde, fügt Sokrates hinzu, dass der Mensch nicht das Recht hat, sich selbst umzubringen, selbst wenn das Sterben für ihn das Beste sein sollte: Der Mensch soll — fáhrt Sokrates fort — auf einen anderen Wohltäter warten, der ihm diese Gunst gewührt.* Kurz darauf gibt er sich selbst als Beispiel an und behauptet, dass auch sein Tod eine von der Gottheit gewollte Notwendigkeit ist.' Zum Abschluss der Rede der „wahren Philosophen“ gibt es einen weiteren Hinweis auf einen Gott, der die Seele aus der Unwissenheit befreit, weil er ihr

den Tod gibt und sie somit vom Kórper befreit: ἀλλὰ ᾿ἀαϑαρεύωμεν ἡμᾶς

ἀπ᾿

αὑτοῦ

[sc. σώματος].

ἕως ἂν ὁ ϑεὸς αὐτὸς ἀπολύσῃ

.

In diesem Fall wird die Tätigkeit des Gottes ausdrücklich in die MysterienStruktur eingefügt, da der vom Gott gegebene Tod als eine Befreiung angeschen wird, die es dem Philosophen erlaubt, vom Körper gelöst und gereinigt die Wahrheit zu erlangen." Der Name des Gottes wird nicht genannt; auf ihn wird lediglich durch den Ausdruck ὁ ϑεὸς αὐτός" angespielt. Auch die Tatsache, dass die „wahren Philosophen" den Namen des Gottes nicht aussprechen, erinnert an das Verhalten der in die Mysterien Eingeweihten, die sich der Aussprache der Namen der Mysterien-Gottheiten in der Óffentlichkeit enthielten und die

sich auf allgemeine Formeln wic ϑεός, Seá, τὼ Sec, μεγάλοι ϑεοί beschrünkten." Wenn man sich darüber hinaus die Auslegung von Apollons Namen im Kratylos (Ἀπόλλων « ὁ ἀπολύων) vergegenwürtigt, dann wird der Verdacht erweckt, dass in dicsem Abschnitt des Phaidon der Gott, der die , wahren Philosophen“ von den irdischen Zwängen befreit, indem er ihnen ermöglicht, der Wahrheit teilhaftig zu werden, niemand anderes als Apollon sein kann. Die Identität des Gottes wird in versteckter und eingeweihter Form dem Leser preisgegeben,

indem

der

Name

des

Gottes

im

Text

verschlüsselt

wird;

nur

der

Gebrauch des Verbs ἀπολύειν enthüllt seine Identität.

I5 ἀλλὰ

ἄλλον δεῖ περιμένειν εὐεργέτην (Phaed. 6247).

"δος Phaed. 62c6-8. ? — Phaed. 6725-6. '* — Siche dazu S. 18 1f.

1 — Schefer (1996, 100) stellt fest, dass Apollon in der Apologie nicht ein einziges Mal erwähnt wird und dass zu seiner Bezeichnung Umschreibungen wie ὁ ϑεὸς ὁ ἐν Δελφοῖς (20c78) oder der einfache Ausdruck ὁ ϑεός benutzt werden, und fragt sich deshalb, ob man ihn nicht als einen Gott der Mysterien betrachten müsse. Zum Brauch der Enthaltung von der Benennung des Mysterien-Gottes siehe Burkent 1977, 406-408.

198

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

Ein weiteres Mal taucht im Phaidon das Verb ἀπολύειν und zwar auch diesmal in Bezug auf die philosophische Tätigkeit auf. Um das Ziel der philosophischen Aktivität zu erklären, sagt Sokrates: ὁ φιλόσοφος ἀπολύων ὅτι μάλιστα τὴν ψυχὴν ἀπὸ τῆς ToU σώματος κοινωνίας."

Beim Philosophieren soll der Philosoph die Seele darauf einüben, sich vom Körper zu lösen. Die Philosophie besteht in der Befreiung, in der ἀπόλυσις der Seele. Es ist also nicht überraschend, dass der Name des Gottes der Philosophie diejenige Tätigkeit in sich bürgt, deren Garant und Symbol er ist. In der Apologie gibt es wichtige Elemente, die es erlauben, die Verwandlung der herkömmlichen Figur von Apollon zum Gott der Philosophie zu verfolgen. Die Philosophie wird im Dialog als eine Lebensweise gesehen, die Sokrates von Apollon auferlegt wurde und dic die Form eines Dienstes an der Gottheit annimmt:?' Philosophie zu betreiben bedeutet, sich Apollon zu widmen. Von diesem Standpunkt aus wird die Weissagung des Orakels des Apollon, das Sokrates dazu verpflichtet, es auf die Probe zu stellen, das paradigmatische Beispiel dafür, wie die philosophische Suche durchgeführt werden soll." In einer wechselseitigen Beziehung wird der Gott einerseits der Zeuge und anderseits der Garanı der E Darüber hinaus |gibt es eine Reihe von inhaltlichen und strukturellen Elementen, die vor allem in Hinblick auf die rettende Rolle der Philosophie die Apojo. gie mit dem Phaidon verbinden. Zum Abschluss seiner Verteidigung erklärt Sokrates, dass er sich nie irgendwelcher Tricks bedienen wird, um sich selbst zu retten, Tricks, die von seinen Mitbürgern oft missbraucht wurden, wie das

Vor.

führen von Kindern und Verwandten in der Öffentlichkeit, um Mitleid zu erregen. Dann beeilt er sich zu präzisieren, dass sein Verhalten weder von Arrogan; noch von Missachtung in Bezug auf seine Mitbürger diktiert wird. Eigentlich erwartet man hiernach die Erwägung der Todesverachtung als drittes und letztes Element, das das Verhalten von Sokrates nicht beeinflussen dürfe. Stattdessen verändert Sokrates den Satzbau und führt eine hypothetische Einfügung ein: ἀλλ᾽ ei μὲν ϑαρραλέως ἐγὼ ἔχω πρὸς ϑάνατον ἢ μή. ἄλλος λόγος."

Dem Problem der Todesangst und der Angst, was nach dem Tod zu erwarten sei, muss man eine andere Art der Erörterung widmen, die nicht von der Zufälligkeit einer gerichtlichen Verteidigung gestórt sein soll. Die Versuchung in dem Ausdruck ἄλλος λόγος einen Hinweis auf Sokrates’ letzte Rede in der Apologic

9 — Phaed. 6468-6522. ? ἀλλ᾽ ἐν πενίᾳ μυρίᾳ εἰμὶ διὰ τὴν τοῦ ϑεοῦ λατρείαν 1996, 60-77. 7? __ Dazu siehe Schefer 1996, 77-87. 2° _ Apol. 34el-2.

(Apol. 23b9-cl); siehe dazu Schete:

Apollon

199

und im gesamten Phaidon, bzw. auf den platonischen Seiten, auf denen Sokrates über das Problem des Todes reflektiert, zu sehen, ist unwiderstehlich. Im Schlussteil der Apologie, wie im Phaidon und im Kratylos, lásst sich die

Figur eines Gottes aus dem Text herausziehen, der dem Philosophen den Tod bringt und ihn so vom Leid des Lebens befreit.'* Die Situation in der Apologie, in der Sokrates seine letzte Rede hált, stimmt genau mit der des Phaidon über-

ein: Nach dem Todesurteil verbringt Sokrates die Zeit damit, mit seinen Freunden über den Tod zu reden. Er móchte denjenigen, die gegen seine Verurteilung gestimmt haben, die Bedeutung dessen erklären, was geschehen ist. Er beginnt mit der Feststellung cines wunderbaren Phünomens. Die dümonische Stimme, die bei vielen anderen Gelegenheiten in seinem Leben einen positiven Einfluss hatte, hat sich in diesem Fall nicht eingemischt. Das Zeichen des Gottes hat ihn weder davon abgehalten, am Morgen sein Haus zu verlassen und sich zum Prozess zu begeben, noch davon seinc Verteidigungsrede zu halten. Der Gott hat zugelassen, dass die Dinge geschahen, wie sie geschehen sind.” Die Erklärung dazu soll nach Sokrates heißen: Wenn der Gott nicht zu seiner Rettung eingegriffen hat, dann muss das bedeuten, dass das Geschche gut ist und dass sein Tod nicht als ein Übel angeschen werden soll.” In diesem Abschnitt haben wir es noch nicht, wie im Phaidon oder im Kratylos, mit der Figur des Gottes zu tun, die in das Leben des Philosophen eingreift, indem sie ihm den Tod bringt. Vielmehr hat der Gott am Tod von Sokrates durch seine Enthaltung jeglicher Einmischung teil. Sokrates’ Überlegungen zu seinem Schicksal enden mit einem Satz, in dem die Hinweise auf den Phaidon schr stark hervortreten: οὐδὲ τὰ ἐμὰ νῦν ἀπὸ ToU αὐτομάτου γέγονεν. ἀλλά μοι δῆλόν ἐστι τοῦτο. ὅτι ἤδη τεϑνάναι καὶ ἀπηλλάχϑαι πραγμάτων βέλτιον ἦν μοι."

Das Todesurteil für Sokrates, das zunächst mit der Enthaltung der göttlichen Einmischung erklürt wird, lásst dieses Mal, auch wenn der Gedanke nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, einen nicht zufälligen Willen, einen Plan vermuten. Darüber hinaus ist ein weiteres Verbindungselement zum Phaidon in der Tatsache zu sehen, dass das Tot-Sein (τεϑνάναι) dem Befreit-Sein von den Angelegenheiten des Lebens (ἀπηλλάχϑαι πραγμάτων) entspricht. Das gebrauchte Verb (ἀπαλλάττειν) weist noch nicht auf eine Mysterienstruktur hin, aber es be-

reitet sie vor. Auch im Phaidon ist die ἀπαλλαγή der erste Begriff, der das bezeichnet, was unter dem Tod zu verstehen ist. Im Verlauf des Phaidon wird er

* — Apol. 39e1-42a5. 2° _ Apol. 40a4-b6. 2

Apol. 40b6-c4.

?? Apol. 4443-5.

2 __ Phaed. 64c5.

200

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

durch den Begriff λύσις" ersetzt, ein Wort, das in die Sprache der Mysterien eingebettet ist. Beide Dialoge, der Phaidon und die Apologie, sind aber nicht nur durch die bisher vorgestellten gemeinsamen Themen, sondern auch durch ein Aufbauclement vereint. Der Abschnitt des Phaidon, in dem Platon die „Mysterien der Philosophie" - so könnten wir sic nennen — beschreibt, ist als Apologie (ἀπολογία

ausgewiesen." Sokrates bezieht sich ausdrücklich auf seine Verteidigungsrede vor den Richtern und drückt seine Gedanken so aus, als ob sich scine Freunde in Ankläger verwandelt hätten. Es existiert also cine narrative Bindung zwischen dem Dialog, der Sokrates’ Verteidigung darstellt und dem ersten Teil des Phaidon. Beide Dialoge beschränken sich jedoch nicht auf die Verteidigung, sie verwandeln sich vielmehr in cine Aulforderung nach einem philosophischen Leben, d.h. einem Leben im Dienste von Apollon. Der Gebrauch des Verbs ἀπολύειν erlaubt es Platon im Kratylos, in Namen von Apollon zwei Aspekte der Philosophie auszudrücken: Auf der einen Seite tritt die Figur des Gottes als Arzt hervor, der den Menschen vom Übel der Unwissenheit heilt, auf der anderen Seite verwandelt sich Apollon zu einer Gau. heit, die in die Mysterienstruktur eingebettet zu sein scheint, in der dic Philoso-

phie die Rettung des Menschen bedeutet. Auch in der Politeia lässt sich beobachten, wie sich diese Aspekte miteinander verflechten. Nachdem Sokrates

am

Anfang des Höhlengleichnisses die Lage der in der Höhle gefangenen Menschen dargelegt hat, die nichts Anderes kennen als die auf die Mauer projizierten Schatten, beschreibt er den Prozess der intellektuellen Emanzipation, der sic da-

zu bringt, die Wahrheit zu erkennen. Der Übergang von der bemitleidenswerten Lage des Menschen hin zu seiner Erlösung wird durch Sokrates’ folgende Worte angekündigt: σκόπει δή. |...] αὐτῶν λύσιν τε xai ἴασιν τῶν τε δεσμῶν xai τῆς ἀφροσύνης. οἵα, τις ἂν εἴη, εἰ φύσει τοιάδε συμβαίνοι αὐτοῖς."

Der Prozess der Erkenntnis, das Philosophieren," wird als λύσις und : ἴασις definiert. λύσις ist mit δεσμῶν zu verbinden,

ἴασις mit

ἀφροσύνης.

das καί

dazwi-

schen ist explikativ und dient zur Erklárung des Bildes, das die Unkenntnis den gefesselten Menschen darstellt. In diesem Abschnitt besitzt die Philosophie die beiden Funktionen, die bereits im Namen von Apollon im Kratvlos festzustellen waren: die Heilung von der Unwissenhcit und der Befreiungsakt.

? — Phaed. 61d9. ἡ πε Dazu siche S. 181, Anm. 24. ‘ 3 Resp. — Siche περιαγωγὴ φιλοσοφίαν

VM, 515c4.5. auch dazu: Tovro δή. ὡς ἔοικε. οὐκ ὀστράκου ἂν εἴη περιστροφή. ἀλλὰ Vu. ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληϑινήν. τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον. Ti δὲ ἀληϑῆ φήσομεν εἶναι (Resp. VM, 521c5-8).

Apollon

201

Apollon der Gott der Musik als Erkenntnisprinzip Innerhalb der komplexen Struktur des Gótterabschnittes zeigt sich, dass sich dic

philosophischen Fragen, die infolge der Namensanalysen der anderen Götter bis zum diesem Punkt auftraten, durch Apollon lósen lassen. Am Anfang des Abschnitts wird die Frage über das Sein aufgeworfen, wobei sich in Hestias Namen eine Realität entdecken lässt, die schlechthin ist, gleichzeitig aber noch eine andere, eine, dic stets unter den StôBen der Bewegung steht oder die sich, wie bei den Vorfahren der Götter, in ständigem Fließen fortbewegt. Auf den folgenden Seiten wird dann das Erkenntnisproblem durch zwei

Gottheiten - Hades und Persephone — behandelt; auch hier kommt dieselbe in zwei Teile gegliederte Struktur vor. Neben Hades, der die vollkommene, aber ins Jenseits verbannteE ι öglichkeit darstellt, wird Persephone, seine Gattin, gestellt, die die sinnliche, durch den Tastsinn erreichbare Wahmchmung der Realität verkörpert. Hinsichtlich aller ontologischen und epistemologischen

Fragen wird Apollon als dic Lósung über alle anderen Gótter gestellt. Er stellt ein rationelles und deshalb erkennbares Prinzip dar, das musikalische und mathematische Verhältnisse in die Welt einführt und auf diese Weise für die Kohärenz und die Kohásion des Universums bürgt, cin Prinzip, das den Menschen zum Rest der Welt in Beziehung setzt und das als Schlüssel zur Erkenntnis verstanden werden soll.

Die Neuigkeit und die Sonderstellung der Figur von Apollon innerhalb des Götterabschnitts zeigen sich auch in Bezug auf die Lehre, die dort in Betracht gezogen wird. Wie sich in der Analyse der vorhergehenden Abschnitte gezeigt hat, liegt im Fall von Hestia und von Hades cine Überarbeitung der parmenideischen Vorstellungswelt

zugrunde.

Bei den Vorfahren der Götter hingegen, bei

Persephone und ebenso noch bei Hestia ist eine Weltauffassung aktiv, die sich ausdrücklich auf die heraklitische Lehre des ständigen FlieBens bezieht. Was Apollon betrifft, stützt sich Sokrates auf cine neue Wissensquelle, die sich wcder als parmenideische noch als heraklitische erweist: und zwar auf die pythagorcische Lehre der kosmischen Harmonic. Betrachtet man die Struktur der Góttergenealogie im Kratylos in ihrer Gesamtheit, so wird augenscheinlich, welche Bedeutung Apollon zukommt. Durch ihn als Gott der Musik lässt sich die Erkenntnismöglichkeit innerhalb der menschlichen

Erfahrung

wiedergewinnen,

nachdem

bci der Beschreibung

von

Hades das Wissen ins Jenseits verlegt wurde. Die Wiedergewinnung vollzicht sich dank des Rückgriffs auf die pythagoreische Lehre der kosmischen Harmonic," so dass cin enges Verhältnis zwischen dem Menschen

und dem Erkennt-

nisgegenstand, zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos hergestellt wird. Dieselbe philosophische Geste, dic in zwei Phasen abläuft — das Versetzen des

Wissens an den Rand der menschlichen Existenz und seine spätere Wicderge"__ Siehe dazu auch den Kommentar auf S. 124.

202

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

winnung —, ist auch im Phaidon vorhanden. Im ersten Teil des Dialogs, der als „Apologie“ bezeichnet wird," schreibt Platon das Sein und das Wissen dem Jenseits, dem Hades zu, damit setzt er es also an die Grenze der menschlichen Exis-

tenz; im zweiten Teil hingegen wird die Ursache aller Veränderungen

in der

Welt untersucht, ein Prinzip, das dem Menschen ermöglicht, die Phänomene der Welt zu erklären und dadurch Erkenntnisse während seines Lebens zu sichern.

Die Wiedergewinnung der Erkenntnis in der Welt im Phaidon An der Stelle des Phaidon, die durch Sokrates’ intellektuelle Autobiographie be. rühmt ist, findet die Suche nach der Ursache für das Entstehen und die Zerstö-

rung der Dinge in der Welt statt, wobei dies durch den ständigen Wechsel zwi. schen Mikro- und Makrokosmos geschieht, so als ob beide Bereiche vom selben Prinzip geregelt würden. Zunächst werden die Gründe für die Entstehung, die Zerstörung und die eigene Existenz eines jeglichen Gegenstandes untersucht." Sokrates beginnt mit dem Mikrokosmos, bzw. mit der Beschreibung einiger wichtiger wissenschattlicher Theorien über den Ursprung der Lebewesen, insbe.

sondere über das kognitive Organ des Menschen, welches bald mit Blut, bald mit Luft, bald mit Feuer und bald mit dem Gehirn identifiziert wird. Dann fihn er fort durch cinen flüchtigen Hinweis auf den Makrokosmos, d.h. auf die Ursachen

der Geschehnisse im Himmel und auf der Erde." Diesem ersten Abschnitt, in dem Sokrates die physischen Ursachen der Na. turphänomenc erforscht, folgt ein anderer, der dazu dient, die ,wissenschattlich. materialistischen" Ansätze solcher Nachforschungen in Frage zu stellen." Die.

ses Mal werden Probleme logischen Charakters aufgeworfen: Es wird erforscht, wieso sich behaupten lässt, dass eine Person größer als eine andere oder die zehn größer als die acht sci." Für all diese Phänomene, seien sie physisch oder lo. gisch, verschieden nach Art, Qualität und Umfang, stellt Sokrates immer diesel.

be Frage, „ds ri“, auf die er eine einzige Antwort sucht, bzw. einen einzigen Grund, der alle Veränderungen in der Welt erhellen soll. '"

4— Zur Bezeichnung dieses Abschnittes des Dialogs als „Apologie" siehe S. 181 tf. Ἵ — ὅλως γὰρ δεῖ περὶ γενέσεως xai φϑορᾶς τὴν αἰτίαν διαπραγματεύσασϑαι (Phacd. 95e10 96al). Zum philosophischen Ursache- Prinzip. das in diesem Abschnitt entwickelt wird, siehe Taylor 1969; Vlastos 1969; Burge 1971; Annas, 1982. ^. — εἰδέναι τὰς αἰτίας ἑκάστου. διὰ τί γίγνεται ἕκαστον καὶ διὰ τί ἀπόλλυται xai διὰ zi ἔστι ( Phaed. 9628-0). w^ Phaed. 9639-c3. w 7 Siehe dazu Taylor 1969, 45. wo Phaed. 96c3-9787. — Taylor (1969, 46) kommentiert mit Erstaunen und Befremdung diesen Gedanken: „It is remurk able that Plato should have believed that there is a single kind of answer to so wide à range of questions

Apollon

203

Deutlich werden die Probleme, dic aus solchen Ansätzen entstehen, als Sokrates der Doktrin des Anaxagoras entgegentritt.” In diesem Abschnitt, der cher, wie Robert Loriaux mit Recht dargelegt hat," eine Wünschen Platons entsprechende Aussage, als eine getreue Wicdergabe der Gedanken von Anaxagoras ist, scheint der anaxagoreische vovg zunüchst die Antwort auf alle Fragen von Sok-

rates zu scin: Er stellt das ordnende Prinzip und die Ursache für alles dar." In Sokrates' Augen müsste der νοῦς dazu in der Lage sein, eine Erklärung für alle Phänomene des Universums zu licfern: Wie beispielsweise die Motive, aufgrund derer eine flache oder kugelförmige Erde von Vorteil wäre, oder warum es den Vorzug hätte, sie ins Zentrum des Universums zu stellen, wie auch alle anderen Probleme, die durch die himmlischen Phänomene aufgeworfen werden.” Da der νοῦς cin rationales und intelligentes Prinzip ist, sollte es sich immer am Konzept des Hervorragendsten, des Besten oder des allgemein Guten orientieren, um die Welt in der bestmöglichen Weise zu ordnen." Sokrates zeigt sich aber enttäuscht, weil er bei der Lektüre des Anaxagoras er-

fahren muss, dass dieser von seiner groBartigen Intuition, das in der Welt wirkende rationale Prinzip entdeckt zu haben, keinen Gebrauch macht. Um das Leben des Universums zu erklären, wendet Anaxagoras sich anderen Prinzipien, wie der Luft, dem Äther, dem Wasser usw. zu.” Die Widerlegung seiner Thesc geschieht während des Übergangs zum Mikrokosmos. Sokrates macht sich selbst zum Paradigma der menschlichen Lage und benutzt dic eigene existentielle Situation für den Nachweis des fehlerhaften Gebrauchs des νοῦς durch Ana-

xagoras." Seine Haltung — so argumentiert Sokrates - entspräche der Behauptung, dass Sokrates im Gefängnis bleibe und keinen Ausweg aus der Verurtcilung zum Tode suche, nicht weil das, was cr tut, von seinem Intellekt (νοῦς) und von scinen Willen diktiert würde, sondern weil sein Kórper, seine Knochen und Nerven, dafür verantwortlich sind, dass er im Gefängnis sitzen bleibt. Die Abfolge der Argumente bringt ans Licht, dass nach Sokrates das rationale Element - Anaxagoras" νοῦς, der in der platonischen Sprache der ψυχή entspricht -- in der Lage sein sollte, sowohl die Leb id des Menschen, als auch dic Mechanismen, die das Universum lenken, einzuordnen und zu erklären, ohne *! — Phaed. 97b8-99c1.

*?__ Loriaux 1975, II, 76-78 und 80.

"c ὡς ἄρα νοῦς ἐστιν ὁ διακοσμῶν τε xai πάντων airiog (Phiaed. 97610 -2). — Phaed. 9746-9847. % _ Siehe z.B. den Ausdruck τὸ ἄριστον καὶ τὸ βέλτιστον (Pliaed. 9703-4); siche noch Phaed. 97c5-6; 97c8; 98a9-b3. ' — Es ist interessant zu bemerken, wie dem Prinzip der einheitlichen, männlichen und intelligenten Ursache - dem νοῦς - die Mehrzahl der anderen möglichen Ursachen im Text gegenübergestellt werden: ἀόρας δὲ xai αἰϑέρας xai ὕδατα aituupevov καὶ ἄλλα πολλὰ καὶ ἄτοπα ( Phaed. 98c]-2). — Phaed. 98c2-99h4.

204

Die Wiedergewinnung des Erkenutnisprinzips

dieses Prinzip - das Führungs- und Erkenntnisprinzip zugleich - mit den

mate-

riellen Ursachen zu verwechseln."" Bei der Bemerkung der Ansatzfchler solcher Theorien legt Sokrates die erste Beschreibung des Lenkprinzips der Welt, dic als negativer Abdruck durch eine verneinende Aussage aus dem Text hervorgeht: τὴν δὲ ToU ὡς olov τε βέλτιστα αὐτὰ τεϑῆναι δύναμιν οὕτω νῦν κείσϑαι. ταύτην οὔτε ζητοῦσιν οὔτε τινὰ οἴονται δαιμονίαν ἰσχὺν ἔχειν. ἀλλὰ ἡγοῦνται τούτου Ἄτλαντα ἄν ποτε ἰσχυρότερον καὶ ἀϑανατώτερον καὶ μᾶλλον ἅπαντα συνέχοντα, ἐξευρεῖν. xai ὡς ἀληϑῶς τὸ ἀγαϑὸν καὶ δέον συνδεῖν καὶ συνέχειν οὐδὲν οἵονται.

Neben der verneinenden Formulierung unterscheidet sich diese Beschreibung von dem Vorangehenden und dem Folgenden auch durch ihre gemischte Sprache. Es handelt sich hier um eine Sprache, die dämonische Kräfte und unsterbliche, kraftvolle Atlanten in sich birgt, eine Sprache, die zwischen der wissen. schaftlichen Ausdrucksweise und der mythischen Erzählung, zwischen der Su. che nach einem universellen Prinzip und der Beschreibung einer mythischen Fi. gur pendelt, und sich deshalb wesentlich

von der sokratischen

Beweisführung

unterscheidet, die direkt im Anschluss folgt. | Bei dieser sonderlichen Mischsprache gibt es Elemente, die diese erste Be. schreibung des Lenkprinzips der Welt

im

Phaidon

der Figur von

Apollon

als

Gott der Musik im Kratylos annühern. Sokrates’ Auffassung geht zunächst durch ihren Kontrast zu anderen wissen. schaftlichen Theorien aus dem Text hervor. Zu Beginn wird die gesuchte Ursache aller Veränderung als eine teleologisch ausgerichtete Kraft dargestellt, dic zum Ziel das „Beste“ hat. Die Wendung οἷόν τε βέλτιστα impliziert sowohl eine moralische, als auch eine ästhetische Ausrichtung, ein Ideal der Schönheit und der Perfektion. Später wird sie als dämonische Kraft charakterisiert, so dass sie zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen steht und in der Lage ist, zwischen den beiden Sphären zu vermitteln.”

ΠῚ

u: . anal ΝΗ — Das von Sokrates angenommene Prinzip scheint cine qualitativ unterschiedliche Wu kung in Bezug auf die beiden Sphären zu haben. Wenn es bei den Veränderungen des Makıv kosmos eine rein lenkende und normative Funktion übernimmt, so entfaltet dasselbe Prinz gegenüber dem Mikrokosmos eine sozusagen ethische, d.h. cine Orientierungsrolle für die menschlichen Handlungen.

Ÿ — Phaed. 99c1-6.

$ _ Eine solche Beschreibung ähnelt stark an die Figur des Daimon Eros im Svmposion. [πὶ bringt die Sphüren der Götter und der Menschen in Verbindung und ermöglicht den Übergang der Erkenntnis (ἑρμηνεῦον xai διαπορϑμεῦον Seoig τὰ παρ᾽ ἀνθρώπων καὶ ἀνθρώποις τὰ παρὰ ϑεῶν, Symp. 202c3-4). In die Mitte gesetzt, erschafft er die Einheit und die Kohäsion des Um versums durch eben das Wissen, das von einer Sphäre zur anderen gelangt (ἐν μέσῳ δὲ 5: ἀμφοτέρων sc. τῶν ἀνθρώπων Te καὶ τῶν ϑεῶν] συμπληροῖ ὥστε τὸ πᾶν αὐτὸ air συνδεδέσϑαι. Symp. 202c6-7).

Apollon

208

Die große semantische Dichte des Satzes, der die erste echt „sokratische“ Definition über die Ursache von Entstehen und Zerstörung in der Welt sein soll ὡς ἀληϑῶς τὸ ἀγαϑὸν xai δέον συνδεῖν xai συνέχειν — entsteht durch die geschickte Ausnutzung der Sprachmittel. Die Definition beginnt mit der Formulicrung τὸ ἀγαϑὸν xai δέον, dic zwei Begriffe nur durch καί und ohne die Wicderholung des Artikels miteinander verbindet und so daraus cine Einheit schafft. Der Gebrauch des Wortes δέον erlaubt die Überlagerung zwcier unterschiedlicher Bedeutungen: δέον kann als Partizip Präsens Neutrum des Verbs δεῖν („binden") verstanden werden; in diesem Fall spielt es auf eine Kraft an, die sich ge-

gen die unkontrollierte Auflósung und Veränderung der Welt richtet, es kann aber auch das Partizip Neutrum des unpersönlichen δεῖ („es ist notwendig", „man muss") sein, in diesem Fall würde es die normgebende Funktion des lenkenden Prinzips des Universums unterstreichen." Daraus ergibt sich eindeutig, dass dem ἀγαϑόν in der Welt eine kohäsive und bindende Funktion zukommt, die sich gleichzeitig auf einen normativen Anspruch bezicht. Die Rolle des ayaSov wird von den beiden folgenden Verben definiert: συνδεῖν und συνέχειν. συνδεῖν, das unmittelbar nach δέον steht (als wolle damit ihre semantische Nähe

hervorgehoben werden) greift eine seiner beiden Bedeutungen (die bildhafte Handlung des Bindens) wieder auf und präzisiert, worin die kohäsive Funktion des ἀγαϑὸν besteht. Es handelt sich nicht nur um eine Kraft, die die Veränderungen und die Bewegungen des Universums lenkt und sie dazu zwingt, genaue Gesetze zu befolgen, sie übernimmt auch cine verbindende und kommunikative

Funktion zwischen den Teilen des Universums. SchlicBlich drückt das Verb συνέχειν, das mit συνδεῖν das Präfix σύν teilt, das Zusammenhalten dessen, was aus mehrercn Elementen zusammengesetzt ist, aus. Was aber in dieser Formulierung am meisten unsere Aufmerksamkeit erregt, ist die Verwendung von Ausdrücken (δεῖν, συνδεῖν, συνέχειν), die sich um den Begriff „binden“ drehen und zu jenem semantischen Feld gehören, der bei der Untersuchung von Hades im Krarylos sowie im Phaidon eine sehr wichtige Rolle gespielt ha. Im Phaidon gehört das Bild des δεσμός zu den Elementen, die dazu beitragen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Das Jenseits, das am Anfang des Dialogs nach einer ticfgchenden, philosophischen Umgestaltung als Scins- und Wissens-Ort dargestellt wurde, wird auch mit dem Prädikat der „Unauflósbarkeit" gekennzeichnet, das in sich das Bild des Bindens aufnimmt. Auf diese Weise erweist sich dank des Arguments der „Affinität“ zwischen der Secle und dem Erkenntnisgegenstand, dass auch die Seele unauflósbar und deshalb Ἧς— Siche dazu Loriaux 1975, IL, 86. 2 — Siehe die Überlegungen über die mögliche doppelte Deutung von τὸ δέον, die gerade im Kratylos vorgestellt werden: κατὰ ταὐτὰ τοίνυν πρῶτον μὲν τὸ δέον οὕτω λεγόμενον τοὐναντίον σημαΐνει πᾶσι τοῖς περὶ τὸ ἀγαϑὸν ὀνόμασιν ἀγαϑοῦ γὰρ ἰδέα οὐσα τὸ δέον νεται δεσμὸς εἶναι (Crat. 4185-8). ! —

Siehe dazu S. 93ff. und

184ff.

206

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

unsterblich ist.” Bei der Beschreibung der Ursache der Weltveränderung kommt nun im Phaidon das Bild des δεσμός wieder vor und es scheint unter dem Ein-

fluss jener philosophischen Geste zu stehen, die kurz zuvor beschrieben wurde und zu den Grundmotiven des Phaidon zählt. Zuerst wurde das Binden zum Attribut des Jenseits als Ort des Seins und des Wissens: „Das Sein - Quelle des Wissens — ist unauflósbar'; nun tritt es auf, um die Funktion des Veränderungs-

prinzips des Universums auszudrücken, das sich für Platon als Wiedergewinnung der Erkenntnis in unserer Welt erweist: „Das Universum ist durch eben das

Wissen zusammengebunden, zusammengehalten“. Es gibt also viele Themen,

Ausdrücke

und

strukturelle

Elemente,

die

eine

Verbindung zwischen dem Kratylos und dem Phaidon herstellen. Apollon als Gott der Musik aus dem Kratylos und der Ursache des Entstehens und der Zerstórung in der Welt im Phaidon drücken die Wiedergewinnung der Erkenntnis für den lebendigen Menschen

aus; in beiden

Fällen handelt sich um

tümliches und rationelles Prinzip, das sowohl auf den Mikro- als Makrokosmos Einfluss hat. Bei ihrer Beschreibung ergibt sich ein Feld, das sich um den Begriff „binden“ dreht, ein Feld, das in verwendet wird, um die Funktion von Kohäsion, Kommunikation zu bezeichnen.

Im Phaidon

werden

zu diesem Zweck

ein eigen-

auch auf den semantisches beiden Fällen und Kohären,

die Verben

δεῖν, συνδεῖ:

und συνέχειν verwendet, im Kratylos hingegen verbirgt sich dieses semantische Feld in der Auslegung des Gottesnamens als ὁ ὁμοπολῶν („derjenige, der zu. sammen... / harmonisch... bewegt"). Die bindende Funktion von Apollon wird nämlich erst verstándlich, wenn man annimmt, dass das im Namen von Apollon entdeckte ὁμοῦ πολήσις auf den ursprünglichen Kern der pythagoreischen Theo. rie über die kosmische Harmonic hinwcist. Nach dieser Lehre ist das Universum als cin riesiges Musikinstrument, als eine Lyra zu verstehen, und so kann Apollon die cigentümliche Funktion der mittleren Saite, der μέσῃ übernehmen, die dic Teile des Tonsystems eines Musikinstruments an sich bindet: „Er bewegt zu. sammen / harmonisch / bindend“, er bestimmt die Bewegungen und die Verän-

derungen im Universum, so dass die festgestellten und harmonischen Verhältnisse zwischen den Teilen des Systems gleich bleiben, so wie die μέσῃ beim Stimmen eines Musikinstruments die Tonverhältnisse

zwischen

den

Saiten

he-

stimmt und bei der Ausführung eines Liedes bewahrt. Die Seele als μόσῃ im Phaidon Während dic Beschreibung des Führungsprinzips der Welt im Phaidon mit der Figur von Apollon, dem Gott der Musik im Kratylos vergleichbar ist, so fehlt im Phaidon im Gegensatz zum Kratylos der Rückgriff auf dic pythagoreische Lehre der kosmischen Harmonie. In der langen Autobiographie von Sokrates im Pici. 9. — Siehe dazu S. 190tf.

Apollon

207

don existiert keine Spur der pythagoreischen Auffassung, dic die Musik und die Astronomie verbindet; und die μόσῃ, die mittlere Saite des Musikinstruments,

erscheint nicht als Modell für die Entwicklung des Prinzips der Weltveründerungen. Der einzige Hinweis auf das Thema der „Harmonie“ als Interpretationsschema befindet sich in einem vorhergehenden Abschnitt des Phaidon in den Worten von Simmias gegen Sokrates" Beweisführungen über die Unsterblichkeit der Seele.” Simmias widersetzt sich dem Argument, das eine Affinität zwischen der Seele und dem Erkenntnisgegenstand vorhanden ist und vergleicht die Seele mit der ἁρμονίᾳ eines Musikinstruments. Für die hier vorliegende Analyse ist cs

wichtig zu betonen, dass das Wort ἁρμονία als „gestimmt sein", als Akkord der Saiten cines Musikinstruments und nicht als , Harmonie“ zu verstehen sonst der Gedankengang des Textes nicht verstándlich werden würde.

Simmias’ Vergleich

ist, da

zwischen der Secle und der ἁρμονία einer gestimmten

Lyra (ἐν τῇ ἡρμοσμένῃ λύρᾳ. 86al) bezieht sich auf den Dualismus zwischen ci-

ner unsichtbaren, góttlichen Seele und cinem irdischen, sterblichen Kórper, von dem Sokrates soeben Gebrauch machte: xai γὰρ τοιοῦτόν σώματος τοιούτων

οὖν. ὦ Σώκρατες. οἶμαι ἔγωγε xai αὐτόν σε τι μάλιστα ὑπολαμβάνομεν τὴν ψυχὴν εἶναι. ἡμῶν καὶ συνεχομένου ὑπὸ ϑερμοῦ καὶ ψνχροῦ τινῶν, κρᾶσιν εἶναι καὶ ἁρμονίαν αὐτῶν τούτων

τοῦτο ἐντεϑυμῆσϑαι. ὅτι ὥσπερ ἐντεταμένου τοῦ καὶ ξηροῦ καὶ ὑγροῦ καὶ τὴν ψυχὴν ἡμῶν.

Hiernach fragt er sich, was denn mit der ἁρμονία geschühe, wenn man das Musikinstrument zerstóren oder seinc Saiten durchschneiden würde. Mit folgenden

Worten führt er dann seine Überlegungen zum Ende: δῆλον ὅτι. ὅταν χαλασϑῇ τὸ σῶμα ἡμῶν ἁμέτρως ἢ ἐπιταϑῇ ὑπὸ νόσων xai ἄλλων κακῶν. τὴν μὲν ψυχὴν ἀνάγκη εὐθὺς ὑπάρχει ἀπολωλέναι. καίπερ οὖσαν ϑειοτάτην.

Simmias’ ganze Argumentation ist von der Sprache der Musik durchdrungen. Der Körper wird mit einer Lyra und deren Saiten verglichen, der „gespannt und zusammengehalten wird“ (ὥσπερ ἐντεταμένου τοῦ σώματος ἡμῶν xai ovvexonevov) oder sich „über das festgelegte Maß entspannen oder anspannen" (ὅταν χαλασϑῇ τὸ σῶμα ἡμῶν ἀμέτρως ἢ ἐπιταϑῇ) lässt. Durch den ständigen Vergleich zwischen dem Ton- und Körpersystem offenbart Simmias das Prinzip, durch welches der Körper geregelt wird: die Wärme, die Kälte, die Feuchte usw., also seine physischen Ursachen. Ihm zufolge ist also die Secle das Resultat der physischen Vorgänge, die den Kórper ins Gleichgewicht gesetzt haben und ihn darin erhalten. verstanden.

55. — Phaed. 8503-8643. 36. Phaed. 86b5-c2. “7. Phaed. 8663-6.

Deshalb

wird die Krankheit als Bruch dieses Zustands

208

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

Sokrates’ Strategie, diese Theorie zu widerlegen, beruht darauf, der Seele eine ganz andere Rolle zuzuschreiben. Für Sokrates ist die Seele das Prinzip, das den Kórper führt und das für sein Gleichgewicht sorgt, nicht das Ergebnis cines Prozesses. Zu diesem Zweck

verwendet Sokrates cin cigentümliches Verfahren:

Er

hebt hervor, welche Funktion die ἁρμονία bei einem Musikinstrument nicht besitzt, so dass wir dazu angeregt werden, der Seele cinc gegensätzliche Rolle zuzuschreiben." Deshalb erklärt Sokrates, dass die ἁρμονία bezüglich der Elemente, aus denen sie zusammengesetzt ist, nicht von ihrer Natur abweichen kann;^" es ziemt ihr nicht, die Führung jener Elemente zu übernehmen.” und es ist ihr nicht móglich, zu klingen, zu vibrieren, Dinge zu tun, die zu ihren Bestandteilen im Gegensatz stehen.“ Schließlich beendet er seine Überlegungen mit cinem Satz, der fast ein Wortspiel zu sein scheint: τί dé: οὐχ οὕτως ἁρμονία πέφυκεν εἶναι ἑκάστη ἁρμονία ὡς ἂν ἁρμοσϑῇ:"

Durch diese Aussagen beschreibt Sokrates auf versteckte Weise die Seele als eine Saite, die vibriert und erklingt und die Führungsrolle in Bezug auf die andere Saite des Tonsystems

einnimmt, d.h. sie zu stimmen.

Das

letzte Argument

ist

mit Sicherheit das wichtigste Element im Hinblick auf meine Analyse: Die ἁρμονία („das gestimmt sein") cines Musikinstruments wird von Sokrates pera. de deshalb so definiert, weil sie eben gestimmt ist; sie existiert ihm zufolge erst dank

dessen,

was

das Musikinstrument

stimmt.

Dieses

Element,

das

im

Text

namenlos bleibt, sich aber als Stütze der ganzen Argumentation entpuppt, entspricht in der Musiktheorie der Funktion der μέση, also der mittleren Saite eines

Instruments, die beim Stimmen die Tonverhältnisse zwischen den Saiten

fest.

legt.

Sokrates ersetzt allmählich die Vorstellung der neue, die der Seele das Führungsprinzip über den wicht zuschreibt. Deshalb bin ich überzeugt, dass verschleierter Form von der Vorstellung der Sccle türlich ist hier mit μέση nicht die echte Saite eines

Scele als ἁρμονία durch eine Körper und dessen Gleichge. Sokrates’ Argumentation in als μέσῃ getragen wird. Na. Instruments gemeint, sondern

i — Phaed. 92c5-13. © — δοκεῖ 001 ἁρμονίᾳ ἢ ἄλλῃ τινὶ συνθέσει προσήκειν ἄλλως πως ἔχειν ἢ ὡς ἂν ἐκεῖνα £x. ἐξ ὧν ἂν συγκέηται: (Phaed. 9265-9332). — οὐκ ἄρα ἡγεῖσϑαί γε προσήκει ἁρμονίαν τούτων ἐξ ὧν ἂν συντεϑῇ. ἀλλ᾽ ἕπεσθαι (Phaed.9326-7). Der Führungsrolle der Scele, auf die die Argumentation von Sokrates beruht. wird ein ganzer Abschnitt gewidmet (9464-9543). — πολλοῦ ἄρα δεῖ ἐναντία γε ἁρμονία κινηϑῆναι ἢ φϑέγξασϑαι ἢ τι ἄλλο ἐναντιυϑῆτα: τοῖς αὑτῆς μέρεσιν (Phaed, 93a8-9). Später im Text wird es noch deutlicher, dass die Seele als

cine Saite von Sokrates verstanden wird: οὐκοῦν αὖ ὡμολογήσαμεν ἐν τοῖς πρόσϑεν μήποτ᾽ à: αὐτήν. ἁρμονίαν γε οὖσαν. ἐναντία ἄδειν olg ἐπιτείνοιτο xai χαλῷτο xai ψάλλοιτο xai ἀλλο ὁτιοῦν πάϑος πάσχοι ἐκεῖνα ἐξ ὧν τυγχάνοι οὖσα. ἀλλ᾽ ἕπεσϑαι ἐκείνοις καὶ οὔποτ᾽ à: ἡγεμονεύειν: (Phaed. 94c3-7). *" —

Phaed. 93411 -12.

Apollon

209

lediglich ihre aus der Musiktheorie übernommene Funktion (ihre δύναμις), da man sonst die ganze Argumentation missdeuten würde, die beweisen soll, dass die Seele früher existiert und deshalb nicht immanent, sondern transzendent im

Hinblick auf den Kórper ist. Die μέση als Modell für das Führungsprinzip des Universums im Phaidon? Der cinzige Hinweis im Phaidon auf das Thema der ἁρμονία findet sich in dem

eben analysierten Abschnitt über die Rolle der Seele im Kórper. Für meine Untersuchung erweist es sich als wichtig, hervorzuheben, welche Bedeutung dieses neue, an die Funktion der μέση inspirierte Bild der Seele für die darauf folgende Argumentation von Sokrates zu ihrer Unsterblichkeit übernimmt. An dieser Stel-

le des Dialogs geht Sokrates’ Analyse mittels der langen Erörterung über die Ursache des Entstehens und der Zerstórung in der Welt von dem Führungsprinzip des Körpers -- der Secle - zum Führungsprinzip des Universums, vom Mikrozum Makrokosmos über. Beide Untersuchungen, die über dic Seele und die über das Führungsprinzip des Universums,

zielen darauf ab, die Unsterblichkeit der

Seele zu beweisen. Sie zeigen, dass beide Bereiche Mikro- und Makrokosmos, d.h. Mensch und Universum, von einem in scinen Zwecken und Funktionen vergleichbaren Prinzip geregelt werden, das für die Erkenntnis des Menschen und

gleichzeitig für die Unsterblichkeit seiner Seele bürgt. Akzeptiert man diese Entsprechung, dann

kónntc

man

sich fragen, ob denn dic erste Definition von

Sokrates über das Führungsprinzip der Weltveründerungen - ro ἀγαϑὸν xai δέον συνδεῖν xai συνέχειν — von der Funktion der mittleren Saite eines Musikinstruments (der μέση) beeinflusst ist, dic kurz zuvor in Bezug auf die Führungsrolle

der Seele im Kórper verwendet wurde. Die hier verwendete Sprache spricht dafür: Die Funktion des ἀγαϑόν

ist es, zusammenzubinden

(συνδεῖν) und zusam-

menzuhalten (συνόχειν) genau so, wie die der μόση im Tonsystem. Im Universum erfüllt diescs Prinzip dieselbe Funktion von Kohásion, Kommunikation und Kohärenz, die von der Seele im Körper kurz zuvor übernommen wurde. Dic Áhnlichkeiten beschrünken sich aber auf die Vorstellungs- und auf die Sprachcbene, da Sokrates die echte Bewcisführung nicht nach den Ansichten der pythagoreischen Lehre der kosmischen Harmonie durchführt," sondern nach dem

Grundsatz der platonischen Philosophie. Der „zweite Gang"^' zur Suche des Führungsprinzips der Welt, den Sokrates aufgrund der Enttüuschung über die Theorien der anderen Denker und insbesondere der des Anaxagoras unternimmt, 5* — Wenn man eine Beschreibung des Veründerungsprinzips des Universums zu finden versucht, die hingegen stark von pythagoreischen Elementen geprägt ist, so ist es notwendig, scine Aufmerksamkeit auf den Abschnitt des Timaios (29d7-42e4) zu richten, der der Weltseele gewidme sind. — τὸν δεύτερον πλοῦν ἐπὶ τὴν τῆς αἰτίας ζήτησιν (Phaed. 9909-41). Der Abschnitt geht von Phaed. 99c6 bis zum 107al.

210

Die Wiedergewinnung des Erkenntnisprinzips

zeigt, dass es für jede Veränderung sowohl im Universum, wie auch in der Seele nur cinc einzige Ursache gibt, die von der platonischen Lehre -- das Schóne an sich, das Gute an sich, die Größe an sich usw.“ - ausgeht. So findet auch der Übergang von Leben zum Tod oder, anders gesagt, die Unsterblichkeit der Seele

ihre Erklárung im Kern der platonischen Philosophic.

HEN VEM "P VEMM" , i - ἔρχομαι γὰρ δὴ ἐπιχειρῶν σοι ἐπιδείξασϑαι τῆς αἰτίας τὸ εἶδος ὃ πεπραγμάτευμαι. xai εἶμι πάλιν ἐπ᾽ ἐκεῖνα τὰ πολυϑρύλητα καὶ ἄρχομαι ἀπ᾽ ἐκείνων. ὑποϑόμενος eivai τι καλὸ. αὐτὸ xa9' αὑτὸ xai ἀγαϑὸν καὶ μέγα καὶ τάλλα πάντα (Phaed. 10063-7).

Pan: das ,,Tragische'* im λόγος Der Abschnitt über die Gótter beginnt mit der Analyse von Hestia, der Góttin des Herdes und endet mit Pan, dem Gott der offenen und wilden Gebiete.' Durch eine leichte Lautveránderung des Gótternamens (Πάν) wird diese Gottheit als das „Alles“ (ro πᾶν, d.h. das Universum) gedeutet. Eine ‚andere Assoziation fügt

sich unmittelbar an: Aufgrund der Ver

dt

bezicl

zu scinem Vater

Hermes, der als derjenige dargestellt wird, „der sich den λόγος ausdachte“ wird

Pan mit dem λόγος in Verbindung gebracht, bzw. als der λόγος gedcutet, der „allem einen Sinn gibt und kreist und immer herumlüuft*? Diese Darstellung von Pan gründet auf das vom Mythos überlicferte Bild, dass der Gott außerhalb der Stadt wohnt und dass er von einem ununterbrochenen Bewegungsdrang bescssen ist.’ Unter den platonischen Dialogen ist der Phaidros der Text, der dieselbe eigentümliche

Mischung

zwischen der Idee des „Draußen“

und dem λόγος im

Zusammenhang mit der Figur des Pan aufweist. Der Dialog findet auBerhalb der Stadtmauern statt, an den Ufern des Ilissos, an einem den Nymphen, dem Acheloos und dem Pan gewcihten Ort.” Dicse Gottheiten des „Draußen“, die das wilde Gebict auBerhalb der Stadtmaucrn bewohnen, haben sowohl im Kult als auch im Phaidros etwas mit einer poetischen (der Text sagt wörtlich „dithyrambischen“), auf jeden Fall mit den Worten verbundencn Inspiration zu tun,” von der Sokrates während seines ganzen Gesprächs mit Phaidros beeinflusst wird." Bci! — Vemant (1963) unterstreicht den Gegensatz der zwei Arten von Räumlichkeiten in der griechischen Vorstellungswelt, die durch die mythischen Figuren von Hestia und Hermes verkörpert werden. Eine vergleichbare Gegenüberstellung tritt auch im Gótter-Abschnitt des Kratylos auf, auch wenn das gegensätzliche Paar hier nicht durch Hestia und Hermes, sondem durch Hestia und Pan dargestellt ist. ? — Siehe dazu den Kommentar auf S. 158. * — Zu einer Erläuterung der traditionellen Figur von Pan und der Funktion, die diese Gotheit im religiösen Gedankengut der Griechen einnimmt, siehe Jünger (1943, 27-46); zum von Pan verkörperten Konflikt zwischen der Stadt und dem nichtstädtischen Gebiet siche insbesondere Borgeaud 1979, 94-95, —

Νυμφῶν

TÉ τινων

καὶ

Ἀχελῴον ἱερὸν ἀπὸ

τῶν

κορῶν

τε καὶ ἀγαλμάτων

ἔοικεν εἶναι

(Phaedr. 23067-8); Φεῦ. ὅσῳ λέγεις τεχνικωτέρας Νύμφας τὰς Ἀχελῴον καὶ Vlava τὸν Ἑρμοῦ Λυσίου τοῦ Κεφάλον πρὸς λόγους εἶναι (Phaedr. 26345-6). Zum Gegensatz der Bepriffe „draußen“ und „drinnen“, die wichtige Themen des Dialogs (Stadt/unberührte Natur, Scele/Körper, Gespräch/Schrift) bestimmen, siche Gaiser 1989, 110, 113-114, 139. . — Zur Bedeutung, die diese Gottheiten im Phaidros besitzen und vor allem zu ihrer Bezichung mit einer gewissen Art künstlerischer, mit den Worten verbundenen Inspiration, siche Görgemanns 1993, 137-140. — τῷ ὄντι yàg Seiog ἔοικεν ὁ τόπος εἶναι. ὥστε ἐὰν ἄρα πολλάκις νυμφόληπτος προϊόντος τοῦ λόγον γένωμαι. μὴ ϑαυμάσῃ: τὰ νῦν γὰρ οὐκέτι πόρρω διϑυράμβιων φϑέγγομαι (Phaedr. 238c9-d3); οὐκ ἤσϑου. ὦ μακάριε. ὅτι ἤδη ἔπη φϑόέγγομαι ἀλλ᾽ οὐκέτι διϑυράμβους. xai ταῦτα

212

Das .. Tragische" im λόγος

de Inspirationsquellen von Sokrates - die „Götter des Draußen“ mit ihrem cher poetischen Charakter sowie dic rein philosophische Inspiration des δαίμων und der Musen - überlagem sich im Laufe des Dialogs immer stärker, bis sic schließlich eins werden.’ Der Dialog schließt nicht zufällig mit dem Gebet des Sokrates an Pan über die Rolle des Weisen." Im Phaidros beobachtet man also Sokrates, den Mann, der durch die λόγοι der Stadt charakterisiert wird, während er Athen verläßt, um eine andere Art von λόγος zu finden, einc die alles verei-

nigt, sowohl die Fragen zur Struktur des Menschen, als auch dic Gefahren und die nen und geschriebenen Sprache verborgen Der phallische Gott, der Beschützer der

Universums und zum Schicksal des Potentialitäten, die in der gesprochesind. Hirten und der Weiden, der Gott des

Gebictes, das außerhalb der Grenzen der Äcker licgt und das noch nicht der Ar-

beit des Menschen unterworfen wurde, der Gott der wilden Natur, der Berge unu der Quellen, wird im Kratylos mit dem vom λόγος bewohnten Universum identifiziert. Mit der Einführung des λόγος in dic wilden Gebiete unternimmt Sokrates die Rationalisierung des Universums, man könnte fast sagen seine Zähmung. Jedoch entzieht sich das platonische Unterfangen (gerade darin bestcht die große Kraft seines Denkens) der vollkommenen Rationalisierung der Welt. Aufgrund der zweigeteilten Struktur, die den Gott charakterisiert - zur einen Hälfte ist er Mensch, zur anderen Bock -, wird der obere und glatte Teil Pans dem göttlichen λόγος, der im Himmel wohnt, zugeteilt, der rauhe und bockhafle (τραγοειδή.-. 408d2) Teil hingegen dem λόγος, der sich unter den Menschen und in ihren künstlerischen Ausdrucksformen, insbesondere in der Tragödie befindet.

Die gleiche Gegenüberstellung, dic das Ganze zwischen oben und unten, Götter und Menschen teilt, kam bercits im Abschnitt über Apollon als Gott der Musik vor, in dem die Sphäre der Götter (d.h. das Himmelsgewölbe) und die Sphäre der Menschen (d.h. dic Musik) durch das gleiche harmonische Prinzip eng miteinander verbunden waren. Apollon verkórperte dort cin dynamisches, rationales, mathematisches Prinzip, das dic Welt lenktc. Durch die Analyse von Hermcs und Pan wird jene Konzeption überwunden, dic cine völlig erkennbare Welt darstellte und die dic Musiktheoric als Schlüssel zur menschlichen Erkenntnis betrachtete. Der λόγος tritt auch im Pan-Abschnitt als Element auf, das das pesamte Universum erfasst; aber nur dem Himmelsgewölbe wird die erkennbare Regelmäßigkeit der Bewegung und die Wahrheit zugeschrieben, die Menschen ψέγων: ἐὰν δ᾽ ἐπαινεῖν τὸν ἕτερον ἄρξωμαι. τί με οἴει ποιήσειν: dg oic ὅτι ὑπὸ τῶν Νυμφων:. αἷς με σὺ προύβαλες ἐκ προνοίας. σαφῶν ἐνθουσιάσω: (Phaedr. 241e1-5); siehe auch Phiacdiór 262d3-5 und 263d5-6. Zu diesem Element des Dialogs siche Górgemanns 1993, 130-132. — Hierzu schreibt Górgemanns (1993,132): „An beiden Stellen [sc. Phaedr. 262d3.5, 278d8-9] werden das Nymphen-Motiv des Eingangsgesprüchs und das Musen-Motiv des Z1. kadenmythos übereinanderpeschoben". — Phaedr. 279b8-c3. Zu dem Gebet an Pan am Ende des Phaidros siehe die Artikel von Rosenmeyer 1962; Jackson 1971, 27-30; Clay 1979; Gaiser 1989.

Pan

213

hingegen werden von einem trügerischen, dem Tragödienstil ähnlichen λόγος beherrscht, der die zweifelhaften Erzählungen und die Lüge in sich bringt." Pan bedeutet hinsichtlich der Sprachmöglichkeiten der Menschen cin Element der Unsicherheit. Dies ist ciner der wichtigsten Punkte bei der originellen Sprachkonzeption Platons im Kratylos: der Übergang von ciner pythagorcisch geprägten Konzeption

im

Apollon-Abschnitt

zu einer Theorie, dic den „tragischen“

λόγος in den Mittelpunkt stellt. „Tragisch“ heißt von der Wahrheit entfernt sein, nicht mit der Natur des Gegenstandes übereinstimmend. In Bezug auf die Sprache heißt es demnach

„nicht rcferenticll". So schließt der Gótterabschnitt

mit einer Gottheit, die -- was die menschliche Ausdrucksmöglichkeit betrifft eine nicht-kratyleische, eine nicht- refcrenticlle, d.h. also cine „tragische“ Sprachthcorie vorweist. Auf diese Weise wird am Schluss der Göttergenealogie ein Echo erzeugt, das sich am Ende des Kratylos als theorctisches Ergebnis des gesamten Dialogs erweisen wird.

* — Die gleiche zweigeteilte Struktur des Universums wie in den Kratylos-Abschnitten, die die Götter, bzw. Sterne, der menschlichen Dimension gegenüberstellt, erscheint auch im Phaidros im Mythos der Zikaden. In diesem Abschnitt sind die Schutzgôttinnen der Philosophic, die Musen Urania und Kalliope, sowohl über die Himmelsbewegungen als auch über die göttlichen und menschlichen Reden gesetzt: τῇ δὲ πρεσβυτάτῃ Καλλιόπῃ xai τῇ μετ αντὴν Οὐρανίᾳ τοὺς ἐν φιλοσοφίᾳ διάγοντάς τε καὶ τιμῶντας τὴν ἐκείνων μουσικὴν ἀγγέλλουσιν. αἱ δὴ μάλιστα τῶν Μουσῶν περί τε οὐρανὸν καὶ λόγους οὖσαι ϑείους τε καὶ ἀνϑριυπίνους tiv καλλίστην φωνήν (Phaedr. 25943-7). Zu einer detaillierten Behandlung dieser Struktur und zum Vergleich mit den Nomoi und dem Timaios siche den Artikel von Stenzel 1914. 10 _ Siche dazu S. 42 IT.

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