160 39 147MB
German Pages 445 [448] Year 1975
Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß von
Dr. iur. Hans-Joachim Musielak
W DE
G 1975 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 3110049708 Copyright 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., l Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Sellier GmbH, Freising Buchbinderei: Wübben & Co., l Berlin 42
Meiner Frau
VORWORT Zu den elementaren Begriffen des Rechtslebens und der Rechtswissenschaft zählt die Beweislast. Ihre Bedeutung ist ebensowenig zu bestreiten wie die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisse, als deren Folge sie sich darstellt. Weil die Beweislast zu den unverzichtbaren Elementen einer auf rationalen Mitteln aufbauenden Streitentscheidung gehört, reicht ihre Entwicklung bis auf den Zeitpunkt zurück, in dem erstmals der Versuch unternommen worden ist, mit Hilfe sachlicher Methoden der Wahrheitsfindung anstelle eines transzendenten Beweissystems ein historisches Geschehen zu rekonstruieren. Denn dieser Versuch muß notwendigerweise die Möglichkeit eines Mißlingens der Tatsachenerklärung einschließen und durch die sich dann stellende Frage, welche Entscheidung angesichts der tatsächlichen Zweifel zu treffen ist, wird das Beweislastproblem angesprochen. Die lange historische Entwicklung hat die Beweislastlehre entscheidend geprägt und beeinflußt noch heute das Verständnis dieses Rechtsinstituts. Die Entdeckung, daß es sich bei der Beweislast um einen komplexen Begriff mit mehreren Komponenten handelt, hat zwar dazu veranlaßt, die Betrachtung im Schwerpunkt von der Beweisführung weg zu den endgültigen Folgen ihres Scheiterns zu lenken; dennoch bleibt die Beweislastlehre in der traditionellen Auffassung verhaftet, die Beweislast in jeder ihrer Erscheinungen in Beziehung zu den Parteien zu setzen. Die sich an den Richter wendenden Entscheidungsnormen der Beweislast können in dieser Vorstellung keinen angemessenen Platz finden. Schon aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, die bereits sehr häufig gestellte und erörterte Frage nach dem dogmatischen Verständnis der Beweislast mit besonderer Blickrichtung auf die Beweislastnormen zu wiederholen und davon ausgehend Begriff und Wesen der verschiedenen Erscheinungsformen der Beweislast erneut zu durchdenken. Dieser Aufgabe ist der erste Teil der folgenden Untersuchung gewidmet. Die enge Verflechtung der Beweislastlehre mit Rechtsansichten vergangener Epochen legt es nahe, der geschichtlichen Entwicklung Aufmerksamkeit zu schenken und zu versuchen, eine Trennung zwischen dem eigentlichen Begriffskern und der ihn umgebenden historischen Umhüllung vorzunehmen. Der zweite Teil der Arbeit dient deshalb der Darstellung der historischen Ausstattung, die der Beweislastbegriff — man kann ohne Übertreibung sagen: im Laufe von Jahrtausenden — erhalten hat. Hierbei ist jedoch eine Beschränkung auf die Beweislastfrage nicht möglich. Denn die Beweislast spiegelt in ihrem Inhalt die Prinzipien des Beweisrechts und des gesamten Gerichtsverfahrens wider, in das sie gestellt ist. Eine isolierte
VI
Vorwort
Betrachtung würde, was nicht immer genügend beachtet wird, von heutigen Vorstellungen des Prozeß- und Beweisrechts ausgehen und müßte deshalb ein zumindest verzerrtes Bild des Entwicklungsprozesses ergeben. Die übergeordneten Grundsätze der Beweislastregelung zu ermitteln und darzustellen sowie nach ihrer sachlichen und rechtspolitischen Begründung zu suchen, ist das Ziel des dritten und letzten Teiles der vorliegenden Arbeit. Dabei führt der Weg zu einer Lösung dieser Fragen über den konkreten Inhalt der Beweislastnormen, der im Zusammenwirken mit den materiellen Rechtsfolgesätzen für die Entscheidung im Fall einer fehlgeschlagenen Sachaufklärung maßgebend ist. Denn aus der Summe dieser Norminhalte und aus ihrem Verhältnis zu den materiellen Rechtssätzen, auf die sie sich beziehen, können die allgemeinen Prinzipien abgelesen werden, denen die Beweislastregeln unterstellt sind, und erst wenn diese Prinzipien erschlossen werden, ist es möglich, nach den sachlichen Gründen zu fragen, die für sie bestimmend sind. Werden auch der dogmatische, der historische und der rechtspolitische Problemkreis jeweils in verschiedenen voneinander getrennten Teilen der Untersuchung behandelt, so geht doch der innere Zusammenhang über die äußere Gliederung hinweg und schafft enge sachliche Beziehungen. Die Antworten, die auf die einzelnen Fragen gefunden werden, bauen aufeinander auf und beeinflussen sich gegenseitig; erst in ihrer Zusammenfassung ergibt sich eine vollständige Beschreibung der Grundlagen der Beweislast. Die Arbeit ist im Wintersemester 1973/74 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie wurde bereits im Sommer 1972 abgeschlossen. Die nach diesem Zeitpunkt veröffentlichten Abhandlungen und Gerichtsentscheidungen, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind, wurden noch nachträglich bis Oktober 1974 ausgewertet und berücksichtigt. Die Anregung für diese Arbeit bekam ich von Herrn Professor Dr. Gerhard Kegel; dafür und für die vielfache Förderung, die mir stets liebenswürdig und entgegenkommend gewährt wurde, möchte ich auch noch einmal an dieser Stelle sehr herzlich danken. Mein Dank gilt ferner dem Korreferenten der Arbeit, Herrn Professor Dr. Gottfried Baumgärtel. Zu danken habe ich auch Herrn Professor Dr. Gunter Gudian und Herrn Professor Dr. Andreas Wacke für wertvolle Hinweise zu rechtshistorischen Fragen. Zu besonderem Dank bin ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft verpflichtet, deren finanzielle Hilfe Fertigstellung und Druck der Arbeit ermöglichte. An dieser Untersuchung habe ich überwiegend in der Freizeit gearbeitet, die mir neben meiner Berufstätigkeit blieb. Dies war nur möglich, weil meine Frau mit großem Verständnis für meine wissenschaftliche Arbeit bereit gewesen ist, während vieler Jahre auf gemeinsam verlebte Mußestunden weitgehend zu verzichten. Als Zeichen meines Dankes widme ich ihr diese Schrift. Bonn, im März 1975 Hans-Joachim Musielak
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Schrifttumsverzeichnis Quellen Abkürzungen
V XIII XXXIX XLI
ERSTER TEIL Rechtstheoretische Grundlegung
l
Erster Abschnitt: Begriff und Wesen der Beweislast
l
§l
Die richterliche Entscheidung I. Das Problem des ungeklärten Sachverhalts II. Die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge a) Die Lehre Oskar Bülows b) Die Theorie Max Ernst Mayers c) Die „Reine Rechtslehre" Kelsens d) Die Rechtsanschauung Julius Binders e) Ergebnis
l l 4 5 7 10 16 18
§ 2 Die Beweislastnormen I. Ihre Funktion II. Ihre Wirkungsweise . Die systematische Stellung IV. Der Geltungsbereich
19 19 21 26 31
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien I. Die Feststellungslast (objektive Beweislast) II. Die Beweisführungslast (subjektive Beweislast) a) Der Begriff b) Die Beweisführungslast der Gegenpartei 1. Die Auffassung Rosenbergs S. 40 — 2. Eigene Stellungnahme S. 45 III. Der Begriff der Beweislast
32 33 36 36 39
§ 4 Das Verhältnis der Behauptungslast zur Beweislast I. Die subjektive Behauptungslast und die Beweisführungslast II. Die objektive Behauptungslast und die Feststellungslast III. Ergebnis
50 52 55 57
Zweiter Abschnitt: Beweislast und richterliche Beweis- und Verhandlungswürdigung
58
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen I. Die widerleglichen Tatsachen Vermutungen a) Die Wirkungen
60 61 62
50
VIII
Inhaltsverzeichnis b) Das Verhältnis zu den Beweislastnormen c) Der Begriff II. Die widerleglichen Rechtsvermutungen . Die unwiderleglichen Vermutungen und die Fiktionen
71 73 76 82
§ 6 Der Anscheinsbeweis I. Die üblichen Beschreibungen . Der Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit a) Die Meinung von Wassermeyer b) Eigene Stellungnahme c) Die Merkmale des Erfahrungssatzes im Rahmen des Anscheinsbeweises d) Folgerungen für den Gegenbeweis e) Feststellungslast und Beweisführungslast III. Der Anscheinsbeweis der Kausalität a) Einige Beispiele aus der Rechtsprechung b) Die Ansicht von Enka Pawlowski c) Die Meinung von Kegel d) Beweis und Wahrscheinlichkeit e) Das Beweismaß beim Anscheinsbeweis IV. Der Anscheinsbeweis in anderen Fällen V. Die wichtigsten Ergebnisse
83 86 89 89 89 92 96 98 99 99 102 104 105 120 128 130
§7 Die „Umkehr der Beweislast" I. Die Beweisvereitelung . Ungleiche Auf klätungsmöglichkeiten der Parteien III. Die grobe Verletzung von Berufspflichten IV. Der Verstoß gegen Schutzvorschriften a) Die Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB b) Die Unfallverhütungsvorschriften V. Der Organisations- und Gefahrenbereich a) ) Die Beweislastregelung bei der positiven Forderungsverletzung. . b) Die Beweislastregelung bei deliktischen Schadensersatzansprüchen gegen Hersteller von Industrieerzeugnissen VI. Die Beweislastregelung bei § 618 BGB
132 133 141 145 156 156 163 165 165
ZWEITER TEIL Die geschichtliche Entwicklung § 8 Der römische Zivilprozeß I. Die vorklassische und klassische Periode a) Gericht und Verfahren 1. Der Legisaktionenprozeß S. 191 — 2. Der Formularprozeß S. 192 b) Das Beweisrecht 1. Die Beweismittel S. 194 — 2. Die Beweiswürdigung S. 195 — 3. Die Beweislast S. 196 II. Die nachklassische Zeit a) Das Verfahren
180 184
190 190 191 191 194
201 201
Inhaltsverzeichnis
IX
b) Das Beweisrecht 202 1. Die Beweismittel S. 202 — aa) Zeugen S. 203 — bb) Urkunden S. 203 — cc) Eid S. 204 — 2. Die Beweiswürdigung S. 205 — 3. Die Beweislast S. 205 . Zusammmenfassung 208 § 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß I. Die germanische Zeit a) Gericht und Verfahren b) Das Beweisrecht 1. Das Ziel des Beweises S. 210 — 2. Die Beweismittel S. 211 — aa) Eid S. 211 — bb) Zeugen S. 213 — cc) Gottesurteil S. 215 — 3. Die Beweisführung S. 217 . Die fränkische Zeit a) Gericht und Verfahren b) Das Beweisrecht 1. Die Beweismittel S. 223 — 2. Die Beweisführung S. 224 — aa) Inhalt der Regelung S. 224 — bb) Sachliche Gründe S. 226 — 3.Das königgerichtliche Beweisverfahren S. 229 . Das Hoch-und Spätmittelalter a) Gericht und Verfahren b) Das Beweisrecht , 1. Die Beweismittel S. 232 — 2. Die Beweisführung S. 236 IV. Zusammenfassung
209 209 209 210
221 221 223
230 230 232 245
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß 245 I. Ursprung und Entwicklung 245 . Das Verfahren 247 III. Das Beweisrecht 249 a) Die Beweismittel 249 1. Zeugen S. 250 — 2. Urkunden S. 251 — 3. Eid S. 252 — 4. Notorität S. 253 — 5. Vermutungen S. 254 b) Die Beweiswürdigung 257 c) Die Beweislast 259 § 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption 262 I. Die Zeit bis zum jüngsten Reichsabschied 262 II. Die Entwicklung des Prozeßrechts bis zum Inkrafttreten der ZPO . . . 264 . Die Entwicklung der Beweislastlehre bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 267 a) Die Negativentheorie 268 b) Die Präsumtionstheorie 270 c) Die Grundlagentheorien 272 1. Die Beweislastlehre Adolf Dieterich Webers und von BethmannHollwegs S. 272 — 2. Die Kausaltheorie S. 276 d) Die Vorbereitung des Bürgerlichen Gesetzbuches 277 e) Der Beweislastbegriff 279 IV. Ergebnis 281
X
Inhaltsverzeichnis
DRITTER TEIL Der Inhalt der Beweislastregelung und seine sachliche Begründung
282
Erster Abschnitt: Die Beweislastregelung im Zivilprozeß
282
§ 12 Die heutigen Beweislasttheorien
282
I. II. . IV.
Ihr Gegenstand Die Vollständigkeitstheorie Leonhards Die Normentheorie Die Wahrscheinlichkeitstheorie
§ 13 Die eigene Meinung I. Der Ausgangspunkt II. Die Grundregel III. Die einzelnen Arten von Tatbestandsmerkmalen a) Rechtsvernichtende und rechtshemmende Merkmale b) Rechtsbegründende und rechtshindernde Merkmale l.Die Fragestellung S. 294 — 2. Die Auffassung Rosenbergs S. 295 — 3. Die Bedeutung der rechtshindernden Merkmale S. 298 IV. Das Verhältnis von Rechtsfolgesatz und Beweislastnormen V. Die Sonderregeln a) Zum Begriff b) Die ausdrücklichen Beweislastnormen im BGB 1. Die abzuleitenden Beweislastnormen S. 304 — 2. Die unechten „Vermutungen" S. 309 — 3. Die (echten) Vermutungen S. 310 c) Die ungeschriebenen Sonderregeln VI. Die Rechtsquelle der Beweislastregeln a) Die Beweislastnormen nach der Grundregel b) Die Sonderregeln c) Ergebnis § 14 Die Beweislastregelung bei Rechtsgeschäften I. Die Beweislastregelung bei Zweifeln über die wirksame Abgabe von Willenserklärungen und das Zustandekommen von Verträgen . . . . II. Die Beweislastregelung bei Zweifeln an der Prozeß- und Geschäftsfähigkeit . Die Beweislastregelung bei Zweifeln an dem Vertragsinhalt a) Die Bedingung 1. Der Meinungsstreit zwischen Einwendungs- und Leugnungstheorie S. 332 — 2. Das Verhältnis von Rechtsgeschäft und Gesetz S. 336 — 3. Der Inhalt der Beweislastregelung S. 338 — 4. Ergebnis S. 342 b) Die Dispositivbestimmungen c) Die Vereinbarung der Gegenleistung d) Das Handeln im eigenen oder fremden Namen e) Ergebnis
282 283 286 290 292 292 293 294 294 294
300 303 303 304
310 311 312 313 319 320 321 323 330 332
343 348 350 353
Inhaltsverzeichnis
XI
Zweiter Abschnitt: Die sachlichen Grundlagen der Beweislast
353
§15 Grundrege l und Tatbestandsmerkmale
354
I. Die Grundregel der Beweislastnormen II. Die Einteilung der Tatbestandsmerkmale § 16 Die Begründung der Sonderregeln
354 355 359
I. Die Vermutungen a) Die einzelnen Fälle b) Zusammenfassende Wertung II. Die ausdrücklichen Beweislastregeln a) Die einzelnen Fälle b) Zusammenfassende Wertung III. Die ungeschriebenen Sonderregeln
359 359 366 367 367 370 371
§17 Die Begründung für die rechtshindernden Merkmale
372
I. Einzelne Fälle II. Zusammenfassende Wertung
372 380
§ 18 Die sachlichen Gründe der Beweislastregelung im Zivilrecht (Zusammenfassung) 382 Zusammenfassung der wesentlichsten Ergebnisse
384
Sachverzeichnis
399
SCHRIFTTUMSVERZEICHNIS* Versuch einer Geschichte der Preußischen Zivil-Prozeß-Gesetzgebung, Breslau 1848 Procis de droit remain, Band 2, 3. Auflage, Paris 1882 Accarias, C. Adenauer, Hans-Günther Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555—1810, Kölner Dissertation 1969 Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, München 1969 Adomeit, Klaus — Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche. Zur Stellung der Privatautonomie im Rechtssystem, Berlin 1969 Albrecht, Guil. Eduard Commentatio juris Germanici antiqui doctrinam de probationibus adumbrans, Pars altera, Regiomonti 1827 (abgekürzt: Albrecht, II) Albrecht, J. A. Michael Die Exceptionen des gemeinen teutschen Civilprocesses geschichtlich entwickelt, München 1835 Aisberg, Max-Nüse, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 2. Auflage, Köln/Berlin 1956 Karl-Heinz Grundriß des germanischen Rechts, 3. Auflage, Straßburg 1913 v. Amira, Karl Beweisführung und Beweislast im Verfahren vor dem EuroAndre, Achim päischen Gerichtshof, KSE 6, Köln/Berlin/Bonn/München 1966 Assmann, Johannes B. F, Dissertatio inauguralis juridica de qualitate negativae ejusque probatione ad L. 23 C. de probat., Erfordiae 1761 Aubry et Rau Droit civil francais, sixieme edition par Paul Esmein, tome douzifeme, Paris 1958 Auer, Wolfgang Die Verteilung der Beweislast im Verwaltungsstreitverfahren, Mainzer Dissertation 1963 Bachofen, Johannes J. De Romanorum iudiciis civilibus de legis actionibus de formulis et de condictione, Göttingen 1840 Deutsches Recht, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Band III, Bader, Karl 2. Auflage, Sp. 1971—2024, Berlin/Bielefeld/München 1960— 1962 Zur Lehre vom Gattungskauf, in: Festschrift für H. C. NipperBallerstedt, Kurt dey zum 60. Geburtstag, S. 261—282, München/Berlin 1955 Balogh, Elemer Beiträge zum Justinianischen Libellprozeß, in: Studi in onore di Salvatore Riccobono nel XL anno del suo insegnamento, Band 2, S. 446—519, Palermo 1936 v. Bar, L. Das Beweisurtheil des germanischen Processes, Hannover 1866 Recht und Beweis im Civilprocesse, Leipzig 1867 Baumann, Jürgen Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Zivilprozeßrechts, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1970 Abegg, J. Fr. H.
* Kürzere Abhandlungen, deren Fundstelle sich aus dem Zitat in den Fußnoten ergibt, sind hier nicht aufgeführt.
XIV
Baumbach- Lauterbach
Schrifttumsverzeichnis
Zivilprozeßordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und anderen Nebengesetzen, 32. Auflage unter Mitarbeit von Jan Albers und Peter Hartmann, München 1974 Baumgärtel, Gottfried Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß, Berlin/Frankfurt 1957 Die Gutachter- und Urteilstätigkeit der Erlanger Juristenfakultät in dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtspflege, Erlangen 1962 Zivilprozeßrecht, Köln/Berlin/Bonn/München 1971 (abgekürzt: Baumgärtel, ZPR) Baur, Frit2 Entwicklung und Reform des Schadensersatzrechts, Tübinger Dissertation 1935 Lehrbuch des Sachenrechts, 7. Auflage, München 1973 Bayer, Hieronymus Vorträge über den gemeinen ordentlichen Qvilprozeß mit Beziehung auf Martins Lehrbuch, 3. Auflage, München 1832 Beaudouin, Edouard Remarques sur la preuve par le serment du defendeur dans le droit franc, in: Annales de l'Universite de Grenoble VIII 3, S. 407—510 (1896) Becker, Walter G. Gegenopfer und Opferverwehrung, Berlin/Frankfurt, M. 1958 Beckh, Hermann Die Beweislast nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, München 1899 Behm, Hanns, L. Die juristische Konstruktion der Rechtsvermutung, Erlanger Dissertation 1914 Beitzke, G.-Hosemann, Vaterschaftsgutachten für die gerichtliche Praxis, 2. Auflage, H.-Dahr, P.-Schade, H. Göttingen 1965 Bekker, Ernst I. Die Aktionen des Römischen Privatrechts, Band I und II, Berlin 1871/1873 Deutsches Reichsstrafprozeßrecht mit Einschluß des StrafBeling, Ernst gerichtsverfassungsrechts, Berlin/Leipzig 1928 Berg, Hans Gutachten und Urteil, Düsseldorf 1963 Bernhardt, Wolfgang Das Zivilprozeßrecht, 3. Auflage, Berlin 1968 Bertolini, Cesare Appunti didattici di diritto romano, Serie seconda, II processo civile, Band I-III, Torino 1913—1915 v. Beseler, Gerhard Beiträge zur Kritik der römischen Rechtsquellen, 3. Heft, Tübingen 1913 v. Bethmann-Hollweg, Versuche über einzelne Theile der Theorie des Civilprozesses, Berlin/Stettin 1827 Moritz August Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung, Band I-V, Bonn 1864—1871 Verwaltungsakt und Richterspruch, in: Forschungen und BeBettermann, Karl A. richte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 361—389, München 1955 Die Beweislast im Verwaltungsprozeß, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, S. E 26—48, München/ Berlin 1967 Betti, Emilio Ergänzende Rechtsfortbildung als Aufgabe der richterlichen Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Leo Raape zu seinem 70. Geburtstag, S. 379—399, Hamburg 1948 Betzinger, B. Die Beweislast im Zivilprozeß mit besonderer Rücksicht auf das Bürgerliche Gesetzbuch, 3. Auflage, Berlin 1910
Schrifttumsverzeichnis Beyerle, F.
v. BiebersteinKrasicki, Dennis Bierling, Ernst R. Binder, Julius
Birkmeyer, Karl Blomeyer, Arwed
Böhme, Rudolf Boehmer, Gustav
Boehmer, Justus H.
Bohne, Gotthold Bolding, Per Olof
XV
Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, I. Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß der Volksrechte, in: Deutschrechtliche Beiträge X 2, Heidelberg 1915 Das Prozeßrecht der Gerichts- und Landesordnungen der fürstenbergischen Territorien im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburger (ungedruckte) Dissertation 1947 Juristische Prinzipienlehre, I. und IV. Band, Aalen 1961 (Neudruck der Auflage von 1894—1917) Rechtsnorm und Rechtspflicht, Erlangen 1911 Prozeß und Recht, Aalen 1969 (Neudruck der Auflage von 1927) Der Adressat der Rechtsnorm und seine Verpflichtung, Leipzig 1927 Deutsches Strafprozeßrecht, Berlin 1898 Beiträge zur Lehre vom Streitgegenstand, in: Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin zum 41. Deutschen Juristentag in Berlin, S. 51—77, Berlin/Frankfurt 1955 Zivilprozeßrecht. Erkenntnisverfahren, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963 Beweislast und Beweiswürdigung im Zivil- und Verwaltungsprozeß, Gutachten für den 46. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I, Teil 2 A, München/Berlin 1966 Allgemeines Schuldrecht, 4. Auflage, Berlin/Frankfurt, M. 1969 Das Beweissystem des Freiberger Stadtrechtes, Leipziger Dissertation 1913 Der Übergang des Pflichtlebens des Erblassers auf den Erben, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, III. Band, S. 216—316, Berlin/Leipzig 1929 Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, Erstes Buch: Das bürgerliche Recht als Teilgebiet der Gesamtrechtsordnung, Tübingen 1950 lus ecclesiasticum protestantium usum hodiernum iuris canonici iuxta serium decretalium ostendens, Band I, 5. Auflage, Halle/Magdeburg 1756 Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, Köln 1948 Aspects on the Burden of Proof, Acta Universitatis Stockholmiensis, Studia Juridica Stockholmiensia 9 (Sonderdruck aus Scandinavian Studies in Law 4, 1960, S. 9—27), Göteborg/ Stockholm/Uppsala 1960 Sachaufklärung und Überzeugungsbildung im Schwedischen Zivilprozeß, in: Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Schriftenreihe der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Band 30, S. 57—64, Frankfurt, M./Berlin 1966
XVI
Bolgiano, Karl
Schrifttumsverzeichnis
Handbuch des Reichs-Civil-Prozeßrechts auf rationellen Grundlagen, mit vergleichender Darstellung des gemeinen deutschen Civilprozesses, Allgemeiner Theil, Stuttgart 1879 Borst, Nepomuk Über die Beweislast im Civilproceß, 2. Auflage, Leipzig 1824 Brauer, HelmuthDer Zivilrechtsfall in Prüfung und Praxis, 5. Auflage, Berlin/ Schneider, Egon Frankfurt, M. 1970 Bresslau, Harry Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, 2. Auflage, 1. Band, Leipzig 1912 (abgekürzt: Bresslau, I) Brodmann, Erich Vom Stoffe des Rechts und seiner Struktur. Das Recht im Prozeß, Berlin 1897 Brox, Hans Allgemeines Schuldrecht, 4. Auflage, München 1974 Brüggemann, Dieter Judex statutor und judex investigator, Bielefeld 1968 Brunner, Heinrich Zeugen- und Inquisitionsbeweis im deutschen Gerichtsverfahren karolingischer Zeit, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophischhistorische Classe, Band 51, S. 343—505, Wien 1886 Die Entstehung der Schwurgerichte, Berlin 1872 Das Gerichtszeugnis und die fränkische Königsurkunde, in: Festgaben für August Wilhelm Heffter zum 3. August 1873, S. 133—172, Berlin 1873 Carta und Notitia. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der germanischen Urkunde, in: Commentationes philologae jn honorem Theodori Mommseni, S. 570—589, Berlin 1877 Zur Rechtsgeschichte der Römischen und Germanischen Urkunde, Berlin 1880 Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage, Leipzig 1906 Brunner, HeinrichGrundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 8. Auflage, Münvon Schwerin, Claudius chen/Leipzig 1930 Bruns, Rudolf Zivilprozeßrecht, Berlin/Franfurt, M. 1968 Buchner, Andreas Das öffentliche Gerichtsverfahren in bürgerlichen und peinlichen Rechtsvorfallenheiten nach altdeutscher vorzüglich altbaierischer Rechtspflege, Erlangen 1825 Buckland, W. W. A Text-Book of Roman Law from Augustus to Justinian, 3. Auflage, bearbeitet von Peter Stein, Cambridge 1963 Bülow, Oskar Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885 Burckhard, Hugo Die Civilistischen Präsumtionen, Weimar 1866 Methode und System des Rechts mit Beispielen, Zürich 1971 Burckhardt, Walther (Neudruck der Ausgabe von 1936) Bydlinski, Franz Probleme der Schadensverursachung nach deutschem und österreichischen Recht, Stuttgart 1964 Bylund, Leif Bevisbörda och bevistema, Stockholm 1970 Canaris, Claus-Wilhelm Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, Berlin 1964 Lehrbuch des Oesterreichischen Civilprozeßrechtes, Band I v. Canstein und II, 2. Auflage, Berlin 1893 Claproth, Justus Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß, 2. Theil, 4. Auflage, herausgegeben von Friedrich Christoph Willich, Göttingen 1817 Dissertatio juridica inauguralis de directa probatione negativae, Cocceji, Henricus Frankfurt 1698
Schrifttumsverzeichnis
XVII
Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Berlin 1969 La procedure par libelle, Paris 1932 La nature des actions des interdits et des exceptiones dans l'oeuvre de Justinien, Etudes historiques sur le droit de Justinien, tome cinquieme, 1947 Grundlinien einer Theorie des Beweises im Civilprozeß nach Collmann, Carl Ch. gemeinem in Deutschland geltenden Rechte, Braunschweig 1822 Deutsche Rechtsgeschichte, Band I und II, 2. Auflage, KarlsConrad, Hermann ruhe 1962/1966 Die Eidhelfer des Beklagten nach ältestem deutschen Recht, Cosack, Konrad Stuttgart 1885 Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts auf der Grundlage des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, 1. Band, 2. Auflage, Jena 1899 Coulanges, Pustel de Histoire des institutions politiques de l'ancienne France, 3. Band, 5. Auflage, Paris 1925 Beiträge zur Lehre von der Beweislast, Bonner Dissertation Cüppers, Joseph 1902 Manuel des institutions juridiques des romains, 2. Auflage, Cuq, Edouard Paris 1928 Dänzer, Otto A. Die tatsächliche Vermutung, Freiburger Dissertation 1914 Studien zur Geschichte der germanischen Gottes-Urtheile, in: Dahn, Felix Bausteine, Gesammelte kleine Schriften, 2. Reihe, S. l—75, Berlin 1880 Fehde-Gang und Rechts-Gang der Germanen, in: Bausteine, S. 76—128 Danz, Wilhelm, A. F.- Grundsätze des ordentlichen Prozesses, 5. Auflage, Stuttgart v. Gönner, Nicolaus Th. 1821 Le fait et le droit dans la procedure classique romaine, in: Le Dekkers, R. fait et le droit. Etudes de logique juridique, S. 15—26, Brüssel 1961 Delbrück, Berthold Die dingliche Klage des deutschen Rechts, Leipzig 1857 Deppe, Günter Die Beweislast im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsprozeß, Dissertation Münster, Paderborn 1961 Dernburg, Heinrich Pandekten, 1. Band, 3. Auflage, Berlin 1892 Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, 1. Band, 5. Auflage, Halle 1893 Deutsch, Erwin Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, Köln/Berlin/Bonn/ München 1963 Diederichsen, Uwe Die Haftung des Warenherstellers, München/Berlin 1967 Diehl, Hans Gerichtsverfassung und Zivilprozeß in der Wormser Reformation von 1499, Freiburger Dissertation 1932 Döhring, Erich Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953 Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß, Berlin 1964 Absurdes Recht? in: Festschrift für H. C. Nipperdey zum 70. Dolle, Hans Geburtstag, Band I, S. 23—36, München/Berlin 1965 Dopsch, Alfons Die Grundherrlichkeit der Karolingerzeit (Immuniät und Vogtei), in: Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, S. 11—50, Wien 1928 Going, Helmut Collinet, Paul
Musielak, Beweislast
Schrifttumsverzeichnis Dossmann, Ernst Drefahl, Werner v. Dressler, Wolfgang Drost, H. Dubischar, Roland Düringer, Adelbert Dulckeit, GerhardSchwarz, Fritü Dunz, Walter Ebel, Wilhelm
Eck, Ernst
Ehrlich, Eugen Ehrlicher, Ernst Eichler, Hermann Eichmann, Eduard Eisele, Fridolin Ekelöf, Per Olof Endemann, Friedrich Endemann, Wilhelm
Engelmann, Arthur Engisch, Karl
Die Beweislast bei der conditio ob causam datorum, Leipziger Dissertation 1902 Die Beweislast und die Beweiswürdigung im Versicherungsrecht (Gleichzeitig ein kritischer Beitrag zum prima-facieBeweis), Hamburg 1939 Die Beweislast bei der Wandelung, Göttinger Dissertation 1929 Das Ermessen des Strafrichters. Zugleich ein Beitrag zu dem allgemeinen Problem Gesetz und Richteramt, Berlin 1930 Grundbegriffe des Rechts, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968 Richter und Rechtsprechung, in: Festschrift der Universität Leipzig zur fünfhundertjährigen Jubelfeier gewidmet von der Juristischen Gesellschaft in Leipzig, S. 183—224, Leipzig 1909 Römische Rechtsgeschichte, 5. Auflage, München 1970 Zur Praxis der zivilrechtlichen Arzthaftung, Karlsruhe 1974 Forschungen zur Geschichte des lübischen Rechts, I. Teil: Dreizehn Stücke zum Prozeß- und Privatrecht, Lübeck 1950 Studie über ein Goslarer Ratsurteilsbuch des 16. Jahrhunderts, Göttingen 1961 Die neue deutsche Civilprozeß-Ordnung, in: Deutsche Zeitund Streit-Fragen, Heft 26, Berlin 1873 Vorträge über das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band I, 2. Auflage, Berlin 1903 Grundlegung der Soziologie des Rechts, München/Leipzig 1929 (Neudruck der Ausgabe von 1913) Der Prima-facie-Beweis, die Berücksichtigung prozessualer Billigkeit bei Bildung der richterlichen Überzeugung, Göttinger Dissertation 1927 Gesetz und System, Berlin 1970 Das Prozeßrecht des Codex luris Canonici, Paderborn 1921 Cognitur und Procuratur. Untersuchungen zur Geschichte der processualen Stellvertretung, Freiburg/Tübingen 1881 Rättegang, 4. Teil, 2. Auf läge, Stockholm 1968 Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Band, 8. Auflage, Berlin 1903 Der Deutsche Civilprozeß, 3. Band, Berlin 1879 Die Beweislehre des Civilprozesses, Heidelberg 1860 Die Entwicklung des Beweisverfahrens im Deutschen Civilprozess seit 1495, Bonn 1895 Der Civilprozeß. Geschichte und System, Band I-III, Breslau 1889—1901 Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953 Logische Studien zur Gesetzesanwendung 3. Auflage, Heidelberg 1963 Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, Münchener Universitätsreden, Heft 35 (N. F.), München 1963 Einführung in das juristische Denken, 3. Auflage, Stuttgart 1964
Schrifttumsverzeichnis Enneccerus-Lehrmann Enneccerus-Nipperdey Erler, Adalbert
Erman, Walter Esmein, A. Esser, Carl Esser, Josef
Fehr, Hans Pickel, Ludwig Ficker, Julius Fikentscher, Wolfgang Fischer, Otto Fischer, Robert Fitting, Hermann Fltume, Werner
Förster, A.Kann, Richard Franciosi, Gennaro Franklin, Otto Friedrichs, Karl Gaupp, Rolf D. »
XIX
Recht der Schuldverhältnisse, 15. Auflage, Tübingen 1958 Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Band, Halbband l und 2, 15. Auflage, Tübingen 1959/1960 Der Ursprung der Gottesurteile, in: Paideuma, Mitteilungen zur Kulturkunde, Band II, Heft 1/2, S. 44—65, Leipzig 1941 „Aequitas" in Sprüchen des Ingelheimer Oberhofes, in: Rechtshistorische Forschungen, Festschrift für Guido Kisch anläßlich des 60. Geburtstags, S. 53—67, Stuttgart 1955 Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Auflage, 1. und 2. Band, Münster 1972 Cours elementaire d'histoire du droit francais, 8. Auflage, Paris 1907 Die Beweislast beim Kauf auf Probe, Rostocker Dissertation 1903 Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, Frankfurt, M. 1940 Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, Wien 1949 Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956 Vorwort zum Bericht über die Verhandlungen der Fachgruppe für Grundlagenforschung anläßlich der Tagung für Rechtsvergleichung in Kiel 1965, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung (s. Bolding, Sachaufktärung), S. 5—14 Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, S. 95— 130, Tübingen 1967 Schuldrecht, Band I und II, 4. Auflage, Karlsruhe 1970/1971 Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt, M. 1970 Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Auflage, Berlin 1962 Das Wesen der Beweislast, Erlanger Dissertation 1934 Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, Band III, Innsbruck 1870/72 Schuldrecht, 4. Auflage, Berlin/New York 1973 Lehrbuch des deutschen Zivilprozeß- und Konkursrechts, Berlin 1918 Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, Karlsruhe 1971 Der Reichs-Civilprozeß, 12. und 13. Auflage, Berlin 1907 Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Band: Das Rechtsgeschäft, Berlin/Heidelberg/New York 1965 Richter und Recht, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, S. K 5—35, München/Berlin 1967 Die Zivilprozeßordnung für das Deutsche Reich, 1. Band, 3. Auflage, Berlin 1913 II processo di liberta in diritto romano, Napoli 1961 Das Reichshofgericht im Mittelalter, 2. Band, Weimar 1869 Verwaltungsrechtspflege, 1. Band, Berlin 1920 Beweisfragen im Rahmen ärztlicher Haftungsprozesse, Tübinger Dissertation 1969
XX
Gautschi, Walter
Schrifttumsverzeichnis
Beweislast und Be-weiswürdigung bei freiem richterlichem Ermessen, Zürich 1913 Geigel, ReinhartDer Haftpflichtprozeß mit Einschluß des materiellen HaftGeigel, Robert pflichtrechts, 15. Auflage, München 1972 Genzmer, Felix Rache, Wergeid und Klage im altgermanischen Rechtsleben, in: Jahresbände der wissenschaftlichen Akademien Tübingen, Band l (1937—1939), S. 280—297, Tübingen 1940 Georgiades, Apostolos Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, München 1968 Gerber, Hermann Beiträge zur Lehre von Klagegrunde und der Beweislast mit besonderer Beziehung auf gewisse obligatorische Verhältnisse, auf die Nichterfüllung und die Sicherung des Objekts mittels secundärer Leistungen, Jena 1858 Ghisalberti, Carlo La teoria del notorio nel diritto comune, in: Annali di Storia del Diritto. Rassegna internazionale I, S. 403—451, Milano 1957 Giesker-Zeller, Die Rechtsanwendbarkeitsnormen (Beiheft zur Rheinischen Heinrich Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht VI 3), Mannheim/Berlin/Leipzig 1914 Gioffredi, Carlo Diritto e processo nelle antiche forme giuridiche romane, Rom 1955 Glaser, Julius Handbuch des Strafprozesses, 1. Band, Leipzig 1883 Beiträge zur Lehre vom Beweise im Strafprozeß, Leipzig 1883 Glitsch, Heinrich Mittelalterliche Gottesurteile, Leipzig 1918 v. Globig, Harms E. Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit zur Gründung des historischen und gerichtlichen Beweises, I. und II. Theil, Regensburg 1806 Glück, Christian F. Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, 21. Theil, 1. Abtheilung, Erlangen 1820 Gobier, Justinus Gerichtliche Proceß, auß geschribenen Rechten und nach gemeinem im Heyligen Reich Teutscher Nation gebrauch und ubung, Frankfurt, M. 1567 Gönner, Nicolaus Th. Handbuch des deutschen gemeinen Processes, 2. Band, 2. Auflage, Erlangen 1804 Entwurf eines Gesetzbuchs über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen, I. und II. Band, Erlangen 1815/ 1816 Goldmann, Max Über den Unterschied zwischen der Vermutung einer Tatsache und der Vermutung eines Rechtsverhältnisses, Breslauer Dissertation 1913 Goldschmidt, James Materielles Justizrecht (Rechtsanspruch und Strafrecht), in: Festgabe für Bernhard Hübler zum 70. Geburtstage, S. 85— 152, Berlin 1905 Zwei Beiträge zum materiellen Zivil justizrecht, in: Festschrift für Heinrich Brunner zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum, S. 109—161, München/Leipzig 1914 Der Prozeß als Rechtslage. Eine Kritik des prozessualen Denkens, Berlin 1925 Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, Berlin 1932 (abgekürzt: Goldschmidt, ZPR) v. Greyerz, Christoph Der Beweis negativer Tatsachen, Berner Dissertation 1963
Schrifttumsvci2eichnis Grimm, Jacob
v. Grolmann, Karl Groß, Carl Griinhut, Max Grumbrecht, Jürgen Grunsky, Wolfgang Gudian, Gunter
Güldner, Werner Guldener, Max
Habscheid, Walther Hänel, Albert
Hainmüller, Dietmar Hanau, Peter Hanausek, Gustav Hasenöhrl, Victor
Hasler, Kurt Hedemann, Justus W. Heffter, August W.
XXI
Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Auflage, Leipzig 1922 (Neudruck der Ausgabe von 1899) (zitiert sind jeweils die Auflage von 1899 und der Neudruck, die römischen Zahlen bezeichnen die Bände des Neudrucks) Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, 5. Auflage, Gießen 1826 Die Beweistheorie im canonischen Proceß mit besonderer Rücksicht auf die Fortentwicklung derselben im gemeinen deutschen Civilproceß, I. und II. Teil, Wien 1867/1880 Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht, Tübingen 1926 Der Beweis der offenbaren Unmöglichkeit der Vaterschaft, Köln/Berlin/Bonn/München 1967 Grundlagen des Verfahrensrechts, Bielefeld 1970 Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, begründet von Otto von Gierke, Band 10 N. F.), Aalen 1968 Gemeindeutsches Recht im Mittelalter? In: lus commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Europäische Rechtsgeschichte, Band II, S. 33—42, Frankfurt, M. 1969 Die Beweislast für Verschulden bei der Haftung für positive Vertragsverletzung, Verschulden beim Vertragsschluß und nachvertragliches Verschulden, Bonner Dissertation 1965 Beweiswürdigung und Beweislast nach schweizerischem Zivilprozeßrecht, Zürich 1955 Über die Herkunft des schweizerischen Zivilprozeßrechtes, Berlin 1966 Freiwillige Gerichtsbarkeit, 5. Auflage, München 1971 Speculum Saxonicum et Svevicum quatenus in iure probandi inter se discrepent sive congruant, exponitur, I. und II. Teil, Leipzig 1857/1858 Das Beweissystem des Sachsenspiegels, Leipzig 1858 Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat im heutigen deutschen Schadensersatzprozeß, Tübingen 1966 Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit. Eine Studie zum Problem des pflichtmäßigen Alternativverhaltens im bürgerlichen Recht, Göttingen 1971 Unfallversicherung und Beweislast nach österreichischem Rechte, Wien 1916 Die Beweiszutheilung im österreichischen Rechte des Mittelalters, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Classe, Band 139, Wien 1898 Die Feststellung des Tatbestandes im Zivilprozeß, Zürcher Dissertation 1926 Die Vermutung nach dem Recht des Deutschen Reiches, Jena 1904 Anmerkungen und Zusätze zu Adolph Dieterich Weber, Über die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprozeß (s. dort)
Schrifttumsverzeichnis Heinsheimer, Karl
Die Freiheit der richterlichen Überzeugung und die Aufgaben der Revisionsinstanz, in: Festschrift für Franz Klein zu seinem 60. Geburtstag, S. 133—146, Wien 1914 Hellmann, Friedrich Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes für den akademischen und praktischen Gebrauch, München 1886 Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechts, I. und . Band, Hellwig, Konrad Leipzig 1903/1907 System des deutschen Zivilprozeßrechts, 1. Teil, Leipzig 1912 Anspruch und Klagerecht, Aalen 1967 (Neudruck der Ausgabe von 1924) v. Heimelt, Theodor L. Beitrag zur Lehre des Unterschiedes zwischen Klageableugnung und Einrede, Gießen 1849 Henckel, Wolfram Prozeßrecht und materielles Recht, Göttingen 1970 Henke, Horst-Eberhard Die Tatfrage, Berlin 1966 Henkel, Heinrich Einführung in die Rechtsphilosophie, München/Berlin 1964 Henle, Rudolf Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, I. Allgemeiner Teil, Berlin 1926 Hermann, E. Die Grundelemente der altgermanischen Mobiliarvindication (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Otto Gierke, 20. Heft), Breslau 1886 Herr, Paul Die Beweislast in der jüngsten Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, Dissertation Münster, Hamm 1938 Hildenbrand, Karl Die Purgatio canonica und vulgaris, München 1841 Hille, Wilhelm Die Beweislast bei der Vertragserfüllung, Erlanger Dissertation 1934 Himstedt, Heinrich Die neuen Rechtsgedanken im Zeugenbeweis des oberitalienischen Stadtrechtsprozesses des 13. und 14. Jahrhunderts, Freiburger Dissertation 1909 v. Hippel, Fritz Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht der Parteien im Zivilprozeß, Frankfurt, M. 1939 His, Rudolf Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina, München/Berlin 1928 Hitzig, Hermann F. Die Assessoren der römischen Magistrate und Richter, München 1893 Höfer, Gerhard Der Prima-facie-Beweis in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, Göttinger Dissertation 1926 Hofmann, Edgar Die Umkehr der Beweislast in der Kausalfrage, Karlsruhe 1972 Hohenlohe, Constantin Beiträge zum Einflüsse des kanonischen Rechts auf Strafrecht und Prozeßrecht, Innsbruck 1918 Homeyer, Carl G. Des Sachenspiegel zweiter Theil nebst den verwandten Rechtsbüchern, 2. Band, Berlin 1844 Der Richtsteig Landrechts nebst Cautela und Premis, Berlin 1857 Hübner, Heinz Zurechnung statt Fiktion einer Willenserklärung, in: Festschrift für H. C. Nipperdey zum 70. Geburtstag, Band I, S. 373—400, München/Berlin 1965 Hübner, Rudolf Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit. Erste Abteilung: Die Gerichtsurkunden aus Deutschland und Frankreich bis zum Jahre 1000, ZSS 12 (1891). Anhang
Schrifttumsverzeichnis Hübner, Rudolf
Hummel, K.
Husserl, Gerhart v. Ihering, Rudolf
Ihm, P.
Isay, Hermann Jahr, Günther Jobbe-Duval, Emile Jörs, Paul-Kunkel, Wolfgang-Wenger, L. Johannssen, Walther Jolly, Julius Juncker, Josef
Jung, Fritz Kaegi, Adolf
Kahrs, Hans-Jürgen Kariowa, Otto Käser, Max
XXIII
Der Immobiliarprozeß der fränkischen Zeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Otto Gierke, 42. Heft), Breslau 1893 Die serologische Begutachtung mit biostatistischer Auswertung in: Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung mit biostatistischem Beweis, herausgegeben von K. Hummel, S. 2—52, Stuttgart, 1961 Rechtskraft und Rechtsgeltung, 1. Band, Berlin 1925 Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode, Jena 1889 Der Zweck im Recht, 1. Band, 3. Auflage, Leipzig 1893 Die mathematischen Grundlagen vor allem für die statistische Auswertung des serologischen und anthropologischen Gutachtens, in: Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung mit biostatistischem Beweis (s. Hummel), S. 128—145 Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929 Litis contestatio, Streitbezeugung und Prozeßbegründung im Legisaktionen- und Formularverfahren, Köln/Graz 1960 Etudes sur l'histoire de la procedure civile chez les romains, 1. Band, Paris 1896 Römisches Privatrecht, 3. Auflage, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1949 Die Präsumtion im Prozeß, Rostocker Dissertation 1909 Über das Beweisverfahren nach dem Rechte des Sachsenspiegels, Heidelberger Dissertation 1846 Haftung und Prozeßbegründung im altrömischen Rechtsgang, in: Gedächtnisschrift für Emil Seckel, S. 194—260, Berlin 1927 Die Gajanische Definition der „intentio", in: Studi in onore di Salvatore Riccobono nel XL anno del suo insegnamento, Band 2, S. 324—368, Palermo 1936 Die Prozeßfähigkeit, insbesondere bei Geschäftsbeschränkten, Erlanger Dissertation 1911 Alter und Herkunft des germanischen Gottesurteils, in: Festschrift zur Begrüßung der XXXIX. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner, dargeboten von der Universität Zürich, S. 40—60, Zürich 1887 Kausalität und überholende Kausalität im Zivilrecht, Hamburg 1969 Der Römische Civilprozess zur Zeit der Legisaktionen, Berlin 1872 Testimonium, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 2. Reihe (R-Z), 9. Halbband, Sp. 1021—1061, Stuttgart 1934 Das altrömische lus, Göttingen 1949 (abgekürzt: Käser, AJ) Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, 2. Auf läge, Köln/Graz 1956 (abgekürzt: Käser, EB) Praesumptio muciana, in: Studi in onore di Pietro De Francisci, Band l, S. 213—229, Mailand 1956 Das Römische Zivilprozeßrecht, München 1966 (abgekürzt: Käser, ZPR)
XXIV Käser, Max
Kasparek, Kurt Kaufmann, Ekkehard
Kegel, Gerhard
v. Keller, Friedrich L.
Kelsen, Hans Kern, Eduard Kipp, Theodor
Kitz, Eugen Kleinfeiler, Georg
Schrifttumsverzeichnis Das Römische Privatrecht, Erster Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, 2. Auflage, München 1971, Zweiter Abschnitt: Die nachklassische Entwicklung, München 1959 (abgekürzt: Käser, PR I/II) Die Lehre von der Beweislast als Lehre von der Urteilsfindung bei ungeklärtem Tatbestande, Breslau 1937 Die Erfolgshaftung. Untersuchungen über die strafrechtliche Zurechnung im Rechtsdenken des frühen Mittelalters, Frankfurter (M.) Dissertation 1958 Aequitatis iudicium. Königgericht und Billigkeit in der Rechtsordnung des frühen Mittelalters, Frankfurt, M, 1959 Canel contra Moschel. Ein Schadensersatzprozeß vor dem Ingelheimer Oberhof aus dem Jahre 1404, in: Festgabe für Paul Kirn zum 70. Geburtstag, S. 145—159, Berlin 1961 Begriffs- und Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, in: Festschrift für Hans Lewald, S. 259—288, Basel 1953 Der Individualanscheinsbeweis und die Verteilung der Beweislast nach überwiegender Wahrscheinlichkeit, in: Das Unternehmen in der Rechtsordnung, Festgabe für Heinrich Kronstein aus Anlaß seines 70. Geburtstages, S. 321—344, Karlsruhe 1967 Die Ermittlung ausländischen Rechts, in: Die Anwendung ausländischen Rechts im internationalen Privatrecht. Festveranstaltung und Kolloquium anläßlich des 40jährigen Bestehens des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, S. 157—184, Berlin/Tübingen 1968 Internationales Privatrecht, 3. Auflage, München 1971 Der Römische Civilprocess und die Aktionen in summarischer Darstellung zum Gebrauche bei Vorlesungen, 6. Auflage, bearbeitet von Adolf Wach, Leipzig 1883 Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 1960 Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München/Berlin 1954 Die Litisdenuntiation als Prozeßeinleitungsform im römischen Civilprozeß, Leipzig 1887 Confessio, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 7. Halbband, Sp. 864— 871, Stuttgart 1900 Über Doppelwirkungen im Recht, insbesondere über die Konkurrenz von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit, in: Festschrift der Berliner Juristischen Fakultät für Ferdinand von Martitz zum 50jährigen Doktorjubiläum, S. 211—233, Berlin 1911 Deutsches Zivilprozeßrecht, 2. Band, 4. Auflage, Berlin/Leipzig 1929 Das sogenannte qualifizierte Geständnis und seine Bedeutung für die Beweislast, Heidelberger Dissertation 1913 Deutsche Partikulargesetzgebung über Civilprozeß seit Rezeption der fremden Rechte und bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Festgabe für J. W. von Planck zum DoctorJubiläum, S. 273—305, München 1887
Schrifttumsverzeichnis Kleinfeller, Georg
Klingmüller, Ernst
Klötzer, Carl Ch. W.
Klug, Ulrich
Knappe, Julius Knecht, Otto v. Knieriem, August
Kohler, Josef
Koller, Fritz Kollhosser, Helmut Kornblum, Udo
Korsch, Karl Koschaker, Paul Krawietz, Werner Kress, Hugo Kriele, Martin v. Kries, August
XXV
Die geschichtliche Entwicklung des Thatsacheneides in Deutschland, Berlin 1891 Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 3. Auflage, Berlin 1925 (abgekürzt: Kleinfeller, ZPR) Der Kausalitätsbegriff in der Rechtsprechung des BSG. Wandlungen und Tendenzen, in: Rechtsschutz im Sozialrecht, Beiträge zum ersten Jahrzehnt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, S. 127—144, Köln/Bonn/München 1965 Versuch eines Beytrags zu Berichtigung der Lehre von der Beweislast, insbesondere bey angestellter actio confessioria und negatoria, Jena 1813 Rechtslücke und Rechtsgeltung, in: Festschrift für H. C. Nipperdey zum 70. Geburtstag, Band I, S. 71—94, München/Berlin 1965 Juristische Logik, 3. Auflage, Berlin/Heidlberg/New York 1966 Versuch einer Entwicklung des Begriffes der Exceptionen mit Rücksicht auf die Beweislast, München 1835 Die Beweisverträge im Zivilprozeß, Freiburger Dissertation 1937 Behauptungspflicht und Beweislast bei der Klage auf Zahlung eines angemessenen Kaufpreises mit besonderer Berücksichtigung von „Schulung für die civilistische Praxis von Adolf Stölzel", Berlin 1896 Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, begründet von Franz von Holtzendorff, 6. Auflage, 1. Band, S. 1—69, Leipzig/Berlin 1904 Zivilprozeß und Konkursrecht, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, begründet von Franz von Holtzendorff, 6. Auflage, 2. Band, S. 47—205, Leipzig/Berlin 1904 Urkundliche Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Rechtsganges. I. Das Verfahren des Hofgerichts Rottweil, Berlin 1904 Der Eid im Münchner Stadtrecht des Mittelalters, München 1953 Der Anscheinsbeweis in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Mainzer Dissertation 1963 Das Beweisrecht des Ingelheimer Oberhofes und seiner malpflichtigen Schöffenstühle im Spätmittelalter, Frankfurter (M.) Dissertation 1960 Die Anwendung der Beweislastregeln im Zivilprozeß und das qualifizierte Geständnis, Bonn 1911 Europa und das römische Recht, 4. Auflage, München/Berlin 1966 Das positive Recht und seine Funktion, Berlin 1967 Zur Lehre von der Beweislast nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, Münchener Dissertation 1899 Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin 1967 Der Beweis im Strafprocess des Mittealters, Weimar 1878
XXVI Krönig, Ernst Kroll, W. Krüger, Hugo
Kuchinke, Kurt
Kühns, Friedrich J.
Kühtmann, Alfred
Kühn, Hans Kummer, Max
Kunkel, Wolfgang
Laband, Paul Lando, Öle Landsberg, Ernst Lange, Heinrich Langenbeck, Wilhelm Larenz, Karl
Schrifttumsverzeichnis Die Kunst der Beweiserhebung, 3. Auflage, Hamburg 1959 Klage und Einrede nach Deutschem Recht, Berlin 1884 Geschichte der capitis deminutio, 1. Band, Breslau 1887 Der Ingenuitäts- und Libertinitätsprozess, in: Studi in onore di Salvatore Riccobono nel XL anno del suo insegnamento Band 2, S. 227—253, Palermo 1936 Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellungen in der Revisionsinstanz, Bielefeld 1964 Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung (s. Bolding, Sachaufklärung), S. 15-46 Die Risiken der Beweisführung bei Haftungsklagen gegen den Produzenten, in: lus et commercium, Festschrift für Franz Laufke zum 70. Geburtstag, S. 113—134, Würzburg 1971 Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozesses in der Mark Brandenburg vom X. bis zum Ablauf des XV. Jahrhunderts, Band I und II, Berlin 1865/1867 Die Romanisierung des Civilprozesses in der Stadt Bremen (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Otto Gierke, 36. Heft), Breslau 1891 Die Beweislast insbesondere im Schweizerischen Zivilgesetzbuch, Berner Dissertation 1912 Erläuterungen zu Artikel 8 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, in: Berner Kommentar. Kommentar zum Schweizerischen Zivilrecht, Band I, S. 612—709, Bern 1962 Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, Weimar 1952 Römische Rechtsgeschichte, 5. Auflage, Köln/Graz 1967 Die vermögensrechtlichen Klagen nach den sächsichschen Rechtsquellen des Mittelalters, Berlin 1869 Prozeßleitungs- und Aufklärungspflicht in Dänemark, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung (s. Bolding, Sachaufklärung), S. 47—64 Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigenthum, Leipzig 1883 BGB, Allgemeiner Teil, 14. Auflage, München 1973 Die Beweisführung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten,, Leipzig 1858—1861 Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, Festschrift für Arthur Nikisch, S. 275—305, Tübingen 1958 Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 2. Auflage, München 1972 Originäre Rechtssachverhalte, in: Phänomenologie, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz, Festschrift für Gerhart Husserl zum 75. Geburtstag, S. 132—151, Frankfurt, M. 1969 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Auflage, Berlin/ Heidelberg/New York 1969 Über Bindungswirkung von Präjudizien, in: Festschrift für Hans Schima zum 75. Geburtstag, S. 247—264, Wien 1969
Schrifttumsverzeichnis Larenz, Karl
Lausberg, Heinrich Lautmann, Rüdiger Lauwartz, Egon Lehmann, Heinrich Hübner, Heinz Leiber, Gert Leiminger, Karl Leipold, Dieter
Leiser, Wolfgang Leitmaier, Charlotte Lemosse, Maxime Lenel, Otto Lent, Friedrich Lent, Friedrich — Jauernig, Othmar Lent, Friedrich — Schwab, Karl Heinz Leonhard, Franz Lepa, Manfred Less, Günter Leverenz, Bernhard Levin, L. Levy, Ernst
Ldvy, Jean Philippe
XXVII
Lehrbuch des Schuldrechts, 10. Auflage, 1. Band, Allgemeiner Teil, München/Berlin 1970,2. Band, Besonderer Teil, München/ Berlin 1965 Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960 Freie Rechtsfindung und Methodik der Rechtsanwendung, Würzburger Dissertation 1967 Beiträge zur Lehre vom prima-facie-Beweis, Frankfurter (M.) Dissertation 1940 Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 15. Auflage, Berlin 1966 Das Landgericht der Baar. Verfassung und Verfahren Zwischen Reichs- und Landesrecht 1283—1632, Allensbach 1964 Die Problematik der Reinen Rechtslehre, Wien/New York 1967 Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen insbesondere bei Verweisungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, Berlin 1966 Der gemeine Zivilprozeß in den Badischen Markgrafschaften, Stuttgart 1961 Die Kirche und die Gottesurteile, Wien 1953 Cognitio, Etüde sur le role du juge dans l'instruction du proces civil antique, Paris 1944 Das Edictum Perpetuum. Ein Versuch zu seiner Wiederherstellung, 3. Auflage, Leipzig 1927 Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeß, 2. Band, Aalen 1970 (Neudruck der Ausgabe von 1916) Zivilprozeßrecht, 17. Auflage, München 1974 Sachenrecht, 14. Auflage, München 1974 Die Beweislast, 2. Auflage, Berlin 1926 Die Verteilung der Beweislast im Privatrecht und ihre rationelle Begründung, Kölner Dissertation 1963 Vom Wesen und Wert des Richterrechts, Erlangen 1954 Der Prima-facie-Beweis, Rostocker Dissertation 1934 Richterliche Prozeßleitung und Sitzungspolizei in Theorie und Praxis, Berlin 1913 Pauli Sententiae. A Palingenesia of the Opening Tides as a Specimen of Research in West Roman Vulgar Law, New York 1945 (abgekürzt: Levy, PS) West Roman Vulgar Law. The Law of Property, Philadelphia 1951 Weströmisches Vulgarrecht. Das Obligationenrecht, Weimar 1956 La hierarchic des preuves dans le droit savant du moyen — age depuis la renaissance du droit romain jusqu'a la fin du XIVs siecle, Annales de l'Universite de Lyon, troisiame serie (Droit), fascicule 5, Paris 1939 La formation de la thoorie romaine des preuves, in: Studi in onore di Siro Solazzi nel cinquantesimo anniversario del suo insegnamento universitario, S. 418—438, Napoli 1 8
XXVIII Lovy-Bruhl, Henri Leyser, Augustinus Lieb, Manfred Liebermann, F. Liedl, Eugen Linde, Just. T. B. Lindenmaier, Fritz
v. Liszt, Franz E. Locher, Eugen Loeber, Dietrich Loening, Richard London, Paul Lucas, Hermann — Dürr, Alfred Lüderitz, Alexander
Manigk, Alfred
Marquordt, Gerhard Martin, Christoph
Martinius, Emil Marum, Clara Mascardus, Josephus
Schrifttumsverzeichnis Recherches sur les actions de la loi, Paris 1960 La preuve judiciaire, Paris 1964 Meditationes ad Pandectas, Band 3 und 4, 3. Auflage, Leipzig 1743 Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand, Tübingen 1970 Die Gesetze der Angelsachsen, 1. Band, Leipzig 1935 (Neudruck der Ausgabe von 1903) Gerichtsverfassung und Zivilprozeß der freien Reichsstadt Augsburg, Augsburg 1958 Lehrbuch des deutschen gemeinen Civilprocesses, 4. Auflage, Bonn 1835 Zur Beweislast bei Dienstverträgen, Beherbergungs- und Gastaufnahmeverträgen sowie bei Beförderungs- und sonstigen Werkverträgen, in: Festschrift für Leo Raape zu seinem 70. Geburtstag, S. 349—360, Hamburg 1948 Meineid und falsches Zeugnis, Wien 1876 Der prima-facie-Beweis in Arztprozessen, in: Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin, Arthur Benno Schmidt (Beilageheft zum 133. Band des AcP), S. 245—276, Tübingen 1931 Die Verwertung von Erfahrungssätzen durch den Richter im Zivilprozeß, Kieler Dissertation 1972. Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen im Deutschen Mittelalter, Heidelberg 1880 Die Anfangsklage in ihrer ursprünglichen Bedeutung, Breslau 1886 Anleitung zur strafrechtlichen Praxis, I. Teil: Das formelle Strafrecht, 5. Auflage, Berlin 1931 Auslegung von Rechtsgeschäften, Vergleichende Untersuchung anglo-amerikanischen und deutschen Rechts, Karlsruhe 1966 Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei Verfolgung privater Rechte, Tübingen 1966 Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, VI. Band, S. 94—210, Berlin/Leipzig 1929 Die Privatautonomie im Aufbau der Rechtsquellen, Berlin 1935 Vier rheinische Prozeßordnungen aus dem 16. Jahrhundert, Bonn 1938 Lehrbuch des Teutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 6. Auflage, Göttingen 1819 Vorlesungen über die Theorie des deutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 2. Band, Leipzig 1857 Behauptungs- und Beweislast bei der Negativen und dem bedingten Vertrage, Berlin 1902 Der prima-facie-Beweis in Schadensersatzprozessen wegen Röntgenschädigungen, Kölner Dissertation 1935 Conclusiones probationum omnium quae in utroque foro quotidiano versantur, Vol. I et II, Frankfurt, M. 1593
Schrifttumsverzeichnis Mascardus, Josephus Maurer, Georg L.
XXIX
De Probationibus, Vol. I. Frankfurt, M. 1607 Geschichte des altgermanischen namentlich altbairischen oeffentlich-muendlichen Gerichtsverfahrens, dessen Vortheile, Nachtheile und Untergang in Deutschland ueberhaupt und in Baiern insbesondere, Heidelberg 1824 Vorlesungen über altnordische Rechtsgeschichte, Band I, Maurer, Konrad 2. Hälfte, Leipzig 1907 Ueber Beweislast, Einreden und Exceptionen, Göttingen 1861 Maxen, J. Geschworenengericht und Inquisitionsprozeß, Leipzig 1916 Mayer, Ernst Das Zivilprozeßrecht der Reichsstadt Schwäbisch-Wörth Mayer, Max (Donauwörth) im 16. Jahrhundert, Erlanger Dissertation 1914 Rechtsnormen und Kulturnormen, Darmstadt 1965 (NeuMayer, Max Ernst druck der Ausgabe von 1903) Mayer-Homberg, Edwin Die fränkischen Volksrechte im Mittelalter, I. Band, Weimar 1912 Beweis und Wahrscheinlichkeit nach älterem deutschen Recht, Marburg 1921 Die Beweislehre des kanonischen Prozesses in ihren GrundMeile, Jos. zügen unter Berücksichtigung der modernen Prozeßrechtswissenschaft, Freiburger (Schweiz) Dissertation 1925 Die Beweislast bei positiver Forderungsverletzung, Erlanger Meißner, Hellmut Dissertation 1938 Ostfälische Gerichtsverfassung im Mittelalter, Berlin/Stuttgart/ Meister, Eckhard Leipzig 1912 De arbitriis iudicium quaestionibus et causis, Köln 1762 Menochius, Jacobus Die Urkunde im deutschen Strafrecht, München 1902 Merkel, Paul Merzbacher, Friedrich Iudicium provinciale ducatus franconiae. Das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken-Würzburg im Spätmittelalter, München 1956 Zur Problematik der Sätze „in dubio pro fisco" und „in dubio Metzler, Eberhard contra fiscum". Untersuchungen zu Beweis- und Auslegungsfragen im Steuerrecht, Tübinger Dissertation 1959 Meyer, Heinrich H. Dissertatio inauguralis de propositione negativa eiusque probatione, Göttingen 1756 Mezger, Edmund Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß (Beilageheft zum 117. Band des AcP), Tübingen 1918 v. Mezger, Georg M. Dissertatio inauguralis iuridica de onere probandi et causis quae litigantem ab eo immunem reddunt, Altdorf 1800 Micheli, Gian Antonio L'onere della prova, Padova 1942 Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit. Einführung in eine v. Mises, Richard neue Wahrscheinlichkeitslehre und ihre Anwendung, 3. Auflage, Wien 1951 Mitteis, Heinrich Der Staat des hohen Mittelalters, 7. Auflage, Weimar 1962 Mitteis, Heinrich — Deutsche Rechtsgeschichte, 13. Auflage, München 1974 Lieberich, Heinz Mittermaier, C. J. A. Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung mit dem preußischen und französischen Civilverfahren und mit den neuesten Fortschritten der Prozeßgesetzgebung, Band I und II, Bonn 1820/1821 Moeckert, J. N. De affirmatione in iure, Rintelii 1767
XXX
v. Mora, Michael
Morrison, C. A. Mosbacher, Kurt Moser, Konrad Motulsky, Henri Motzenbäcker, Rudolf Müller, Otto
München, Nie. Müser, August W. Naber, J. C. Nagel, Heinrich Nawiasky, Hans Niese, Werner Nikisch, Arthur
Nörr, Knut W. Nottarp, Hermann Odersky, Felix Oertmann, Paul Oort, Hermann Pacianus, Fulvius Pagendarm, Kurt Palandt, Otto Patermann, Christian Pawlowski, Enka
Schrifttumsverzeichnis Beiträge zur Geschichte des kirchlichen Prozeßrechts im . Jahrhundert, in: Jahrbuch des Graf Klebelsberg Kuno Instituts für ungarische Geschichtsforschung in Wien, Band 7, S. 13—68, Budapest 1937 Some Features of the Roman and the English Law of Evidence, Tulane Law Review 33 (1958/59), S. 577—594 Die Beweislastlehre nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch unter besonderer Berücksichtigung der §§ 929—936, Mannheim/ Leipzig 1914 In dubio pro reo, Münchener Dissertation 1933 Principes d'une realisation mothodique du droit , Paris 1948 Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, München 1958 Das „kaiserliche Landgericht der ehemaligen Grafschaft Hirschberg", in: Deutschrechtliche Beiträge, herausgegeben von Konrad Beyerle, Band VII, Heft 3, S. 189—364, Heidelberg 1911 Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, I. Band, Köln/Neuß 1865 Das Beweisproblem im Bereich des §618 BGB, Kölner Dissertation 1936 Observatiunculae de iure Romano, CXV: An semper probet actor, in: Mnemosyne, Bibliotheca philologica Batava, nova series, 49 (1921), S. 144—153 Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, Baden-Baden 1967 Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Auflage, Einsiedeln/Zürich/Köln 1948 Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, Göttingen 1950 Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, Tübingen 1952 (abgekürzt: Nikisch, ZPR) Arbeitsrecht, I. Band, 3. Auflage, Tübingen 1961 Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozeß der Frühzeit: ludex secundum allegata non secundum conscientiam iudicat, München 1967 Gottesurteilsstudien, München 1956 Nichtehelichengesetz, 3. Auflage, Bielefeld 1973 Rechtsordnung und Verkehrssitte insbesondere nach Bürgerlichem Recht, Leipzig 1914 Bewijs voor de internationale rechter, Utrechter Dissertation 1966 De Probationibus, Frankfurt/Leipzig 1703 Verstöße gegen die Denkgesetze, die Erfahrungssätze und das Ermessen als Revisionsgründe, Marburger Dissertation 1928 Bürgerliches Gesetzbuch, 33. Auflage, München 1974 Die Entwicklung des Prinzips der freien Beweiswürdigung im ordentlichen deutschen Zivilprozeß in Gesetzgebung und Lehre Bonner Dissertation 1970 Der Prima-Facie-Beweis bei Schadensersatzansprüchen aus Delikt und Vertrag, Göttingen 1966
Schrifttumsverzeichnis Perrot, J. F.
Peters, Egbert Petri, B. J. C. Pfeiffer, B. W. Planck, Gottlieb
Planck, Julius W.
Planiol, Marcel — Ripert, Georges Planitz, Hans Planitz, Hans — Eckhardt, Karl A. Plosz, Alexander
Pohle, Rudolf
Prölss, Jürgen Prölss, Erich — Martin, Anton Puchta, G. F.
XXXI
Verfassung, Zuständigkeit und Verfahren der Gerichte der preußischen Rheinprovinzen in bürgerlichen Rechtssachen, I. Teil, Trier 1842 Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, Köln/Berlin 1966 Ueber die Beweis-Last, Göttingen 1804 Vermischte Aufsätze über Gegenstände des Teutschen und Römischen Privatrechts, Marburg 1803 Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band I und II, 4. Auflage, Berlin 1913/1914, Band III, 5. Auflage, Berlin/ Leipzig 1933 Die Lehre von dem Beweisurtheil, Göttingen 1848 Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter. Nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen, I. Band. 1. Hälfte, Braunschweig 1878, I. Band, 2. Hälfte, II. Band, Braunschweig 1878 Lehrbuch des Deutschen Civilprozessrechts, II. Band, München 1896 Traite pratique de droit civil francais, 2. Auflage, VII. Band, Paris 1954 Germanische Rechtsgeschichte, 3. Auflage, Berlin 1944 Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage, Graz/Köln 1961 Die Natur der gesetzlichen Vermutungen, in: Festschrift für Adolf Wach, 2. Band, Leipzig 1913 Zwei Vorträge aus dem ungarischen Zivilprozeßrecht, Berlin 1917 Zur Beweislast im internationalen Recht, in: Vom Deutschen zum Europäischen Recht, Festschrift für Hans Dolle, Band II, 5. 317—339, Tübingen 1963 Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, Karlsruhe 1966 Versicherungsvertragsgesetz, 19. Auflage, München 1973
Cursus der Institutionen, I. Band, 10. Auflage, besorgt von Paul Krüger, Leipzig 1893 Pugliese, Giovanni II processo civile ronamo, II: II processo formulare, Band l, Milano 1963 Quaritsch Institutionen und Rechtsgeschichte, 6. Auflage. Berlin 1888 Rabel, Ernst Das Recht des Warenkaufs, 1. Band, Berlin 1957 (Neudruck der Ausgabe von 1936) Radbruch, Gustav Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Auflage, besorgt von Konrad Zweigert, Stuttgart 1952 Rechtsphilosophie, 6. Auflage, besorgt von Erik Wolf, Stuttgart 1963 Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Auflage, besorgt von Arthur Kaufmann, Göttingen 1965 Redeker, Konrad — Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Auflage, Stuttgart/Berlin/ v. Oertzen, Hans-J. Köln/Mainz 1971 Regelsberger, Ferdinand Pandekten, I. Band, Leipzig 1893 Rehfeldt, Bernhard Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Auflage, Berlin 1966
XXXII Rehme, Paul
Rein, Wilhelm
Reinhardt, Rudolf — König, Wilhelm Reinhold, Carl
Schrifttumsverzeichnis Schöffen als „Boten" bei gerichtlichen Vorgängen im magdeburgischen Rechtskreise, in: Festschrift für Heinrich Brunnezum 70. Geburtstag, S. 79—134, Weimar 1910 Deutsche Rechtsgeschichte mit Einschluß des Deutschen Privatrechts, Berlin 1931 Das Privatrecht und der Zivilprozeß der Römer von der ältesten Zeit bis auf Justinian, Aalen 1964 (Neudruck der Ausgabe von 1858) Richter und Rechtsfindung, München/Berlin 1957
Die Lehre von dem Klaggrunde, den Einreden und der Beweislast, Berlin 1888 Die Entwicklung des Rechtsgangs nach den Freiberger RetzlafF, Hans Stadtrechtsbuch, Leipzig 1929 RGRK (Reichsgerichts- Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerätekommentar) richtshof, 11. Auflage, Berlin 1960 ff. 12. Auflage, Berlin 1974 (soweit ausdrücklich vermerkt) Die Beweislast bei der negativen Feststellungsklage, Rostocker Richter, Walter Dissertation 1935 Internationales Zivilprozeßrecht und prozessuales FremdenRiezler, Erwin recht, Berlin/Tübingen 1949 Rimmelspacher, Bruno Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, Göttingen 1966 Rechtswissen und Rechtsirrtum im Zivilrecht, in: Festschrift Rittner, Fritz für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, S. 391—422, Tübingen 1967 Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprocesse, Rizy, Theobald Wien 1841 Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, Berlin/ Rödig, Jürgen Heidelberg/New York 1973 Die Beweislast hinsichtlich des Irrthums nach gemeinem CivilRömer, Robert recht und Prozeß, Stuttgart 1852 Ueber das Gerichtswesen der Germanen, Halle 1820 Rogge, Karl A. Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Auflage, MünRosenberg, Leo chen/Berlin 1961 Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung, 5. Auflage, München/ Berlin 1965 Zivilprozeßrecht, 11. Auflage, München 1974 Rosenberg, Leo — Schwab, Karl Heinz Bürgerliches Gesetzbuch, 15. Auflage, neubearbeitet von BernRosenthal, Heinrich hard Kamnitzer und Heinrich Bohnenberg, Köln/Berlin/Bonn/ München 1965 Dogmen-Geschichte des Civilrechts, Heidelberg 1853 Roßhirt, C. F. Römische Rechtsgeschichte, II. Band, Leipzig 1859 Rudorff, Adolf F. Beitrag zur Lehre von der Vermutung im Schweiz. PrivatRüegg, Edwin recht, Züricher Dissertation 1947 Zeugen und Eideshelfer in den deutschen Rechtsquellen des Ruth, Rudolf Mittelalters, I. Teil, Breslau 1922 Das Beweisverfahren nach deutschem, mit Berücksichtigung Sachße, Carl R. verwandter Rechte des Mittelalters, Erlangen 1855
Schrifttumsverzeichnis Sarstedt, Werner v. Sarwey Sattelmacher, Paul
XXXIII
Die Revision in Strafsachen, 4. Auflage, Essen 1962 Die Civilprozeß-Ordnung für das Deutsche Reich, I. Theil, Berlin 1879 Über die Gültigkeit und Bedeutung der gemeinrechtlichen Proceßregel: Affirmanti non neganti incumbit probatio, Freiburger Dissertation 1902 Bericht, Gutachten und Urteil, 26. Auflage München, 1972
Sattelmacher, Paul — Sirp, Wilhelm Sauer, Wilhelm Grundlagen des Prozeßrechts, Stuttgart 1919 Savage, Leonhard J. The Foundations of Statistics, New York/London 1954 v. Savigny, Friedrich C. Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 2. Ausgabe, Band 1—7, Heidelberg 1834—1851 Schaps, Georg — Das deutsche Seerecht, 2. Band, 3. Auflage, Berlin 1962 Abraham, Jürgen Schaumann, A. F. H. Die Akten des ersten schriftlichen Processes in Deutschland nach römisch-kaonischen Formen, Jena 1847 Scherer, Hermann Die Klage gegen den toten Mann, in: Deutschrechtliche Beiträge, herausgegeben von Konrad Beyerle, Band IV, Heft 2, Heidelberg 1909 Schiedermair, Gerhard Vereinbarungen im Zivilprozeß, Bonn 1935 Schierschmid Allgemeine Regel, wer von den streitenden Partheyen bey einem Rechtshandel den Beweis zu übernehmen, 2. Auflage, Erlangen 1754 Schlosser, Hans Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang, Köln/Wien 1971 Schmeling, Günther Die Rechtsnatur der Beweislastfrage, Erlanger (ungedruckte) Dissertation 1952 Schmidhäuser, Eberhard Von den zwei Rechtsordnungen im staatlichen Gemeinwesen, Berlin 1964 Schmidt, Eberhard Rechtsentwicklung in Preußen, Berlin 1923 — Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil l, 2. Auflage, Göttingen 1964 — Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage, Göttingen 1965 Schmidt, Richard Die Klagänderung, Leipzig 1888 — Die Herkunft des Inquisitionsprocesses, in: Festschrift der Albrecht-Ludwig-Universität in Freiburg zum 50jährigen Regierungs-Jubiläum Großherzogs Friedrich, S, 63—118, Freiburg 1902 — Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 2. Auflage, Leipzig 1906 Schmidt-Salzer, Joachim Produkthaftung. Die Haftung der an der Warenherstellung und am Warenvertrieb beteiligten Personen und Unternehmen, Heidelberg 1973 Schmitz-Lennartz, Die Entwicklung des Düsseldorfer Gerichtswesens bis zur Günter Gerichtserkundung im Jahre 1555, Kölner (ungedruckte) Dissertation 1956 Schneider, Egon Beweis und Beweiswürdigung, 2. Auflage, München 1971 Schneider, Ernst Ch. Vollständige Lehre vom rechtlichen Beweise in bürgerlichen Rechtssachen, 2. Auflage, herausgegeben von C. Hofmann, Gießen 1842 Musiekk, Bsweislast
XXXIV Schneider, K. Schönke, Adolf — Kuchinke, Kurt Schott, Richard
Schrifttumsverzeichnis Ueber richterliche Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts im Civilprozesse, Leipzig 1888 Zivilprozeßrecht, 9. Auflage, Karlsruhe 1969
Römischer Zivilprozess und moderne Prozesswissenschaft, München 1904 Schreiber, Rupert Theorie des Beweiswertes für Beweismittel im Zivilprozeß, Berlin/Heidelberg/New York 1968 Schröder, Werner Die Regulierung der Beweislast im Falle der lex 10 D. de Verb. Obl. 45, l, Erlanger Dissertation 1897 Schröder, Richard — Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Auflage, Berlin/ v. Künßberg, Eberhard Leipzig 1932 Schühly, Franz Die Beweislast bei der auflösenden Bedingung und beim Vorbehalt, Karlsruhe 1910 Schulin, Friedrich Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechtes, Stuttgart 1889 Schulte, Joh. Friedrich Lehrbuch der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, Stuttgart 1861 Schulz, Fritz Prinzipien des römischen Rechts, München 1934 Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961 Schwartz, Johann Ch. Vierhundert Jahre deutscher Civilproceß-Gesetzgebung, Berlin 1898 Erneuerung deutscher Rechtspflege, Halle 1908 v. Schwerin, Claudius Germanische Rechtsgeschichte, 2. Auflage, Berlin 1943 v. Schwerin, Claudius · Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Berlin/München 1950 Thieme Hans System der Beweislast im englisch-amerikanischen Zivilprozeß, Schwering, Walter Kölner Dissertation 1968 Schwindel, Karl Das non liquet in der Tatfrage, Münchener (ungedruckte) Dissertation 1963 Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Auflage, Bonn 1960 Schwinge, Erich Scovazzi, Marco Processo e procedura nel diritto germanico, in: Publicazioni dell' Institute Lombardo. Accademia di scienze e lettere. Rendiconti, Classe di lettere e scienze morali e storiche, vol. 92, fasc. I, S. 105—194, Milano 1958 Römische Rechtsgeschichte und römisches Zivilprozeßrecht, Seidl, Erwin Köln, Berlin/Bonn/München 1962 Ueber richterliches Ermessen, Gießen 1880 v. Seuffert, Lothar Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 12. Auflage, I. Band, v. Seuffert, Lothar Walsmann, Hans München 1932 Vorbereitungs- und Ersatzzweck der Besitzinterdikte, in: Siber, Heinrich Scritti in onore di Contardo Ferrini, Band IV, S. 98—130, Mailand 1949 Sur l'organisation judiciaire carolingienne en Languedoc, in: Sicard, Germain Etudes historiques a la memoire de Noel Didier, S. 293—299, Paris 1960 Siegel, Heinrich Geschichte des deutschen Gerichtsverfahres, I. Band, Gießen 1857 Die Gefahr vor Gericht und im Rechtsgang, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Classe, Band 51, S. 120—169, Wien 1866
Schrifttumsverzeichnis Siegel, Heinrich Siegrist, Edgar Sieveking, Friedrich Simitis, Spiros
Simon, Dieter Skonietzki, Richard Gelpcke, Max Sluzewski Curt Smend, Rudolf Smid, Menno Söllner, Alfred Soergel, Th. Sohm, Rudolph
Specht, Bernard Speidel, Max Staub, Hermann v. Staudinger. Julius Stegmann, H. — Hellwig, G. Stein, Friedrich Stein, Friedrich — Jonas, Martin
Stein, Friedrich — Juncker, Josef m*
XXXV
Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Auflage, Berlin 1895 (abgekürzt: Siegel, DR) Grundfragen aus dem Beweisrecht des Zivilprozesses, Berner Dissertation 1938 Bedeutung und Gültigkeit des Satzes negantis nulla probatio, Göttinger Dissertation 1889 Soll die Haftung des Produzenten gegenüber dem Verbraucher durch Gesetz, kann sie durch richterliche Fortbildung des Rechts geordnet werden? In welchem Sinn? Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages, Band I (Gutachten), S. C 1—98, München 1968 Untersuchungen zum Justinianischen Zivilprozeß, München 1969 Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich, 1. Band, Berlin 1911 Die Widerlegung von Rechtsvermutungen mit besonderer Berücksichtigung des Erbscheins, Breslauer Dissertation 1921 Das Reichskammergericht, Aalen 1965 (Neudruck der Ausgabe von 1911) Der prima-facie Beweis, insbesondere bei Schadensersatzansprüchen, Berlin 1925 Römische Rechtsgeschichte, Freiburg 1971 Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage, Stuttgart 1967 ff. Der Prozeß der Lex Salica, Weimar 1867 Die Altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung, I. Band, Weimar 1871 Fränkisches Recht und römisches Recht, Weimar 1880 Institutionen, Geschichte und System des römischen Privatrechts, 17. Auflage, herausgegeben von Leopold Wenger, München/Leipzig 1924 De insufficientia probandi regulae: affirmanti incumbit probatio, Halle 1787 Das Hofgericht zu Rottweil, Rottweil 1914 Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 6./7. Auflage, 1. Band, Berlin 1900 Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 11. Auflage, Berlin, 1954ff. Die statistischen Methoden im geburtshilflichen Gutachten, in: Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung mit biostatischem Beweis (s. Hummel), S. 83—127 Das private Wissen des Richters, Leipzig 1893 Kommentar zur Zivilprozeßordnung, begründet von Ludwig Gaupp, 18. Auflage, bearbeitet von Adolf Schönke, fortgeführt von Rudolf Pohle (zitiert: Stein-Jonas-Schönke-Pohle), 1. Band, Tübingen 1953; 19. Auflage, bearbeitet von Rudolf Pohle, seit 1967 fortgeführt von Wolfgang Grunsky, Dieter Leipold, Wolfgang Münzberg, Peter Schlosser, Ekkehard Schumann (zitiert: Stein-Jonas-Bearbeiter), Tübingen 1964ff. Grundriß des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, 3. Auflage, Tübingen 1928
XXXVI Steinwenter, Artur
Schrifttumsverzeichnis
lusiurandum, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 20. Halbband, Sp. 1253—1260, Stuttgart 1919 Neue Urkunden zum byzantinischen Libellprozeß, in: Abhandlungen zur antiken Rechtsgeschichte, Festschrift für Gustav Hanausek, S. 36—51, Graz 1925 Stock, Paul Dieter Die Beweislast beim Verschuldensbeweis im Rahmen von Leistungsstörungen nach anglo-amerikanischem Recht, Kölner Dissertation 1967 Stölzel, Adolf Schulung für die zivilistische Praxis, 1. Teil, Berlin 1913 Stoll, Hans Die Beweislastverteilung bei positiven Vertragsverletzungen, in: Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, S. 517—559, Tübingen 1967 Struckmann, J. — Die Zivilprozeßordnung für das Deutsche Reich, 9. Auflage, Koch, R. Berlin 1910 Sydow, R. — Busch, L, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 22. Auflage, bearbeitet von Walter Krantz und Franz Triebel, Berlin 1941 v. Tevenar Theorie der Beweise im Civilprozeß, 2. Auflage, bearbeitet von J. Fr. Jury, Magdeburg 1805 Thomas, Heinz — Zivilprozeßordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und den Putzo, Hans Einführungsgesetzen, 7. Auflage, München 1974 Thomasius, Christianus Dissertatio juridica inauguralis de onere probandi in actione negatoria, Halle/Magdeburg 1716 Thonissen, J. J. L'organisation judiciaire, le droit pdnale et la procedure penale de la loi salique, Brüssel/Paris 1882 Tietgen, Walter Beweislast und Beweiswürdigung im Zivil- und Verwaltungsprozeß, Gutachten für den 46. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I, Teil 2 B, München/Berlin 1966 Tillmann, Wendelin Aus dem Prozeß des Ingelheimer Oberhofs, Kölner Dissertation 1935 Trier, Johann W. Dissertatio juridica inauguralis de onere probandi negantibus incumbente, Frankfurt 1738 v. Tuhr, Andreas Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, II. Band, 1. und 2. Hälfte, Berlin 1957 (Neudruck der Ausgabe von 1914/18) v. Tuhr, Andreas — Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Siegwart, Alfred 2. Auflage, 1. Halbband, Zürich 1942, 2. Halbband, Zürich 1944 Verwaltungsprozeßrecht, 5. Auflage, München/Berlin 1971 Ule, Carl Hermann Unger, Joseph System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, II. Band, 4. Auflage, Leipzig 1876 Vonlanthen, Albert Zu Hans Kelsens Anschauung über die Rechtsnorm, Berlin 1965 Wach, Adolf Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts, I. Band, Leipzig 1885 Quellen zur Geschichte des Römisch-Kanonischen Prozesses Wahrmund, Ludwig im Mittelalter, Band II—V, Aalen 1962 (Neudruck der Ausgabe von 1916—1931
Schrifttumsverzeichnis Walch, Karl F. Wallen, Per-Edwin Walther, H.
Warlo, Alfons Wassermeyer, Heinz
Weber, Adolph D.
Weismann, Jakob Wenger, Leopold
Wesenberg, Gerhard
Westerhoff, Wilhelm
Westermann, Harry
Westphal, Ernst Chr. Wetzeil, Georg W. Wieacker, Franz
IV
Musiclak, Beweislast
XXXVII
Introductio in controversias iuris civilis, 3. Auflage, Jena 1791 Die Klage gegen den Toten im nordgermanischen Recht, Stockholm 1958 Unerlaubte Handlung und Schleppvertrag vor den Rheinschifffahrtsgerichten, in: Internationale Fragen des Binnenschifffahrtsrechts, Tagung für Binnenschiffahrtsrecht Köln 1959, S. 56—85, Duisburg-Ruhrort 1960 Über die Unterschiede von Tatsachenvermutungen und Rechtsvermutungen, Breslauer Dissertation 1914 Der prima facie Beweis und die benachbarten Erscheinungen, Münster 1954 Referat zum Gutachten von Arwed Blomeyer, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II (Sitzungsberichte), S. E 7—24, München/Berlin 1967 Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt, 4. Auf läge, Köln/ Berlin/Bonn/München 1971 Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprozeß, 3. Auflage, mit Anmerkungen und Zusätzen von August Wilhelm Heffter, Halle 1845 (Soweit die Vorauf lagen zitiert werden, ist dies jeweils ausdrücklich vermerkt) Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechtes, I. Band, Stuttgart 1903 Exceptio, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 6. Band, Sp. 1553—1565, Stuttgart 1909 Institutionen des römischen Zivilprozeßrechts, München 1925 Wandlungen im römischen Zivilprozeßrecht, in: Abhandlungen zur antiken Rechtsgeschichte, Festschrift für Gustav Hanausek, S. 1—22, Graz 1925 Praetor und Formel, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse, Jahrgang 1926, 3. Abhandlung, München 1926 Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953 Probatio, in Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 45. Halbband, Sp. 37—39, Stuttgart 1957 Unklare Rechtsgestaltungen in ihrer Bedeutung für das Steuerrecht, Band 8 der Schriftenreihe des Instituts für Steuerrecht der Universität zu Köln, Düsseldorf 1959 Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, Münster 1955 Sachenrecht, 5. Auflage, Karlsruhe 1966 Von dem rechtlichen Beweise einer Verneinung, Halle 1783 System des ordentlichen Civilprocesses, Aalen 1969 (Neudruck der 3. Auflage von 1878) Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Auflage, Göttingen 1967
Schrifttumsverzeichnis Wieczorek, Bernhard
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XL
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B1GBW Bolze BremJB C. C.
Cod. Chis. CT. D. DDC Forsch. Dt. Gesch. Glasersjahrb. HGO HoltzEncykl.
HoltzRL Ine IRA Krit. Überschau KSE Ldr. Lehnr. Materialien zur CPO, II l MG. — Cap. I
— DD. Karol.
Archivio Giuridico „Filippo Serafini" (Modena) Archiv für katholisches Kirchenrecht Universitä degli studi di Perugia. Annali della Facolta di Giurisprudenza Blätter für Grundstücks-, Bau und Wohnungsrecht Die Praxis des Reichsgerichts in Zivilsachen, bearbeitet von Albert Bolze, 1886ff. Bremisches Jahrbuch Codex (s. Quellen I: Corpus iuris civilis) Causa (Decretum Magistri Gratiani, zitiert nach causa, questio — q. — und capitulum — c. —; s. Quellen I: Corpus iuris canonici) Codex Chis. (s. Quellen I: Codicis Chisiani Collectio) Codex Theodosianus Digesta (s. Quellen I: Corpus iuris civilis) Dictionnaire de Droit Canonique Forschungen zur Deutschen Geschichte Jahrbücher für Gesellschaft- und Staatswissenschaften, herausgegeben von J. C. Glaser Hofgerichtsordnung Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, begründet von Franz von Holtzendorff v. HoltzendorfFs Rechtslexikon König Ines Satzung Jüngster Rechtsabschied Kritische Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kölner Schriften zum Europarecht Landrecht Lehnrecht Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, herausgegeben von C. Hahn, 2. Band: Materialien zur Civilprozeßordnung, 1. Abteilung, 2. Auflage, 1881 Monumenta Germaniae Historica Capitularia regum Francorum, Legum Sectio II, Band l, ed. Alfred Boretius, Hannover 1883 Die Urkunden der Karolinger, 1. Band: Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karl des Großen, ed. Alfons Dopsch, Johann Lechner und Michael Tangl, bearbeitet von Engelbert Mühlbacher, Hannover 1906
* Die in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen, die nicht in diesem Verzeichnis aufgeführt sind, entsprechen den Vorschlägen von H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtsprache, 2. Auflage, Berlin 1968.
XLH
MG. DDM. (maiorum domus) — Fontes Motive zum BGB NRH Nov. Protokolle zum BGB RDP Rev.trim. RIDA Richtet. RSJB
Schwsp. Ssp. SZ SZ (kan.) TRG X. ZDR
zss
Abkürzungen Diplomata, Band 1: Diplomata maiorum domus, ed. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1872 Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis. Edictus ceteraeque Langobardorum leges, ed. Friedrich Blume, Hannover 1869 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band I-V, Amtliche Ausgabe, Berlin/ Leipzig 1888 Nouvelle Revue historique de droit francais et etranger (Paris) Novellae (s. Quellen I: Corpus iuris civilis) Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, bearbeitet von Achilles, Gebhard und Spahn, Band I-VI, Berlin 1897—1899 Revista di diritto privato (Padova) Revue trimestrielle de droit civil Revue internationale des droits de l'antiquite (Bruxelles) Richtsteig Recueils de la Societe Jean Bodin pour l'histoire comperative des institutions (Bruxelles) Schwabenspiegel Sachsenspiegel Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis Decretales Gregorii Papae IX (s. Quellen I: Corpus iuris canonici Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
ERSTER TEIL
Rechtstheorethische Grundlegung
ERSTER ABSCHNITT Begriff und Wesen der Beweislast
§ l DierichterlicheEntscheidung I. Das Problem des ungeklärten Sachverhalts Der Versuch, in einem Rechtsstreit über die Wahrheit1 einer zwischen den Parteien streitigen Tatsachenbehauptung2 zu entscheiden, kann jeweils zu drei Ergebnissen führen: 1. Die Wahrheit der Tatsachenbehauptung wird festgestellt. 2. Ihre Unwahrheit wird ermittelt. 3. Es bleibt ungeklärt, ob die Tatsachenbehauptung wahr oder unwahr ist3. Je größer die Anforderungen sind, die an die Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung im Prozeß gestellt werden, desto häufiger kann die dritte Alternative zutreffen; umgekehrt wird mit jeder Verringerung dieser Anforderungen auch die Möglichkeit kleiner, daß eine Tatsachenermittlung ergebnislos endet*. Doch selbst bei noch so geringen sachlichen? Anforderungen an die Feststellung von Tatsachen im Prozeß wird die Möglichkeit eines non liquet bestehen bleiben. Denn es wird im1
Zu dem Begriff der Wahrheit in dem hier gebrauchten Sinn vgl. unten S. 119. Die Unterscheidung zwischen dem Bestehen einer Tatsache und der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung ist, wie Blomeyer, ZPR, S. 331, und Festschrift, S. 53 f., nachgewiesen hat, für den Beweis ohne Bedeutung. Es werden im folgenden beide Begriffe unterschiedslos nebeneinander gebraucht. 3 Vgl. Korsch, S. 7; Schmeling, S. 13f.; Leipold, S. 18; Schwindel, S. 15f. 4 Auf die rechtspolitischen Probleme, die sich aus dieser Abhängigkeit ergeben, wird an anderer Stelle noch näher eingegangen werden; vgl. dazu unten S. 291 f. 5 Anders wäre es nur, wenn man reine Spekulationen genügen lassen wollte. 2
t
Musielak, Beweislast
2
1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
mer Fälle geben, in denen jede der widersprechenden Sachdarstellungen der Parteien gleich wahrscheinlich ist und die Frage nach der Wahrheit vom Richter aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht beantwortet werden kann6. Um die Situation zu verdeutlichen, in der sich der Richter im Falle eines ungeklärten Sachverhalts befindet, soll der Vorgang richterlicher Entscheidung sehr vereinfacht und beschränkt auf den Subsumtionsakt7 dargestellt werden8. Der vom Richter anzuwendende Rechtssatz lautet nach seinem logischen Sinn: Wenn der Tatbestand T in einem beliebigen Sachverhalt verwirklicht ist, dann gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R. Der Richter stellt fest, daß der konkrete Sachverhalt S den Tatbestand T verwirklicht, und folgert daraus: für S gilt R. Kurz gefaßt, lautet dieser Sjllogismus: Wenn T, dann R S = T Für S gilt R Nun besteht im Regelfall der gesetzliche Tatbestand aus mehreren Tatbestandselementen, der unter den Tatbestand zu subsumierende Sachverhalt seinerseits wieder aus mehreren Einzeltatsachen. Außerdem kommt es häufig vor, daß sich dieselbe Rechtsfolge aus mehreren Rechtssätzen mit unterschiedlichen Tatbeständen herleiten läßt. Um die Darstellung unmittelbar auf die hier allein interessierende Beweislastfrage hinzuführen, sollen alle diese Möglichkeiten unberücksichtigt bleiben und von folgender wirklichkeitsfremden Annahme ausgegangen werden9: Der Richter soll über die Rechtsfolge R entscheiden, die sich nur aus einem einzigen Rechtssatz (N) ergeben kann. Der Tatbestand dieses Rechtssatzes soll aus den Tatbestandselementen a und b bestehen, die jeweils nur durch eine bestimmte Tatsache, und zwar a durch ta und b durch tb erfüllt werden können. Dementsprechend ist folgender Syllogismus zu bilden: 8
Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 335, 337; Rosenberg, Beweislast, S. 63f.; Kohler, HoltzEncykl. II, S. 114f., überschätzt bei weitem die Möglichkeiten freier Beweiswürdigung, wenn er deswegen die Bedeutung der Beweislast sehr gering veranschlagt. 7 Die Akte, die innerhalb der richterlichen Rechtsanwendung notwendigerweise der Subsumtion des Sachverhalts unter die Norm vorangehen, die Auswahl und Bewertung des anzuwendenden Rechtssatzes und des rechtserheblichen Tatsachenstoffs (vgl. dazu J. Esser, Vorverständnis, S. 27ff.) können hier unberücksichtigt bleiben. 8 Die Darstellung folgt Larenz, Methodenlehre, S. 230; vgl. auch Klug, Logik, S. 47ff.; Engisch, Logische Studien, S. 8ff.; Einführung, S. 47ff.; Henke, S. 94ff.; Scheuerle, ZZP 84, S. 250ff.; Rödig, S. 163ff. 9 Aus demselben Grunde wird nach der „Idealvorstellung der Subsumtionstheorie" (Kriele, S. 50) verfahren und der Obersatz als eindeutig und unabänderlich feststehend behandelt (vgl. auch unten S. 15).
§ l Die richterliche Entscheidung
3
Wenn a + b10, dann R ta + tb = a -f b Für ta + tb gilt R Für die Frage, ob die Rechtsfolge R eingetreten ist, kommt es also darauf an, ob die Tatsachen ta und tb bestehen oder nicht bestehen. Stellt der Richter diese Tatsachen fest, dann schließt er11: ta und tb ja, deshalb a und b ja, deshalb R ja. Aufgrund des Rechtssatzes N bejaht der Richter die Rechtsfolge R. Anders ist es dagegen, wenn er feststellt, daß die Tatsachen ta und tb nicht existieren12; in diesem Fall schließt er: ta und tb nein, deshalb a und b nein, deshalb R nein. Der Richter verneint die Verwirklichung des Tatbestandes von N und damit die sich nur aus diesem Rechtssatz ergebende Rechtsfolge R. Kann der Richter lediglich das Bestehen der Tatsache ta feststellen und bleibt die Existenz der Tatsache tb ungeklärt, dann schließt er13: ta ja, tb möglicherweise ja, möglicherweise nein, deshalb a ja, b möglicherweise ja, möglicherweise nein, deshalb R möglicherweise ja, möglicherweise nein. Die vom Richter in diesem Fall zu treffende Entscheidung folgt nicht aus dem Rechtssatz N. Denn nach dem Inhalt dieses Rechtssatzes kommt es für die Rechtsfolge allein darauf an, ob ta und tb in Wirklichkeit bestehen, dagegen nicht, ob dem Richter eine entsprechende Klärung gelingt. Zweifel an der Existenz der den Tatbestand der Rechtsnorm ausfüllenden Tatsachen lassen dementsprechend auch Zweifel an der Rechtsfolge entstehen. Der Richter, der nicht weiß, ob die Rechtsfolge eingetreten ist, kann deshalb über sie nur entscheiden, wenn ihm andere Rechtssätze den Inhalt dieser Entscheidung angeben14. 10
Durch das Schema der Addition kommt nicht zum Ausdruck, daß die einzelnen Tatbestandselemente in einer Sinneinheit zusammengefaßt sind, worauf Larenz, Methodenlehre, S. 255, aufmerksam macht. 11 Vgl. auch Leipold, S. 19ff. 12 Auf die Darstellung der Variationen, die sich ergeben, wenn ta existiert, dagegen tb nicht und umgekehrt, kann verzichtet werden, da hierbei das Ergebnis unverändert bleibt. 13 Am Resultat ändert sich nichts, wenn zwar das Bestehen von ta, nicht aber das von tb geklärt werden kann oder wenn sich beide Tatsachen nicht feststellen lassen. 14 Vgl. Leipold, S. 22; Korsch, S. 8; Moser, S. 64; Schmeling, S. 56f.
4
1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
Derartige zusätzliche Rechtssät^e für den Fall des non tiquet sind jedoch überflüssig, wenn die anzuwendende Rechtsnorm anders als in dem dargestellten Denkschema richterlicher Rechtsanwendung die Rechtsfolge von der Feststellung des Richters abhängig macht, daß ihre Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind15. Die nicht zu beseitigende Ungewißheit über die Verwirklichung von Tatbestandselementen würde dann verhindern, daß die Rechtsfolge eintritt. Bei Normen dieses Inhalts stände bereits aufgrund des anzuwendenden Rechtssatzes selbst das Ergebnis im Falle einer Nichtbeweisbarkeit seiner tatsächlichen Voraussetzungen fest: der Richter müßte die Rechtsfolge verneinen. II. Die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge Um eine Antwort auf die Frage zu finden, aus welchen Rechtssätzen der Richter seine Entscheidung ableitet, wenn ungewiß bleibt, ob Tatbestandsmerkmale einer Norm im tatsächlichen Geschehen verwirklicht worden sind, muß demzufolge der Inhalt untersucht werden, den die materiellen Rechtsfolgesätze unserer Zivilrechtsordnung aufweisen. Damit sich diese Untersuchung nicht in einer Darstellung der kaum überschaubaren Diskussion von Wesen und Zweck des Rechts verliert, ist eine Beschränkung auf die hier allein interessierende Frage geboten, ob die Zivilrechtsnormen die Rechtsfolge an tatsächliche Vorgänge außerhalb des Gerichtsverfahrens oder an pro^essuale Feststellungen knüpfen. Auf diese Weise werden alle die Meinungsverschiedenheiten über das rechte Verständnis der Zivilrechtsnormen ausgeklammert, aus denen sich keine Folgerungen für die Funktion des Richters bei der Rechtsgewinnung ergeben16. Würden die Zivilrechtsnormen die aus ihnen abzuleitenden Rechtsfolgen von einer prozessualen Feststellung der tatsächlichen Verwirklichung ihrer Merkmale abhängig machen, dann wäre der Spruch des Richters als ein rechtsschöpfender Akt aufzufassen. Denn seine Erkenntnis wäre dann Voraussetzung und Bestandteil der Rechtsentstehung. Die Frage, ob diese Auffassung der richterlichen Entscheidung zutrifft, ob also der Richter durch sein Urteil erst Recht schafft, das vorher noch nicht existierte, ist häufig erörtert und wiederholt auf der Grundlage unterschiedlicher Rechtsanschauungen bejaht worden. 15
Pohle, Festschrift, S. 320f. Zutreffend weist Leipold, S. 26, darauf hin, daß 2u diesen auszuklammernden Problemen die Richtigkeit der sog. Imperativentheorie (vgl. dazu Goldschmidt, Prozeß, S. 227 ff.) gehört, weil sich die hier zu behandelnde Frage auch stellt, wenn man ablehnt, in dem einzelnen Rechtssatz — mit der Imperativentheorie — ein Gebot oder Verbot des Gesetzgebers zu erblicken (vgl. Engisch, Einführung, S. 22 ff.), und die Norm als Geltungsanordnung auffaßt, nach der in jedem Fall, den ihr Tatbestand beschreibt, die von ihr bestimmte Rechtsfolge gelten soll (vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 186ff.; Henkel, S. 67f.). Denn auch eine solche Geltungsanordnung kann prozeßbezogen gedacht werden (Leipold, aaO). 16
§ l Die richterliche Entscheidung
5
Eine Darstellung sämtlicher zu diesem Fragenkomplex vertretenen Auffassungen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Die im folgenden behandelten Meinungen stehen in gewisser Weise stellvertretend auch für andere, die zu ähnlichen Ergebnissen gelangen und auf die nicht besonders eingegangen wird. a) Die Lehre Oskar Bülows Oskar Bülow stellt in seiner 1885 erschienenen viel beachteten Schrift über Gesetz und Richteramt die These auf, daß die Rechtsnormen lediglich als Entwurf einer zukünftigen erwünschten Rechtsordnung zu werten sind, die im StreifaÜ erst durch das Urteil des Richters vollendet wird. Der Richter entnimmt die für den Einzelfall gültige Norm der unfertigen Rechtsordnung und setzt sie auf Verlangen und unter Mitwirkung der Beteiligten in eine wirksame Rechtsbestimmung um17. Gesetz und Richteramt schaffen auf diesem Wege gemeinsam das Recht; durch die richterliche Rechtsbestimmung spricht die rechtsordnende Staatsgewalt das letzte Wort18. Für den Beweis und die Folgen der Beweislosigkeit bedeutet ein derartiger Inhalt der Rechtsnorm19: Der Richter muß zwar auch dann an den historischen Sachverhalt anknüpfen, der die Tatbestandsmerkmale der Rechtsnorm im konkreten Fall verwirklicht20. Mißlingt aber die Ermittlung dieses Sachverhalts, dann kann der Richter den Rechtssatz nicht anwenden und damit auch nicht die für den Einzelfall wirksame Rechtsbestimmung aus dem Gesetz ableiten21. Unklärbare Zweifel an der Verwirklichung einzelner Tatbestandselemente des Rechtssatzes verhindern somit, daß der Richter das Recht vollenden kann; es muß deshalb die Rechtsentstehung verneinen. Diese Entscheidung ergibt sich bei einem solchen Verständnis des Rechts bereits aus der Rechtsnorm, auf deren Tatbestand sich die tatsächlichen Zweifel beziehen; zusätzlicher Rechtssätze, die eine entsprechende Anweisung an den Richter enthalten, bedarf es dafür nicht. Gegenüber der Lehre Bülows ist eingewendet worden, daß nach ihr „alle Rechtsgeschäfte nur Wünsche" wären22 und daß sich die freiwillige Befolgung eines Rechtssatzes in einem rechtsfreien Raum vollzöge23, der erst nachträglich seine rechtliche Ordnung durch Richterspruch erhalten könnte24. Ein solches Verständnis des Rechts widerspräche der allgemeinen 17
AaO, S. 3, 45. AaO, S. 7, 48. 19 Bülow äußert sich zu der hier erörterten Frage nicht ausdrücklich. 20 Vgl. Bülow, S. 10, 12. Deshalb würden sich für den Beweis aus einer solchen Auffassung der Rechtsnormen keine Folgerungen ergeben (darauf weist Bruns, S. 265, hin), wohl aber für den Fall der Beweislosigkeit (vgl. dazu die folgenden Ausführungen). 21 Vgl. Bülow, S. 32. 22 Baumbach-Lauterbach, Einf. §§ 322—327, Anm. 2 B. 23 H. F. Gaul, AcP 168, S. 54f. 24 Goldschmidt, Prozeß, S. 152. 18
6
1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
Auffassung der Rechtsunterworfenen, nach der auch ohne richterliche Entscheidung im allgemeinen Forderungen erhoben und Ansprüche erfüllt würden, weil dieses Verhalten nach der Überzeugung der Betroffenen Recht sei25. Indes ist es fraglich, ob diese Kritik die Meinung Bülows richtig trifft. Denn Bülow26 scheint nicht ausschließen zu wollen, daß auch außerhalb des Prozesses Recht durch die Beteiligten geschaffen werden kann, wenn sie die zutreffende Rechtsbestimmung aus der unfertigen Rechtsordnung selbst ableiten und sich ihr fügen27. Bülow nimmt jedoch im einzelnen zu dieser Frage nicht Stellung und läßt auch offen, welchen Einfluß es auf das einverständlich geschaffene Recht haben soll, wenn einer der Betroffenen seine Haltung ändert, d. h. dem Recht des anderen die weitere Anerkennung versagt und deshalb das Gericht angerufen wird. Hierfür kommt es darauf an, ob mit dem Wegfall der Anerkennung des Rechts auch das Recht selbst untergeht und vom Richter in seinem Urteil wieder geschaffen werden muß oder ob die einmal entstandene außerprozessuale Rechtslage weiterhin für den Richter verbindlich sein soll, so daß dann — anders als sonst — im Urteil über ein bereits existentes Recht entschieden und es nicht erst durch Richterspruch neu hervorgebracht wird. Abgesehen von diesem ungeklärten Konkurrenzverhältnis beider Arten der Rechtsschöpfung ergeben sich auch zu anderen Punkten unlösbar erscheinende Fragen, auf die Bülow nicht eingeht. So versagt beispielsweise die Möglichkeit außerprozessualer Rechtsentstehung in der von Bülow zugestandenen Form gegenüber absoluten Rechten, deren Wesen es widerspräche, sie von der Anerkennung der durch die Betroffenen abhängig zu machen. Auch die Schöpfung eines absoluten Rechts durch Urteil ist schwer erklärlich, weil dieses Urteil dann nicht nur zwischen den Parteien, sondern gegenüber jedem wirken müßte28. Da Bülow diese und andere Fragen unbeantwortet läßt29, ist eine weitere Auseinandersetzung 25
Niese, Prozeßhandlungen, S. 31 f. « S. 45 f. 27 So wird Bülow auch von Goldschmidt, Prozeß, S. 152 N. 830, verstanden, der darauf aufmerksam macht, daß sich Bülow in diesem Punkt der Rechtstheorie Bierlings nähert. Bierling, I, S. 26ff., 40ff., 145ff., sieht in der Rechtsnorm eine Regel des äußeren Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Kreises, die von den zum Kreis Gehörigen anerkannt wird. „Alle Rechtsnormen werden auf der einen Seite als Rechtsansprüche, auf der anderen Seite als Rechtspflichten gewollt und anerkannt" (Bierling, I, S. 145). Zur Lehre Bierlings vgl. die Darstellung von Larenz, Methodenlehre, S. 39 ff. 28 Vgl. Goldschmidt, aaO, S. 152. 29 Larenz, aaO, S. 62, weist darauf hin, daß die Ausführungen Bülows über das Verhältnis der richterlichen Entscheidung zum Gesetz sowohl im Sinne einer teleologischen Auslegungslehre als auch im Sinne der „Freirechtslehre" gedeutet werden können und auch gedeutet worden sind. Bülow, Recht 1906, Sp. 773 ff., insbesondere N. 9, ist allerdings selbst einer Deutung seiner Auffassung im Sinne der Freirechtslehre entgegengetreten (Die meisten der an dieser Stelle gemachten Ausführungen lassen sich ohne weiteres mit der heutigen Auffassung richterlicher Rechtsfindung vereinbaren). Vgl. auch H. M. Pawlowski, ZZP 80, S. 348f. N. 18; Engisch, Konkretisierung, S. 183. 2
§ l Die richterliche Entscheidung
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mit seiner ganz überwiegend abgelehnten Auffassung30 gerade im Hinblick auf die gestellte Aufgabe, die Voraussetzungen der Rechtsentstehung zu klären, nicht durchzuführen. In einer ähnlichen Weise wie Bülow sieht auch Hans-Martin Pawlowski3*- die Aufgabe des Prozesses darin, das Recht, das einem ständigen Wandel unterworfen ist, festzustellen, um zu bestimmen, was „heute — was in diesem Fall —- konkret Recht ist"32. Der Prozeß dient also nicht dazu, ein von vornherein feststehendes Recht nur durchzusetzen; vielmehr ist notwendig, das — subjektive und objektive Recht für den Zeitpunkt des Prozesses zu „fixieren", weil es „ohne den Prozeß und das Urteil unbestimmt und nur subjektiv (in verschiedener Weise) bewußt und damit objektiv (allgemein) unbewußt bleiben würde"33. Auf das Wesen und die Wirkungen des „unbestimmten und nur subjektiv bewußten" Rechts geht Pawlowski nicht näher ein. Seine Ausführungen schließen deshalb die Deutung nicht aus, daß dieses Recht im Prozeß nur „bewußt gemacht" wird, also außerhalb des Prozesses entstanden ist, so daß ein Scheitern des Beweises lediglich seine „Feststellung" verhinderte, an der Existenz des Rechts aber nichts änderte. Gegen diese Deutung spricht jedoch, daß nach Meinung von Pawlowski „ein Recht nur dann gegeben ist (vorhanden ist), wenn es nachgewiesen werden kann"34. Denn diese Auffassung muß dazu führen, daß für die Rechtsentstehung das gerichtliche Verfahren erforderlich wird und daß deshalb außerhalb des Prozesses kein Recht des einzelnen geschaffen werden kann. Eine solche Rechtsanschauung ist aber aus den gleichen Gründen abzulehen, wie sie im Schrifttum gegen die Lehre Bülows vorgebracht worden sind85.
b) Die Theorie Max Ernst Mayers Geht Bülow davon aus, daß sich die Gesetze an das Volk richten, sie jedoch für den Einzelfall der „Vollendung" durch gerichtliches Urteil oder einverständlichen Willensakt der Betroffenen bedürfen, so wenden sich nach Auffassung Max Ernst Mayers die Gesetze nur an die Organe des Staates36. 30
Gegen Bülow auch Stein-Jonas-Pohle, Einl. V C (S. 7); Sax, ZZP 67, S. 31; Hellwig, Lehrbuch II, S. 167 ff. Vgl. ferner die in N. 23—25 Zitierten. 31 ZZP 80, S. 363ff.; vgl. dazu Rödig, S. 36ff. 32 AaO, S. 368. 33 AaO, S. 368; ähnlich schon Düringer, Festschrift, S. 191: „Erst das rechtskräftige, unanfechtbare Urteil schafft das Recht unter den Parteien; vorher bestand es nicht, oder war in seinem Bestand völlig in Frage gestellt"; zustimmend Isay, S. 25. 34 AaO, S. 368 N. 10. 35 Vgl. oben S. 5f. Gegen die Auffassung Pawlowskis auch Henckel, S. 52ff. Auf die besonderen Funktionen der Parteien, die Pawlowski ihnen bei der Rechtsgewinnung zuweist — vgl. aaO, S. 368f., 381 ff. —, wird hier nicht näher eingegangen, weil sich daraus für die zu erörternde Frage keine Folgerungen ergeben. 36 Die Ansicht, der Richter oder das zuständige Staatsorgan sei Adressat der Rechtsnorm, ist bereits vor Mayer vertreten worden (vgl. die Darstellung der verschiedenen Anschauungen bei Binder, Adressat, S. 4ff.). Auch bei von Ihering, Zweck, S. 336ff., findet sich dieser Gedanke. Aus dem Gesichtspunkt der Erzwingbarkeit des rechtlichen Gebots sieht von Ihering die staatlichen Organe, die mit der Handhabung des Zwanges
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„Die Rechtssätze regeln das Verhalten des Richters"37, nur er kann Gesetze befolgen oder übertreten38. Das Volk kennt die Rechtssätze nicht39. Wenn dennoch das Recht für den einzelnen verbindlich ist, wenn es „dem Individuum nicht als staatliche Willkür erscheinen muß, gerichtet zu werden nach Gesetzen, die es nicht kennt, noch zu kennen verpflichtet ist"40, dann muß es dafür eine Rechtfertigung geben. Diese Rechtfertigung findet Mayer in der Übereinstimmung der Rechtsnormen mit den Kulturnormen, die das Volk kennt und anerkennt. Den Begriff „Kulturnormen" gebraucht Mayer „als einen Sammelnamen für die Gesamtheit derjenigen Gebote und Verbote, die als religiöse, moralische, konventionelle, als Forderungen des Verkehrs und des Berufs an das Individuum herantreten"41. Die Kulturnormen und die Zwangsgewalt des Staates garantieren die Wahrung der Rechtsordnung42. Da sich der Rechtssatz nur an die staatlichen Organe richtet, kann er auch nur von ihnen angewendet und vollzogen werden. Für den Prozeß bedeutet dies: der Richter hat nicht festzustellen, ob ein Rechtssatz in einem tatsächlichen Geschehen außerhalb des gerichtlichen Verfahrens verwirklicht worden ist; er hat den Rechtssatz selbst durch dessen Anwendung im Rahmen des Urteils zu „verwirklichen"43. Der Rechtssatz ist der abstrakte Befehl an den Richter, „den konkreten Befehl an die Unterthanen ergehen zu lassen, sobald der Fall, für welchen der abstrakte Imperativ gesetzt ist, eingetreten ist"44. Durch diese Beschreibung wird deutlich, welche Folgen es für die gerichtliche Entscheidung hat, wenn ein tatsächliches Geschehen nicht aufzuklären ist. Der konkrete Befehl kann nur erlassen werden, wenn der Richter feststellt, daß „der Fall, für welchen der abstrakte Imperativ gesetzt ist", sich wirklich ereignet hat. Mißlingt diese Feststellung, dann hat der konkrete Befehl zu unterbleiben und ein darauf gerichteter Antrag ist abzuweisen. Dieses Ergebnis folgt unmittelbar aus dem Rechtssatz, dessen Tatbestand die tatsächlichen Zweifel bereitet. Denn dieser Rechtssatz kann nur angewendet werden, und die sich aus ihm abzuleitende Rechtsfolge tritt nur ein, wenn der Richter die dafür erforderlichen Tatsachen zu ermitteln vermag. Die parallele Geltung %weier Ordnungen, von der Mayer innerhalb seiner Lehre ausgeht, setzt mit zwingender Notwendigkeit den Ausschluß jedes betraut sind, als die Adressaten der Imperative an, die nach seiner Ansicht in den Normen ausgesprochen werden; er gesteht aber zu, daß die Normen gleichzeitig ihre Wirksamkeit auf die Privatpersonen erstrecken, sie berechtigen, verpflichten und binden (aaO, S. 338). 37 Max Ernst Mayer, S. 5. 38 AaO, S. 41. 39 AaO, S. 6f. 40 AaO, S. 16. 41 AaO, S. 17. 42 AaO, S. 42. 43 Max Ernst Mayer, S. 44: „Im Richterspruch verwirklicht sich der Rechtssatz". 44 AaO, S. 46.
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Widerspruchs zwischen ihnen voraus. Denn es darf nicht geschehen, daß der Richter als rechtswidrig verwirft, was dem einzelnen durch die für ihn geltenden Verhaltensregeln aufgegeben ist. Diese zwingend gebotene Kongruenz von Kultur- und Rechtsnormen scheitert jedoch schon daran, daß keineswegs immer eine einheitliche Auffassung darüber besteht, was Religion, Moral und Konvention vorschreiben45. Nicht selten gehen darüber gerade in wichtigen Fragen die Auffassungen auseinander, ohne daß sich verläßliche Anhaltspunkte finden lassen, nach denen beurteilt werden kann, welche Anschauung richtig ist. Da aber ein gedeihliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn einheitliche Verhaltensregeln gelten, bedarf es in solchen Fällen der definitiven Entscheidung, nach welchen Bestimmungen sich das Gemeinschaftsleben vollziehen soll. Diese Entscheidung wird für den Bereich des geschriebenen Rechts durch den Gesetzgeber getroffen. Aber nicht nur wegen solcher Erscheinungen kann sich die Trennung zwischen richterlichen Entscheidungsnormen und allgemeinen Verhaltensregeln nicht bewähren. Hinzu kommt noch, daß Regelungen geschaffen und beachtet werden müssen, deren rein technischer Inhalt überhaupt keine Entsprechung innerhalb sittlicher, religiöser oder konventioneller Gebote haben kann46. Wie der Bundespräsident und die Abgeordneten des Bundestages gewählt werden, wie die Vorfahrt im Straßenverkehr zu regeln ist und welchen Anforderungen eine Steuererklärung genügen muß — um nur einige Beispiele zu nennen —, dürfte sich wohl kaum aus Kulturnormen herleiten lassen. Mayer will dieses Problem dadurch lösen, daß er das „Verwaltungsstrafrecht", das in etwa dem Bereich des geltenden Ordnungswidrigkeitenrechts entspricht, ausnimmt. „Es ist ausgeschlossen, derartige Rechtssätze als unberechtigt abzuweisen, es ist andererseits unverkennbar, daß diese Rechtsnormen zwar nicht im Widerspruch, aber auch nicht in Übereinstimmung mit Kulturnormen stehen; ihr Inhalt ist kulturell indifferent"47. Mit dieser selbst zugestandenen Ausnahme durchbricht Mayer seine eigene Theorie in einem Umfang, der fragen läßt, ob nicht allein deshalb schon das von ihm aufgestellte Prinzip aufgehoben wird. Daß diese Ausnahme nicht auf das von Mayer genannte Gebiet beschränkt werden kann, bleibt dabei sogar noch unberücksichtigt. Mayer muß sich auch mit dem keineswegs seltenen Fall48 auseinandersetzen, daß ein neues Gesetz mit alten Gewohnheiten und Verhaltensweisen bricht. In diesem Fall soll nach Auffassung Mayers das Recht die Kultur entwickeln, und zwar dadurch, daß die stete Anwendung des neuen Gesetzes durch die Rechtspflege ihm Eingang in das Bewußtsein des Vol45
Vgl. Henkel, S. 143. Vgl. Gerland, KritVjSchr. 46, S. 438; Thon, Iherjb. 50, S. 16ff.; Leipold, S. 29. 47 Max Ernst Mayer, S. 27. 48 Wenn Mayer, S. 23, meint, daß es sich dabei nur um eine kleine Zahl von Normen handeln kann, dann trifft diese Erwartung zumindest für die heutigen Verhältnisse sicher nicht zu. 46
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
kes verschafft49. Zu Recht ist Mayer die naheliegende Frage gestellt worden, nach welchen Regeln sich das Verhalten des einzelnen denn richten soll, bis diese Übergangsphase abgeschlossen ist50. Dies alles zeigt: Die von Mayer behauptete Übereinstimmung vonKulturund Rechtsnormen ist eine Fiktion; sie gibt es nicht und kann es nicht geben. Damit fehlt aber seiner Theorie die wesentliche Grundlage, sie ist schon aus diesem Grunde abzulehnen51. Gleiche Einwände sind gegenüber der Auffassung von Scbmidhäuser zu erheben, der ähnlich wie Max Ernst Mayer zwischen einer staatlichen und einer gesellschaftlichen Rechtsordnung unterscheidet. „Die gesellschaftliche Rechtsordnung als die im Bewußtsein der Gesellschaft lebendige Grundordnung des Zusammenlebens besteht vor allem aus dem, was Max Ernst Mayer als sog. Kulturnormen der staatlichen Rechtsordnung vorausgehen sah"62. „Die staatliche Rechtsordnung besteht in erster Linie aus den vom Gesetzgeber erlassenen Gesetzen53". Einen Widerspruch zwischen diesen beiden Ordnungen versucht Schmidhäusr nach Möglichkeit dadurch zu vermeiden, daß er sie als „nichts anderes als die zwei Seiten der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens" ansieht, die sich im Inhalt entsprechen und sich „nur durch die unterschiedliche Ausformung unterscheiden54". Die durch Beispiele belegte55 „lebendige Wechselbeziehung" zwischen Staat und Gesellschaft in dem von Schmidhäuser verstandenen Sinn 5e kann aber nicht verhindern, daß ihre Ordnungen auseinanderlaufen. Dies wird von Schmidhäuser ausdrücklich eingeräumt, ohne allerdings genauer 2u sagen, wie sich dieser Widerspruch dann lössen soll. Auch die Frage, „inwieweit bei unserer heutigen ,pluralistischen' Gesellschaft überhaupt von der gesellschaftlichen Rechtsordnung gesprochen werden kann", wird aufgeworfen, jedoch nicht beantwortet.
c) Die „Reine Rechtslehre" Kelsens Ähnlich wie Bülow und Mayer, wenn auch von einem völlig anderen Rechtsverständnis her, sieht Kelsen die Funktion des Richters bei der Rechtsgewinnung. Kelsen faßt die Rechtsordnung als ein System von generellen und individuellen Normen auf, die miteinander dadurch verbunden sind, daß die Erzeugung jeder zu diesem System gehörenden Norm durch eine andere Norm des Systems und in letzter Linie durch eine Grundnorm bestimmt wird57. Durch Anwendung der höheren Norm wird * AaO, S. 22ff. 50 Thon, Iherjb. 50, S. 16. 51 Weitere Gründe nennt Gerland, KritVjSchr. 46, S. 419ff. Ablehnend auch Thon, aaO, S. 12ff.; Binder, Adressat, S. 19ff.; Leipold, S. 29. 52 Schmidhäuser, aaO, S. 12. 53 AaO, S. 13. 54 AaO, S. 29. 55 AaO, S. 26ff. 56 AaO, S. 22ff. 57 Reine Rechtslehre, S. 239. Frühere Schriften Kelsens sind nicht verwertet worden, da die zweite Auflage der „Reinen Rechtslehre" den neuesten Stand der Theorie Kelsens wiedergibt (vgl. das Vorwort zu dieser Auflage, S. VII).
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die rangniedere erzeugt. Die Grundnorm, die als einzige nicht „gesetzt", sondern „vorausgesetzt" wird, bestimmt die Erzeugung der Verfassung. In Anwendung der Verfassung werden die generellen Normen durch Gesetzgebung und Gewohnheit erzeugt und in Anwendung dieser generellen Normen wird schließlich die individuelle Norm durch die richterliche Entscheidung und den Verwaltungsbescheid gesetzt58. So entsteht innerhalb der Lehre Kelsens ein „Stufenbau der Rechtsordnung", in dessen Rahmen sich jede Rechts an Wendung zugleich als Rechtserzeugung darstellt. Kelsen sagt: „Vom Standpunkt einer auf die Dynamik des Rechtes gerichteten Betrachtung stellt die Setzung der individuellen Norm durch das Gericht ein Durchgangsstadium des Prozesses dar, der mit der Errichtung der Verfassung beginnt, über Gesetzgebung und Gewohnheit zur richterlichen Entscheidung und von dieser zur Vollstreckung der Sanktion führt. Dieser Prozeß, in dem das Recht sich gleichsam selbst immer wieder von neuem erzeugt, geht vom Generellen (oder Abstrakten) zum Individuellen (oder Konkreten). Es ist ein Prozeß stetig zunehmender Individualisierung oder Konkretisierung"59. Das richterliche Urteil erhält auf diese Weise zugleich einen konsumtiven Charakter und ist ebenso wie die Setzung genereller Normen durch den Gesetzgeber als ein Akt der Rechtserzeugung nur auf einer anderen Stufe zu begreifen. „Die individuelle Norm, die statuiert, daß gegen ein bestimmtes Individuum eine ganz bestimmte Sanktion gerichtet werden soll, ist erst durch die richterliche Entscheidung geschaffen, hat vorher nicht gegolten"60. Zur Setzung dieser individuellen Norm bedarf es der gerichtlichen Feststellung der Tatsachen, an die von der generellen Norm die bestimmte Folge geknüpft ist. Dabei handelt es sich bei dieser Tatsachenfeststellung nach Auffassung Kelsens um einen konstitutiven Akt, durch den der natürliche Sachverhalt in einen rechtlichen verwandelt wird. Kelsen kommt auf diesem Weg zu der Erkenntnis: „Nicht die Tatsache an sich, daß ein Mensch einen Mord begangen hat, sondern die Tatsache, daß ein nach der Rechtsordnung zuständiges Organ in einem von der Rechtsordnung bestimmten Verfahren festgestellt*1 hat, daß ein Mensch einen Mord begangen hat, ist die von der Rechtsordnung statuierte Bedingung"62. Nach dieser Theorie kann die Ungewißheit über ein tatsächliches Geschehen nur die gerichtliche Umsetzung eines „natürlichen" in einen „rechtlichen" Tatbestand63 und damit die Erzeugung der individuellen Norm verhindern; niemals können aber — anders als in dem oben64 dar58
AaO, S. 240. AaO, S. 242. 60 AaO, S. 244. 61 Hervorhebung zugefügt. 62 AaO, S. 245. 63 Kelsen unterscheidet nicht, worauf Leiminger, S. 83, 85, kritisch hinweist, zwischen dem Sachverhalt als Inbegriff von Tatsachen und dem Tatbestand als Teil der Norm (vgl. zu diesen Begriffen Larenz, Methodenlehre, S. 180). 59
M
S. 3.
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
gestellten Entscheidungsmodell — tatsächliche Zweifel auf die Rechtsfolge selbst übergreifen und den Inhalt des Urteils fraglich sein lassen. Für Kelsen stellt sich die Rechtsordnung nun nicht etwa als ein unfertiger Entwurf im Sinne Bülows dar, zu dessen Vollendung das richterliche Urteil — d.h.: die Setzung der individuellen Norm — notwendigerweise hinzukommen muß. Vielmehr ordnen nach Auffassung Kelsens die generellen Normen das menschliche Verhalten, indem sie dem einzelnen sagen, welche Handlungen der durch diese Normen gesetzten Ordnung entsprechen und welche ihr widersprechen. „Indem der Mensch sich so verhält, wie die Norm gebietet, erfüllt er seine Pflicht, befolgt er die Norm; mit seinem gegenteiligen Verhalten , verletzt' er die Norm oder, was dasselbe bedeutet, seine Pflicht"65. Da aber von Kelsen das Recht als eine Zwangsordnung aufgefaßt wird66, tritt für ihn das Gebot eines bestimmten Tuns oder Unterlassens in der Bedeutung hinter den Zwangsakt zurück, der als Reaktion auf ein normwidriges Verhalten vorgesehen ist. Recht und Unrecht werden von dem Bezugspunkt der Sanktion aus betrachtet und erfahren auf diese Weise eine Umdeutung67. Recht ist ein Verhalten, durch das die Anwendung der Norm mit dem Ziel der Setzung des Zwangsaktes vermieden wird, Unrecht das von der Norm zur Bedingung des Zwangsaktes gemachte Handeln68. Für diese Qualifizierung kommt es nur auf den Inhalt der Normen an, jede moralische Wertung hat dabei zu unterbleiben69. Der Inhalt der Rechtsnorm ist für Kelsen nicht durch Vernunft oder Sittengesetz vorbestimmt70. „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein"71. Ist die Rechtsnorm in der legitimierten Weise erzeugt, dann gilt sie. Die „Reine Rechtslehre" Kelsens offenbart sich damit als die „Theorie des positiven Rechts" und wird von Kelsen72 auch so verstanden. Die Norm fungiert als „Deutungsschema". Daß ein Tatbestand rechtlich Exekution eines Todesurteils und nicht Mord ist, daß ein Briefwechsel rechtlich einen Vertragsschluß bedeutet, ergibt sich erst aus der jeweils zutreffenden Norm und nur aus ihr73. Die rechtliche Deutung eines menschlichen Verhaltens, der Vergleich mit den Normen der Rechtsordnung, kann aber authentisch nur von den staatlich dazu bestellten Organen vorgenommen werden. Zwar kann sich jeder seine Meinung über die rechtliche 65
66 67 68 69
70 71 72
AaO, S. 15. AaO, S. 34ff. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 79f.; Vonlanthen, S. 27ff. AaO, S. 36, 116. AaO, S. 116f. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 76. Kelsen, S. 201. AaO, S. l; vgl. dazu die Kritik von Leiminger, S. 37, 80ff., und Vonlanthen, S. 48f.,
65 ff. 73
AaO, S. 3 f.
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Bewertung eines SachVerhalts bilden, wenn aber die generelle Norm angewendet werden soll, d.h. wenn entschieden werden muß, ob eine Sanktion zu verhängen ist und damit der zu wertende „natürliche Sachverhalt" in den Bereich des Rechts gelangt, dann ist ausschließlich die Meinung des berufenen Staatsorgans maßgebend. Der „natürliche Sachverhalt" kann zwar objektiv der Rechtsordnung entsprechen, darauf kommt es aber letztlich überhaupt nicht entscheidend an, sondern ob das Urteil des Richters zu demselben Befund gelangt. Denn allein durch die Feststellung des „natürlichen Tatbestands", die das dafür kompetende Staatsorgan in dem von der Rechtsordnung vorgeschriebenen Verfahren vornimmt, wird jener Tatbestand „rechtlich als solcher allererst erzeugt"74, und allein durch das gerichtliche Urteil wird festgestellt, was der generellen Norm in dem zu entscheidenden Fall entspricht. Ist die Entscheidung getroffen worden, und wird sie nicht durch ein höheres Gericht wieder aufgehoben, dann ist die Frage, wie der Inhalt der generellen Norm aufzufassen ist, positiv und verbindlich entschieden. „Eine gerichtliche Entscheidung kann — solange sie gültig ist — nicht rechtswidrig sein"75. Daraus folgt: Die generelle Bewertung von Recht und Unrecht und die individuelle Beurteilung eines Verhaltens hat sich der Staat vorbehalten. Recht und Unrecht sind nur, was der Staat durch seine Organe als solches erkannt hat. Wenn Verträge geschlossen und erfüllt, Delikte begangen und die dadurch angerichteten Schäden freiwillig ersetzt werden, mag dies alles aus der Sicht der Betroffenen mit der Rechtsordnung übereinstimmen, rechtlich relevant werden diese Vorgänge erst, wenn sie vom Richter geprüft und qualifiziert worden sind. Der Richter ist somit Recbtsschöpfer und in dieser Funktion relativ frei76. Die Bedenken und Einwände, die in der Auseinandersetzung mit Bülow gegenüber einem prozeßbezogenen Verständnis der Rechtsnormen geltend gemacht worden sind77, treffen — wenn auch mit gewissen Abwandlungen — auf die Lehre Kelsens zu; nach ihr ist eine rechtliche Ordnung des tatsächlichen Geschehens nur durch das richterliche Urteil zu erreichen, das mit rückwirkender Kraft78 bestimmt, was der Rechtsordnung entspricht. Ohne die vom Richter gesetzte individuelle Norm bleibt das Verhalten des einzelnen ein „natürlicher Sachverhalt" außerhalb des rechtlichen Bereichs79 Das Rechtsgeschäft muß in folgerichtiger Durchführung dieser Rechtsauffassung in der Tat als ein Wunsch der Beteiligten gewertet werden80, weil die definitive Entscheidung, ob sich die mit dem Geschäft verfolgten Absichten rechtlich realisieren lassen, allein dem Richter vorbehalten ist. 74
AaO, S. 245. AaO, S. 273. 76 AaO, S. 351. 77 Vgl. oben S. 5 f. 78 Kelsen, aaO, S. 245. 79 Vgl. oben S. 11. 80 So im Hinblick auf die Auffassung Bülows Baumbach-Lauterbach, Einf. §§ 322— 327, Anm. 2 B. 75
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Wenn Kelsen81 das Rechtsgeschäft als einen rechtsnormerzeugenden Tatbestand bezeichnet, dann ist diese Aussage mißverständlich. Er korrigiert und präzisiert sie denn auch durch die Feststellung: „Diese rechtsgeschäftlich erzeugten Normen, die nicht Sanktionen, sondern ein Verhalten statuieren, dessen Gegenteil die Bedingung der Sanktion ist, die die generellen Rechtsnormen statuieren, sind keine selbständigen Rechtsnormen. Sie sind es nur in Verbindung mit den die Sanktionen statuierenden generellen Rechtsnormen"82. Aber auch diese Qualifizierung des Rechtsgeschäfts ist auf der Grundlage seiner Auffassung der Rechtsnorm nicht haltbar und muß weiter eingeschränkt werden: „Das Rechtsgeschäft ist, ebenso wie das Delikt des rechtsgeschäftswidrigen Verhaltens und das Delikt der Nichtgutmachung des dadurch verursachten Schadens, Bedingung der zivilen Sanktionen"82. Diese Beschreibung bestätigt die bereits getroffene Feststellung der rechtlichen Unverbindlichkeit des Rechtsgeschäfts als solches, das erst bei Setzung der individuellen Norm rückwirkend in den Bereich des Rechts, überführt wird. Denn solange eine Sanktion nicht verhängt wird, als deren Bedingung das Rechtsgeschäft erscheint, bleibt es ein „natürlicher Tatbestand", der erst vom Richter festgestellt werden muß, um in einen rechtlichen verwandelt zu werden83. Die rechtliche Ordnung des Gemeinschaftslebens von der gerichtlichen Entscheidung abhängig zu machen, widerspricht allgemeiner Rechtsanschauung und ist mit der Rechtswirklichkeit unvereinbar. Die freiwillige Beachtung des Rechts wird allgemein nicht nur als ein „natürlicher Sachverhalt" aufgefaßt, dessen rechtliche Qualifizierung noch aussteht, sondern wird als ein rechtlich relevantes Verhalten gewertet, das Rechte und Pflichten unmittelbar begründen kann. Die Rechtsordnung beruht im wesentlichen auf der freiwilligen Befolgung der durch das Recht gesetzten Verhaltensregeln84: „Das Recht ,wirkte dadurch, daß es von den weitaus meisten Menschen als maßgebend betrachtet wird, daß sie seinen Geltungsanspruch praktisch anerkennen, indem sie ihr Handeln nach dem Recht ausrichten, auch ohne in jedem Fall dazu gezwungen zu sein"85. Die Möglichkeit, das Recht notfalls mit Hilfe staatlichen Zwangs durchsetzen zu können, trägt zwar entscheidend zur Rechtsbefolgung bei, dadurch wird aber der Zwang nicht zu einem wesensmäßigen Bestandteil des Rechtsentstehungsaktes oder des Rechts selbst. Der Prozeß dient der Feststellung und Wahrung, nicht der Schaffung des Rechts86. 81 82
S. 261.
AaO, S. 262. 83 Zum Begriff der Rechtspflicht in der Lehre, Kelsens vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 80; Leiminger, S. 50ff. 84 Rosenberg-Schwab, § l III (S. 2); Bernhardt, S. 1. 85 Larenz, aaO, S. 174. 86 Vgl. Rosenberg-Schwab, § l III 2, 3 (S. 2f.); Lent-Jauernig, S. 2; Berges, BB 1970, S. 1489; Bernhardt, S. If.; Stein-Jonas-Pohle, Einl. MV (S. 4ff.); Niese, Prozeßhandlungen, S. 31.
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Daß dem Richter ein wesentlicher Anteil an der Rechisgewinnung gebührt, soll damit nicht in Abrede gestellt werden. Denn seine Anwendung des Rechts ist niemals nur ein rein formallogischer Akt der Subsumtion eines Sachverhalts unter den Tatbestand eines „fertigen" Rechtssatzes, wie oben87 zum Zweck vereinfachter Darstellung unterstellt worden ist. Vielmehr hat er zur Ermittlung des Obersatzes Merkmale der Rechtsnorm auszulegen, zu bewerten und zu konkretisieren, zuweilen dabei „gesetzgebergleich" zu entscheiden und zu verfügen88. Durch sein Urteil im Einzelfall erläutert und präzisiert der Richter den Inhalt der von ihm angewendeten Normen89 und trägt auf diese Weise dazu bei, die abstrakt gefaßten Rechtsregeln an die konkreten menschlichen Lebensverhältnisse heranzuführen und diese Regeln fähig zu machen, im tatsächlichen Leben verwirklicht zu werden90. In dieser Beschreibung richterlicher Funktionen liegt denn auch der richtige Kern eines prozeßbezogenen Verständnisses der Rechtsnorm91. Die Anerkennung, daß die Tätigkeit des Richters nicht in einer bloßen Gesetzesvoüziehung besteht, sondern seine Rechtsfindung schöpferische Elemente enthält92, zwingt jedoch nicht dazu, den Rechtsnormen den Charakter von Verhaltensregeln93 abzusprechen und sie ausschließlich der Anwendung und dem Vollzug durch den Richter vorzubehalten. Der Rechtssatz — d. h. hier der materielle Rechtsfolgesatz — wendet sich auch, aber nicht nur an den Richter; er ist Verhaltens- und Entscheidungsnorm in einem94. Der Begriff der Entscheidungsnorm wird im Schrifttum in unterschiedlichem Sinn gebraucht95. Lautmann96 sieht nach dem Vorbild Ehrlichs97 in dem „individualisierten" Rechtssatz, der vom Richter auf den Einzelfall angewendet wird, die Entscheidungsnorm und begreift sie als das Ergebnis der Suche nach dem „kon87
S. 2 f. Engisch, Einführung, S. 107; vgl. auch Kriele, S. 162ff.; Nawiasky, S. 124ff.; J. Esser, Grundsatz und Norm, S. 139f., 253if., 283ff.; Einführung, S. 178ff.;Dubischar, S. 79; Betti, Festschrift, S. 390; s. auch unten S. 314. 89 BGH (23.9.60-3 StR 28/60) NJW 1960, S. 2346, 2347: „Da diese (ergänze: Geseze) jedoch kein Eigenleben führen, ist ihre Auslegung und ständige Anwendungspraxis durch die dazu berufenen Gerichte maßgebend." Ebenso Meyer-Ladewig, DRiZ 1962, S. 318; vgl. auch Stein-Jonas-Pohle, Einl. VC (S. 6). 90 Larenz, Methodenlehre, S. 178; vgl. auch Schwinge, S. 128f. 91 Vgl. H. M. Pawlowski, ZZP 80, S. 348 f. N. 18. 92 Nawiasky, S. 124; Larenz, Wegweiser, S. 275. 93 Hier im weitesten Sinn gemeint; auf eine weitere Unterteilung wird verzichtet (vgl. dazu J. Esser, Einführung, S. 138 ff.; Eichler, S. 51 f.). 94 Goldschmidt, Prozeß, S. 245ff.; E. Schmidt, Lehrkommentar, S. 54 (Nr. 39); Blomeyer, ZPR, S. 2f.; Rosenberg-Schwab, § l V l (S. 4), unter Hinweis auf § l GVG, Art. 97 GG; Niese, Prozeßhandlungen, S. 60; Rehfeldt, Einführung, S. 16, 41ff., 54; Bettermann, Gedächtnisschrift, S. 363f., 369; im gleichen Sinn auch Lautmann, S. l (vgl. aber auch S. 16, dazu die folgenden Ausführungen). 95 Vgl. die Nachweise bei Lautmann, S. 16. 96 AaO. 97 S. 97ff., insbesondere S. 140. 88
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweiskst kreten, angemessenen Rechtssatz", der aus den abstrakten Normen im Hinblick auf den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt zu gewinnen ist. Diese Definition geht von der bereits oben beschriebenen Erscheinung aus, daß der abstrakte Rechtssatz, um angewendet werden zu können, konkretisiert und auf den Einzelfall „passend" gemacht werden muß98. Diese Notwendigkeit, die in gleicher Weise auch für den abstrakten Rechtssatz in seiner Funktion als Verhaltensnorm entsteht, zwingt jedoch nicht dazu, eine begriffliche Unterscheidung zwischen (abstraktem) Rechtssatz und (individualisierter) Entscheidungsnorm vorzunehmen. Wenn hier als „Entscheidungsnorm" der Rechtssatz bezeichnet wird, der den Inhalt der richterlichen Entscheidung bestimmt, dann ist dieser für die Rechtsanwendung erforderliche Prozeß vorausgesetzt und eingeschlossen.
d) Die Rechtsanschauung Julius Binders Zumindest in den praktischen Ergebnissen stimmt die Auffassung von Julius Binder zu der hier behandelten Frage der Funktion des Richters und des Prozesses bei der Rechtsentstebung in vielen Punkten mit der Lehre Kelsens überein99. Binder100 sieht in dem Richter den Adressaten der Rechtsnorm, wenn er auch in späteren Schriften101 seine Auffassung modifiziert und erklärt, „daß die Privatrechtsnorm dem einen Rechtsgenossen gegenüber dem anderen ein bestimmtes Verhalten gebietet"102. Allerdings dürfte es sich dabei wohl nur um eine Reflexwirkung der Norm handeln. Denn für Binder sind die „Rechtssätze wesentlich und in erster Linie Entscheidungsnormen" und alle anderen Bedeutungen sind nur abgeleitet103. „Die Klage (ist) das Prius, das Recht das Posterius, die Klage das Erzeugende, das Recht das Erzeugte"104. Bei dieser Auffassung kann das Recht nur über den Umweg 98
Vgl. dazu auch Larenz, Methodenlehre, S. 115f., 226ff.; Lüderitz, Auslegung, S. 20ff; Henke, S. HOff. 99 Zu demselben Ergebnis gelangt Gustav Boehmer, Reichsgerichtspraxis, S. 219ff., in einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Lehren Kelsens und Binders. Dagegen findet Leipold, S. 28f., eine Parallele in der Lehre Binders zu der Meinung Max Ernst Mayers. Das in früheren Schriften, insbesondere in Rechtsnorm, S. 15f., von Binder betonte Gebot der Sittlichkeit, das dem Menschen ein normgemäßes Verhalten vorschreiben soll, mag zu einem solchen Vergleich veranlassen; in den späteren Schriften Binders wird dieser Gedanke aber nicht mehr besonders hervorgehoben. Auch besteht ein bedeutensamer Unterschied zu den Kulturnormen Mayers darin, daß Binder zwischen der Rechtsordnung und dem Bereich des Sittlichen eine Verbindung schafft, indem er annimmt, das Gebot der Sittlichkeit verpflichte den einzelnen zur Bejahung und Achtung der Rechtsnorm (Rechtsnorm, S. 16). Im übrigen lehnt Binder die Lehre Mayers in einer eingehenden Auseinandersetzung mit ihr im wesentlichen ab (vgl. Adressat, S. 19ff.). 100 Rechtsnorm, S. lOff. 101 Vgl. Adressat, S. 3f.; Prozeß, S. 105. 102 Prozeß, S. 105. 103 Adressat, S. 85. 104 Prozeß, S. 12. Diese Formulierung ist offenbar in Anlehnung an eine Bemerkung Windscheids gewählt, deren genaue Umkehrung sie bedeutet; Windscheid, S. 3, sagt
§ l DierichterlicheEntscheidung
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des Prozesses zur Verhaltensregel werden, und zwar dadurch, daß sich das rechtlich orientierte Verhalten des einzelnen nach dem vorausberechneten Ergebnis eines möglichen Rechtsstreits richtet105. In einer eingehenden Analyse kommt auch Gustav Boehmer108, zu dem Ergebnis, daß Binder trotz seiner auf eine andere Ansicht hindeutende Erklärungen das materielle Recht nur als ein System von Entscheidungsund Anwendungsnormen auffaßt. Diese Deutung wird durch die Feststellung Binders107 bestätigt: „Die rechtliche Gebundenheit der Menschen besteht in der Subsumierbarkeit ihrer Handlungen durch das Gesetz", eine Bemerkung, von der Gustav Boehmer108 zu Recht meint, man könne deutlicher nicht die Meinung äußern, daß sich das Recht als Entscheidungsnorm nur an den Richter wende. An anderer Stelle109 sagt Binder ganz in diesem Sinn: „So ist es nicht, wie Wach meint, eine ,grobe Täuschung', daß die Produktion subjektiven oder gar objektiven Rechts im Wesen des Prozesses liege, sondern es kann gar nicht anders sein". Also der Prozeß oder das richterliche Urteil als Akt der Rechtser^eugung! Folgerichtig von diesem Standpunkt kommt Binder110 dann wie Kelsen zu der Erkenntnis, daß es ein prozeßrechtlich richtiges, aber materiell unrichtiges Urteil nicht gibt, und diese Erklärung ist keinesfalls im Sinne der materiellen Rechtskrafttheorie zu verstehen, die Binder111 ausdrücklich ablehnt. Für die Tatsachenfeststellung im Prozeß muß deshalb Binder dazu gelangen, nur auf das Ergebnis der Verhandlung zu sehen. „Aufgrund des »Tatbestandes an sich4, der vom Standpunkt des Prozeßrichters aus gesehen, ein Geheimnis, ein Problem ist, kann der Anspruch immer nur als hypothetischer, problematischer bestehen; insofern gelten die sämtlichen hypothetischen Imperative des Zivilrechts nur unter der Bedingung ,si probetur' .... Wird daher die Klage wegen mangelnden Beweises abgewiesen, so wird dadurch freilich nicht ein ,an sich' bestehender Anspruch vernichtet, aber dieser auch ebensowenig unberührt gelassen, sondern er hat, wenn wir so sagen dürfen, aufgrund des zur Subsumtion unter das Gesetz an sich geeigneten Tatbestandes infolge des Fehlens von Beweismitteln von vornherein nur eine äußerst prekäre Geltung gehabt, und, die Unredlichkeit des Schuldners und die infolgedessen bestehende Unbeweisbarkeit vorausgesetzt, überhaupt keine Existenz"112. Und um jeden Zweifel, wie diese Ausführungen genämlich im Gegensatz zu Binder: „Für das heutige Rechtsbewußtsein ist das Recht das Prius, die Klage das Spätere, das Recht das Erzeugende, die Klage das Erzeugte". 105 Adressat, S. 61. 106 AaO, S. 220ff. 107 Adressat, S. 11. 108 AaO, S. 222. 109 Prozeß, S. 164. 110 Prozeß, S. 257. 111 Prozeß, S. 312 f. 112 Prozeß, S. 314. 2
Musielak, Beweislast
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
meint sind, auszuräumen, setzt Binder m hinzu: „Wir dürfen uns die Sache nicht so vorstellen, daß der materielle Rechtssatz das Sollen ausspricht und zu diesem nun die Haftung mit der actio hinzutritt, so daß, wenn das Urteil es ablehnt, die Haftung in den Zustand der Vollstreckbarkeit zu überführen, immer noch das ,Du sollst!' des materiellen Anspruchs übrig bliebe, das erfüllt werden könnte; sondern dieses Sollen besteht gegenüber seinem Adressaten, ebenso wie die Haftung, nur unter der Voraussetzung der Beweisbarkeit." Also das gleiche Bild wie bei Kelsen. Der „natürliche Sachverhalt" als solcher ist rechtlich unerheblich, es kommt auf den im Prozeß festgestellten an. Die oben angeführten Gründe gegen eine solche Rechtsanschauung treffen dementsprechend auch auf die Lehre Binders zu.
e) Ergebnis Somit kann zusammenfassend festgestellt werden: Die Normen des Zivilrechts sind nach ihrem Inhalt und der ihnen zugrundeliegenden Rechtsidee überwiegend114 Verhaltensregeln für das Gemeinshaftsleben115 und begründen Rechte und Pflichten, ohne daß ein Tätigwerden des Staates oder seiner Organe hinzukommen muß116. Wenn der Tatbestand des einzelnen Rechtssatzes sich im tatsächlichen Geschehen verwirklicht, ergibt sich die Rechtsfolge; der richterliche Spruch muß an der vorprozessualen Rechtslage anknüpfen. Die Aufgabe des Richters im Zivilprozeß besteht demgemäß darin, dem einzelnen Rechtsschutz zu gewähren und ihm zur Durchsetzung seines Rechts zu verhelfen, das ohne die Mitwirkung des Gerichts entstanden ist. Dagegen besteht sie nicht darin, erst dieses Recht durch konstitutiven Akt zu schaffen117. 113
Prozeß, S. 314f. Daß es auch Normen des materiellen Rechts gibt, die sich nur an den Richter wenden, wird später noch zu zeigen sein. 115 Es sei daran erinnert, daß es hier nur darum geht, die Frage zu beantworten, ob die Zivilrechtsnormen die aus ihnen ableitbaren Rechtsfolgen von einer prozessualen Feststellung der tatsächlichen Verwirklichung ihres Tatbestandes abhängig machen. Deshalb kann der Gegensatz Verhaltensnorm-Ermächtigungsnorm (vgl. dazu Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 17f.; Bötticher, ZZP 83, S. 339ff.) hier unberücksichtigt bleiben. 118 So die ganz herrschende Auffassung: Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 128ff., 168, 280ff.; Friedrich Weber, Studium Generale, 1960, S. 185; Henkel, S. 27, 61, 65; Georgiades, S. 276f.; Gustav Boehmer, Reichsgerichtspraxis, S. 230, Grundlagen, S. 94; Going, S. 270f.; Kipp, Festschrift, S. 218ff.; Hellwig, LehrbuchII, S. 159ff., System, S. 7; Blomeyer, ZPR, S. 343, Gutachten, S. 10; Pohle, Festschrift, S. 330; Stein-Jonas-Pohle, Einl. C IV, V (S. 5, 7); Leipold, S. 29 f. E. Schmidt, Lehrkommentar, S. 53 (Nr. 38); Nawiasky, S. 15f.; Bötticher, ZZP 68, S. 232; E. Schneider, DRiZ 1966, S. 281; Brodmann, AcP 98, S. 73; Schmeling, S. 11; Staudinger-Brändl, Einl. Rdn. 34 (S. 20f.); Dubischar, S. 34f.; Krawietz, S. 66ff. 117 Die besonderen Fragen, die sich bei Gestaltungsurteilen ergeben, sollen aus der Betrachtung ausgeklammert werden. 114
19 2 Die Beweislastnormen I. Ihre Funktion Ist nach der durchgeführten Untersuchung des Inhalts der Zivilrechtsnormen davon auszugehen, daß die Rechtsfolge eintritt, wenn sich der durch den Tatbestand der Norm beschriebene Sachverhalt wirklich ereignet, daß es also für die Rechtsentstehung einer gerichtlichen Feststellung nicht bedarf, dann folgt aus dieser Erkenntnis für den Fall der Beweislosigkeit: Der Richter, der nicht klären kann, ob der Tatbestand einer Norm tatsächlich erfüllt wurde und der somit nicht weiß, ob die Rechtsfolge eingetreten ist, kann aufgrund des Rechtssatzes, dessen Tatbestand die tatsächlichen Zweifel aufgibt, das daraus herzuleitende Recht weder bejahen noch verneinen118; denn nach diesem Rechtssatz gibt es nur die beiden Möglichkeiten, daß entweder sein Tatbestand verwirklicht oder nicht verwirklicht wird119. Würden keine anderen Rechtssätze eingreifen, die die Frage beantworteten, was in einem solchen Fall zu tun ist, dann könnte der an Gesetz und Recht gebundene Richter120 weder die Klage abweisen noch zusprechen121, sondern er müßte von jeder das geltend gemachte Recht betreffenden Entscheidung Abstand nehmen122. Nach deutschem Recht hat aber der Richter auch bei ungeklärtem Sachverhalt, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind123, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Für diese Lösung sprechen weder zwingende Gründe der Logik124 noch der Gerechtigkeit; sie dient vielmehr dem Zweck, den Streit der Parteien ein für allemal zu beenden und eine endgültige Befriedung herbeizuführen125. Man kann wohl kaum eine Regelung, die das römische Recht kannte und die dem Richter ermöglichte, bei einem non liquet eine Entscheidung abzulehnen128, 118
Vgl. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 474; Kasparek, S. 3; Schmeling, S. 19, 56f. Leipold, S. 30. 120 Vgl. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. l GG, § l GVG. 121 Auch § 286 ZPO weist nicht etwa den Richter an, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden, eine Tatsache entweder als wahr oder unwahr zu behandeln (so Kress, S. 13 f.), sondern die Vorschrift will dem Richter die freie Entscheidung bei Bewertung einer Tatsache einräumen; dazu gehört auch, daß der Richter Zweifel hinsichtlich des wirklichen Geschehens nicht klären kann (vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 15; Korsch, S. 131 f., N. 105). 122 Korsch, S. 8; Schmeling, S. 19f.; Richter, S. 23f.; von Dressler, S. 4; Kasparek, S. 3; Leipold, S. 33; Lepa, S. If. 123 Auch im Bereich der Sachurteilsvoraussetzungen können tatsächliche Zweifel entstehen. Es ergibt sich dann insoweit die gleiche Situation wie im Falle eines ungeklärten Tatbestandes anderer Rechtssätze. 124 Wach, ZZP 29, S. 366f.; Engisch, Einführung, S. 58f.; Pohle, Festschrift, S. 320; Micheli, S. 4; Leipold, S. 46; Schwering, S. 21f.; Lepa, S. 1; Schmeling, S. 19 f., 56. 125 Engisch, Einführung, S. 61; Pohle, Festschrift, S. 319; Rehfeldt, Einführung, S. 246; Lepa, S. 1; Schwindel, S. 113. 128 Vgl. unten S. 199. 1U
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast als ungerecht ansehen. Umgekehrt kann ein Beweislasturteil, das der wahren, aber nicht feststellbaren Rechtslage zuwiderläuft, durchaus ungerecht sein. Denn im Gegensatz zu anderen richterlichen Entscheidungen wird bei einem Beweislasturteil bewußt darauf verzichtet, eine Übereinstimmung mit der wirklichen Rechtslage herbeizuführen, so daß es einem Zufall gleichkommt, wenn eine solche Übereinstimmung erreicht wird127. Kasparek128 nennt deshalb das Beweislasturteil ein Behelfsurteil. Wegen der durch ein Beweislasturteil möglicherweise herbeigeführten Ungerechtigkeit ist verschiedentlich vorgeschlagen worden, in Fällen der Ungewißheit über die wirkliche Sachlage eine Teilung des Streitgegenstandes vorzunehmen129, wobei die konkrete Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der von den Parteien gegebenen Sachdarstellungen den Maßstab für die Teilung bilden soll. Eine solche „Ergebnisteilung nach Wahrscheinlichkeit"130 mag im Einzelfall durchaus gerechter als die auf ein „alles oder nichts" hinauslaufende Beweislastentscheidung sein; sie entspricht aber — von der durch § 830 Abs. l Satz 2 BGB gemachten Ausnahme abgesehen — nicht dem geltenden Recht131.
Die Regelung des non liquet muß auf Bestimmungen beruhen, die nicht nur den Weg zu einer Sachentscheidung öffnen, sondern die auch den Entscheidungsinhalt festlegen und im Einzelfall vorschreiben, wie der Richter zu urteilen hat, wenn Tatsachen ungewiß bleiben, auf die es zur Erfüllung des Tatbestandes132 einer Rechtsnorm ankommt133. Diese Bestimmungen sind die Normen der Beweislast134, die Engisch135 eine der sinnreich127
Reinhardt-König, S. 36; Schmeling, S. 21; Korsch, S. 83; Schwindel, S. 107f. S. 68, 70, 105. 129 Leo, HansRZ 1923, Sp. 47ff.; vgl. auch Gautschi, S. 32f., 480ff. 130 Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 337. 131 Kegel, aaO, S. 337f.; Schwering, S. 21. 132 Die Beweislastnormen bestimmen jedoch nicht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit der Tatbestand einer Rechtsnorm erfüllt ist (vgl. dazu auch unten S. 23f.). Anderer Ansicht ist Richter, S. 18f., der zwischen zwei Arten von Beweislastnormen unterscheiden will, solchen die vorschreiben, welche Tatbestandsmerkmale im Prozeß feststehen müssen, damit eine Rechtsfolge bejaht werden kann, und anderen, die den Fall des non liquet regeln. 133 Beling, S. 238 f. 134 Überwiegend wird die Existenz von besonderen Beweislastnormen bejaht, so u. a. von Bötticher, ZZP 68, S. 232; Blomeyer, ZPR, S. 341ff.; Bruns, S. 276; Bernhardt, S. 221, JR 1966, S. 322; Rosenberg, Beweislast, S. 3, 5, 8, 77, 80f., 85 und öfter (vgl. aber unten S. 25f.); Rosenberg-Schwab, § 118 III 4—5 (S. 612—614); Kegel, Ermittlung ausländischen Rechts, S. 182 (oben); Georgiades, S. 277; Lukes, ZZP 77, S. 79; Dubischar, JuS 1971, S. 385; Schönke-Kuchinke, S. 260; Lent-Jauernig, S. 166; Wieczorek2, § 282, Anm. E (S. 843); Zeiss, § 611 (S. 185); Leipold, S. 22, 30, 34; Schwering, S. 23; Diederichsen, VersR 1966, S. 212,215; Korsch, S. 4ff.; R. Schmidt, ZZP 32,S. 447; Hanausek, S. 19; Dänzer, S. 127; Moser, S. 64; Lepa, S. 5; von Greyerz, S. 31f.; Schmeling, S. 20, 50. (Daß jedoch alle genannten Autoren den Begriff der Beweislastnorm im gleichen Sinn auffassen, ist sehr zu bezweifeln.) Dagegen wird die Beweislastregelung nur als Folge der anzuwendenden Rechtsvorschriften ohne eigenen Normcharakter angesehen von Leonhard, S. 136f., 229f.; Fitting, ZZP 13, S. 12f.; Kühn, S. 75f.; Schwindel, S. 83; Wolf, S. 9; Sattelmacher, S. 10; Herr, S, 23. 135 Einführung, S. 60. 128
§ 2 Die Beweislastnormen
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sten gedanklichen Figuren nennt, die der juristische Verstand ausgebildet hat13«. . Ihre Wirkungsweise Bei der Frage nach der Rechtswirkung, die durch die Beweislastnormen herbeigeführt wird, ist besonders zu berücksichtigen, daß es sich bei ihnen um ein Behelf s mittel137 handelt, das allein dem Zweck dient, trotz eines ungeklärten Tatbestandes die richterliche Entscheidung in der Sache selbst zu ermöglichen. Diese Zweckbestimmung ist auch für die sich aus den Normen ergebenden Rechtsfolgen maßgebend. Es sind zwar verschiedene Wege denkbar, tatsächliche Zweifel zu überwinden, um zu einer Sachentscheidung zu gelangen; der Ausnahmecharakter der Beweislastnormen läßt aber nur solche Maßnahmen zu, deren Wirkungen nicht weiter reichen, als für den herbeizuführenden Erfolg unbedingt erforderlich ist. Ein Eingreifen der Beweislastnorm in das materielle Recht und die selbständige Anordnung oder Aufhebung der Rechtsfolge, die sich aus dem zweifelhaft gebliebenen Tatbestand bei seiner tatsächlichen Verwirklichung ergeben würde138, können als zu weitgehend von vornherein ausgeschlossen werden. Der Anlaß für die Anwendung der Beweislastnorm liegt ausschließlich im tatsächlichen Bereich; es genügt deshalb, wenn durch sie eine Regelung getroffen wird, die auf die Tatsachenfeststellung wirkt. Entscheidet die Beweislastnorm die tatsächlichen Zweifel und gibt darauf eine der beiden möglichen Antworten, dann ist der Weg zur Entscheidung in der Sache frei139. Es ist deshalb davon auszugehen, daß die Beweislastnorm die Ungewißheit über das Bestehen der fraglichen Tatsachen durch die Anweisung an den Richter behebt, so zu entscheiden, als ob eine Klärung entweder mit einem positiven oder einem negativen Ergebnis140 gelungen sei141. 136
Zur Rechtsquelle dieser Normen vgl. unten S. 311 ff. E. Peters, Ausforschungsbeweis, S. 98, nennt die Beweislastregeln „Aushilfsnormen"; vgl. auch Kasparek, S. 68; oben zu N. 128. 138 Leipold, S. 61 ff., erwägt diese Möglichkeit, verwirft sie aber ebenfalls. 139 Leipold, S. 64. 140 Ob die auf einer Beweislastnorm beruhende Entscheidung günstig oder ungünstig ist, wird von jeder Partei anders beurteilt (vgl. dazu unten S. 33f.). Auf diesen Gesichtspunkt kann es deshalb nicht ankommen; a. A. E. Schneider DRiZ 1966, S. 281. Daß Schneider die Beweislastentscheidung in einem vollkommen anderen Sinn auffaßt, zeigt auch die von ihn vertretene Meinung (MDR 1966, S. 388f.), daß in Fällen, in denen das Gericht festgestellt hat, daß der Tatbestand des anzuwendenden Rechtssatzes nicht verwirklicht worden ist, eine Beweislastentscheidung getroffen werden soll, wenn diese Entscheidung leichter begründet werden kann, Vgl. auch J. Schröder, FamRZ 1969, S. 349. 141 In dem oben (S. 3) entwickelten Beispiel würde das „ta möglicherweise ja, möglicherweise nein" durch die Beweislastnorm in ein „ta ja" oder „ta nein" verändert werden. 137
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
Die Erkenntnis, daß die Wirkung der Beweislastnorm durch den von ihr verfolgten Zweck bestimmt wird, bildet die Grundlage für eine weitere Präzisierung. Wenn die Beweislastnorm den Richter anweist, bei seiner Entscheidung davon auszugehen, daß die tatsächlichen Voraussetzungen142 eines Tatbestandsmerkmales vorhanden oder nicht vorhanden sind, so soll damit nur erreicht werden, daß der Richter diese Anordnung im Rahmen des zur Urteilsfindung erforderlichen Denkvorganges befolgt. Eine beweisschaffende Wirkung der Beweislastnorm mit dem Ergebnis, daß die ungeklärten Tatsachen vom Gericht als bewiesen behandelt werden, ist dafür unnötig und schon aus diesem Grunde143 auszuschließen144. Die Feststellung der zweifelhaft gebliebenen Tatsache — oder die Feststellung, daß es sie nicht gibt — wird vielmehr nur jeweils auf das Tatbestandselement bezogen, um dessen Verwirklichung es geht146, und in dem dafür notwendigen Umfange durch die Beweislastnorm fingiert™. Eine Fiktion bewirkt die rechtliche Gleichbewertung zweier unterschiedlicher Tatbestände147. Der Fiktionscharakter einer Beweislastnortn zeigt sich darin, daß durch sie der Tatbestand der Nichtaufklärbarkeit der tatsächlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmales gleichsam in Form einer Kurzverweisung148, dem Tatbestand der Ermittlung des entsprechenden Sachverhalts mit entweder positivem oder negativem Resultat gleichgestellt wird149. Diese Gleichstellung reicht jedoch nur soweit, wie zur Überwindung der Lücke in der Tatsachenfeststellung notwendig ist, um zu einer Sachentscheidung zu gelangen; sie hat deshalb ausschließlich 142
Wenn hier und im folgenden von den tatsächlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmales oder eines Rechtssatzes gesprochen wird, dann dient dies einer sprachlichen Abkürzung. Gemeint ist der tatäschliche Vorgang, auf den die Beschreibung des Rechtssatzes zutrifft, der also das Tatbestandselement oder den Tatbestand des Rechtssatzes verwirklicht. 143 Zu weiteren Gründen vgl. die Ausführungen unten S. 25. 144 So auch Leipold, S. 60; Kasparek, S. 69; Moser, S. 46ff.; Korsch, S. 84. Korsch beschreibt diesen Unterschied zu einer beweisschaffenden Wirkung der Beweislastnorm in folgender Weise: „Die Regelung der Beweislast bedeutet also nicht, daß die Prozeßparteien die Unwahrheit sagen, wenn sie behaupten, aber die Wahrheit, wenn sie bestreiten". Zu der Auffassung Rosenbergs, Beweislast, S. 14ff., die im Ergebnis mit der hier vertretenen Ansicht übereinstimmt, vgl. unten S. 25. 145 Dieselbe Tatsache kann für den Tatbestand mehrerer Rechtssätze erheblich sein; deshalb muß die von den Beweislastnormen zu treffende Anordnung auch verschieden ausfallen können, wenn sie dieselbe Tatsache betrifft. 148 Reinhold, ZZP, 20, S. 131 f.; Leipold, S. 66; von Knieriem, S. 2; Gerber, S. 23 (Allerdings meist ohne Berücksichtigung der diese Wirkung herbeiführenden Beweislastnormen). 147 J. Esser, Rechtsfiktionen, S. 27, 29; Larenz, Methodenlehre, S. 199; vgl. auch unten S. 83. 148 J. Esser, aaO, S. 38f.; ebenso schon Bülow, AcP 62, S. 4f. 149 Bötticher, ZZP 68, S. 232, bezeichnet die Beweislastnormen als verweisende Rechtssätze und deutet damit den gleichen Gedanken an, wie er oben ausgesprochen wird; ebenso Leipold, S. 66 N. 28.
§ 2 Die Beweislastnormen
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Wirkung für die gerichtliche Entscheidung. Wegen dieser Zielrichtung der Beweislastnorm wird sie zu Recht als Entscheidungsnorm bezeichnet150. Das Charakteristische der Entscheidungsnormen liegt darin, daß sie nicht Verhaltensregeln für die Rechtsunterworfenen enthalten, sondern ausschließlich den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung bestimmen151. Die Beweislastnormen werden auch nicht deshalb zu Verhaltensregeln für die Parteien, weil sie ihre Beweistätigkeit beeinflussen152, denn dabei handelt es sich lediglich um Reflexwirkungen153. Wollte man die Beweislastnormen gleichzeitig als Verhaltensregeln für die Parteien auffassen, müßte folgerichtig aus ihnen dann auch die Pflicht der Normadressaten zu einem bestimmten Verhalten hergeleitet werden. Daß aber die Parteien zum Beweis nicht verpflichtet sind, wird fast einhellig angenommen 1M. Bedenken sind gegen die Auffassung der Beweislastregeln als Rechtsanwendungsnormen155 zu erheben. Die Rechtsanwendungsnormen in dem hier verstandenen Sinn15' treffen Bestimmungen über die Anwendung eines Rechtssatzes auf einen festgestellten Sachverhalt157, während die Beweislastnormen die Feststellung des Sachverhalts fingieren. Daß aufgrund dieser fingierten Feststellung die Anwendung des abstrakten Rechtssatzes möglich wird, ist lediglich Folgewirkung158.
Zu beachten ist noch folgendes: Fingiert wird durch die Beweislastnorm die Feststellung von Tatsachen, aber nicht bestimmter, konkreter Tatsachen, sondern irgendwelcher nicht näher beschriebener, die entweder das einzelne Tatbestandsmerkmal verwirklichen, auf das sich die Beweislastnorm bezieht, oder die zu dem entgegengesetzten Ergebnis führen159. Die Beweislastnorm beschränkt sich auf die Frage des „Ob" — ob das Tatbestandsstück erfüllt oder nicht erfüllt ist — und läßt die Frage des „Wie" — wie es dazu gekommen ist — unbeantwortet. Darin liegt ein bedeutsamer Unterschied ^«r Beweisregel, die einen bestimmten tatsächlichen Vorgang betrifft180. Diese Einschränkung der Wirkungen einer Beweislastnorm folgt ebenfalls aus ihrem Charakter als ein technisches Hilfsmittel, dessen Funktion und Wirkung an dem angestrebten Zweck orientiert ist. Weil es für den durch sie 150
So Bötticher, ZZP 68, S. 232; Georgiades, S. 277f.; Blomeyer, ZPR, S. 3, Gutachten, S. 9 (an anderer Stelle — ZPR, S. 344, Gutachten, S. 10 — nennt er sie Beurteilungsnormen; so auch Schönke-Kuchinke, S. 260); Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV 3 (S. 1149); Leipold, S. 64; Pohle, Festschrift, S. 333; Rosenberg-Schwab § 118 III 4 (S. 613). 151 Bötticher, aaO; Blomeyer, ZPR, S. 3; vgl. auch oben S. 14ff. 152 So aber ohne nähere Begründung Schönke-Kuchinke, aaO. 153 Vgl. dazu unten S. 36 ff. 154 Vgl. statt vieler Rosenberg, Beweislast, S. 54ff.; s. auch unten S. 49. 155 So Schmeling, S. 92ff.; Pohle, Festschrift, S. 334, AcP 155, S. 173; Stein-JonasSchuhmann-Leipold, § 282, Anm. IV 3 (S. 1149); Moser, S. 72f.; unentschieden Leipold, S. 65. 156 Anders Giesker-Zeller, S. l ff. 157 So ausdrücklich Schmeling, S. 92. 158 Vgl. oben N. 141. 158 Damit stimmt weitgehend auch die von Leipold, S. 64ff., vertretene Ansicht überein. 160 Vgl. unten S. 64f.
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
zu erreichenden Erfolg nur auf die Entscheidung, ob ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht ist, nicht auf die Fixierung einer Sachdarstellung in Einzelheiten ankommt, reduziert die Beweislastnorm die durch sie fingierte Feststellung auf das „juristische Skelett"161 eines tatsächlichen Vorgangs, der auf das in Frage stehende Tatbestandsmerkmal ausgerichtet ist. Damit wird auch der sonst vom Richter zu ziehende Schluß von bestimmten festgestellten Tatsachen auf die Erfüllung des Tatbestandselementes überflüssig gemacht. Denn die Beweislastnorm fingiert die Feststellung eines tatsächlichen Vorganges so „maßgerecht" auf das Tatbestandsmerkmal zugeschnitten, daß sich der Schluß „verwirklicht oder nicht verwirklicht" von selbst ergibt. Diese Beschreibung des Zusammenwirkens von tatbestandlich nicht geklärtem Rechtssatz und Beweislastnorm läßt schließlich auch deutlich werden, daß die von der Beweislastnorm getroffene Anordnung für sich allein betrachtet keinen Sinn haben kann und notwendigerweise die Frage voraussetzt, die durch das Tatbestandsstück, dessen Verwirklichung umstritten ist, formuliert wird162. Der Inhalt einer Beweislastentscheidung setzt sich also immer aus den beiden Komponenten zusammen: aus dem Tatbestandsstück, auf das sich die tatsächlichen Zweifel beziehen, und aus der Beweislastnorm, die zur Überwindung dieser Zweifel die Fiktion einer Tatsachenfeststellung vornimmt, aus der eine der beiden Antworten — verwirklicht oder nicht verwirklicht — folgt. In dieser Abhängigkeit voneinander liegt auch die Erklärung, warum Beweislastnormen nicht allein ohne den dazu gehörenden Rechtssatz denkbar sind und warum eine gesetzliche Regelung entweder nur auf die Wiederholung allgemeiner Prinzipien der Beweislast beschränkt werden könnte oder in der Zusammenfassung von Beweislastnorm und Rechtsfolgesatz bestehen müßte163. Der nicht immer genügend berücksichtigte Unterschied ^wischen tatsächlich ermittelten und aufgrund von Beweislastnormen fiktiv angenommenen Tatsachen16* hat keinesfalls nur theoretischen Wert165. Dieselbe Tatsache 161
Von Tuhr, Allg. Teil l, S. 7. Vgl. auch unten S. 300 ff. 163 Ähnlich Gautschi, S. 35. 164 Den Ausführungen im Schrifttum läßt sich häufig nicht mit Sicherheit entnehmen, ob die Verfasser die Wirkungen der Beweislastregelung als Fiktion oder im Sinne einer tatsächlichen Feststellung auffassen. Von einer „Unterstellung" oder „Annahme" eines Sachverhalts aufgrund der Beweislastnorm sprechen z.B. Kummer, Art. 8 Rdn. 114, 124; Larenz, Methodenlehre, S. 242; von Bar, Recht und Beweis, S. 5f. N. 4; Engisch, Einführung, S. 61. Ähnliche auf eine Fiktion hindeutende Wendungen finden sich bei Hellwig, System, S. 467 (deutlicher dagegen Lehrbuch II, S. 164 N. 2: „Die Tatsache, deren Wahrheit nicht bewiesen wird, gilt nicht als unbewiesen, sondern als unwahr"); Regelsberger, S. 693f.; Riezler, S. 465. Dagegen nehmen wohl eine tatsächlich wirkende Feststellung an: Fitting, ZZP 13, S. 16f. (insbesondere N. a); Brodmann, AcP 98, S. 77f.; Sieveking, S. 5f.; ähnlich auch OLG Nürnberg (31. 5. 50 — Ss 84/50) DRZ 1950, S. 423, kritisch dazu Wimmer, DRZ 1950, S. 395 N. 18. 165 Die gegenteilige Auffassung von Kühn, S. 7 f., dürfte durch die folgenden Ausführungen widerlegt werden. 162
§ 2 Die Beweislastnormen
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kann in einem Rechtsstreit zur Ausfüllung der Tatbestände mehrerer Rechtsvorschriften dienen, für die unterschiedliche Beweislastregeln gelten. Dies kann zur Folge haben, daß dieselbe Tatsache einmal als bestehend und einmal als nichtbestehend zu behandeln ist. Würden die Beweislastnormen die rein tatsächlich wirkende Feststellung eines Sachverhalts anordnen, so ergäbe sich in solchen Fällen ein nicht zu klärender Widerspruch. Rosenberg16' behandelt den Fall, daß für eine Klage auf Zahlung des Kaufpreises und für eine Widerklage auf Schadensersatz die Existenz einer zugesicherten Eigenschaft gleichermaßen entscheidend ist167. Würde der Richter aufgrund der Beweislastregelung die fehlende Gewißheit, ob die Eigenschaft bestanden hat, mit ihrem Fehlen auch rein tatsächlich gleichsetzen, so käme er bei Entscheidung der Widerklage in erhebliche Schwierigkeiten. Entweder müßte er aufgrund einer anderen Beweislastnorm die zugesicherte Eigenschaft als existent feststellen und setzte sich damit in Widerspruch zu der Tatsachenbeurteilung im Rahmen der Klage oder er würde auch bei der Widerklage von dem tatsächlichen Fehlen der zugesicherten Eigenschaft ausgehen und müßte dann trotz der Ungewißheit über das Bestehen der Eigenschaft die Widerklage zusprechen.
Schließlich ist auch nicht zu übersehen, welche Bedeutung es allein schon psychologisch für eine Partei haben muß, ob man ihr erklärt, die Wahrheit einer ihrer Behauptungen sei nicht zu ermitteln, deshalb würde die Behauptung im Rahmen einer Beweislastentscheidung so behandelt werden, als ob sie unwahr wäre, oder ob man ihr sagt, die Unwahrheit ihrer Behauptung sei nunmehr aufgrund einer Beweislastnorm festgestellt. Rosenberg** lehnt ebenfalls nachdrücklich die Auffassung ab, daß die Beweislastnorm den Richter anweise, eine ungeklärt gebliebene Tatsache als bestehend oder nicht bestehend festzustellen. Die Widersprüche, die sich — wie dargestellt — aus dieser Auffassung ergeben, führt er zur Stütze seiner Ansicht an, daß der Richter bereits bei einem zweifelhaft gebliebenen Sachverhalt in gleicher Weise wie bei der Feststellung des Nichtvorhandenseins zur Verneinung der Rechtsfolge, die aus der anzuwendenden Vorschrift abzuleiten ist, kommen muß169. Diese Ansicht wäre jedoch nur zutreffend, wenn die Entstehung eines Rechts von der positiven Feststellung der einzelnen Tatbestandsmerkmale durch den Richter abhängig wäre und die tatsächliche Verwirklichung des Tatbestandes außerhalb des Prozesses nicht genügte170. Daß sich die Normen des materiellen Rechts nur an den Richter wenden, verneint jedoch Rosenberg an anderer Stelle171 ausdrücklich. Im übrigen könnte es bei einer rein prozeßbezogenen Funktion des Rechts auch keine Beweislastnormen geben, von deren Existenz Rosenberg aber ausgeht172. Die theoretische 168
Beweislast, S. 15f. Ein derartiger Fall wurde vom Reichsgericht — RGZ 66, 279 — 2. 7. 07 — 126/07 — entschieden. Vgl. zu dieser Frage auch Leipold, S. 60 f. 168 AaO, S. US. 169 Beweislast, S. 12ff., AcP 94, S. 5; ebenso Rosenberg-Schwab, § 118 I 2 (S. 608); Planiol-Ripert, Nr. 1417 (S. 842); Bahr, Iherjb. 25,394ff., 398f., 413; Schwindel, S. 115ff. 126; Moser, S. 47f.; Kühn, S. 8; vgl. auch RGSt. 61, 202, 205 (15. 2. 27 — I 2/27). 170 Vgl. oben S. 4. 171 Beweislast, S. 82. 172 Vgl. oben N. 134. 167
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast Begründung, die Rosenberg seiner Normentheorie gibt, ist in diesen Punkten nicht frei von Widersprüchen173. Zu der Möglichkeit einer lediglich fiktiven Gleichbewertung zweifelhaft gebliebener und geklärter Tatsachen nimmt Rosenberg nicht Stellung.
. Die systematische Stellung Um die Frage, ob die Beweislastnormen dem materiellen174 oder dem prozessualen Recht, beiden Rechtsgebieten175 oder einem zwischen beiden liegenden Bereich176 angehören, wird seit langem177 lebhaft gestritten178. Die Diskussion wird dadurch erschwert, daß — wie häufig im Bereich der Beweislast — von verschiedenen Beweislastbegriffen ausgegangen179 und auch die Abgrenzung des materiellen und des Prozeßrechts nicht einheitlich vorgenommen wird180. Deshalb kann es nicht überraschen, daß 173
Dazu eingehend Leipold, S. 31 ff., der zutreffend darauf hinweist, daß die von Rosenberg und auch von anderen Autoren immer wieder geäußerte Auffassung, der Richter dürfte den Rechtssatz nur anwenden, wenn er „von dem Vorhandensein der Voraussetzungen des Rechtssatzes eine positive Überzeugung erlangt hat" (Rosenberg, aaO, S. 12) auch auf die „negative" Anwendung des Rechtssatzes, d. h. die Verneinung der sich aus ihm ergebenden Rechtsfolge, zutrifft. „Bei Zweifel über die Normvoraussetzungen ist die Norm weder in positiver noch in negativer Hinsicht anwendbar, die Rechtsfolge läßt sich weder bejahen noch verneinen, der Richter kann der Klage weder stattgeben noch sie abweisen" (Leipold, S. 33); vgl. auch Schwering, S. 22. 174 Die Alternative Privatrecht-Prozeßrecht (vgl. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 475; Hellwig, System, 467 f.) ist nicht richtig, da sie die Fragestellung zu sehr einengt und nicht berücksichtigt, daß es Beweislastnormen auch außerhalb des Privatrechts (vgl. dazu unten S. 31 f.) gibt. 175 Von Seuffert-Walsmann, § 283 Anm. 3 (S. 469). 176 Von den Anhängern der Theorie eines materiellen Justizrechts (vgl. dazu unten S. 28) werden die Beweislastnormen diesem Gebiet zugeordnet (vgl. Goldschmidt, Festgabe für Hübler, S. 101. Festschrift für Brunner, S. 112 ff.; Kipp, Festschrift, S. 219). Sauer, Grundlagen, S. 200ff., 545f., zählt die Beweislastregeln zu den Mitteln der Sachgestaltung, die dem Prozeßrecht angehören sollen, die aber nach seiner Auffassung auch materielle Bedeutung haben (aaO, S. 201 f.). Zur Kritik dieser Meinung vgl. Moser, S. 80ff. (mit weiteren Nachweisen); Schmeling, S. 81f. Blomeyer, ZPR, S. 344, Gutachten, S. 9 f., weist die Beweislastnormen einem dritten zwischen materiellen und prozessualen Recht liegenden Bereich zu; ebenso Wieczorek2, § 282, Anm. E l (S. 843); Gautschi, S. 36; Hasler, S. 66; vgl. auch Micheli, S. 186ff. 177 So hat beispielsweise der Gesetzgeber der ZPO die Auffassung vertreten, daß die Regelung der Beweislast in das materielle Recht gehöre (vgl. Materialien zur CPO, l, S. 270), während bei den Arbeiten am BGB bewußt von einer Stellungnahme zu diesem Problem Abstand genommen und die Frage für ungeklärt gehalten wurde (vgl. unten S. 277). In der 1965 erschienenen 5. Auflage seiner „Beweislast" bezeichnet Rosenberg den Streit um diese Frage als nach wie vor unausgetragen (aaO, S. 77). 178 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Rosenberg, aaO, S. 77 N. 3, S. 78 N. l und 2; Schmeling, S. 60 N. l und 2, S. 61 N. 1. 178 Darauf macht Lepa, S. 19, aufmerksam; vgl. auch Schmeling, S. 63f. 180 Dies weist Leipold, S. 72 ff., nach.
§ 2 Die Beweislastnormen
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Anhänger einer prozessualen Auffassung der Beweislast in manchen Fällen zu gleichen Ergebnissen kommen wie Befürworter einer Zuordnung zum materiellen Recht181. So erklären Stein-Jonas-Schönke-Pohle182, daß eine unrichtige Beweislastentscheidung vom Revisionsgericht auch ohne Revisionsangriff zu berücksichtigen ist, obwohl sie die Beweislast insgesamt dem Prozeßrecht zuweisen183 und bei Prüfung von Verletzungen des Verfahrensrechts das Revisionsgericht nach § 559 ZPO an die Rüge der Parteien gebunden ist. Daß deutsche Gerichte bei Anwendung ausländischen Privatrechts auch die Beweislastregeln diesem Recht zu entnehmen haben, meinen auch Vertreter der Lehre von der prozessualen Rechtsnatur der Beweislast184, obwohl für das Verfahren die lex fori gilt18S. Des öfteren findet sich auch die Meinung, daß die Zulässigkeit von privatrechtlichen Absprachen über die Beweislastverteilung von der Rechtsnatur der Beweislastnormen abhängt186. Dies trifft jedoch nicht zu, es sei denn, man wollte die Auffassung vertreten, daß jede Frage des Prozeßrechts der Regelungsbefugnis der Parteien entzogen sei187. Richtig ist die Frage nach der Zulässigkeit solcher Vereinbarungen gestellt, wenn man sie auf das Problem der Grenzen der Vertragsfreiheit zurückführt188. Die Antwort kann dann verschieden ausfallen, je nachdem ob eine Beweislastnorm dem strikten oder dem dispositiven Recht angehört189. Darauf weist auch Rosenberg190 hin, ohne zu erklären, warum dann die systematische Stellung der Beweislastnormen Einfluß auf die Entscheidung dieser Frage haben soll.
Um ein Mißverständnis von vornherein auszuschließen, soll die Frage präzisiert werden, %u der Stellung genommen wird. Es geht hier ausschließlich um die systematische Einordnung der Beweislastnormen, nicht um den Standort anderer unter dem Begriff „Beweislast" zusammengefaßter Erscheinungen191. Als Grund für den pro^eßrechtlicben Charakter dieser Normen wird angeführt, daß sie nur im Prozeß angewendet werden und ihr Adressat ausschließlich der Richter ist192. Diese Auffassung läuft letztlich darauf hin181
Rosenberg, aaO, S. 84. § 282 Anm. IV 3. 183 Stein-Jonas-Schönke-Pohle, aaO; a. A. dagegen Bernhard, S. 229, JR 1966, S. 325, der eine Rüge verlangt. 184 Hellwig, System, S. 469; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 282 Anm. IV 3; Hedemann, S. 344ff. (für die Vermutungen, die er als Beweislastregeln ansieht, vgl. S. 181, 219ff.). 185 Kegel, IPR, S. 422; Soergel-Kegel, Vorbem. 388 vor Art. 7 (S. 180); Riezler, S. 91. 188 Vgl. z.B. Leonhard, S. 229; Lepa, S. 19; Rosenberg, Beweislast, S. 84, 86; weitere Nachweise bei Schmeling, S. 126 N. 1. 187 Vgl. dazu Bülow, AcP 64, S. Iff.; Schiedermair, S. 47 ff. 188 Baumgärtel, Prozeßhandlung, S. 250; Nikisch, ZPR, S. 324; Schmeling, S. 130ff. 189 Vgl. unten S. 31. 190 AaO, S. 87 N. 5. 191 Zur Frage der Rechtsnatur der Beweisführungslast vgl. unten S. 37. 192 Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 282 Anm. IV 3; Hellwig, aaO, S. 468; FörsterKann, § 228 Anm. 4b (S. 718); Bernhardt, S. 229, JR 1966, S. 325; Theuerkauf, MDR 1962, S. 449f.; Korsch, S. 12f. 182
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
aus, den Begriff des materiellen Rechts auf Verhaltensnormen des außerprozessualen Bereichs zu beschränken193 und die Regeln, die den Inhalt eines Urteils bestimmen, die sog. Entscheidungsnormen, dem Prozeßrecht zuzuweisen. Einer solchen Unterscheidung steht aber entgegen, daß die Verhaltensnormen zugleich auch Entscheidungsnormen sind, die sich an den Richter wenden und ihm aufgeben, welches Urteil er zu fällen hat194. Ein und derselbe Rechtssatz müßte bei einer konsequenten Trennung zwischen Verhaltens- und Entscheidungsregeln aufgespalten und hinsichtlich seiner außerprozessualen Wirkung dem materiellen Recht, hinsichtlich seiner prozessualen Funktion dem Prozeßrecht zugewiesen werden. Eine derartige Zersplitterung einheitlicher Normen ist als gekünstelt und systemfremd abzulehnen. Zu einer solchen Trennung führt im Ergebnis die Lehre vom materiellen Justizrecht. Unter diesen Begriff werden die „den Rechtsschutzanspruch gegen den Staat betreffenden Rechtssätze" zusammengefaßt195, wobei die Normen des Zivilrechts insoweit einbezogen sind, als sie sich als Entscheidungsnormen an den rechtsschutzpflichtigen Staat und seine Organe richten196. Ziviljustizrecht ist „das bürgerliche Recht selbst, umgedacht als Inbegriff von Rechtsregeln für das Verhältnis der Individuen zum rechtsschutzpflichtigen Staat197". Der Begriff des materiellen Justizrechts, das weder Privat- noch Prozeßrecht sein soll198, sondern eine Brücke zwischen beiden schafft199, ist ganz überwiegend abgelehnt worden200.
Wird aber von einer Aufteilung des einzelnen Rechtssatzes in Verhaltensund Entscheidungsregel Abstand genommen, dann enthält das materielle Recht in einem so großen Umfang Entscheidungsregeln, daß die urteilsbestimmende Funktion eines Rechtssatzes allein kein ausreichender Grund sein kann, ihn aus dem materiellen Recht herauszunehmen201. Auch eine weitere Begründung für die prozessuale Rechtsnatur der Beweislastregeln, daß nämlich die materiellen Normen die wahre materielle Rechtslage regelten, das Beweislasturteil aber materiell unrichtig sein könnte 193
Auch im prozessualen Bereich gibt es Verhaltensnormen, nämlich die Rechtssätze, die den Prozeßbeteiligten ein bestimmtes Verhalten während des Rechtsstreites aufgeben. 194 Vgl. oben S. 15. 195 Goldschmidt, Festgabe für Hübler, S. 88. 196 Vgl. Goldschmidt, Festschrift für Brunner, S. 120; Kipp, Festschrift, S. 213. 197 Goldschmidt, aaO. 198 Vgl. Kipp, aaO; Goldschmidt, Festgabe für Hübler, S. 87f. 199 Goldschmidt, Festschrift für Brunner, S. 131. 200 Vgl. Rosenberg, ZPR, § 90 V (S. 440); Stein Jonas-Pohle, Einl. MI3 (S. 54); Schmeling, S. 86ff.; Leipold, S. 72. 201 Rosenberg, Beweislast, S. 79f., macht darauf aufmerksam, daß verschiedene Vorschriften des BGB, z. B. die Regelungen über die vom Richter vorzunehmende Bestimmung der geschuldeten Leistung (§ 315 Abs. 3 Satz 2, § 319 Abs. l Satz 2) und über die Herabsetzung einer unverhältnismäßig hohen Vertragsstrafe durch Urteil (§ 343), einen rein prozeßbezogenen Charakter haben; auch sie müßten nach der oben abgelehnten Ansicht dem Prozeßrecht zugeordnet werden; vgl. dazu Pohle, AcP 155, S. 169f.
§ 2 Die Beweislastnormen
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und deshalb ein Unterschied zum materiellen Recht bestehen müßte202, geht ebenfalls im Kern von einer Begrenzung des materiellen Rechts auf Verhaltensnormen aus. Denn die „wahre Rechtslage"203 entsteht außerhalb des Prozesses, sobald der Tatbestand, an den die Norm die Rechtsfolge knüpft, erfüllt ist204. Bei Anwendung des Rechts durch den Richter kann die Möglichkeit eines Widerspruchs zur „wahren Rechtslage" nie ausgeschlossen werden. Wird die Wahrheit der Rechtslage zum Kriterium des materiellen Rechts gewählt, dann können Entscheidungsnormen nicht als materiell-rechtlich angesehen werden; dieser Einschränkung kann jedoch aus den bereits oben genannten Gründen nicht zugestimmt werden. Als Argument für die materielle Rechtsnatur der Beweislastnormen wird vorgetragen, daß der Inhalt der richterlichen Entscheidung durch Bestimmungen des materiellen Rechts gestaltet werde und daß deshalb die Beweislastnormen als Entscheidungsregeln diesem Rechtsgebiet angehören müßten205. Dieser Erwägung ist entgegenzuhalten, daß es auch im Prozeßrecht Entscheidungsnormen gibt, die den Inhalt eines Urteils bestimmen206, beispielsweise die Abweisung einer Klage als unzulässig vorschreiben, wenn Prozeßvoraussetzungen fehlen207. Bleiben im Rahmen dieser im Bereich des Prozeßrechts zu treffenden Entscheidungen Tatsachen ungeklärt, so sind in gleicher Weise wie sonst Beweislastnormen anzuwenden. Diese Beweislastnormen müssen dementsprechend auch an die Vorschriften des Prozeßrechts anknüpfen, zu denen sie gehören. Schon deshalb ist das häufig gebrauchte Argument, die Verteilung der Beweislast ergebe sich aus dem materiellen Recht, deshalb müßten die Beweislastnormen auch diesem Rechtsgebiet zugeordnet werden208, zumindest in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend209. Die Funktion der Beweislastnormen ist es — wie dargestellt210 —, über die Lücke im Sachverhalt hinwegzuhelfen und eine Entscheidung in Anwendung des Rechtssatzes zu ermöglichen, dessen Tatbestand die tatsächlichen Zweifel bereitet; Beweislastnormen werden deshalb sowohl im materiellen Recht als auch im Prozeßrecht wirksam. Die Beschreibung der Funktion und Wirkungsweise der Beweislastnormen weist auf ihre engen, spezifisch abgestimmten Beziehungen zu 202
Lent-Jauernig15, S. 164 (anders in neueren Bearbeitungen). Dieses Argument sieht auch Leipold, S. 69 N. 47, als beachtlich und wesentlich an; ablehnend dagegen, jedoch aus anderen Gründen, Rosenberg-Schwab, § 118 III 4 (S. 613); Dubischar, JuS 1971, S. 394. 203 Zu den Begriffen der „Wahrheit" und „Richtigkeit" im Recht vgl. Engisch, Wahrheit, S. 4ff., 22. 204 Vgl. oben S. 18. 205 Guldener, Beweiswürdigung, S. 24; Auer, S. 10; Nikisch, ZPR, S. 319. 206 Rosenberg, Beweislast, S. 80f.; Blomeyer, ZPR, S. 3 N 1; Henckel, S. 19; Schmeling, S. 96 f. 207 Rosenberg, aaO. S. 80. 208 So Nikisch, aaO, S. 319; Raape, AcP 147, S. 221. 209 Vgl. Leipold, S. 69f. 210 Vgl. oben S. 19f.
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
den Rechtssätzen hin, zu denen sie im Falle eines ungeklärten Sachverhalts treten. Für die Beweislastentscheidung gehören beide — der einzelne Rechtssatz und die hinter ihm stehenden Beweislastnormen — unlösbar zusammen. Aus der Erkenntnis dieses untrennbaren Zusammenhangs, der bereits bei Untersuchung des Inhalts der Beweislastnormen dargestellt worden ist211, ist dann auch der entscheidende Gesichtspunkt für die Lösung der hier erörterten Frage zu gewinnen. Nur wenn man den Rechtssatz und die dazu gehörende Beweislastnorm bei der systematischen Einordnung gleichbehandelt und beide jeweils ein und demselben Rechts gebiet zuweist, wird dem Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, richtig entsprochen212. Das bedeutet, daß die Beweislastnormen als Regeln des materiellen Rechts anzusehen sind, wenn sie materiell-rechtliche Vorschriften betreffen, und daß sie zum Prozeßrecht zählen, wenn sie sich auf Rechtssätze dieses Bereichs beziehen213. Auf der Grundlage dieser Auffassung214 gelangt man zu folgenden praktischen Ergebnissen: Die Frage, ob eine unrichtige Beweislastentscheidung auch ohne Revisionsangriff vom Revisionsgericht zu berücksichtigen ist, muß von Fall zu Fall entschieden werden; sie ist zu bejahen, wenn es sich um die Verletzung von Beweislastnormen handelt, die zu materiell-rechtlichen Regelungen gehören und damit ebenfalls einen materiell-rechtlichen Charakter 211
Vgl. oben S. 23f. Auch Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV 3 (S. 1149), lassen diesen Gesichtspunkt des engen Sachzusammenhangs letztlich entscheidend sein. 213 So auch Rosenberg, aaO, S. 81; Baumbach-Lauterbach, § 282, Anh. l B; Diederrichsen, VersR 1966, S. 215; Grützmann, AcP 123, S. 123; Moser, S. 82f.; Schmeling, S. 96f.; Lepa, S. 20; Kühn, S. 17; Levis, JW 1932, S. 108; Hille, S. 20f.; ähnlich auch Stein-Jonas-Schumann-Leipold, aaO. Den Ausführungen im Schrifttum kann nicht immer entnommen werden, ob die hier getroffene Unterscheidung zwischen Beweislastnormen des materiellen und des prozessualen Rechts für zutreffend gehalten wird. Vgl. z. B. Rosenberg-Schwab, § 118 4 (S. 612: „Beweislastnormen gehören zu demselben Rechtsgebiet wie der Rechtssatz, dessen Voraussetzungen die streitigen Tatsachen begründen sollen". Dagegen S. 613: „Eine eindeutige Entscheidung — und zwar zugunsten der materiellrechtlichen Rechtsnatur — ist jedoch wegen der engen Verbindung zwischen materiellem Recht und Beweislastnormen geboten."); Auer, S. 10 („Sie" — d.h. die Beweislastnormen — „gehören daher dem materiellen Recht an, demselben Rechtsgebiet, wie der Rechtssatz, dessen Voraussetzungen die streitigen Tatsachen begründen sollen"). Diese widersprüchlichen Aussagen, die sich leicht vermehren ließen, haben wohl dazu geführt, auch solche Autoren, die — wie hier — die Beweislastnormen jeweils dem Gebiet zuordnen, in denen sie wirksam werden, als Anhänger der materiellrechtlichen Auffassung anzusehen (vgl. Blomeyer, Gutachten, S. 9; Leipold, S. 70 N. 59£). Unklar bleibt auch, ob der BGH (26. 11. 64 — II ZR 55/63) NJW 1965, S. 489, Ausnahmen hinsichtlich des Prozeßrechts stillschweigend unterstellt, wenn er von der „dem materiellen Recht angehörenden Frage der Verteilung der Beweislast" spricht. 214 Mit der hier vertretenen Ansicht, ist nicht die Meinung gleichzusetzen, nach der dieselbe Beweislastnorm sowohl dem materiellen als auch dem prozessualen Recht angehören soll (so Kleinfeller, KritVjSchr. 37, S. 201 f.; Brodmann, AcP 98, S. 74f.; F. Endemann, Bürgerl. Recht, S. 481; von Seuffert-Walsmann, § 283, Anm. 3 —S. 469). 212
§ 2 Die Beweislastnormen
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besitzen215. Bei Anwendung ausländischen Privatrechts sind die Beweislastregeln diesem Recht zu entnehmen216. Auch für die Frage, ob Beweislastnormen durch Rechtsgeschäft abdingbar sind, kommt es auf die zugrundeliegende Vorschrift an217. Ist sie abdingbar, kann auch eine sie betreffende Beweislastregelung durch Rechtsgeschäft geschaffen werden218. Diese Ergebnisse zeigen, daß die vorgenommene systematische Einordnung der Beweislastnormen zu befriedigenden und praktikablen Lösungen führt; dies dürfte als zusätzliche Stütze für die hier vertretene Auffassung dienen219. IV. Der Geltungsbereich Die Beweislastnormen werden wirksam, wenn die Unmöglichkeit feststeht, den Tatbestand eines anzuwendenden Rechts Satzes aufzuklären. Da sich die Unmöglichkeit einer Tatsachenklärung in jedem gerichtlichen Verfahren ergeben kann, darf die Anwendung der Beweislastnormen in keiner Verfahrensart ausgeschlossen werden, wenn bei Zweifeln über erhebliche Tatsachen eine gerichtliche Entscheidung getroffen werden soll220. Die gegenteilige Auffassung, nach der es eine Beweislast nur im Verfahren mit Verhandlungsmaxime gibt221, geht bei dieser Frage von 215
Rosenberg, Beweislast, S. 96; BGH (11. 2. 55 — V ZR 134/54) LM § 559 ZPO Nr. 8, bejaht die Nachprüfbarkeit der Beweislastentscheidung in der Revisionsinstanz auch ohne Rüge ganz allgemein ohne die hier gemachte Unterscheidung. 216 BGHZ 3, 342, 346 (8. 11. 51 — IV ZR 10/51); BGH (4. 2. 60 — VII ZR 161/57) NJW 1960, S. 774, 775 (unter 3a); BGH (14. 4. 69 — III ZR 66/68) DB 1969, S. 1840; vgl. auch BGHZ 42,385,389 (26.11. 64 — II ZR 55/63); Rosenberg, aaO, S. 84f.; Kegel, IPR, S. 423, Ermittlung ausländischen Rechts, S. 182; Soergel-Kegel, Vorbem. 389 vor Art. 7 (S. 181 f.); Blomeyer, ZPR, S. 344. 217 Vgl. oben S. 27. 218 BGH (17. 2. 64 — II ZR 98/62) NJW 1964, S. 1123 (auch zu den durch den Grundsatz von Treu und Glauben gezogenen Grenzen für derartige Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen; vgl. dazu auch BGH (13. 5. 74 — VIII ZR 32/73) BB 1974, S. 759; OLG Karlsruhe (1. 3. 73 — 4 U 39/72) NJW 1973, S. 1796, und unten S. 376 zu N. 138); Baumgärtel, Prozeßhandlung, S. 250; Nikisch, ZPR, S. 324; Rosenberg, Beweislast, S. 87; Rosenberg-Schwab, § 118, III 5b; Bernhardt, S. 229; Wieczorek2, § 282, Anm. Ellb (S. 843), jedoch von unterschiedlichen Ausgangspunkten; vgl. auch Sachse, ZZP 54, S. 409ff.; Knecht, S. 28ff., 57ff.; Schiedermair, S. 81f., 120ff. 219 E. Schneider, DRiZ 1966, S. 282 (unter 4), hält nur den umgekehrten Weg (vom Ergebnis zur systematischen Einordnung) für gangbar. Er bezeichnet es als „methodisch unzulässig — weil BegrifTsjurisprudenz im schlechen Sinn —" erst eine theoretische Klärung vorzunehmen und auf dieser Grundlage Sachfragen zu entscheiden. Auf welche Weise aber festgestellt werden soll, ob ein Sachproblem „richtig" oder „falsch" entschieden worden ist, läßt Schneider offen. 220 Leipold, S. 127; vgl. auch oben S. 19 f. 221 Im neueren Schrifttum wird diese Auffassung von Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 282, Anm. IV l (anders dagegen die von Schumann und Leipold besorgte 19. Auflage);
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
einem Begriff der Beweislast aus, der die Beweistätigkeit der Parteien mit umfaßt222. Dabei wird nicht berücksichtigt, daß es für das Eingreifen der Beweislastnormen nur auf das Ergebnis des Beweisverfahrens ankommt und daß es dafür unerheblich ist, welche Gründe für dieses Ergebnis maßgebend waren, wer sich um die Beweise zu bemühen hat und welche Anstrengungen im Prozeß zur Ermittlung der Wahrheit unternommen worden sind223. Die Beweislastnormen wenden sich als Entscheidungsnormen an den Richter, ein bestimmtes Verhalten der Parteien wird durch sie weder angeordnet noch begrifflich vorausgesetzt224. Dieser Feststellung ist jedoch keinesfalls zu entnehmen, daß die Beweislastnormen für die Parteien keine Bedeutung haben. Nur eine Vermischung von Grund und Folge, von Funktion der Beweislastnormen und den daraus abzuleitenden Vor- und Nachteilen sowie dadurch bedingten Beweistätigkeiten der Parteien muß vermieden werden. Die für das Beweislastproblem sehr wichtigen Folgewirkungen, die sich aus den Beweislastnormen für die Parteien ergeben, sind jeweils gesondert zu betrachten. Diesem Zweck ist die folgende Erörterung gewidmet. § 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien Bereits in dem Begriff „Beweislast" ist ein subjektives Moment enthalten, daß eine Verbindung zu dem dadurch Betroffenen schafft. Denn wenn von einer „Last" gesprochen wird, denkt man auch an ihren Träger225. Da aber Nikisch, ZPR, S. 319 ( 2); E. Schmidt, Lehrkommentar, S. 204f.; Radbruch, Einführung, S. 185f.; Lepa, S. 15f., vertreten. Das OLG Neustadt (23. 3. 61 — 3W24/61) JZ 1962, S. 417, 418, verneint eine Beweislast für das Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (dagegen Habscheid, JZ 1962, S.418f.). Überwiegend, allerdings mit unterschiedlichen Begründungen, wird die Geltung von Beweislastregeln auch für Verfahren mit Untersuchungsmaxime bejaht, so z. B. von BVerwG (18. 4. 56 — VC 145/55) ZZP 69, S. 317; BSG (26. 6. 58 — 2 RU 281/55) NJW 1958, S. 1511f.; BSG (22. 2. 73 — 2 RU 128/71) NJW 1973, S. 1632; BayObLGZ 1957, S. 268, 273 (13. 8. 57 — l ZS-WBeschwReg. 10/57); Rosenberg, Beweislast, S. 24, 28ff. (mit eingehender Literaturübersicht auf S. 29 N. 2); Blomeyer, Gutachten, S. 4, ZPR, S. 341 f.; Tietgen, Gutachten, S. 11 (mit reichen Nachweisen für den Verwaltungsprozeß); Bettermann, S. E27; Ule, S. 199; Habscheid, S. 129f., JZ 1962, S. 419; Deppe, S. 13; Kress, S. 18ff.; Moser, S. 70ff.; Westerhoff, S. 6ff.; Metzler, S. 67ff.; Auer, S. 7f., 46ff. 222 Vgl. Brodmann, AcP 98, S. 70ff., 78ff.; Radbruch, Einführung, S. 185f.; Wach, Handbuch, S. 126, ZZP 29, S. 360f.; von Seuffert, ZZP 35, S. 109f.; Schultzenstein, JW 1917, S. 435, ZZP 43, S. 308. Allerdings findet sich diese Einbeziehung der Beweistätigkeit auch bei Anhängern der hier vertretenen Auffassung. 223 Rosenberg-Schwab, § 118 I 3a (S. 609); Rosenberg, Beweislast, S. 24; R. Schmidt, ZZP 32, S. 447. 224 R. Schmidt, aaO. 225 Nur jn dieser recht vordergründigen Sicht ist der Bemerkung Wachs, ZZP 29, S. 360, zuzustimmen, daß man die Beweislast nicht denken könnte ohne das „Merkmal des Gravierenden"; ebenso Bierling, IV, S. 43 N. 14 (,,Es ist einfach widersinnig, eine .Last' ohne irgend einen .Träger' zu denken"). Vgl. auch Rosenberg, Beweislast, S. 25.
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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andererseits die Beweislastnormen diese Beziehung zu der betroffenen Partei begrifflich nicht einschließen, ist vorgeschlagen worden, bereits in der Terminologie eine völlige Trennung zwischen ihnen und den durch den Inhalt einer Beweislastentscheidung Benachteiligten vorzunehmen226. Bisher hat sich jedoch kein treffender Begriff finden lassen, bei dem alle Assoziationen an den Belasteten ausgeschlossen wären227. Es kann auch darauf verzichtet werden, die Wirkungen der Beweislastnormen in ihrer Funktion als Entscheidungshilfe für den Richter mit einem besonderen Begriff zu bezeichnen; es genügt, wenn man sich darüber im klaren ist, daß in diesem Funktionsbereich die Folgen für die Parteien unbeachtlich sind und deshalb mit dem Begriff „Beweislast" dieser Tatbestand nicht zutreffend beschrieben wird228. I. Die Feststellungslast (objektive Beweislast) Werden die Wirkungen der Beweislastnormen aus der Sicht der Parteien betrachtet, so besteht der damit für die betroffene Partei verbundene Nachteil in der Nichtanwendung eines ihr günstigen Rechtssatzes, zu dessen tatsächlichen Voraussetzungen die aufgrund einer Beweislastnorm als nicht bestehend behandelte Tatsache gehört, oder in der Anwendung eines dem Gegner günstigen Rechtssatzes, dessen Verwirklichung ohne eine entsprechende Sachverhaltsklärung zu bejahen ist, weil die Feststellung der zur Ausfüllung eines Tatbestandselements erforderlichen Tatsache durch eine Beweislastnorm fingiert wird. Dagegen liegt der Vorteil für den Gegner darin, daß die ihm günstige Norm angewendet oder die ihm ungünstige Norm nicht angewendet wird, obwohl nicht sicher festgestellt werden konnte, ob sie tatbestandlich verwirklicht worden ist. Dieser Vorteil, der sich aus einer Beweislastentscheidung jeweils für eine der Parteien ergibt, ist bei Erörterung der Beweislastfrage fast durchweg229 unberücksichtigt geblieben und kann es auch, weil es sich dabei um eine gleiche, nur 228
Pohle, Festschrift, S. 319, AcP 155, S. 166; ähnlich Schmeling, S. 23. Auch Begriffe, die das Wort Last",, nicht enthalten, wie „Beweisgefahr" (so Grützmann, AcP 123, S. 123); „Feststellungsgefahr" (so Schwindel, S. 53) oder „Streitrisiko" (so Bruns, S. 277, in Anlehnung an die in der nordischen Prozeßrechtswissenschaft gebrauchte Bezeichnung „Tvilsrisiko"; eine andere Bezeichnung neben dem Begriff „bevisbörda" (Beweislast) ist „bevisrisiko", vgl. Ekelöf, Rättegäng IV, S. 70 N. 10) schließen den Gedanken an den Betroffenen nicht aus. Rosenberg, AcP 94, S. 8 f. N. 6, weist darauf hin, daß das Wort „Last" im übertragenen Sinn als Beschwer, Not, Leid, Verlegenheit verstanden wird und will in dieser Bedeutung den Begriff „Feststellungs-i^r/" aufgefaßt wissen. Vgl. aber unten S. 49. 228 Diese bei Betrachtung der Wirkungsweise der Beweislastnormen an sich naheliegende Erkenntnis wird durch die historische Entwicklung des Beweislastbegriffes erschwert, bei der ständig der Beweislastträger in diesem Begriff mit eingeschlossen worden ist (vgl. dazu unten S. 208, 245, 261, 279 ff.). 229 Anders nur Kasparek, S. 112 (allerdings mehr beiläufig). 227
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Musielalc, Beweislast
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
mit umgekehrtem Vorzeichen versehene Erscheinung handelt, wie bei den nachteiligen Folgen für den Gegner. Für die aus der Anwendung einer Beweislastnorm erwachsenden Nachteile ist der selbständige Begriff „objektive Beweislast"230 oder „Feststellungslast"231· geprägt worden; die wohl noch treffendere Bezeichnung „Nichtfeststellungslast" ist nicht üblich. Das bereits beschriebene232 notwendige Zusammenwirken von Beweislastnorm und Tatbestandsmerkmal im Rahmen der Beweislastentscheidung bleibt auch nicht ohne Einfluß auf die Feststellungslast. Einmal werden durch die Merkmale, von deren Verwirklichung der Eintritt der Rechtsfolge abhängig gemacht ist, gleichsam die äußeren Grenzen festgelegt, in denen die Feststellungslast einer Partei wirksam werden kann. Zum anderen wird das Ergebnis der Beweislastentscheidung im gleichen Maße wie durch die Beweislastnorm durch das einzelne Tatbestandsmerkmal mitgestaltet, auf das sich die Beweislastnorm bezieht. Denn die Beweislastnorm kann lediglich eine Tatsachenfeststellung fingieren, nach der die Verwirklichung des Tatbestandselements entweder zu bejahen oder zu verneinen ist. Welche Wirkungen diese Fiktion aber für die geltend gemachte Rechtsfolge hat, ist allein dem Rechtssatz zu entnehmen, zu dessen Tatbestand das Merkmal gehört. Deshalb kann durch eine Veränderung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer Rechtsfolge der Umfang der Feststellungslast in gleicher Weise beeinflußt werden wie durch die Umkehrung der Anordnung, die durch die Beweislastnorm getroffen wird. Welche Möglichkeiten sich hieraus für eine gesetzliche Beweislastregelung ergeben und welche Folgen damit für das materielle Recht233 verbunden sind, wird noch an anderer Stelle eingehend darzustellen sein234. Hier genügt es, den Einfluß des materiellen Rechtsfolgesatzes 233 auf die Feststellungslast aufzuzeigen. Die nachteiligen Folgen einer Beweislastentscheidung treten tatsächlich erst ein, wenn die Entscheidung erlassen worden ist; doch wirken sie als potentielle Gefahr schon früher235 und beeinflussen das gesamte Verfahren von seinem Beginn an236. Gewöhnlich wird jedoch nicht zwischen diesen Vor-Wirkungen der Feststellungslast und den Nachteilen unterschieden, die bei Anwendung von Beweislastnormen eintreten. Man spricht, bezogen auf 230
Vgl. statt vieler Lent-Jauernig, S. 164ff.; Bernhard, JR 1966, S. 322. Seltener ist der Begriff „materielle Beweislast", vgl. Glaser, Handbuch, S. 364, Beiträge, S. 85ff.; Goldschmidt, Prozeß, S. 340f. (vgl. auch unten N. 262); Beckh, S. 6f. 231 Dieser Begriff ist von Rosenberg, Beweislast, S. 16f., vorgeschlagen worden; er hat sich weitgehend durchgesetzt. 232 Vgl. oben S. 23 f. 233 Dieser Eingriff wird hier lediglich zur Unterscheidung von den Beweislastnormen gebraucht. 234 Vgl. unten S. 300ff. 235 Bruns, S. 282, 236 Zu den rechtlichen Konsequenzen, die sich aus diesen Vor-Wirkungen der Fest: stellungslast ergeben, vgl. unten S. 36 f, ' ··'·"' ' ''. ·. ··'· · '
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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einen Zeitpunkt, in dem noch völlig offen ist, ob es zu einer Beweislastentscheidung kommen wird, von der Feststellungslast und der feststellungsbelasteten Partei, ohne hinzuzufügen, daß es sich dabei um eine in die Gegenwart projizierte Entwicklung handelt, deren Eintritt von bestimmten noch nicht feststehenden Voraussetzungen, nämlich der Anwendung von Beweislastnormen im Falle einer mangelnden Sachaufklärung, abhängt. Aus Gründen sprachlicher Vereinfachung kann diese Ungenauigkeit hingenommen werden237. Die hier durchgeführte Trennung zwischen den Funktionen der Beweislastnormen und den sich daraus für die Parteien ergebenden Folgen wird jedoch im Schrifttum bei der Beschreibung des Begriffs der Feststellungslast auch dann nicht gemacht, wenn auf die Existenz besonderer Beweislastnormen ausdrücklich hingewiesen wird. So soll die Feststellungslast „die Frage nach den Folgen des Nichtfestgestelltseins oder der Beweislosigkeit einer tatsächlichen Behauptung" beantworten238; sie soll danach fragen, welche „Tatsachen zur Erreichung des begehrten Prozeßzieles feststehen müssen und... die Folgen der Ungewißheit eines Tatumstandes"239 bestimmen. Von der Feststellungslast wird eine Auskunft darüber erwartet, „zu Lasten welcher Partei es geht, daß eine entscheidungserhebliche Tatsache unbewiesen bleibt, welche Partei also das Risiko der Beweislosigkeit trägt240". Diese und andere Beschreibungen der Feststellungslast, die sich im Schrifttum finden241, zeigen mit Deutlichkeit, daß — von Ausnahmen abgesehen242 — auf eine klare, konsequent eingehaltene Unterscheidung 237
Bei anderen Begriffen, die vorgeschlagen worden sind, (vgl. oben N. 227) und die das Wort „Gefahr" oder „Risiko" enthalten, sind diese Vor-Wirkungen bereits in der Bezeichnung angesprochen; doch fehlt bei ihnen wiederum jeder Hinweis auf die mit einer Beweislastentscheidung für die Partei tatsächlich verbundenen Nachteile. 238 Rosenberg-Schwab, § 118 Da (S. 609). 238 Rosenberg, Beweislast, S. 24; ähnlich Brüggemann, S. 109: „Die Beweislast steuert die Folgen der Nichterweislichkeit einer entscheidungserheblichen Tatsache". 240 Lent-Jauernig, S. 164; ähnlich auch Guldener, Beweiswürdigung, S. 16; Blomeyer, ZPR, S. 341. 241 Mehr in die Richtung der hier gegebenen Begriffsbeschreibung gehen dagegen die Ausführungen von Schönke-Kuchinke, S. 260: „Beweislast bedeutet aber auch, daß die beweisbelastete Partei Folgen der Beweislosigkeit... tragen muß (materielle Beweislast)". Im Gegensatz dazu setzt Engisch, Einführung, S. 62, den Begriff der Beweislast mit den Beweislastnormen gleich, wenn er meint: „Es kam uns darauf an, zu zeigen, was die Beweislast rechtslogisch bedeutet, nämlich eine Weisung an den Richter, wie er dort zu entscheiden habe, wo er eine rechtlich erhebliche Tatsache weder mit Sicherheit bejahen noch mit Sicherheit verneinen kann, also ,ein Rechtssatz, nach dem sich, einerlei ob der Entscheidungsinhalt objektiv das Richtige trifft oder nicht, wenigstens die Rechtsmäßigkeit des richterlichen Verhaltens als solches bestimmt' (Beling, S. 238 f.)" '" 242 Nachdrücklich für eine solche Trennung Pohle, Festschrift, S. 319 AcP 155, S. 166. Auch Korsch, S. 4f., betont bei Erläuterung der Beweislastnormen: „Diese Rechtssätze haben mit der Frage1, Welche Partei im Zivilprozeß eine Tatsache beweisen muß, unmittelbar überhaupt nichts zu tun. Ihre unmittelbare Bedeutung erschöpft sich vielmehr darin, daß sie prozessuale Anweisungen an den urteilsprechenden Zivilrichter sind. Erst
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
zwischen der eigentlichen Funktion der Beweisnorm und den sich daraus ergebenden Reflexwirkungen auf die Parteien verzichtet und das Problem der Beweislast in jeder ihrer Erscheinungen immer in Verbindung mit der dadurch betroffenen Partei gesehen wird. Über Begriffe und ihren Inhalt läßt sich schlecht streiten. Man muß sich über sie verständigen. Ich meine aber, daß die Zusammenfassung der Funktionen und Folgewirkungen der Beweislastnormen in einen einheitlichen Begriff die dadurch gemachte Aussage unpräzis werden läßt und die Ursache für viele Mißverständnisse und Irrtümer in der Beweislastlehre darstellt; in den folgenden Ausführungen wird noch häufiger diese Feststellung durch Beispiele erläutert werden können. Es ist deshalb daran festzuhalten, daß durch den Begriff der Feststellungslast nur die nachteiligen Folgen, die für die betroffene Partei durch eine Beweislastentscheidung entstehen, erfaßt werden und daß die Funktion der Beweislastnormen als Entscheidungsregeln hierbei ausgeschlossen bleibt. Es ist nicht zu verkennen, daß durch diese Einschränkung der Begriff der Feststellungslast gegenüber der üblichen Auffassung erheblich an Bedeutung verliert, weil in dem Vordergrund der Betrachtung die Beweislastnormen stehen müssen, von denen die Feststellungslast als bloße Reflexwirkung abhängig ist. Dennoch ist es gerechtfertigt — wie die weiteren Erörterungen noch zeigen werden —, diese Wirkungen der Beweislastnormen auf die Parteien mit einem eigenständigen Begriff zu belegen.
II. Die Beweisführungslast (subjektive Beweislast) a) Der
Begriff
Die Parteien werden mit Rücksicht auf die Feststellungslast ihr Verhalten so einrichten, daß sie nach Möglichkeit die mit einer Beweislastentscheidung verbundenen Nachteile vermeiden. Sie werden bereits vor einem Rechtsstreit mit der Sicherung der für sie notwendigen Beweise beginnen243 und sich während des Prozesses bemühen, durch ihre Beweistätigkeit die für sie bedeutsamen Tatsachen aufzuklären244. Diese aus der Vor-Wirkung der Feststellungslast in einem Rechtsstreit für die einzelne Partei entstehende Lage245 hat einen eigenständigen, abgrenzbaren höchst sekundär entspringen dem Umstand, daß der Richter bei der Urteilsfällung diesen Anweisungen Folge zu leisten hat, auch gewisse theoretische und schließlich auch gewisse praktische Konsequenzen für die Partei, welche im Prozesse den Sieg zu erringen trachtet." 243 Die Feststellungslast kann selbstverständlich auch bewirken, daß ein Rechtsstreit wegen Aussichtslosigkeit der Beweisführung erst gar nicht begonnen wird. 244 Bruns, S. 282f. 245 Ekelöf, Rättegäng IV, S. 72.
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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Inhalt: die sich im eigenen Interesse ergebende Notwendigkeit248, zur Vermeidung prozessualer Nachteile den Beweis einer streitigen Tatsache zu führen247; durchaus treffend hat man sie „Beweisführungslast" genannt248, häufig findet sich auch die Bezeichnung „subjektive Beweislast"249. Dabei handelt es sich um eine Erscheinung des Prozeßrechts, da sie nur im Rahmen eines Rechtsstreites vorkommen kann und den Zwecken des Verfahrens untergeordnet ist250. Über den genauen Inhalt der Begriffe „Beweisführungslast" und „subjektive Beweislast" bestehen allerdings im Schrifttum unterschiedliche Meinungen. So wird die Beweisführungslast (subjektive Beweislast) in einem ganz anderen Sinn aufgefaßt, wenn man sie als die Beweislast in Verfahren mit Verhandlungsmaxime bezeichnet251. Hierbei werden beide Seiten der Beweislast — die Feststellungslast und die Beweisführungslast — zusammengefaßt und nicht auf ihre verschiedenen Wirkungen gesehen, die sie nebeneinander entfalten können. Deshalb kommt diese Auffassung im Ergebnis einer Ablehnung zweier funktionell verschiedener Beweislastbegriffe gleich252. 246
Der Begriff der Last ist hier mit der Notwendigkeit, etwas im eigenen Interesse zu tun, umschrieben; vgl. dazu unten S. 49. 247 Bolding, S. 24, nennt sie: „the actual necessity, at a given time, to present new evidence if the case is not to be lost". Kummer, Art. 8, Rdn. 31, bezeichnet sie als die „Obliegenheit einer Prozeßpartei... für eine Sachbehauptung den Beweis anzutreten und zu führen". Rosenberg, Beweislast, S. 60, bemerkt: „Demgemäß erscheint die Behauptungs- und Beweistätigkeit der Parteien als Ausfluß des natürlichen Interesses an einem siegreichen Ausgange des Rechtsstreites, als eine praktische Notwendigkeit, ohne deren Erfüllung sie im Prozeß unterliegen müssen". 248 Rosenberg, aaO, S. 16; seine Definition („die einer Partei obliegende Last, bei Meidung des Prozeßverlustes durch eigene Tätigkeit den Beweis einer streitigen Tatsache zu führen") stimmt mit der hier vorgenommenen Begriffsbestimmung überein. Im gleichen Sinn wird der Begriff der Beweisführungslast von Rosenberg-Schwab, § 118 I3b (S. 609); Bernhardt, S. 221, JR 1966, S. 322, und Schwindel, S. 38, aufgefaßt. 249 Vgl. Rosenberg, aaO, S. 16ff., auch zu dem seltener gebrauchten Begriff „formelle Beweislast" (S. 17 N. 2). 250 Pohle, AcP 155, S. 167; Schmeling, S. 64, 119. 251 Blomeyer, 2PR, S. 342, Gutachten S. 4: „Die Wirkung der Beweislosigkeit zum Nachteil des Beweisbelasteten wird im Prozeß mit Untersuchungsmaxime objektive Beweislast oder Feststellungslast, im Prozeß mit Verhandlungsmaxime subjektive Beweislast oder Beweisführungslast genannt". 252 Je nach der Betrachtungsweise, ob man in erster Linie auf das Ergebnis des Beweisverfahrens oder auf seinen Verlauf schaut, betont man mehr die objektive oder die subjektive Seite des Beweislastproblems und faßt die andere als untergeordnet, ohne eigenständige Bedeutung auf. Aus dem neueren Schrifttum sind beispielsweise zu nennen: Leipold, S. 18 N. 5 („Sie" — d.h. die Rechtswirkungen der subjektiven Beweislast — „dürften praktisch ohne sonderliche Bedeutung sein".); Redeker, NJW 1966, S. 1778 („... Zweifel, ob es eine subjektive Beweislast als besonderes Rechtsinstitut überhaupt gibt, ob nicht vielmehr hier eine Selbstverständlichkeit begrifflich umschrieben wird, die keine eigene rechtliche Relevanz hat, weil sich aus ihr keine bestimmten rechtlichen Folgerungen ergeben"). Dagegen Lepa, S. 15f. („... Beweislastverteilung läßt sich nur dann
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Der Beweisführungslast ist auch nicht 2u entnehmen, welche Partei mit dem Beweis einer bestrittenen Tatsache belastet ist253. Denn die Beweisführungslast enthält eine Beschreibung der Situation, in der sich eine Partei im Rechtsstreit befindet, die sich zur Vermeidung rechtlicher Nachteile um die Aufklärung von Tatsachen zu bemühen hat254, setzt also die Beantwortung der Frage voraus, wer was beweisen muß. Die Bestimmung der beweisbelasteten Partei ist aus den Beweislastnormen und den damit für die Parteien verbundenen nachteiligen Folgen, d.h. aus der Feststellungslast, abzuleiten255 und wird außerdem vom Ergebnis der richterlichen Tatsachenwürdigung beeinflußt256. Überwiegend wird heute die eigenständige Bedeutung der subjektiven Beweislast anerkannt257. Diese Anerkennung bleibt jedoch durchweg auf Verfahren beschränkt, die von der Verhandlungsmaxime beherrscht werden; bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes wird ihre Existenz verneint258. Die Berechtigung einer solchen Ablehnung ist von der Begrenzung und Inhaltsbestimmung des Begriffes der subjektiven Beweislast abhängig. Wennn man als Kriterium dieses Begriffes ansieht, daß die Parteien die Beweise selbst antreten müssen, bleibt kein Raum für die subjektive Beweislast im Rahmen einer von Amts wegen durchgeführten Tatsachenermittlung. Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß auch in Verfahren mit Untersuchungsmaxime die Parteien im eigenen Interesse die Sachaufklärung in der von ihnen gewünschten Richtung zu fördern versuchen259 und nach Möglichkeit dem Gericht Beweismittel beibringen erklären,wenn man die Beweislast als Beweisführungslast auffaßt"); Motulsky, S. 131 („charge de la preuve: c'est la nescessite, pour chacune des parties, de fonder, sous peine de perdre la procas, par des moyens legalement admis la conviction du juge quant a la vdrite de celles parmi les circonstances de fait repondant aux elements generateur du droit par eile reclame, qui ont valablement contestees par son adversaire"); (Dort, S. 137 („bewijslast: verpflichting tot bewijslevering, rüstend op een procespartij). Im Hinblick auf den Begriff „Last" will Lücke, JZ 1966, S. 588, die Beweistätigkeit der Parteien uriter den Begriff der Feststellungslast (objektive Beweislast) fassen utid den Begriff der subjektiven Beweislast aus der Terminologie verbannen. 253 So Lent-Jauernig, S. 164; ähnlich Fohle, Festschrift, S. 318. 254 Dabei ist zu beachten, daß die entsprechende Beweistätigkeit der Partei nicht durch eine Rechtspflicht, sondern durch das eigene Interesse diktiert wird. Vgl. unten S. 49. 255 Vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 41 f. 256 Vgl. dazu unten S. 46. 257 Bruns, S. 277; Lent-Jauernig, S. 164; Pohle, Festschrift, S. 318, AcP 155, S. 167; Bernhardt, S. 221; Schönke-Kuchinke, S. 260; Grunsky, S. 363ff.; Rosenberg-Schwab, § 11813b (S. 609); Schwindel, S. 31 ff.; Schmelingi S. 27ff. (der durch eine Reihe von Zitaten insbesondere aus dem früheren Schrifttum zeigt; wie häufig Feststellungslast und Beweisführungslast verwechselt werden); Westerhoff, S. 4ff.; Andri, KSE 6, S. 172f.; Fickel, S. 15; vgl. auch die Literaturübersicht bei Rosenberg, Beweislast, S. 17 N. l—3. 258 Allgemeine Meinung, vgl. z.B. Rosenberg^ aaO, S. 16,24; Lent-Jauernig, aaO; Rosenberg-Schwab, aaO; Schmelingi S. 44f.; Grunsky, S. 364f.; Ule, S. 200. ^»Bruns, S. 277; Schwindel, S. 39; von Seuffert, ZZP 35, S. 109f.; Bettermann, S. E 32ff. (zum Verwaltungsprozeß).
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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werden260. In dieser Mitwirkung an der Aufklärung des Tatsachenstoffes kann zweifellos eine Last261 der Parteien liegen282, die sich ebenfalls als Vor-Wirkung der Feststellungslast darstellt und ähnlichen Regeln unterworfen ist wie die subjektive Beweislast in Verfahren mit Verhandlungsmaxime. So macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob in einem Verfahren mit Verhandlungsmaxime die feststellungsbelastete Partei trotz entsprechender Aufforderung durch den Richter nach § 139 ZPO überhaupt keinen Beweis antritt oder ob in einem Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz dem Gericht keine Beweismittel zur Verfügung stehen. In beiden Fällen entscheidet der Richter aufgrund von Beweislastnormen263, und in beiden Fällen treffen die Nachteile dieser Entscheidung die feststellungsbelastete Partei, die nur durch Beibringung von Beweisen diese Nachteile abwenden kann. Gleiches gilt, wenn der Richter durch einen erhobenen Beweis zu einer irrigen Auffassung gelangt und die dadurch benachteiligte Partei durch Beibringung neuer Beweismittel diese Benachteiligung abzuwenden versucht2«4.
Ob man aufgrund dieser Ähnlichkeit den Begriff der subjektiven Beweislast ausdehnt — der Begriff der Beweisführungslast paßt nach seiner Bezeichnung nicht auf diesen Tatbestand und müßte deshalb dann in einem engeren Sinn verwendet werden — oder ob man dieser Last einen eigenen Namen gibt265, ist mehr eine Geschmacks- als eine Rechtsfrage. Auf jeden Fall ist aber die aus der Feststellungslast resultierende subjektive Belastung der Parteien, die es auch in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz gibt, zu beachten. b) Die Beweisführungslast der Gegenpartei Nach der hier266 für den Begriff der Beweisführungslast gegebenen Beschreibung kann auch der Gegner der feststellungsbelasteten Partei von der Beweisführungslast betroffen werden. Denn auch seine Beweistätigkeit 260
Vgl. Blomeyer, ZPR, S. 70, 374. Zum Begriff der prozessualen Last vgl. unten S. 49. 262 Auf diese Erscheinung hat bereits Glaser, Handbuch, S. 365, Beiträge, S. 102, hingewiesen und sie als „faktische Beweislast" bezeichnet. Auch Kühn, S. 20, bejaht, von einem rein subjektiven Beweislastbegriff ausgehend, eine „de facto-Beweislast" der Parteien in Verfahren mit Offmalmaxime. Dagegen will Goldschmidt, Prozeß, S. 341, „die sich... in einem vom Uhtersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren ... materiell ergebende Nötigung der Partei zum Beweis der Tatsachen" zum Begriff der materiellen Beweislast (vgl. oben N. 230) rechnen. Daß eine solche Meinung mit der hier vertretenen Auffassung der Feststellungslast unvereinbar ist, bedarf keiner weiteren Darlegung. 263 Vgl. Bruns, S. 283. 264 Vgl. Glaser, Handbuch, S. 365; Beiträge, S. 102; unten N. 313. 285 Bruns, S. 277 N. 34, weist darauf hin, daß für diese Erscheinung in der nordischen Prozeßrechtsliteratur der Begriff „Informationslast" verwendet wird. 266 Vgl. oben S. 37. 261
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ist von der Notwendigkeit diktiert, zur Vermeidung prozessualer Nachteile den Beweis streitiger Tatsachen — des kontradiktorischen Gegenteils der Tatsachen nämlich, für die die andere Partei die Feststellungslast trägt 267 — zu führen. Eine derartige Erweiterung des Begriffs der Beweisführungslast auf beide Parteien entspricht jedoch nicht den üblichen Vorstellungen. Auch wenn — von Ausnahmen abgesehen — zu dieser Frage ausdrücklich nicht Stellung genommen wird, ist doch den Ausführungen im Schrifttum**1* zu entnehmen, daß überwiegend die Beweisführungslast im Kern als die prozessuale Auswirkung der Feststellungslast auf die feststellungsbelastete Partei verstanden wird269 und daß an eine Ausdehnung auch auf den Gegner nicht gedacht ist.
1. Die Auffassung Rosenbergs Ausdrücklich wird eine solche Begriffserweiterung von Rosenberg270 für den sog. direkten Gegenbeweis abgelehnt, der auf eine unmittelbare Widerlegung der vom Hauptbeweis umfaßten Tatsachen gerichtet ist. Als einzigen Grund für diese Ablehnung gibt Rosenberg an, daß der Gegenbeweis bereits geführt sei, wenn die zu widerlegende Behauptung zweifelhaft würde, daß also durch ihn die Unwahrheit dieser Behauptung nicht voll bewiesen werden müßte. Dieser Begründung ist, nimmt man sie wörtlich, entgegenzuhalten, daß durch das Ziel eines zu führenden Beweises die Notwendigkeit, zur Vermeidung von Nachteilen im Prozeß, streitige Tatsachen aufzuklären — was als Wesen der Beweisführungslast erkannt worden ist —, nicht verändert wird. Von dem Beweisziel kann es abhängen, wie leicht oder wie schwer ein Beweis zu führen ist; doch gehört das „Gewicht" der Beweisführungslast nicht zu den begriffsbestimmenden Merkmalen. Auch kann nicht mit Recht eingewendet werden, daß derjenige, der sich auf die Widerlegung gegnerischer Behauptung beschränken kann, nicht den Beweis von streitigen Tatsachen führt. Wenn es auch für den Erfolg eines Gegenbeweises ausreicht, daß etwas nicht mehr als feststehend gilt271, so ist aus einem solchen negativen Ergebnis nicht zu 267
Dies kann eine positive oder „negative" Tatsache (= daß etwas Tatsächliches nicht geschehen ist; vgl. Blomeyer, ZPR, S. 332) sein. Der Begriff „negative Tatsache" mag sprachlich bedenklich sein (in Wirklichkeit handelt es sich um ein negatives Tatsachenurteil, vgl. Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. Ill (S. 1144); er ist aber sprachlich geläufig und ein besserer, der in gleicher Weise den gemeinten Tatbestand beschreibt, ist noch nicht gefunden (so auch von Greyerz, S. 17f.); deshalb wird dieser Begriff auch hier verwendet. Zum Begriff der Tatsache allgemein vgl. Engisch, Logische Studien, S. 39 ff. 268 Vgl. die in N. 257 Zitierten. 269 Vgl. Fohle, AcP 155, S. 167 (vor 4). 270 Beweislast, S. 193. 271 yg]_ jj^u Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 326; Rosenberg-Schwab, § 113 114 (S. 587); Blomeyer, ZPR, S. 368.
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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schließen, daß die Partei durch ihre Gegenbeweise die Klärung des Sachverhalts verhindert. Verhindert wird dadurch nur, daß sich der Richter das Sachverhaltsbild der feststellungsbelasteten Gegenpartei zu eigen macht, das in der Sicht des Gegenbeweisführers falsch ist. Er trägt durch seine Gegenbeweise zur Korrektur und damit zur Annäherung an das richtige Sachverhaltsbild beim.Daß er es zu seinem Erfolg nicht nötig hat, den Richter von der Richtigkeit seines Sachverhaltsbildes zu überzeugen, findet eine Erklärung in dem Interessengegensatz, in dem sich die Parteien eines kontradiktorischen Verfahrens befinden und der bewirkt, daß sich die Nachteile der einen Partei automatisch in Vorteile der anderen Partei verwandeln. Für ihn ist die Anwendung der Beweislastnorm günstig, er braucht sie anders als die feststellungsbelastete Partei nicht zu vermeiden suchen; seine Beweise sind dennoch — zumindest objektiv betrachtet — auf die Feststellung von Tatsachen gerichtet. Die Begründung, die Rosenberg für seine ablehnende Ansicht anführt, die Beweisführungslast für einen direkten Gegenbeweis anzuerkennen, erhält einen neuen Sinn, wenn man seine an anderer Stelle geäußerte Meinung berücksichtigt, daß Beweisführungslast nur die „Last der Beweisführung einer Partei hinsichtlich der zu ihrer Feststellungslast stehenden Tatsachen273" bedeute. Dann wird das unterschiedliche Beweisziel von Haupt- und Gegenbeweis nicht zum eigentlichen Grund der Ablehnung, sondern nur zu einem Unterscheidungsmittel für die Feststellungslast. Die feststellungsbelastete Partei muß die Wahrheit ihrer Behauptungen voll beweisen, sie trägt eine Beweisführungslast; ihr Gegner, der diese Behauptungen nur zweifelhaft zu machen braucht, ist nicht feststellungsbelastet, ihm fällt nach Ansicht Rosenbergs deshalb auch keine Beweisführungslast zu. Gründe für diese Einschränkung des Begriffes der Beweisführungslast auf die Beweistätigkeit der feststellungsbelasteten Partei werden von Rosenberg nicht genannt, er hält sie offenbar für selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich trifft aber andererseits die von Rosenberg gegebene Definition der Beweisführungslast auf eine Beweistätigkeit zur Widerlegung einer Tatsache zu, für die der Gegner feststellungsbelastet ist. In dem von ihm gebrachten Beispielsfall der Klage eines Theaterdirektors auf Zahlung des Preises für eine Theaterkarte geht Rosenberg274 zutreffend davon aus, daß das Gericht die Behauptung des Beklagten, für die er die Feststellungslast trägt, er habe den Preis sofort bei Erhalt der Karte an der Theaterkasse entrichtet, ohne besonderen Beweis aufgrund 272
Bruns, S. 266, gebraucht diesen plastischen Begriff des Sachverhaltsbildes. Er weist daraufhin, daß es im allgemeinen drei solcher Sachverhaltsbilder gibt; je eines der Parteien und das des Richters, das sich dieser im Laufe des Prozesses macht und dann seiner rechtlichen Beurteilung zugrundelegt. Nur im Idealfall völliger Übereinstimmung mit dem objektiven Sachverhalt werden diese drei Sachverhaltsbilder zu einem gemeinsamen. 273 Beweislast, S. 42.
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der Lebenserfahrung für wahr ansehen wird, wenn keine besonderen Umstände eine abweichende Beurteilung veranlassen. „Deshalb muß der Kläger durch einen Gegenbeweis dartun, daß in diesem Fall der Regel des Lebens zuwider der Preis noch nicht gezahlt sei"274, sonst verliert er den Prozeß. Trifft aber dann nicht auch den Theaterdirektor als Gegner der feststellungsbelasteten Partei eine ihm „obliegende Last", bei Meidung des Prozeßverlustes durch eigene Tätigkeit den Beweis einer streitigen Tatsache zu führen"275. Diese Frage kann doch wohl nur bejaht werden276. Damit wird dann aber auch nach der von Rosenberg selbst gegebenen Begriffsbeschreibung275 eine Beweisführungslast bejaht277. Die Fälle, in denen der Gegner der feststellungsbelasteten Partei nur durch Gegenbeweis den Prozeßverlust verhindern kann, ließen sich mühelos vermehren; es handelt sich hierbei um eine alltägliche Erscheinung der Gerichtspraxis. Rosenberg übersieht auch keinesfalls diesen so naheliegenden Tatbestand278, zieht jedoch daraus keinerlei Konsequenzen für den Begriff der Beweisführungslast. Nur in dem Fall des sog. indirekten Gegenbeweises gilt nach Auffassung Rosenbergs279 eine Besonderheit, die bei konsequenter Durchführung seiner Ansicht für die hier behandelte Frage bedeutsam ist280. Als indirekten Gegenbeweis sieht Rosenberg eine Beweisführung an, die sich nicht unmittelbar gegen den Gegenstand des Hauptbeweises281 richtet, sondern dessen Widerlegung mit Hilfe von Tatsachen versucht, von denen auf die Unwahrheit oder wenigstens Zweifelhaftigkeit der dem Hauptbeweis zugrundeliegenden Behauptungen282 zu schließen ist283. Die Hilfstatsachen 274
Beweislast, S. 192. Rosenberg, aaO, S. 16. 276 Es sei denn, man besteht darauf, den Begriff „Beweis" nur im Sinn eines Hauptbeweises aufzufassen. Vgl. dazu oben S. 41. 277 Rosenberg, aaO, S. 192, nimmt nicht etwa an, daß sich in diesem Fall die Feststellungslast umkehre. Diese Möglichkeit verneint er vielmehr ausdrücklich. 278 Z.B. bemerkt er (Beweislast, S. 193): „Daher kann man von einer Beweislast derjenigen Partei, die zu ihrem Prozeßsiege einen Gegenbeweis unternehmen muß, auch nicht im Sinn unserer Beweisführungslast... redeh." 279 AaO, S. 193f. 280 Rosenberg selbst nimmt zur Beweisführuhgslast beim indirekten Gegenbeweis nicht ausdrücklich Stellung, sondern beschränkt seine Ausführungen auf die Frage der Feststellungslast. 281 Von einem Hauptbeweis wird gesprochen, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmales des vom Richter anzuwendenden Rechtssatzes durch die feststellungsbelastete Partei bewiesen werden sollen. Dieser Beweis kann unmittelbar oder mittelbar durch Indizien geführt werden. Der Gegenbeweis dient der Widerlegung der zum Hauptbeweis gehörenden Tatsachen (vgl. Rosenberg-Schwab, § 113 114, 5 — S. 587; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm.I3 — S. 1142 f. —). 282 Es kann sich auch um Behauptungen handeln, die vom Gericht ohne Beweisaufnahme aufgrund von Erfahrungssätzen als wahr angesehen werden (vgl. unten S. 46, zu N. 305). 283 Rosenberg, aaÖ. 275
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(Indizien284) müssen positiv feststehen, damit der gewünschte Schluß vom Richter gezogen werden kann285. Rosenberg ist nun der Meinung, daß deshalb dem Gegenbeweisführer für die Hilfstatsachen eine Feststellungslast zufällt286. Da er einen untrennbaren Zusammenhang von Feststellungs- und Beweisführungslast annimmt287, wäre in diesen Fällen auch von seinem Standpunkt eine Beweisführungslast zu bejahen. Indes kann der Ansicht Rosenbergs, daß die einen indirekten Gegenbeweis führende Partei die Feststellungslast für die Indizien trägt, nicht zugestimmt werden288. Der zutreffende Hinweis, daß die Indizien positiv feststehen müssen, damit sie zur Grundlage einer Schlußfolgerung gegen die Behauptungen der Gegenpartei gemacht werden könnten289, enthält keine Begründung für eine Feststellungslast. Die Notwendigkeit nämlich, die Richtigkeit der behaupteten Indizien im Streitfalle durch Beweis zu klären290 — wobei selbstverständlich das Beweisverfahren auch ergebnislos verlaufen kann —, ist für die Frage der Feststellungslast vollkommen belanglos. Eine Feststellungslast im Sinne der hier vorgenommenen Begriffsbeschreibung könnte es nur geben, wenn bei Zweifeln an der Existenz der Hilfstatsachen eine Beweislastentscheidung zu treffen wäre, d.h. wenn die Fiktion der Richtigkeit oder Unrichtigkeit ungeklärt gebliebener Indizien aufgrund von Beweislastnormen erforderlich wäre291, damit der Richter zu einer Entscheidung in der Sache kommen könnte292. Anders als bei Zweifeln an der tatsächlichen Verwirklichung eines Rechtssatzes führen jedoch Zweifel an den „tatsächlichen Voraussetzungen" eines Erfahrungssatzes293 zwangsläufig zu seiner Nichtberücksichtigung. Diese Folge ist bereits aus dem Begriff der Indizien294 und dem Wesen des Indi284
Ein Unterschied zwischen Hilfstatsachen und Indizien — wie teilweise vorgeschlagen — wird nicht gemacht (vgl. Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 325 N. 11). Auch der BGH (17. 2. 70 — III ZR 139/67) NJW 1970, S. 948, 950, behandelt beide Begriffe als gleichbedeutend. 285 Vgl. Kollhosser, S. 77. 286 AaO, S. 194. 287 Vgl. oben S. 40 ff. 288 Ablehnend, allerdings mit anderer Begründung, auch Hainmüller, S. 168 N. 35; Vgl. ferner Smid, S. 46 f. 289 Rosenberg, Beweislast, S. 194. 290 Vgl. BGH (17. 10. 61 — VI ZR 117/61) VRS 22,8, 10. 281 Zum Verhältnis der Beweislastnormen zur Feststellungslast vgl. oben S. 33 ff. 292 Das ist die Voraussetzung für eine Beweislastentscheidung; vgl. oben S. 20f. 293 Der Schluß von den Indizien auf die unmittelbar zum Tatbestand gehörenden Tatsachen wird aufgrund von Erfahrungssätzen gezogen (vgl. Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. 114 — S. 1145). 294 Engisch, Einführung, S. 51 f.: „.Indizien* nennen wir solche Tatsachen, die zwar den Vorzug haben, unserer gegenwärtigen Wahrnehmung und Auffassung zugänglich zu sein, die aber an sich selbst rechtlich bedeutungslos wären, wenn sie nicht eben einen Schluß zulassen würden auf diejenigen Tatsachen, um deren Subsumtion unter die rechtlichen Tatbestände es sich handelt und die wir .unmittelbar erhebliche Tatsachen' nennen."
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%ienbe)veisesz*5 abzuleiten. Der aufgrund von Erfahrungssätzen298 mögliche Schluß von zwar nicht rechtserheblichen, aber sicher feststehenden Tatsachen, gleichsam „Wahrnehmungsdaten"297, auf die Existenz oder Nichtexistenz des relevanten Sachverhalts macht den Inhalt eines Indizienbeweises aus298. Gibt es keine Wahrnehmungsdaten, sondern nur unsicher Annahmen, dann muß der Schluß unterbleiben. Die Notwendigkeit oder auch nur Möglichkeit einer in diesem Fall eingreifenden Fiktion der Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Tatsachen gibt es hier nicht. Beweislastnormen greifen deshalb nicht ein, wenn bei einem indirekten Gegenbeweis die Tatsachen, die Grundlage der Schlußfolgerungen sein sollen, ungewiß bleiben. Für die vom Richter dann zu treffende Entscheidung, daß nämlich die Hilfstatsachen nicht beachtet und die von einer Partei gewünschten Schlußfolgerungen nicht gezogen werden können, bedarf es keines besonderen Rechtssatzes. Wenn Rosenberg an anderer Stelle299 bemerkt, daß es die Tatsache der Ungewißheit allein sei, die das Eingreifen der Beweislastnormen nötig mache, so dürfte es sich dabei um eine aus dem Sachzusammenhang, in der sie steht, 2u erklärende unvollständige Aussage handeln. Denn auch Rosenberg sieht das Wesen und den Wert der Beweislastnormen — wie er ausdrücklich betont300 — in der „Anweisung an den Richter über den Inhalt des von ihm zu fällenden Urteils, falls die Wahrheit einer erheblichen Tatsachenbehauptung nicht festgestellt werden kann". In dem hier behandelten Fall des indirekten Gegenbeweises kann aber nur die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen nicht ermittelt werden, die gerade umgekehrt die Richtigkeit einer bereits festgestellten erheblichen Tatsache wieder in Frage stellen sollen.
Aufgrund der von Rosenberg gegebenen Beschreibung der Feststellungslast301 ist auch nicht anzunehmen, daß nach seiner Auffassung dieser Begriff auf jeden mit dem Mißlingen eines Beweises verbundenen Nachteil ausgedehnt werden soll. Denn damit ginge der klare und überschaubare Inhalt dieses Begriffs verloren. Dies zeigt die Überlegung, daß durch das Mißlingen eines Indizienbeweises der betroffenen Partei zwar ein echter Nachteil entstehen kann, aber nicht notwendigerweise entstehen muß. Gelingt es ihr auf einem anderen Wege, den von ihr zu führenden Beweis zu erbringen, dann bleibt die Erfolglosigkeit des gescheiterten Beweises für die Rechtsanwendung ohne jede Wirkung. Wollte man dessen ungeachtet nur auf den einzelnen Beweis allein sehen und einen „Nachteil" bereits bejahen, nur weil dieser Beweis nicht zum Ziel geführt hat, dann 295
Engisch, Logische Studien, S. 66ff., 79ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 239f.; vgl. auch BGH, NJW 1970, S. 950 (oben N. 284). 298 E. Schneider, MDR 1966, S. 27. 297 Engisch, aaO, S. 82. 298 Vgl. Blomeyer, Gutachten, S. 16; Baumgärtel, ZPR, S. 124f. (Nr. 3e); Prölss, S. 27; Hainmüller, S. 22. 299 Beweislast, S. 16. 300 AaO, S. 2 f. 301 Beweislast, S. 24.
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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würde innerhalb des Begriffs der Feststellungslast der Unterschied zwischen echten, aus einer Anwendung von Beweislastnormen entstehenden Nachteilen und ungünstigen Zwischenergebnissen in Beweis verfahren aufgegeben werden. Da aber die Erfassung der Folgen von Beweislastentscheidungen wesentlich ist, müßte dafür wiederum ein neuer Begriff gefunden werden, um insoweit eine Abgrenzung zu ermöglichen. Die bessere Lösung gegenüber einer solchen Möglichkeit bleibt dann aber, von vornherein den Begriff der Feststellungslast in der hier vorgeschlagenen Weise zu beschränken; auf eine besondere Bezeichnung für solche Nachteile, die einer Partei infolge des Scheiterns von Beweisen entstehen, die jedoch nicht unter die Feststellungslast fallen, kann verzichtet werden. Mit der Ablehnung einer Feststellungslast für Indizien muß bei einer konsequenten Durchführung der von Rosenberg vertretenen Auffassung auch insoweit eine Beweisführungslast verneint werden; das bedeutet, daß nach dieser Aufassung für den Gegenbeweis niemals eine Beweisführungslast anerkannt werden kann.
2. Eigene Stellungnahme Diese ablehnende Meinung muß sich nicht nur entgegenhalten lassen, daß die Definition der Beweisführungslast eine Ausdehnung dieses Begriffes auf die Gegenpartei ohne weiteres zuläßt. Dies allein wäre noch kein triftiger Grund; denn eine möglicherweise in der Begriffsbeschreibung enthaltene Ungenauigkeit302, die leicht zu berichtigen wäre, könnte diese erweiternde Auslegung ermöglichen. Entscheidend ist vielmehr, daß die Beweistätigkeit beider Parteien durch die gleichen Faktoren bestimmt wird: durch die Feststellungslast und durch die richterliche Beweis- und Verhandlungswürdigung303. Der Feststellungslast — oder genauer: den im Einzelfall in Betracht kommenden Beweislastnormen und den sich daraus für die Parteien ergebenden Folgen — kann die eine Partei entnehmen, welche tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtssatzes vom Gericht zweifelsfrei festgestellt werden müssen, damit er zu ihren Gunsten angewendet werden kann; zugleich erhält dadurch die andere Partei eine Antwort auf die Frage, welche Tatsachen nicht feststehen dürfen, wenn nachteilige Rechtsfolgen für sie vermieden werden sollen. Auf diese Weise beeinflußt die Feststellungslast auch Umfang und Inhalt der Gegenbeweise. Dabei sind diese Wirkungen nicht notwendigerweise von einer Beweistätigkeit der feststellungsbelasteten Partei abhängig. Denn ein Gegenbeweis kann bereits erhoben werden, wenn der Hauptbeweis noch nicht 302
Vgl. oben N. 276. Nicht nur die Würdigung der Beweise, sondern auch die Bewertung des Parteiverhaltens und des Unstreitigen, die „Verhandlungswürdigung" (Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 324) ist für die richterliche Uberzeugungsbildung bedeutsam (vgl. § 286 Abs. l S. l ZPO). 303
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
geführt und sein Ergebnis noch völlig offen ist304. Ferner kann dies erforderlich werden, wenn der Richter die Sachdarstellung der feststellungsbelasteten Partei ohne Beweis aufgrund von Erfahrungssätzen für wahr hält305. In dem zuletzt genannten Fall ist die Bedeutung der richterlichen Tatsachenwürdigung für Beweise und Gegenbeweise besonders gut erkennbar30'. Aber auch sonst kommt es immer auf das Ergebnis der Beweisund Verhandlungswürdigung an, ob die Notwendigkeit besteht, Beweise zu erbringen307. Nur wenn der Richter eine streitige Tatsache als gegeben ansieht, muß die Gegenpartei versuchen, durch Gegenbeweise die Überzeugung des Richters von der Existenz der Tatsache wieder zu erschüttern. Dem Einwand von Wassermeyer30*, der Beweis zur Widerlegung tatsächlicher Behauptungen sei auf die Verhinderung, nicht auf die Erschütterung der richterlichen Überzeugung gerichtet, liegt die Auffassung zugrunde, daß sich der Richter erst am Schluß der Verhandlung eine Überzeugung bilden dürfte, da es dafür auf das Ergebnis der gesamten Verhandlung ankomme309. Wassermeyer sieht wohl insbesondere auch wegen der Anwendung von Beweislastnormen auf das endgül304
Nur wenn die feststellungsbelastete Partei trotz Fragen des Vorsitzenden (§ 139 ZPO) keine Beweismittel benennt, soll das Gericht nach herrschender Auffassung die Beweisangebote des Gegners unberücksichtigt lassen (zu dieser Einschränkung vgl. unten S. 59); sonst ist der Gegenbeweis vor dem Hauptbeweis zulässig. Vgl. Schönke-Kuchinke, S. 260; Bernhardt, S. 222; Nikisch, ZPR, S. 330; Blomeyer, ZPR, S. 348; Schmeling, S. 3. 305 \v/je jn cjem oken (S. 41) erwähnten Beispielsfall der Klage des Theaterdirektors auf Zahlung des Preises für eine Theaterkarte oder in Fällen des sog. Anscheinsbeweises (vgl. unten S. 83ff.). 306 Hier findet sich auch der richtige Kern für die insbesondere in älteren Schriften geäußerte Auffassung, daß Erfahrungssätze (häufig als tatsächliche Vermutungen bezeichnet) die Beweislast verändern (vgl. RG — 5. 10.18 — V156/18 — JW 1918, S. 814, 815; Staub, HGBe, Allg. Einl., Rdn. 58ff. — S. 25ff.; Levin, S. 161f.; Rassow, Gruch. 43, S. 785; Fitting, ZZP 13, S. 65 ff., der zwischen einer „wirklichen" und einer „grundsätzlichen Beweislast" unterscheidet und meint, daß in Fällen, in denen der Richter aufgrund von Erfahrungssätzen von einer bestimmten Annahme ausgeht — von ihm als Vermutung aufgefaßt —, die Gegenpartei die wirkliche Beweislast für die Tatsachen habe, aus denen sich die Unrichtigkeit der Annahme ergebe, aaO., S. 67; gegen ihn Stein, S. 35f.). Da nicht zwischen Feststellungslast und Beweisführungslast unterschieden wurde, mußte diese Auffassung als zu weitgehend abgelehnt werden (vgl. Leonhard, S. 181 f.). 307 Auch Kollhosser, S. 20, weist auf die Bedeutung der richterlichen Tatsachenwürdigung für den Umfang der Beweistätigkeit hin. Er unterscheidet aber zwischen einer abstrakten und einer konkreten Beweisführungslast (ähnlich schon Korsch, S. 47 ff.) und will nur hinsichtlich der zweiten die Tatsachenwürdigung bedeutsam sein lassen. Diese Unterscheidung ist abzulehnen. Bei der abstrakten Beweisführungslast im Sinne Kollhossers dürfte es sich — wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist — nur um die Feststellungslast einschließlich der Vor-Wirkungen (vgl. oben S. 34 f.) in Verfahren mit Verhandlungsmaxime handeln. 308 Beweis, S. 44, Referat, S. E 13; das zur Bekräftigung dieser Auffassung in Referat, aaO, angeführte Zitat von Baumbach-Lauterbach stimmt nach der neuesten Auflage nicht mehr. ' ' ' · ' ·" . · - . ' · . · ; 309 Vgl. Beweis, S. 43.
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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tige Resultat richterlicher Tatsachenwürdigung. Für die Beweisführungslast, auf die Wassermeyer nicht eingeht, kommt es aber auf die Zwischenphasen richterlicher Überzeugungsbildung an. Da jeder Beweis auf die Beeinflussung richterlicher Überzeugung abzielt, ist es nur natürlich, daß sich der Richter bereits im Laufe des Verfahrens eine Ansicht bildet, die selbstverständlich durch neue Beweise wieder korrigiert werden kann310. Der jeweilige Stand der richterlichen Überzeugung kann nur in der theoretischen Betrachtung sicher und klar ermittelt werden, nach außen wird er sich sehr häufig nicht bemerkbar machen. Deshalb werden in der Praxis Gegenbeweise häufig rein vorsorglich angetreten werden müssen, weil das Ergebnis des Beweisverfahrens nicht immer genau vorauszusehen ist.
Durch die Beweistätigkeit des Gegners kann wiederum die von der Feststellungslast betroffene Partei genötigt werden, ihrerseits durch Beweise die Sachdarstellung des Gegners und seine Beweise zu widerlegen. Dieses Wechselspiel kann bis zum Ende des Beweisverfahrens fortgesetzt werden311 und bewahrheitet das Wort von dem Prozeß als einem „Kampf der Parteien um die richterliche Überzeugung"312. Der Einfluß der richterlichen Beweis- und Verhandlungswürdigung auf die Beweisführung beider Parteien wird hierbei offenbar313. Wird die Beweistätigkeit beider Parteien durch die gleichen Interessen und Wirkungen bestimmt, dann ist auch anzuerkennen, daß beide Parteien — die feststellungsbelastete und ihr Gegner — eine Beweisfährungslast tragen können314. Die gegenteilige Auffassung, die Beweisführungs- und Feststellungslast untrennbar verbinden will, läßt sich im Grunde wohl nur aus 310
Dies wird treffend in dem Urteil des OGHZ 4,105,107f. (15. 6. 50 — I ZS 9/50 —), aus dem Wassermeyer wörtlich zitiert (Beweis, S. 44 N. 96), ausgeführt; wie hier auch Döring, Erforschung, S. 16; Krönig, S. 68; Teplitzky, NJW 1963, S. 383; Kollhosser, S. 111 (vgl. auch S. 85 N. 38), AcP 165, S. 59. 311 Gedacht ist hierbei nur an ein und dasselbe Tatbestandsmerkmal, um dessen Verwirklichung es geht. Daß die Parteien ihre Verteidigung auch auf selbständige Gegenrechte aufbauen können (im Hinblick auf diese Möglichkeit sprechen Aubry et Rau, § 749 Nr. 8 — S. 81 — von einem Wechsel der Beweislast zwischen den Parteien), soll hier unberücksichtigt bleiben. 312 Sebba, ZZP 37, S. 68. 313 Auch in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz kann sich die Notwendigkeit ergeben, durch die Beibringung neuer Beweise ein ungünstiges Ergebnis der TatsachenWürdigung zu korrigieren (vgl. oben S. 39). Da jedoch der Begriff der subjektiven Beweislast auf Verfahren mit Verhandlungsmaxime beschränkt wird, bleibt dieses Verhalten einer Partei unberücksichtigt. Blomeyer, ZPR, S. 367f., Gutachten, S. 18f., schließt diese Beweishandlungen in den von ihm vorgeschlagenen Begriff der Gegenbeweislast mit ein (vgl. dazu unten S. 48). 314 Gleicher Auffassung: Bruns, S. 282f.: Schmeling, S. 36ff.; auch Beckh, S. 13, weist schon auf die Möglichkeit eines Auseinanderfallens von Feststellungs- und Beweisführungslast hin, wenn er dies auch als „etwas ganz Exceptionelles" ansieht. Leonhard, S. 182, erklärt ebenfalls, daß Beweislast (im Sinne der Feststellungslast) und Darlegungslast (unter diesen Begriff faßt Leonhard, S. 168ff., Behauptungslast und Beweisführungslast zusammen) auseinanderfallen können (vgl. auch seine Ausführungen auf S. 182rT.).
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
der historischen Entwicklung erklären315. Man hat sich zwar von dem überkommenen Beweislastbegriff gelöst, der objektive und subjektive Elemente in sich vereinigte316, vollzieht aber nicht die völlige Trennung und Verselbständigung der Beweisführungslast, sondern behandelt sie lediglich als eine nachgeordnete Folgeerscheinung der Feststellungslast für die von den nachteiligen Wirkungen der Beweislastnormen betroffenen Partei in Verfahren mit Verhandlungsmaxime. Bei dieser Betrachtung stellt sich aber die Beweisführungslast lediglich als eine besondere Erscheinungsform der Feststellungslast selbst dar, für deren Beschreibung ein eigener Rechtsbegriff kaum erforderlich ist; insoweit muß den Vorbehalten zugestimmt werden, die gegen eine Scheidung der objektiven und subjektiven Beweislast erhoben worden sind317. Die Befürworter zweier getrennter Beweislastbegriffe, insbesondere Rosenberg318, wollen der Beweisführungslast denn auch einen durchaus eigenständigen Inhalt geben, zögern aber, die Verselbständigung dieses Begriffes konsequent zu Ende zu führen und ihn gleichberechtigt neben den der Feststellungslast zu setzen. Stichhaltige Gründe für diese Zurückhaltung werden nicht genannt. B/omeyer319 nimmt bei Gegenbeweisen eine sog. „Gegenbeweislast" an, die er als eine „echte Beweislast" bezeichnet320. Wenn auch Blomeyer nicht zwischen Feststellungslast und Beweisführungslast unterscheidet321, zeigen doch seine Ausführungen, daß er die subjektiven Wirkungen der Beweislast im Sinne der Beweisführungslast durchaus berücksichtigt. Auf die Begriffe „Gegenbeweislast" — er wird auch von O. Fischer322 gebraucht- und „Gegenteilsbeweislast"323 sollte jedoch verzichtet werden, da sie lediglich die „Richtung des Beweises" angeben, der für den Begriff der Beweislast unerheblich ist; sonst könnte man auch von der „Gegengegenbeweislast" usw. sprechen. Im übrigen läßt die Bezeichnung Gegenteilsbeweislast auch offen, ob die Feststellungslast oder die Beweisführungslast gemeint ist.
Wenn auch beiden Parteien eine Beweisführungslast zufallen kann, so folgt daraus nicht etwa, daß sie gleichzeitig die Beweisführungslast für ein und denselben Geschehensabschnitt324 tragen, dessen Verlauf streitig 815
So führt beispielsweise Korsch, S. 27, fast die gleichen Gründe wie Rosenberg an, nicht aber, um wie dieser eine Beweisführungslast des Gegners der feststellungsbelasteten Partei abzulehnen, sondern um seine Meinung zu begründen, daß der Partei, die Gegenbeweise erbringen muß, keine Beweislast im Sinne der Feststellungslast zufällt (vgl. Korsch, S. 30ff). 316 Vgl. oben S. 33ff., unten S. 280f. 317 Vgl. z.B. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 476 N. 1; Hedemann, S. 182ff.; Kisch, ZZP 30, S. 534f. 318 Beweislast, S. 16, 21 ff. 319 ZPR, S. 368 f. 320 AaO, S. 368 (unter 4), Gutachten, S. 19. 321 Vgl. oben N. 251. 322 ZPR, S. 172. 323 Blomeyer, Gutachten, S. 18 f. 824 Der Begriff „Tatsache" erweist sich hier als zu eng. Denn das kontradiktorische Gegenteil der Tatsache, durch die ein Tatbestandsmerkmal erfüllt wird, ist ebenfalls eine
§ 3 Die Folgewirkungen der Beweislastnormen für die Parteien
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bleibt und der für die tatsächliche Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals bedeutsam ist. Vielmehr kann rein objektiv immer nur für eine Partei die Notwendigkeit bestehen, zur Vermeidung nachteiliger Rechtsfolgen die Feststellung einer Tatsache durch Beweis herbeizuführen. Solange der Richter nicht von der Existenz der Tatsache, auf die es zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmales ankommt, überzeugt ist, besteht nur für die feststellungsbelastete Partei die Notwendigkeit, durch Beweis die Richtigkeit ihrer Behauptung zu belegen. Erst wenn sie dieses Ziel erreicht hat, wird es für den Gegner erforderlich, durch seine Gegenbeweise die Überzeugung des Richters wieder zu erschüttern. Ist er hierbei erfolgreich, geht die Beweisführungslast erneut auf die andere Partei über. Dieses Hin- und Herpendeln der Beweisführungslast kann sich bis zur Erschöpfung aller Beweismittel fortsetzen325. Der Wechsel der Beweisführungslast wird im einzelnen Rechtsstreit häufig nicht nach außen deutlich in Erscheinung treten. Denn einmal bleibt der Vorgang richterlicher Überzeugungsbildung zumindest in seinen Zwischenphasen den Parteien weitgehend verschlossen, zum anderen pflegen die Parteien rein vorsorglich Beweise anzutreten, auch wenn es auf sie noch nicht entscheidend ankommt. Das ändert jedoch nichts daran, daß sich die Notwendigkeit zur Beweisführung nach objektiven Kriterien —· Feststellungslast und richterlicher TatsachenWürdigung326 — bestimmt und von der subjektiven Vorstellung der Parteien nicht beeinflußt wird. Die Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten, die rein vorsorglich angetretenen Beweise und die Beschaffung des dafür erforderlichen Beweismaterials mit sich bringen können, sind für den Begriff der Beweisführungslast ohne Bedeutung. Denn die Bezeichnung „Last" ist nicht etwa im Sinne von Erschwerung und Mühe aufzufassen, sondern hat im prozessualen Bereich die Bedeutung einer Pflicht gegen sich selbst327. Mit diesem Begriff soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es hieibei an einem entsprechenden Recht des Gegners oder des Gerichts fehlt, daß vielmehr ein Handeln nur aus dem Gesichtspunkt des eigenen Interesses — ohne Imperativ — geboten ist328. selbständige Tatsache. Hier handelt es sich um einen einheitlichen Lebensvorgang, der von den Parteien unterschiedlich dargestellt wird. 325 Bruns, S. 283; Bolding, S. 24. In der englischen und nordamerikanischen Prozsßrechtsliteratur ist dieser Wechsel der Beweisführungslast, die dort sehr anschaulich als duty of going forward with evidence bezeichnet wird (zu anderen gebräuchlichen Begriffen vgl. Schwering, S. 66f.), anerkannt (Schwering, S. 77 mit Nachweisen). Die sich aus dem Jury-System zum deutschen Zivilprozeß ergebenden Unterschiede wirken sich auf diese Frage nicht aus. 326 Auch das Ergebnis der Beweis -und Verhandlungswürdigung ist aus der Sicht der Partei ein objektiv feststehender Tatbestand. 327 Hellwig, System, S. 401. 328 Niese, Prozeßhandlungen, S. 63ff.; Goldschmidt, Prozeß, S. 335ff.; Lent, ZZP 67, S. 350 ff.; Lent-Jauernig, S. 78, 99; Schmeling, S. 25; anders dagegen Schönke-Kuchinke, S.U. 4
Musielak, Beweislast
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III. Der Begriff der Beweislast Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, welche erheblichen Unterschiede zwischen den Funktionen der Beweislastnormen und den sich daraus ergebenden Folgewirkungen für die Parteien bestehen. Die Zusammenfassung aller dieser Erscheinungen unter einen einheitlichen Begriff ist deshalb problematisch und dürfte die Lösung mancher Streitfrage in diesem Bereich wesentlich erschweren329. Denn wenn von der „DER BEWEISLAST" die Rede ist, bleibt unklar, ob die Beweislastnormen oder die daraus für die Parteien erwachsenden Folgen gemeint sind. Wird diese Frage im Sinne der zweiten Alternative beantwortet, ist weiterhin noch zu klären, ob nun der Tatbestand der Feststellungslast oder der Bewcisführungslast angesprochen werden soll. Es ist deshalb nur gerechtfertigt, den Begriff „Beweislast" ohne nähere Erläuterung zu verwenden, wenn es um das gesamte Beweislastproblem mit allen damit zusammenhängenden Fragen geht. Nur in diesem weiten Sinn wird auch in den folgenden Erörterungen dieser Begriff gebraucht; in allen anderen Fällen wird präzisiert werden, welcher selbständige Teilbereich gemeint ist. § 4 Das Verhältnis der Behauptungslast zur Beweislast In Verfahren mit Verhandlungsmaxime müssen die Parteien den Tatsachenstoff, der vom Gericht berücksichtigt werden soll, durch ihren Vortrag in den Rechtsstreit einführen. Die sich aus dieser Regelung für die Parteien ergebenden Folgen werden im Begriff der Behauptungslast zusammengefaßt. Bei der Behauptungslast kann eine ähnliche Unterscheidung wie bei der Beweislast zwischen einer objektiven und subjektiven Seite durchgeführt werden330. Die nachteiligen Wirkungen, die für eine Partei wegen des Fehlens erheblicher Tatsachenbehauptungen eintreten, lassen sich getrennt von der Notwendigkeit betrachten, zur Vermeidung dieser Nachteile Behauptungen aufzustellen. Allerdings muß die Partei nicht alles expressis verbis vortragen, was sich mit logischer Zwangsläufigkeit aufgrund der Lebenserfahrung aus ihrer Sachdarstellung ergibt; solche notwendigerweise verbundenen Tatsachen sind ohne weiteres in dem Prozeß miteingeführt. Auch können Behauptungen, die vom Gegner aufgestellt werden, oder Tatsachen, die sich durch eine Beweisaufnahme ergeben haben, stillschweigend von der Partei, der sie günstig sind, aufgenommen werden*31. 329
Daß dennoch an diesem Begriff festgehalten wird, ist in erster Linie aus der historischen Entwicklung zu erklären. Vgl. dazu unten S. 279 ff. 330 Rosenberg, Beweislast, S. 47; Rosenberg-Schwab, § 118 112 (S. 610); Stein-JonasSchumann-Leipold, § 282, Anm. IV l (S. 1146£). Dagegen will Schmeling, S. 48f. N. 3, auch die nachteiligen Folgen fehlender Behauptungen (objektive Behauptungslast) in den Begriff der Beweislast (im Sinne der Feststellungslast) einbeziehen. Dies würde aber der Feststellungslast einen anderen Inhalt geben, als hier angenommen wird. 331 Leonhard, S. 169.
§4 Das Verhältnis der Behauptungslast 2ur Beweislast
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Finden sich bei der Behauptungslast Parallelen zu den Begriffen der Feststellungs- und Beweisführungslast, so fehlt bei ihr eine Entsprechung zu den Beweislastnormen332. Daß der Richter Tatsachen, die von den Parteien nicht vorgetragen werden, als nicht geschehen behandeln muß333, ist eine unmittelbare Konsequenz der Verhandlungsmaxime334 und muß nicht durch zusätzliche Bestimmungen angeordnet werden. Bereits aus diesem Unterschied folgt, daß die häufig erörterte Frage, ob sich Behauptungs- und Beweislast decken335 — so allgemein gestellt —, verneint werden muß. Für einen derartigen Vergleich ist es vielmehr erforderlich zu präzisieren, welche Erscheinung innerhalb des komplexen Begriffs der Beweislast gemeint ist und der objektiven oder subjektiven Behauptungslast gegenübergestellt wird. Sollen Feststellungs- und Beweisführungslast sowie objektive und subjektive Behauptungslast wechselweise miteinander verglichen werden, dann kann es sich nur darum handeln, den möglichen Umfang dieser Lasten rein abstrakt abzugrenzen, ohne auf die konkrete Gestaltung des einzelnen Prozesses zu sehen. Denn die Frage der Beweisführungs- oder Feststellungslast kann sich im einzelnen Prozeß erst stellen, wenn die Behauptungslast ihre Erledigung gefunden hat, das heißt ,wenn die vorzutragenden Tatsachen von der damit belasteten Partei behauptet worden sind. Damit ein sinnvoller Vergleich überhaupt möglich wird, ist jeweils von einer Behauptungs-, Beweisführungs- und Feststellungslast mit dem weitesten Umfange auszugehen, der theoretisch denkbar ist und der dadurch ermittelt wird, daß man unterstellt, jede Tatsache, für die eine Partei eine dieser Lasten tragen kann, sei entweder nicht behauptet oder zwar behauptet, aber nicht bewiesen worden. Deshalb kann auch kein Unterschied zwischen beiden Lasten mit der Überlegung begründet werden, daß zwar alle rechtserheblichen Tatsachen behauptet, aber nur die bestrittenen bewiesen werden müssen336. Denn dieser Unterschied beruht gerade auf der 332
Anders wohl Rosenberg, aaO, S. 51; Rosenberg-Schwab, § 118IV (S. 615); Leipold, S. 100, die jeweils ohne nähere Begründung von „Behauptungslastnormen" oder „Behauptungslastregeln" sprechen. 333 Jedoch nicht etwa in dem Sinn, daß von dem kontradiktorischen Gegenteil auszugehen ist; denn hierfür gilt diese Regel gleichermaßen. Das bedeutet, daß beide — die nicht vorgetragene Tatsache X ebenso wie die nichtbehauptete Tatsache non-X — als nicht existent behandelt werden müssen. Kommt es für die Verwirklichung des Tatbestandes eines anzuwendenden Rechtssatzes auf die Tatsache X an, dann muß der Richter aufgrund der Verhandlungsmaxime den Tatbestand als nicht verwirklicht werten, nicht etwa weil er dann non-X annehmen muß, sondern weil X, die Tatsache, die vorliegen muß, damit der Tatbestand erfüllt ist, für den Richter nicht existiert. 334 Vgl. RGZ 80, 363, 364 (9. 11. 12 — V220/12); RGZ 103, 95, 96 (27. 10. 21 — VI273/21); R. Schmidt, Lehrbuch, S. 422. 335 Vgl. z.B. Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV! (S. 1146f.); Leonhard, S. 171 f.; Nicolini, NJW 1959, S. 1767; Lepa, S. 21 ff.; Rosenberg, Beweislast, S. 50ff., mit zahlreichen Nachweisen insbesondere aus dem älteren Schrifttum (aaO, S. 50 N. 2). 336 So Schollmeyer, ZZP 12, S. 283f.; F. Endemann, Bürgerl. Recht, S. 481 N. 11. 4*
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ausgeschlossenen Betrachtung des einzelnen Prozeßverlaufs, der darüber Aufschluß geben muß, ob eine Tatsache bestritten ist337.
I. Die subjektive Behauptungslast und die Beweisführungslast Für die Ermittlung des Inhalts der subjektiven Behauptungslast, also der Notwendigkeit, zur Vermeidung prozessualer Nachteile (objektive Behauptungslast) Tatsachen zu behaupten, kommt es zunächst darauf an, die Begriffe des Behaupten! und Bestreitens voneinander abzugrenzen. Denn hinsichtlich einer jeden bestrittenen rechtserheblichen Tatsache stehen sich zwei einander widersprechende Erklärungen der Parteien gegenüber, und im Sinne der Logik kann jede von ihnen die Behauptung von Tatsachen oder das Bestreiten eines abweichenden Geschehensablaufes darstellen338. Es ist deshalb ein objektives Kriterium erforderlich, nach dem entschieden werden kann, welche der beiden kontradiktorischen Sachverhaltsschilderungen als die Behauptung und welche als das Bestreiten anzusehen ist. Diese Entscheidung ist aufgrund des anzuwendenden Rechtssatzes zu treffen339. Gehört die Tatsache ta zu den tatsächlichen Voraussetzungen der Rechtsnorm, dann ist die Erklärung „ta ist" das Behaupten und die Erklärung „non-ta ist" das Bestreiten340. Bezieht sich weder die Tatsache ta noch die Tatsache non-ta unmittelbar auf ein Tatbestandsmerkmal, sondern soll aus ihr mit Hilfe von ErfahrungsSätzen auf die Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen geschlossen werden, dann ist maßgebend, ob dieser Schluß durch ta oder non-ta ermöglicht wird; die Tatsache, die die Grundlage dieses Schlusses bildet, wird behauptet, der Vortrag ihres kontradiktorischen Gegenteils ist als Bestreiten aufzufassen. Nun gibt es allerdings auch Tatsachen, die nicht in dieses Schema passen; gemeint sind die Tatsachen, die den Schluß auf die Unwahrheit oder zumindest Zweifelhaftigkeit der Behauptungen ergeben, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Verwirklichung von Tatbestandselementen beziehen341, sowie solche Tatsachen, die ihrerseits den Schluß auf die Unrichtigkeit oder Zweifelhaftigkeit des Bestehens jener Tatsachen er337
Im Ergebnis ebenso Rosenberg, Beweislast, S. 51; Lepa, S. 23. Rosenberg, aaO, S. 75; Korsch, S. 111. 339 Nicht aufgrund der Beweislastnorm, wie Rosenberg, aaO, und ihm folgend E. Schneider, JZ 1957, S. 617, 619, meinen. Vgl. auch unten zu N. 342. 340 Selbstverständlich ist dafür nicht notwendig, daß diese Erklärung in ihrer Formulierung mit den Begriffen der gesetzlichen Merkmale übereinstimmen, auf die sie sich beziehen. Der Richter hat vielmehr im Hinblick auf den anzuwendenden Rechtssatz den rechtserheblichen Kern der Parteierklärungen festzustellen und zu prüfen, ob eine Subsumtion der vorgetragenen Tatsachen unter die gesetzlichen Merkmale möglich ist. Darüber hat es entgegen der Auffassung von Korsch, S. 38ff, niemals Meinungsverschiedenheiten gegeben; vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 166ff, 172f.; Leonhard, S. 170. 341 Vgl. oben S. 42f. 338
§ 4 Das Verhältnis der Behauptungslast zur Beweislast
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möglichen, und so fort. Setzt sich ein Rechtssatz aus den Tatbestandsmerkmalen a und b zusammen, und ergibt die konkrete Tatsache ta, daß a verwirklicht ist, dann kann die Gegenpartei non-ta vortragen, also ta bestreiten, sie kann sich aber auch auf die Tatsache berufen, aus der mit Hilfe des Erfahrungswissens auf non-ta zu schließen ist. Wird bei der Frage, ob der Vortrag solcher Indizien als ein Behaupten oder ein Bestreiten im Sinne des Prozeßrechts aufzufassen ist, allein auf die Tatsache gesehen, dann mag man dazu neigen, diese Erklärung als Behauptung zu werten. Denn die Tatsache richtet sich zumindest nicht unmittelbar gegen ta; vielmehr ist es ohne logischen Widerspruch möglich, daß beide Tatsachen nebeneinander bestehen. Dies kann beispielsweise vorkommen, wenn der Erfahrungssatz, der einen Schluß von auf non-ta zuläßt, im Ausnahmefall y nicht zutrifft oder wenn ta zwar zweifelhaft macht, diese Zweifel aber aufgrund anderer Tatsachen ausgeräumt werden. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Einführung der Tatsache in den Prozeß dazu dient, die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals a in Abrede zu stellen, und daß deshalb durch sie die Richtigkeit jeder Sachdarstellung des Gegners, aus der die Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen von a folgt, in ihrem rechtserheblichen Kern verneint werden muß. Von dem anzuwendenden Rechtssatz aus betrachtet, der das maßgebende Kriterium für eine Unterscheidung der Begriffe „behaupten" und „bestreiten" liefert342, stellt sich der Vortrag von Indizien, aus denen auf eine Nichtverwirklichung von Tatbestandselementen zu schließen ist, als ein Bestreiten dar343. Bei dieser Begriffsabgrenzung ergibt sich aber eine Divergenz zwischen subjektiver Behauptungslast und Beweisführungslast. Denn für die Tatsachen, die einem mittelbaren Gegenbeweis zugrundeliegen, ist dann zwar eine Beweisführungslast344, nicht aber eine Behauptungslast anzuerkennen. Gleiches gilt für den unmittelbaren Gegenbeweis. Wenn der Gegner der feststellungsbelasteten Partei non-ta beweisen muß345, weil der Richter von der Existenz der das Tatbestandsmerkmal a ausfüllenden Tatsache ta überzeugt ist, trägt er zwar insoweit die Beweisführungslast346, nicht aber die 342
Bruns, S. 249. Die von Rosenberg, Beweislast, S. 75f., gegebene Definition: „Behauptungen sind diejenigen Anführungen, die das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der anzuwendenden Rechtssätze ergeben, auch wenn sie in der Form des Bestreitens auftreten; Bestreitungen sind diejenigen Anführungen, die ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal als nicht vorhanden hinstellen, auch wenn ihnen die Form der Behauptung gegeben ist", scheint mit dieser Auffassung übereinzustimmen. Da aber Rosenberg von der grundsätzlichen Dekkungsgleichheit der Behauptungs- und Beweislast ausgeht (aaO, S. 50), für Tatsachen, aus denen auf andere rechtserhebliche zu schließen ist, sogar eine Feststellungslast bejaht (aaO, S. 194; vgl. dazu oben S. 42ff.), müßte Rosenberg folgerichtig den Vortrag solcher Tatsachen als eine Behauptung werten. 344 Vgl. oben S. 45 ff. 345 Wobei es genügt, „ta" zweifelhaft zu machen (vgl. oben S. 40f.). 34e Vgl. oben S. 45 f. 343
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1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
Behauptungslast347. Denn behauptet wird nur „ta ist"; „non-ta ist" stellt sich dagegen als das Bestreiten dar348, und die Behauptungslast macht den Wechsel der Beweisführungslast nicht mit. Nach der Vorschrift des § 138 Abs. 2 ZPO hat sich jede Partei über die vom Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären. Der Umfang dieser Erklärungslast ist relativ349 und richtet sich nach den Besonderheiten des Einzelfalles. Betrifft die vom Gegner aufgestellte Behauptung einen (unbestimmten350) negativen Vorgang, dann kann von der bestreitenden Partei erwartet werden, daß sie nähere Angaben macht und eine (positive) Sachdarstellung gibt, gegen die sich dann die Behauptungen und Beweise der anderen Partei richten können, um durch Widerlegung der gegnerischen Sachverhaltsschilderung den negativen Beweis zu führen351. Ebenso wird in dem Fall, daß dem Gegner der behauptungsbelasteten Partei die rechtserheblichen Tatsachen allein bekannt sind, ohne Rücksicht auf die Behauptungslast aufgrund des Gebots einer redlichen, Treu und Glauben entsprechenden Prozeßführung die Mitteilung dieser Tatsachen verlangt352. Teilt die Partei ohne triftigen Grund die ihr bekannten Vorgänge nicht mit, dann sind die Behauptungen des Gegners nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen363. Es ergibt sich also in diesen Fällen für den Gegner der behauptungsbelasteten Partei die Notwendigkeit, zur Vermeidung prozessualer Nachteile Tatsachen vorzutragen. Dadurch wird aber nicht die der anderen Partei obliegende Behauptungslast „umgekehrt"354, sondern es handelt sich dabei um die notwendige Substantüerung des Bestreitens355. Diese „Substantiierungslast" kann sich in Fällen, in denen die 347
Auf eine gleiche Auffassung deutet die Bemerkung des BGH (17. 12. 58 — V ZR 135/57) NJW 1958, S. 478, 479 (a. E.), daß die „Darlegungspflicht" zwar dem Beklagten obliege, es aber auf sich beruhen sollte, ob er auch die Beweislast (im Sinne der Beweisführungslast) trage, wenn er ausreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit seiner Behauptungen geliefert habe. Es ging in diesem Fall um die Frage, ob die Ausübung eines Vorkaufsrechts durch die klagende Gemeinde im öffentlichen Interesse liege. Der Beklagte trug die Behauptungs- und Feststellungslast für die mißbräuchliche Rechtsausübung. Die Beweisführungslast wäre aber auf die Klägerin übergegangen, wenn das Gericht von der Richtigkeit der Sachdarstellung des Beklagten aufgrund der Lebenserfahrung überzeugt gewesen wäre. 348 Rosenberg, Beweislast, S. 76f.; anders wohl Blomeyer, ZPR, S. 340 ( 2), ohne nähere Begründung. 349 E. Schneider, MDR 1962, S. 362. 350 Vgl. dazu unten S. 259f., 268f. 351 BGH (19. 9. 66 — II ZR 62/64) VersR 1966, S. 1021, 1022. 352 Eingehend dazu unten S. 141 ff. 353 E. Schneider, aaO; Blunck, MDR 1969, S. 99; BGH (20. 1. 61 — I ZR 79/59) NJW 1961, S. 826, 828. Zur Notwendigkeit beeinträchtigende Tatsachenbehauptungen in einem dagegen gerichteten Rechsstreit zu substantiieren vgl. BGH (9.7.74 — VI ZR 112/73) NJW 1974, S. 1710. 354 So aber Blunck, aaO, S. 100; Deubner, NJW 1969, S. 1648; vgl. auch unten S. 143 N. 550. 355 E. Schneider, aaO.
§ 4 Das Verhältnis der Behauptungslast zur Beweislast
55
Partei auch allein Zugang zu den Beweismitteln hat, zu einer Beweisführungslast ausdehnen358. In diesen Fällen entsteht dann ebenfalls eine Inkongruenz von Beweisführungslast und subjektiver Behauptungslast. Eine Übereinstimmung beider Lasten fehlt ferner, wenn Beweislastregeln ein Ergebnis der Tatsachenfeststellung fingieren, nach dem der Richter das Tatbestandsstück, dessen Verwirklichung nicht geklärt werden kann, als erfüllt zu behandeln hat357. Die durch eine solche Beweislastregelung begünstigte Partei muß zwar die Tatsachen behaupten, die das betreffende Tatbestandsmerkmal ausfüllen, trägt aber dafür weder die Feststellungs- noch die Beweisführungslast358. Dies gilt insbesondere für gesetzliche Vermutungen*™. Schließlich müssen nach herrschender Meinung offenkundige Tatsachen behauptet werden360, sie sind aber nicht zu beweisen (§ 291 ZPO). . Die objektive Behauptungslast und die Feststellungslast Der Umfang der Feststellungslast wird — wie bereits oben361 ausgeführt worden ist — durch die Beweislastnormen im Zusammenwirken mit den Rechtssätzen bestimmt, auf die sie sich beziehen. In Fällen, in denen die Entscheidung bei tatsächlichen Zweifeln nicht durch Beweislastnormen vorgeschrieben wird, besteht deshalb auch keine Feststellungslast. Das bedeutet, daß sich die Feststellungslast ausschließlich auf die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtssatzes bezieht, weil nur insoweit die Beweislastnormen wirksam werden und eine Aufklärung entweder mit positivem oder negativem Ergebnis fingieren362. Dagegen führt die nicht zu beseitigende Ungewißheit über das Bestehen indizierender Tatsachen notwendigerweise zu deren Nichtberücksichtigung, ohne daß deshalb Beweislastnormen eingreifen müssen. Daraufist bereits bei Erörterung des mittelbaren Gegen358
Vgl. unten S. 141 ff. Vgl. dazu unten S. 303 ff. 358 Vgl. Rosenberg, aaO, S. 52 f. 359 Diese Frage ist hinsichtlich der Tatsachenvermutung sehr umstritten. Wie hier Hedemann, S. 283ff.; Leonhard, S.236; Goldschmidt, ZPR, S. 137; Beckh, S. 90; Schühly, S. 3; a. A. Rosenberg, aaO, S. 217f.; Kummer, Art. 8, Rdn. 358; Leipold S. 88f. (mit weiteren Nachweisen). Zu der gleichen Frage bei gesetzlichen Rechtsvermutungen vgl. unten S. 82. 360 RGZ 143,175,183 (2. 2. 34 — 11 83/33); Grunsky, S. 360f.; Baumbach-Lauterbach, § 291, Anm. 2 B; Förster-Kann, § 291, Anm. 3a (S. 768); von Seuffert-Walsmann, § 291, Anm. 3 (S. 484); a. A. Lent-Jauernig, S. 163f.; Brüggemann, S. 337ff.; Rosenberg-Schwab, § 11713 (S.605); O.Fischer, ZPR, S. 164; Bernhard, Festgabe, S. 22ff.; Hellwig, System, S. 675, will zwischen rechtsbegründenden offenkundigen Tatsachen, die behauptet werden müßten, sowie rechtshindernden und rechtsvernichtenden offenkundigen Tatsachen unterscheiden, die von Amts wegen berücksichtigt werden sollen. Vgl. auch Stein, S. 164f. 361 S. 34. 362 Vgl. oben S. 21 ff. 357
56
1. Teil. 1. Abschn. Begriff und Wesen der Beweislast
beweises hingewiesen worden363. Die Feststellungslast bleibt also in ihrem Umfang hinter der Beweisführungslast zurück. Für die Frage der Kongruenz von Feststellungslast und objektiver Behauptungslast kommt es mithin darauf an, ob auch für die objektive Behauptungslast die gleiche Einschränkung gilt, die bei der Feststellungslast bewirkt, daß solche Nachteile ausgeklammert werden müssen, die einer Partei wegen fehlgeschlagener Ermittlungen von Indizien entstehen. Dafür könnte der Unterschied sprechen, der unübersehbar hervortritt, wenn die Folgen aus dem Unterlassen der Behauptung von unmittelbar erheblichen Tatsachen einerseits und von indizierenden Tatsachen andererseits verglichen werden. Unterbleibt im Prozeß die Behauptung unmittelbar erheblicher Tatsachen, dann hat dies zur notwendigen Folge, daß der Rechtssatz, auf dessen Tatbestand sie sich beziehen, nicht angewendet wird; der Partei, der dieser Rechtssatz vorteilhaft wäre, entsteht dadurch ein Nachteil; sie ist deshalb Träger der objektiven Behauptungslast für diese Tatsache. Dagegen muß das Unterlassen der Behauptung von Indizien nicht immer mit echten Nachteilen für die Partei verbunden sein. Die unterlassene Behauptung kann wegen des übrigen Tatsachenvortrags der Partei entbehrlich werden, so daß sich die Nichtberücksichtigung der indizierenden Tatsachen durch das Gericht für die Anwendung des Rechtssatzes überhaupt nicht auswirkt. Es ist deshalb für die Begriffsabgrenzung entscheidend, ob zur Feststellung der Nachteile, die den Inhalt der objektiven Behauptungslast ausmachen, auf die Anwendung des Rechtssatzes, auf die sich die Behauptung bezieht, oder nur auf die Behauptung selbst zu sehen ist. Als Grund für die Berücksichtigung der Folgen, die für die Rechtsanwendung entstehen, ist in Betracht zu ziehen, daß sich die Antwort auf die Frage nach den Vor- und Nachteilen der Parteien im Rechtsstreit immer nur aufgrund des Rechtssatzes finden läßt, um den es im Einzelfall geht, und daß auch nur aufgrund dieses Rechtssatzes beurteilt werden kann, ob einer Behauptung überhaupt Bedeutung zukommt, d. h. ob sie erheblich ist. Werden die Behauptungen und die daraus resultierenden Folgen für die Rechtsanwendung getrennt von der Frage des Beweises betrachtet, dann läßt sich sagen, daß es nur auf die Behauptung der unmittelbar rechtserheblichen Tatsachen ankommt und daß die indizierenden Tatsachen insoweit keine Rolle spielen. Indes ist ebensowenig zu übersehen, daß Indizien sehr häufig einen erheblichen Einfluß auf den Ausgang eines Prozesses haben und daß ein Unterlassen der Behauptung dieser Indizien durchaus nachteilig für eine Partei sein kann. Hier zeigt sich die gleiche Erscheinung wie beim Mißlingen des Beweises indizierender Tatsachen. Daß dadurch eine Partei Nachteile haben kann, ist unbestreitbar; die Begrenzung des Begriffs der Feststellungslast auf die unmittelbaren Wirkungen der Beweislastnormen führt nur dazu, daß diese Nachteile nicht als Feststellungslast angesehen werden. Da es jedoch Regeln der Behauptungslast, deren Folgen für die Parteien in einem eigenen Begriff zusammengefaßt werden müßten, nicht gibt, entfällt bei der Be393
Vgl. oben S. 43 f.
§ 4 Das Verhältnis der Behauptungslast zur Beweislast
57
hauptungslast der Grund, der für jene begriffliche Einschränkung der Feststellungslast maßgebend war364. Deshalb kann auch anders als bei der Feststellungslast die Frage nach dem Nachteil, der einer Partei infolge des Unterlassens von Behauptungen entsteht, allein aufgrund der Behauptung selbst entschieden werden. Dabei dürfen zwar nur Tatsachenbehauptungen berücksichtigt werden, die zumindest mittelbar für den Tatbestand des anzuwendenden Rechtssatzes im positiven oder negativen Sinn erheblich sind; daß von der Behauptung die Anwendung des Rechtssatzes letztlich abhängen muß, ist dagegen nicht zu verlangen. Denn die Abhängigkeit der Rechtsanwendung von der Behauptung einer bestimmten nur mittelbar erheblichen Tatsache richtet sich nach dem Verlauf des einzelnen Prozesses, insbesondere nach dem gesamten Vortrag der Parteien und ihren Beweismöglichkeiten, nach Gesichtspunkten also, die bei diesem Vergleich gerade ausdrücklich ausgeschlossen worden sind. Wird der Inhalt der objektiven Behauptungslast mit dem Nachteil gleichgesetzt, der sich für eine Partei infolge des Unterlassens irgendwelcher rechtserheblicher Behauptungen ergibt, dann muß die eingangs gestellte Frage nach der Deckungsgleichheit dieses Begriffes mit dem der Feststellungslast verneint werden; diese Behauptungslast erstreckt sich auch auf Tatsachen, für die eine Partei zwar die Beweisführungslast, nicht aber die Feststellungslast trägt. Bereits oben365 ist darauf hingewiesen worden, daß in Fällen, in denen „positiv" wirkende Beweislastnormen die Verwirklichung von Tabbestandselementen fingieren, eine Feststellungslast nicht besteht; wohl aber gibt es in diesen Fällen eine objektive Behauptungslast. Ebenso verhält es sich bei offenkundigen Tatsachen365.
. Ergebnis Die Untersuchung des Verhältnisses, das zwischen Behauptungs- und Beweislast besteht, ergibt somit bedeutsame Unterschiede zwischen beiden Lasten. Weder subjektive Behauptungslast und Beweisführungslast noch objektive Behauptungslast und Feststellungslast sind kongruent. Der herrschenden Auffassung, die teils mit, teils ohne Unterscheidung zwischen einer objektiven und subjektiven Seite beider Lasten eine Deckungsgleichheit im Grundsatz bejaht366, kann deshalb nicht zugestimmt werden. 364
Vgl. oben S. 44 f. S. 55. 366 Rosenberg,Beweislast, S. 50; Leonhard, S. 170f.; Baumbach-Lauterbach, Anh. zu § 282, Anm. 1A; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV! (S. 1147); LentJauernig, S. 164; Nicolini, NJW 1959, S. 1767f. Die Autoren, die eine Divergenz beider Lasten annehmen (z.B. Fitting, ZZP 13, S. 8; Schollmeyer, ZZP 12, S. 283f.; Wach, ZZP 29, S. 387), lassen dafür andere Gründe maßgebend sein. 365
58 l, Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
ZWEITER ABSCHNITT Beweislast und richterliche Beweis- und Verhandlungswürdigung Bekannt ist das Wort Rosenbergs1: „Die freie Beweiswürdigung und die Be weislast her r sehen über zwei Gebiete, die z war dicht beieinander liegen, aber durch feste Grenzlinien deutlich voneinander geschieden sind." Rosenberg meint, wie seine weiteren Ausführungen zeigen, mit dem Begriff „Beweislast" offensichtlich die unter dem Begriff der Feststellungslast zusammengefaßten Wirkungen der Beweislastnormen, und dann ist seiner Ansicht uneingeschränkt zuzustimmen. Die Anwendung der Beweislastnormen folgt schon rein zeitlich nach der Beweiswürdigung des Richters. Erst wenn diese Würdigung ergeben hat, daß eine bestimmte erhebliche Tatsache ungeklärt geblieben ist, stellt sich die Frage nach den Beweislastnormen. Diese Normen setzen tatbestandlich einen ungeklärten Sachverhalt voraus2, greifen also erst ein, wenn die Mittel der Tatsachenwürdigung versagt haben3. Andererseits entfalten die Beweislastnormen und das Ergebnis der Beweis- und Verhandlungswürdigung auch Wirkungen, die zusammentreffen und sich gegenseitig beeinflussen können. Die Bedeutung der Tatsachenwürdigung für die Beweisführungslast ist bereits dargestellt worden*. Auch sonst finden sich Gemeinsamkeiten ^wischen Beweislast und richterlicher Beweis- und Verhandlungswürdigung, die zwischen beiden Bereichen — um es in Anlehnung an das Wort Rosenbergs bildlich auszudrücken — einen regen Grenzverkehr hinüber und herüber schaffen5. So haben die Beweislastnormen und die sich daraus ergebenden Vor-Wirkungen6 Einfluß auf den Gang des Beweisverfahrens und damit auf sein Ergebnis. Bei der Beweiserhebung, die nach herrschender Auffassung nicht statthaft ist, wenn die Partei, der die Beweisführungslast zufällt, keinen Beweis antritt7, bei der richterlichen Aufklärung nach § 139 ZPO und bei den in diesem Rahmen vom Gericht zu gebenden Hinweisen auf fehlende Beweisantritte8, schließlich bei der beantragten Parteivernehmung und den dafür erforder1
Beweislast, S. 62. Vgl. oben S. 19. 3 Blomeyer, ZPR, S. 261. 4 Vgl. oben S. 45 f. 5 Auf solche Wechselbeziehungen weist auch Rosenberg, Beweislast, S. 67 ff., im einzelnen hin. Vgl. auch E. Schneider, DRiZ 1966, S. 284. 6 Vgl. oben S. 34. 7 Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IVlb (S. 1147); Blomeyer, ZPR, S. 348; Rosenberg-Schwab, § 118 IV3, (S. 615); Rosenberg, Beweiskst, S. 22, 73; Berg, S. 86. 8 Blomeyer, aaO; Rosenberg, aaO, S. 21, 72; Schönke-Kuchinke, S. 260. 2
1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung 59
liehen Erklärungen der Parteien (vgl. §§ 445—447 ZPO9) ist der Inhalt jeweils in Betracht kommender Beweislastnormen bedeutsam. Die Ansicht, daß die beweisführungsbelastete Partei den Beweis zumindest antreten muß, dürfte von einer Anschauung getragen werden, die in den Auswirkungen auf die Partei das Primäre und Wesentliche der Beweislast sieht. Von diesem Standpunkt aus ist es folgerichtig, die Partei, die trotz der sie treffenden Beweisführungslast nichts zur Aufklärung des Sachverhalts beiträgt, mit ihrem Antrag abzuweisen. Wird aber in erster Linie auf die Aufklärung der erheblichen Tatsachen Wert gelegt und die Anwendung von Beweislastnormen als ein Behelfsmittel aufgefaßt, das ohne Rücksicht auf die wirkliche Rechtslage die Entscheidung im Falle unklärbarer Zweifel ermöglichen soll10, dann erscheint es nicht unproblematisch, trotz der Chance, aufgrund der vom Gegner angebotenen Beweise zu einer Sachklärung zu gelangen, eine Beweislastentscheidung zu treffen. Die herrschende Auffassung wird von Walther11 abgelehnt, der u. a. darauf hinweist, daß Beweise durchaus nicht selten gerade das Gegenteil von dem erbringen, was von ihnen erwartet wird, und auf diese Weise der Versuch eines Gegenbeweises zu einem Hauptbeweis umschlägt. Bedenken gegen die herrschende Meinung werden auch von König12 geäußert.
Bei Erforschung eines Sachverhalts wird der Richter die von ihm zu beurteilenden Tatsachen so ordnen, wie er sie seiner Ansicht nach für die Rechtsanwendung benötigt, und dieses Beweisziel häufig bewußt oder unbewußt bei der Bewertung von Tatsachen berücksichtigen. Geht er davon aus, daß ein bestimmter Vorgang, beispielsweise das Verschulden des Beklagten an einer Vertragsverletzung, vom Beklagten zu widerlegen ist, wird er eher geneigt sein, diesen Tatbestand festzustellen, als wenn nach seiner Meinung der Kläger dafür entsprechende Beweise erbringen muß, also das Verschulden der Gegenpartei positiv darzutun hat13. Nun ergibt sich zwar die Formulierung der Beweisfrage aus dem anzuwendenden Rechtssatz und die Beweislastnormen sind hieran nicht beteiligt14, aber die Beweislastregelung kann rein tatsächlich auf die Beweis- und Verhandlungswürdigung einwirken. Gilt für ein Tatbestandsmerkmal eine Beweislastnorm, die in Zweifelsfällen die Verwirklichung des Merkmals fingiert, dann wird der Richter, auch wenn die Beweisfrage nach dem materiellen Recht anders lautet, in erster Linie darauf achten, ob das betreffende Tatbestandselement nicht erfüllt ist. Denn für seine Rechtsanwendung macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob er die Tatbestandsverwirklichung aufgrund tatsächlicher Feststellungen oder aufgrund einer Beweislastnorm bejaht. Auf diese Weise kann folglich eine irrige Auffassung des Inhalts einer Beweislastregelung zu einem falschen 9
Rosenberg, aaO, S. 67. Vgl. oben S. 19 f. 11 NJW 1972, S. 237f.; gegen ihn Wolfram Weber, NJW 1972, S. 986f. 12 Reinhardt-König, S. 37. 13 Dieses Beispiel ist RGZ 66, 289, 291 f. (9. 7. 07 — II 115/07) entnommen und wird von Rosenberg, Beweislast, S. 68 f., und Blomeyer, ZPR, S. 361, angeführt. 14 Vgl. oben S. 20 N. 132; unten S. 300 ff. 10
60 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Beweisergebnis führen15. In der Revisionsinstanz sind aus diesem Grunde schon häufig Urteile aufgehoben worden16. Lassen sich diese gegenseitigen Wirkungen der Beweislastnormen und der Beweis- und Verhandlungswürdigung ihrem Ausgangspunkt nach verhältnismäßig einfach bestimmen und zuordnen, so gibt es in diesen Bereichen andere Erscheinungen, bei denen die Klärung ihres Standortes und ihres Verhältnisses zur Beweislast und zur Tatsachenwürdigung größere Schwierigkeiten bereitet17. Dies gilt für die gesetzlichen Vermutungen, für den Anscheinsbeweis und für die unter der Bezeichnung „Umkehr der Beweislast" zusammengefaßten Tatbestände. Über ihr Wesen und ihren Inhalt bestehen Meinungsverschiedenheiten; zum Teil ist ihre Qualifizierung als Beweisregel oder Beweislastnorm streitig.
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen Eine Antwort auf die Frage, wie sich die gesetzlichen Vermutungen zur Beweislast und zur Beweis- und Verhandlungswürdigung verhalten, kann nur gegeben werden, wenn man Klarheit über ihre charakteristischen Merkmale und ihre Wirkungsweise gewonnen hat18. Erste Schwierigkeiten ergeben sich dabei durch die im Schrifttum vertretenen unterschiedlichen Auffassungen %um Begriff der Vermutung19. Es ist deshalb nicht möglich, an einen feststehenden Begriff anzuknüpfen, sondern es muß eine Entscheidung zwischen verschiedenen Begriffsabgrenzungen getroffen werden. 15
Rosenberg, aaO, S. 67ff.; Blomeyer, aaO; Lent-Jauernig, S. 165; Bernhardt, JR 1966, S. 327; Kuchinke, Festschrift, S. 132; vgl. auch Guldener, Beweiswürdigung, S. 22 f. 16 Vgl. RGZ 61, 54, 56 (29. 5. 05 — VI 507/04); RGZ 78, 432, 434f. (1. 3. 12. — III 321/11); BGH (9. 7. 59 — VII ZR 149/58) VersR 1959, S. 948, 949; weitere Nachweise bei Rosenberg, aaO, S. 69 f. 17 Die Bemerkung von Rabel, RheinZ 12, S. 442: „In der Rechtshandhabung leben aber offenbar noch viel mehr zwischen Beweiswürdigung und Beweislastnorm schillernde Erscheinungen, die aus ihrem Halbdunkel gezogen und auf Wesen und Berechtigung geprüft werden müssen", ist nach wie vor zutreffend. ls ) Vieles ist im Bereich der gesetzlichen Vermutungen streitig. Im Rahmen dieser Abhandlung kann nur zu solchen Fragen Stellung genommen werden, die eine unmittelbare Bedeutung für das Beweislastproblem haben. 19 Rosenberg, Beweislast, S. 199, spricht von einer „Sprachverwilderung und Begriffsverwirrung". Leipold, S. 76, stellt „weitreichende Unklarheiten und Meinungsverschiedenheiten" in der Lehre von den Vermutungen fest. Diese negativen Aussagen werden bereits durch einen oberflächlichen Vergleich der von den verschiedenen Autoren vorgenommenen Aufzählungen der Vermutungen im BGB bestätigt, die erhebliche Unterschiede aufweisen. Vgl. z.B. Wieczorek2, § 292, Anm. B la; Rosenberg, Beweislast, S. 214ff., 225f.; Leonhard, S. 232ff.; Betzinger, S. 140ff.; Beckh, S. 77ff. Auch die Rechtsprechung verwendet den Begriff der Vermutung in unterschiedlicher Bedeutung (vgl. dazu unten S. 157 ff.).
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
61
Weitgehende Einigkeit besteht in der Unterscheidung zwischen Tatsachenvermutungen und Rechtsvermutungen. Ihr äußeres leicht zu ermittelndes Unterscheidungsmerkmal ist der Gegenstand, auf den sie nach ihrem Wortlaut20 gerichtet sind21. Handelt es sich danach um ein Recht, das vermutet wird, wie z.B. das Eigentum bei § 1006 BGB, so ist die Regelung zu den Rechtsvermutungen zu zählen22. Wird ein tatsächlicher Vorgang vermutet, wie die Übergabe des Hypothekenbriefs bei § 1117 Abs. 3 BGB, dann wird von einer Tatsachenvermutung gesprochen. Allerdings endet mit dieser gemeinsamen Klassifizierung auch die Übereinstimmung der verschiedenen Auffassungen, die in der Vermutungslehre vertreten werden. I. Die widerleglichen Tatsachenvermutungen Es liegt nahe, die Betrachtung der Vermutung bei den Vorschriften zu beginnen, die im Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich als Vermutungen ausgewiesen sind. Dabei fällt auf, daß es unter diesen Vorschriften, die sich auf Tatsachen beziehen23, zwei verschiedene Arten von Regelungen gibt: die eine, die ihre Wirkungen an einen Sachverhalt knüpft, der außerhalb des gesetzlichen Tatbestandes steht, zu dessen tatsächlichen Voraussetzungen die vermutete Tatsache gehört, und die andere, die an solche tatbestandsfremden Voraussetzungen nicht gebunden ist24. Ein Vergleich der beiden Vorschriften des § 125325 und des § 2255 BGB macht diesen Unterschied deutlich. Nach § 2255 Satz l wird ein Testament u.a. dadurch widerrufen, daß der Erblasser in der Absicht, es aufzuheben, die Testamentsurkunde vernichtet. Die Rechtsfolge „Widerruf" (R) tritt also ein, wenn — vereinfacht ausgedrückt — die beiden Tatbestandsstücke „Vernichtung der Testamentsurkunde durch den Erblasser" (a) und „Aufhebungsabsicht" (b) erfüllt sind. Nach § 2255 Satz 2 wird die Aufhebungsabsicht (b) vermutet, wenn der Erblasser die Testamentsurkunde vernichtet (a). In der Vermutungsregelung des Satzes 2 kommen also nur Tatbestandsmerkmale vor, die auch in der Rechtsfolgenorm des Satzes l ent20
Ob dieser Unterschied über den Wortlaut hinausgeht und auch das Wesen erfaßt, ist dagegen wiederum streitig (vgl. dazu unten S. 76 ff.). 21 Rosenberg, aaO, S. 225; Leipold, S. 93. 22 Rosenberg, aaO, S. 228, nennt sie „Rechtszustandsvermutungen", da sie nach seiner Meinung auf einen gegenwärtigen bestehenden Rechtszustand (Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts) gerichtet sind. 23 Das sind die §§ 484, 938, 1117 Abs. 3,1253 Abs. 2,1377 Abs. l und 3,1591 Abs. 2, 1600 m, 1600 o Abs. 2, 2009, 2255 Satz 2 BGB. 24 Es handelt sich dabei um die Regelungen der §§ 484, 1591 Abs. 2, 1600 m und 2255 Satz 2 BGB. Für derartige Vorschriften ist von Unger, II, S. 598 f., die Bezeichnung „Interimswahrheiten" gefunden worden. Die auch bisweilen gebrauchte Bezeichnung „voraussetzungslose Vermutungen" (so Leipold, S. 93) kann zu dem falschen Schluß führen, daß die Wirkungen dieser Rechtssätze überhaupt nicht an bestimmte Voraussetzungen gebunden seien.
62 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung halten sind. Anders verhält es sich dagegen im Fall des § 1253. Nach dem Absatz l dieser Vorschrift erlischt das Pfandrecht, wenn der Pfandgläubiger das Pfand dem Verpfänder oder Eigentümer zurückgibt. In eine Kurzform gekleidet, lautet der Rechtssatz also: Rechtsfolge R (= Erlöschen des Pfandrechts), wenn Tatbestandsmerkmal a (= Rückgabe der Pfandsache durch Pfandgläubiger an Verpfänder oder Eigentümer). Nach § 1253 Abs. 2 wird a vermutet, wenn der Verpfänder oder Eigentümer im Besitz des Pfandes ist. Das Tatbestandsstück „Besitz des Pfandes" (b), wie es in Absatz 2 steht, gehört aber nicht zum Tatbestand des Absatzes 1.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Regelungen ist offensichtlich, über die daraus für den Begriff der Vermutung zu ziehenden Folgerungen ist man jedoch geteilter Meinung. Während die einen26 das wesentliche Kriterium einer Vermutung gerade darin erblicken wollen, daß die Vermutungsbasis, die die Voraussetzungen der Vermutung umfaßt, stets außerhalb des Tatbestandes des anzuwendenden Rechtsfolgesatzes liegt, messen die anderen27 diesem Merkmal keine Bedeutung zu. Eine Stellungnahme zu diesem Meinungsstreit erfordert, zunächst die Wirkungen der Vermutungen zu untersuchen, um klären zu können, ob sich hierbei Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von „Vermutungen" zeigen.
a) Die Wirkungen Will der Richter § 1253 Abs. l anwenden, dann muß er feststellen, ob das Tatbestandsmerkmal „Rückgabe" (a) erfüllt ist. Bejaht er die tatsächlichen Voraussetzungen von a, dann entscheidet er auch positiv über die Rechtsfolge „Erlöschen des Pfandrechts" (R); verneint er diese Voraussetzungen, dann muß er auch die Rechtsfolge R verneinen. Die Vermutung des § 1253 Abs. 2 bleibt in beiden Fällen wirkungslos. Denn im Fall einer positiven Feststellung kommt es auf sie nicht an, bei einer Klärung mit negativem Ergebnis, daß also die Pfandsache vom Pfandgläubiger nicht zurückgegeben ist, muß sie schon deshalb unberücksichtigt bleiben, weil ihr Gegenteil feststeht. Nur wenn die tatsächliche Verwirklichung von a zweifelhaft ist28, kann demnach die Vermutung eingreifen29. Die Ungewißheit über die vermutete Tatsache gehört dementsprechend zu ihren tatbestandsmäßigen Voraussetzungen30. 25
Vgl. dazu auch Rosenberg, Beweislast, S. 202 ff., und Leipold, S. 77 ff. Rosenberg, aaO, S. 203ff.; Leipold, S. 92; Blomeyer, ZPR, S. 335; Henle, S. 352. 27 Leonhard, S. 233, 235; Bruns, S. 271; Wieczorek2, § 292, Anm. AI; Lepa, S. 124f.; Walsmann, ZHR 87, S. 490ff.; Burckhard, S. 212ff., 332ff.; Rüegg, S. 44. 28 Hier wird nur darauf gesehen, ob die für den Tatbestand von a erforderlichen Tatsachen positiv oder negativ feststehen oder ungeklärt sind. Eine gänzlich andere Frage ist es dagegen, ob wegen der Vermutung überhaupt Anlaß besteht, Anstrengungen zur Klärung von Zweifeln auch in Richtung auf eine positive Feststellung zu unternehmen (vgl. dazu unten S. 72 f.). 29 Leipold, S. 80, 100 (oben); Plosz, Festschrift, S. 28. 30 Vgl. auch unten S. 67. 26
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
63
Um zu klären, auf welche Weise die Vermutung die Anwendung des Rechtssatzes trotz Zweifeln an der Verwirklichung seines Tatbestandes ermöglicht, soll noch einmal der Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung am Beispiel des § 1253 Abs. l betrachtet werden31. Wird in einem Rechtsstreit die Tatsache ta eingeführt32, auf die der Tatbestand a zutrifft33, dann ergibt sich: Wenn a, dann R ta = a Für ta gilt R Ist nun zweifelhaft, ob ta besteht, dann kann die Vermutung des § 1253 Abs. 2 die Rechtsfolge des Absatzes l auf zwei Wegen herbeiführen. Einmal kann sie direkt in den Obersatz eingreifen und bestimmen „a ist"; dann wäre auch die Rechtsfolge R damit gegeben. Auf die Tatsache ta käme es nur insofern an, als Zweifel an ihrer Existenz die Vermutungswirkung auslösten34. Die Vermutung kann aber auch anordnen, daß ta als existent zu gelten habe; in diesem Fall würde sie den Untersatz des Syllogismus beeinflussen und lediglich im tatsächlichen Bereich wirken. Wenn die Vermutung den Tatbestand a ohne Rücksicht auf den wirklichen Geschehensablauf als gegeben vorschriebe, würde sie das materielle Recht in dem Fall verändern, in dem im Gegensatz zu ihrer Anordnung der Pfandgläubiger das Pfand nicht zurückgegeben hätte, das Pfandrecht also noch nicht erloschen wäre. Auf diese Weise gewänne das Ergebnis richterlicher Tatsachenfeststellung Bedeutung für das materielle Recht, weil die Vermutung nur bei prozessualen Zweifeln an der vermuteten Tatsache wirksam werden könnte. Dagegen bliebe die irrtümliche Annahme der vermuteten Tatsache ohne materiell-rechtliche Folgen35. Zu Ende gedacht, müßte man zu dem Schluß kommen, daß es in Fällen, in denen der Tatbestand der Vermutung feststeht, für eine Partei, die sich auf § 1253 Abs. l beruft, günstiger wäre, wenn der Richter an den tatsächlichen Vorausset31
Vgl. auch oben S. 7 f. In Verfahren, in denen die Verhandlungsmaxime gilt, geschieht dies aufgrund entsprechender Parteibehauptungen, im Fall des Untersuchungsgrundsatzes auch durch das Gericht. 33 Das heißt also, daß die Rückgabe des Pfandes in dem zur Entscheidung gestellten Fall erfolgt ist. 34 Der Zweifel an der Richtigkeit einer Tatsache würde auf diese Weise zu einem eigenständigen Tatbestandsmerkmal, an das die Rechtsfolge anknüpfte; Diederichsen, VersR 1966, S. 212 (III). 35 Anders wäre es nur, wenn die Ansicht der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie zuträfe und ein unrichtiges Urteil die Rechtslage nach seinem Inhalt umgestalten würde. Diese Meinung ist aus den von den Vertretern der prozessualen Rechtskrafttheorie genannten Gründen abzulehnen (vgl. Rosenberg-Schwab, § 152 II — S. 825ff.; SchönkeKuchinke, S. 348ff.; Baumbach-Lauterbach, Einf. zu §§ 322—327, Anm. 2, jeweils mit weiteren Nachweisen; H. E. Gaul, AcP 168, S. 55). Dieses Problem kann hier nicht näher behandelt werden. Eingehend dazu Bruns, S. 388ff., mit einem Überblick über die dogmengeschichtliche Entwicklung auf S. 397—401. 32
64 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Zungen dieses Rechtssatzes zweifelte, als wenn er von der Rückgabe des Pfandes überzeugt wäre. Denn diese Überzeugung des Richters würde das Eingreifen der Vermutung und die damit möglicherweise verbundene Veränderung des materiellen Rechts verhindern, die der Partei vorteilhaft wäre. Wegen dieser Konsequenzen, die das Verhältnis der Vermutung zu dem dazugehörenden Rechtsfolgesatz gleichsam auf den Kopf stellen, sind solche materiell-rechtlichen Wirkungen der Vermutungen auszuschließen; sie werden auch — soweit ersichtlich — nirgends ausdrücklich36 bejaht. Plosz37, der in den Vermutungen materielle Rechtssätze sieht, die nur eine besondere Form der Gesetzestechnik darstellen38, geht von einem völlig anderen Ausgangspunkt an diese Frage heran. „Das Gesetz stellt nach dieser Auffassung auch im Falle einer gesetzlichen Vermutung eigentlich zwei Tatbestände für eine bestimmte Rechtsfolge auf. Den einen, nämlich den vermuteten Tatbestand, unbedingt den anderen aber, welcher die Prämisse der Vermutung bildet (die Ausgangstatsache), nur als einen mit der Ausnahme belasteten Tatbestand, daß die Rechtsfolge nicht eintritt, wenn die vermutete Tatsache sich nicht ereignet hat"39. Nach dieser Ansicht hätte § 1253 Abs. 2 Satz l folgenden materiellen Inhalt: Das Pfandrecht erlischt, wenn das Pfand im Besitz des Veipfänders oder Eigentümers ist, es sei denn, daß es nicht vom Pfandgläubiger zurückgegeben worden ist40. Leipold41 hat überzeugend nachgewiesen, daß diese Vorschrift materiellrechtlich gegenüber Absatz l überflüssig wäre, da sie die Rechtsfolge wie Absatz l an die Rückgabe (nur negativ gefaßt) und zusätzlich noch an den Besitz der Pfandsache knüpfte.
Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß § 1253 Abs. 2 — und für die übrigen Vorschriften dieser Gruppe42 gilt das gleiche — auf der Ebene tatsächlicher Feststellungen wirkt. Diese Erkenntnis läßt aber die Frage offen, in welcher Form solche Wirkungen herbeigeführt werden. Denn die Ersetzung ungeklärter tatsächlicher Voraussetzungen von Tatbestandsmerkmalen kann in zweifacher Weise erreicht werden: durch die Anordnung einer prozessualen Tatsachenfeststellung oder durch eine Fiktion nach Art von Beweislastnormen43. Träfe die erste Alternative zu, dann würden die Vermutungen zur „Feststellung der Wahrheit oder der Unwahrheit einer Behauptung ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung"44 führen. 36
Die Bemerkungen Leipolds, S. 86 (unten) und 100 (oben), scheinen auf eine gegenteilige Ansicht hinzudeuten, seine Auffassung der Vermutungen als Beweislastnormen (S. 85 ff.), für die er an anderer Stelle ausdrücklich ein Eingreifen in das materielle Recht verneint (vgl. S. 61 ff.), spricht für eine Übereinstimmung mit der hier vertretenen Meinung. Vgl. aber auch unten S. 71 f. 37 Festschrift, S. Iff. 38 AaO, S. 9, Hf., 21. 39 AaO, S. 9. 40 Vgl. Leipold, S. 77. 41 S. 78. 42 Vgl. oben N. 23 f. 43 Vgl. oben S. 22 f. 44 Rosenberg-Schwab, § 113 VI 2 (S. 592).
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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Es handelte sich dann bei ihnen um Beweisregeln45. Im zweiten Fall würden die Vermutungen die Zweifel über die tatsächlichen Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmales bestehen lassen und lediglich die Anwendung des Rechtssatzes ermöglichen, zu dem das Tatbestandsmerkmal gehört. Mit dieser Fragestellung gelangt man zu einem der strittigsten Punkte der Vermutungslehre46. Die zunächst recht bestechend wirkende Feststellung von Brauer-Schneider*7, die Vermutungen „sagen dem Richter nicht, welche Überzeugung er haben soll, sondern ordnen an, wie zu entscheiden ist, wenn er keine hat", hilft in dieser Frage nicht weiter. Daß der Gesetzgeber den Richter nicht zwingen kann, überzeugt zu sein, bedarf keiner Erklärung48. Es geht in jedem Fall um die rechtlichen Wirkungen, also ob der Richter sich so zu verhalten hat, als wäre er von der Richtigkeit einer Tatsache überzeugt (Beweisregel) oder ob er unabhängig von der Wahrheit oder Unwahrheit tatsächlicher Behauptungen das Recht anwenden soll (Beweislastnormen). Die Fiktion einer Feststellung von Tatsachen als Inhalt der Beweislastnorm bringt gerade zum Ausdruck, daß die Frage der Richtigkeit der Tatsache dabei als unerheblich offengelassen wird. Welche erheblichen praktischen Auswirkungen diese Unterscheidung hat, war bereits oben49 nachgewiesen worden.
Weder aus den Vorschriften des BGB noch aus den für Vermutungen geltenden Regelungen der ZPO läßt sich ein überzeugendes Argument für die eine oder andere Auffassung herleiten. Im BGB fehlt überhaupt jede Regelung der Vermutungswirkung. § 198 des ersten Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, der bestimmte, daß eine vermutete Tatsache für erwiesen gelte, wurde zusammen mit den anderen Bestimmungen des Abschnitts, die Beweislastregelungen enthielten50, wieder gestrichen. An seine Stelle sollte ein neuer § 264 a in die ZPO eingefügt werden, durch den festgelegt werden sollte, daß vermutete Tatsachen keines Beweises bedürfen51. Schließlich erhielt diese Vorschrift die Fassung des späteren § 292 ZPO52. § 292 ZPO geht in seinem Satz l von der Unterscheidung zwischen widerleglichen Tatsachenvermutungen als Normalfall und unwiderleglichen Tatsachenvermutungen aufgrund entsprechender gesetzlicher Anordnungen aus63. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann der Beweis des Ge45
Rosenberg-Schwab, aaO; Rosenberg, Beweislast, S. 220. Vgl. die eingehende Literaturübersicht bei Leipold, S. 80—82 N. 18—38, und unten S. 71 N. 84. 47 S. 151. 48 Vgl. Mezger, S. 164. 49 Vgl. S. 24f. 50 Vgl. unten S. 277 f. 51 Protokolle zum BGB, I, S. 264. 52 Als § 264a durch Gesetz betr. Änderung der Civilproceßordnung vom 17. 5. 1898 (RGB1. S. 256) eingefügt und durch die Neubekanntmachung der ZPO von 1898 zu § 292 geworden. Durch Novelle vom 27. 10. 1933 (RGB1. I S. 780) ist dann die vorher vorgesehene Eideszuschiebung durch den Antrag auf Parteivernehmung ersetzt worden. 53 Vgl. Hedemann, S. 129ff. 46
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Musielak, Beweislast
66 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
genteils einer vermuteten Tatsache auch durch Antrag auf Parteivernehmung nach § 445 ZPO geführt werden. Diese Bestimmung könnte darauf hindeuten, daß der Gesetzgeber in den Vermutungen beweislastregelnde Rechtssätze gesehen hat, weil nach § 445 Abs. l der Antrag auf Parteivernehmung nur von der feststellungsbelasteten Partei gestellt werden darf. Zumindest mit gleicher Berechtigung läßt sich aber § 292 Satz 2 auch als eine Sonderregelung für Vermutungen auffassen, die ohne Rücksicht auf die Feststellungslast und den in § 445 Abs. l enthaltenen Grundsatz gelten soll. Daß der Beweis des Gegenteils einer vermuteten Tatsache durch Parteivernehmung trotz des § 445 Abs. 2 ZPO zulässig sein soll, rechtfertigt nicht den Schluß, daß der Gesetzgeber die vermutete Tatsache nicht für be weis schaffend angesehen hat54. Diese Vorschrift, nach der ein Antrag auf Parteivernehmung nicht zu berücksichtigen ist, wenn er Tatsachen betrifft, deren Gegenteil das Gericht für erwiesen erachtet, ist zu entnehmen, daß der Gesetzgeber den Beweiswert von Parteivernehmungen für recht zweifelhaft ansah55; die Parteivernehmung wird nicht für geeignet gehalten, die auf andere Weise gewonnene Überzeugung des Richters wieder zu erschüttern. Hätte die Vermutung eine beweisherstellende Wirkung und würde sie die Überzeugung des Richters binden, so ergäbe sich aus § 292 Satz 2 für die hier behandelte Frage allenfalls, daß der Gesetzgeber den Wert des durch die Vermutung geschaffenen Beweises nicht höher als den Be weis wert einer Partei Vernehmung einstufte56. Der Begriff „erwiesen" in § 445 Abs. 2 würde bei einem solchen Verständnis der Vermutung nicht den durch sie herbeigeführten Beweis umfassen57. Andere Erkenntnisse, die für die Qualifizierung der Vermutungswirkung bedeutsam sind, lassen sich aus diesen Regelungen nicht gewinnen58. Das gilt auch für die Feststellung, daß gegen eine vermutete Tatsache der Beweis des Gegenteils zu erbringen ist, während gegen Tatsachen, die der Richter als bewiesen ansieht, der Gegenbeweis ausreicht, der nur zu einer Erschütterung der richterlichen Überzeugung, d.h. zu Zweifeln an der bewiesenen Tatsache zu führen braucht59. Dieser Unterschied findet seine 54
So aber Rosenberg-Schwab, § 125 III (S. 657). Leipold, S. 85. 66 Deshalb braucht hier nicht der Frage nachgegangen zu werden, ob nicht überhaupt schon deshalb eine Kollision zwischen Beweis und Vermutung ausgeschlossen ist, weil bei positiver oder negativer Klärung der vermuteten Tatsache die Vermutungswirkungen verdrängt werden (vgl. dazu oben S. 62 und die folgenden Ausführungen). 57 Dies räumt auch Leipold, aaO, ein, der jedoch zu einer anderen Schlußfolgerung gelangt; vgl. die folgende N. 58 Dagegen meint Leipold, S. 85, der Gesetzgeber habe dadurch, daß er der Vermutung nicht den gleichen „Schutz" gegeben habe, den er sonst einem Beweis gegen die Widerlegung durch Parteivernehmung gewährt, zum Ausdruck gebracht, daß er den gesetzlichen Vermutungen keine beweisende Wirkung zugestehen wollte. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Überlegungen Rosenbergs, Beweislast, S. 220. 59 Vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 219f., der diesen Unterschied als bedeutsam für die hier behandelte Frage ansieht. 55
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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Erklärung in dem Wesen der Vermutung selbst und ist nicht geeignet, die Unmöglichkeit einer Gleichstellung von bewiesenen und vermuteten Tatsachen aufgrund einer entsprechenden Wirkung der Vermutungen zu begründen. Das Ziel eines Beweises, der das Gegenteil der vermuteten Tatsache dartun soll, ist die Klärung der tatsächlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmales, wenn auch in negativer Hinsicht60. Gelingt dieser Beweis, dann greift die Vermutung nicht ein61, mißlingt er, vermag er also den Richter von dem Gegenteil der vermuteten Tatsache nicht zu überzeugen, und wird auch nicht die vermutete Tatsache positiv festgestellt, dann wirkt die Vermutung mit der Folge, daß der Richter die vermutete Tatsache seinem Urteil zugrundelegen muß. Zweifel an der vermuteten Tatsache sind also gerade Voraussetzung für die Vermutungswirkung. § 1600oAbs.2 Sat%2BGB macht hiervon keine Ausnahme62. Durch diese Vorschrift werden nur die an den Beweis des Gegenteils zu stellenden Anforderungen vermindert. Dieser ist bereits erbracht, wenn „schwerwiegende Zweifel" an der Vaterschaft bestehen. Durch die im Gesetz nicht näher erläuterte Wendung „schwerwiegende Zweifel" wird nicht etwa die rein subjektive Einstellung des Richters, sondern ein objektiv zu bestimmender Wahrscheinlichkeitsgrad bezeichnet93, der 60
So auch Plosz, Festschrift, S. 4f.: „Die der Vermutung entgegengesetzte begründende Tatsache aber muß nicht darum bewiesen werden, weil ihr die Vermutung widerspricht, sondern sie ist zu beweisen, wie eine jede andere Tatsache, aus dem Grunde, weil nur bewiesene Tatsachen als Urteilsgrundlage verwendet werden können". 91 Deshalb ist es zumindest unpräzis, diesen Beweis als Beweis zur Widerlegung der Vermutung anzusehen. Denn mit gleicher Berechtigung könnte man dann davon sprechen, daß der Beweis, den die feststellungsbelastete Partei zur positiven Klärung von tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtssatzes führt, die Beseitigung der Wirkungen von Beweislastnormen zum Ziel hat. Dies hieße aber, Grund und Folge zu verwechseln. Grund — im Sinne von Anlaß — des Beweises ist in beiden Fällen die Klärung von Tatsachen, Folge des Mißlingens der Eintritt bestimmter Rechtswirkungen. 62 Anders dagegen Leipold, FamRZ 1973, S. 70, der meint, daß zum Unterschied zu anderen Vermutungen § 1600 o Abs. 2 nicht in jedem Fall eines non liquet zur Feststellung der vermuteten Tatsache führe, sondern nur, wenn keine schwerwiegenden Zweifel an der Vaterschaft beständen (ebenso BGH — 26.6.74 — IVZR 177/73 — NJW 1974, S. 2046,2047). Das Fehlen schwerwiegender Zweifel kann aber ebensowenig zur Voraussetzung der Vermutungswirkung erhoben werden wie bei anderen Vermutungen das Nichtvorhandensein von Tatsachen, die das Gegenteil der vermuteten Tatsache ergeben. Zur Begründung ist auf die oben gemachten Ausführungen zu verweisen. Eine ganz andere Frage ist es dagegen, unter welchen Voraussetzungen „schwerwiegende Zweifel" zu bejahen sind (vgl. BGH, aaO und die unten N. 67 zitierten Entscheidungen). 43 Vgl. Hermann Lange, NJW 1970, S. 300; Glage, NJW 1970, S. 1223f.: PalandtLauterbach32, § 1600 o, Anm. 2. Anders dagegen BGH (6. 6. 73 — IV ZR 164/71) NJW 1973, S. 1924, 1925f.; das Gericht meint, es müsse der Beurteilung des Tatrichters überlassen bleiben, welches Irrtumsrisiko noch in Kauf genommen werden könnte, und wertet die medizinisch-naturwissenschaftlichen Methoden der Vaterschaftsfeststellung (vgl. dazu unten N. 345) als den Tatrichter nicht bindende Anhaltspunkte, die lediglich dazu dienen könnten, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu fördern. Diese und die
68 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung jedoch unter der „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" liegt'4, die sonst von der herrschenden Meinung für die prozessuale Feststellung von Tatsachen im allgemeinen gefordert wird65. Welcher Grad dies ist, darüber gehen die Auffassungen auseinander66. Eine Erklärung dieser Frage ist von der gerichtlichen Praxis zu erwarten67. Wenn Glage68, und Reinheimer69 meinen, daß wegen der verminderten Wahrscheinlichkeitsanforderungen bei § 1600o kein Beweis des Gegenteils verlangt werde70, dann verkennen sie, daß die Frage, wann eine Tatsache prozessual als festgestellt anzusehen ist, davon abhängt, ob der vorgeschriebene Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht wird71. Würde beispielsweise nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit verlangt werden, dann wäre bereits bei einer 50 Prozent übersteigenden Wahrscheinlichkeit eine Tatsache im Sinne des Prozeßrechts festgestellt und folglich das Gegenteil einer Vermutung bewiesen.
Die unterschiedlichen Anforderungen an den Beweis zur Widerlegung bereits erwiesener Tatsachen und an den Beweis, durch den der Richter vom Gegenteil der vermuteten Tatsache überzeugt werden soll, zeigen deshalb nur den rein tatsächlichen Unterschied zwischen Vermutung und Beweis, einen Hinweis auf die rechtlichen Wirkungen der Vermutung vermögen sie nicht zu geben. anderen Ausführungen in der Entscheidung zeigen, daß das Gericht das Verhältnis von richterlicher Überzeugung und Wahrscheinlichkeit verkennt (vgl. dazu unten S. 116 ff.). Daß es nicht allein der subjektiven Einstellung des Tatrichters anheim gegeben werden kann, wann aufgrund wissenschaftlich fundierter Beweise von „schwerwiegenden Zweifeln" auszugehen ist, zeigt die Entscheidung des BGH vom 21. 9. 73 (IV ZR 136/72 — NJW 1973, S. 2249, 2250). Kritisch zu beiden Entscheidungen Ankermann, NJW 1974, S. 584ff. 64 BGH, NJW 1973, S. 1925; BGH, NJW 1973, S. 2250 (beide vorige N.); BayObLG (9. 5. 73 — BReg. l Z 114/72) FamRZ 1973, S. 463, 464f.; vgl. auch Begründung der Bundesregierung, BT-Drucks. V/2370, S. 38. 65 Vgl. unten S. 116. 66 Vgl. Grunsky, Standesamt 1970, S. 251 f.; Hummel, FamRZ 1969, S. 21; Reinheimer, FamRZ 1970, S. 124; Göppinger, DRiZ 1970, S. 146; Kumme, ZblJugR 1973, S. 224ff.; Odersky, § 1600 o, Anm. III3. 67 Vgl. BGH (5.12.73—IVZR77/72) NJW 1974, S.606 (vgl.dazuH. Maier,NJW1974, S. 1427); OLG Düsseldorf (9. 11. 70 — 3 U 87/70) FamRZ 1971, S. 377; OLG Düsseldorf (16. 3. 17 — 3 W 44/71) FamRZ 1971, S. 380; OLG Düsseldorf (29. 3. 72 — 3 U 75/71) DA Vorm. 1972, Sp. 281.; OLG Köln (2. 2. 72 — 16 U 150/71) NJW 1972, S. 1140; OLG Karlsruhe (16. 3. 72 — 4 U 140/71) FamRZ 1972, S. 524, 526; OLG Nürnberg (14. 6. 71 — 5 U 56/70) FamRZ 1972, S. 219, 221; s. auch BGH (5.12. 73 — IV ZR 77/72) MDR 1974, S. 475; OLG Köln (24. 5. 72 — 16 U 204/71) NJW 1973, S. 562. Die bisherige Rechtsprechung zeigt noch kein einheitliches Bild. Sie orientiert sich meist am Einzelfall (vgl. BayObLG, FamRZ 1973, S. 465 — oben N. 64) und trifft bald „kindesfreundliche", bald „vaterfreundliche" Entscheidungen (vgl. Leipold, FamRZ 1973, S. 65f., 70f.; Kumme, ZblJugR 1973, S. 225f.; jeweils mit Nachweisen). 68 AaO, S. 1223. 69 AaO. 70 Ähnlich auch die Begründung der Bundesregierung, aaO (oben N. 64), S. 37 (rechte Spalte, unten). 71 Vgl. dazu unten S. 119.
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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Kann weder nach den im Gesetz ausdrücklich für Vermutungen getroffenen Regelungen noch nach den Vermutungswirkungen selbst eine der beiden Möglichkeiten — die Bindung richterlicher Überzeugung oder die fingierte Ersetzung tatsächlicher Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmals — ausgeschlossen werden, so bleibt nur noch, eine Entscheidung aufgrund der allgemeinen das Zivilprozeßrecht beherrschenden Grundsätze und den darin zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers zu suchen. Die Entstehungsgeschichte der ZPO ist dabei zur Erforschung der gesetzgeberischen Absichten von besonderer Bedeutung. Zur Zeit der Arbeiten an der Zivilprozeßordnung wurde das Rechtsinstitut der Vermutung von zwei verschiedenen Standpunkten aus gesehen72: als eine die richterliche Ermessenstätigkeit bindende Regelung von der legalen Beweistheorie und als Beweislastregel von der Präsumtionstheorie73. Die Abschaffung der legalen Beweistheorie war das erklärte Ziel des Gesetzgebers der ZPO74. Die Beweislastfrage sah er dagegen als materiell-rechtlich an, die seiner Regelungsbefugnis entzogen und deshalb auszuklammern war75. Da durch die Vermutungen nach seiner Auffassung sowohl der Bereich der Beweiswürdigung als auch das Gebiet der Beweislast berührt wurden, war insoweit eine Trennung vorzunehmen. Aus praktischen Gründen war es jedoch nicht möglich, die Vielzahl der im Landesrecht vorkommenden Vermutungen in Beweisregeln, die abzuschaffen waren, und Beweislastbestimmungen, die fortgalten, zu scheiden76. Deshalb mußte eine allgemeine Grundsatzregelung getroffen werden; sie wurde in die §§14 und 16 des Gesetzes betreffend die Einführung der Civilproceßordnung vom 30. Januar 187777 in folgender Fassung eingefügt: § 14: „(1) Die proceßrechtlichen Vorschriften der Landesgesetze treten für alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ... außer Kraft ... (2) Außer Kraft treten insbsondere: (3) die Vorschriften, nach welchen unter bestimmten Voraussetzungen eine Tatsache als mehr oder minder wahrscheinlich anzunehmen ist." § 16: „Unberührt bleiben: 1. die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, nach welchen unter bestimmten Voraussetzungen eine Tatsache unter Ausschließung des Gegenbeweises oder bis zum Beweis des Gegenteils als gewiß anzusehen ist. Insoweit der Beweis des Gegenteils zulässig ist, kann dieser Beweis auch durch Eideszuschiebung nach Maßgabe der §§ 41 Off. der Zivilproceßordnung geführt werden". 72 73 74 75 76 77
Vgl. Hedemann, S. 117f. Vgl. unten S. 270 f. Vgl. Patermann, S. 167ff. Vgl. Materialien zur CPO, II, S. 270 f. Hedemann, S. 118. RGB1. S. 244.
70 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Dieser Regelung ist zu entnehmen, daß Vermutungen, wenn und soweit sie prozeßrechtliche Wirkungen hatten, d.h. Einfluß auf die Tatsachenwürdigungen des Richters nahmen, aufgehoben werden sollten, während Vermutungen mit beweislastregelnder Funktion — aus Gründen fehlender Kompetenz, wie man meinte — unberührt blieben78. Diese Entscheidung läuft im Ergebnis auf ein Verbot hinaus, im Geltungsbereich der ZPO durch eine beweisherstellende Wirkung von Vermutungen die Überzeugung des Richters zu binden. Für die Wirksamkeit dieses Verbotes im geltenden Recht kommt es nicht darauf an, ob der Gesetzgeber der ZPO alle im Zusammenhang mit den Vermutungen auftretenden Fragen richtig erkannt und insbesondere auch die Möglichkeit gesehen hat, daß die von ihm als Beweislastregeln gewerteten Vermutungen auch beweisschafFende Wirkungen haben können. Denn „der dem Gesetz einverleibte Sinn kann auch reicher sein als alles das, was sich die Gesetzesverfasser bei ihrer Arbeit gedacht haben"79. Es gilt, mit Hilfe der im Gesetz grundsätzlich getroffenen Wertentscheidungen den objektivierten Willen des Gesetzgebers aufzusuchen80 und auf dieser Grundlage zu einer Lösung zu gelangen. Wird das in der ZPO verankerte Prinzip freier richterlicher Tatsachenwürdigung bei der Auswahl zwischen den beiden denkbaren Wirkungsweisen von Vermutungen, der Anordnung einer prozessualen Tatsachenfeststellung und der Fiktion von Tatsachen zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmales, genügend berücksichtigt, dann muß das Ergebnis dem entsprechen, das aus der Vorschrift des § 14 Abs. 2 Nr. 3 EGZPO bereits abgeleitet worden ist. Man mag über die richtige Auslegung dieser Vorschrift streiten81 und auch eine ausdrückliche Regelung der Vermutungswirkungen in der ZPO vermissen82, letztlich kann der hier eingeschlagene Weg nur zu der folgenden Erkenntnis führen: bei zwei für sich betrachtet gleichwertigen Mitteln, denselben Erfolg herbeizuführen, nämlich die Anwendung eines Rechtssatzes trotz Zweifeln an seinen tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen, wird im Geltungsbereich der ZPO die Entscheidung immer zu Gunsten des Mittels fallen müssen, das die Freiheit der richterlichen Überzeugung unangetastet 78
So auch Hedemann, S. 119ff.; Kroll, S. 294; Endemann, Civilprozess, S. 526f.; a. A. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 470 f. N. 5; Wendt, AcP 63, S. 291. Folgerichtig ist dann auch bei den Vorbereitungen einer reichsgesetzlichen Regelung des bürgerlichen Rechts eine die Vermutungen betreffende Vorschrift in den ersten Entwurf eines BGB, und zwar in den überwiegend Beweislastbestimmungen enthaltenden 10. Abschnitt des 1. Buches aufgenommen worden. Daß dieser Abschnitt dann insgesamt wieder gestrichen wurde, geschah nicht aus Gründen, die für die hier behandelte Frage wesentlich sind (vgl. unten S. 278). 79 Engisch, Einführung, S. 90. So schon Wach, Handbuch, S. 258: „Das Gesetz kann einsichtiger sein als der Gesetzgeber." 80 BVerfGE l, 299,312 (21. 5. 52 — 2 BvH 2/52); BVerfGE 11,126,130f. (17.5. 60 — 2 BvL 11/59, 11/60). Vgl. auch Arndt, NJW 1963, S. 1273. 81 Vgl. die in N. 78 Zitierten. 82 Hedemann, S. 127 (unten), nennt das Fehlen einer solchen Regelung unentschuldbar.
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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läßt83. Deshalb kann die Wirkung der Vermutungen nur in der Fiktion von Tatsachen gesehen werden, weil allein diese Möglichkeit der ZPO und dem in ihr enthaltenen Grundsatz freier richterlicher Tatsachenwürdigung entspricht84.
b) Das Verhältnis %u den Beweislastnorwen Mit dieser Entscheidung ist aber keinesfalls zwangsläufig die Gleichstellung der Vermutungen mit den Beweislastnormen verbunden. Neben der bei Erörterung dieses Problemkreises anzutreffenden Alternative, zwischen Beweisregel und Beweislastbestimmung zu wählen85, gibt es noch die dritte Möglichkeit, die Vermutungen als Rechtserscheinungen eigener Art anzusehen, wenn erhebliche Unterschiede zwischen ihnen und den Beweislastnormen einer Zusammenfassung entgegenstehen. Ziel und Mittel der Vermutungen86 und der Beweislastnormen sind gleich; durch die Fiktion der Feststellung von Tatsachen wird die Anwendung von Rechtssätzen ermöglicht, deren tatsächliche Voraussetzungen nicht feststehen87. Die durch die Vermutung herbeigeführte Fiktion bezieht sich in gleicher Weise wie bei Beweislastnormen88 nicht auf eine konkrete Sachverhaltsdarstellung in ihren Einzelheiten, sondern auf den zur tatsächlichen Verwirklichung des Tatbestandselementes notwendigen Kern. Der von Leipold89 daraus gezogenen Schlußfolgerung, daß deshalb die Wirkung der Tatsachenvermutung „nicht auf dem Feld der Tatsachenfeststellung, sondern auf dem der Rechtsfolge-Entscheidung" liegt, kann nicht zugestimmt werden. Ein Unterschied zu den Beweislastnormen besteht 83
Ähnlich auch Warlo, S. 12f. Als Beweislastregel wird die Vermutung angesehen von: Rosenberg, Beweislast, S. 216f.; Rosenberg-Schwab, § 117 14 (S.607); Leipold, S. 89f.; Stein-Jonas-SchumannLeipold, § 292, Anm. 14 b (S. 1189 f.); Baumgärtel, 2PR, S. 126 (Nr. 12); Grunsky, S. 361; Lukas, ZZP, S. 77, 80; Hedemann, S. 252 (unter Betonung des Unterschieds zu der allgemeinen Beweislastregel; aaO, S. 255ff.; vgl. dazu unten S. 73; Lent-Jauernig, S. 168; Wieczorek2, § 292, Anm. A; Nikisch, ZPR, S. 322; Moser, S. 93; Schmeling, S. 41 f., 104ff.; Lepa, S. 123; Beckh, S. 75, 89f.; von Greyerz, S. 70; Korsch, S. 4; Hanausek, S. 21; von Seuffert-Walsmann, § 283, Anm. 3 (S. 469), § 292, Anm. l (S. 485); Kroll, S. 294, 296; Warlo, S. lOff.; Kühn, S. 99 (unklar aber S. 100); Auer, S. 43. Als Beweisregel wird die Tatsachenvermutung dagegen aufgefaßt von: Wendt, AcP 63, S. 288; Leonhard, S. 237; Kasparek, S. 105; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 469f.; von Tuhr-Siegwart, I, S. 155; Johannssen, S. 83ff.; Siegrist, S. 216. 85 Vgl. z.B. Rosenberg-Schwab, § 117 14 (S. 607 oben); Leipold, S. 80; Auer, S. 43; s. aber auch unten N. 97. 86 Die Erörterung bleibt zunächst auch weiterhin auf die Gruppe von Vorschriften beschränkt, zu der § 1253 Abs. 2 gehört. Vgl. oben N. 23. 87 Für die Beweislastnormen wurde dies oben S. 21 ff. nachgewiesen. 88 Vgl. oben S. 23f. 89 S. 86. 84
72 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung insoweit nicht; für diese bejaht aber Leipold90 selbst, daß ihre Wirkungen sich im tatsächlichen Bereich ergeben.
Bei dem Inhalt der Tatbestände endet aber die Übereinstimmung. Zwar ist sowohl bei der Vermutung als auch bei der Beweislastnorm tatbestandsmäßige Voraussetzung die prozessuale Ungewißheit über die zur Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmales erforderlichen Tatsachen (x); doch kommt bei den Vermutungen als zusätzliche Voraussetzung die Vermutungsbasis hinzu (y). Der Tatbestand der Vermutung ist nach dieser Betrachtungsweise zweigliedrig (x + y), während der einer gewöhnlichen Beweislastnorm91 nur das Merkmal x aufweist92. Die Vermutung ist gegenüber der Beweislastnorm die speziellere Vorschrift, die sie verdrängt und eine Regelung trifft, die der durch die Beweislastnorm getroffenen Anordnung entgegengesetzt ist93. Am Beispiel des § 1253 BGB läßt sich dieses Verhältnis von Vermutung und Beweislastnorm erläutern. Ist ta, eine a (Rückgabe des Pfandes) ausfüllende Tatsache, ungeklärt, dann macht die zu a gehörende Beweislastnorm aus dem „ta möglicherweise ja, möglicherweise nein" ein „ta nein", so daß der Richter a und damit die Rechtsfolge R (Erlöschen des Pfandrechts) verneinen muß. Wenn in diesem Fall aber die tatsächlichen Voraussetzungen der Vermutungsbasis des § 1253 Abs. 2 (Besitz des Pfandes durch Verpfänder oder Eigentümer) gegeben sind, dann wird aufgrund der Vermutungswirkung aus dem „ta möglicherweise ja, möglicherweise nein" ein „ta ja"; a und R sind dann vom Richter zu bejahen94. Bestehen Zweifel an dem Sachverhalt der Vermutungsbasis, dann greift auch wie sonst bei Ungewißheit über die tatsächliche Verwirklichung eines Rechtssatzes eine Beweislastnorm ein, die hier zu einer Verneinung der Verwirklichung des Tatbestandes führt, so daß die Vermutung nicht wirksam werden kann, es vielmehr bei der Regelung der Beweislastnorm bleibt. Kein Unterschied im Wesen von Vermutung und Beweislastnorm, sondern lediglich eine Erscheinung praktischer Prozeßökonomie ist es dagegen, daß ein Beweis zur positiven Klärung der vermuteten Tatsachen 90 91
S. 64f., 66.
In Ausnahmefällen kommen allerdings auch Beweislastnormen vor, in deren Tatbestand noch weitere Merkmale enthalten sind (vgl. dazu unten S. 187f.). Sie unterscheiden sich von den Vermutungen aber dadurch, daß dieses zusätzliche Merkmal zumindest nicht vollständig außerhalb des Tatbestands des Rechtssatzes Hegt, auf das sich die Beweislastnorm bezieht (zu diesem Merkmal der Vermutungen vgl. unten S. 73ff.). 92 Auf diesen Unterschied weist auch Leipold, S. 100, hin. 93 Sieht man die Wirkungen der Vermutungen aus der Sicht der Parteien und vergleicht sie mit der durch die Beweislastnormen getroffenen Anordnung, dann kann von einer „Umkehr" der Feststellungslast gesprochen werden; so Bruns, S. 282; BlomeyerZPR, S. 334 (unten); vgl. auch Rosenberg, Beweislast, S. 217. 94 Eine besondere Subsumtion von ta unter a wird durch die Vermutung in gleicher Weise wie bei Beweislastnormen (vgl. oben S. 24) überflüssig gemacht (vgl. unten S. 81).
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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nicht erhoben wird, wenn die Verwirklichung der Vermutungsbasis feststeht. Es wird davon ausgegangen, daß dieser Beweis kein anderes Ergebnis erbringen kann, als durch die Vermutung vorgeschrieben ist; deshalb vertritt man allgemein die Meinung95, daß vermutete Tatsachen nicht des Beweises bedürfen96. Diese Darstellung der Übereinstimmungen und Unterschiede von Beweislastnorm und Tatsachenvermutung zeigt ihre enge Verwandtschaft, die eine Zusammenfassung unter einem einheitlichen Oberbegriff, nicht aber eine undifferenzierte Gleichstellung rechtfertigt. Als ein solcher Oberbegriff wird im neueren Schrifttum die Bezeichnung „Beweislastnorm" oder „Beweislastregel" im Hinblick auf die Vermutungen überwiegend verwendet97, vornehmlich um eine Abgrenzung zur Beweisregel durchzuführen, nicht aber um eine Identität zu bejahen98.
c) Der Begriff Die aus der Betrachtung des Wesens und der Wirkungsweise von Vermutungen gewonnenen Erkenntnisse bieten eine ausreichende Grundlage für die Lösung der am Ausgangspunkt dieser Erörterung stehenden Frage99, ob sämtliche im BGB als Vermutungen ausgewiesenen Vorschriften zu Recht unter diesen Begriff einzuordnen sind oder ob es sich bei einigen von ihnen um allgemeine Beweislastnormen handelt. Der Unterschied zwischen Vermutungen und Beweislastnormen ist darin gefunden worden, daß die einen — die Vermutungen — einen zweigliedrigen Tatbestand aufweisen und bei ihnen neben dem mit Beweislastnormen gemeinsamen Merkmal der Ungewißheit über die Tatsachen, auf die sie sich beziehen, noch ein Sachverhalt hinzukommmt, von dessen Verwirklichung die Vermutungswirkung abhängt. Daß die Vorschriften der ^weiten Gruppe im Gegensatz zu den bisher behandelten Vermutungen nur solche Tatbestandselemente enthalten, die auch in dem Tatbestand vorkommen, zu 95
Blomeyer, ZPR, S. 334; Rosenberg-Schwab, §11714(8.606); Schönke-Kuchinke, S. 259; Lent-Jauernig, S. 168. 96 Andererseits ist die Beobachtung zu machen, daß Beweisaufnahmen auch zu anderen Ergebnissen kommen als Gericht und Parteien nach den Parteibekundungen und den feststehenden Tatsachen erwarten (vgl. Walther, NJW 1972, S. 238, und oben S. 59). Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein zur Feststellung der vermuteten Tatsache geführter Beweis eine entgegengesetzte Tatsachenfeststellung ergibt. 97 Das zeigt, daß eine Trennung zwischen Vermutung und Beweislastnorm durchgeführt und in diesem Zusammenhang zur Unterscheidung von den Vermutungen von „gewöhnlichen" (so Rosenberg, Beweislast, S. 209, unten) oder „allgemeinen Beweislastregeln" (so Leipold, S. 92) gesprochen wird. 98 Unterschiede zwischen beiden werden z.B. betont von Rosenberg, aaO; Leipold, aaO; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 292, Anm. 14 c (S. 1190); Bruns, S. 270 (oben). 99 Vgl. oben S. 61 f.
74 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
dessen tatsächlichen Voraussetzungen die vermutete Tatsache gehört, kann deshalb für die hier zu entscheidende Frage nur bedeutsam sein, wenn sich aus dieser Besonderheit die Eingliedrigkeit des Tatbestandes der Vermutung im Sinne der oben vorgenommenen Unterscheidung ergibt. Gegen eine solche Annahme spricht der Wortlaut dieser Rechtssätze. Nach ihm ist der Eintritt der Wirkungen von der Existenz anderer Tatsachen abhängig, bei § 484 von dem Auftreten des Hauptmangels in der Gewährsfrist, bei § 1591 Abs. 2 im Zusammenhang mit Abs. l von der Geburt und der Empfängnis des Kindes während eines bestimmten Zeitraumes, bei § 1600 m von einer Anerkennung der Vaterschaft und bei § 2255 Satz 2 von der Vernichtung des Testaments durch den Erblasser. Würde bei der Betrachtung des Wortlautes stehengeblieben und die Entscheidung nur aufgrund der Formulierung des Gesetzes getroffen werden, dann müßte die Frage nach der Vermutungsbasis und der dadurch bedingten Zweigliedrigkeit des Tatbestandes auch für die Vorschriften der zweiten Gruppe bejaht werden. Erhebliche Zweifel an der Richtigkeit einer solchen Entscheidung entstehen jedoch, wenn zur Kontrolle dieses Ergebnisses eine eingliedrige Beweislastnorm mit der Rechtsfolge der Vermutung formuliert und die dadurch bewirkte Beweislastsituation betrachtet wird. Eine Beweislastnorm dieses Inhalts würde für die durch § 2255 Satz 2 vermutete Tatsache lauten: Ist ungewiß, ob der Erblasser die Aufhebung des Testaments beabsichtigt hat, dann ist es so zu entscheiden, als ob diese Absicht festgestellt worden ist. Die Beweislastregelung für § 2255 Satz l wäre bei einer solchen Bestimmung die gleiche wie bei der Vorschrift des § 2255 Satz 2. Der Richter dürfte in beiden Fällen die Rechtsfolge des § 2255 Satz l nur dann aussprechen, wenn er klären könnte, daß der Erblasser die Testamentsurkunde vernichtet hat. Entsprechende Feststellungen, die auf eine mit Beweislastnormen völlig übereinstimmende Wirkung hinweisen, können auch bei den anderen Vorschriften dieser Gruppe gemacht werden100. Der grundlegende Unterschied %u den Vermutungen der ersten Gruppe wirdoifenbar, wenn man auch bei ihnen die gleiche Probe macht und eine eingliedrige Beweislastnorm, bei der die Vermutungsbasis fehlt, an ihre Stelle setzt; in diesem Fall wird die Beweislastlage erheblich verändert. Es ist deshalb nicht nur eine reine Äußerlichkeit der Fassung, sondern der eigentliche Inhalt selbst, der die beiden Gruppen von Vorschriften von einander trennt. Im Interesse einer klaren Begriffsbestimmung, die den Hauptzweck einer Abgrenzung der Vermutungen von den Beweislastnormen darstellt, ist deshalb von einer Zusammenfassung abzusehen. Es kann allenfalls in Betracht kommen, zwischen zwei verschiedenen Arten von Vermutungen zu unterscheiden, wenn die Zuordnung der Vorschriften der zweiten Gruppe zu den Beweislastnormen aus triftigen Gründen unterbleiben müßte. 100
Dies wird von Rosenberg, Beweislast, S. 205ff., überzeugend nachgewiesen.
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Solche Gründe gibt es jedoch nicht. Die Zweigliedrigkeit des Tatbestandes ist bei den Vorschriften der zweiten Gruppe nur durch ihre Fassung vorgetäuscht. Jede Beweislastnorm könnte rein gesetzestechnisch, läßt man einmal die Grenze des Absurden außer acht, in eine Vermutung nach Art der zweiten Gruppe umformuliert werden, ohne daß diese Veränderung die Beweislastregelung irgendwie beeinflußte. Das läßt erkennen, daß der Unterschied zwischen den Vorschriften der zweiten Gruppe und den Beweislastnormen — gerade umgekehrt wie im Verhältnis zu den Vermutungen der ersten Gruppe — nur durch eine Äußerlichkeit der Formulierung begründet ist. Eine solche Äußerlichkeit rechtfertigt aber eine begriffliche Trennung nicht. Die §§ 484, 1591 Abs. 2, 1600 m und 2255 Satz 2 sind deshalb zu den Beweislastnormen zu zählen101. Der Begriff der gesetzlichen Tatsachenvermutungen läßt sich danach wie folgt beschreiben: Gesetzliche Vermutungen von Tatsachen sind Rechtssätze, die im Fall der Ungewißheit über das Bestehen einer — der vermuteten — Tatsache eingreifen und aufgrund eines feststehenden Sachverhalts, der außerhalb des Tatbestandes liegt, auf den sich die Vermutung bezieht, die Fiktion der Feststellung der vermuteten Tatsache durch den Richter zum Zweck der Rechtsanwendung vorschreiben. Sie sind wie die Beweislastnormen Entscheidungsregeln, die demselben Rechstgebiet angehören, wie die Vorschrift, in dessen Tatbestand die vermutete Tatsache vorkommt102. Diese Definition trifft auch auf gesetzliche Bestimmungen zu, die den Begriff „vermuten" nicht enthalten. Außer den oben103 genannten Vorschriften sind im BGB noch folgende Rechtssät^e als Tatsachenvermutungen anzusehen: §363, 685 Abs. 2, 1213 Abs. 2; 1360b, 1620, 1625, 2270 Abs. 2, 2277 Abs. l Satz 2104. Dagegen sind die sog. Auslegungsregeln des BGB105 keine Vermutungen106; sie sind es schon deshalb nicht, weil bei ihnen ein außerhalb ihres 101
So auch die in N. 26 Zitierten; a. A. die in N. 27 Genannten. Der Streit über die systematische Stellung der Beweislastnormen (vgl. dazu oben S. 26ff.) setzt sich hier fort. Wie hier Rosenberg, Beweislast, S. 224; unentschieden (in gleicher Weise wie bei den Beweislastnormen) Leipold, S. 101, mit eingehender Literaturübersicht in N. 98 f. 103 Vgl. oben N. 23 f. 104 Mit Ausnahme des § 1625, der nicht erwähnt wird, besteht völlige Übereinstimmung mit der von Rosenberg, aaO, S. 214 ff., vorgenommenen Aufzählung. 105 Hierzu zählen die §§ 139, 153, 154 Abs. l und 2, 270, 271 Abs. 2, 314, 315 Abs. l, 316, 317 Abs. l und 2, 320 Abs. l Satz l, 332, 335, 336 Abs. 2, 337 Abs. l, 364 Abs. 2, 438, 495 Abs. l Satz 2, 511, 610, 672, 742, 1062, 1301 Satz 2, 1646 Abs. l, 2070, 2074, 2076, 2077 Abs. 3, 2085, 2087 Abs. 2, 2097, 2101 Abs. l, 2102 Abs. l, 2108 Abs. 2, 2161 Satz l, 2188, 2208 Abs. 2, 2299 Abs. 3, 2350 Abs. l und 2, 2373. Vgl. dazu die in der folgenden N. Zitierten. 108 Gleicher Ansicht Rosenberg, aaO, S. 211 ff.; Hedemann, S. 227 ff., 238; Bruns, S. 270; Wieczorek2, § 292, Anm. ; Kummer, Art. 8 Rdn. 341; Hellwig, System, S. 468f.; Leonhard, S. 300f.; von Seuffert-Walsmann, § 292, Anm. l (S. 485); Johannssen, S. 27ff. Dagegen wird die Vermutungseigenschaft bejaht von Baumbach-Lauterbach, 102
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Tatbestandes liegender Sachverhalt fehlt, von dessen Erfüllung die Wirkung der Vorschrift abhängt107. II. Die widerleglichen Rechtsvermutungen Der offensichtliche Unterschied zwischen Rechts- und Tatsachenvermutungen108, der Gegenstand, auf den sie sich nach ihrem Wortlaut beziehen, muß nicht zwangsläufig auch eine Verschiedenheit von Inhalt und Wirkungen zur Folge haben. Denn es ist denkbar, daß durch das Recht, das als Vermutungsgegenstand genannt wird, nur der dahinterstehende tatsächliche Vorgang beschrieben werden soll, der zur Entstehung des Rechts geführt hat, und daß auch die Rechtsvermutungen in ihrem Kern auf Tatsachen, die Tatsachen der Rechtsentstehung, gerichtet sind109. Ein sicherer Standpunkt in dieser sehr kontroversen Frage110 läßt sich erst gewinnen, wenn die Wirkungsweise der Rechtsvermutungen ermittelt worden ist. Die Wirkungen der Rechtsvermutungen sind in gleicher Weise wie die der Tatsachenvermutungen davon abhängig, daß ein bestimmter Sachverhalt, die Vermutungsbasis, verwirklicht ist. Alle als Rechtsvermutungen im BGB ausgewiesenen Vorschriften111 haben eine solche Vermutungsbasis112. Dies gilt auch für die Bestimmung des § 92l113. Die Vermutungsbasis dieser Vorschrift besteht in der äußeren Beschaffenheit der Grenzeinrichtung, die auf ein gemeinsames Herrschaftsverhältnis der Nachbarn hinweist. Diese Vermutungsbasis ist in § 921 lediglich negativ formuliert („sofern nicht äußere Merkmale darauf hindeuten, daß die Einrichtung einem Nachbarn allein gehört"114). § 292, Anm. l A; Betzinger, S. 141ff.; Beckh, S. 84ff.; Oertmann, Rechtsordnung, S. 302ff.; Wach, ZZP 29, S. 371; Lepa, S. 126. 107 Zu weiteren Gründen, die gegen den Vermutungscharakter sprechen, vgl. Rosenberg, aaO. 108 Im BGB kommen folgende Rechtsvermutungen vor: §§ 891, 921, 1006, 1362, 1964 Abs. 2 und 2365, deren Anwendungsbereich durch Verweisungen in §§ 1138 und 1155 auf § 891, in §§ 1065 und 2227 auf § 1006 und in §§ 1507 und 2368 Abs. 3 auf § 2365 erweitert ist. 109 So Motive zum BGB, , S. 155; Hedemann, S. 221f., 297; Leonhard, S. 237f.; Bruns, S. 270; Grunsky, S. 361; Dänzer, S. 135; Unger, II, S. 585 N. 21; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 470; Kühn, S. 104; Siber, JW 1922, S. 490; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, § 292, Anm. I; Lepa, S. 125; Behm, S. 51 ff. 110 Eine gegenteilige Ansicht wird vertreten von: Rosenberg, Beweislast, S. 227f.; Plosz, Festschrift, S. 38 f.; Planck-Strecker, § 891, Anm. 2a; Lent-Schwab, S. 67; Warb, S. 51 ff.; Kuttner, Iherjb. 61, S. 144ff.; Goldmann, S. 20ff.; duChesne, BayNotarZ 1908, S. 124ff. 111 Vgl. N. 108. 112 Vgl. Rosenberg, aaO, S. 226. 113 A. A. Leipold, S. 100; Rosenberg, aaO; offener dagegen S. 231, der aber § 921 als Rechtsvermutung anerkennt. 114 Ebenso Hedemann, S. 237.
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Ebenfalls greift die Rechtsvermutung nur ein, wenn Ungewißheit über die Existenz des vermuteten Rechts besteht; insoweit gelten die für Tatsachenvermutungen getroffenen Feststellungen auch hier115. Daß sich die Rechtsvermutung anders als die Tatsachenvermutung nicht auf das Tatbestandselement eines bestimmten Rechtssatzes bezieht, geht auf gesetzestechnische Gründe, nicht auf eine echte Wesensverschiedenheit zurück. Die Vermutungsgegenstände der Rechtsvermutungen kommen in einer ganzen Reihe von Vorschriften des BGB als Tatbestandsmerkmale vor oder können deshalb bei der Ausfüllung dieser Tatbestandselemente Bedeutung bekommen. Es wäre theoretisch durchaus denkbar, in jeder dieser Vorschriften die gleiche Vermutung zu wiederholen oder auf sie zu verweisen, um auf diesem Wege eine gleiche Verbindung zwischen Vermutungstatbestand und Tatbestandsstück wie bei Tatsachenvermutungen herzustellen. Im übrigen zeigen die Beispiele der §§ 921 und 1362 BGB, daß Rechtsvermutungen auch in ihrer Geltung eingeschränkt sein können.
Der durch eine Rechtsvermutung herbeigeführte Erfolg steht zweifelsfrei fest. Ist beispielsweise bei Anwendung des § 823 Abs. l BGB das Tatbestandselement „Eigentum" ungeklärt, die Vermutungsbasis des § 1006 Abs. l BGB aber als verwirklicht festgestellt, dann wird der Richter durch die Vermutung angewiesen, bei seiner Entscheidung von der Erfüllung des Merkmals „Eigentum" auszugehen. Auf welche Weise dieser Erfolg erreicht wird, zeigt dieses Beispiel jedoch nicht. Um die Wirkungsweise der Recbtsvermutungen erkennen zu können, soll zunächst untersucht werden, wie der Richter in Fällen, in denen eine Rechtsvermutung nicht eingreift, einen Rechtssatz anwendet, in dessen Tatbestand ein Rechtsverhältnis oder eine rechtliche Qualifikation116 als Tatbestandsstück vorkommt. Dies kann wiederum am Beispiel des § 823 Abs. l BGB geschehen. Ist streitig117, ob eine beschädigte Sache dem Kläger gehört, dann muß der Richter das Tatbestandsmerkmal „Eigentum" in die einzelnen für den Erwerb des Eigentums in Betracht kommenden Tatbestände auflösen118. Von allen theoretisch zum Erwerb des Eigentums führenden Rechtssätzen werden im konkreten Einzelfall nach der Natur der Sache verschiedene von vornherein auszuschließen sein. Von den dann noch verbleibenden Tatbeständen werden in aller Regel nach dem feststehenden TatsachenStoff wiederum einige als offensichtlich nicht in Betracht kommend ausscheiden, so daß sich im allgemeinen die Frage des Eigentumserwerbs 115
Vgl. oben S. 62, 72. Grünhut, S. 5—7, teilt die in Rechtssätzen enthaltenen Tatbestandselemente in faktische Begriffe, allgemein normative Begriffe und normative Begriffe spezifisch juristischer Art ein; unter die zuletzt genannten fallen Rechtsverhältnisse und rechtliche Qualifikationen (vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 210 — N. von S. 209 — und S. 212f.). 117 Ist das Eigentum des Klägers außer Streit, dann ist der Vorgang der Rechtsbegründung gleichgültig (vgl. Enneccerus-Nipperdey, 12, S. 859 N. 4). Der einfache Rechtsbegriff „Eigentum" kann dann wie eine Tatsachenbezeichnung verwendet werden (Bruns, S. 270 N. 13; Grunsky, S. 355f.). 118 Larenz, Methodenlehre, S. 212; vgl. auch von Tuhr, Allg. Teil III, S. 9. 116
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auf einen, höchstens zwei Erwerbstatbestände konzentriert. Kann der Richter die Verwirklichung eines Rechtssatzes feststellen118, aus der sich die Rechtsfolge „Eigentum" ergibt, dann hat er damit auch das entsprechende Merkmal im Tatbestand des § 823 Abs. l bejaht120. Kann er diese Feststellung nicht treffen, dann muß er umgekehrt alle möglichen Erwerbstatbestände verneinen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß die Sache nicht im Eigentum des Klägers steht. Bleibt ungeklärt, ob der eine oder andere Tatbestand der Rechtsbegründung erfüllt worden ist, dann greifen Beweislastnormen ein, die den Richter anweisen, so zu entscheiden, als ob er die einzelnen Elemente dieser Tatbestände entweder als gegeben oder nicht gegeben ermitteln konnte. Die Entscheidung bei ungeklärtem Sachverhalt wird somit aus den Beweislastnormen hergeleitet, die zu den Erwerbstatbeständen gehören, deren Verwirklichung zweifelhaft geblieben ist. Eine Beweislastnorm, die sich unmittelbar auf das Tatbestandsmerkmal „Eigentum" in § 823 Abs. l bezieht, kann es schon deshalb nicht geben, weil bei Ungewißheit über die Erfüllung dieses Merkmals auf die Rechtssätze zurückgegangen werden muß, die dem Eigentumserwerb zugrundeliegen121. Handelt es sich bei den Rechtsvermutungen in gleicher Weise wie bei den Tatsachenvermutungen um Entscheidungsregeln nach Art der Beweislastnormen^z, dann müssen sie sich in das Entscheidungsbild, das bei Anwendung von Rechtsbegriffen als Tatbestandsmerkmale entsteht, einfügen lassen. Dies wäre ohne Schwierigkeiten möglich, wenn die Auffassung zutrifft, daß der Vermutungsgegenstand nur den tatsächlichen 119
Selbstverständlich wird der Richter in diesem Rahmen auch die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der am Eigentumserwerb Beteiligten prüfen, wenn hierfür rechtliche und tatsächliche Gründe bestehen (vgl. Zendig, S. 14f.). 120 Etwas anderes würde nur gelten, wenn der Richter feststellte, daß das einmal entstandene Recht wieder untergegangen sei. Dagegen ist nicht etwa auch die positive Feststellung erforderlich, daß das einmal entstandene Recht bis zum Zeitpunkt der deliktischen Schädigung fortbestanden hat, also nicht zwischenzeitlich untergegangen ist; vgl. zu dieser Frage Rosenberg, Beweislast, S. 145f.; Leonhard, S. 150ff., ZZP 35,448E; unten S. 358. 121 Im übrigen können Beweislastnormen immer nur die Feststellung von Tatsachen, nicht von Rechten bewirken; vgl. BGH (5. 10. 73 —V ZR 163/71) BB 1974, S. 64; Rosenberg, Beweislast, S. 11; oben S. 21 f. 122 So BGH (4. 2. 60 — VII ZR 161/57) NJW 1960, S. 774, 775 (unter 3 a), im Hinblick auf § 1006 BGB. Es bestehen zwar für die Rechtsvermutung zu der Frage, ob sie als Beweisregel oder als Beweislastnorm (im weiteren Sinne dieses Begriffes, vgl. oben S. 73) anzusehen ist, die gleichen Meinungsverschiedenheiten wie für Tatsachenvermutungen. Die Ansicht aber, daß sie sich in ihrer Funktion und Wirkungsweise grundlegend von der Tatsachenvermutung unterscheidet, wird zumindest ausdrücklich nicht vertreten. Zu der Frage, ob die Rechtsvermutung materiell-rechtliche Wirkungen hat, gelten die gleichen Überlegungen, wie sie bei Erörterung dieses Problems im Hinblick auf Tatsachenvermutungen angestellt worden sind (vgl. oben S. 62ff.). Zur Meinung von Plosz, Festschrift, S. 40, der auch für Rechts Vermutungen die Ansicht vertritt, daß es sich bei ihnen um materiell-rechtliche Tatbestände handelt, vgl. oben S. 64.
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Vorgang beschreibt, der im Ein2elfall zu seiner Entstehung geführt haben könnte123. Die Rechtsvermutung würde dann die Ungewißheit über die Verwirklichung des oder der im Einzelfall in Betracht kommenden Tatbestände der Rechtsbegründung überwinden und die Fiktion einer entsprechenden richterlichen Tatsachenfeststellung herbeiführen. Der Unterschied zu den Tatsachenvermutungen wäre dann lediglich ein quantitativer124. Während die Tatsachenvermutung auf ein bestimmtes Tatbestandselement gerichtet ist und die dazu gehörende Beweislastnorm ersetzt, würde die Rechts Vermutung eine Reihe von Tatbestandsmerkmalen, nämlich alle, die in den möglichen Entstehungstatbeständen enthalten wären, umfassen und auch alle dahinterstehenden Beweislastnormen verdrängen. Dagegen würde sie nicht — wie insbesondere von den Gegnern dieser Auffassung behauptet wird125 — auch die Feststellung umfassen müssen, daß keine Tatbestände erfüllt sind, die eine Entstehung des Rechts verhindern oder das Recht nach seiner Entstehung wieder aufheben. Für die dafür festzustellenden Tatsachen sind im Fall der Ungewißheit die Beweislastnormen anzuwenden, die auch sonst gelten. Die Ersetzung dieser Beweislastnormen durch die Rechtsvermutung käme nur in Betracht, wenn dadurch ein von diesen Beweislastnormen verschiedenes Ergebnis herbeigeführt würde, weil sonst die Verdrängung der Normen durch die Vermutung sinnlos wäre. Daß aber die Rechtsvermutung bei Ungewißheit über die Verwirklichung von rechtshindernden oder rechtsvemichtenden Merkmalen ein anderes Ergebnis vorschreibt als die Beweislastnormen, die sich auf diese Merkmale beziehen, ist nicht anzunehmen. Dieser Begrenzung des Vermutungsgegenstandes steht auch nicht entgegen, daß aufgrund der Vermutung das Recht als ein zur Zeit bestehendes behandelt wird. Das Recht ist so lange als bestehend anzunehmen, bis rechtshindernde oder rechtsvernichtende Tatsachen festgestellt worden sind12'; mit diesem Ergebnis stimmt es überein, daß die Vermutung nur den Tatbestand der Rechtsentstehung umfaßt.
Einer solchen Auffassung kann entgegengehalten werden, daß dadurch der Inhalt der Rechtsvermutung unbestimmt gemacht würde, weil im Einzelfall gerade wegen der Rechtsvermutung offen bleibt, welcher Tatbestand zum Erwerb des Rechts geführt hat127. Wenn auch die theoretische Anzahl der Rechtsbegründungstatsachen durch den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt in aller Regel auf einige wenige konzentriert werden wird, läßt sich doch nicht ausschließen, daß im Einzelfall mehrere Rechtssät^e in Betracht kommen, die den Erwerb des Rechts begründen können. Doch handelt es sich dabei nicht um eine außergewöhnliche Erschei123
Also nicht „ein Tatbestand aus dem Bereich aller in Betracht kommenden Tatbestände", wie Lepa, S. 125, meint, sondern einer der Tatbestände, die im konkreten Fall möglich sind (so auch Bruns, S. 270). 124 Behm, S. 53; ebenso Warlo, S. 51 (allerdings als Gegner dieser Ansicht). 125 Vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 220. 126 Rosenberg aaO, S. 109ff.; vgl. auch unten S. 358. 127 In diese Richtung gehen die Bedenken von Rosenberg, aaO, S. 228; Plosz, Festschrift, S. 39.
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nung. Stellt der Richter beispielsweise fest, daß das Tatbestandselement „Eigentum" in § 823 Abs. l BGB auf jeden Fall aufgrund eines von zwei in gleicher Weise möglichen Tatbeständen erfüllt ist, dann muß er nicht klären, welcher dieser Tatbestände in Wirklichkeit zutrifft. Denn wenn das Recht — und damit das Tatbestandsmerkmal — als gegeben feststeht, kommt es nicht entscheidend darauf an, aufgrund welchen Sachverhalts dies geschehen ist128. Für den Eintritt der Rechtsfolge, die sich aus dem Tatbestand herleitet, zu dem das Recht, im Beispielsfall das Eigentum, als Tatbestandselement gehört, ist nur die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale, nicht die Art und Weise, wie sie sich vollzieht, wesentlich. Durch die Rechtsvermutung kann deshalb auch offen gelassen werden, auf welchen Tatbestand die Rechtsentstehung im Einzelfall gestützt ist128. Daraus ist aber andererseits nicht der Schluß zu ziehen, daß sich dann auch die Wirkungen der Rechtsvermutung auf den Erfolg der Rechtsverwirklichung allein beschränken können, weil den Begründungstatsachen sowieso keine Bedeutung zukomme. Die Konsequenzen einer solchen Abgrenzung des Vermutungsgegenstandes werden bei dem Beweis des Gegenteitsiao deutlich. Wird das Recht schlechthin vermutet, dann steht das Gegenteil erst fest, wenn die Verwirklichung eines jeden Rechtssatzes auszuschließen ist, dessen Rechtsfolge mit dem Vermutungsgegenstand übereinstimmt131, während sonst nur geklärt zu werden braucht, daß die im konkreten Fall in Betracht kommenden Begründungstatsachen, auf die sich allein die Vermutungswirkung erstreckt, nicht vorliegen132. Der praktische Unterschied mag nicht groß sein, weil das Gericht aufgrund der Tatsachenwürdigung rein theoretische Möglichkeiten in der Rechtsentstehung als nicht gegeben ansehen wird133; dennoch darf dieser Unterschied nicht einfach ignoriert werden134. 128
Enneccerus-Nipperdey, 12, S. 859 N. 4. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch bei der Tatsachenvermutung und bei der allgemeinen Beweislastnorm die Frage ungeklärt bleibt, auf welche Weise das Tatbestandselement, auf das sie sich beziehen, verwirklicht wird (vgl. oben S. 23 f., 72 N. 94). 130 Vom Standpunkt der Ansicht, die als Vermutungsgegenstand das Recht als solches ansieht, ist nur eine analoge Anwendung des § 292 ZPO möglich (vgl. Kuttner, Iherjb. 61, S. 127f.; Rosenberg, Beweislast, S. 232, mit weiteren Nachweisen in N. 2). 131 RGZ 92, 68, 71 f. (19.1.18 — V 231/17); Zendig, S. 38; Sluzewski, S. 26; ähnlich auch Kuttner, aaO, S. 149 f. 132 Bruns, S. 270. Vgl. auch BGH (29.10.71 — V ZR 122/68) MDR 1972, S. 222; gegenüber der Vermutung nach § 891 BGB verlangt das Gericht den Beweis, „daß die Bekl. weder auf die von ihr etwa geltend gemachte noch auf sonstige nach den Umständen in Betracht kommende Art das Eigentum erlangt haben könne". 133 Vgl. RG (1. 3. 10 — VII 211/09) JW 1910, S. 390f. 134 Rosenberg, aaO, S. 233f., geht trotz seiner Auffassung der Rechtsvermutung (vgl. oben N. 110) ohne nähere Begründung davon aus, daß nur solche Entstehungstatbestände widerlegt werden müßten, die nach der Gestaltung des Einzelfalles, insbesondere nach dem Vortrag des Vermutungsbegünstigten, in Frage kommen. AJinlich auch andere Vertreter dieser Auffassung, vgl. z.B. Warlo, S. 78. Weitergehend wohl 129
§ 5 Die gesetzlichen Vermutungen
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Der letztlich ausschlaggebende Gesichtspunkt für die Entscheidung der Frage nach dem Inhalt der Rechts Vermutung ist jedoch folgender: Bezieht sich die Rechtsvermutung nur auf das Recht, das als Vermutungsgegenstand genannt wird, oder wie Rosenberg135 meint, auf den gegenwärtigen Rechtszustand, nicht zugleich auch auf die zugrundeliegenden Entstehungstatsachen, dann unterscheidet sich diese Vermutung grundlegend von den Tatsachenvermutungen und kann nicht wie diese als eine Entscheidungsnorm nach Art der Beweislastregeln aufgefaßt werden136. Denn Beweislastnormen betreffen nach ihrer Funktion und Wirkungsweise immer nur Tatsachen, niemals Rechte137. Zwar hätte auch die Rechtsvermutung eine die Feststellungslast regelnde Wirkung, wenn sie sich ausschließlich auf das Recht als solches bezöge, weil der Gegner der vermutungsbegünstigten Partei die Vermutung durch den Beweis des Gegenteils ausräumen muß, aber diese Regelung der Feststellungslast würde dann durch eine Rechtsvorschrift vorgenommen werden, die anders als Beweislastnormen funktionierte. Denn eine Fiktion der Feststellung von Tatsachen zum Zwecke der Rechtsanwendung würde durch sie nicht herbeigeführt werden138. Ein überzeugender Grund für eine solche andersartige Wirkungsweise der Rechtsvermutung ist nicht zu erkennen139; er kann auch nicht darin gefunden werden, daß die Rechtsvermutung keinen Raum mehr für eine Schlußfolgerung des Richters von einem Sachverhalt auf eine Rechtsfolge läßt140. Darin liegt keine nur der Rechtsvermutung eigene Besonderheit. Denn auch die Tatsachenvermutung141 nimmt dem Richter den Schluß von der vermuteten Tatsache auf die Verwirklichung des Tatbestandselementes ab142, der sonst bezogen werden muß143; nur in dem Umfang und in der Zahl der durch die RechtsverRosenberg-Schwab, § 117 14 (S. 607): „jede Möglichkeit, daß die Vermutung richtig sein könne, muß ausgeräumt sein". 135 Beweislast, S. 228. 138 Wenn auch von Rosenberg, aaO, S. 230f., die Verschiedenheit von Tatsachenund Rechtsvermutung betont wird, so zieht er doch gerade nicht die Folgerung, daß es sich bei der Rechtsvermutung nicht um eine Beweislastregel handelt, obwohl er an anderer Stelle (aaO, S. 11) feststellt: „Nur Zweifel auf dem Gebiete der Tatfrage zu lösen, sind die Beweislastnormen berufen und fähig." 137 Vgl. oben S. 21 f, 78 N. 121. 138 So ausdrücklich Hellwig, System, S. 468: „Sie (d.h. die Rechtsvermutungen) regeln nicht die Last des Beweises über Tatsachen." 139 Er wird auch nicht behauptet; vgl. oben N. 122. 140 Auf diese Feststellung legt Rosenberg, aaO, S. 228, besonderes Gewicht; ebenso Fischer, Iherjb. 63, S. 278 f. 141 Das gleiche gilt für jede Beweislastnorm; vgl. oben S. 24. 142 So auch Leipold, S. 100, der allerdings deshalb meint, daß Tatsachen Vermutungen nicht auf wirkliche Tatsachen, sondern auf einen Erfolg in der Rechtssphäre gerichtet seien (vgl. dazu auch oben N. 36). 143 Nämlich den Schluß, daß die festgestellte Tatsache (ta) das Tatbestandsmerkmal (a) verwirklicht, also ta ein Fall von a ist (vgl. oben N. 94). 6
Musielak, Beweislast
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
mutung ersetzten Schlüsse, also quantitativ, besteht zwischen beiden Vermutungsarten ein Unterschied144. Die Tatsachen, aus denen sich der Rechtserwerb ergibt, sind von der durch die Vermutung begünstigten Partei %u behaupten, wenn hierüber Streit besteht. Sonst kann sich der Vermutungsbegünstigte darauf beschränken, das Recht selbst als einen einfachen Rechtsbegriff wie eine Tatsachenbehauptung vorzutragen145. Die hier vertretene Ansicht stimmt weitgehend mit der Auffassung Leipolds146 überein. Leipold verlangt die Angabe der Erwerbstatsachen von der vermutungsbegünstigten Partei, wenn der Gegner den Rechtserwerb bestreitet. Dagegen verneint die herrschende Meinung147 eine Behauptungslast für die Erwerbstatsachen.
Es kann deshalb abschließend festgestellt werden, daß sich Rechtsvermutungen von Tatsachenvermutungen nur darin unterscheiden, daß sie, bedingt durch den Vermutungsgegenstand, eine Mehrheit von Tatsachen, nämlich die im Einzelfall möglichen Rechtsbegründungstatsachen umfassen148. Zwischen Tatsachen- und Rechtsvermutungen besteht insoweit das gleiche Verhältnis wie zwischen Tatsachen und Rechten als Elementen eines Tatbestandes. In allen anderen Punkten stimmen dagegen beide Vermutungsarten überein.
. Die unwiderleglichen Vermutungen und die Fiktionen Unwiderlegliche Vermutungen sind anders als die widerleglichen Vermutungen keine Entscheidungsnormen, die im Falle einer Ungewißheit über tatsächliche Vorgänge eingreifen, sondern Rechtssätze, die materielle Rechtsfolgen bestimmen149. Der Gesetzgeber hat bei ihrer Fassung einen gesetzestechnischen Umweg gewählt, indem er für ihren Tatbestand (Tl) nicht eine eigene Rechtsfolge festsetzte, sondern durch die Gleichstellung mit einem anderen Tatbestand (T 2) dessen Rechtsfolge verbindlich machte. An die Stelle der Gleichbewertung von T l und T 2 bei 144
Zur Frage der Zergliederung der gesetzlichen Tatbestände und der Anwendungen auf den zu entscheidenden Sachverhalt vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 255 ff. 145 So auch Bruns, S. 270 N. 13. 146 S. 95 ff. 147 Vgl. Rosenberg, Beweislast, S. 229; Hedemann, S. 287; Lent-Jauernig, S. 168; weitere Nachweise bei Leipold, S. 96 N. 86. 148 Diese Ansicht entspricht der Meinung des Gesetzgebers (vgl. Motive zum BGB, III, S. 155). Daß sich der Wortlaut des § 826 des ersten Entwurfs, zu dem diese Meinung geäußert worden ist, von dem des § 891 BGB unterscheidet, ist für die grundsätzliche Frage nach dem Inhalt einer Rechtsvermutung ohne Bedeutung (a. A. Kuttner, Iherjb. 61, S. 142f.; Warlo, S. 51; Goldmann, S. 21). 149 Leipold, S. 104; Schwering, S. 140; a.A. Hedemann, S. 213 („Rechtsgebilde des Prozeßrechts").
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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einem Rechtssatz T 2 = R könnte auch die materiell-rechtlich vollkommen gleichwertige Regelung T l = R, T2 = R treten150. Die unwiderlegliche Vermutung ist stark der Fiktion angenähert151. Ihre Abgrenzung1*2 voneinander kann nach dem Gesichtspunkt vorgenommen werden, daß die Fiktion eine rechtliche Gleichbewertung verschiedener Tatbestände darstellt153, die der Gesetzgeber „in voller Kenntnis ihrer Ungleichwertigkeit"154 vorgenommen hat, während die widerlegliche Vermutung Sachverhalte gleichstellt, die übereinstimmen können und häufig auch werden155. Allerdings hat diese Unterscheidung lediglich theoretischen Wert. Denn auch bei der unwiderleglichen Vermutung ist es aufgrund des Ausschlusses eines Gegenbeweises unerheblich, ob die der Vermutung zugrundeliegende Annahme im Einzelfall zutrifft. Das BGB enthält keine unwiderleglichen Vermutungen156, wohl aber eine Reihe von Fiktionen157. Besonderheiten für die Beweislastfrage, die zu erörtern sind, ergeben sich weder bei den unwiderleglichen Vermutungen noch bei den Fiktionen.
§ 6 Der Anscheinsbeweis Zu den wohl am stärksten „schillernden Erscheinungen zwischen Beweislastnorm und Beweis Würdigung"158 gehört der Anscheinsbeweis, auch prima-facie-Beweis oder Beweis auf erste Sicht genannt. Unter diesem Begriff versteht man Vorgänge, denen gemeinsam ist, daß sie auf
150 151
Vgl. Leipold, S. 102ff.
Rosenberg, Beweislast, S. 213; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 470f.; Bruns, S. 271; Kühn, S. 102; Larenz, Methodenlehre, S. 203 N. 2, sieht in der unwiderleglichen Vermutung nur einen Sonderfall der Fiktion, Kummer, Art. 8, Rdn. 344, 350, setzt beide gleich. 152 Hedemann, S. 211, bemerkt dazu, daß der Versuch, das Verhältnis beider Rechtstypen zu ergründen, so alt sei wie sie selbst. 153 J. Esser, Rechtsfiktionen, S. 29, 32; Larenz, aaO, S. 199 f. 154 Bruns, aaO. 155 Nikisch, ZPR, S. 322; Oertmann, Rechtsordnung, S. 295f.; Leipold, S. 103; Schwering, S. 141. 158 Rosenberg, Beweislast, S. 213; Leipold, S. 104; Hedemann, S. 214 (unten); anderer Meinung Griitzmann, AcP 123, S. 126. 157 Z.B. § 108 Abs. 2 Satz 2; § 119 Abs. 2; § 177 Abs. 2, Satz 2, 2. Halbsatz; § 263 Abs. 2. Beispiele einer unwiderleglichen Vermutung sind § 344 Abs. 2 HGB und die §§ 39, 269 ZPO; so Stein-Jonas-Pohle, § 39, Anm. 12 (S. 282); Stein-Jonas-SchumannLeipold, § 269, Anm. I (S. 1088), § 292, Anm. 12b (S. 1189); Bruns, S. 271. Dagegen sieht Esser, aaO, S. 64, in beiden Vorschriften der ZPO Fiktionen. Beispiele aus dem Verwaltungsrecht nennt Tietgen, Gutachten, S. 54f. 158 Rabel, RheinZ 12, S. 442; vgl. auch oben S. 60 N. 17. 6·
84 1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
einer aus Erfahrung gewonnenen Erkenntnis aufbauen, um deren Bewertung und systematische Einordnung aber sehr gestritten wird169. Die Terminologie ist nicht immer einheitlich. So unterscheidet Wassermeyer1*0 zwischen dem „Primafacie-Schuldbeweis" und dem Anscheinsbeweis für beliebige Tatsachen insbesondere für den Kausalzusammenhang. Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises in dem von ihm verstandenen Sinne lehnt Wassermeyer141 ab, da es sich dabei um eine tatsächliche Vermutung handele, die zu einer Entscheidung nach bloßer Wahrscheinlichkeit, nicht nach richterlicher Überzeugung führe. Ob Wassermeyer an dieser Ablehnung festhält, ist nach seinen späteren Ausführungen162 nicht mehr sicher.
Überwiegend wird angenommen, daß das Wesen des Anscheinsbeweises in der Anwendung von Erfahrungssätzen im Rahmen richterlicher Tatsachenwürdigung besteht163. Nach anderer Auffassung soll es sich bei den Grundsätzen des Anscheinsbeweises um Beweislastregeln handeln164. Schließlich wird die Ansicht vertreten165, daß es bei dem Anscheinsbeweis weitgehend nicht um Fragen des Beweises, sondern um die Aue159
Der Meinung von Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. VII, Referat, S. Eil, daß der „Prima-facie-Schuldbeweis" geklärt sei, kann in Anbetracht der auch insoweit bestehenden Meinungsverschiedenheiten (vgl. unten S. 89 if.) leider nicht zugestimmt werden. 160 Referat, S. E8, Eil, Kollisionsprozeß, S. 91, 97, 106 (unten). 161 Beweis, S. 32fF., 49. 162 Vgl. z.B. Kollisionsprozeß, S. 106, Referat, S. Eil ff. 163 Dies entspricht der Rechtsprechung des Reichsgerichts seit 1930 (zu der Entwicklung vor dieser Zeit vgl. die Darstellung von Kollhosser, S. 32—48, und Höfer, S. 20ff.); s. z.B. RGZ 130, 357, 359 (26. 11. 30 — IX 277/30); RG (7. 11. 31 — IX 327/ 31) JW 1932 S. 1736, 1737 (mit zustimmender Anmerkung von Rosenberg); RGZ 157, 83, 88 f. (18. 2. 38 — VII 146/37); ebenso der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, vgl. z. B. BGHZ 2, l, 5 (17. 4. 51 — I ZR 28/50); BGHZ 2, 82, 85 (7. 5. 51 — IV ZR 69/50); BGHZ 7, 198, 200f. (25. 9. 52 — III ZR 322/51). Auch im Schrifttum ist diese Auffassung bei weitem vorherrschend; vgl. Rosenberg-Schwab, § 114 (S. 593f.); Rosenberg, Beweislast, S. 183ff.; Schwab, JZ 1955, S. 255f.; Pohle, Festschrift, S. 324f.; Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 322ff.; Stein-Jonas-Schuhmann-Leipold, § 282, Anm. IV 7a, aa (S. 1155f.); Sydow-Busch, § 286, Anm. l (S. 461); Rosenthal, DJZ 1920, Sp. 881; Nikisch, ZPR, S. 322f.; Baumbach-Lauterbach, § 282, Anh. 3B; Leonhard, S. 196f.; Blomeyer, Gutachten, S. 16f.; Prölss, S. 13; Wieczorek, 5 282, Anm. Dlla (S. 348f.); Lent-Jauemig, S. 166f; Staudinger-Werner, Vorbem. zu § 249, Rdn. 69ff; Soergel-Zeuner, § 823, Rdn. 362; Lehmann-Hübner, S. 346; Geigel, S. 1234ff.; Höfer, S. 57ff., 66; Erman-Sirp, § 249, Anm. 12b; Weyreuther, DRiZ 1957, S. 56f.; Bernhardt, JR 1966, S. 327; Kollhosser, AcP 165, S. 46; Larenz, Schuldrecht I, S. 356. 164 Rabel, RheinZ. 12, S. 434ff., 441; Levis, JW 1932, S. 107f.; Heinsheimer, RheinZ 13, S. 4ff., 9f. (vgl. aber JW 1928, S. 1747); Smid, S. 36ff., 40f.; Müser, S. 22ff.; Wassermeyer, Beweis, S. 14ff., 20 (bezüglich des Prima-facie-Schuldbeweises, vgl. dazu unten S. 89 (bezüglich des objektiven Verstoßes gegen Schutzgesetze, vgl. unten N. 625). 165 E. Pawlowski, S. 57f., 67, 104; teilweise zustimmend (vgl. die folgenden Ausführungen). Diederichsen, ZZP 81, S. 65 (unten); vgl. auch VersR 1966, S. 218ff.
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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legung und Anwendung der materiellen Rechtsfolgenormen geht, deren Inhalt durch die Sätze des Anscheinsbeweises im Wege richterlicher Rechtsfortbildung modifiziert werden166. DieJericbsea167 will den Fahrlässigkeits-Anscheinsbeweis, wie E. Pawloswki168 als Modifizierung der Haftungs Voraussetzungen ansehen169. Die Sätze des Anscheinsbeweises für Kausalzusammenhänge im Schadensersatzrecht sollen nach seiner Meinung in folgende Beweislastregeln zusammengefaßt werden: 1. Wem objektiv die Verletzung einer bestimmten Verhaltenspflicht zur Last fällt, die geeignet ist, einen bestimmten Schaden herbeizuführen, trägt die Beweislast dafür, daß sein Pflichtverstoß nicht ursächlich war, wenn ein solcher Schaden eingetreten ist170. 2. Wer eine besondere Gefahrenlage geschaffen hat, innerhalb derer ein dieser Gefahrenlage adäquater (typischer) Schaden entsteht, trägt aufgrund dieser Schadensnähe die Beweislast dafür, daß der Schaden nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt171.
Meinungsverschiedenheiten bestehen zu den Fragen, was Gegenstand eines Anscheinsbeweises sein kann172, welche Anforderungen an seine Widerlegung zu stellen sind173, wie er vom Indizienbeweis abgegrenzt
166 Mit dieser Modifizierung des materiellen Rechts ist auch eine Änderung der Beweislastregelung verbunden so daß diese Ansicht teilweise zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen wie die in N. 164 Zitierten kommt. 167 ZZP 81, S. 65ff., Karlsruher Forum 1966, S. 21, 23ff., 46. DJT, Sitzungsberichte, S. ESOff. 168 AaO. 169 Vgl. ZZP 81, S. 65 (unten). 170 Diederichsen, ZZP 81, S. 66. 171 Diederichsen, aaO, S. 67; vgl. auch Prölss, S. 65ff, VersR 1964, S. 901 ff; unten S. 255 f. 172 ygj Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 322 (alle erheblichen Tatsachen) gegen Hainmüller, S. 31, 87, 162, 179 (allein Kausalitäts- und Verschuldensfragen). 173 Es soll die Erschütterung der richterlichen Überzeugung (Prölss, S. 33), die Erweckung von Zweifeln (Rosenberg, Beweislast, S. 188), die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Verlaufs (Blomeyer, Gutachten, S. 19f.; Zeiss, § 60 III 3 b — S. 183; Fleck, VersR 1956, S. 381; vgl. auch die eingehende Rechtsprechungsübersicht bei Hainmüller, S. 173 N. 77—81) genügen. Der Gegenbeweis muß einfache (Hainmüller, S. 174), überwiegende (Schaps-Abraham, § 735 HGB, Anm. 100 — S. 1045) oder höhere Wahrscheinlichkeit (Ehrenzweig, VersR 1954, S. 337) erbringen. Die Beseitigung des Anscheinsbeweises soll zumindest praktisch einem Gegenteilsbeweis gleichkommen (Diederichsen, Karlsruher Forum, 1966, S. 24), der jedoch ein erleichterter Gegenteilsbeweis (Wassermeyer, Beweis, S. 44) ist, der den hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, den der Anscheinsbeweis geschaffen hat, nur erschüttern muß (Sanden, VersR 1966, S. 202). Diese beispielhaft aufgeführten Meinungsäußerungen scheinen recht verwirrend, lassen sich allerdings bei näherer Prüfung auf die Frage zurückführen, ob ein Gegenbeweis oder ein Gegenteilsbeweis (d.h. Hauptbeweis) von dem Gegner der durch den Anscheinsbeweis begünstigten Partei zu führen ist. Dabei bleibt dann noch zu klären, auf welche Tatsachen sich dieser Beweis jeweils beziehen muß (vgl. E. Pawlowski, S. 57; Wassermeyer, Beweis, S. 17 f.).
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
werden kann174, und wie er in der Revisionsinstanz behandelt werden muß175. Die Diskussion der genannten Fragen wird dadurch erschwert, daß ständig von „der Beweislast" gesprochen wird, die nach der einen Auffassung von dem Anscheinsbeweis betroffen, nach anderer Ansicht davon nicht berührt werden soll, daß dieser Begriff aber bald im Sinne der Feststellungslast oder in der Bedeutung der Beweisführungslast, bald als Beschreibung der Wirkungen von Beweislastnormen verwendet wird. Der Umfang dieses Problemstoifes, die Flut der Entscheidungen und die Fülle der Meinungsäußerungen in der Literatur — häufig mit widersprechendem Inhalt — machen es unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit auch nur annähernd auf Fragen einzugehen, die durch den Anscheinsbeweis aufgeworfen werden; eine Beschränkung auf die unmittelbar mit Beweislast und Beweiswürdigung zusammenhängenden Probleme ist vielmehr unumgänglich.
I. Die üblichen Beschreibungen Der Begriff des Anscheinsbeweises ist im wesentlichen durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts176 und des Bundesgerichtshofs gestaltet worden177. In den Entscheidungen wird dieser Beweis dadurch gekennzeich174
Überwiegend wird trotz einer zugegebenen engen Verwandtschaft eine genaue Unterscheidung zwischen Anscheins- und Indizienbeweis vorgenommen, so RGZ 163, 21, 27f. (17.1. 40 — II 82/39); RG (14. 2. 36 — VII161/35) JW 1936, S. 1968; BGHZ 2, 82, 85 (oben N. 163); BGH (22. 3. 56 — II ZR 32/55) VersR 1956, S. 276; Henke, JR 1961, S. 48ff.; Fleck, VersR 1956, S. 331 f.; Hainmüller, S. 178ff.; Rosenberg, Beweislast, S. 184; Diederichsen, ZZP 81, S. 47; Kollhosser, AcP 165, S. 46f.; E. Schneider, MDR 1966, S. 28; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1058. Blomeyer, Gutachten, S. 24, sieht dagegen in dem Anscheinsbeweis „nichts anderes als ein Indizienbeweis mit Verwendung von Erfahrungsgrundsätzen" und wertet ihn als eine „besondere Art des Anzeichenbeweises" (ZPR, S. 363); ebenso Rosenberg, JW 1932, S. 1736 („Der Beweis des ersten Anscheins ist seiner rechtlichen Natur nach ein Indizienbeweis"), anders dagegen Beweislast, S. 184; ähnlich auch Stein-Jonas-Schumann-Leipold, §282, Anm. IV 7a, aa (S. 1155: „besondere Art des Indizienbeweises"); Locher, S. 256f. N. 8; Larenz, Schuldrecht I, S. 356 N. 4; Dubischar, JuS 1971, S. 388. Auch Prölss, S. 27f., lehnt jede begriffliche Trennung ab; zustimmend Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 325 N. 11. 175 Vgl. Kollhosser, S. 93ff., AcP 165, S. 51ff.; Kuchinke, Freiheit, S. 37ff., Grenzen, S. 187ff.; Henke, ZZP 81, 375ff.; Blomeyer, Gutachten, S. 44ff.; Prölss, S. 36ff.; Wassermeyer, Beweis, S. 51 ff., Referat, S. E18ff.; Rosenberg-Schwab, § 114, 5 (S. 595), jeweils mit weiteren Nachweisen. 176 Wesentlichen Anteil an der Ausgestaltung des Anscheinsbeweises hat das Reichsoberhandelsgericht gehabt, das diesen Beweis insbesondere in Fällen von Schiffskollisionen angewendet hat (vgl. E. Pawlowski, S. l f., 13 ff.; Kollhosser, S. 23 ff.; zur Entwicklungsgeschichte insgesamt: Ehrlicher, S. 3ff.; Höfer, S. 14ff.; Hainmüller, S. If.). 177 Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung vgl. Kollhosser, S. 26ff., 51 ff.
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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net, daß der Richter von feststehenden tatsächlichen Ereignissen auf andere Tatsachen schließt, die nach der Lebenserfahrung regelmäßig damit verbunden sind178. Die Rechtsprechung verwendet zur Charakterisierung dieses Vorganges die Bezeichnung „typischer Geschehensablauf"179 und versteht darunter einen Tatbestand, „der nach den Regeln des Lebens auf eine bestimmte Ursache hinweist und in einer bestimmten Richtung zu verlaufen pflegt"180. Da aber auch bei Indizienbeweisen181 mit Hilfe der Lebenserfahrung von feststehenden Tatsachen auf rechtserhebliche Ereignisse geschlossen wird182, muß die besondere Eigenart des Anscheinsbeweises, die seine von der herrschenden Lehre183 befürwortete Trennung vom Indizienbeweis rechtfertigt, noch in etwas anderem liegen. Als ein solcher Unterschied wird hervorgehoben, daß Gegenstand eines Anscheinsbeweises nur ein Sachverhalt sein könne, bei dem sich wegen seiner typischen Gestaltung der daraus herzuleitende Schluß dem Beschauer gleichsam aufdränge, und daß deshalb die individuellen Kennzeichen des Einzelfalles völlig zurücktreten und bedeutungslos erscheinen würden184. Der Richter könne deshalb auch anders als bei einem Indizienbeweis, bei dem es gerade auf die minutiöse Wertung jeder Einzelheit des Geschehens ankäme, auf die genaue Prüfung aller Details verzichten185. Es genüge eine Gesamtbetrachtung und die Feststellung, daß 178
Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 322: „Die eine Tatsache kann die frühere sein (,was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr'), die spätere (,an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen') oder gleichzeitig (,was sich neckt, das liebt sich'). Sie kann mit anderen Tatsachen im Kausalzusammenhang stehen (Ursache oder Folge der anderen sein) oder sie kann als andere Tatsache ein schuldhaftes Verhalten ergeben. Doch sind nicht nur Ursache und Schuld, sondern alle erheblichen Tatsachen dem Anscheinsbeweis zugänglich" (vgl. auch oben N. 172). 179 Vgl. z.B. RG (20. 3. 29 — I 258/28) Warn. 1929, Nr. 100 (S. 184); RGZ 136, 359, 360 (1. 6. 32 — V 63/32) RGZ 138, 199, 201 (28. 11. 32 — VIII 386/32); RGZ 163, 27 (oben N. 174); BGHZ 2, l, 5 (oben N. 163); BGH (20. 6. 52 — I ZR 22/52) LM § 735 HGB Nr. 4; BGH (1. 4. 53 — VI ZR 77/52) LM § 286 (C) ZPO Nr. 11; BGH (28. 9. 56 — VI ZR 219/55) VersR 1956 S. 793, 794; BGH (22. 11. 60 — VI ZR 16/60) VersR 1961, S. 153; BGHZ 39, 103, 107 (12. 2. 63 — VI ZR 70/62). 180 BGH, LM § 286 (C) ZPO Nr. 11 (vorige N.). 181 Damit soll keinesfalls gesagt werden, daß die Anwendung von Erfahrungssätzen auf den Indizienbeweis beschränkt ist. Vielmehr werden Erfahrungssätze bei der gesamten Tatsachenwürdigung des Richters ständig — häufig unbewußt — herangezogen und berücksichtigt (vgl. Prölss, S. 14ff.; Bernhardt, JR 1966, S. 326). 182 Kollhosser, S. 76; vgl. auch oben S. 44. 183 Vgl. oben N. 174. 184 BGH (22. 12. 55 — ZR 119/54) VersR 1956, S. 84f.; BGH (26. 1. 56 — ZR 50/54) VersR 1956, S. 147, 148; BGH (22. 3. 56 — II ZR 32/55) VersR 1956, S. 276; BGH (28. 9. 56 — VI ZR 184/55) VersR 1956, S. 696, 697; BGH (18. 1. 57 — VI ZR 311/55) VersR 1957, S. 234; Fleck, VersR 1956, S. 329, 331. 185 BGH (2. 12. 55 — I ZR 22/54) VersR 1956, S. 53, 54; BGH (29. 1. 74 — VI ZR 53/71) VersR 1974, S. 750, 751; Hainmüller, S. 181.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
der zu entscheidende Fall alle Merkmale des Erfahrungssatzes aufweise, auf den die zu ziehenden Schlußfolgerungen gestützt werden sollen188. Die „Lücke" in der Sachverhaltsklärung, die sich auf diese Weise beim Anscheinsbeweis ergebe, könne wegen der Stärke des anzuwendenden Erfahrungssatzes187 hingenommen werden188. Die Ermittlung eines „Irgendwie" — „irgendeiner" Fahrlässigkeit oder „irgendeiner" Kausalität — reiche aus, die Erfassung der konkreten Einzelheiten sei entbehrlich189; die den Rechtsbegriff „Verschulden" oder „Ursächlichkeit" ausfüllenden Tatsachen selbst blieben unbekannt190. Dieses Verfahren wird häufig noch mit Hinweisen auf den angeblichen Beweisnotstand191 der feststellungsbelasteten Partei und mit Überlegungen der Billigkeit gerecht. fertigt192. Würden diese Beschreibungen des Anscheinsbeweises zutreffen, dann müßten ernsthafte Zweifel angemeldet werden, ob es sich bei ihm — wie die herrschende Meinung annimmt193 — um einen Vorgang der Beweiswürdigung handelt. Denn die Schließung von Lücken im Sachverhalt ist gerade eine Funktion der Beweislastnormen. Im Rahmen der Beweiswürdigung kommt es darauf an, ein vollständiges Bild von der Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale des anzuwendenden Rechtssatzes zu erhalten. Zur Klärung der Frage, ob es sich bei dem Anscheinsbeweis um eine Erscheinung der Beweiswürdigung oder doch um eine Beiveislastregelung handelt, ist es unumgänglich, die Art seiner Anwendung und die sich daraus ergebenden Wirkungen genauer zu betrachten. Dabei empfiehlt es sich, wegen der jeweils anzutreffenden Eigenheiten eine getrennte Untersuchung nach den einzelnen Bereichen vorzunehmen, in denen der Anscheinsbeweis vorkommt.
186
Kollhosser, S. 79; Weyreuther, DRiZ 1957, S. 58. Hainmüller, S. 31, nennt Erfahrungssätze dieser Art „Erfahrungsgrundsätze"; sie sollen gesicherten und aktuellen Erfahrungen auf geeignetem Gebiet entsprechen und ihre Voraussetzungen und die daraus zu ziehenden Folgerungen müßten hinreichend bestimmt sein (vgl. Hainmüller, S. 29f., 35); zustimmend: Rosenberg-Schwab, § 114, l (S. 593); Blomeyer, Gutachten, S. 17. Dagegen kritisch wegen der Aufsplitterung des einheitlichen und eingebürgerten Begriffs „Erfahrungssatz" Kegel, Indivudualanscheinsbeweis, S. 323. 188 RGZ 163, 28 (oben N. 174); Henke, JR 1961, S. 49; ähnlich Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1058; Diederichsen, VersR 1966, S. 217; Locher, S. 259ff., 270f. 189 Vgl. BGH, VersR 1956, S. 54 (oben N. 185); BGH, VersR 1956, S. 697 (oben N 184); Kollhosser, S. 83f., AcP 165, S. 48; Lepa, S. 40f. 190 Petersen, DRiZ 1962, S. 266 (F II a). 181 Kollhosser, AcP 165, 62; Hainmüller, S. 85; Diederichsen, VersR 1966, S. 217f.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1058; Locher, S. 261. 192 Rosenthal, JW 1920, S. 1026; Locher, S. 259, 270, 274ff.; Drefahl, S. 70ff.; Ehrlicher, S. l, 64, 66f.; Marum, S. 15ff; Hauke, VersArch. 1957, S. 323. 193 Vgl. die in N. 163 Zitierten. 187
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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. Der Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit a) Die Meinung von Wassermeyer Wassermeyer194 trägt den Bedenken, die gegen eine „Schließung von Lücken" im Rahmen der Beweiswürdigung bestehen, Rechnung, wenn er beim Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit — von ihm „Prima-facieSchuldbeweis" genannt195 — davon ausgeht, daß eine „Teilung des gesetzlichen Tatbestandes"196 vorgenommen und „die §§ 823, 276 BGB zu Gunsten des Klägers um den subjektiven Tatbestand verkürzt und der Beklagte zu entsprechenden Entlastungen verpflichtet" werde197. Diese Auffassung erläutert Wassermeyer an zwei Beispielen: an dem die Seerechts- und Binnenschiffahrtsjudikatur häufig beschäftigenden Fall198, daß ein fahrendes mit einem vor Anker liegenden Schiff (sog. Stillieger) kollidiert199, und an dem Fall, daß in einer Gastwirtschaft aus einer Flasche ausgeschenkt wird, in der sich nicht, wie angenommen, Wermut, sondern ein giftiges Isoliermittel befindet200. Bei der Klage wegen Beschädigung des Stilliegers und wegen Verletzung des Gastes werde allein aufgrund der Darstellung dieser Sachverhalte prima facie die Schuld des Schädigers festgestellt. Dabei handele es sich um eine „irgendwie — Feststellung" unter „Beiseitelassung des subjektiven Tatbestandes"201, weil weder der Verletzte noch der Richter wüßten, worauf das Fehlverhalten des Schädigers zurückzuführen sei.
b) Eigene Stellungnahme Dem Ergebnis ist zuzustimmen, der Begründung dagegen nicht. Bei dem im Schadensersatzrecht anzuwendenden objektiven und typisierten
194
Kollisionsprozeß, S. 97ff., 105f., Referat, S. E 8ff., Beweis, S. 14ff.} 20ff. Vgl. oben S. 84. 196 Kollhosser, AcP 165, S. 71, spricht von der Aufspaltung eines komplexen Tatbestandsmerkmales, die dazu führe, daß der Kläger nur die Tatsachen zu beweisen brauche, die typischerweise auf ein Verschulden hindeuteten. 197 Referat, S. E 10. Die Anwendung wird jedoch von Wassermeyer nicht auf deliktische Schadensersatzansprüche beschränkt (vgl. Beweis, S. 24f.). 198 Vgl. dazu Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. 107ff. Kollhosser, S. 25, weist darauf hin, daß in solchen Fällen nach der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts eine „Präsumtion für Schuld" eingreifen sollte. *** Kollisionsprozeß, S. 97. 200 Referat, S. E 8 f. Ähnliche Fälle sind vom Reichsgericht wiederholt entschieden worden, vgl. RG (13. 2. 08 — VI 172/07) JW 1908, S. 237; RG (12. 4. 12 — II 86/12) JW 1912, S. 682, RGZ 97, 116, (6. 11. 19 — VI 215/19). 201 Referat, S. E 8. 195
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. tichterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Fahrlässigkeitsmaßstab*0* treten die individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die der Schädiger im Einzelfall besitzt, gegenüber den Kenntnissen und Fertigkeiten eines gewissenhaften Vertreters der Gruppe, zu der der Täter gehört, in ihrer Bedeutung zurück203. Die zu fordernde Sorgfalt wird an dem Verhalten gemessen, das von einem gedachten über normale Eigenschaften verfügenden Arzt, Handwerker, Kaufmann, Steuermann oder Gastwirt in Situationen der zu entscheidenden Art jeweils erwartet werden kann204. Der objektive Fahr las sigkeitsbegriff umfaßt eine Einstandspflicht für die Beobachtung der Sorgfalt, wie sie von dem verletzten Sozialpartner bei einem Angehörigen der betreffenden Gruppe vorausgesetzt werden kann205. Wird das Verhalten des Steuermannes und des Gastwirts in den beiden Beispielsfällen nach diesen Gesichtspunkten beurteilt, dann ist der vorgetragene Sachverhalt ausreichend, um eine Fahrlässigkeit zu bejahen. Der Richter verzichtet nicht deshalb auf eine weitere Klärung, weil er den subjektiven Tatbestand des § 823 BGB oder einer anderen den Schadensersatzanspruch begründenden Norm im diesen Fällen „beiseiteläßt" sondern weil bei einem solchen Sachverhalt, bei dem nichts für eine vom Normalen abweichende Situation spricht, aufgrund der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, daß der Schädiger schuldhaft gehandelt hat208. Wie es im einzelnen zu diesem Fehlverhal202
Im Rahmen dieser Untersuchung muß eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Auffassungen des Fahrlässigkeitsbegriffes unterbleiben (vgl. dazu die Darstellungen bei Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 22ff., und Hainmüller, S. 91 ff., sowie die zusammengefaßte Gegenüberstellung der verschiedenen Fahrlässigkeitslehren, die J. Esser, Schuldrecht, I, S. 244f., gibt). Ein Ausklammern dieses umfangreichen Streit- und Diskussionsstoffes ist möglich, weil die Einordnung des Fahrlässigkeitselementes in den Gesamttatbestand der haftungsbegründenden Norm ohne Einfluß auf die Ergebnisse bleibt, die mit Hülfe des Anscheinsbeweises erzielt werden können. Zwar werden diese Ergebnisse entsprechend den verschiedenen Auffassungen der Fahrlässigkeit jeweils anders verwertet, das Wesen des Anscheinsbeweises wird jedoch dadurch nicht verändert. Auf das Wesen und die Struktur des Anscheinsbeweises kommt es aber im Rahmen dieser Untersuchung allein an. 203 RGZ 126, 329, 331 (7. 12. 29 — 1192/29); BGH (13. 6. 60 — III ZR 54/59) NJW 1961, S. 600; BGHZ 39, 281, 283 (21. 5. 63 — VI ZR 254/62); BGH (10. 3. 70 — VI ZR 182/68) NJW 1970, S. 1038,1039; J. Esser, Schuldrecht I, S. 247, 249f.; Larenz, Schuldrecht I, S. 211f.; Schönke- Kuchinke, S. 255; Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 128ff. (bei besonderen, den „Standard" übersteigenden Fähigkeiten des Verletzers sollen allerdings nach Auffassung von Deutsch, aaO, S. 143, auch diese bei der Sorgfaltsbemessung berücksichtigt werden); Buchner, NJW 1967, S. 2383; Hainmüller, S. 119ff. 204 Larenz, aaO, S. 211; E. Pawlowski, S. 61 f. 205 J. Esser, Schuldrecht I, S. 247f.; Soergel-Reimer-Schmidt, § 276, Rdn. 17; Larenz, aaO, S. 212; Buchner, aaO, S. 2382; vgl. auch Wiethölter, S. 21 ff. 206 Kollhosser, AcP 165, S. 63f.; Henke, S. 170ff.; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV 7 a, aa (S. 1155); E. Schneider, MDR 1966, S. 28. Das von Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. 102, allerdings zur Stütze der von ihm vertretenen abweichenden Auffassung angeführte Zitat von Golldtty (Rec. Sirey 1958, S. 182), daß das Verschulden ebenso sicher anzunehmen sei (Gollotty spricht von „vermuten") „wie die Feststellung
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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ten kam und welche Gründe für das Versagen maßgebend sind, ist für die rechtliche Wertung unerheblich, weil — worauf Blomeyer207 in seiner Kritik gegenüber Wassermeyer zutreffend hinweist — alle bei diesem Sachverhalt in Betracht kommenden Verhaltensweisen als schuldhaft zu bewerten wären. Der feststehende Sachverhalt reicht aus, um aufgrund der Lebenserfahrung das rechtliche Werturteil208 zu fällen: dieses Verhalten ist fahrlässig209. Gleiche Feststellungen lassen sich treffen, wenn Entscheidungen betrachtet werden, in denen die Rechtsprechung einen Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit als geführt angesehen hat. Fährt der Führer einer Straßenbahn auf einen weithin sichtbaren Omnibus auf210, kollidiert ein Kraftfahrer auf übersichtlicher Straße mit einem neben der Fahrbahn stehenden Baum211 oder gerät er mit seinem Fahrzeug auf den Bürgersteig212, bricht eine Zimmerdecke in einem Neubau wenige Wochen nach ihrer Fertigstellung ein213 oder wird nach einer Operation eine 16 cm lange und 8 cm breite Arterienklemme in der Bauchhöhle des Patienten zurückgelassen214, gelangt vergiftetes Speiseöl aus einer Ölfabrik in den Verkehr215, dann hat der Verantwortliche fahrlässig gehandelt, wenn keine Ausnahmesituation bestanden hat, in der auch eine den zu stellenden Anforderungen voll gerecht werdende Person nicht anders hätte handeln können218. In allen diesen Fällen wird die vom Richter gezogene Schlußfolgerung auf die Tatsachen, die den Schuldvorwurf begründen217, durch einen Erfahrungssatz gestützt. Da die Auffassung vertreten wird, daß der im Rahvon Rauch die Existenz eines Feuers voraussehen läßt", trifft diesen Punkt genau. Soll der Richter sich nicht mit der Ermittlung von Rauch begnügen dürfen, wenn es ihm auf die Feststellung eines Feuers ankommt? 207 Gutachten, S. 23; ähnlich Sanden, VersR 1966, S. 202. 208 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 248. 209 Entgegen der ständigen Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH — 19. 10. 71 — VIZR 91/70 — VersR 1972, S. 171,172, mit weiteren Nachweisen) läßt sich auch aufgrund eines Anscheinsbeweises grobe Fahrlässigkeit feststellen, wenn nach der Lebenserfahrung auf eine besonders grobe Sorgfaltsverletzung zu schließen ist (ebenso Hagel, VersR 1973, S. 796ff., mit unfangreicher Rechtsprechungs- mit Schrifttumsübersicht; E. Schneider, MDR 1971, S. 537; Prölss-Martin, § 6, Anm. 12 — S. 97). 210 BGH (11. 7. 58 — VI ZR 108/57) VersR 1958, S. 626. 211 BGH (10. 12. 52 — VI ZR 26/52) VersR 1953, S. 69; BGHZ 8, 239, 242 (18. 12. 52 — VI ZR 54/52); BGH (15. 6. 62 — VI ZR 229/61) VersR 1962, S. 1010. 212 BGH (22. 4. 58 — VI ZR 143/57) VersR 1958, S. 566. 213 BGH (27. 9. 57 — VI ZR 139/56) VersR 1958, S. 107. 214 BGH (29. 6. 53 — VI ZR 88/52) LM § 286 (C) ZPO Nr. 15. 215 BGH (1. 4. 53 — VI ZR 77/52) VersR 1953, S. 242; vgl. dazu Diederichsen, Haftung des Warenherstellers, S. 184ff. 219 Schönke-Kuchinke, S. 256. 217 Es wird nicht die Schuld „als solche", wie Wassermeyer, Beweis, S. 16f., Referat, S. E 9, meint, sondern die tatsächliche Verwirklichung eines Tatbestandselements festgestellt; vgl. Blomeyer, Gutachten, S. 23.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richteil. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
men eines Anscheinsbeweises angewendete Erfahrungssatz sich von anderen unterscheidet218, ist kurz der Frage nach den besonderen Merkmalen dieses Erfahrungssatzes nachzugehen. c) Die Merkmale des Erfahrungssat^es im Rahmen des Anscheinsbeweises Grundlage jedes Erfahrungssatzes ist eine statistische Masse, ein Kollektiv im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie219. In diesem Kollektiv sind Vorgänge mit gleichen Merkmalen zusammengefaßt, beispielsweise Auffahrunfälle, Fälle, in denen Decken einstürzten oder Operationsgeräte in der Operationswunde zurückblieben220. Je größer die Zahl der identischen Merkmale zwischen dem zur Entscheidung gestellten Sachverhalt und den das Kollektiv bildenden Erscheinungen ausfällt, desto mehr wächst die Genauigkeit der für den Einzelfall zu gewinnenden Erkenntnisse. Die Richtigkeit dieser Regel läßt sich an einem von Erismann221 gebrachten Betspiel zeigen. In einer Urne sind 100 aufklappbare Holzkugeln, von denen 80 weiß und 20 rot sind. In jeder dieser Kugeln liegt ein Zettel mit einer der Ziffern l bis 10, und zwar enthalten 10 Kugeln einen Zettel mit der Aufschrift l, 10 einen Zettel mit der Aufschrift 2 usw., so daß alle 10 Ziffern in der Urne gleich häufig vertreten sind. Die Wahrscheinlichkeit, bei dieser Verteilung eine Kugel zu ziehen, die einen Zettel mit der Aufschrift l enthält, beträgt x/10 (Wahrscheinlichkeit — w — = günstige Fälle — g — geteilt durch mögliche Fälle — m —; w = g : m)222. Nun ist aber die Verteilung der Ziffern gleichzeitig auch noch so gewählt, daß die 20 roten Kugeln 10 mal die Ziffer l, 2 mal die Ziffer 2 und von den übrigen Ziffern je eine enthalten. Die Wahrscheinlichkeit bei einer roten Kugel einen Zettel mit der Ziffer l zu ziehen ist eine ganz andere — nämlich l : 2 — als in dem Falle, in dem die Farbe der Kugel nicht beachtet wird. Die Farbe ist ein zusätzliches Merkmal, das zu einer weitaus genaueren Wahrscheinlichkeitsaussage führt. Zwar bleiben die früheren Feststellungen auch weiterhin richtig, die Farbe präzisiert diese Feststellungen jedoch erheblich. Ziehe ich eine rote Kugel, dann werde ich nur von den Angaben ausgehen, die für rote Kugeln zutreffen, habe ich eine weiße Kugel, dann weiß ich z. B., daß die Ziffer l in ihr nicht enthalten sein kann und daß die Wahrscheinlichkeit, einen Zettel mit der Ziffer 3 zu finden, mehr als doppelt so groß ist wie bei einer roten Kugel223. 218
Henke, JR 1961, S. 48ff.; Fleck, VersR 1956, S. 331; Hainmüller, S. 29ff. (vgl. oben N. 187). 219 Vgl. von Mises, Wahrscheinlichkeit, S. 12ff., 18; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 5. 220 R. Schmidt, Lehrbuch, S. 342: „Die Erfahrungssätze sind die aus vielen sinnesmäßig beobachteten gleichförmigen Einzeltatsachen abgeleiteten allgemeinen Regeln, wonach nach oftmaliger Wiederholung gewisser Vorgänge ihre Wiederkehr auch in der Zukunft erwartet werden kann". Vgl. auch Rammos, Festschrift Wengler (1973), S. 693 f.; Loeber, S. 6 f.; Pagendarm, S. 26 f. 221 Studium Generale 4, S. 90 N. 1. 222 VgL wichmann, NJW 1963, S. 384. 223 Vgl. auch Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 6; Ekelöf, ZZP 75, S. 294.
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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Es ist deshalb immer danach zu trachten, einen Erfahrungssat^ anzuwenden, der dem tatsächlichen Geschehen am nächsten kommt, das heißt, der in möglichst vielen Merkmalen mit ihm übereinstimmt. Ein Kollektiv, das Auffahrunfälle oder den Einsturz von Decken ohne weitere Kennzeichen zum Gegenstand hat, ist weitaus weniger aussagekräftig wie eins, das Sachverhalte umfaßt, in denen Straßenbahnen auf weithin sichbare Fahrzeuge oder Hindernisse auffahren oder Zimmerdecken in Neubauten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes einstürzen224. Aufgrund des Kollektivs können die Ursachen für die einzelnen Vorgänge miteinander verglichen und Schlußfolgerungen auf die Sorgfalt des Verantwortlichen gezogen werden. Die Feststellung der relativen Häufigkeit bestimmter Erscheinungen bietet die Grundlage für eine Wahrscheinlichkeitsaussage über die Richtigkeit einer entsprechenden Hypothese225, etwa der Annahme, daß der Einsturz einer Zimmerdecke im Neubau auf Umstände zurückzuführen ist, die einen Schuldvorwurf begründen228. Ein sicherer Schluß auf die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses227 ist nur möglich, wenn sich das Kollektiv aus einem objektiv feststehenden Material zusammensetzt228. Wissenschaftlich kontrollierte Beobachtungen von Massenerscheinungen und Wiederholungsvorgängen zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeitswerten gibt es bei den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens jedoch nicht. Dennoch läßt sich rechtfertigen, auch für diese Erfahrungssätze den Anspruch einer gesicherten Objektivität zu erheben, die eine Basis für Wahrscheinlichkeitsaussagen bilden kann. Wenn der einzelne Mensch Erfahrungen — man könnte auch sagen: Statistiken — über die Häufigkeit bestimmter Erscheinungen sammelt, handelt er trotz aller Subjektivität objektiv und wendet dabei ein ähnliches Verfahten wie ein Statistiker an. Das Resultat der „Statistik" liegt nicht in seinem Belieben229. Die Objektivität und Gültigkeit des erzielten Ergebnisses wird ganz erheblich dadurch erhöht, daß voneinander unabhängig aufgestellte „Statistiken" zu gleichen Ergebnissen gelangen. Denn ein gesicherter Satz der Lebenserfahrung — und nur gesicherte Erfahrungssätze dürfen berücksichtigt werden — setzt im allgemeinen voraus, daß er von vielen geprüft und für richtig befunden wurde230. Deshalb kann 224
Weitnauer, aaO, S. 16, weist darauf hin, daß der BGH in einem Fall die Anwendung von Statistiken über die Todesursachen im Wasser Verunglückter als nicht ausreichend angesehen hat, weil sie nicht zwischen Schwimmern und Nichtschwimmern unterschieden haben. 225 Vgl. Strohal, Studium Generale 4, S. 80 ff. 226 Vgl. Weitnauer, aaO, S. 8, 13. 227 Zur „Wahrscheinlichkeit" des Einzelfalles vgl. unten S. 112. 228 Vgl. von Mises, Wahrscheinlichkeit, S. 10 ff., 87; Weitnauer, aaO, S. 3, 5. 229 Vgl. Ivo Kohler, Studium Generale, 4, S. 114. 230 Dagengen will Döring, Erforschung, S. 341 f., auch Erkenntnissen, die der Richter aus höchst persönlichen Erlebnissen ableitet, die Eigenschaft von Erfahrungssätzen zuerkennen (ähnlich auch Hainmüller, S. 15). Dies ist jedoch nur zulässig, wenn die Richtigkeit dieser Erkenntnis auch objektiv gesichert ist (Kuchinke, Grenzen, S. 209).
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
eine solche Erfahrungsregel hinsichtlich ihrer Richtigkeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auf eine gleiche Stufe gestellt werden. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, daß die auf Beobachtungen des täglichen Lebens beruhenden Erfahrungssät^e, wenn sie Ausnahmen zulassen, keine genauen Angaben über das Verhältnis günstiger Fälle zu möglichen liefern. Wenn deshalb auch nur subjektiv gefärbte Schätzungen grober Wahrscheinlichkeitswerte in Betracht kommen231, kann dennoch überprüft werden, ob diese Schätzungen in den vom einzelnen Erfahrungssatz gezogenen Grenzen bleiben oder zu Ergebnissen kommen, die im Widerspruch zu dem Erfahrungssatz stehen. Trotz des weiten Beurteilungsspielraums, der sich bei Anwendung dieser Erfahrungssätze ergibt, kann deshalb eine objektive Kontrolle grobe Fehler verhindern232.
Gemeinsam ist allen bisher behandelten Fällen, in denen ein Anscheinsbeweis geführt worden ist, daß nur ein einziger Erfahrungssatz angewendet wird, aus dem die rechtserheblichen Tatsachen erschlossen werden. Der zu entscheidende Sachverhalt muß deshalb in seinen wesentlichen Merkmalen mit den das Kollektiv des Erfahrungssatzes bildenden Fällen übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist gemeint, wenn von dem „typischen Geschensablauf" gesprochen wird. Der einzelne Erfahrungssatz kann sich wiederum aus verschiedenen einzelnen „Erfahrungstatsachen" zusammensetzen. Der vom BGH in seiner Entscheidung vom 22. 10. 1955233 angewendete Erfahrungssatz lautet: Fährt ein Fahrzeug in der Dunkelheit auf ein anderes Fahrzeug auf, dessen Rückseite nicht vorschriftsmäßig beleuchtet ist, so ist die fehlende Beleuchtung ursächlich für den Zusammenstoß. Dieser Erfahrungssatz läßt sich in folgende einzelne „Erfahrungstatsachen" zerlegen: Fahrzeuge, die im Dunkeln nicht beleuchtet sind, können von anderen Verkehrsteilnehmern nur schwer erkannt werden. Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge kann im heutigen Straßenverkehr nicht so herabgemindert werden, daß nachts in jedem Fall ein sofortiges Halten vor unbeleuchteten Hindernissen möglich ist234. Der Lichtkreis des eigenen Fahrzeuges kann auch bei angemessener Geschwindigkeit nicht ausreichen, um vor unbeleuchteten Hindernissen noch rechtzeitig bremsen zu können. Ein Ausweichen mit dem eigenen Fahrzeug vor plötzlich auftauchenden Hindernissen ist nicht immer möglich. Der Mensch sieht im Dunkeln schlechter als am Tage.
Wird der Einzelfall z.B. aus den Merkmalen a, b und c gebildet, und gibt es nur einen Erfahrungssatz, der die Merkmale a und b, nicht aber c enthält, dann wird sich die „Irrtumswahrscheinlichkeit"235 entsprechend vergrößern236. Ob sie in Kauf genommen und die Entscheidung dennoch 231
Vgl. dazu unten S. 95f., 111. A. A. Wassermeyer, Beweis, S. 10f., der nur eine subjektive Bewertung für möglich hält. 233 VI ZR 203/54, VersR 1955, S. 760. 234 A. A. OLG Zweibrücken (30. 10. 70 — l U 73/69) VersR 1971, S. 575, 576; vgl. auch BGH (27. 6. 72 — VI ZR 184/71) VersR 1972, S. 1067. 235 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 46. 236 Dies ist der richtige Kern der Auffassung, daß beim Anscheinsbeweis eine „Gesamtbetrachtung" genüge, daß die „individuellen Kennzeichen" des Einzelfalles 232
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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auf den Erfahrungssatz allein gestützt werden kann, richtet sich nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, der zur Feststellung von Tatsachen im Prozeß gefordert wird237. Der Erfahrungssatz kann zwar unter bestimmten Voraussetzungen in seinen Merkmalen hinter dem konkreten Fall zurückbleiben, niemals aber darüber hinausgehen, wenn er anwendbar sein soll. Enthält der Erfahrungssatz Merkmale, die im Einzelfall nicht vorkommen, dann trifft seine Aussage nicht auf den Einzelfall zu (in dem oben238 angeführten Beispiel sind die Angaben über rote Kugeln für weiße nicht richtig). Weist der Einzelfall gegenüber dem Erfahrungssatz zusätzliche Merkmale auf, dann kommt es darauf an, ob diese zusätzlichen Merkmale ihn zu einem anderen Fall werden lassen, auf den der Erfahrungssatz, dessen Anwendung erwogen wird, nicht paßt und für den vielleicht ein anderer Erfahrungssatz gilt23·. Ist diese Frage zu verneinen, dann ist der Erfahrungssatz anwendbar, und zwar direkt, nicht analog, wie Döring240 meint; seine Angaben werden aber häufig wegen der Nichtberücksichtigung bestimmter Merkmale des Einzelfalles (Beispiel: Farbe der Kugeln, Lautlosigkeit des Versinkens eines Nichtschwimmers im Wasser241 an Genauigkeit verlieren.
Wird die zum Beweis geforderte Wahrscheinlichkeit242 durch den Erfahrungssatz im Einzelfall nicht erbracht, dann bleibt nur, die Lücke durch andere Mittel — weitere Erfahrungssätze, die sich auf einzelne Merkmale des konkreten Geschehens beziehen, oder Beweismittel — zu schließen. Durch eine solche „Ergänzung" des Erfahrungssatzes wird aber nach üblicher Anschauung die Grenze des Anscheinsbeweises überschritten243. Der zweite Faktor, der den Grad der sich im Einzelfall bei Anwendung des Erfahrungssatzes ergebenden Wahrscheinlichkeit bestimmt, ist die Verläßlichkeit der durch den Erfahrungssatz gemachten Aussage. Hierdurch wird die Obergrenze festgelegt, die nur bei völliger Übereinstimmung des einzelnen Sachverhalts mit allen Merkmalen des Erfahrungssatzes zu erreichen ist. Der Wahrscheinlichkeitswert der Aussage eines Erfahrungssatzes kann im allgemeinen lediglich geschätzt werden. Nur wenn er auf wissenschaftlich fundierten Untersuchungen beruht, können genaue Angaben erwartet werden. Bei anderen Erfahrungssatzen wird zwischen der Annahme, daß es immer so ist, wie der Erfahrungssatz lehrt (beispielsweise bei Naturgesetzen), und der Erwartung, daß es meist so ist, wie der Erfahrungssatz in Aussicht zurücktreten würden und daß eine „Lücke" im Sachverhalt hingenommen werden könnte (vgl. oben S. 87 f.). Diese Beschreibungen betreffen nur die Übereinstimmung von Einzelfall und Erfahrungssatz, nicht aber den Sachverhalt, der zur Verwirklichung des einzelnen Tatbestandselementes — hier der Fahrlässigkeit — feststehen muß. Insoweit darf es keine „Lücke" geben. 237 Vgl. unten S. lloff. 239 S. 92. 239 Vgl. Weitnauer, 46. DJT, Sitzungsberichte, S. E 73. 240 Erforschung, S. 344. 241 Vgl. dazu unten S. 100. 242 Zur Frage nach der Bedeutung der Wahrscheinlichkeit beim Beweis vgl. unten S. 105 ff. 243 Vgl. aber unten S. 122, 131.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung stellt, unterschieden werden. Hinsichtlich der Häufigkeit der Fälle, in denen die Aussage von Erfahrungssätzen der zweiten Kategorie zutrifft, sind dann meist nur noch grobe Abstufungen wie „fast immer", „sehr häufig", „in der überwiegenden Mehrzahl" möglich244.
Das Besondere des Erfakrungssatyes, der im Rahmen eines Anscheinsbeweises der Fahrlässigkeit zur Anwendung kommt, liegt demnach nicht in Aufbau und Inhalt245 — hierin sind alle Erfahrungssätze gleich —, auch nicht in der größeren Überzeugungskraft seiner Aussage246 — ein Erfahrungssatz, der sich nur auf Teile des Einzelfalles bezieht, kann wesentlich überzeugungskräftiger sein247 —, sondern allein in der weitreichenden Übereinstimmung mit dem zu entscheidenden Sachverhalt248, die dazu führt, daß der gesamte rechtserhebliche Vorgang vom Richter als geklärt angesehen wird249.
d) Folgerungen für den Gegenbeweis Ein Anscheinsbeweis kann selbstverständlich nur dann geführt werden, wenn die „tatsächlichen Voraussetzungen250" des ihn tragenden Erfahrungssatzes251 feststehen252, d.h. wenn die notwendige253 Übereinstimmung zwischen Einzelfall und Erfahrungssatz vom Richter bejaht wird. Ist aber ein Sachverhalt festgestellt, auf den ein Erfahrungssatz zutrifft, dann wird der Richter aus ihm den Schluß ziehen, daß das, was in der weit überwiegenden Zahl der Fälle vorkommt, auch in dem entscheidenden 244
Vgl. dazu unten S. 113. Zu einer solchen Unterscheidung führt die Auffassung von Henke, JR 1961, S. 51, die er zur Abgrenzung des Anscheinsbeweises vom Indizienbeweis vertritt. 246 So aber Henke, aaO, S. 48f.; Fleck, VersR 1956, S. 329, 331. Wie hier Weitnauer. Karlsruher Forum 1966, S. 14. 247 Vgl. E. Schneider, Beweis, S. 72f. 248 Gemeint ist immer der Sachverhalt, der zur Verwirklichung des einzelnen Tatbestandsmerkmales (hier des Fahrlässigkeitselementes) führt. 248 Ähnlich Weyreuther, DRiZ 1957, S. 57; vgl. auch Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 912f. 250 E. Schneider, MDR 1966, S. 29; Hainmüller, S. 217. 251 Bei der Anwendung eines Erfahrungssatzes ergibt sich zwischen ihm und dem konkreten Sachverhalt das gleiche Verhältnis wie zwischen einem Rechtssatz und den ihn verwirklichenden Tatsachen. Stein, S. 16, nennt wegen dieser Parallele die Erfahrungssätze deshalb auch „tatsächliche Obersätze". 252 Deshalb ist eine mögliche Verteidigung gegen den Anscheinsbeweis, die tatsächlichen Merkmale, an die der Erfahrungssatz anknüpft, zu bestreiten; werden sie nicht ermittelt, unterbleibt der Anscheinsbeweis (vgl. E. Schneider, aaO). Im gleichen Sinn dürfte die Bemerkung von Schönke-Kuchinke, S. 256, aufzufassen sein, daß es für die Widerlegung des Anscheinsbeweises der Schuld genüge, wenn Zweifel offen blieben, ob sich der Verantwortliche in einer Normalsituation befunden habe. 253 Vgl. oben S. 93 f. 245
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Sachverhalt richtig ist254. Werden gegenüber dem feststehenden Sachverhalt, beispielsweise dem Schleudern eines Kraftfahrzeuges auf den Bürgersteig, Tatsachen für eine Ausnabmesituation vorgetragen, z.B. daß sich auf der Fahrbahn eine Öllache befunden habe, die das Fahrzeug zum Schleudern brachte, dann wird der Richter den Erfahrungssatz nur dann nicht anwenden, wenn er von der Existenz der „zusätzlichen" Tatsachen, die den ursprünglichen Sachverhalt abwandeln, überzeugt ist255. Die Notwendigkeit, die gegen den Anscheinsbeweis vorgebrachten Tatsachen zu beweisen, wird besonders deutlich gemacht, wenn für diese Tatsachen ein anderer Erfahrungssatz gilt, der zu einem entgegengesetzten Ergebnis führt, wie in dem genannten Beispiel der Erfahrungssatz, daß Kraftfahrzeuge, die auf Öl geraten, ins Schleudern kommen. Ob die Tatsachen, die gegen den Anscheinsbeweis vorgetragen werden, den Ein2elfall so abwandeln, daß er nicht mehr mit den das Kollektiv bildenden Fällen übereinstimmt, oder ob eine Ausnahme (in der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie: ein ungünstiger Fall) behauptet wird, ist aufgrund des jeweiligen Erfahrungssatzes zu ermitteln. So kann in dem Vortrag des auf den Bürgersteig geratenen Kraftfahrers die Behauptung eines ungünstigen Falles liegen, wenn sich der Erfahrungssatz auf Kraftfahrzeuge, die auf Bürgersteige schleudern, schlechthin bezieht; dagegen paßte der Erfahrungssatz nicht mehr, wenn — wie im Beispielsfall anzunehmen ist — Fälle mit zusätzlichen Erschwerungen (öl, Schnee, Eis etc.) ausgeschlossen sind.
Überzeugt sich der Richter davon, daß eine vom Normalfall abweichende Sachverhaltsgestaltung gegeben ist, dann kann er nicht mehr — zumindest nicht mehr aufgrund der bisher festgestellten Tatsachen — das Verschulden bejahen. Daß der Richter wegen der vorhandenen Ausnahmesituation die Fahrlässigkeit auch verneint, ist dagegen für den Erfolg des Gegenbeweises nicht erforderlich; für den Gegenbeweis kommt es auch hier258 nur darauf an, zu verhindern, daß der Richter ein Tatbestandsstück des anzuwendenden Rechtssatzes als erfüllt ansieht. 254
Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 13; Rosenberg, ZZP 67, S. 480 (linke Spalte). Der Richter wird nicht deshalb, weil er den Tatbestand der Schuld „aufspaltet" (so aber Wassermeyer, Referat, S. E 10 — vgl. oben S. 89 —; Kollhosser, AcP 165, S. 71), außergewöhnliche Umstände (plötzliches Unwohlsein, Mücke im Auge) unberücksichtigt lassen, sondern weil nach der Lebenserfahrung die Normal situation eben die weitaus häufigere ist (vgl. auch Schönke-Kuchinke, S. 255 f.). 255 BGHZ 2, l, 5f. (oben N. 163); BGHZ 6,169,171 (23. 5.52 —IZR163/51); BGHZ 8, 240 (oben N. 210); BGH (24. 6. 71 — ZR 105/69) VersR 1971, S. 856; BGH (18.4. 72 — VI ZR 149/70) VersR 1972, S. 767, 768; BGH (23.10. 73 — VI ZR 116/71) VersR 1974, S. 196,197; OLG Köln (14.4.71 — 2 U 1/71) VersR 1971, S.945, 946; OLG Koblenz (23. 6. 72 — 2 U 429/71) VersR 1974, S. 177,178; Blomeyer, Gutachten, S. 20; Fleck, VersR 1956, S. 331; Prölss, S. 33f.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1061; E. Schneider, MDR 1966, S. 29; Baumbach-Lauterbach, § 282 Anh. 3 B; Wieczorek, § 282, Anm. Dlla 3, § 287, Anm. CII b. Bedenken äußert Kollhosser, S. 110 ff., vom Standpunkt eines rein subjektiven Uberzeugungsbegriffes. 258 Vgl. oben S. 40 f. 7
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e) Feststellungslast und Beweisführungslast Zu der Frage, ob dem Gegner der durch den Anscheinsbeweis begünstigten Partei eine Feststellungslast für die Tatsachen zufällt, die den „typischen Geschehensablauf" im Einzelfall zu einem atypischen werden lassen, auf den der Erfahrungssatz nicht mehr anwendbar ist, kann weitgehend auf frühere Ausführungen verwiesen werden257. Dort ist dargelegt worden, daß bei Zweifeln an der Existenz von Indizien Beweislastnormen nicht eingreifen. Wird aber in diesen Fällen keine Beweislastentscheidung getroffen, dann kann es auch insoweit keine Feststellungslast geben. Die Notwendigkeit, der sich eine Partei beim Anscheinsbeweis gegenübersieht, durch Gegenbeweise den Prozeßverlust zu vermeiden, ist Inhalt der Beweisführungslast*™. Da der Richter aufgrund des Erfahrungssatzes davon überzeugt ist, daß der Verantwortliche fahrlässig gehandelt hat, muß die Gegenpartei versuchen, durch ihre Beweise diese Überzeugung wieder zu erschüttern259. Die Auffassung, daß der Anscheinsbeweis die Beweislast „umkehre260", ist demnach zutreffend, wenn damit die Veränderung der Beweisführungslast gemeint wird; ihr kann dagegen nicht zugestimmt werden, wenn dadurch eine Beeinflussung der Feststellungslast behauptet werden soll. In dieser Frage zeigt sich erneut, daß bei der Diskussion schwieriger Probleme der Beweislast nicht mit einem einheitlichen Beweislastbegriff auszukommen ist, sondern daß die verschiedenen Erscheinungsformen der Beweislast genau bezeichnet werden müssen261. Prüft man die Ausführungen zur Beweislastumkehr" beim Anscheinsbeweis2ea im Schrifttum, dann finden sich zumindest bei einigen Anhaltspunkte dafür, daß an die Beweisführungslast gedacht ist. So bemerkt Wassermeyer263, daß die Beweislastumkehr durch einen Beweis ausgelöst werde und erst eintrete, wenn der Richter sich von dem Vorliegen irgendeines Verschuldens überzeugt habe. Levis264 meint zwar, daß die „Beweislastumkehr" nicht „kraft freier richterlicher Überzeugung", sondern „kraft bindender abstrakter Rechtsvorschriften" eintrete, spricht aber dann 257
Oben S. 43f. Vgl. oben S. 45 ff. 259 Prölss, S. 6. 260 Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. 106, Referat, S. E. 10, Beweis, S. 19 f. (Bezeichnenderweise hat Wassermeyer seine früher vertretene Ansicht, der Anscheinsbeweis für Verschulden setze ein non liquet voraus, ausdrücklich aufgegeben; s. Referat, S. E 10 oben); ähnlich Kollhosser, AcP 165, S. 72; Levis, JW 1932, S. 107. 261 Vgl. oben S. 50. 262 Die Fragen der „Beweislastumkehr" in anderen Fällen werden gesondert behandelt; vgl. dazu unten S. 132ff. 263 Kollisionsprozeß, S. 106. An anderer Stelle (aaO, S. 103) erklärt Wassermeyer: „Die Feststellung des Verschuldens beruht... auf richterlicher Überzeugung. Mithin richtet sich die Widerlegung ... doch gleichzeitig gegen die richterliche Überzeugung". 264 JW 1932. S. 107f. 258
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davon, daß der Träger der Beweislast von der Notwendigkeit weiterer Beweisführung ^unäcbst befreit werde und daß die Beweislastumkehr keine „stabile", sondern eine „labile" Beweislage schaffe. III. Der Anscheinsbeweis der Kausalität Da die Suche nach einer Besonderheit beim Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit, die ihn bezüglich der Beweiswürdigung oder Beweislast von anderen Beweisen wesentlich unterscheidet, ergebnislos verlaufen ist, muß die gleiche Frage für den Anscheinsbeweis der Kausalität wiederholt werden. a) Einige Beispiele aus der Rechtsprechung Das Wesen dieses Anscheinsbeweises dürfte sich wohl am ehesten offenbaren, wenn einige Fälle aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs betrachtet werden. (Luesfall I)265. Eine Frau hat in einem Krankenhaus eine Blutübertragung von einem Blutspender erhalten, der an Lues im III. Stadium erkrankt war. Als die Frau mehrere Jahre später selbst Blut spenden will, ist ihre Wassermannreaktion positiv. Typische Lueserscheinungen treten bei ihr aber nicht auf. Ihr Ehemann und ihre Söhne sind gesund. Ein Gutachter erklärt, daß eine Infektion mit Lues durch Blutübertragung von einem Kranken der Stufe III zwar nicht ausgeschlossen, aber selten sei. Der BGH bejaht einen Anscheinsbeweis. Das Krankheitsbild der Frau lasse zwar den Schluß auch auf andere Erkrankungen zu, aber dafür fehle jeder Anhaltspunkt, während für eine Lueserkrankung die Bluttransfusion spreche. Auf den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung durch das Blut eines Luetikers der Stufe III käme es dabei nicht entscheidend an. Denn ergebe sich, „daß bei einem bestimmten Krankheitsbild für eine Ursache feste Anhaltspunkte bestehen, die diese Ursache — wenn auch entfernt — als möglich erscheinen lassen, während für die anderen in Frage kommenden Ursachen solche Anhaltspunkte tatsächlicher Art völlig fehlen, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für die erste Ursache"2 . (Luesfall II)287. Einem Unfallverletzten wird Blut übertragen. Ein knappes Jahr später wird bei der Blutspenderin Lues festgestellt. Eine Untersuchung des Unfallverletzten ergibt eine Lueserkrankung der II. Stufe. 265
BGHZ 11, 227 (14.12. 53) — III ZR 183/52). Dieser Fall ist wiederholt im Schriftum erörtert worden; vgl. Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 329f.; Blomeyer, Gutachten, S. 34ff.; Prölss, S. 20f.; Johannsen, LM § 286 (Q Nr. 16. 268 BGHZ 11, 230. 267 BGH (12. 2. 57 — VI ZR 303/56) VersR 1957, S. 252. Auch dieser Fall ist eingehend von Kegel , aaO, S. 331 f., und Blomeyer, aaO, S. 35f., behandelt worden.
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Es ist streitig, ob die Blutspenderin bereits im Zeitpunkt der Transfusion erkrankt war. Ein Sachverständiger hält dies für möglich, ebenso aber auch das Gegenteil. Der BGH nimmt wiederum einen Anscheinsbeweis an. Die denkbaren Ansteckungsmöglichkeiten seien zwar unabsehbar, aber nur eine — die Bluttransfusion — sei greifbar hervorgetreten und in Betracht zu ziehen. (Nichtschwimmerfall)268. In einem Schwimmbad ohne Absperrung für Nichtschwimmer versinkt ein Mann lautlos an einer Stelle, an der die Wassertiefe teilweise zwischen 1,75 und 2 Meter beträgt. Es ist streitig, ob der Mann, der nicht schwimmen konnte, infolge der fehlenden Absperrung auf eine tiefere Stelle geraten und ertrunken ist oder ob als Todesursache eine innere körperliche Störung wie z.B. ein Hirnschlag in Betracht kommt. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, daß Ursache eine plötzliche Bewußtlosigkeit gewesen ist, die den Mann hat untergehen und ertrinken lassen. Ein Sachverständiger legt dar, bei Nichtschwimmern könne schon eine unerwartete Wasserwelle, die in den Mund oder in die Nase dringe, zu starkem Schreck, Husten, Wasserschlucken und Wassereinatmen und dadurch zu einem Schock führen, der eine Ohnmacht und in gewissen, wenn auch seltenen Fällen in Verbindung mit einer besonderen Körperbeschaffenheit sogar den sofortigen Tod verursachen könne. Weiter könne der Hautreiz beim Menschen mit eigenartiger Körperbeschaffenheit zu plötzlichen Herz- und Kreislaufversagen führen. Das OLG hält die Möglichkeit, daß der Mann im tiefen Wasser ertrunken sei, für wenig wahrscheinlich, weil Menschen, die zu ertrinken drohten, sich heftig bewegten und oft schrieen, nicht aber lautlos untergingen. Der BGH vertritt die Auffassung, es sei nach dem Beweis des ersten Anscheins davon auszugehen, daß der Mann an einer für ihn gefährlichen tiefen Stelle versunken wäre und dadurch den Tod gefunden hätte. Um diesen Beweis des ersten Anscheins auszuräumen, hätte es des Nachweises von Tatsachen bedurft, die eine ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes ergeben. Daran fehle es aber. Deswegen könne auch nicht wegen der Lautlosigkeit des Versinkens auf eine andere Ursache geschlossen werden. (Gurkenfall)2'9. In der Fabrik der Klägerin verdirbt die gesamte Produktion eingelegter Gurken durch Weichwerden. Die Parteien streiten darüber, ob dieser Schaden auf die Chlorung des Wassers zurückzuführen sei, das die Klägerin für ihren Gewerbebetrieb aus dem Wasserwerk derbeklagten Stadtgemeinde bezieht und für die Herstellung der zur Gurkenkonservierung als Hilfsstoff benötigten Salzlake verwendet. Die Beklagte hatte das Wasser gechlort, ohne dies bekannt zu machen. Bei der Konservierung von Gurken werden für den dafür erforderlichen Gärprozeß Milchsäurebakterien benötigt, die bei einem bestimmten Chlorgehalt des 268
BGH (3. 2. 54 — VI ZR 332/52) LM § 286 (C) Nr. 17 = NJW 1954, S. 1119 mit ablehnender Anmerkung von Wassermeyer. Vgl. auch Kegel, aaO, S. 332f.; Blomeyer, aaO, S. 36 f., Hofmann, S. 4. 299 BGHZ 17, 191 (9. 5. 55 — II ZR 31/54).
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Wassers vernichtet werden. Es ist streitig, ob das von der Klägerin benutzte Wasser diesen Chlorgehalt aufgewiesen hat. Es steht jedoch fest, daß die von der Beklagten zunächst angewendeten Mittel eine Gleichmäßigkeit der Chlorung nicht gewährleisten und daß Schwankungen in der Chlormenge auch über die Unschädlichkeitsgrenze hinaus nicht ausgeschlossen werden können. Bei dieser Sachlage sieht der BGH es nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises als bewiesen an, daß die Gurken durch die Chlorung des Wassers verdorben worden sind. Konkrete Tatsachen, aus denen auf die ernsthafte Möglichkeit einer anderen Ursache für den Schaden geschlossen werden könnte, seien nicht festgestellt worden. Dies gelte auch für den Hinweis der Beklagten, wissenschaftliche Untersuchungen hätten ergeben, daß in Salzgurkenlösungen ein Ferment vorkäme, das ebenfalls das Weichwerden von Gurken bewirken könne. (Gasthausbesucherfall)270. Ein Mann, der abends ein Gasthaus besucht hatte, wird am nächsten Morgen auf dem Hof der Gastwirtschaft mit einem Schädelbruch tot aufgefunden. Es wird festgestellt, daß der Mann die Gastwirtschaft durch eine Hintertür verlassen hat, die zu dem unbeleuchteten Hof mit den Toiletten führt; vom Hof aus kann direkt die Straße betreten werden. Der Mann, der die Örtlichkeiten kannte, lag mit dem Oberkörper auf einer Betonplatte, die in gefährlicher Weise mit einem kleinen, besonders bei Dunkelheit nicht leicht erkennbaren Absatz an eine mit Kies bedeckte Wegestelle anstößt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Mann, nachdem er bereits das Gasthaus verlassen hatte, noch einmal unbemerkt auf den Hof zurückgekehrt ist. Der BGH meint, „unter derartigen Umständen entspricht die Behauptung der Klägerin, ihr Ehemann sei im Dunkeln an dem gefährlichen Absatz zu Fall gekommen und habe hierdurch den Tod gefunden, und zwar als er beim Verlassen der Wirtschaft die Abortanlage benutzen oder im Freien urinieren wollte, einem typischen Geschehensablauf"271. Gegenüber den Erwägungen des OLG, daß auch ein anderer Geschehensablauf möglich sei, bemerkt der BGH: „Anwendungsfälle des Beweises des ersten Anscheins, für die jede Möglichkeit eines anderen Verlaufs auszuschließen wäre, gibt es jedoch nicht, weil es sich dann nicht um einen Anscheinsbeweis handeln würde, sondern nahezu um einen mathematischen Beweis, auf jeden Fall um den Vollbeweis des behaupteten Tatbestandes"272. Handelt es sich bei den Fällen, in denen ein Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit bejaht worden ist, fast durchweg um Vorgänge, die in gleicher oder doch sehr ähnlicher Weise häufig wiederkehren und dann regelmäßig zu derselben Erkenntnis führen, so läßt sich diese Feststellung für die Sachverhalte, die den dargestellten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zugrundeliegen, wohl kaum treffen. Diese Sachverhalte zeichnen sich vielmehr gerade durch eine individuelle Gestaltung aus, und sie lassen sich auch 270 271 272
BGH (26. 5. 54. — VI ZR 186/53) VersR 1954, S. 401. BGH, aaO, S. 402. BGH, aaO.
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dadurch nicht zu „gewöhnlichen Fällen" machen, daß man sie auf ihren entscheidungserheblichen Kern zurückführt. Auf sie passen jedenfalls die üblichen Beschreibungen273 nicht274, nach denen der Anscheinsbeweis nur auf Sachverhalte mit typischem „Erscheinungsbild275" und „genereller Prägung276" anwendbar sein soll, bei denen sich der daraus zu ziehende Schluß gleichsam „aufdrängt"277. Will man bei ihnen dennoch an der Formel des typischen Geschehensablaufs festhalten — es fällt allerdings auf, daß in verschiedenen Urteilen dieser Begriff zumindest ausdrücklich überhaupt nicht mehr verwendet wird278 — ,dann kann die Bezeichnung „typisch" — soll sie für die hier zur Entscheidung gestellten Sachverhalte gelten — nicht im Sinne von „häufig" und „allgemein üblich" verstanden werden279. Was ist aber dann eigentlich der typische Geschehensablauf beim Beweis der Kausalität280?
b) Die Ansicht von Enka Pawlorvski Enka Pawlowski281 gibt darauf die Antwort: eine Umschreibung der Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens. Sie meint, für die Zurechenbarkeit von Schäden, d.h. für die Ermittlung desjenigen, der dafür einstehen müsse, käme es darauf an zu klären, wer in die Rechte eines anderen eingegriffen habe282. Dabei könne weder auf die Handlung allein gesehen werden (wenn zwei Schiffe oder Kraftfahrzeuge zusammenstoßen, ist das Verhalten beider kausal für den Schaden) noch auf den Erfolg (bei einem Zusammenstoß zwischen Ozeandampfer und Boot wird stets nur das Boot beschädigt werden). Die Frage nach dem Eingreifen müsse vielmehr durch die Feststellung der Rechts Widrigkeit der Handlung gelöst werden283. Der Anscheinsbeweis diene dem Zweck, diese Rechtswidrigkeit %u bestimmen. Die Rechtswidrigkeit werde in dem Verstoß gegen eine Verhaltensnorm gefunden, die ent273
Vgl. oben S. 87 f. J. Esser, Schuldrecht (2. Aufl., 1960), S. 245, spricht deshalb von einem „sehr gewagten Sonderversuch" des Anscheinsbeweises. 275 Fleck, VersR 1956, S. 331. 276 Henke, JR 1961, S. 51. 2" BGH, VersR 1956, S. 697 (oben N. 184). 278 Prölss, S. 21, ist der Ansicht, der BGH habe im Luesfall I, möglicherweise auch im Gurkenfall auf die Voraussetzung eines typischen Geschehens verzichtet. Weyreuther, DRiZ 1957, S. 57, vertritt zum Luesfall I ebenfalls die Auffassung, daß es sich dabei um einen atypischen Sachverhalt handele und lehnt aus diesem Grunde einen Anscheinsbeweis dafür ab. 279 Vgl. Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 333. 280 Vgl. auch oben S. 94. 281 S. 15, 38ff. 282 S. 14. 283 S. 15, 17. 274
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weder eine gesetzliche Vorschrift sein könne oder vom Richter aufgestellt werden müsse284 und deren Schutzzweck den eingetretenen Erfolg mit umfasse285. Die Kausalität werde von der Rechtsprechung im Rahmen des Anscheinsbeweises ständig mit „dem Problem des erforderlichen Rechtszusammenhangs zwischen der Pflichtverletzung und dem entstandenen Schaden verknüpft"286. Es gehe dabei um die naturgesetzliche Kausalität des pflichtwidrigen Verhaltens für den Schaden. Aufgrund des bereits vom Reichsoberhandelsgericht formulierten Grundsatzes, daß ein Schaden gewöhnlich auf das Verhalten des Menschen zurückzuführen sei, der fähig und verpflichtet wäre, ihn zu verhindern, dies jedoch unterlasse287, wäre das Gericht von dieser Kausalität überzeugt288. Die Überzeugung würde nur entfallen, wenn Tatsachen festgestellt würden, die diesen Schluß für den konkreten Fall fragwürdig machten. Der Beklagte habe insoweit einen Gegenbeweis zu führen, um die zunächst begründete Überzeugung zu erschüttern. Enka Pawlowski289 kommt zu dem Ergebnis, daß die im Rahmen des Anscheinsbeweises der Kausalität von der Rechtsprechung getroffenen Feststellungen nicht auf einer Besonderheit der Beweisführung oder Beweiswürdigung beruhten, daß vielmehr „eine materielle Konstruktion mit einem prozessualen Begriff belegt worden" sei. Diese Deutung des Anscheinsbeweises versagt aber gerade in den dargestellten Fällen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Bei ihnen geht es durchweg um die Frage, ob ein bestimmtes Fehlverhalten den Schaden verursacht hat oder ob dieser Schaden auf ein anderes Ereignis zurückzuführen ist. Die von Enka Pawlowski in Anlehnung an die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts290 formulierte Regel291 — sie will diese Regel allerdings nicht als Grundlage eines Anscheinsbeweises ansehen, weil „der Kausalzusammenhang zwischen einem Verhalten und ei284 285
S. 15ff., 38ff., 57.
Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhanges; vgl. dazu J. Esser, Schuldrecht I, S. 309ff.; Hanau, S. 67ff.; E. Pawlowski, S. 18ff. 286 E. Pawlowski, S. 43; vgl. auch Hainmüller, S. 131 ff. 287 S.13, unter Hinweis auf ROHG18, 290, 292f.: „Sind zum Schutz gewisser Interressen Denjenigen, welche in die Lage kommen, sie zu verletzen, gewisse Vorschriften gesetzlich ertheilt worden, so bedarf die Entschädigungsklage des Verletzten keiner weiteren Begründung als die Berufung auf die erfolgte Beschädigung und das äußerliche Zuwiderhandeln des Beklagten gegen die bezüglichen Gesetzesbestimmungen". Diese Regel dürfte auf die Kausalitätsvermutung des I 6 § 25 ALR zurückzuführen sein, nach der derjenige, der eine unerlaubte Handlung begeht, die Vermutung gegen sich hat, daß der bei dieser Gelegenheit entstandene Schaden durch seine Schuld verursacht ist. 288 S. 44f. 289 S. 46. 290 Nach Auffassung des ROHG sollte jedoch nur bei dem Verstoß gegen ein Schutzgesetz eine Vermutung dafür sprechen, daß dieser Verstoß für den eingetretenen Schaden, der gerade durch das Schutzgesetz verhindert werden sollte, kausal war. Vgl. ROHG 18, 292f.; 23, 186f. 291 Vgl. oben N. 287.
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nem Erfolg ... nur aufgrund von Erfahrungen erkannt werden kann292" —, hilft in diesen Fällen nicht weiter293. Denn es ist gerade zweifelhaft, ob der Beklagte „fähig und verpflichtet" war, den eingetretenen Schaden zu verhindern. So kann und muß nicht der Beklagte in den Luesfällen eine Ansteckung an Lues außerhalb des Krankenhauses, im Nichtschwimmerfall den Tod durch Hirnschlag oder infolge einer anderen körperlichen Störung, im Gurkenfall den Verderb der Gurken durch ein Ferment und im Gasthausbesucherfall den Unfall eines heimlich auf den Hof der Gastwirtschaft zurückgekehrten Mannes oder dessen Verletzung durch einen Dritten verhindern. Das Typische des Geschehensablaufes muß demnach in diesen Fällen entgegen der Meinung Enka Pawlowski in etwas anderem bestehen als in der Beschreibung einer Pflichtwidrigkeit294'
c) Die Meinung von Kegel Kegel295 gelangt nach einer eingehenden Analyse der beiden Luesfälle und des Nichtschwimmerfalles zu dem Ergebnis, der BGH habe hier die sonst bei einem Vollbeweis von ihm gestellten Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit vermindert und sich bei einem Vergleich aller in Betracht zu ziehenden Schadensursachen jeweils für die entschieden, die am wahrscheinlichsten gewesen sei. „Typischer Geschehensablauf" bedeutete dementsprechend nicht eine häufig anzutreffende Sachverhaltsgestaltung, sondern eine durch Lebenserfahrung begründete Wahrscheinlichkeit298. Der Anscheinsbeweis sei deshalb auch auf seltene, scheinbar individuelle Fälle anwendbar (Individualanscheinsbeweis); denn der Begriff „typisch" sei relativ und die durch ihn angedeutete Regel jeweils in Beziehung zu den 292
E. Pawlowski, S. 45. Diese Einschränkung des Anscheinsbeweises wird nur beiläufig damit begründet, daß die durch diese Regel herbeigeführte Überzeugung des Richters nicht „auf einer Besonderheit der Beweisführung" beruhe. Welche Besonderheit der Beweisführung den Anscheinsbeweis auszeichnen soll, wird aber nicht gesagt. 293 Die vom BGH im Nichtschwimmerfall getroffene Entscheidung wird dann auch von E. Pawlowski, S. 45 N. 93, abgelehnt; die Entscheidung im Luesfall I hält sie zumindest in der Formulierung für bedenklich (S. 46 N. 95). 294 Ablehnend gegenüber E. Pawlowski auch Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV7 a, aa (S. 1156 N. 133), weil „zum einen die entscheidende Bedeutung der typischen Fallgestaltung für den p.-f.-Beweis außer acht gelassen und Zum anderen der Erschütterungsbeweis zu Unrecht weitgehend als Hauptbeweis verstanden wird." 295 Individualanscheinsbeweis, S. 329 ff. 296 Kegel, aaO, S. 333. Insoweit gleicher Auffassung auch Kollhosser, AcP 165, 53: „Typizität und durch Lebenserfahrung begründete überzeugungskräftige Wahrscheinlichkeit sind demnach identisch". Kollhosser verweist in diesem Zusammenhang auf BGH (10. 1. 51 — II ZR — 27/50) NJW 1951. S. 360, der als „typisch" ansieht, was der „Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichen" entspricht.
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ermittelten Umständen des zu entscheidenden Falles zu setzen297. Bei einem Individualanscheinsbeweis sei die angenommene Tatsache „typisch", weil sie gegenüber einer anderen ebenfalls möglichen Gestaltung des konkreten Falles die Regel bilde298. Anscheins- und Individualanscheinsbeweis beruhten auf überwiegender, d. h. mehr als SOprozentiger Wahrscheinlichkeit299. d) Beweis und Wahrscheinlichkeit Dieser Auffassung scheinen die Ausführungen zu widersprechen, die sich in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu der Frage finden, welche Anforderungen an einen Anscheinsbeweis zu stellen sind. So betont der BGH300 — ähnlich wie vor ihm schon das Reichsgericht301 —: „Bei diesem Beweis handelt es sich nicht um einen Wahrscheinlichkeitsbeweis, der die Grundlage für eine gewisse tatsächlich widerlegbare Vermutung darstellt und demzufolge eine Umkehrung der Beweislast rechtfertigt, sondern es muß der festgestellte Sachverhalt derart sein, daß er unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze insbesondere der allgemeinen Lebenserfahrung die Überzeugung des Richters in vollem Umfang begründet"302. Läßt man einmal die Frage einer Umkehr der Beweislast unberücksichtigt, dann fällt die Gegensatzbildung zwischen Wahrscheinlichkeit und voller Überzeugung auf. Auch in anderen Entscheidungen hebt der BGH die Notwendigkeit hervor, daß der Anscheinsbeweis die volle Überzeugung des Richters begrün297
Kegel, aaO, S. 328. Kegel, aaO.: „Was die Regel für die Ausnahme, nämlich Regel, ist die Ausnahme für die Gegenausnahme, nämlich ebenfalls Regel, usw." 289 Kegel, aaO, S. 334, 343, AcP 164, S. 552; ähnlich Bruns, S. 276, vgl. auch Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 13. 300 BGH, NJW 1951, S. 360 (oben N. 296). Der Hinweis auf die „volle Überzeugung", die durch einen Anscheinsbeweis begründet werden muß, findet sich auch in vielen anderen Entscheidungen des BGH, so z. B. in BGH, VersR 1953, S. 69 (oben N. 210); BGH, VersR 1953, S. 242 (oben N. 215); BGH (23. 2. 55 — VI ZR 11/54) VersR 1955, S. 251, 252. 301 RG, JW 1932, S. 1737 (oben N. 163): „Denn der Beweis des ersten Anscheins kann sich nicht mit einer Wahrscheinlichkeit begnügen, auch er muß zu einer richterlichen Feststellung führen." In anderen Entscheidungen hat das RG wiederum auf die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit hingewiesen, z.B. RG (13. 11 28 — VH 641/27) HRR 1929, Nr. 440: „Die für die Ursächlichkeit einer festgestellten Tatsache erbrachte Wahrscheinlichkeit ergibt einen prima-facie Beweis dann nicht, wenn von der Gegenseite eine andere Tatsache nachgewiesen ist, die zur Erklärung des Schadens gleichfalls geeignet ist". Vgl. ferner RGZ 112, 229, 231 (12. 12. 25 — 1 83/25: „Wahrscheinlichkeitsbeweis"); RGZ 120,154,162 (9. 2. 28 — VI 373/27: „hoher Grad von Wahrscheinlichkeit"); RGZ 130, 263, 264 (18.11. 30 — VII 80/30: „nach der Erfahrung des Lebens mit Wahrscheinlichkeit ... geschlossen werden müßte"). 302 BGH, NJW 1951, S. 360 (oben N. 296). 298
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den müsse303. Andererseits stellt der BGH nicht in Abrede, daß Grundlage des Anscheinsbeweises die Wahrscheinlichkeit bildet304; denn er erklärt ausdrücklich: „Der Anscheinsbeweis beruht auf der Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind"305. Die anschließenden Sätze in diesem Urteil sind eine Bestätigung der von Kegel vertretenen Auffassung über die Relativität des Regel-Ausnahmeverhältnisses. Denn dort heißt es: „Der in der Beweiswürdigung freie Tatrichter darf die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit einer Fallgestaltung auch über das Gebiet des Anscheinsbeweises hinaus bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigen. Er darf daher bei der Auswahl zwischen zwei tatsächlichen Möglichkeiten jedenfalls dann, wenn eine weitere Aufklärung des Sach Verhalts nicht möglich ist, seine Überzeugung auch auf die Überlegung stützen, daß die eine Möglichkeit regelmäßig gegeben sei, die andere nur selten vorkomme und keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ausnahme gegeben seien"305. Noch deutlicher kommt der Gedanke, daß beim Anscheinsbeweis eine Antwort auf die Frage nach dem Typischen aufgrund der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles gefunden werden muß, in der Entscheidung des BGH vom 18. 6. 1969306 zum Ausdruck. Der BGH setzt sich mit der Meinung des Berufsgerichts auseinander, daß ein Anscheinsbeweis nicht für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Beschädigung (Eindellung) einer Radfelge am Kraftfahrzeug und einem Unfall geführt werden könne, weil solche Beschädigungen selten vorkämen. Dazu meint der BGH: „Die Anwendung des Anscheinsbeweises kann nicht mit der Begründung verneint werden, es komme selten vor, daß eine Felge eine Eindellung der hier beschriebenen Art aufweist. Entscheidend ist vielmehr, daß eine solche Eindellung das Entweichen von Luft aus dem Reifen bei einem Überholvorgang der geschilderten Art ermöglicht. Dann ist es auch ein typischer Geschehensablauf, wenn bei einem solchen Überholvorgang die Luft aus dem Reifen entwichen ist"307.
Diese verschiedenen Meinungsäußerungen des Bundesgerichtshofs lassen die Frage stellen, welchen Einfluß die Wahrscheinlichkeit, die sich im 303
BGH (10.12. 52 — VIZR 26/52) LM § 286 (C) ZPO, Nr. 7: „Dabei muß der festgestellte Sachverhalt derart sein, daß er unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze besonders der allgemeinen Lebenserfahrung die Überzeugung des Richters im vollen Umfange begründet." Wörtlich gleich BGH (1. 4. 53 — VI ZR 77/52) LM § 286 (C) ZPO Nr. 12; BGH (18. 11. 57 — VI ZR 311/55) VersR 1957, S. 234: „Es muß also nach der ganzen Sachlage eine so hohe Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Geschehensablauf bestehen, daß sie nach tatrichterlicher Überzeugung der Gewißheit gleichkommt". Ebenso BGH (23. 2. 55 — VI ZR 11/54) VersR 1955, S. 251, 252. 304 BGHZ 2, 83, 85 (7. 5. 51 —IV ZR 69/50): „Auf Grund dieses Erfahrungssatzes ist dann der Beweis für das Geschehen als Beweis des ersten Anscheins erbracht. Erfahrungssätze, denen ein so starker Beweiswert nicht zukommt, weil sie nicht dieselbe hohe Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Geschehen begründen, sind damit nicht bedeutungslos ..." Vgl. auch BGH (4. 1. 51 — III ZR 175/50) LM § 286 (C) ZPO, Nr. 2: „Es ist seit langem in der Rechtsprechung, auch des RG, anerkannt, daß es Tatbestände gibt, in denen nach der Erfahrung ein so hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für ein Verschulden eines Beteiligten spricht..." 305 BGH (28. 4. 66 — III ZR 197/64) NJW 1966, S. 1263, 1265. 308 VIII ZR 148/67, NJW 1969, S. 1708, 1709. 307 Vgl. Loewenheim, NJW 1969, S. 2043.
§6 Der Anscheinsbeweis
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Einzelfall für eine bestimmte Hypothese ergibt, auf die Überzeugung des Richters ausübt. Diese Frage ist nicht auf den Anscheinsbeweis beschränkt, sondern mit ihr wird ein generelles Problem angesprochen. Die Vorschrift des § 286 Abs. l ZPO erhebt die Überzeugung zur Maßeinheit für die Entscheidung, „ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei". Würde dies bedeuten, daß die Entscheidung der Tatfrage nur aufgrund eines rein subjektiven Vorganges zu treffen ist, bei dem es ausschüeßlich auf die höchstpersönliche Einstellung des Richters ankommt, dann könnte auch eine durch objektiv meßbare Gründe erzeugte Wahrscheinlichkeit niemals als Korrektiv der richterlichen Überzeugung von der Wahrheit gegenübergestellt werden. Das Belieben, um nicht zu sagen die Willkür des einzelnen Richters entschiede dann darüber, welche Folgerungen aus der konkreten Wahrscheinlichkeit zu ziehen wären. Eine solche Auffassung308 der Vorschrift des § 286 Abs. l ZPO würde zu unhaltbaren Ergebnissen führen; nach ihr müßte letztlich hingenommen werden, daß ein ängstlicher Skeptiker als Richter die meisten Klagen mit streitigem Sachverhalt abweisen309, ein Leichtgläubiger und Unwissender oder besonders Bedenkenloser seine Urteile auf unhaltbare Annahmen gründen würde310. Ganz überwiegend werden solche Konsequenzen einer uneingeschränkten Subjektivität tatrichterlicher Beweiswürdigung abgelehnt311; es wird versucht, in einem mehr oder weniger weitgehenden Umfang objektive Richtwerte für die Tatsachenermittlung im Prozeß zu schaffen312. Man fordert, 308
Sie wird, allerdings doch zum größten Teil mit Einschränkungen, die sie praktikabel macht, verschiedentlich vertreten. Vgl. BGH (9. 2.57 — 2 StR 508/56) NJW 1957, S. 1039 (vgl. dazu unten S. 108); Lucas-Dürr, S. 190; Wassermeyer, Beweis, S. 56ff., 68ff.; Stein, S. HOff.; von Scanzoni, JW 1928, S. 2182f., NJW 1951, S. 222; Prölss, S. 23 f. Zu beachten ist dabei, daß häufig von einem besonderen Wahrscheinlichkeitsbegriff ausgegangen wird (vgl. dazu unten S. 111). 309 Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 333f. 310 Bruns, S. 273, macht darauf aufmerksam, daß die Intensität des Überzeugungsgefühls eines Unwissenden und Leichtgläubigen, von keinerlei Skrupeln Belasteten das Höchste wäre, wenn es auf das subjektive Glauben und Meinen allein ankäme; vgl. auch Zeiler, DRiZ, 1929, S. 134. 311 Bereits Fitting, ZZP 13, S. 65 erklärt: „Dieser Grundsatz (ergänze: der freien Beweiswürdigung) bedeutet, wie schon die Anforderungen der Civilprozeßordnung beweist, in dem Urtheil die für die richterliche Überzeugung leitenden Gründe anzugeben, natürlich nicht richterliche Willkür, sondern er verlangt gar nicht minder als die gesetzliche Beweistheorie die Prüfung nach einem festen, von Jedermann anzuerkennenden Maßstabe. Der Maßstab ist nur ein anderer. Er besteht nicht mehr in gesetzlichen Beweisregeln, sondern in den Regeln, welche gesunder Menschenverstand und Lebenserfahrung dem allgemein gebildeten und erfahrenen Manne von selbst an die Hand geben". Ähnlich auch Wendt, AcP 63, S. 255; von Seuffert, Ermessen, S. 11. 312 Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 286, Anm. II (S. 1171 f.); Blomeyer, Gutachten, S. 15f.; Kuchinke, Freiheit, S. 34ff.; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 466ff.; Moser, S. 43ff.; Rosenberg, Beweislast, S. 181; Baumbach-Lauterbach, § 286, Anm. 2 C; Döring, Er-
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daß der Richter nicht dort noch Zweifel hegen soll, „wo auch jeder andere vernünftige, die Lebensverhältnisse klar überschauende Mann überzeugt wäre"313; er dürfe und müsse sich „in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen"314. Bei diesen vom Schrifttum und von der Rechtssprechung entwickelten Grundsätzen handelt es sich nicht etwa nur um Kunstregeln des richterlichen Berufes, deren Beachtung in das Ermessen des einzelnen Richters gestellt ist, sondern ihre Verletzung wird als Gesetzesverstoß gewertet, der den Revisionsrichter eingreifen läßt315. Dabei spielt der „Denkverstoß" häufig die Rolle eines Notbehelfs, wenn ein „Rechtsfehler" nicht anders zu begründen ist316. Offen wild dies von Sarstedt317, Senatspräsident beim Bundesgerichtshof, ausgesprochen, wenn er in der Aufhebung eines Urteils wegen eines „Denkverstoßes" im manchen Fällen ein „Mittel aus dem Giftschrank des Revisionsrichters" sieht, das nicht zu entbehren ist und angewendet werden darf, wenn kein vernünftiger Zweifel sein kann, daß der Tatrichter etwas ganz Naheliegendes wirklich übersehen hat. Wie dieses Mittel gebraucht wird, verdeutlicht z.B. das Urteil des BGH vom 9. 2. 1957318; dort heißt es, nachdem zunächst festgestellt wird, daß es im Rahmen des § 261 StPO ausschließlich auf die Überzeugung des Tatrichters ankomme: „Mit dieser Auslegung des § 261 StPO steht durchaus im Einklang, daß der BGH in anderem Zusammenhang wiederholt ausgesprochen hat, es gebe wissenschaftliche Erkenntnisse, denen eine unbedingte, jeden Gegenbeweis mit anderen Mitteln ausschließende Beweiskraft zukomme, und der Tatrichter müsse solche allgemein als gesichert geltenden Erkenntnisse als richtig hinnehmen ... Denn der Tatrichter ist den Gesetzen des Denkens und der Erfahrung unterstellt; wo eine Tatsache aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis feststeht, ist für eine richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung naturgemäß kein Raum mehr"319.
Andererseits wird immer wieder insbesondere vom Bundesgerichtshof hervorgehoben, daß es bei der Tatfrage auf die subjektive Gewißheit ankomme. Der Bundesgerichtshof wird nicht müde festzustellen, daß „allein der Tatrichter... ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem forschung, S. 446ff., 473f.; Heinsheimer, Festschrift, S. 135f.; J. Esser, Freiheit, S. 10f.; Siegert, NJW 1958, S. 1027; Berg, S. 79 (unter B II); Schwinge, S. 155ff. 313 Rosenberg, aaO; vgl. auch BGH (5. 12. 50 — 3 StR 27/50) NJW 1951, S. 83. 314 BGH (20. 12. 56 — II ZR 177/55) VersR 1957, S. 362; BGH (17. 2. 70 — III ZR 139/67) NJW 1970, S. 946, 948. 315 Kollhosser, AcP 165, S. 52, unter beispielhafter Anführung von BGH, VersR 1956, S. 696 (oben N. 184). Vgl. auch BGH, NJW 1951, S. 83 (oben N. 313); Oellrich, NJW 1954, S. 533ff.; Wimmer, DRZ 1950, S. 396; Alsberg-Nüse, S. 133, 482 Nr. 83; Grunsky, S. 392. 316 Vgl. Oellrich, NJW 1954, S. 533 (mit Nachweisen in N. 12); Henke, S. 130; zur Verletzung von Denkgesetzen: Klug, Logik, S. 144ff. 317 S. 219. 318 NJW 1957, S. 1039 (oben N. 308). 319 Vgl. Grundrecht, S. 15f.; unten N. 345.
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen (habe), ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann"320. Einerseits also ungebundene, nur dem Gewissen unterworfene Freiheit, andererseits aber vorgegebene objektive Grenzen der Entscheidung, wie läßt sich beides miteinander vereinbaren? Das ganze Dilemma, das entsteht, wenn versucht wird, auf der Grundlage der herrschenden Meinung eine Antwort auf diese Frage zu geben, zeigt so recht eine Entscheidung des Reichsgerichts321, die trotz ihres Alters keinesfalls überholt ist und noch der heute in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung entspricht322. Es heißt dort321: „Allerdings kann die Feststellung einer Wahrscheinlichkeit, auch einer hohen Wahrscheinlichkeit, für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Handlung oder Unterlassung und einem eingetretenen schädlichen Erfolge nicht die richterliche Feststellung dieses Ursachenzusammenhanges selbst darstellen oder ersetzen; sie kann nur die Grundlage für diese, d.i. für die Gewinnung der richterlichen Überzeugung, daß ein bestimmter Erfolg auf ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen zurückzuführen sei, abgeben. Diese Überzeugung selbst muß in dem Urteile des Richters zum Ausdrucke gelangen. Soll eine Person für einen durch ihre Handlung einer anderen zugefügten Schaden verantwortlich gemacht werden, so ist die Feststellung unerläßlich, daß der Schaden auch wirklich durch diese Handlung verursacht worden sei; die bloße Wahrscheinlichkeit einer Schadenszufügung ist kein zum Schadensersatz verpflichtender Tatbestand. Ein sicheres Erkennen ist aber in vielen menschlichen Verhältnissen nicht zu erzielen, weil die menschlichen Erkenntnismittel versagen. Ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit muß dann bei Abwesenheit anderer gleich starker Möglichkeiten dem Richter genügen, seine Überzeugung zu bilden, daß die Handlung des Beklagten, da sie den schädlichen Erfolg herbeizuführen geeignet gewesen sei, den Schaden auch wirklich verursacht habe. Der Kläger hat seiner Beweispflicht genügt, wenn er eine solche Wahrscheinlichkeit dargetan hat, die die Entstehung des Schadens zu erklären geeignet ist; Sache des Gegners ist es dann, andere Ursachen als tatsächlich wirksam geworden nachzuweisen".
Auf eine Kurzform gebracht, sagt dieses Urteil: Wahrscheinlichkeit, auch eines hohen Grades, genügt für die Feststellung einer Tatsache nicht; es ist auf jeden Fall die Überzeugung des Richters erforderlich. Der Richter muß aber überzeugt sein, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit vorhanden ist (die Einschränkung, daß andere gleich starke Möglichkeiten nicht bestehen dürfen, ist überflüssig, weil es dann keine hohe Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Annahme geben kann). So verstanden, wird aber Überzeugung zu einer leeren Formalie, auf die verzichtet werden kann, ohne daß 320
BGH, NJW 1970, S. 948 (oben N. 314). Im gleichen Sinn BGH (20. 4. 67 — III ZR 59/65) DRiZ 1967, S. 239; BGH (9.11. 67 — III ZR 184/66) DB 1969, S. 918; BGH (2. 12. 68 — III ZR 112/68) DRiZ 1969, S. 53. 321 RGZ 95, S. 249 f. (10. 4. 19 — VI 31/19). 322 Vgl. nur die in N. 320 zitierten Entscheidungen.
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sich am Ergebnis irgend etwas ändert323. Denn wird der Auffassung des Reichsgerichts gefolgt, dann kommt es entscheidend nur auf den Grad der Wahrscheinlichkeit an, der allerdings wiederum vom Richter zu ermitteln ist. Auf dieser Ebene findet sich dann auch ein Ansatzpunkt, um die obiektive und subjektive Seite richterlicher Tatsachenentscheidungen in Übereinstimmung %u bringen, wenn auch in einem anderen Sinn, als gemeinhin angenommen wird. Die hier sich anbietende Läsung besteht darin, den Richter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung treffen zu lassen, ob die zum Beweis erforderliche Wahrscheinlichkeit erreicht ist, das Maß dieser Wahrscheinlichkeit aber ihm als eine objektive Größe vorzugeben. Dabei wäre denkbar, daß auch für die Bestimmung des Wahrscheinlichkeitsgrades eine von den Umständen des Einzelfalles abhängige Entscheidung des Richters erforderlich werden könnte. So will die skandinavische Prosyßrechtslebre in Fällen, in denen eine gesetzliche Regelung fehlt, es darauf abstellen, ob die Folgen eines Fehlurteils nach beiden Seiten gleich schwer wiegen. Wird diese Frage bejaht, dann soll das överviktsprincip, das Überwiegensprinzip, gelten, nach dem eine Tatsache bei dem geringsten Wahrscheinlichkeitsübergewicht als bewiesen gilt. Gibt es dagegen objektive Gründe, die einen Fehler nach der einen Richtung bedeutsamer machen, wie beispielsweise die Verurteilung eines Unschuldigen im Strafprozeß, dann wird eine entsprechend höhere Wahrscheinlichkeit zur Feststellung dieses schwerer wiegenden Sachverhalts gefordert. Der Richter hat im Rahmen einer derartigen Regelung die Folgen eines Fehlurteils abzuwägen und danach das Beweismaß festzulegen324. Die Rechtsregel, die der Richter bei der Bestimmung des Beweismaßes anwendet, wird von den nordischen Prozeßrechtswissenschaftlern als eine „Beweislastregel" angesehen325. Wenn es sich auch hierbei, soweit festzustellen ist, nur um eine terminologische Frage handelt, so muß dieser Bezeichnung widersprochen werden. Das wesentliche Merkmal einer Beweislastregel ist die Anweisung an den Richter, eine bestimmte zweifelhaft gebliebene Tatsache in seiner Entscheidung so zu behandeln, als ob er eine entsprechende Feststellung habe treffen können326; eine solche Regelung wird aber im Rahmen der Bestimmung des Beweismaßes nicht vorgenommen. Im übrigen greift eine Beweislastregel auch erst ein, wenn eine Tatsache nicht geklärt werden konnte, d.h. nach der skandinavischen Doktrin, wenn die erforderliche Wahrscheinlichkeit nicht zu erbringen war; sie setzt also gerade die Bestimmung des Beweismaßes voraus. Eine Parallele und wohl auch ihr Vorbild findet das skandinavische Überwiegensprinzip im englisch-amerikanischen Zivilpro^eß, in dem, von besonderen Tatbeständen abgesehen, eine Tatsache ebenfalls nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit — mit preponderance of evidence — zu beweisen ist327. 323
Leo, HansRZ 1923, Sp. 42 N. l, nennt eine solche Überzeugung zu Recht eine Fiktion. 824 Vgl. Bolding, Burden of Proof, S. 19ff.; Ekelöf, Rättegäng IV, S. 67ff., 102ff., ZZP 75, S. 297f.; Waaben, Scand. Studies in Law 9, S. 246f.; Bruns, S. 275, 280. 325 Vgl. Bolding, aaO, S. 17f.; Waaben, aaO, S. 246; zustimmend Bruns, S. 280. 326 Vgl. oben S. 21. 32? Ygj_ dazu Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 335; Schwering, S. 79 ff., 83 ff.; Eisner, ZZP 80, S. 78ff., 85.
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Gegenüber einer solchen Lösung wird eingewendet, daß die Wahrscheinlichkeit nicht geeignet sei, zum Maßstab eines Beweises gemacht zu werden. Die „juristische" Wahrscheinlichkeit sei nicht objektiv bestimmbar328, hätte keine Grade329, der Wahrscheinlichkeitsbegriff würde die Versuchung allzu groß werden lassen, „daß auf Grund von mehr oder weniger vagen Vorstellungen über Wahrscheinlichkeit etwas als hinreichender Beweis ausgegeben wird, was nicht als solcher angesehen werden darf"330. Das Wahrscheinlichkeitsdenken ließe ganz allgemein den Aufklärungseifer erlahmen und übe dadurch einen ungünstigen Einfluß auf die Wahrheitserforschung aus330. Diese Kritik kann nicht den — auch der richterlichen Entscheidung zugrunde zu legenden — Wahrscheinlichkeitsbegriff der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie meinen, denn auf ihn trifft sie nicht zu. Es ist unbestreitbar, daß der Richter im allgemeinen nicht die Möglichkeiten besitzt, den Wahrscheinlichkeitswert, auf den es ihm ankommt, mit Mitteln der Mathematik und Statistik exakt zu bestimmen oder — wie es Pohle331 formuliert — mit der Apothekerwaage abzuwiegen; auf dieses Problem war bereits an anderer Stelle332 hingewiesen worden. Aus diesem Unvermögen aber die Konsequenz zu ziehen, für die Rechtswissenschaft einen eigenen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu entwickeln333, muß mit Entschiedenheit abgelehnt werden. Denn auf der Grundlage eines besonderen juristischen Wahrscheinlichkeitsbegriffes wäre es unmöglich, die in der Wahrscheinlichkeitstheorie angewendeten Methoden zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit zu gebrauchen. In welcher Weise diese Methoden aber für die richterliche Entscheidung der Tatfrage nutzbar gemacht werden können, zeigen neuere Untersuchungen, die insbesondere in der schwedischen Prozeßrechtslehre334 und auch in der deutschen Rechtswissenschaft335 durchgeführt worden sind. Zudem müßten Verständigungsschwierigkeiten zwischen Sachverständigen, die sich des allgemein anerkannten Wahrscheinlichkeitsbegriffes bedienten, und dem Richter, der von einer anderen Vorstellung ausging, befürchtet werden. Schließlich bliebe noch zu fragen 328
Heinsheimer, Festschrift, S. 142f.; Wassermeyer, Referat, S. E 16. Moser, S. 14; Ehrenzweig, JW 1929, S. 87; Bohne, S. 12f.; vgl.unten N. 346. 330 Döring, Erforschung, S. 447. 331 MDR 1949, S. 388. 332 Vgl. oben S. 94. 333 Moser, aaO, spricht von einer qualitativen Wahrscheinlichkeit, die im Gegensatz zur quantitativen Wahrscheinlichkeit der mathematischen und statistischen Wissenschaften keine quantitative oder numerische Schätzung ihres Grades zuließe (vgl. dazu Wundt, S. 419ff.); im gleichen Sinn Bohne, S. 12f.; anders dagegen Friedrich Sturm, GS 82, S. 293. 331 Ekelöf, ZZP 75, S. 292ff., Scand. Studies in Law 8, S. 55ff.; vgl. auch Bolding, Burden of Proof, S. 12ff.; Bruns, S. 275f. 335 Vgl. Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. lOff. Auch die auf einer anderen Auffassung beruhenden Ausführungen von Schreiber, S. 25 ff., setzen einen objektiv bestimmbaren Wahrscheinlichkeitsbegriff mit einer Gradeinteilung voraus (vgl. Schreiber, S. 13 f.). 329
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welcher Vorteil von einem besonderen juristischen Wahrscheinlichkeitsbegriff erwartet werden könnte, auf den die oben wiedergegebenen negativen Urteile paßten. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Wahrscheinlichkeitstheorie338, der auch für die Rechtswissenschaft Gültigkeit hat, läßt sich aber in objektiv bestimmbare Grade einteilen337 und an ihm kann es keinesfalls liegen, wenn der Aufklärungseifer erlahmt und von vagen Vorstellungen bei der Tatsachenwürdigung ausgegangen wird338. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn bedeutet der objektive Befund, der sich für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer bestimmten Hypothese ergibt; seine Grundlage bildet die Feststellung der relativen Häufigkeit bestimmter Erscheinungen339. Je genauer die Angaben sind, die dem Richter insoweit zur Verfügung stehen, desto genauer fällt auch die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit aus, die im Einzelfall für eine Hypothese spricht. Wenn von der Wahrscheinlichkeit im Ein^elfall gesprochen wird, muß man sich darüber im klaren sein, daß in dieser Aussage eine aus Gründen sprachlicher Abkürzung übliche Ungenauigkeit liegt. Denn eine Wahrscheinlichkeitsaussage läßt sich immer nur bezüglich einer statistischen Masse, eines Kollektivs, nicht dagegen bezüglich eines Einzelfalles machen340. Im Einzelfall gibt es immer nur die beiden Möglichkeiten, daß entweder eine Annahme zutrifft oder nicht zutrifft341. Inhalt einer Wahrscheinlichkeitssaussage kann deshalb nur sein, daß bei Fällen, die die gleichen Merkmale wie der zu entscheidende Fall aufweisen, bestimmte Erscheinungen mit einer relativen Häufigkeit auftreten, wenn man diese Fälle zu einer statistischen Masse zusammenfaßt. Aus dieser Feststellung wird dann die Folgerung für den Einzelfall gezogen; für die Richtigkeit der Hypothese, daß der konkrete Fall eine bestimmte Beschaffenheit hat, spricht die gleiche Quote, wie sie für die Häufigkeit der Fälle dieser Art in dem zugrundeliegenden Kollektiv ermittelt worden ist342. 338
Vgl. dazu Weitnauer, aaO, S. 3ff.; van der Waerden, Studium Generale 4, S. 65ff.; Vietoris, Studium Generale 4, S. 69 f. 837 Diese Möglichkeit ist unabhängig davon, ob von einem streng objektiven (vgl.von Mises, Wahrscheinlichkeit, S. 10ff.; Vietoris, aaO, S. 69f.) oder einen subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff (vgl. dazu Savage, S. 27ff.; Reichenbach, Erkenntnis l, S. 162f.; von der Waerden, aaO, S. 65; Ihm, S. 129; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 3f.; ablehnend insbesondere von Mises, aaO, S. 87 ff.) ausgegangen wird. Denn auch die Subjektivisten verstehen die Wahrscheinlichkeit keinesfalls als eine rein persönliche Aussage ohne objektive Grundlage (vgl. Savage, S. 67f.), wie dies offenbar Hasler, S. 5, bei seinem Wahrscheinlichkeitsbegriff vorschwebt. 338 Reichenbach, aaO, S. 159, meint: „Es ist das Unheil des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, daß ihm seit seiner wissenschaftlichen Geburt ein Makel anhaftet, der Makel des Unvollkommenen und Spielerischen zugleich." 339 Vgl. oben S. 92. 340 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 6. 341 Ygj auci1 Erismann, Studium Generale 4, S. 89: „Aber der Einzelfall besitzt, für sich betrachtet, ja überhaupt keine Wahrscheinlichkeit l Der Einzelfall wird nicht .wahrscheinlich' so, wie er wird, sondern er wird es immer mit eindeutiger Bestimmtheit". 342 Vgl. Weitnauer, aaO, S. 14, 20.
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Liefern die „statistischen" Unterlagen nur Werte mit groben Abstufungen, wie dies bei ErfahrungsSätzen ohne eine exakte wissenschaftliche Fundierung der Fall ist343, dann kann auch das Ergebnis des Wahrscheinlichkeitskalküls lediglich in einer wenig genauen Aussage bestehen, die sich auf Beschreibungen wie „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit", „mit großer Wahrscheinlichkeit", „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" oder auf ähnliche Bezeichnungen344 beschränken muß. Da nur in wenigen Fällen Mittel vorhanden sind, den Grad der Wahrscheinlichkeit unanfechtbar festzustellen345, gibt im allgemeinen bei der vorzunehmenden Bewertung der Beweise die subjektive Auffassung des Richters den Ausschlag346. Dies dürfte auch die Erklärung dafür sein, warum fast nur auf die richterliche Überzeugung, nicht auf die Wahrscheinlichkeit gesehen und der Unterschied zwischen beiden nicht recht empfunden wird347. Dennoch bilden die Schätzwerte der Wahrscheinlichkeit,, die dem Richter im Regelfall 343
Vgl. oben S. 92 ff. Vgl. die Vorschläge von Bruns, S. 275; Schönke-Kuchinke, S. 254; Ekelöf, ZZP 75, S. 289; Holding, Sachaufklärung, S. 61; kritisch zum Erfolg Scheuerle, ZZP 84, S. 247. 345 Diese Mittel, die in erster Linie auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen (vgl. Kuchinke, Grenzen, S. 177f.; Hainmüller, S. 27, 40f.) gibt es beispielsweise bei anthropologischen-erbbiologischen Abstammungsgutachten (vgl. dazu Keitner, NJW 1965, S. 1995f.; Wichmann, NJW 1963, S. 383f.; Harrasser, NJW 1962, S. 659ff. Eine umfassende Zusammenstellung der Literatur zu dieser Frage bringt Oepen, NJW 1970, S. 499; s. auch BGH (5. 4. 61 — IV ZR 216/60) LM § 286 (B) ZPO Nr. 14; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 19f.), bei Blutgruppengutachten (vgl. dazu Beitzke-Hosemann-Dahr-Schade, S. 18ff., 130f.; Dahr, NJW 1958, S.2097f.; Hummel, S.2ff.; Rittner, NJW 1974, S. 590ff.) und bei Tragzeitgutachten (vgl. dazu Beitzke-HosemannDahr-Schade, S. 31 ff., 63; Stegmann-Hellwig, S. 83ff.). In diesen Fällen wird von der Rechtsprechung — und dies dürfte bezeichnend sein — häufig auf genaue Wahrscheinlichkeitsquoten gesehen (z.B. OLG Köln — 30. l 58 — l U 105/57 — NJW 1958, S. 2120: Irrtumswahrscheinlichkeit von unter 1% ist unschädlich; vgl. auch Teplitzky, NJW 1963, S. 382f.; Hummel, S. 37, hält eine Irrtumswahrscheinlichkeit bis zu 5% für tragbar; vgl. auch E. Schneider, Beweis, S. 13; anders aber BGH, NJW 1973, S. 1926 — oben N. 63) und den Feststellungen unter bestimmten Voraussetzungen „eine absolute, jeden Gegenbeweis mit anderen Beweismitteln ausschließende Beweiskraft" zuerkannt (BGHZ 2, 6 — 12. 4. 51 — IV ZR 151/50 —; BGHZ 12, 22 — 17.12. 53 — IV ZR 159/ 52 — vgl. auch oben S. 108 und unten N. 392a; Teplitzky, NJW 1965, S. 334). Die Bedeutung dieser Methoden der Wahrheitsfindung wird durch das neue Nichtehelichenrecht noch wesentlich zunehmen (vgl. Glage, NJW 1970, S. 1223f., und oben S. 67f.). Zur Beweiswürdigung demoskopischer Gutachten, bei denen auch Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung bedeutsam sind, vgl. vom Stein, GRUR 1972, S. 73ff. 346 Dieses tatsächliche Unvermögen hat offensichtlich zu der oben (N. 329) dargestellten Auffassung von der qualitativen Wahrscheinlichkeit und der Ablehnung eines quantitativen Wahrscheinlichkeitsbegriffes im juristischen Bereich geführt. 347 Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 339, meint, die Verschwommenheit, die sich aufgrund des Unvermögens ergibt, Wahrscheinlichkeitsgrade genauer zu bestimmen, dürfte der Grund sein, daß sich die Formel von der „vollen richterlichen Überzeugung" so lange habe halten können, ohne Schaden anzurichten. 344
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Musielak, Beweislast
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
zur Verfügung stehen, objektive Richtpunkte für die Entscheidung der Tatfrage348. Sie sind Ausdruck des objektiven Geistes, auf den auch Beweisaufnahme und Tatsachenwürdigung bezogen sind349, und einziges Kontrollmittel richterlicher Subjektivität360. Mögen diese Schätzungen der Wahrscheinlichkeit gegenüber wissenschaftlich fundierten Zahlen mit mathematischer Genauigkeit noch so unzulänglich erscheinen, sie sind einer völlig unkontrollierbaren Ermessensentscheidung auf jeden Fall vorzuziehen351. Treffend sagt Bruns352: „Eine Überzeugung kann man kaum einer anderen entgegensetzen, die Überzeugungsbildung schwer angreifen. Über den Grad einer Wahrscheinlichkeit aber könnte man sich verständigen — oder mit Gründen streiten". Mit der Feststellung, daß sich die Wahrscheinlichkeit im Rahmen tatrichterlicher Entscheidung als die einzige objektiv quantifizierbare Größe darstellt353, ist aber noch nicht die Frage beantwortet, mit welcher Berechtigung die Wahrscheinlichkeit zum Kristallisierungspunkt der Tatsachenwürdigung gemacht werden kann, da doch § 286 Abs. l ZPO die Überzeugung des Richters fordert, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist. Für die Klärung dieser Frage kommt es auf den Wahrheitsbegriff in § 286 Abs. 1 ZPO und auf das Verhältnis an, in dem die Wahrheit im Bereich der Rekonstruktion historischer Vorgänge, um die es sich beim forensischen Beweis handelt, zur Wahrscheinlichkeit steht. Die absolute, objektive Wahrheit kann allenfalls der ideale Bezugspunkt der Tatsachenermittlung im Prozeß sein354; die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisse und die Unvollkommenheit der einsetzbaren Mittel zwingen dazu, sich mit dem zufrieden zu geben, was unter normalen Bedingungen erreichbar erscheint: mit einem bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer Annahme355. Über diese Grenzen der Wahrheits348
Auch Wimmer, DRZ 1950, S. 392, bejaht den objektiven Wahrscheinlichkeitsgehalt der Beweisaufnahme. Das subjektive Wahrscheinlichkeitsurteil des Richters, das Wimmer diesem objektiven Ergebnis gegenüberstellt, bezeichnet dagegen nur eine subjektive Einstellung, die hinter der Überzeugung zurückbleibt, also ein bloßes „FürMöglich-Halten", ein „Im-Zweifel-Steckenbleiben". Beide Seiten, der objektive Befund und die subjektive Einstellung zu ihm, müssen voneinander getrennt werden; darin ist Wimmer zu folgen (vgl. unten S. 117ff.). 349 Bruns, S. 274. 350 Bruns, aaO, bemerkt, daß die Subjektivität des Richters nicht der Stolz, wie vielfach gemeint werde, sondern die Schwäche des Richtertums sei. 351 Bolding, SachaufHärung, S. 71. 352 S. 276. 353 Andere Begriffe wie Sicherheit oder Gewißheit bezeichnen lediglich bestimmte Wahrscheinlichkeitsgrade; vgl. unten S. 115. 354 Es gibt Fälle, wo wir feststellen können, daß wir ihr sehr nahe kommen (vgl. Engisch, Wahrheit, S. 7), doch ist das nicht die Regel. 355 Bruns, S. 265, 273; Grundrecht, S. 7,13; Dubischar, JuS 1971, S. 386; Larguier, Rev. trim. 51, S. 10f.; Betzinger, S. 52; Birkmeyer, S. 396; Goldschmidt, ZPR, S. 134 (unter b); Levin, S. 149; Stein-Juncker, S. 244; Wendt, AcP 63, 256f.; A. Hellwig, GS
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erforschung sollte es keinen Streit geben356. Wenn dennoch abgelehnt wird, im Rahmen des § 286 Abs. l ZPO an die Stelle der absoluten Wahrheit die Wahrscheinlichkeit zu setzen.357, dann beruht diese ablehnende Ansicht meist auf einem grundsätzlichen Mißverständnis des Wahrscheinlichkeitsbegriffs358. In der Umgangssprache wird häufig mit dem Begriff „Wahrscheinlichkeit" eine Einschränkung gegenüber der Gewißheit zum Ausdruck gebracht359 und dabei nicht berücksichtigt, daß „Gewißheit"360 ebenfalls nur einen Wahrscheinlichkeitsgrad bezeichnet361. Denn was als „gewiß" angesehen wird, braucht noch lange nicht „wahr" zu sein. Die Geschichte der Naturwissenschaften kennt zahlreiche Beispiele, in denen Annahmen, die als unanfechtbar galten, aufgrund neuer Erkenntnisse revidiert werden mußten362. Auch in vielen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs — die oben363 wiedergegebenen 'Zitate können dafür als Beleg dienen — wird der Begriff „Wahrscheinlichkeit" in der Bedeutung verwendet, die ihm die Umgangssprache beilegt364. Richtig verstanden ist aber jeder Beweis — 88, S. 430ff., 441 f.; Mezger, S. 159; Sebba, ZZP 37,5.67, 76 N. 10; Leo, HansRZ 1923, Sp. 41 f.; Hasler, S. 36. Ebenso das Reichsgericht (RGZ 114, 73, 75 — 10. 6. 26 — IV 671/25): „Bei der Beschränktheit der Mittel menschlichen Erkennens genügt es allerdings, wenn für eine Tatsache oder Tatsachenkette ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit erbracht wird, daß daneben die anderen Möglichkeiten, wie der feststehende Erfolg eingetreten sein könnte, verschwinden." Vgl. auch RGZ 155, 37, 40 (26. 4. 37 — VI 395/ 36). 356 Vgl. Zeiler, DRiZ 1929, S. 133ff., LZ 1933, Sp. 275. 357 Vgl. Döring, Erforschung, S. 447; Wassermeyer, Beweis, S. 68 ff., Kollisionsprozeß, S. 81 f. 358 Anders dagegen Sarstedt, S. 251 f., der wegen des Unvermögens, die Wahrheit und in den meisten Fällen auch die Wahrscheinlichkeit exakt festzustellen, allein die Überzeugung des Richters maßgebend sein lassen will; ähnlich wohl auch Motulsky, S. 136. Zu den Konsequenzen, zu der eine solche Auffassung führen muß, wenn man sie folgerichtig durchführen wollte (vgl. dazu oben S. 107), wird jedoch nicht Stellung genommen. 359 Wichmann, NJW 1963, S. 384. 380 Im Sinne eines objektiven Begriffs. Zur Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Gewißheit, vgl. Bierling, IV, S. 33 N. 7. 361 So auch Bierling, IV, S. 87f.; Moser, S. 40 N. 7; Ekelöf, ZZP 75, S. 291 f.; Weyreuther, DRiZ 1957, S. 56; A. Hellwig, GS 82, S. 426. 362 So auch Kuchinke, Grenzen, S. 182; Grumbrecht, S. 13, 17; Ekelöf, aaO, S. 291, Scand. Studies in Law 8, S. 51. Dementsprechend ist auch eine Tatsache, die aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse feststeht und an die der Richter bei der Tatsachenwürdigung gebunden sein soll (vgl. oben N. 345 a. E.), nur wahrscheinlich richtig (vgl. Reichenbach, Erkenntnis l, S. 173). 363 Vgl. oben S. 105; s. auch BGH (21. 9. 56 — VI ZR 192/55) ZZP 70, S. 259. 364 Typisch für das dieser Auffassung zugrundeliegende Mißverständnis sind die Ausführungen von Döring, Erforschung, S. 447 f., in denen vorgeschlagen wird, nicht die „wenig geeignete" Wahrscheinlichkeit, sondern die Sicherheit zur Maßeinheit der Tatsachenermittlung zu machen, ohne zu berücksichtigen, daß „Sicherheit" nichts anderes als ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit bedeutet. 8«
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und vor allem der Anscheinsbeweis — ein Wahr scheinlichkeitsbeweis^6, so daß nur noch klärungsbedürftig sein kann, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad für die Feststellung einer Tatsache zu fordern ist und ob hier Unterschiede gemacht werden dürfen. Eine auf diese Frage gerichtete Erörterung wäre nur überflüssig, wenn es dem Richter überlassen wäre, darüber zu entscheiden, welche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit er für den Beweis einer Tatsache stellen möchte. Daß diese Befugnis, die es gestatten würde, daß der eine Richter bei dem geringfügigsten Wahrscheinlichkeitsübergewicht eine Tatsache als bewiesen ansehe, dagegen der andere einen Wahrscheinlichkeitsgrad verlangte, der dem eines mathematischen Beweises nahe käme, nicht im Grundsatz freier Tatsachenwürdigung eingeschlossen ist, ist bereits386 dargelegt worden 3 7. Die herrschende Lehre verlangt im Regelfall für den Beweis einen hohen Wahrscheinlichkeitswert, den sie mit Formulierungen wie „jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Grad von Wahrscheinlichkeit"368 oder „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit"369 beschreibt. Ist dieser Wahrscheinlichkeitsgrad im konkreten Fall für eine bestimmte Tatsache erreicht, dann ist die Behauptung, daß jene Tatsache existiere, als „wahr" im Sinne des § 286 Abs. l ZPO „zu erachten"370, und die subjektive Gewißheit des Richters, daß die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür gegeben ist, stellt sich als die Überzeugung von der Wahrheit dar. Dieser Auffassung entsprechend hat das Reichsgericht™ erklärt, der Richter müsse sich „mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht. Ein solcher für das praktische Leben allein brauchbarer Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit und das Bewußtsein des Richters von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Überzeugung von der Wahrheit". Gleiches muß gelten, wenn das Maß der für den 365
Rosenberg, ZZP 67, S. 479 (rechte Spalte); A. Hellwig, GS 88, S. 431; Bierling, IV, S. 88ff.; Friedrich Sturm, Archiv für Kriminal-Anthropologie 51, S. 120 (allerdings mit der hier abgelehnten Unterscheidung von Gewißheit und Wahrscheinlichkeit); Pagendarm, S. 53; vgl. auch E. Schneider, Beweis, S. 12. 366 Vgl. oben S. 107 f. 367 Engisch, Wahrheit, S. 6; vgl. auch die in N. 312 Zitierten. Schönke-Kuchinke, S. 253, weisen darauf hin, daß die Betonung der Freiheit des Richters bei der Beweiswürdigung in der ZPO ihren historischen Grund in den Reformbestrebungen des vorigen Jahrhunderts gegen die Abhängigkeit des richterlichen Urteils von Beweisregeln findet. 368 BGHZ 18, 311, 318 (24. 10. 55 — ZR 345/53); BGH (6. 2. 59 — VI ZR 45/58) VersR 1959, S. 632. 369 RGSt. 51,127 (25. 6. 17 — III 213/17); RGSt. 58,130,131 (28. 3.24 — 1 818/23); Baumann, S. 56; Zeiler, LZ 1933, Sp. 282f.; E.Schneider, Beweis, S. 11;Bohne, NJW 1953, S. 1377 f. 370 Blomeyer, Gutachten, S. 16, ZPR, S. 362; Tietgen, Gutachten, S. 80f.; Rosenberg, S. 181; Bohne, S. 19f. 371 RGZ 162, 223, 229 f. (15. 12. 39 — IV 361/39); ebenso schon RGZ 15, 338 f. (14. 1. 1885 — I 408/84); vgl. auch RGSt. 61, 202, 206 (15. 2. 27 — I 2/27).
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Beweis notwendigen Wahrscheinlichkeit vermindert wird. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, der zur Feststellung von streitigen Tatsachen im Prozeß erreicht werden muß, ist — von Einzelregelungen abgesehen — im Gesetz nicht ausdrücklich vorgeschrieben, sondern durch die Rechtsprechung, unterstützt von der Lehre, in Anwendung und Auslegung des Gesetzes festgelegt worden. Eine Abänderung und Fortentwicklung dieser herrschenden Lehre ist der Judikatur nicht verwehrt372.
Ist eine Herabsetzung3 der beim Beweis zu stellenden Wabrscbeinlichkeitsanforderungen zwingend geboten, um die Durchsetzung des materiellen Rechts zu ermöglichen374 — Beispiele375, in denen eine solche Reduzierung wegen ständig auftretender Beweisschwierigkeiten von der Rechtsprechung vorgenommen worden ist, finden sich im Sozialversicherungs-376, Flüchtlings- und Wiedergutmachungsrecht377 — dann darf dies nicht an einem vermeintlichen Anspruch des Richters auf „seine Überzeugung" scheitern378. Diese Überzeugung ist nicht Selbstzweck, sondern den Zielen des Prozesses untergeordnet378. Hierin liegt ein bedeutsamer Unterschied zu der Überzeugung eines beliebigen Privatmannes, dem nicht verwehrt ist, seine 872
Vgl. J. Esser, Festschrift, S. 113ff., 123ff., 129 (VIII 2); Larenz, Methodenlehre, S. 405ff., Bindungswirkung, S.252ff.; E. Schneider, MDR 1971, S. 706ff.; Meyer-Ladewig, AcP 161, S. 125ff. (einschränkender). Dagegen sieht Bydlinski, Schadensverursachung, S. 82, „in einem solchen Zurückgehen auf geringere Wahrscheinlichkeitsgrade zweifellos eine glatte .Rechtsverletzung'"; ebenso Pohle, MDR 1949, S. 387. 373 Auch eine Heraufsetzung der Beweisanforderungen zur Herbeiführung billiger Ergebnisse, z. B. im Rahmen des § 831 BGB beim Entlastungsbeweis (vgl. BGH — 1.4. 53 — VI ZR 77/52 — VersR 1953, S. 242; Kuchinke, Freiheit, S. 36; s. dazu auch Lorenz, AcP 170, S. 369 ff.), kommt vor. 874 Vgl. J. Schröder, FamRZ 1969, S. 349; Leonhard, S. 182; Kummer, Art. 8, Rdn. 211. 375 Das Bundesarbeitsgericht (30. 6. 60 — 2 AZR 403/58) BB 1960, S. 940, vertritt die Auffassung, daß ganz allgemein bei Beweis von Negativen wegen der sich dabei ergebenden Schwierigkeiten für die Beweisführung nur „hinreichende Wahrscheinlichkeit" zu verlangen sei. Zustimmend, J. Esser, Schuldrecht, I, S. 208. 374 Vgl. BSG 19, 52, 56 (29. 3. 63 — 2 RU 75/61); BSG 24, 25, 29 (29. 9. 65 — 2 RU 61/60); Klingmüller, S. 142rT. (mit weiteren Nachweisen); Tietgen, Gutachten, S. 82f.; Döring, Erforschung, S. 457; Buss, DRiZ 1966, S. 293f.; Gaupp, S. 16f. 377 Vgl. BVerwG (27. 9. 57 — V C 496/55) DÖV 1958, S. 116; BVerwGE 6, 114, 116f. (16. 1. 58 — II C 296/57); BVerwG (26. 8. 59 — VIII C 12/59) DÖV 1960, S. 27; Redeker- von Oertzen, § 108, Anm. l; vgl. aber auch Redeker, NJW 1966, S. 1782, der die Meinung äußert, es sei „eine mehr terminologische Frage", welcher Wahrscheinlichkeitswert in diesen Fällen gefordert würde, weil mit einem Anscheinsbeweis geholfen werden könnte. Dabei wird nicht berücksichtigt, daß es gerade für den Anscheinsbeweis bedeutsam sein kann, die Frage zu klären, welche Wahrscheinlichkeitsanforderungen zu stellen sind (vgl. dazu unten S. 120 ff.). 378 Zu der Beweiserleichterung nach § 252 Satz 2 BGB vgl. BAG (27. 1. 72 — 2 AZR 172/71) NJW 1972, S. 1437, 1438, mit weiteren Nachweisen; vgl. dazu E. Schneider, AP § 252 BGB Nr. 2. Zu der im Rahmen des § 287 ZPO von der herrschenden Auffassung befürworteten Verminderung der Wahrscheinlichkeitsanforderungen vgl. unten S. 123. 878 Levy-Bruhl, Preuve, S. 40.
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Überzeugung aufgrund noch so abstruser Erwägungen zu bilden. An dieser „Überzeugung des Privaten" orientiert sich auch der allgemeine Sprachgebrauch und sieht lediglich auf die subjektive Einstellung selbst, nicht auf die dafür vorhandenen objektiven Gründe. Der Begriff der Überzeugung im Sinne des Prozeßrechts380 erhält demgegenüber durch die ihm zukommende Funktion einen veränderten Sinn und ist auf einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad381, der die prozessuale Wahrheit darstellt382, bezogen. Die jedem Privaten zustehende Freiheit, subjektiv zu entscheiden, welcher Grad von Wahrscheinlichkeit für ihn als die Wahrheit gelten soll, kann dem Richter für die von ihm zu erfüllende Aufgabe im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Behandlung gleicher Fälle nicht gewährt werden. Sonst müßten — worauf Engisch383 hinweist — verschiedene Auffassungen über das (objektive) Ergebnis einer Beweisaufnahme gleichermaßen richtig sein384. Daß es häufig verschiedene subjektive Ansichten über das richtige (objektive) Ergebnis geben kann und dann die subjektive Auffasung des Tatrichters entscheidet, ist nur Folge des Fehlens genauer objektiver Maßstäbe und ändert nichts daran, daß die Beweiswürdigung — rein objektiv gesehen — immer nur ein richtiges Resultat haben kann. Anderer Ansicht ist Haueisen385, der in dieser Frage nur auf die (objektiv feststellbare) Verletzung des Verfahrensrechts sieht und dem Richter offenbar das Recht zubilligen will, wie eine Verwaltungsbehörde im Rahmen einer Ermessensentscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen386. Ehrenzweig387 unterscheidet ebenfalls zwischen einer (rein auf subjektiven Gründen gestützten) glaubensmäßigen Überzeugung, die nur dem Privatmann zugebilligt 380
Dazu bemerkt J. Esser, Freiheit, S. 12f., daß die Überzeugung des Richters nichts anderes sein könnte als dies: „Reicht nun alles zusammen über die Grenze hinaus, die ein so eindeutiges Wahrscheinlichkeitsübergewicht (»preponderance of evidence' im Sinne der schwedischen Theorie) ergibt, daß ich die behauptete Tatsache als ,erwiesen' ansehen darf? Hier allein ist seine individuelle Freiheit: Von dem, was ausreicht, damit er etwas für erwiesen halten darf — bis zu dem, was ausreicht, daß er es als erwiesen ansehen muß. Geringere Wahrscheinlichkeitsgrade genügen nicht zur ,Überzeugung' — höhere dagegen erlauben nicht ein Verweigern derselben. Das sind die schlichten Grenzen einer ,Verkennung' des Begriffs der freien Beweiswürdigung oder einer .Überspannung der Beweisanforderungen' ". 381 Kollhosser, AcP 167, S. 453: „Von einem gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit an ist ein non liquet unzulässig; der Richter muß überzeugt sein, sonst verletzt er § 286 ZPO". Vgl. auch Kuchinke, Festschrift, S. 132. 382 Es entspricht der üblichen Anschauung, als Überzeugung nur das Bewußtsein höchster Wahrscheinlichkeit (so bereits von Canstein, ZZP 2, S. 303; ebenso Sebba, ZZP 37, S. 66, vgl. aber dagegen S. 74) anzusehen und diesen Begriff im Sinne subjektiver Gewißheit aufzufassen (vgl. E. Schneider, Beweis, S. 13 ff., sowie die in N. 320 zitierten Entscheidungen). Eine solche Fixierung eines bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrades wird jedoch durch den Uberzeugungsbegriff der ZPO nicht zwingend geboten (vgl. Bohne, S. 11 f.). 383 Wahrheit, S. 6. 384 Ablehnend gegenüber einer solchen Möglichkeit neben Engisch, aaO, auch Bruns, S. 274. 885 NJW 1959, S. 1351. 386 AaO, N. 57. s«? jw 19295 s. 85 ff.
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werden könnte, und einer Überzeugung in prozeßrechtlichem Sinn, die ihrerseits in eine Wahrheitsüberzeugung und eine Wahrscheinlichkeitsüberzeugung aufzuteilen sei (in eine gleiche Richtung gehen die Überlegungen von J. Esser388 und Drost389). Welcher Art von Überzeugung im Beweisverfahren verlangt werden müßte, entschiede sich nach der zu beurteilenden Streitsache. Da aber — wie oben ausgeführt — die Wahrheitsüber%fugung ebenfalls nur eine Wahrscheinlichkeitsüber^eugung sein kann, ist Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden jedoch nur der Grad der zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeit. Es dürfte dann vorzuziehen sein, nicht von verschiedenen Überzeugungen zu sprechen, sondern nur von einer Überzeugung (im prozeßrechtlichen Sinn) auszugehen, die aber auf unterschiedliche Wahrscheinlichkeitswerte gerichtet sein kann.
Am Anfang dieser Erörterung stand die Frage nach dem Einfluß der Wahrscheinlichkeit auf die Überzeugung des Richters. Diese Fragestellung, die sich aufgrund der in verschiedenen Entscheidungen des BGH zu findenden Gegensatzbildung zwischen beiden Begriffen ergab, bedarf der Berichtigung390. Die Wahrscheinlichkeit stellt sich als das Objekt dar, auf das die Überzeugung bezogen ist und das ihren Inhalt ausmacht391; Überzeugung von der „Wahrheit" im Sinne des Prozeßrechts ist Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Grades. Welcher Grad als „Wahrheit" gilt, wird durch einen Rechtssatz angeordnet392. Ob ein Beweis diesen Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht, entscheidet der Richter der Tatsacheninstanz3922, ohne dabei an Rechtsregeln gebunden zu sein, also frei393, in eigener Verantwortung394; seine Hilfsmittel sind dabei das Erfahrungswissen und die zur Gewinnung und Verwertung dieses Wissens dienenden Methoden395. Da weithin Mittel fehlen, die Wahrscheinlichkeit genau zu bestimmen, kann nur in Fällen eines krassen Mißverhältnisses seine Entscheidung vom Revisionsrichter aus dem Grund aufgehoben werden, weil seine an die Wahrscheinlichkeit gestellten Anforderungen zu hoch oder zu niedrig angesetzt worden sind und damit der das Beweismaß 388
Freiheit, S. 11. S. 32. 390 Vgl. E. Schneider, Beweis, S. 71 f. 391 Anders Wilburg, Schadensrecht, S. 71 („der Übergang von der Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung fließt"). Auch Baur, RabelsZ 32, S. 161, wendet sich gegen die Gegenüberstellung „Überzeugung contra Wahrscheinlichkeit", sieht aber in der Wahrscheinlichkeit nur „eine Komponente, aber auch nicht mehr" der richterlichen Überzeugung. 392 Mezger, S. 161; anders Kralik, ÖJZ 1954, S. 157. 8924 Vgl. BGH (14. 2. 73 — IV ZR 15/72) NJW 1973, S. 1411. Das Gericht weist in dieser Entscheidung darauf hin, daß auch naturwissenschaftliche Erfahrungssätze, die nicht allgemein bekannt und in ihrer Gültigkeit anerkannt sind, in gleicher Weise wie Erfahrungssätze des täglichen Lebens eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit vermitteln, die abzuschätzen, Sache der Beweiswürdigung des Richters sei. 393 Vgl. J. Esser, Freiheit, S. 10. 394 Vgl. Kuchinke, Grenzen, S. 181 f. 395 Kuchinke, aaO, S. 176; Klug, Logik, S. 142; Rosenberg-Schwab, § 114, 3b (S. 594); vgl. auch oben N. 311. 389
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vorschreibende Rechtssatz verletzt ist. Subjektive Erwägungen des Tatrichters finden deshalb hier ein weites Feld. Auf der Grundlage der hier vertretenen Ansicht lassen sich auch die kritischen Fragen der schwedischen Prosysßrecbtswissenscbaftler zum Überzeugungsbegriff des deutschen Prozeßrechts mühelos beantworten396. Der Richter in dem von Ekelöf397 gebildeten Beispielsfall, der zwar von der Schuld des Angeklagten intuitiv „überzeugt" ist, aber erkennt, daß er für diese Überzeugung keine ausreichenden Beweise hat, die das notwendige Maß an Wahrscheinlichkeit für die Schuld ergeben, ist gerade nicht überzeugt im Sinne des Prozeßrechts. Im Gegensatz dazu hat der Richter in einem Vaterschaftsprozeß die zu gewinnende Überzeugung, wenn durch Sachverständigengutachten mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit unanfechtbar nachgewiesen ist, daß der Kläger vom Beklagten abstammt. Auf dieser Wahrscheinlichkeit beruht ja gerade die Überzeugung des Richters. Die von Bolding398 gestellte Frage, nach dem Verhältnis von Überzeugung und Wahrscheinlichkeit läßt sich auf diese Weise ohne Schwierigkeiten beantworten. Anders ist es jedoch, wenn mit der überwiegenden Meinung daran festgehalten würde, daß der Richter nur dann überzeugt sei, wenn er auch persönlich eine Tatsache als wahr ansieht. Denn dann muß die Umsetzung konkreter (wissenschaftlich fundierter) Wahrscheinlichkeit in eine subjektive Gewißheit ein ungeklärtes Phänomen bleiben. Denn über das Ergebnis, daß nämlich wissenschaftliche Erkenntnisse, die sicher feststehende, hohe Wahrscheinlichkeitsaussagen liefern, als ein ausreichender Beweis zu gelten haben, besteht kein Streit389; obwohl auch in diesen Fällen die Möglichkeit das Irrtums nie ausgeschlossnen werden kann, ja häufig sogar von dem Gutachter ziffermäßig angegeben wird400, verwehrt man dem Richter, sich eine entgegegengesetzte Überzeugung zu bilden. Wenn man aber in diesem Fall auf ein persönliches Fürwahrhalten verzichten kann — E. Schneider401 formuliert einprägsam: „Die Statistik ersetzt also die Überzeugung" und meint damit die von der herrschenden Auffassung geforderte subjektive Gewißheit ·— dann sollte diese „innere Zusatzleistung" des Richters immer für entbehrlich gehalten werden.
e) Das Beweismaß beim Anscheinsbeweis Daß der Anscheinsbeweis wie jeder andere Beweis auch auf Wahrscheinlichkeiten beruht402, ist dargelegt worden; zu klären bleibt, ob hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitsanforderungen Unterschiede zwischen dem sog. Vollbeweis und dem Anscheinsbeweis bestehen. Einen solchen Unterschied 398
Vgl. Ekelöf, Scand. Studies in Law 8, S. 65f.; Bolding Sachaufklärung, S. 58f. AaO. 398 AaO, S. 59. 399 Vgl. oben S. 108 und N. 345. 400 Vgl. oben N. 345. 401 Beweis, S. 13. 402 Wilburg, Schadensrecht, S. 70f.: „Der prima facie Beweis ist zunächst nichts anders als die Betonung des Gedankens, daß die richterliche Überzeugung sich notwendigerweise mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit begnügt." Vgl. auch Helm, VersR 1974, S. 715. 397
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betont der BGH im Gasthausbesucherfall403: „Anwendungsfälle des Beweises des ersten Anscheins, für die jede Möglichkeit eines anderen Verlaufes auszuschließen wäre, gibt es jedoch nicht, weil es sich dann nicht um einen Anscbeinsbeweis^ handeln würde, sondern nahezu um einen mathematischen Beweis, auf jeden Fall um den Vollbeweis*0* des behaupteten Tatbestandes"405. Auch die Ergebnisse, zu denen der Bundesgerichtshof in den fünf dargestellten Entscheidungen406 gelangt, bestätigen die Auffassung, daß hierbei verminderte Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit gestellt worden sind407. Werden die in den einzelnen Fällen denkbaren Ursachen für den Schaden gegeneinander abgewogen — die Ansteckung durch Blutübertragung oder auf andere Weise außerhalb des Krankenhauses in den Luesfällen, der Tod durch Ertrinken an einer tiefen Stelle oder infolge einer anderen hier in Betracht kommenden Ursache im Nichtschwimmerfall, der Verderb der Gurken durch Chlor oder durch ein Ferment im Gurkenfall, schließlich der Unfall bei Verlassen der Gastwirtschaft infolge der Dunkelheit oder auf andere Weise etwa bei einer späteren Rückkehr im Gasthausbesucherfall —, dann läßt sich zwar feststellen, daß jeweils für den vom BGH angenommenen Geschehensablauf eine höhere, manchmal sogar eine erheblich größere Wahrscheinlichkeit als für andere Ursachen spricht, eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dürfte jedoch in keinem der Fälle erreicht worden sein. Der geringere Wahrscheinlichkeitsgrad erklärt sich daraus, daß der jeweils angewendete Erfahrungssatz gegenüber dem Einzelfall weitaus allgemeiner gefaßt ist und wesentlich wenigere Merkmale als der zu entscheidende Sachverhalt aufweist408. Ein Erfahrungssat^ der beispielsweise den gesamten Tatbestand des Luesfall I umfaßt, müßte eine Aussage über Ursachen einer Infektion mit Lues bei Ehefrauen in geordneten Verhältnissen und mit gesunder Familie machen, die eine Transfusion luetischen Blutes 403
Vgl. oben N. 270. Hervorhebung zugefügt. 405 Das Reichsgericht hat ebenfalls mehrfach ausgesprochen, daß beim Anscheinsbeweis ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad, als in anderen Fällen für den Beweis erforderlich ist, genügt. So stellt es im Urteil vom 16. 11. 1930 (IX 277/30) JW 1932, S. 107, 108, mit zustimmender Anmerkung von Lewis, fest, nachdem es auf den typischen Geschehensablauf als notwendige Voraussetzung des Anscheinsbeweises hingewiesen hat: „Eine Verallgemeinerung der Regel derart, daß jeder Kläger schließlich nur einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit darzutun und der Gegner die Wahrscheinlichkeit zu entkräften hat, ist abzulehnen (Seuff. Arch. 80 Nr. 120; RG 112, 229; 126, 70). Um einen Fall des typischen Geschehensablaufs handelt es sich aber hier nicht." Ebenso RG (20. 3. 29 — 1 258/28) Recht 1929 Nr. 1315. Auch Levis, aaO, faßt diese Ausführungen als eine Bestätigung geringerer Wahrscheinlichkeitsanforderungen beim Anscheinsbeweis auf und billigt diese Auffassung. 406 Vgl. oben S. 99 ff. 407 Dies macht insbesondere die Untersuchung von Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 329 ff. (vgl. auch oben S. 104 f.) deutlich. 408 Vgl. oben S. 94 f. 404
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
der III. Stufe erhalten haben, und ferner auch die Häufigkeit anderer in ihren Symptomen Lues ähnlicher Krankheiten berücksichtigen. Einen solchen Erfahrungssatz kann es schon deshalb nicht geben, weil die Bildung eines Kollektivs409 wegen der Außergewöhnlichkeit derartiger Fälle unmöglich ist. Der vom BGH angewendete Erfahrungssatz lautet wesentlich allgemeiner: Bestehen bei einem bestimmten Krankheitsbild nur für eine Ursache feste Anhaltspunkte, während für andere mögliche Ursachen solche Anhaltspunkte fehlen, dann wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die erste Ursache auch die Krankheit herbeigeführt haben. Die durch diesen Erfahrungssatz erbrachte Wahrscheinlichkeit — die kaum an Sicherheit grenzen dürfte — wird durch den entgegengesetzten Erfahrungssatz noch vermindert, auf den der Sachverständige hingewiesen hat: Die Ansteckung mit Lues durch Blutübertragung von einem Kranken der Stufe III ist selten. Der BGH hat beide Erfahrungssätze gegeneinander abwägen müssen. Er hat möglicherweise noch andere Erfahrungssätze beachtet, etwa daß sich im Regelfall Ehefrauen in geordneten Verhältnissen und mit gesundem Ehemann nicht beim Geschlechtsverkehr mit Lues infizieren410. Auch in anderen Fällen sind widersprechende Erfabrungssät^e zu bewerten, im Nicbtschwimmerfall einmal der Satz, daß als Ursache des Todes von Nichtschwimmern, die beim Baden in der Nähe gefährlich tiefer Stellen ums Leben kommen, weitaus häufiger Ertrinken in Betracht kommt als ein Herzschlag, eine Ohmacht oder eine andere körperliche Störung, gegenüber der Erfahrungsregel, daß Ertrinkende schreien und sich heftig bewegen; im Gurkenfall stehen sich die Erfahrungssätze über das Weichwerden von Gurken durch Chlor einerseits und durch andere Ursachen, etwa durch ein bestimmtes Ferment, andererseits gegenüber. Hier zeigt sich, daß im Rahmen des Anscheinsbeweises durchaus mehrere Erfahrungssätze eine Rolle spielen können. Die Abgrenzung zum Indizienbeweis wird dadurch noch schwieriger und auch fragwürdiger. Deshalb kann nicht verwundern, daß immer wieder Fälle, in denen der BGH von einem Anscheinsbeweis spricht, im Schrifttum als Indizienbeweise aufgefaßt werden411.
Die Betrachtung der fünf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ergibt, das es sich wohl in keinem der Fälle rechtfertigen ließe, daß Urteil des Berufungsgerichtes allein deshalb aufzuheben, weil das OLG nicht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang zwischen dem Verhalten des Beklagten und der Verletzung des Klägers bejaht hat. Daß der dafür erforderliche Beweis jeweils geführt 409
Vgl. oben S. 92f. Eine höhere als überwiegende Wahrscheinlichkeit dürfte in diesem Fall kaum erreicht worden sein. Gleicher Auffassung ist Kegel, aaO, S. 329 f., 333. 411 Vgl. Henke, JR 1961, S. 551; Uhlenbruck, NJW 1965 S. 1060; Diederichsen, 46. DJT Sitzungsberichte, S. E 81; Weyreuther, DRiZ 1957, S. 57 N. 38. 410
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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worden ist, kann nur angenommen werden, wenn für diesen Beweis ein erheblich geringeres Beweismaß gefordert wird. Die sich hier stellende Frage, aus welchem Grunde der Bundesgerichtshof die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zur Feststellung streitiger Tatsachen vermindert hat, wäre beantwortet, wenn in diesen Fällen § 287 ZPO angewendet werden könnte. Denn im Rahmen dieser Vorschrift läßt der BGH durchweg eine „erhebliche Wahrscheinlichkeit" zum Beweis genügen412. Indes muß nach der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgeschlossen werden, daß § 287 ZPO die Grundlage für die zitierten Entscheidungen bildet. Zwar wendet der BGH diese Regelung ausdehnend auch auf Fragen des Ursachenzusammenhanges an, beschränkt aber die Anwendung ausdrücklich auf die haftungsausfüllende Kausalität413. 412
BGH (13. 11. 62 — VI ZR 214/61) LM § 823 (Aa) BGB Nr. 21 (unter III 2), allerdings wiederum mit einem unklaren Hinweis auf die Überzeugung („wenn sie" — d.h. die Wahrscheinlichkeit — „ihm" — d.h. dem Richter — „zur freien Überzeugung ausreicht"); BGH (7. 7. 70 — VI ZR 233/69) NJW 1970, S. 1970, 1971 („Das Gericht muß vielmehr in bezug auf diese Grundlagen die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Feststellung erlangen und ist durch § 287 ZPO nur insofern freier gestellt, als es in einem der jeweiligen Sachlage angemessenem Umfang andere wenig wahrscheinliche Verlaufsmöglichkeiten nicht mit der sonst gebotenen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschließen muß"). Dagegen will sich BGH (25. 4. 72 — VI ZR 134/71) NJW 1972, S. 1515,1516, sogar mit einer „mehr oder minder hohen (mindestens aber überwiegenden) Wahrscheinlichkeit" begnügen. Vgl. ferner BGH (21. 4. 60 — VII ZR 97/59) VersR 1960, S. 656, 657; BGH (26. 11. 64 — III ZR 5/64) VersR 1965, S. 91, 92. Das Reichsgericht hat in derartigen Fällen eine „stark überwiegende Wahrscheinlichkeit" (nicht nur 51 von 100) verlangt (vgl. RGZ 128, 121, 124f. — 28. 3. 30 — 236/29). Die herrschende Auffassung im Schrifttum befürwortet ebenfalls eine erhebliche Verminderung der Beweisanforderungen. Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 18, hält eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, d.h. von wenigstens 51 Prozent, für ausreichend; ebenso Hanau, S. 120 N. 112 a. E. Stoll, Festschrift, S. 559, meint, daß die Rechtslage mit der in Art. 563 des neuen portugiesischen Gesetzbuchs von 1966 getroffenen Regelung übereinstimmen dürfte, wonach sich die Verpflichtung zum Schadensersatz auf Schäden erstreckt, die „der Verletzte wahrscheinlich nicht erlitten hätte, wenn die Verletzung nicht geschehen wäre". Klauser, JZ 1971, S. 231, entnimmt der Rechtsprechung, daß im Rahmen des § 287 ZPO ein unterschiedlicher Beweismaßstab angewendet werde und daß „bei hypothetischen Kausal verlaufen in aller Regel einfache (50%ige) Wahrscheinlichkeit" genüge. Vgl. auch Klauser, JZ 1968, S. 170; Lemhöfer, JuS 1966, S. 341; Lando, S. 53 f. 418 BGHZ 4,192, 196 f. (13. 12. 51 — IV ZR 123/51); BGH (28. 9. 56 — VI ZR 219/ 55) NJW 1956, S. 798; BGH (2.10. 63 — V ZR 204/61) LM § 286 (B) Nr. 19; BGH (7.2.68 — VIII ZR 139/66) NJW 1968, S. 985; BGH (11.6. 68 — VI ZR 116/67) NJW 1968, S. 2291, 2293; BGH (18. 6. 69 — VIII ZR 148/67) NJW 1969, S. 1708,1709; BGH (15. 12. 70 — VI ZR 90/69) VersR 1971, S. 442, 443; BGH (11. 1. 72 — VI ZR 46/71) NJW 1972, S. 1126, 1127 BGH (27. 2. 73 — VI ZR 27/72) VersR 1973, S. 619. Das Schrifttum stimmt ganz überwiegend zu; vgl. Klauser, JZ 1968, S. 167f.; Stein-JonasSchumann-Leipold, § 287, Anm. I 2 c (S. 1177); Lent-Jauernig, S. 160; Wieczorek, § 286, Anm. E I a 3 (S. 401 f.); Baumbach-Lauterbach, § 287, Anm. l A, 2 A; Blomeyer, ZPR, S. 366f.; Geigel, S. 1263 (Rdn. 89); a. A. Prölss, S. 54ff.
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Bei der Abgrenzung haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität geht der BGH davon aus, daß die Frage, ob ein bestimmtes Ereignis den Geschädigten tatsächlich getroffen hat, nach § 286 ZPO zu beurteilen ist, und zwar soll dies auch dann gelten, wenn dieses Ereignis ein Pflichtverstoß gegen den Verletzten darstellt414. Da es in den erörterten Fällen durchweg um die Feststellung geht, ob das Verhalten des Beklagten die Verletzung des geschädigten Rechtsguts herbeigeführt hat, ist nach dieser Auffassung nicht § 287, sondern § 286 ZPO anzuwenden. Die beschriebene Abgrenzung innerhalb des Kausalitätsbeweises erscheint aus mehreren Gründen problematisch. Einmal bereitet die Durchführung dieser Regeln insbesondere in solchen Fällen praktische Schwierigkeiten, in denen zu klären ist, ob eine weitere Verletzung, die neben dem Ersterfolg eingetreten ist, auf den Pflichtverstoß zurückgeführt werden kann415; zum anderen wird dabei der unterschiedliche Aufbau und Inhalt der Haftungstatbestände nicht ausreichend berücksichtigt. Es ist zwischen Verhaltensnormtaibeständen (Beispiel: § 839 BGH) und Eingriffstatbeständen (Beispiel: § 823 Abs. l BGB) zu unterscheiden418. Der Verhaltensnormtatbestand knüpft an die Verletzung der Verhaltenspflicht an, es sei denn, daß die Pflichtverletzung selbst erfolgsbezogen ist417. Dagegen gehört bei den Eingriffstat414
BGH, VersR 1965, S. 91 (oben N. 412): Ein an Tuberkulose erkrankter Strafgefangener wird pflichtwidrig in die Zelle eines anderen Gefangenen verlegt, der auch an Tuberkulose erkrankt. Es bestehen tatsächliche Zweifel, ob die Erkrankung des zweiten auf ein altes Leiden oder auf die Ansteckung durch den anderen Strafgefangenen zurückzuführen ist. Der BGH wendet § 286 ZPO an. Ebenso im BGH, NJW 1968, S. 2291 (vorige N.): Der Verstoß gegen anerkannte Regeln der ärztlichen Kunst steht fest. Es ist zweifelhaft, ob durch ein pflichtgemäßes Verhalten der Patient zu retten gewesen wäre (vgl. dazu Hanau, NJW 1968, S. 2292, und die folgende N.). 415 So hat der BGH § 287 ZPO bei Entscheidung der Frage herangezogen, ob ein Ursachenzusammenhang zwischen einer seltenen Blut- und Knochenmarkerkrankung und einem ärztlichen Kunstfehler bestanden hat, als deren Folge es unstreitig zu einem Allergieanfall gekommen ist (BGH, LM § 823 (Aa) BGH Nr. 21 — oben N. 412) ebenso bei Klärung eines Kausalzusammenhangs zwischen einer Schädelverletzung und einem Selbstmord (BGH — 10. 6. 58 — VI ZR 120/57 — LM § 287 ZPO Nr. 10). Dagegen hat der BGH in ähnlichen Fällen die Anwendung des § 287 ZPO wiederum abgelehnt (vgl. Gaupp, S. 24, Hainmüller, S. 140f.; Prölss, S. 54ff., ZZP 82, S. 470f.; Rosenberg-Schwab, § 115, 2c — S. 597). Die Fragwürdigkeit der in solchen Fällen vorgenommenen Angrenzung wird auch vom BGH selbst erkannt. So stellt der BGH, NJW 1970, S. 1971 (oben N. 412) fest: „Nicht eigentlich um eine Schätzung im landläufigen Sinne handelt es sich dagegen bei der Feststellung bestimmter Tatsachen oder Abläufe, welche für die Schadensentstehung bestimmend oder gar ausschlaggebend sind — Da indessen die Rechtsprechung grundsätzlich den Zusammenhang zwischen haftungsbegründendem Ereignis und Schadensfolge der Feststellung des § 287 Abs. l ZPO unterwirft .... muß in gewissem Umfang diese beweiserleichternde Vorschrift auch für die Feststellung schadensbegründender Tatsachen Anwendung finden". 416 Vgl. Hanau, S. 84ff., 90ff.; Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 179; Gaupp, S. 37ff.; jeweils mit weiteren Nachweisen. 417 Hanau, S. 84ff., 121 f.; Deutsch, aaO, S. 219
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beständen der Verletzungserfolg zum Haftungsgrund418. Hanau419 weist darauf hin, daß es bei Verhaltensnormtatbeständen — von der erfolgsbezogenen Pflichtverletzung abgesehen — überhaupt keine haftungsbegründende Kausalität geben könne, da schon die Verletzung der Verhaltenspflicht und nicht erst die Verursachung eines bestimmten Erfolges Unrecht und Haftung begründeten. Kausalitätsfragen in diesen Fällen wären demnach nach § 287 ZPO zu lösen480. Hanau421 will ferner bei Eingriffstatbeständen für die Rechtsverletzung schon die unmittelbare Gefährdung des Rechtsguts genügen lassen, so daß der problematische Bereich der haftungsbegründenden Kausalität erheblich verkleinert würde. Auf diese Weise würde erreicht, daß die beweismäßig schwierigen Fälle überwiegend die haftungsausfüllende Kausalität betreffen und mit Hilfe der durch § 287 ZPO gewährten Erleichterungen entschieden werden könnten422.
Der Bundesgerichtshof benutzt nun offenbar den Anscheinsbeweis der Kausalität, um bei der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen § 286 und § 287 ZPO unbillige Ergebnisse zu vermeiden, die eintreten müßten, wenn zum Beweis haftungsbegründender Kausalität durchweg eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gefordert würde. Denn bei den „notorischen Schwierigkeiten des Kausalitätsbeweises"423 wird in vielen Fällen ein solcher Wahrscheinlichkeitsgrad unerreichbar sein424. Will man sich nicht damit abfinden, daß der durch die Haftungstatbestände gewährte Rechtsschutz in einem erheblichen, nicht zu rechtfertigenden Umfange durch das Beweisrecht eingeschränkt wird, dann muß eine Lösung gefunden werden, die verhindert, daß Beweislastentscheidungen zum Nachteil des Geschädigten getroffen werden425, obwohl eine überwiegende oder sogar erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Schadensverursachung durch den Beklagten spricht. Der Bundesgerichtshof sucht diese Lösung dadurch zu erreichen, daß er im Rahmen des Anscheinsbeweises der Kausalität die Wahrscheinlichkeitsanforderungen vermindert. Dies öffnet den Weg, den Anscheinsbeweis auch auf individuell gestaltete Sachverhalte auszudehnen, die sich 418
Vgl. Hanau, S. 90ff., 122, NJW 1968, S. 2292; Deutsch, aaO, S. 179, 215, 219; Gaupp, S. 37. 419 S. 121. 420 Anders dagegen der BGH, allerdings ohne Berücksichtigung der Tatbestandsaufteilung, vgl. BGH, VersR 1965, S. 91 (unter 3.) (oben N. 412); BGH (24. 6. 68 — III ZR 37/66) VersR 1968, S. 987, 988; ablehnend auch Gaupp, S. 38ff. 421 S. 94, 122. 422 pur ejne ausdehnende Anwendung des § 287 ZPO auch Kuchinke, Festschrift, S. 132ff. 423 Hanau, NJW 1968, S. 2291. 424 E. Pawlowski, S. 54, meint, es ergäbe sich aus der Eigenart des Kausalzusammenhangs, daß der darauf gerichtete Beweis immer nur Wahrscheinlichkeit, niemals Sicherheit ergebe (Der Gegensatz Wahrscheinlichkeit-Sicherheit ist wohl im Sinne verschieden starker Wahrscheinlichkeitsgrade aufzufassen). 425 Denn die Anwendung von Beweislastnormen führt dazu, daß der Ursachenzusammenhang verneint werden muß (vgl. unten S. 293), daß also die Feststellungslast den Geschädigten trifft (vgl. BGH — 17.12.68 — VI ZR 212/67 — NJW 1969, S. 553, 554; J. Esser, Schuldrecht I, S. 307; Stoll, Festschrift, S. 559).
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in wesentlichen Merkmalen von den Fällen des Kollektivs unterscheiden, auf das der angewendete Erfahrungssatz aufbaut426. Da diese Untersuchung darauf gerichtet ist, Wesen und Inhalt des Anscheinsbeweises zu klären, wie er durch die Rechtsprechung entwickelt worden ist, wird auf andere Lösungsvorschläge, die ebenfalls das Ziel verfolgen, den Geschädigten in angemessener Weise bei der Durchsetzung seines Schadensersatzanspruches zu unterstützen, nicht näher eingegangen427. Diese Lösungsvorschläge betreffen bald die Beweislastregelung, bald den materiellen Inhalt der Haftungstatbestände. So will Stoll428 von einer „Kausalitätsvermutung" ausgehen, wenn mit dem pflichtwidrig geschaffenen Verletzungsrisiko typischerweise das beweisrechtliche Risiko der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs verbunden ist. Eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität unter bestimmten Voraussetzungen befürwortet Diederichsen429. Bydlinski430 und Wilburg431 schlagen vor, auf der Grundlage des geltenden Rechts eine Haftung für möglicherweise kausales Verhalten zu bejahen, wenn der Schaden sowohl auf ein schuldhaftes Verhalten des Inanspruchgenommenen als auch auf Zufall beruhen kann. Dabei soll die „Verursachungswahrscheinlichkeit" den Umfang des zu leistenden Schadensersatzes bestimmen432. Ebenso will Kahrs433 denjenigen zum Ersatz eines Schadens verpflichten, der durch sein haftungsbegründendes Verhalten auch nur geringe objektive Möglichkeiten vernichtet hat, die bei glücklichem menschlichem Verhalten zur Vermeidung des Schadens geführt hätten. Der Schaden soll nach dem Umfang der vernichteten Möglichkeiten geteilt werden.
Es gibt keinen triftigen Grund, die Verringerung der beim Kausalitätsbeweis zu erbringenden Wahrscheinlichkeit auf Fälle %u beschränken, in denen die wesentlichen Grundlagen der Tatsachenermittlung ein Erfahrungssatz bildet. Abgesehen von der oben434 getroffenen Feststellung, daß beim Anscheinsbeweis der Kausalität durchaus mehrere Erfahrungssätze eine, wenn auch unterschiedlich bedeutsame Rolle spielen können, kommt es doch auf das Beweismaß, nicht auf die Mittel an, wie es erreicht werden kann. Sonst wäre in der Tat nicht einzusehen, warum die Haftung in Fällen, in denen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Kausalität des Pflichtverstoßes für die Verletzung des Rechtsguts ermittelt werden kann, „auf dem Umweg über dem Anscheinsbeweis", wie Bydlinski435 bemerkt, zulässig sein sollte. 426
Denn je mehr sich der zu entscheidende Sachverhalt in wesentlichen Merkmalen von den Fällen entfernt, die der Erfahrungssatz unmittelbar betrifft, desto größer wird die Irrtumswahrscheinlichkeit, d.h. das Risiko, daß die Aussage des Erfahrungssatzes nicht zutrifft (vgl. oben S. 94f.). 427 Vgl. dazu Hanau, S. 128 f. 428 Festschrift, S. 549 ff., 553. 429 Vgl. oben S. 85. 430 Schadensverursachung, S. 65ff., 77ff., 86ff, AcP 158, S. 426f., AcP 167, S. 440ff. 431 Schadensrecht, S. 73ff., Referat, S. C 16. 432 Vgl. auch Leo, HansRZ 1923, Sp. 47. 433 S. 65, 179. 434 S. 122. 435 AcP 167, S. 441.
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Die Praxis dürfte bereits häufig so verfahren und insbesondere beim Kausalitätsbeweis geringere Wahrscheinlichkeitsquoten zur prozessualen Tatsachenfeststellung ausreichen lassen, um zu verhindern, daß durch hohe Beweisanforderungen der Rechtsschutz in unangemessener Weise eingeschränkt wird*38. Bruns437 meint, daß sich hinsichtlich der Beweisanforderungen die Entwicklung in der Gerichtspraxis der Beachtung durch die Prozeßrechtswissenschaft wegen des unklaren Begriffs der richterlichen Überzeugung entzogen habe. Bruns tritt in gleicher Weise wie Kegel438 dafür ein, beim Beweis eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen zu lassen, wenn nicht besondere Gründe ein höheres Beweismaß gebieten. Kummer139 und Grunsky440 befürworten ebenfalls eine Herabsetzung der Beweisanforderungen, wenn sonst vom Gesetz gewährte Ansprüche illusorisch würden, und bejahen diese Voraussetzungen insbesondere für den Kausalitätsbeweis. Der von Grunsky441 angenommene Gegensatz zu der Auffassung von Bruns dürfte praktisch nicht bestehen, da der von Bruns verwendete Begriff „Beweislastregel" im Sinne der skandinavischen Doktrin aufzufassen ist und die Bestimmung eines höheren Beweismaßes (als überwiegende Wahrscheinlichkeit) bezeichnet442. Auch Grunsky geht nicht davon aus, daß ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad (als eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit) ausnahmslos genügen soll443.
Zu wünschen ist deshalb, daß der Bundesgerichtshof offen ausspricht und nicht weiter hinter dem Begriff des Anscheinsbeweises verbirgt, was sich durchaus sehen lassen kann: eine Verminderung der Wahrscheinlichkeitsanforderungen444 beim Beweis der haftungsbegründenden Kausalität zur Vermeidung unbilliger Beweislastentscheidungen445. Dagegen ist es angesichts des weithin bestehenden Unvermögens, Wahrscheinlichkeitsgrade exakt zu bemessen446, von sekundärer Bedeutung, ob überwiegende Wahrscheinlichkeit (im Sinne von 51 Prozent) oder ein deutliches Wahr438
Gleicher Auffassung Bydlinski, Schadensverursachung, S. 82. S. 280; a. A. J. Schröder, FamRZ 1969, S. 349. 438 Individualanscheinsbeweis, S. 334f., 343f.; vgl. auch oben S. 104f. 439 Art. 8, Rdn. 211. 440 S. 371. 441 AaO, N. 28. 442 Vgl. oben S. 110. 443 Vgl. Grunsky, S. 390. 444 Das soll nicht heißen, daß etwa in jedem Fall, in dem vom BGH ein Anscheinsbeweis der Kausalität angenommen worden ist, geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit gestellt worden sind. Im Gegenteil gibt es Entscheidungen, bei denen der Grad der Wahrscheinlichkeit kaum noch höher sein kann (vgl. z. B. BGH —10. 7. 56 — VI ZR 199/55 — LM § 286 (C) ZPO Nr. 26: Das Finden von Tamponresten in Operationswunden erlaubt einen Schluß auf das Zurücklassen durch den operierenden Arzt, wenn kein anderer Arzt die Wunde behandelt hat. Wenn die vom Berufungsgericht erwogene Möglichkeit, die Klägerin könnte selbst den Tampon in die Wunde eingeführt haben, um die Heilung zu vereiteln, als reine Spekulation ausgeschieden wird, bleibt keine andere Möglichkeit als die Schlußfolgerung des BGH. 445 Die Frage der Billigkeit ist hier nicht auf den konkreten Sachverhalt im Sinne einer „Fallgerechtigkeit", sondern auf den „Durchschnittsfall" zu beziehen. 446 Vgl. oben S. 113f. 437
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scheinlichkeitsübergewicht gefordert wird, weil im Regelfall diese Unterscheidung in der Tatsachenwürdigung untergehen wird447. Zusammenfassend ist %um Anscbeinsbeweis der Kausalität festzustellen:
Das Besondere an ihm ist nicht sein Wesen oder seine Struktur, hierin unterscheidet er sich nicht von dem Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit, sondern daß in seinem Rahmen aus Gründen der Billigkeit die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit, die beim Beweis zu erreichen sind, herabgesetzt werden. IV. Der Anscheinsbeweis in anderen Fällen Wenn auch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ganz überwiegend Fragen der Kausalität und der Fahrlässigkeit im Rahmen von Haftungstatbeständen betreffen, so gibt es doch auch Urteile, in denen der Anscheinsbeweis in anderen Fällen angewendet worden ist. Der B GH hat beispielsbeise einen Anscheinsbeweis für das Bestehen einer selbstmörderischen Absicht448, für das Vorliegen einer Wettbewerbsabsicht449, für die Nachbildung eines Erzeugnisses nach dem Vorbild eines anderen450 und für Mängel an einer verkauften Sache im Zeitpunkt des Gefahrübergangs451 bejaht. 447
Die Rechtsprechung verlangt im Rahmen des Anscheinsbeweises der Kausalität ein deutliches Wahrscheinlichkeitsübergewicht. Vgl. z. B. BGH (10. 3. 54 — VI ZR 75/ 53) LM § 823 (J) BGB Nr. 3: Ein Unfall konnte sowohl auf Glatteis als auch auf Schneeglätte zurückgeführt werden; nur zur Beseitigung von Glatteis war der Beklagte verpflichtet. Der BGH lehnte einen Anscheinsbeweis ab, da beide Möglichkeiten der Schadensverursachung annähernd gleich wahrscheinlich wären. Vgl. ferner BGH (25. 11. 58 — VI ZR 226/57) VersR 1959, S. 365; BGH (11. 4. 61 — VI ZR 135/60) VersR 1961, S. 725; BGH (23. 4. 64 — VII ZR 154/62) VersR 1964, S. 1063,1065. Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 15, ist der Auffassung, daß die beim Anscheinsbeweis zu fordernde Wahrscheinlichkeit „erheblich höher als 50%" sein müßte, genauere Zahlenangaben aber schon deshalb nicht sinnvoll wären, weil im allgemeinen der Wahrscheinlichkeitsgrad nicht exakt gemessen werden könnte. Verminderte Wahrscheinlichkeitsanforderungen beim Anscheinsbeweis bejahen auch Locher, S. 255; Schönke, ZAkDR 1939, S. 193; Schneider, Beweis, S. 68; Prölss, S. 28; Lauwartz, S. 27; Rabel, RheinZ 12, S. 433f.; Levis, JW 1932, S. 107 (Rabel und Levis ziehen aber daraus die Folgerung, daß es sich beim Anscheinsbeweis um eine Beweislastregelung handele); vgl. auch oben S. 127. 448 BGH (10. 1. 55 — II ZR 151/53) VersR 1955, S. 99 (es handelt sich um die Frage, ob die tödliche Verletzung durch ein Bolzenschußgerät auf einen Arbeitsunfall oder auf einen Selbstmord zurückzuführen ist); zustimmend Fleck, VersR 1956, S. 330; ablehnend Henke, JR 1961, S. 51, der diesen Fall als „vollen Indizienbeweis" wertet, vgl. auch Kollhosser, S. 71 ff., Hagel, VersR 1973, S. 799. 449 BGH (26. 2. 60 — I ZR 166/58) GRUR 1960, S. 384, 386; ähnlich schon BGHZ 3, 270, 277 (26. 10. 51 — I ZR 8/51); vgl. auch Henke, aaO, der hierzu ebenfalls die Meinung vertritt, es handele sich um Indizienbeweise. 450 BGH (4. 7. 61 — I ZR 102/59) GRUR 1961, S. 640, 643 (mit weiteren Nachweisen). 451 BGH (16. 5. 55 — II ZR 61/54), zitiert von Fleck, VersR 1956, S. 322 (unter 5.).
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Nur wegen nicht ausreichender Wahrscheinlichkeit des in Betracht kommenden Erfahrungssatzes hat der BGH einen Anscheinsbeweis dafür verneint, daß Frauenschmuck in einer normalen Ehe ausschließlich zum persönlichen Gebrauch der Ehefrau bestimmt ist452, und dafür, daß ein Anspruch gegen das Reich im März 1945 nicht mehr befriedigt worden ist453. Die viel erörterte Entscheidung des BGH, daß aus der Absendung eines Einschreibbriefes nicht auf seinen Zugang geschlossen werden könnte454, läßt sich allenfalls mit materiellrechtlichen Erwägungen rechtfertigen455. Denn daß ein Erfahrungssatz, der sich darauf stützen kann, daß von einer Million Einschreibsendungen nur 50,7 verloren gehen (so die Statistik für das Jahr 1955), nicht ausreichend wahrscheinlich ist, kann wohl nicht behauptet werden45*. Hinter dieser Entscheidung des BGH steht unausgesprochen die materiellrechtlich zu wertende Forderung, daß bei Übermittlung von zugangsbedürftigen Willenserklärungen durch die Post nicht die Form des Einschreibbriefes, sondern eine andere Form, die den Beweis besser sichert (z. B. die Übersendung mit Rückschein oder Zustellungsurkunde), gewählt werden soll.
Daß der Anscheinsbeweis andererseits dann nicht geführt werden kann, „wenn es sich um die Feststellung des individuellen Willensentschlusses eines Menschen handelt, der erfahrungsgemäß von jedem Menschen nach verschiedenen, ihm besonders eigenen Gesichtspunkten gefaßt wird"457, ist selbstverständlich. Denn es fehlt dann an einem Erfahrungssatz, mit dessen Hilfe Hypothesen aufgestellt werden können, für deren Richtigkeit eine bestimmte Wahrscheinlichkeit spricht. Für eine Verallgemeinerung dargestalt, daß der Anscheinsbeweis niemals zur Bestimmung von Willensentschlüssen in Betracht kommt458, bietet dagegen die zitierte Entscheidung keine Grundlage459. Vielmehr kommt es auch hier darauf an, ob ein Tatbestand festgestellt wird, bei dem ein Erfahrungssatz irgendwelche Schlußfolgerungen auf rechtserhebliche Tatsachen mit der erforderlichen 452
BGHZ 2, 82, 85 (7. 5. 51 — IV ZR 69/50). BGHZ 15, 373, 378 f. (8. 12. 54 — II ZR 162/53). 454 BGHZ 24, 308 (27. 5. 57 — II ZR 132/56). 455 So auch Bruns, S. 286 N. 80. 456 Gleicher Auffassung auch Kollhosser, AcP 165, S. 69 N. 71. Dagegen spricht für den Zugang eines abgesandten Briefes nicht eine gleich hohe Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu OLG Köln — 19. 3. 71 — ZW 9/71 — DGVZ 1971, S. 153. 453
457
BGH (25. 3. 53 — II ZR 146/52) LM § 286 (C) Nr. 11.
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Auch bei einem Anscheinsbeweis der Kausalität kann der Inhalt eines Willensentschlusses bedeutsam werden, so beispielsweise, wenn es um die Frage geht, ob eine Täuschungshandlung eine bestimmte Willensbildung des Getäuschten zur Folge hat. Der BGH (12. 11. 57 — VIII ZR 311/56) NJW 1958, S. 177, hat zur Klärung dieser Frage einen Anscheinsbeweis zugelassen und dabei ausdrücklich betont, daß die Entscheidung vom 25. 3. 1953 (oben N. 457) nicht entgegenstehe, weil es sich dort um einen höchst persönlichen Entschluß gehandelt habe, für den ein typischer Geschehensablauf nicht anzunehmen sei, weil jeder Mensch dabei anders handele; vgl. auch BGH (20.9. 68 — V ZR 137/65) NJW 1968, S. 2139. 459 E. Schneider, MDR, 1971, S. 537; Lent-Jauernig, S. 167; Fleck, VersR 1956, S. 330; Hagel, VersR 1973, S. 799; a. A. Henke, JR 1961, S. 49; ähnlich auch Kollhosser, S. 74; Lepa, DRiZ 1966, S. 114. 9
Musielak, Beweisest
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Wahrscheinlichkeit zuläßt460. Da es keinen Bereich gibt, in dem diese Voraussetzung von vornherein als unmöglich auszuschließen ist461, kann der Anscheinsbeweis auch nicht auf bestimmte Gebiete beschränkt werden. Wenn sich die Entscheidungen zum Anscheinsbeweis in der Mehrzahl auf gleiche Fragen beziehen, dann liegt die Erklärung einfach darin, daß manche Lebenssachverhalte zur Bildung von ErfahrungsSätzen besonders gut geeignet sind. V. Die wichtigsten Ergebnisse Als wichtigste Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung sind festzuhalten: Der herrschenden Meinung462 ist darin zuzustimmen, daß es sich bei dem Anscheinsbeweis um einen Vorgang der Beweiswürdigung handelt. Mit der „Beweislast" hat der Anscheinsbeweis nur insoweit zu tun, als durch ihn für den Gegner der durch den Anscheinsbeweis begünstigten Partei die Notwendigkeit begründet wird, zur Vermeidung von Nachteilen im Rechtsstreit Gegenbeweise zu erbringen; das bedeutet, daß der Anscheinsbeweis die Beweisführungslast beeinflußt463. Grundlage jedes Anscheinsbeweises ist ein Erfahrungssat^. Eine klare Abgrenzung zu anderen Beweisen, insbesondere zu Indizienbeweisen, bei denen ebenfalls Erfahrungssätze ständig angewendet werden, läßt sich nur dadurch erreichen, daß der Anscheinsbeweis auf Fälle beschränkt wird, in denen zur Beurteilung und abschließenden Würdigung des Sachverhalts nur ein einziger Erfahrungssatz verwendet wird. Sachverhalte dieser Art, auf die der rechtssprichwörtliche Satz „res ipsa loquitur" in seinem eigentlichen Sinn464 zutrifft, kommen vornehmlich beim Anscheinsbeweis der 480
Der Oberste Gerichtshof der Britischen Besatzungszone hat einen Anscheinsbeweis dafür zugelassen, daß ein Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Hingabe und der Einsetzung als Alleinerbe zu bejahen ist (OGHZ l, 249, 251 — 15. 10. 48 — I ZS 37/48); zustimmend Blomeyer, Gutachten, S. 38f.; Blomeyer, aaO, S. 39ff., wertet auch die „tatsächliche Vermutung", die das Bundesverwaltungsgericht dafür aufgestellt hat, daß im Dritten Reich politische Motive für die Beförderung von Personen maßgebend waren, deren Ernennung wegen enger Bindungen an den Nationalsozialismus vorgenommen wurde, als einen Anscheinsbeweis (ebenso Weyreuther, DRiZ 1957, S. 59f., der jedoch den Anscheinsbeweis für das Verwaltungsstreitverfahren ablehnt). Vgl. dazu auch Tietgen, Gutachten, S. 56f., 63ff.; Ule, S. 203. Weitere Fälle des Anscheinsbeweises außerhalb von haftungsbegründender Kausalität und Schuld in der Rechtssprechung bei Stein-Jonas-Schuhmann-Leipold, § 282, Anm. IV 7 a, BB (S. 1158f.). 461 Vgl. Döring, Erforschung, S. 358f.; E. Schneider, Beweis, S. 66, MDR 1971, S. 538; Leverenz, S. 38ff. 462 Vgl. oben N. 163. 463 Vgl. dazu oben S. 98. 464 Auf die Res-ipsa-loquitur-Regel des englisch-amerikanischen Rechts (vgl. dazu Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 13; Hainmüller, S. 3 N. 14; Eisner, ZZP 80, S. 88f.; Stock, S. 94ff.) soll damit nicht Bezug genommen werden.
§ 6 Der Anscheinsbeweis
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Schuld vor. Die Rechtsprechung hat aber den Anscheinsbeweis ausgedehnt und auch auf „individuelle" Fälle angewendet, in denen neben dem Erfahrungssatz, der zur Hauptsache die Entscheidung trägt, auch noch andere — teils unterstützende, teils widersprechende — Erfahrungssätze bedeutsam werden; in diesen Fällen, die Kausalitätsfragen betreffen, hat sich der BGH jweils für die wahrscheinlichste von allen in Betracht kommenden Alternativen entschieden und auf diese Weise dem Begriff des typischen Geschehensablaufes einen relativen auf den Einzelfall bezogenen Inhalt gegeben465. Man kann deshalb — einem Vorschlag von Kegel486 folgend — hier von einem Individualanscheinsbeweis sprechen. Durch Berücksichtigung anderer Erfahrungssätze neben dem die Entscheidung in der Hauptsache tragenden beim Individualanscheinsbeweis wird eine Abgrenzung zum Indizienbeweis wesentlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Da sich aber Anscheins- und Indizienbeweis in Wesen und Inhalt nicht bedeutsam voneinander unterscheiden, kann auf eine genaue Trennung verzichtet werden. Die enge Verwandtschaft zwischen beiden dürfte auch die Erklärung dafür sein, daß sich in den Rechten verschiedener anderer europäischer Staaten ein besonderer Begriff des Anscheinsbeweises nicht gebildet hat oder zumindest nicht die Rolle wie der deutschen Rechtsprechung spielt467. Der Bundesgerichtshof hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis der Kausalität die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit, die zur Feststellung von streitigen Tatsachen notwendig ist, vermindert und folgt damit einer Tendenz, die bereits bei der von ihm befürworteten ausdehnenden Anwendung des § 287 ZPO auf die haftungsausfüllende Kausalität beobachtet werden kann und die daraufgerichtet ist, im Rahmen von Schadensersatzprozessen unbillige Beweislastentscheidungen zum Nachteil des Geschädigten zu vermeiden. Dieser Rechtsprechung ist zuzustimmen. Allerdings sollte bei ähnlicher Interessenlage auch außerhalb des Anscheinsbeweises der Kausalität und des § 287 ZPO468 gleich entschieden werden489. i Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 329 ff., der dies anhand der Luesfälle und des Nichtschwimmerfalles nachgewiesen hat; s. auch oben S. 104f. 466 AaO, S. 328, 343. 467 Zum französischen Recht vgl. Garnon, 46. DJT, Sitzungsberichte, S. E 54; zum belgischen Recht vgl. Trousse, Karlsruher Forum 1966, S. 43; zum niederländischen Recht vgl. Haardt, 46. DJT, S. E. 59; zum schwedischen Recht vgl. Bolding, Sachaufklärung, S. 60. 468 Die Fragwürdigkeit dieser vom BGH selbst nicht immer eingehaltenen (vgl. oben N. 415) Unterscheidung zwischen der Anwendung des § 286 und des § 287 ZPO wird eingehend von Prölss, S. 54ff., ZZP82, S. 470f., beleuchtet, allerdings mit der entgegengesetzten Tendenz, an den Beweis der Kausalität durchweg strengere Anforderungen zu stellen. 469 Gleicher Auffassung Kegel, Individualanscheinsbeweis, S. 334, 337, 343 f.; Bruns, S. 276, 280. Soweit nicht besondere Gründe eingreifen, soll überwiegende Wahrscheinlichkeit durchweg genügen. Für eine Verminderung der Wahrscheinlichkeitsanforderungen beim Beweis treten auch ein: Grunsky, S. 371; Esser (vgl. oben N. 380). und Kummer (vgl. oben N. 439).
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Die Frage, ob die Rechtsprechung nicht bereits häufig in dieser Weise verfährt, läßt sich nicht beantworten, weil regelmäßig in den Entscheidungen keine Ausführungen über den Grad der Wahrscheinlichkeit enthalten sind, der für den Beweis erforderlich sein soll, sondern nur auf das Ergebnis der Beweis- und Verhandlungswürdigung gesehen wird470.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast" In bestimmten Fällen, so beispielsweise bei einer schuldhaften Vereitelung von Beweisen durch den Gegner der beweisführungsbelasteten Partei oder bei groben Behandlungsfehlern eines Arztes soll sich nach Auffassung vieler471 „die Beweislast umkehren". Gedacht wird dabei nicht an die Beweisführungslast472, sondern — wie den entsprechenden Ausführungen zu entnehmen ist — ganz überwiegend an die Feststellungslast, die auf den Gegner übergehen soll. Aber nicht nur Veränderungen der Feststellungslast, die sich aufgrund bestimmter im Einzelfall zu erfüllender Voraussetzungen ergeben, sondern auch allgemein geltende Abweichungen von der Grundregel, die von der herrschenden Lehre für die Verteilung der Feststellungslast gebildet worden ist473, werden als „Beweislastumkehr" bezeichnet. So wird z. B. von einer „Beweislastumkehr" gesprochen, wenn man die Auffassung vertritt, daß die Feststellungslast für die Verschuldensfrage bei der positiven Forderungsverletzung von der in Anspruch genommenen Partei getragen werden müßte. Bei der recht bildhaften Wendung „Umkehr der Beweislast", die auch von denen gebraucht wird, die eine Unterscheidung zwischen Beweislastnorm und Feststellungslast befürworten, zeigt sich erneut, daß die Trennung zwischen beiden nicht konsequent und endgültig vollzogen wird. Beweislastnormen können durch spezielle Regelungen ersetzt oder verdrängt werden, und als Folge davon kann sich auch die Feststellungslast verändern, das Primäre und Wesentliche bleibt aber immer der Inhalt der anzuwendenden Beweislastnorm, als deren bloße Reflexwirkung die Feststellungslast erscheint474, und deshalb verdienen auch die Beweislastnormen und nicht 470
Bruns, S. 280, meint, die Rechtsprechung lasse bereits in vielen Fällen unbemerkt überwiegende Wahrscheinlichkeit zur Tatsachenermittlung ausreichen; im gleichen Sinn auch Grunsky, S. 371; Bydlinski, Schadensverursachung, S. 82; vgl. auch oben S. 127. 471 Ob sich in beiden Fällen „die Beweislast umkehrt" und welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssen, wird unterschiedlich beurteilt. Vgl. dazu unten S. 133ff. 472 Von einer „umgekehrten Beweislast" wird aber — in einem anderen Zusammenhang — auch gesprochen, wenn es sich eindeutig um die Beweisführungslast handelt, wie z. B. in dem von Goldschmidt, Prozeß, S. 363 N. 1853a, erwähnten Fall, daß eine Beweisurkunde den Gegner zum Gegenbeweis nötigt (vorausgesetzt, daß die Urkunde von der feststellungsbelasteten Partei vorgelegt wird). 473 Vgl. dazu unten S. 288 N. 49. 474 Vgl. oben S. 33 ff.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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die sich daraus ergebenden Folgen für die Parteien in erster Linie Beachtung. Ablehnend gegenüber der Bezeichnung „Beweislastumkehr" äußert sich auch E. Schneider475. Die Stellungnahme von Schneider zu dieser Frage bietet wiederum ein anschauliches Beispiel für die Unmöglichkeit, die Diskussion mit einem einheitlichen Beweislastbegriff zu führen. Schneider meint in diesem Zusammenhang mit „Beweislast" die Beweislastnormen, dies ergeben seine übrigen Ausführungen. Die von ihm zitierten und abgelehnten Meinungsäußerungen anderer Autoren betreffen dagegen weitgehend die Wirkungen, die sich für die Parteien aus den Beweislastnormen ergeben, also Feststellungs- und Beweisführungslast, allerdings ebenfalls „Beweislast "genannt. Je nachdem von welcher „Beweislast" man ausgeht, ist das von Schneider476 gefällte Verdikt („an diesen Ausführungen stimmt nichts") zutreffend oder kehrt sich gegen seine eigenen Bemerkungen.
I. Die Beweisvereitelung Wenn der Gegner der beweisführungsbelasteten Partei durch schuldhaftes477 Verhalten den zu führenden Beweis unmöglich macht, soll diese Unmöglichkeit zu seinen Lasten gehen, so z. B. wenn er die nur ihm bekannte Anschrift eines Zeugen verheimlicht478, wenn er es ablehnt, dem Gericht oder einem Sachverständigen das Betreten seines Grundstücks zu gestatten479, wenn er seine Bank nicht von der Verschwiegenheitspflicht entbindet480 oder wenn er die ihm zumutbare Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen verweigert481. Weshalb der Fall einer Erschwerung der Beweisführung gleich behandelt werden soll, wie häufig behauptet wird482, ist nicht recht einzusehen. Von einer Erschwerung kann nur gesprochen werden, wenn der Beweis trotz der Schwierigkeiten erbracht werden kann, sonst ist der Beweis unmöglich. Man wird von der Partei, die den Beweis zu erbringen hat, erwarten können, daß sie dies auch tut, wenn dafür Anstrengungen erforderlich sind. Eine ganz andere Frage ist es dagegen, ob der Richter wegen des Verhaltens des Gegners von der Wahrheit der streitigen Tatsache überzeugt ist, deren Beweis erschwert wird. 475
DRiZ 1966, S. 281 f. AaO, S. 282. 477 Nach überwiegender Auffassung soll jeder Grad von Fahrlässigkeit genügen. A. A. Hellwig, System, S. 460, und Riezler, Iherjb. 89, S. 239, die Arglist verlangen; ähnlich Goldschmidt, ZPR, S. 154 (unter 2). Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 6. 11. 1962 (VI ZR 29/62) NJW 1963, S. 389, 390, erwähnt, daß im Rahmen der freien Beweiswürdigung, Schlüsse zum Nachteil der Partei zu ziehen seien, die arglistig die Benutzung von Beweismitteln vereitele. Allerdings hat der BGH wiederum in anderen Entscheidungen einfache Fahrlässigkeit als ausreichend angesehen. 478 BGH (12. 1. 60 — VI ZR 220/58) NJW 1960, S. 821. 479 OLG Koblenz (5. 12. 67 — 4 W 476/67) NJW 1968, S. 897. 480 BGH (20. 6. 67 — VI ZR 201/65) NJW 1967, 2012. 481 BGH (23. 9. 58 — VI ZR 233/57) VersR 1958, S. 785f. 482 Vgl. RGZ 87, 434, 440 (7. 1. 16 — II 386/15); BGH (6. 11. 62 — VI ZR 29/62) NJW 1963, S. 389; E. Peters, ZZP 82, S. 217, mit weiteren Nachweisen. 478
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Aber nicht nur während eines Rechtsstreites, sondern auch schon vor seinem Beginn können, durch das Verschulden des späteren Prozeßgegners wichtige Beweismittel verloren gehen, so daß ein bestimmter Beweis nicht mehr erbracht werden kann. Ein „leading case" dieser Art ist der vom Bundesgerichtshof entschiedene Tupferfall*^. In einem Schadensersatzprozeß gegen einen Arzt kam es für die Verschuldensfrage auf die Beschaffenheit und Größe eines Tupfers an, den der Arzt in der Operationswunde zurückgelassen hatte. Bei der erforderlichen Nachoperation hatte der Arzt den Tupfer entfernt, ihn aber nicht aufbewahrt. Der BGH führt dazu aus: „Der Beklagte mußte, als er das Tupferstück bei der zweiten Operation fand und entfernte, damit rechnen, daß der Kläger ihn wegen des Zurückbleibens des Tupfers in Anspruch nehmen würde, und konnte auch erkennen, daß bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung der Parteien Art und Größe des Tupfers eine Rolle spielen würden. Er hätte dafür sorgen müssen, daß der herausoperierte Tupfer nicht verlorenging oder doch wenigstens Art, Größe und Beschaffenheit des Tupfers genau festlegen müssen. Das hat er unterlassen. Eine durch diese schuldhafte Unterlassung etwa verursachte Unaufklärbarkeit kann daher nicht dem Kläger zum Nachteil gereichen, sondern sie muß sich zu Ungunsten des Beklagten auswirken"484.
Aufweiche Weise der vom Gegner schuldhaft herbeigeführten Beweisnot einer Partei begegnet werden kann und welche Rechtfertigung dafür zu finden ist, wird unterschiedlich beurteilt. Die Rechtsprechung^ schwankt zwischen der Annahme einer „Beweislastumkehr"486 und einer Entschei483
BGH (16. 4. 55 — VI ZR 72/54) VersR 1955, S. 344. Weitere Fälle dieser Art sind die Vernichtung eines Testaments, durch das die Einhaltung der erforderlichen Form hätte geklärt werden können (OGHZ l, 268 — 5. 1. 48 — I ZS 88/48), die Nichtaufbewahrung eines Telegramms, daß zur Feststellung des genauen Zeitpunkts einer Vertragsannahme gedient hätte (RGZ 105, 255, 258 f. — 12. 7. 22 — 674/21), die Beseitigung eines Holzmastes, mit dessen Hilfe die Frage der fahrlässigen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht beantwortet worden wäre (BGH — 22. 4. 58 — VI ZR 86/57 — VersR 1958, S. 762), und der vom Fahrzeughersteller verschuldete Verlust ausgebauter Teile eines Unfallwagens, deren bestrittene Fehlerhaftigkeit einen Schadensersatzanspruch gegen den Herteller begründet hätte (BGH — 28. 9. 1970 — VIII ZR 116/68 — JZ 1971, S. 29, 30). Vgl. auch die weiteren Nachweise bei E. Peters, ZZP 82, S. 202f. 485 Eine eingehende Darstellung der Rechtsprechung des RG und des BGH gibt Gerhardt, AcP 169, S. 293 f. 48e RGZ 60, 147, 152 (13. 2. 05 — VI 226/04); RGZ 87, 434, 440 (vgl. oben N. 482); OGHZ l, 268, 270f. (oben N. 484) BGHZ 3, 162, 176 (27. 9. 51 — IV ZR 155/50); BGHZ 6, 224, 226 f. (11. 6. 52 — II ZR 277/51); BGH (14. 6. 51 — IV ZR 37/50) NJW 1951, S. 643; BGH (10. 4. 58 — VI ZR 186/57) LM § 287 ZPO Nr. 15; BGH (8. 12. 71 — IV ZR 81/70) NJW 1972, S. 1131f. (ohne jede Auseinandersetzung mit der eine andere Auffassung vertretenen Rechtsprechung; vgl. die folgende N.); BGH (25. 10. 73 — VII ZR 181/72) VersR 1974, S. 261, 263 (Verletzung eines Architektenvertrages durch Unterlassen einer Plan-Erstellung und dadurch zugleich Verursachung eines Beweisnotstandes, da wegen fehlender Unterlagen Planungsfehler nicht mehr feststellbar sind); OLG Hamburg (27.11. 67 — 8 U 90/67) MDR 1968, S. 332. 484
§7 Die,,Umkehr der Beweislast"
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dung dieser Fälle im Rahmen der Beweis- und VerhandlungsWürdigung487; eine Reihe von Entscheidungen enthalten unklare und einander widersprechende Ausführungen, denen nicht mit Sicherheit entnommen werden kann, ob an eine Veränderung der Feststellungslast oder eine entsprechende Beweiswürdigung mit einer damit verbundenen Umkehr der Beweisführungslast gedacht wird. So meint das OLG Frankfurt/M.488, daß der beweisführungsbelasteten Partei die Einrede der prozessualen Arglist zustehe, wenn sich der Gegner auf die von ihm verschuldete Mangelhaftigkeit des Beweises berufe, spricht aber gleichzeitig davon, daß sich die Beweislast in solchen Fällen „umgekehrt" habe. Ein weiterer Anlaß zu Zweifeln ergibt sich daraus, daß die eigene Ansicht, mit Zitaten von Gerichtsentscheidungen gestützt wird, die gerade eine entgegengesetzte Meinung vertreten. Auch E. Schneider489 weist auf solche Widersprüche hin. Seiner Ansicht, daß die Gerichte mehr auf das Ergebnis als auf die Begründung sehen, ist zuzustimmen.
Im Schrifttum zeigt sich das gleiche bunte Bild der Meinungen. Überwiegend wird empfohlen, ein beweisvereitelndes Verhalten frei zu würdigen und daraus die dem Einzelfall angemessenen Folgerungen zu ziehen490. Aber auch die Auffassung der „Beweislastumkehr" findet Befürworter491, während eine Lösung außerhalb von Beweislastregelung und freier Beweiswürdigung nur vereinzelt gesucht wird492. 487
RGZ 63, 410 (21. 6. 06 — VI 97/06); RGZ 101, 197 (3. 1. 21 — IV 469/20); RGZ 128, 121, 125 (28, 3. 30 — 236/29), mit der überraschenden Bemerkung, es entspreche der ständigen Rechtsprechung, „daß der Richter befugt ist, ... Folgerungen für die Beweiswürdigung Zu Ungunsten desjenigen Teiles zu ziehen, der die Unaufklärbarkeit schuldhaft herbeigeführt hat". RG (1. 4. 38 — I 188/37) ZZP 61, S. 376; BGH, VersR 1958, S. 762f. (vgl. oben N. 484); BGH (12. 5. 64 — VI ZR 48/63) VersR 1964, S. 945f.; BGH, NJW 1960, S. 821 (oben N. 478); BGH, NJW 1963, S. 389f. (oben N. 482); BGH, NJW 1967, S. 2012 (oben N. 480): OLG Koblenz, NJW 1968, S. 897 (oben N. 479). Gegen eine „Umkehr der Beweislast" in diesen Fällen auch BVerwGE 10, 270, 271f. (26. 4. 60 — C 68.58); BVerwG (25. 3. 64 — VIC 150. 62) DVB1. 1964, S. 759, 761; BSG 24, 27f. (oben N. 376). 488 6. 9. 34 — 3 U 139/34, JW 1934, S. 3299f. 488 MDR 1969, S. 4. 490 Rosenberg, Beweislast, S. 191; Leonhard, S. 186ff.; Baumgärtel, ZZP 69, S. 106; E. Peters, ZZP 82, S. 214ff.,221; Baumbach-Lauterbach, §282, Anh. 3D, Übersicht vor § 371, Anm. 3 B, § 444, Anm. 2; Bernhardt, S. 239; Grunsky, S. 373; Stein-Jonas-SchönkePohle, § 282, Anm. IV 7b, § 372a, Anm. VII; Görres, ZZP 34, S. 86ff.; Lent-Jauernig, S. 171,179f.; Zöller-Stephan, § 282, Anm. V 4, § 286, Anm. IV l; Thomas-Putzo, § 286, Anm. 5, § 371, Vorbem. 2c; Gaupp, S. 56f.; Theuerkauff, MDR 1962, S. 449; 451; Hainmüller, S. 180 N. 129 (b); Lepa, S. 36f.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1063. 491 Blomeyer, AcP 158, S. 97ff., ZPR S. 369ff., Gutachten, S. 11 f.; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV 7b (S. 1159Q; Rosenberg-Schwab, § 118 6 a (S. 614); Prölss, S. 93; Schönke, ZAkDR 1939, S. 193; Hellwig, System, S. 460, 476; Riezler, Iherjb. 89, S. 239; Gautschi, S. 95ff. Ob allerdings alle Autoren eine „Umkehr" der Feststellungslast meinen, ist nicht sicher. So ergeben beispielsweise die weiteren Ausführungen von Schönke, aaO, S. 194, daß er offensichtlich an die Beweisführungslast denkt, wenn er von der „Beweislastumkehr" spricht. 492 So von E. Schneider, MDR 1969, S. 4, 8 ff. (vgl. dazu unten N. 531).
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Die „Beweislastumkehr" im Fall der Beweisevereitelung wird darauf gestützt, daß der Gegner der beweisführungsbelasteten Partei durch sein Verhalten gegen eine ihm obliegende Pflicht verstößt, Beweise zu erhalten oder zu ermöglichen. Diese Verpflichtung soll sich in Fällen, in denen keine gesetzliche Vorschrift493 oder vertragliche Vereinbarung494 besteht, aus der allgemeinen Mitwirkungspflicht der Parteien an der Stoffsammlung ergeben. Die Frage, ob eine solche allgemeine Mitwirkungspflicht der Parteien an der Stoffsammlung existiert, ist streitig495. Die Verletzung einer derartigen Pflicht durch ein beweisvereitelndes Verhalten läßt sich nur schwer in Fällen erklären, in denen der Beweis bereits vor Beginn des Prozesses unmöglich gemacht wurde. Die Begründung, die E. Peters496 insoweit gibt, vermag nicht zu überzeugen497. Die von ihm erwähnte Vorschrift des § 444 ZPO, bei der es nach herrschender Meinung unerheblich ist, ob vor oder nach Beginn des Prozesses die Urkunde beseitigt wurde498, kann nicht als Stütze dieser Auffassung dienen, weil es bei dieser Bestimmung auf die Entziehungsabsicht ankommt und eine solche Absicht in jedem Zeitpunkt gleich behandelt werden muß; Peters stellt es aber bei seiner Lösung gerade nicht auf die Absicht der Beweisvereitelung ab499.
Soll in Fällen der Beweisvereitelung eine Veränderung der Feststellungslast eintreten, dann müßte die sonst geltende Beweislastnorm durch eine entgegengesetzte Regelung ersetzt werden500. Im Tupferfall501 bedeutete dies beispielsweise, daß bei Zweifeln an der Verwirklichung des Tatbestandsmerkmales „fahrlässig" in § 823 Abs. l BGB nicht wie sonst die prozessuale Feststellung der Schuldlosigkeit, sondern das umgekehrte Ergebnis fingiert würde602. E. Schneider503 meint, daß sich die Unzulässigkeit einer „Beweislastumkehr" bereits daraus ergebe, daß es dem Richter nicht frei stehe, „gesetzliches Recht", 493
Z. B. §§ 259 Abs. l, 402, 716, 809 BGB, §§ 87 c, 166, 338 HGB, § 423 ZPO. Einige Autoren entnehmen den §§ 427, 444 ZPO einen allgemeinen Rechtsgedanken, den sie auf alle Fälle der Beweisvereitelung anwenden wollen, so Schönke ZAkDR 1939, S. 193 f. (Beweislastumkehr im Sinne der Beweisführungslast, vgl. oben N. 491); Ordemann, NJW 1962, S. 1903 (Beweiswürdigung); Nikisch, ZPR, S. 324 (Beweislastumkehr,anders aber S. 203); dagegen Blomeyer, AcP 158, S. 98; Prölss, S. 91; E. Peters, ZZP 82, S. 211 N. 86. 494 Bei einem Kauf auf Probe ergibt sich z. B. die vertragliche Nebenpflicht, die Probe aufzubewahren; vgl. E. Peters, ZZP 82, S. 206f.; Blomeyer, AcP 158, S. 100. 495 Sie wird u.a. bejaht von E. Peters, Ausforschungsbeweis, S. 108f., ZZP 82, S. 208ff.; F. von Hippel, S. 218ff., 282ff., 407; verneint u.a. von Baumgärtel, ZZP 69, S. 105 ff., 131; Wieczorek, § 371, Anm. CIII a (S. 884), § 423, Anm. A I (S. 1067), jeweils mit weiteren Nachweisen. 498 ZZP 82, S. 212. 497 Gegen diese Auffassung auch Gerhardt, AcP 169, S. 297. 498 Vgl. Zöller-Stephan, § 444 Anm. 1. 499 Vgl. auch Ordemann, NJW 1962, S. 1902f. 800 Zum Verhältnis der Feststellungslast zu den Beweislastnormen vgl. oben S. 33 ff. 501 Vgl. oben N. 483. 502 Vgl. oben S. 22f. 603 MDR 1969, S. 9.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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d.h. die Beweislastnormen, in das Gegenteil zu verkehren. Auf diesem Wege läßt sich jedoch die Frage der „Beweislastumkehr" nicht lösen. Denn es ist durchaus möglich, daß der Richter in Fällen der Beweisvereitelung speziellere Beweislastregeln anzuwenden hat, die durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind und durch die die anderen Beweislastnormen verdrängt werden. Allein wegen der widersprechenden Ausführungen in den einschlägigen Gerichtsentscheidungen kann ein entsprechendes Richterrecht nicht ausgeschlossen werden504; es kommt vielmehr darauf an, ob sich die „Auffassung" der Rechtsprechung in ihrer eigentlichen Substanz auf eine übereinstimmende Lösung zurückführen läßt505.
Das Eingreifen der neuen Beweislastregel müßte auf jeden Fall davon abhängig gemacht werden, daß gerade wegen der Beweisvereitelung die tatsächliche Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals506 nicht geklärt werden kann507. Würde die neue Beweislastregel unabhängig von dieser Voraussetzung gelten508, könnte dies — wie am Beispiel des Tupferfalles zu zeigen ist — zu grob unbilligen Ergebnissen führen. Gelänge es nämlich dem Beklagten, Tatsachen zu beweisen, aus denen sich eine Ausnahmesituation ergeben würde, in der auch ein gewissenhafter Arzt den Tupfer gleich welcher Beschaffenheit und Größe in der Wunde zurücklassen könnte, käme es für die Entscheidung des Rechtsstreites überhaupt nicht mehr auf das Aussehen des Tupfers an509. Dennoch würde der Arzt den Prozeß aufgrund der neuen Beweislastregel verlieren, wenn andere vom Kläger vorgetragene Tatsachen, die unabhängig vom Tupfer den Vorwurf der Fahrlässigkeit begründen könnten, ungeklärt blieben. Daß diese Ungewißheit nicht durch das Verhalten des Arztes verursacht wäre, bliebe unberücksichtigt, eine Konsequenz, die untragbar ist. Eine angemessene Reaktion auf eine Beweislastvereitelung könnte dagegen darin gefunden werden, die Behauptung, deren Beweis unmöglich gemacht worden ist, ähnlich der in § 444 ZPO getroffenen Regelung als richtig zu unterstellen^™. Dieses Ergebnis läßt sich jedoch nicht mit Hilfe von Beweis504
So aber E. Schneider, aaO, S. 8 (unten). Was im übrigen Schneider, aaO, S. 10, dann auch selbst tut — allerdings in eine andere Richtung. 506 Wenn überhaupt zu dieser Frage Stellung genommen wird, kann den Ausführungen nicht mit Sicherheit entnommen werden, ob die Unauf klärbarkeit der tatsächlichen Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmales als solche (im Beispielsfall die Verwirklichung des Merkmales der Fahrlässigkeit) oder ob die Unauf klärbarkeit der Behauptung der beweisführungsbelasteten Partei (im Beispielsfall Größe und Beschaffenheit des Tupfers) gemeint ist, deren Wahrheit durch den vereitelten Beweis nachgewiesen werden sollte (vgl. die oben S. 134 zitierten Ausführungen des BGH). 507 Daß diese Voraussetzung in dem Begriff der Beweisvereitelung eingeschlossen ist (so wohl Prölss, S. 93 N. 286), kann nicht zugegeben werden. Denn die Eigenschaft als Beweismittel wird nicht dadurch aufgehoben, daß in einem späteren Stadium des Rechtstreits bestimmte Tatsachen, die aufgrund dieses Beweismittels festgestellt werden sollten, nicht mehr für die Entscheidung erheblich sind. 508 So E. Peters, ZZP 82, S. 217, allerdings als Gegner dieser Auffassung. 509 Vgl. oben S. 91 (zu N. 216). 510 Vgl. Schönke-Kuchinke, S. 267. 505
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lastregeln erreichen. Abgesehen davon, daß sich Beweislastregeln immer nur unmittelbar auf die tatsächliche Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen beziehen, dagegen nicht die prozessuale Feststellung von Tatsachen fingieren, aus denen erst auf die Verwirklichung zu schließen ist511, kann die Theorie einer „Beweislastumkehr" überhaupt nicht in allen Fällen einer Beweislastvereitelung durchgeführt werden. Denn macht die feststellungsbelastete Partei ihrem Gegner den Gegenbeweis unmöglich, den dieser führen will, um die Feststellung bestimmter ihm ungünstiger Tatsachen zu verhindern512, dann gibt es für den vom Gegenbeweis umfaßten Sachverhalt überhaupt keine Beweislastnormen, die durch andere entgegengesetzte verdrängt werden können613, und auch die Feststellungslast kann dann nicht „umgekehrt" werden, weil diese bereits die Partei trägt, die den Beweis vereitelt hat514. Zumindest in diesen Fällen kann es nur eine Lösung im Rahmen der Tatsachenwürdigung geben. Da sich aber kaum überzeugende Gründe dafür finden lassen, verschiedenartige Folgerungen aus einer Beweisvereitelung zu ziehen, je nachdem ob die feststellungsbelastete Partei oder ihr Gegner betroffen ist, ist durchweg in der gleichen Weise zu verfahren. Das Unvermögen der „Beweislasttheorie", jede Beweisvereitelung nach gleichen Grundsätzen zu behandeln, muß zu ihrer Ablehnung führen616. Mit dieser Ablehnung ist aber noch nicht darüber entschieden, ob die Würdigung eines beweisvereitelnden Verhaltens in die freie Entscheidung des Richters zu stellen ist. Es ist durchaus denkbar, verbindlich vorzuschreiben, daß solche Behauptungen als wahr anzusehen sind, die aus Gründen, die der Gegner verschuldet hat, nicht mehr bewiesen werden können; bei einer solchen Anordnung würde es sich um eine Beweisregel handeln, die nur im Bereich der Tatsachenwürdigung wirksam wäre516. Manches spricht dafür, daß wenigstens einzelne Vertreter der „Beweislastheorie" im Grunde eine solche Bindung richterlichen Ermessens wünschen und daß sie dieses Ergebnis nur über den Umweg der Beweislastnormen und der Feststellungslast zu erreichen suchen517. 511
Zur Funktion und zum Inhalt der Beweislastnormen vgl. oben S. 19ff.; zu den Gründen, die gegen eine Feststellungslast für Indizien sprechen, vgl. oben S. 43 f. 512 Vgl. oben S. 46 f. 613 Die Beweislastnormen sollen die Entscheidung beim ungeklärten Tatbestand des anzuwendenden Rechtssatzes ermöglichen (vgl. oben S. 19ff.), der Gegenbeweis bezweckt aber gerade — sofern es ihm nicht gelingt, den Richter vom Gegenteil zu überzeugen — wieder Zweifel zu erwecken, nachdem der Richter bereits die zur Anwendung des Rechtssatzes erforderlichen Feststellungen getroffen hat oder zumindest der Meinung ist, dies getan zu haben (vgl. oben S. 41 f.). 514 Vgl. oben S. 33 ff. 515 Ein weiterer Grund ist die Starrheit ihrer Regeln, die eine Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles unmöglich machen; vgl. E. Peters, ZZP 82, S. 219; Gerhardt, AcP 169, S. 315. 516 Zum Unterschied zwischen Beweislastnorm und Beweisregel vgl. oben S. 64 f. 617 Vgl. E. Schneider, MDR 1969, S. 8 f.
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Aber auch die Beweisregel kann ebensowenig wie die Beweislastregel als ein geeignetes Mittel in Fällen der Beweisvereitelung akzeptiert werden. Sie widerspricht allgemeinen und speziellen Grundsätzen der ZPO, die in diesem Zusammenhang beachtet werden müssen. Auf die prinzipiellen Bedenken, die sich gegen jede Bindung der richterlichen Überzeugung durch Beweisregeln aus der Zivilprozeßordnung ergeben, war bereits an anderer Stelle518 hingewiesen worden. In dem speziellen Fall der Beweisvereitelung ist darüber hinaus den Vorschriften der §§ 427, 441 Abs. 3, 444 ZPO zu entnehmen, daß der Gesetzgeber gerade hierbei keine generelle Regelung wollte519, sondern als beste Lösung diefreie Entscheidung des Richters aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles angesehen hat520, und zwar selbst dann, wenn die Beseitigung von Beweismitteln wie bei § 444 ZPO in der Absicht geschehen ist, dem Gegner die Benutzung im Prozeß unmöglich zu machen. Diese Auffassung des Gesetzgebers läßt sich auch über den Urkundenbeweis hinaus mit guten Gründen untermauern. Die Vielfalt möglicher Tatbestände einer Beweis Vereitelung macht jede schematisierte Regelung problematisch. Man denke nur an den durchaus alltäglichen Fall, daß ein später als Beweismittel benötigter Gegenstand infolge einer möglicherweise nur geringfügigen Nachlässigkeit eines Angestellten verloren geht. Ob es wirklich gerecht ist, in einem folgenden Rechtsstreit den Gegner der beweisführungsbelasteten Partei wegen dieses Verlustes derart zu benachteiligen, daß er im Regelfall den Prozeß verliert521, dürfte sich zumindest nicht mit Verbindlichkeit für alle eintretenden Fälle entscheiden lassen. Eine „Typizität der Sachlage", von den E. Schneider622 spricht, ist in diesen Fällen nicht zu erkennen, wie die von Schneider523 gegebene Darstellung der von der Rechtsprechung entschiedenen Sachverhalte eindeutig zeigt. Das einzige „Typische" ist hierbei, daß ein Beweismittel, auf das es ankommt, nicht zur Verfügung steht und daß dafür die Ursache in der Sphäre (im weitesten Sinne dieses Begriffs) des Gegners der beweisführungsbelasteten Partei liegt. Diese überall wiederkehrende Erscheinung reicht aber für eine einheitliche Entscheidung keinesfalls aus. Vielmehr sind die Gründe wesentlich, die zum Verlust des Beweismittels in jedem einzelnen Fall geführt haben. Dies räumt Schneider524 an anderer Stelle selbst ein.
Die freie Beweis- und Verhandlungswürdigung gibt die Möglichkeit, Nuancen und Besonderheiten des zur Entscheidung gestellten Sachverhalts zu berücksichtigen und darauf angemessen und elastisch zu reagieren525. 518
Vgl. oben S. 70 f. Auch der in §§ 446, 453 Abs. 2 ZPO für die Ausssage- und Eidesverweigerung einer Partei getroffenen Regelung liegt die gleiche Auffassung zugrunde. 520 Vgl. E. Schneider, MDR 1969, S. 8. 521 Vgl. Blomeyer, AcP 158, S. 101. 622 AaO, S. 7. 523 AaO, S. 6. 524 AaO, S. 9. 625 E. Peters, ZZP 82, S. 218 f. 519
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Ihr ist auch unbenommen, selbst in solchen Fällen negative Beschlüsse zu ziehen, in denen keine Pflicht zur Aufbewahrung von Beweismitteln bestanden hat526·627. Denn die Lebenserfahrung spricht dafür, daß unabhängig von einer Rechtspflicht zur Verwahrung solche Gegenstände sorgfältig aufgehoben werden, die in einem als möglich erkannten Prozeß zum eigenen Vorteil zu verwenden sind528. Wer gegenüber diesem Erfahrungssatz Tatsachen behauptet, die Anlaß zu einer abweichenden Beurteilung geben können, muß diese Tatsachen beweisen529. Es mag durchaus häufiger vorkommen, daß dieser Erfahrungssatz im Einzelfall nicht anwendbar ist, aber der Vorteil der freien Beweis- und Verhandlungswürdigung liegt gerade darin, daß dann nach einer anderen passenden Lösung gesucht werden kann, wobei das Prinzip von Treu und Glauben, das auch bei der Beweiswürdigung und insbesondere in Fällen der Beweisvereitelung zu beachten ist530, einen Maßstab für die Beurteilung des Parteiverhaltens bildet531. 826
A. A. wohl E. Peters, aaO, S. 205; wie hier Ordemann, NJW 1962, S. 1903. Der gleiche Gedanke liegt der vom BGH angestellten Erwägung zugrunde, der Beklagte sei zwar nicht verpflichtet, sich ärztlich untersuchen zu lassen, müsse aber die nachteiligen Folgerungen aus seiner Weigerung hinnehmen (BGH, VersR 1958, S. 785; s. oben N. 481; ähnlich BGH — 11. 7. 58 — VI ZR 198/57 — VersR 1958, S. 768; ablehnend gegenüber dieser Entscheidung Gerhardt, AcP 169, S. 309). 527 Damit soll keinesfalls gesagt werden, daß die Verletzung einer Rechtspflicht im Rahmen der Beweis- und Verhandlungswürdigung nicht durchaus bedeutsam sein kann. 528 Ähnlich Lepa, DRiZ 1966, S. 113. 529 Vgl. oben S. 96 f. 530 Vgl. Baumgärtel, ZZP 69, S. 90ff., AcP 169, S. 181f. (s. auch die folgende N.); Leonhard, S. 182ff., S. 186f. Den Grundsatz von Treu und Glauben wollen in diesen Fällen auch Riezler, Iherjb. 89, S. 239; Hellwig, System, S. 460, 476; Schönke, ZAkDR 1939, S. 193; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, § 282, Anm. IV 7 b (S. 1159), und Gerhardt, AcP 169, S. 304ff., allerdings mit unterschiedlichen Begründungen und Ergebnissen anwenden. 531 Baumgärtel, ZZP 69, S. 106: „Die Prüfung, ob der Gegner sich unredlich verhalten hat, ist ein Teil der Beweiswürdigung. Ist das Gericht der Überzeugung, daß der Gegner nach Treu und Glauben nicht berechtigt war, die Beweisnot des Beweisführers auszunutzen, so können aus seinem Verhalten für ihn ungünstige Schlüsse gezogen werden." Dieser Auffassung steht der auf den Rechtsgedanken der Unzulässigkeit eines venire contra factum proprium aufbauende Lösungsvorschlag von Gerhardt, AcP 169, S. 304ff., nahe. Gerhardt meint zwar, daß jede sanktionswürdige Beweisvereitelung gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen müsse, will aber die daraus zu ziehenden Folgerungen „im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles abstufen" (aaO, S. 315). Auch E. Schneider, MDR 1969, S. 4,10, schlägt vor, in Fällen der Beweisvereitelung auf das Verbot eines venire contra factum proprium zurückzugreifen, lehnt es jedoch ab, die Entscheidung in freier Verhandlungswürdigung treffen zu lassen (aaO, S. 9), offenbar weil er „Richtlinien, die den Würdigungsvorgang einigermaßen berechenbar machen" (aaO, S. 8), für erforderlich hält. Baur, S. 87f., will in diesen Fällen den Gedanken des venire contra factum proprium im Rahmen eines Anscheinsbeweises verwerten. Die Geltung eines allgemeinen Verbots widersprüchlichen Verhaltens im Zivilprozeß wird allerdings von Baumgärtel, ZZP 86, S. 363ff., bezweifelt.
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Der Ansicht, daß in diesen Fällen der Beweisvereitelung Erfahrungssätze angewendet werden können532, ist entgegengehalten worden, daß es keinen Erfahrungssatz gebe, nach dem Beweismittel nicht fahrlässig vernichtet würden533. Durch die hier vorgenommene Präzisierung dürfte wohl dieser Einwand widerlegt worden sein. Die sorgfältige Aufbewahrung von wichtigen Unterlagen — und die Prozeßgefahr, auf die es allerdings für den Erfahrungssatz ankommt, läßt den betreffenden Gegenstand zu einer wichtigen Unterlage werden — ist so sehr die Regel, daß die Ausnahme, nämlich die allzu „großzügige" Handhabung eigener Angelegenheiten unter Mißachtung möglicher Nachteile, so lange vom Richter nicht berücksichtigt zu werden braucht, bis diese Ausnahme ihm nachgewiesen worden ist534. Die von E. Peters535 angestellte Erwägung, es bestehe kein Erfahrungssatz des Inhalts, daß niemand absichtlich oder unabsichtlich Urkunden vernichte, wenn sie für ihn günstige Tatsachen enthielten, weil man nicht sämtliche Urkunden auf ewig zu sammeln pflege, ist sicher richtig, trifft aber nicht auf die hier angenommene Erfahrungsregel zu.
II. Ungleiche Aufklärungsmöglichkeiten der Parteien Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation, die im Prozeß bei der Vereitelung von Beweisen eintritt, weisen solche Fälle auf, in denen die feststellungsbelastete Partei tatsächliche Vorgänge aufklären soll, die sie nicht kennt und auch nicht von sich aus ermitteln kann, über die aber ihr Gegner aufgrund seiner besonderen „Nähe" zu jenen Ereignissen genau informiert ist. Auch in diesen Fällen stellt sich die Frage, ob sich wegen der Unmöglichkeit oder erheblichen Schwierigkeit, den Beweis %u erbringen, die Feststellungs- und Beweisführungslast ändern. Der Bundesgerichtshof \a& in dieser Frage die Auffassung vertreten, daß es aus den Gedanken von Treu und Glauben folge, „hinsichtlich derjenigen tatsächlichen Umstände, deren Aufklärung nach Lage der Sache vom Kläger billigerweise nicht erwartet werden kann, eine Darlegungs- und Beweispflicht des Beklagten anzunehmen"536, wenn dies zumutbar erschiene. In einer Entscheidung, in der es darum ging, ob der Beklagte ein bestimmtes Rezept besäße, auf das er sich bei der Werbung für seine Erzeugnisse berufen hatte, hat der BGH den Inhalt dieser „Darlegungs- und Beweispflicht" näher erläutert. Nachdem zunächst festgestellt wird, daß die „Darlegungspflicht" „nicht etwa... von dem Vorliegen besonderer eine ,Umkehrung der Beweislast' rechtfertigender Umstände abhängig sei," führt der BGH537 aus: „Unter diesem Gesichtspunkt (zu ergänzen: der eigenen Darlegungs532
So auch Rosenberg, Beweislast, S. 191; Ordemann, NJW 1962, S. 1903. So Prölss, S. 92f.; ähnlich Gerhardt, AcP 169, S. 298. 534 Vgl. dazu oben S. 96 f. 535 ZZP 82, S. 218. 536 BGH (13. 7. 62 — I ZR 43/61) NJW 1962, S. 2149, 2150; vgl. auch BGH, NJW 1961, S. 828 (oben S. 54 N. 353). 537 NJW 1962, S. 2150 (vorige N.). 533
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pflicht der Beklagten) hätte die bereits von der Beklagten gegebene — im BerUrt. unberücksichtigt gebliebene — Darstellung über die Herkunft des Rezeptes von einem angesehenen Fachberater der Spirituosenindustrie gewürdigt und ihr unter Umständen aufgegeben werden müssen, ihren Vortrag zu ergänzen und geeignete Beweise anzutreten. Diese Beweise hätten alsdann, vorausgesetzt, daß die Darstellung der Bekl. geeignet erschienen wäre, die Wahrheit ihrer Werbebehauptung schlüssig darzutun, erhoben werden müssen." Der Bundesgerichtshof beschränkt jedoch die Ausdehnung der „Darlegungspflicht" zu einer „Beweispflicht" offenbar auf solche Fälle, in denen der Beklagte über denZugang zu den erforderlichen Beweisen allein verfügt. Für diese Annahme spricht seine neue Rechtsprechung zu § 48 Abs. 2 EheG538. Die Feststellungslast dafür, daß der die Ehescheidung begehrende Ehegatte die Zerrüttung der Ehe ganz oder überwiegend verschuldet hat, trägt die der Scheidung widersprechende Partei; demzufolge wäre von ihr auch die Angabe und der Beweis der Zerrüttungsursachen zu erwarten. Da es sich aber bei der Preisgabe oder dem Verlust der ehelichen Gesinnung um einen inneren, psychologischen Vorgang handelt, den der andere Ehegatte im Regelfall nicht kennt539, vertritt der BGH die Auffassung, daß es von dem beklagten Ehegatten nicht gefordert werden könne, von sich aus die Umstände aufzudecken, die bei dem Kläger zum Verlust seiner ehelichen Gesinnung führten, die also die Ehe tiefgreifend und unheilbar zerrüttet haben540. Es wird vielmehr vom Kläger erwartet, daß er im einzelnen substantiiert darlegt, welche Gründe für seine negative Einstellung zu der Ehe maßgebend waren; dabei schließt nach Ansicht des BGH diese „Darlegungspflicht"541 ein, daß für die Richtigkeit der genannten Zerrüttungsursachen eine „gewisse Wahrscheinlichkeit" spricht542. Mit dieser Forderung nach einer „gewissen Wahrscheinlichkeit" für die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen soll verhindert werden, daß der Kläger völlig aus der Luft gegriffene Gründe nennt543. „Die hier zu fordernde gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, wenn der Richter aufgrund der Ergebnisse der Verhandlung und des daraus gewonnenen Bildes der Ehe zu der Auffassung gelangt ist, daß es sich so verhalten haben kann, wie es der ^38 Zur früheren Rechtsprechung vgl. Deubner, NJW 1969, S. 1646f. 639 BGH (10. 7. 68 — IV ZR 585/68) NJW 1968, S. 1825, 1826; BGH (4. 2. 70 — IV ZR 1039/68) NJW 1970, S. 896, 897. 540 BGH, NJW 1968, S. 1826 (vorige N.): „Dann würde von ihm oft Unmögliches verlangt". 541 BGH (4. 2. 70 — IV ZR 1027/68) NJW 1970, S. 805, 806; BGH (25. 2. 70 — IV ZR 753/68) NJW 1970, S. 1315, 1316. 542 BGH (12. 6. 68 — IV ZR 590/68) FamRZ 1968, S. 510; BGH (5. 7. 68 — IV ZR 659/68) FamRZ 1968, S. 592, 593; BGH, NJW 1968, S. 1826 (N. 539); BGH (17. 12. 69 — IV ZR 754/68) NJW 1970, S. 755f.; BGH, NJW 1970, S. 806 (vorige N.); BGH, NJW 1970, S. 897 (N. 539); BGH, NJW 1970, S. 1316 (vorige N.); BGH (28. 4. 71 — IV ZR 8/70) NJW 1971, S. 1406 (zu § 43 EheG). 543 BGH, NJW 1971, S. 1407 (vorige N.). Vgl. dazu auch unten S. 144.
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Kläger vorbringt"544. Zusätzliche Beweise für die Richtigkeit seiner Sachdarstellung werden vom Kläger in aller Regel nicht zu fordern sein545, da der beklagte Ehegatte den angeführten Zerrüttungsursachen im allgemeinen ebenso „nahestehen" wird wie der Kläger und somit die Gründe, die den BGH in den oben dargestellten Fällen bestimmt haben, die „Darlegungspflicht" zu einer „Beweispflicht" zu erweitern, hier offensichtlich nicht zutreffen. Die vom Bundesgerichtshof angenommene „Darlegungs- und Beweispflicht" zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit der „prozessualen Darlegungspflicht", von der Leonhard™* im Rahmen seiner Beweislastlehre ausgeht. Auch Leonhard547 bejaht die Verpflichtung des Gegners der feststellungsbelasteten Partei, nähere Angaben zu machen, wenn dies aus Gründen der Billigkeit oder Wahrscheinlichkeit geboten ist. Zwar soll nach Auffassung Leonhards im allgemeinen nicht verlangt werden, daß die Angaben auch bewiesen werden. Doch kann eine solche Pflicht begründet sein, z. B. wenn es sich um Vorgänge handelt, für die nach der Sachlage nur der Beklagte über Beweise verfügen kann548.
Diese Rechtsprechung des BGH, die zwei materiellrechtlich völlig verschiedene Bereiche betrifft, ergibt ein einheitliches Bild: Nach dem Grundsatz einer redlichen, das Gebot von Treu und Glauben beachtenden Prozeßführung kann von der Partei, die allein genaue Kenntnis von bestimmten rechts erheblichen Vorgängen hat, erwartet werden, daß sie ohne Rücksicht auf die Behauptungs- und Beweislast diese Vorgänge schildert und die allein ihr zugänglichen Beweise dem Gericht vorlegt549. Dabei ist allerdings die Einschränkung zu machen, daß für die Richtigkeit der vom Gegner aufgestellten Behauptungen eine „gewisse Wahrscheinlichkeit" spricht. Informiert die Partei Gericht und Gegner nicht in einem ihr zumutbaren Umfang über die nur ihr bekannten Vorgänge, dann sind die Behauptungen der Gegenpartei nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden zu werten550. 544
BGH, NJW 1970, S. 1316 (oben N. 541). So auch Deubner, NJW 1970, S. 1079. 546 S. 178ff.; vgl. unten S. 285. 547 S. 185 f. 548 Leonhardt, S. 186; ähnlich schon Dernburg, Pandekten, S. 370; vgl. auch RGZ 166, 240, 242 (10. 3. 41 — II 87/40). 649 F. von Hippel, S. 303f., sieht als Grundlage einer solchen Verpflichtung den Gedanken der Rechtsgemeinschaft an, der es den Parteien verwehre, „sich selbst der Nächste zu sein", und ihnen aufgebe, dem Gegner insoweit Hilfe zu leisten, „als er ihn von sachlich unnötigen Ermittlungen und Nachweisen dem Gericht gegenüber befreit." Ob eine solche weitgehende Beistandspflicht als Ausfluß einer allgemeinen Mitwirkungsund Förderungspflicht der Parteien im Prozeß besteht (vgl. dazu RGZ 166, 242 — oben vorige N., oben S. 136), erscheint recht zweifelhaft. Auf jeden Fall müßte die Grenze dieser Pflicht gegenüber dem anzuerkennenden Interesse an einer Geheimhaltung (vgl. Lüderitz, Ausforschungsverbot, S. 27 f.) bestimmt werden. 550 Der verlangte Tatsachenvortrag ist nicht als ein Behaupten (so aber Deubner, NJW 1969, S. 1648), sondern als ein (substantiiertes) Bestreiten im Sinne des Prozeßrechts aufzufassen (vgl. E. Schneider, MDR 1962, S. 362; oben S. 54). Der vom BGH verwendete Begriff der Darlegungslast läßt diese Frage offen. 545
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Unterläßt sie es ohne Angabe überzeugender Gründe651, Beweise zu erbringen, obwohl sie allein über die Möglichkeit verfügt, den streitigen Sachverhalt durch ihre Beweise aufzuklären, dann muß nach der Lebenserfahrung angenommen werden, daß sie solche Beweise nicht hat; bei internen, lediglich ihr bekannten Vorgängen läßt dies aber nur den Schluß zu, daß ihre Sachdarstellung nicht zutrifft652. Ein angemessener Ausgleich zwischen dem Interesse an Geheimhaltung (des Ungünstigen und damit dem Gegner Günstigen) und an Information (über das Günstige und damit dem Gegner Ungünstige) läßt sich aufgrund des Vorschlages von Lüderitz553 finden. Lüderitz wählt als Maßstab für diesen Ausgleich die Wahrscheinlichkeit, die für die Richtigkeit der Behauptung spricht. Bei geringer Wahrscheinlichkeit soll der Gegner nur verpflichtet sein, seine Einlassung auch auf die ihm ungünstigen Tatsachen auszudehnen554; bei größerer Wahrscheinlichkeit soll die Behauptungs- und Beweisführungslast auf ihn übergehen555. (Die prozessuale Lastenverschiebung soll durch einen materiellen Auskunftsanspruch bei einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit ergänzt werden556. Dieser Auffassung ist hinsichtlich der Beweislastfrage auch vom Standpunkt der hier vertretenen Meinung zuzustimmen. Die größere Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Behauptung genügt in Verbindung mit dem Erfahrungssatz, daß man im allgemeinen Günstiges vorzutragen und nur Ungünstiges geheim zu halten pflegt, zur Bildung einer entsprechenden Überzeugung des Richters, so daß die Beweisführungslast der Gegenpartei zufällt557.
Die Notwendigkeit, in Fällen dieser Art unter den genannten Voraussetzungen Beweise für den eigenen Sachvortrag zu erbringen, folgt somit aus dem eigenen Interesse der Partei, ungünstige Schlüsse des Richters im Rahmen der Beweis- und Verhandlungswürdigung658 zu vermeiden, die sonst nach der Lebenserfahrung gezogen werden müßten. Diese Feststellung macht deutlich, daß es sich hier bei der „Beweispflicht" um die Beweisführungslast559 der betroffenen Partei handelt. Die Feststellungslast dagegen wird durch eine besondere Erschwerung oder das Unvermögen einer Partei, Beweise zu erbringen, niemals verändert560. Bleiben trotz der sub551
Damit das Gericht prüfen kann, ob die Beweisführung der Partei zumutbar ist, müssen die Gründe, die eine Unzumutbarkeit ergeben sollen, in einem Umfang dargelegt werden, daß eine Meinungsbildung dem Gericht möglich ist (Blunck, MDR 1969, S. 101). 552 Vgl. RGZ 166, 242 (oben N. 548); BGH, NJW 1970, S. 806, 897, 1316 (oben N. 539, 541). 553 Ausforschungsverbot, S. 28ff.; kritisch dagegen E. Peters, Ausforschungsbeweis, S. 117ff. 554 AaO, S. 29 f. 555 AaO, S. 30 ff. 554 AaO, S. 32ff. 557 Vgl. dazu oben S. 49. 558 Kummer, Art. 8, Rdn. 186. 559 Ebenso Schmeling, S. 36. 560 Rosenberg, Beweislast, S. 153, 332; Deubner, NJW 1969, S. 1647; Schmeling, S. 37; Kummer, aaO, Rdn. 184, 190.
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stantiierten Sachdarstellung und der Beweise der Partei, die allein Kenntnis von den rechtserheblichen Vorgängen hat, tatsächliche Zweifel bestehen, dann ist zum Nachteil der feststellungsbelasteten Partei so zu entscheiden, als ob eine Tatsachenerklärung mit negativem Ergebnis gelungen wäre561; ihre Beweisnot kann den Inhalt der Beweislastentscheidung nicht beeinflussen. Dagegen befürwortet von Greyerz562 eine „Umkehr" der Feststellungslast in Fällen, in denen eine Partei „einen normalerweise unmöglich oder kaum zu erbringenden Beweis negativer Tatsachen" zu führen hat, „wenn dies für den Beweisgegner nicht unbillig ist, und wenn Sinn oder Wortlaut der anzuwendenden Gesetzesbestimmung nicht entgegenstehen"563. Für den negativen Beweis kann aber in bezug auf die Feststellungslast nichts anderes gelten als für den positiven Beweis. Die besonderen Schwierigkeiten, die sich für eine Partei beim Beweis eines unbestimmten negativen Sachverhalts ergeben können, sind auch in anderer Weise zu lösen, ohne daß Beweislastnormen eingreifen müssen564.
III. Die grobe Verletzung von Berufspflichten „Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH hat der Arzt das Risiko der nicht vollen Aufklärbarkeit des ursächlichen Verlaufs zu tragen, wenn er schuldhaft einen groben Behandlungsfehler begangen hat, der geeignet ist, einen Schaden der Art herbeizuführen, der tatsächlich eingetreten ist"565; das gleiche gilt für ein leichtfertiges Fehlverbalten des Arztes566. Der Bundesgerichtshof folgt in dieser Frage weitgehend der späten Rechtsprechung des Reichsgerichts567, nach der ein Arzt, der einen Kranken „durch unsachgemäße Behandlung bewußt oder leichtfertig einer Gefahr ausgesetzt hat, die den äußeren Umständen nach gerade die Schädigung herbeiführen konnte, die dann eingerreten ist"568, sich wegen der Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit seines Fehlers entlasten mußte. Die vom BGH entwickelten Grundsätze sollen nach seiner Auffassung „allgemein jedenfalls auf den Fall grober Verletzung einer Berufspflicht" 561
Dies zeigt die Rechtsprechung des BGH zu § 48 Abs. 2 EheG mit großer Deutlichkeit; vgl. BGH, NJW 1968, S. 1826; 1970, S. 806, 897 (oben N. 539, 541). 562 S. 42 ff. 563 AaO, S. 42. 564 Vgl. oben S. 54f. 565 BGH (12. 3. 68 — VI ZR 85/66) NJW 1968, S. 1185, unter Hinweis auf BGH (21.12.55 — VI ZR 127/55) LM § 286 (C) ZPO Nr. 25; BGH (28.4.59 — VI ZR 51/58) NJW 1959, S. 1583; BGH (26. 6. 62 — VI ZR 113/61) VersR 1962, S. 960; BGH, LM § 823 (Aa) BGB Nr. 21 (oben N. 412); BGH (11. 4. 67 — VI ZR 61/66) NJW 1967, S. 1508. Vgl. auch die in N. 566, 569, 571, 572 und 578 zitierten Entscheidungen. 566 Vgl. BGH (14. 10. 58 — VI ZR 186/57) VersR 1958, S. 489; BGH, NJW 1959, S. 1583 (vorige N.). 567 RG (21. 6. 40 — III 134/39) Warn. 1941 Nr. 14 (S. 29, 33); RGZ 171, 168 (17. 5. 43 — III 81/42). 568 RGZ 171, 171 (vorige N.). 10
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übertragen werden können, „die ähnlich wie beim Arztberuf gerade auf die Bewahrung anderer vor Gefahren für Körper und Gesundheit gerichtet ist"569. Der Bundesgerichtshof hat diese Voraussetzungen für die Berufspflichten eines Schwimmeisters bejaht570. Noch einen Schritt weiter ist der BGH in dem Fall einer Staphylokokken-Infektion eines Neugeborenen in einem Krankenhaus gegangen, in dem infolge beengter räumlicher Verhältnisse, ungenügender Ausstattung und mangelnder Abtrennung von anderen, insbesondere septischen Patienten die Infektionsgefahr erheblich erhöht war571. In diesem Fall hat der BGH nicht auf einzelne gerade das geschädigte Kind betreffende Fehlleistungen bestimmter für die Pflege verantwortlicher Personen, sondern auf die gesamten Umstände gesehen, die eine Erhöhung der Infektionsgefahr verursachten. Damit ist der Krankenhausträger, der die Einrichtung und Organisation des Krankenhauses zu verantworten hat, in dieser Frage einem Arzt gleichgestellt worden. Das OLG Köln 572hat diese Grundsätze auf einen Würstchenverkäufer, der sein Geschäft auf einem Kirmesplatz betrieb, angewendet, und die Auffassung vertreten, einem fahrenden Händler obliege die Berufspflicht, das Publikum vor Gefahren und Schäden für Leib und Leben zu bewahren. Die Problematik einer auf bestimmte Berufsgruppen bezogenen Beweisregelung wird hier offenbar. Denn mit gleicher Berechtigung kann eine darartige Berufspflicht jedem Unternehmer und Arbeitnehmer auferlegt werden, durch deren Berufstätigkeit irgendwelche Gefahren für Leben und Gesundheit anderer entstehen können573.
Reichsgericht und Bundesgerichtshof stimmen darin überein, daß sich in Fällen der beschriebenen Art „die Beweislast umkehre". Es soll sich dabei um eine „echte Umkehr der Beweislast"™ handeln, die aber nur „die unmittelbaren Gesundheitsschäden des Patienten, als deren geeignete und naheliegende Ursache der Behandlungsfehler in Frage kommt"574 betreffen soll575. Es würde „Grundsätzen der Billigkeit und des gerechten Interessenausgleichs"576 entsprechen, „das Risiko der nicht vollen Aufklärbarkeit des ursächlichen Verlaufs577 nicht dem Patienten, sondern dem Arzt aufzuerlegen, der „bewußt, leichtfertig oder durch groben Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst den Patienten in die Gefahr gebracht hat, deren Folgen nunmehr nicht mehr mit Sicherheit geklärt werden können"578. 569
BGH (13. 3. 62 — VI ZR 142/61) NJW 1962, S. 959, 960; vgl. auch BGH (5. 7. 73 — VII ZR 12/73) NJW 1973, S. 1688. 570 BGH, aaO (vorige N.). 571 BGH (10. 11. 70 — VI ZR 83/69) NJW 1971, S. 241. 572 18. 11. 69 — 15 U 129/69; VersR 1970, S. 229. 573 Ablehnend gegenüber dieser Rechtsprechung auch Hanau, S. 133. 574 BGH (21. 10. 69 — VI ZR 82/68) NJW 1970, S. 1230, 1231. 575 Diese und die folgenden Erwägungen, die ausdrücklich nur auf Fälle der Arzthaftung bezogen sind, gelten selbstverständlich sinngemäß für Sachverhalte außerhalb dieses Bereichs, auf die gleiche Grundsätze angewendet werden sollen. 576 BGH, NJW 1962, S. 960 (oben N. 569). 577 BGH, NJW 1967, S. 1508 (oben N. 565); BGH, NJW 1968, S. 1185 (oben N. 565). 578 BGH, NJW 1968, S. 2291, 2293 (oben N. 413).
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Die Stellungnahmen im Schrifttum zu dieser Rechtsprechung fallen unterschiedlich aus; neben uneingeschränkter Zustimmung579 finden sich grundsätzlich Ablehnung580 und Kritik in Einzelfragen581. Der wiederum in diesem Fragenbereich undifferenziert gebrauchte Begriff „Beweislast" läßt offen, ob eine „Umkehr " der Feststellungslast oder der Beiveisführungslast gemeint ist. Eine „Umkehr" der Feststellungslast, um die es sich hier offenbar handeln soll, setzt voraus, daß an die Stelle der sonst geltenden Beweislastnormen eine neue Regel mit einem entgegengesetzten Inhalt tritt582. Bei einem Rechtsstreit wegen einer Schadensersatzforderung wird im allgemeinen, wenn die Frage des Ursachenzusammenhangs zwischen einem rechtswidrigen Verhalten und einem eingetretenen Schaden nicht geklärt werden kann, aufgrund der dann eingreifenden Beweislastnorm die Ursächlichkeit verneint583; die Feststellungslast für die Ursächlichkeit trägt somit die Partei, die den Anspruch geltend macht. Soll sich diese Feststellungslast „umkehren", d.h. auf den Gegner übergehen, dann muß die Beweislastnorm durch eine andere ersetzt werden, nach der in diesem Fall die Feststellung der eine Ursächlichkeit ergebenden Tatsachen fingiert wird. Der Bundesgerichtshof macht die „Beweislastumkehr" von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig, nämlich von einem bewußten, leichtfertigen oder groben Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst — oder in anderen gleich zu behandelnden Berufen gegen die in diesem Bereich zu beachtenden Kunstregeln —, der als geeignete und naheliegende Ursache für den Schaden der eingetretenen Art in Betracht kommt584. Diese Abhängigkeit der vom BGH vorgenommenen Regelung von der Existenz bestimmter Tatsachen gibt noch keinen entscheidenden Hinweis auf den Inhalt des als „Beweislastumkehr" bezeichneten Vorgangs. Denn auch für das Eingreifen von Beweislastregeln kann es — wie das Beispiel der Vermutungen zeigt — auf die Verwirklichung eines bestimmten Sachverhalts ankommen. Würde in den hier erörterten Fällen eine spezielle Beweislastregel wirksam werden und sich dadurch die Feststellungslast 579
Blomeyer, AcP 158, S. 97,104ff., ZPR, S. 373, Gutachten, S. 11 f.; Gaupp, S. 68ff., 102ff.; Schönke-Kuchinke, S. 265f.; Soergel-Schräder, § 823, Rdn. 490; Geigel, S. 813f.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1062F.; Emmerich, JuS 1974, S. 51, befürwortet sogar eine Beweislastumkehr bei Verletzung von Berufspflichten, deren wesentlicher Zweck die Verhinderung drohender Schäden für den Vertragspartner ist. 580 Prölss, S. 97f., ZZP 82, S. 471 f., 473ff.; Hanau, S. 134, NJW 1968, S. 2291 f. Ebenso Rosenberg-Schwab, § 118 III 6 b (S. 614f.); deren Bedenken sich gegen die Begründung richten; sie bejahen einen Anscheinsbeweis in diesen Fällen. 581 Vgl. Stoll, Festschrift, S. 551 f., insbesondere N. 143; Hainmüller, S. 159ff.; Kleinewefers-Wilts, VersR 1967, S. 617ff.; Bydlinski, Schadensverursachung, S. 84f.; Hofmann, S. 8ff. 582 Vgl. oben S. 136. 583 Vgl. oben N. 425. 584 BGH in ständiger Rechtsprechung; vgl. z.B. BGH, NJW 1968, S. 2293 (oben N. 413); BGH (17. 12. 68 — VI ZR 212/67) NJW 1969, S. 553, 554.
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ändern, dann würde diese Beweislastregel aufgrund der vom BGH aufgestellten Voraussetzungen für ihre Wirksamkeit einen zweigliedrigen Tatbestand nach Art einer Tatsachenvermutung685 erhalten, weil neben den tatsächlichen Zweifeln hinsichtlich eines das Merkmal der Kausalität verwirklichenden Sachverhalts noch zusätzliche Tatsachen hinzukämen, die in gleicher Weise wie die Vermutungsbasis einer Tatsachenvermutung außerhalb des Tatbestandes des anspruchsbegründenden Rechtssat^es liegen würden586. Denn weder für einen deliktischen noch für einen vertraglichen Schadensersatzanspruch ist Voraussetzung, daß der Verstoß gegen Berufspflichten als geeignete und naheliegende Ursache für den eingetretenen Schaden erscheint587. Diese Beschreibung der Pflichtverletzung hat zwar aach Bedeutung für die Qualifizierung des Schuldvorwurfs oder des Kunstfehlers588 — die vom BGH insoweit verlangte Qualifizierung ist im übrigen ebenfalls kein notwendiger Bestandteil der anspruchsbegründenden Norm —, in erster Linie aber wird dadurch die Forderung ausgedrückt, daß eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden festzustellen ist. Denn eine geeignete und naheliegende Schadensursache begründet eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, daß im konkreten Fall der festgestellte Schaden auf diese Ursache auch zurückgeführt werden kann589. Die Feststellung, daß eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Kausalzusammenhang z wischen Kunstfehler und Schaden über die „Beweislastumkehr" entscheiden soll, läßt die Frage stellen, ob es sich nicht doch in diesen Fällen entgegen der vom BGH geäußerten Auffassung590 um einen Anscheins585
Vgl. oben S. 72. Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 16, spricht denn auch von einer Vermutung, die in diesen Fällen wirksam werde. 587 Nach der herrschenden Adäquanztheorie genügt, daß der Schaden als Folge eines bestimmten Verhaltens nicht völlig unwahrscheinlich ist. Vgl. da2u unten S. 187. sea ^jjt jem Begriff „Kunstfehler" wird hier und in den folgenden Ausführungen ein objektiver Verstoß gegen allgemein anerkannte Grundsätze der medizinischen Wissenschaft bezeichnet (vgl. BGHZ 8, 138, 140 — 27. 11. 52 — VI ZR 25/52; Gaupp, S. 6; Wilts, MDR 1973, S. 355; Dunz, S. 20f.). 589 Gaupp, S. 94f., 103. Ähnlich auch Hanau, S. 135; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 16. 590 In einer Entscheidung aus dem Jahre 1955 (LM § 286 (C) ZPO Nr. 25 — oben N. 565) grenzt der BGH den Anscheinsbeweis der Kausalität und die „Beweislastumkehr" in diesen Fällen gegeneinander ab und will dabei die Schwere des Schuldvorwurfs entscheiden lassen; nur wenn der Fehler „grob leichtfertig begangen worden ist", soll eine „Umkehr" der Beweislast eintreten. Daß der Fehler als geeignete und naheliegende Schadensursache erscheinen muß, wird nicht verlangt. Ähnlich auch BGH (28. 4. 59 — VI ZR 51/58) LM § 823 (Aa) BGH Nr. 15. In einer späteren Entscheidung (BGH, NJW 1968, S. 2293 — oben N. 413) erwähnt der BGH, nachdem er eine „Beweislastumkehr" bejaht hat, mehr als ein obiter dictum, daß die verbleibenden Zweifel wegen der Beweislastumkehr zu Lasten des Beklagten gingen und deshalb nicht geprüft zu werden brauche, ob sich der Kläger auf einen typischen Geschehensablauf und damit auf einen Beweis des ersten Anscheins hätte stützen können. 586
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beweis der Kausalität handelt, wobei die Anforderungen an die zur Feststellung der Kausalität erforderlichen Wahrscheinlichkeit vermindert sind591 und die sich „umkehrende Beweislast" die Beweisführungslast wäre592. Gegen einen Anscheinsbeweis der Kausalität in Arzthaftungsprozessen wird indes eingewendet, daß der Arzt hierbei allzu leicht einen Gegenbeweis führen könnte und die in solchen Fällen fast immer bleibenden restlichen Zweifel an der Kausalität593 dann zu Lasten des Geschädigten gingen584. Dieses Argument ist aber nicht stichhaltig. Denn der Gegenbeweis gegen einen Anscheinsbeweis ist nur erfolgreich, wenn es gelingt, Tatsachen nachzuweisen, die den Erfahrungssatz, daß der begangene Kunstfehler Schäden der eingetretenen Art zu verursachen pflegt, im konkreten Fall unanwendbar sein läßt595. Es genügt auch beim Anscheinsbeweis keineswegs die Darlegung einer anderen theoretischen Möglichkeit oder „aus dem konkreten Geschehensablauf hergeleiteter Zweifel"596. Gelingt es aber dem Arzt, durch seinen Gegenbeweis den zunächst angenommenen Sachverhalt so zu verändern, daß der Erfahrungssatz nicht mehr zutrifft, dann kann auch keine „Beweislastumkehr" nach den vom BGH aufgestellten Grundsätzen eintreten, weil in diesem Fall der Kunstfehler nicht mehr als „geeignete und naheliegende" Scbadensursache anzusehen ist. Denn der Begriff „naheliegend", wie er aufgrund der Rechtsprechung des BGH zu verstehen ist, enthält ein komparatives Element, das einen Vergleich aller in Betracht zu ziehenden Schadensursachen notwendig macht. Wird dabei festgestellt, daß der Schaden mit größerer Wahrscheinlichkeit auf einer anderen Ursache beruht, dann kann der Kunstfehler zwar als geeignete, nicht aber als naheliegende Schadensursache angesehen werden. Das gleiche gilt, wenn %wei Ursachen, von denen eine der Kunstfehler ist, mit gleicher Wahrscheinlichkeit für die Herbeiführung des Schadens in Frage kommen. Denn die Voraussetzung des „Naheliegens" erhält nur dann neben der verlangten Eignung zur Schadensverursachung eine selbständige Bedeutung, wenn dadurch ausgeschlossen wird, daß sich die „Beweislast" bereits „umkehrt", sobald sich der Kunstfehler als eine von mehreren gleich möglichen Schadensursachen darstellt. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich — wie vor ihm schon das Reichsgericht — auf Billigkeitserwägungen hingewiesen, die diese Beweisregelung rechtfertigen sollen. Ein gerechter Interessenausgleich verbietet es aber, daß die sich für den Arzt aus der „Beweislastumkehr" ergebenden nachteiligen Folgen bereits dann eintreten, wenn mit gleicher Wahrschein591
Vgl. oben S. 125ff., 131. Vgl. oben S. 98. 593 Locher, S. 263: „Die verhältnismäßig häufig zu beobachtende Unmöglichkeit restloser Aufklärung der Schuld- und Kausalitätsfrage ist in der Eigenart des Arztprozesses begründet." 594 Blomeyer, AcP 158, S. 105; Gaupp, S. 54, 103 N. 240. 595 Vgl. oben S. 96 f. 596 Solche Zweifel sieht der BGH, NJW 1968, S. 1185 (oben N. 565), ausdrücklich nicht als einen Hinderungsgrund für eine „Beweislastumkehr" an. 592
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lichkeit auch ein von ihm nicht zu verantwortender Umstand den Schaden herbeigeführt haben kann. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bestätigt diese Auffassung; in ihr findet sich keine Entscheidung, in der bereits eine „Beweislastumkehr" angenommen worden ist, wenn neben dem Kunstfehler andere Ereignisse mit gleicher Wahrscheinlichkeit den Schaden verursacht haben konnten. Auch wer in dieser Frage befürwortet, materiell-rechtliche Zurechnungserwägungen mit Hilfe von Beweislastregeln durchzusetzen597, muß die entgegengesetzten Interessen beider Parteien gerecht und angemessen zu bewerten suchen. Die in diesen Fällen fast durchweg bestehenden Schwierigkeiten, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Kausalitätsbeweis zu führen, verlangen aus Billigkeitserwägungen eine vertretbare Beweiserleichterung598. Andererseits darf diese Unterstützung nicht soweit gehen, den Geschädigten von jedem Beweis der Kausalität zu befreien und die gesamten Beweisschwierigkeiten dem Arzt aufzuladen, ihn also im Falle eines Kunstfehlers für alle Schäden haften zu lassen, bei denen nicht auszuschließen ist, daß sie auf dem Fehler des Arztes beruhen. Der BGH ist zu Recht diesen Weg nicht gegangen und hat in einer Aufteilung der bestehenden Beweisschtvierigkeiten die gerechtere Lösung gesehen. Eine gerechte „Teilung" fordert aber, daß der das Risiko des Mißlingens weiterer Aufklärung zu tragen hat, der sich nicht auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit seiner Behauptungen berufen kann. Die besseren Kenntnisse der Materie und der Interna im Schadensbereich, die der Arzt besitzt, werden durch Erfahrungssätze ausgeglichen, auf die sich der Geschädigte in diesen Fällen stützen kann, so daß die Chancengleichheit beider Parteien hergestellt sein dürfte — und dies sollte schließlich das Anliegen jeder Lösung sein, die in diesen Fällen denkbar ist.
Diese Überlegungen führen zu der Feststellung, daß die Lage des Arztes o wohl beim Anscheinsbeweis der Kausalität als auch bei der „Beweislastumkehr" gleich ist; kann er Tatsachen beweisen, aus denen sich ergibt, daß der von ihm begangene Kunstfehler nicht als „geeignet und naheliegend" für eine Schadensverursachung in Betracht kommt, und dadurch verhindern, daß sein Fehler als die wahrscheinlichste Schadensursache anzusehen ist, dann geht die Ungewißheit, wie es zu diesem Schaden kam, zu Lasten des Geschädigten; kann der Arzt dagegen diesen Beweis nicht führen, dann verliert er den Prozeß. Ein Vergleich der im folgenden dargestellten Entscheidung599, in der vom BGH eine „Beweislastumkehr" bejaht wurde, mit dem Luesfall /60° soll die Richtigkeit dieser Annahme noch näher begründen. Der Beklagte, Facharzt für Orthopädie, führt die in seiner Praxis erforderlichen Operationen in dem Belegkrankenhaus einer Nachbarstadt aus. Dort operiert er auch den Kläger wegen einer Dupuytrenschen Kontraktur an einem Finger. Nach der Operation verläßt der Beklagte das Krankenhaus; erst 32 Stunden später kehrt er zurück und sieht nach seinem 597 598 599 600
Vgl. J. Esser, Freiheit, S. 78 f. Vgl. auch oben S. 25 ff. BGH, NJW 1967, S. 1508 (oben N. 565). Vgl. oben S. 99.
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Patienten. In der Zwischenzeit hat sich die Spitze des operierten Fingers blau verfärbt, und der Kläger bekommt erhebliche Schmerzen, die ihn veranlassen, wiederholt die Krankenschwester um eine Benachrichtigung des Beklagten zu bitten. Der Beklagte behandelt nach seiner Rückkehr den Finger, kann aber nicht verhindern, daß es zu einer Gangränbildung und einem teilweisen Absterben des Fingers kommt. Der Finger muß daraufhin amputiert werden. Die Ursache der Gangränbildung und des Absterbens des Fingers läßt sich nicht mehr eindeutig aufklären. Ein Sachverständiger bezeichnet als mögliche Ursache: die Verletzung arterieller Gefäße, sie kann auch bei einem geschickten]Operateur vorkommen, ohne daß ihm deshalb ein Schuldvorwurf zu machen ist; eine arterielle oder venöse Thrombose, die von keinem Arzt verhindert werden kann; schließlich eine venöse Nachblutung im Operationsgebiet, die zu einer Kompression der Fingergefäße und so zu einer Unterbrechung des Blutzuflusses in die Arterien führen kann, ihre Folgen wären durch einen rechtzeitigen Eingriff zu beheben gewesen. Der Sachverständige hält die letzte Möglichkeit für die wahrscheinlichste. Das OLG verurteilt den Beklagten zum Schadensersatz. Es sei ein grober Behandlungsfehler, wenn 32 Stunden lang nicht nach einem Frischoperierten gesehen werde. Angesichts eines solchen grob fahrlässigen Verhaltens habe der Beklagte dafür einzustehen, daß man jetzt den Entstehungsgrund des Schadens nicht vollständig aufklären könne. Bei dieser Lage müsse der Beklagte nachweisen, daß das Absterben des Fingers auch bei ordentlicher Nachschau und Behandlung eingetreten wäre. Dies sei ihm nicht gelungen. Der BGH billigt diese Entscheidung. Bei der Beseitigung der Dupuytrenschen Kontraktur eines Fingers handele es sich um eine nicht einfache Operation, bei der mit Komplikationen gerechnet werden müsse. Insbesondere sei die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß eine venöse Nachblutung im Operationsgebiet eintrete. Solche Nachblutungen könnten in den ersten acht Stunden nach der Operation vorkommen und erforderten einen sofortigen ärztlichen Eingriff, der die Heilung günstig beeinflussen könnte. Die fehlende ärztliche Überwachung erscheine als geeignete und naheliegende Ursache dafür, daß es zum Absterben des Fingers gekommen sei. Eine solche Überwachung hätte ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglicht. Allerdings wäre ein solcher Eingriff erfolglos geblieben, wenn die Fingerarterien verletzt worden wären oder eine Thrombose vorgelegen hätte. Jedoch handele es sich nach der Begutachtung des Sachverständigen bei diesen Möglichkeiten um ungesicherte Vermutungen, während eine venöse Blutung, deren Folgen durch einen postoperativen Eingriff hätten beseitigt werden können, als die wahrscheinlichste Ursache angesehen werden müsse. Diese Ausführungen zeigen, daß der BGH bei seiner Entscheidung zunächst rückblickend fragt, welche unmittelbare Ursache für das Absterben des Fingers die wahrscheinlichste ist; er kommt zu dem Ergebnis: eine venöse Nachblutung. Die Folgen dieser Nachblutung können durch einen
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rechtzeitigen Eingriff fast immer beseitigt werden. Weil der Beklagte aber die erforderliche Überwachung versäumt hat, war dieser Eingriff nicht möglich. Das Versäumnis des Beklagten stellt sich somit als die geeignete und naheliegende, weil nach den gesamten Umständen wahrscheinlichste Ursache601 für den eingetretenen Schaden dar. Damit ist der Kausalzusammenhang nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises bewiesen. Es besteht deshalb überhaupt kein Grund, eine Beweislastentscheidung zu treffen. Auf die Beweislastnormen und auf die Frage, welche Partei die Feststellungslast tragen soll, kommt es in diesem Fall nicht an. Dem Arzt kann daher nur die Beweisführungslast zufallen. Hätte dagegen der Sachverständige überzeugend dargelegt, es sei am wahrscheinlichsten, daß die Thrombose oder eine Gefäßverletzung zum Absterben des Fingers geführt habe, dann hätte der Vorwurf, die mangelnde Überwachung sei die geeignete und naheliegende Schadensursache gewesen, nicht aufrechterhalten werden können. Genau das gleiche Bild bietet der Luesfall L Auch hier werden die verschiedenen möglichen Ursachen für die Erkrankung der Frau gegeneinander abgewogen,'und auch hier entscheidet sich der BGH für die wahrscheinlichste von allen denkbaren. In beiden Fällen bleiben Zweifel offen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit läßt sich weder beim Luesfall ausschließen, daß die Frau an einer anderen Krankheit als Lues leidet oder daß sie sich auf andere Weise als durch die Bluttransfusion an Lues infizierte602, noch läßt sich mit diesem Wahrscheinlichkeitsgrad in dem Operationsfall verneinen, daß nicht die Thrombose oder die Arterienverletzung die Ursache des Absterbens des Fingers war oder daß ein rechtzeitiger Eingriff auch bei einer Nachblutung ausnahmsweise erfolglos geblieben wäre. Die Zweifel werden offengelassen, weil die Annahme, auf die das Urteil gestützt wird, 601
Ein Unterlassen kann im streng naturwissenschaftlichen Sinn nicht kausal für einen eingetretenen Schaden sein. In der Kausalitätsbetrachtung wird aber das Unterlassen als das negative Spiegelbild der in der konkreten Situation gebotenen Handlung angesehen und von einem hypothetischen Kausalverlauf ausgegangen, nämlich dem, der eingetreten wäre, wenn die gebotene, tatsächlich unterbliebene Handlung vorgenommen worden wäre. Führt diese Prüfung des gedachten Geschehensablaufs zu dem Ergebnis, daß der Schaden nicht entstanden wäre, so wird das Unterlassen als „Ursache" des Schadens gewertet (vgl. Larenz, NJW1953, S. 686f.). Diese Auffassung, die in der Rechtsprechung allgemein vertreten wird, ist in der Lehre nicht unbestritten (vgl. die Darstellung der verschiedenen Ansichten bei Hanau, S. 5ff.). Hanau, S. 34ff., 95ff., zieht in der Kausalitätsfrage die Trennungslinie nicht zwischen Tun und Unterlassen, sondern zwischen Verbotsverletzungen und Gebotsverletzungen und geht dabei von folgender Unterscheidung aus: „Bei den Verbotsverletzungen ist die tatbestandlich erhebliche Kausalität zu ermitteln, indem man das verbotene Tun (und mit ihm die Pflichtverletzung) hinwegdenkt. Um zu ermitteln, ob ein Schaden aus einer Gebotsverletzung hervorgeht, muß man dagegen das gebotswidrige Tun oder Lassen hinweg- und das gebotene Tun (pflichtgemäßes Alternativverhalten) hinzudenken" (aaO, S. 97). 602 Vgl. oben S. 121 f.
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nach aller Erfahrung am ehesten richtig sein dürfte. Man kann es durchaus auch so sehen, daß diese Zweifel zu Lasten des Arztes gehen. Denn er hat die überwiegende Wahrscheinlichkeit gegen sich und muß sie ausräumen, um den Prozeß zu gewinnen. Dazu ist erforderlich, daß er Tatsachen beweist, nach denen eine andere Schadensursache zumindest annähernd gleich wahrscheinlich als die angenommene ist; daß er diese andere Ursache „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" darlegen kann, ist weder im Luesfall noch im Operationsfall notwendig. Denn es kann bereits schon dann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß der Kunstfehler die „naheliegende" Schadensursache ist, wenn eine andere Ursache näher liegt, d.h. wahrscheinlicher ist. Nach gleichen Gesichtspunkten dürfte der BGH in seiner Entscheidung vom 11. 6. 1968603 verfahren sein, wenn auch seine Ausführungen dies nicht immer klar erkennen lassen. In diesem Fall war ein Mann nach einer Blinddarmoperation an inneren Blutungen gestorben, die der Arzt trotz eines ausgeprägten Symptoms (erhebliches Absinken des Blutdruckes) nicht erkannt hatte. Der Arzt hätte nach den ärztlichen Kunstregeln bei einer inneren Blutung einen zweiten Eingriff vornehmen müssen. Dieser Eingriff wäre mit Sicherheit erfolgreich gewesen, wenn das Blut aus einem spritzenden Gefäß ausgetreten wäre, das leicht hätte geschlossen werden können; dagegen wäre der Erfolg ungewiß gewesen (der Sachverständige bezeichnet es als eine Chance), wenn — was nicht auszuschließen ist — das Blut aus einer nekrotischen Wand des Darmes gesickert wäre. Der BGH, der die zum Schadensersatz verurteilende Entscheidung des OLG bestätigt, stellt lakonisch fest: „Daß das Nichterkennen einer inneren Blutung generell geeignet ist, den Verblutungstod herbeizuführen, unterliegt keinem Zweifel,604", und stützt auf diesen Satz die Beweislastumkehr. Wohl nur als eine sprachliche Ungenauigkeit dürfte anzusehen sein, daß auf das „Nichterkennen" der Blutung, nicht auf das Unterlassen weiterer Untersuchungen, die den richtigen Befund hätten ergeben können, und des sich dann anschließenden Eingriffs abgestellt worden ist, denn darin liegt der Behand/ungifehlet. Dieser Behandlungsfehler kann aber nur dann als naheliegende Schadensursache gewertet werden (von „naheliegend" spricht der BGH hier allerdings überhaupt nicht, dagegen betont er wiederum in späteren Entscheidungen ausdrücklich die Notwendigkeit dieser Voraussetzung605), wenn es Zumindest überwiegend wahrscheinlich ist, daß ein Eingriff den Tod verhindert hätte, d.h. ein Gefäß verletzt war. Die Entscheidung enthält wenig Angaben zu dieser Frage. Aufgrund der wiedergegebenen Feststellung des OLG, daß „nicht mehr mit letzter Sicherheit zu klären" sei, ob der Operierte durch einen Eingriff zu retten gewesen wäre, kann aber davon ausgegangen werden, daß der Erfolg des Eingriffs wahrscheinlicher als ein Mißerfolg war806.
Läßt sich aber hinsichtlich des vom Arzt zu führenden Gegenbeweises kein Unterschied zwischen einem Anscheinbeweis der Kausalität und der „Beweislastumkehr" feststellen, dann ist nicht einzusehen, weshalb die „Beweislastumkehr" angeblich an strengere Voraussetzungen als der 603 604 605 «06
NJW 1968, S. 2291 (oben N. 413). AaO, S. 2293. Vgl. BGH, NJW 1970, S. 1231 (oben N. 574). Kritisch zu dieser Entscheidung auch Hanau, NJW 1968, S. 2291 f.; Dunz, S. 31.
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Anscheinsbeweis gebunden werden soll, nämlich an einen bewußten, leichtfertigen oder groben Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst. Jedoch muß sehr bezweifelt werden, daß es sich bei diesen Voraussetzungen überhaupt um zusätzliche Anforderungen mit eigenständiger Bedeutung handelt. Denn begeht ein Arzt schuldhaft einen Behandlungsfehler, der sich als eine geeignete und naheliegende Ursache für einen Schaden an Leben oder Gesundheit eines Patienten darstellt, dann dürfte er damit zugleich auch immer bewußt, leichtfertig oder grob gegen die Regeln seines Berufes verstoßen, die gerade bezwecken, solche Folgen ärztlicher Verrichtung auszuschließen. An naheliegende und damit wahrscheinliche Schadensursachen muß jeder Arzt denken und sie zu vermeiden suchen607. Deshalb wird auch in aller Regel die für einen Anscheinsbeweis der Kausalität erforderliche Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines bestimmten Schadens als Folge eines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens die bei der „Beweislastumkehr" verlangte Qualifizierung des Schuldvorwurfs oder des Fehlers ergeben608. Die rückschauende Betrachtung des Richters vom eingetretenen Schaden auf die mögliche Ursache mit Hilfe von Erfahrungssätzen beim Anscheinsbeweis ist vom Arzt vorausschauend inder umgekehrten Richtung vorzunehmen, damit es sich so verhält, daß Schäden bei seinen Patienten vermieden werden609. Nur in dem Fall, daß zwischen den beiden Zeitpunkten der Betrachtung die medizinische Wissenschaft fortgeschritten ist und der Richter über Erkenntnisse verfügt, die der Arzt nicht haben konnte, dürfen die Ergebnisse der ärztlichen und der richterlichen Prüfung verschieden ausfallen610, ohne daß dem Arzt daraus ein Vorwurf zu machen ist. In diesem Fall wird aber ein Schadensersatzanspruch gegen den Arzt schon wegen fehlender Schuld abzulehnen sein. Der Vergleich zwischen der „Beweislastumkehr" in den Fällen der Arzthaftung und dem Anscheinsbeweis der Kausalität führt somit zu folgendem Ergebnis: 607
Der BGH, NJW 1968, S. 1185 (oben N. 565) bezeichnet die Feststellung, „als Anzeichen richtiger Einordnung und sachgerechter Abgrenzung" bei der,, Beweislastumkehr" daß sich der Arzt „bei pflichtmäßiger Prüfung hätte sagen müssen, die von ihm verursachte Gefahr können gerade eine solche Schädigung des Patienten herbeiführen, wie sie später eingetreten ist"; ebenso BGH, LM § 823 (Aa) BGB Nr. 21 (oben N. 412). Vgl. auch Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1063. 608 A.A. Kleinewefers-Wilts, VersR 1967, S. 620ff., 625, die in dieser Qualifizierung eine ungerechtfertigte Erschwerung erblicken; ähnlich auch Hofmann, S. 22ff., 28, der ausdrücklich die Möglichkeit eines Anscheinsbeweises verwirft (S. 22f.). 609 BGH, LM § 823 (Aa) BGB, Nr. 15, Bl. 3 (oben N. 590): „... denn der Kranke kann verlangen, daß der Arzt auch an entfernte Verletzungsmöglichkeiten denkt und sein Verhalten bei der Behandlung des Patienten hiernach einrichtet." 610 So in dem vom BGH, NJW 1969, S. 554 (oben N. 584) entschiedenen Fall, in dem es darauf ankam, ob sich ein an Boek'scher Krankheit leidender Patient mit Tuberkulose infizieren konnte. Nach dem Stand der Wissenschaft zur Zeit des zu beurteilenden Verhaltens war diese Frage zu verneinen; heute wird sie bejaht.
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Für die vom BGH vorgenommene „Beweislastumkehr" sind „Grundsätze der Billigkeit und des gerechten Interessenausgleichs"611 maßgebend; diesen Grundsätzen kann in gleicher Weise durch die Regeln des Anscheinsbeweises der Kausalität und der dabei zugelassenen Verminderung der Wahrscheinlichkeitsanforderungen in dem gewünschten Umfang entsprochen werden612. Das „Risiko der nicht vollen Aufklärbarkeit des ursächlichen Verlaufs"613 soll nicht dem Patienten, sondern dem Arzt auferlegt werden; auch dieses Ziel kann in dem vom Bundesgerichtshof gemeinten Sinn durch den A.nscheinsbeweis der Kausalität erreicht werden, wenn nicht zur Tatsachenfeststellung eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt wird. Eine Veränderung der Beweislastregelung ist zur Erreichung dieses Zieles nicht erforderlich. Aber nicht nur der Erfolg, sondern auch die dafür verwendeten Mittel sind in beiden Fällen gleich. Auf Grund von Erfahrungssätzen wird durch Vergleich der im Einzelfall möglichen Schadensursachen festgestellt, welche in dem zu entscheidenden Fall „typisch" und „naheliegend"614 ist. Stellt sich danach das Fehlverhalten des Beklagten als die wahrscheinlichste Schadensursache dar, dann wird solange diese Feststellung als zutreffend angesehen, bis Tatsachen bewiesen werden, die dazu zwingen, dieses Wahrscheinlichkeitsurteil zu revidieren und auf Grund des neuen SachVerhalts von einer anderen Annahme auszugehen. Die „Beweislast" für diese „neuen Tatsachen" trägt in beiden Fällen der Beklagte und in beiden Fällen handelt es sich dabei um die Beweisführungslast. Denn die Feststellungslast und die dafür vorauszusetzende Beweislastregelung würden dem Beklagten aufgeben, einen Gegenteilsbeweis zu führen. In beiden Fällen genügt aber, wenn der Beklagte verhindert, daß sein Verhalten als die wahrscheinlichste Schadensursache erscheint. Stimmen aber Beweislastumkehr" in den Arzthaftungsprozessen sowie in den gleich zu behandelnden Fällen und Anscheinsbeweis der Kausalität in allen diesen Punkten überein, dann gibt es keinen Grund, beide als unterschiedliche Regelungen des Beweisrechts zu bewerten. Vielmehr ist anzunehmen, daß dem als „Beweislastumkehr" bezeichneten Vorgang in den hier erörterten Fällen ein Anscheinsbeweis der Kausalität zugrundeliegt615, bei dem die sonst an die Wahrscheinlichkeit gestellten Anforderungen vermindert werden 61 . 811
BGH, NJW 1962, S. 960 (oben N. 569). Die Frage der Billigkeit wird fast in jeder Entscheidung, in der eine „Beweislastumkehr" bejaht wird, angesprochen. 612 Vgl. oben S. 125ff., 131. 813 BGH, NJW 1967, S. 1508 (oben N. 565); BGH, NJW 1968, S. 1185 (oben N. 565). 814 Der Begriff „naheliegend" bezieht sich in gleicher Weise wie die Bezeichnung „typisch" beim Anscheinsbeweis der Kausalität (vgl. dazu S. 102, 131) auf die Umstände des konkreten Einzelfalles. Was „naheliegend" und „typisch" in diesem Sinne ist, ergibt nur eine Auswertung des zu beurteilenden Sachverhalts. 615 Gleicher Auffassung Rosenberg-Schwab, § 118 III6b (S. 615). Auch Hanau, S. 135, verneint, daß es sich in diesen Fällen um eine „echte Beweislastumkehr" handelt. 618 Vgl. oben S. 131.
156
1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
IV. Der Verstoß gegen Schutzvorschriften
a) Die Schut^geset^e im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB Unterschiedliche Meinungen werden zu der Frage vertreten, ob bei Verletzung eines Schutzgesetzes im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB617 eine „Beweislastumkehr" in der Weise eintritt, daß die Feststellungslast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Schaden sowie für das Verschulden von der in Anspruch genommenen Partei zu tragen ist. Im Schrifttum wird diese Frage überwiegend verneint618. Die Auffassung der Rechtsprechung ist nur hinsichtlich der Kausalität eindeutig; insoweit wird ebenfalls eine von sonstigen Fällen deliktischer Schädigung abweichende Beweislastregelung abgelehnt und der Geschädigte auf die bei solchen Sachverhalten häufig bestehenden Möglichkeiten des Anscheinsbeweises verwiesen619. Für das Verschulden soll dagegen eine „ Vermutung"™ sprechen621. Was sich hinter dieser Vermutung verbirgt, eine Beweislastregel, ein Anscheinsbeweis oder ein Satz der Lebenserfahrung außerhalb eines Anscheinsbeweises ist vollkommen unklar. 617
Als Schutzgesetz gelten solche Rechtsvorschriften, die den Schutz von Einzelpersonen oder eines Personenkreises bezwecken, ohne daß es darauf ankommt, daß sie ausschließlich Einzelinteressen schützen sollen (vgl. BGH — 21. 12. 55 — VI ZR 280/54 — LM § 823 (Bc) BGB Nr. l; BGH — 12. 3. 68 — VI ZR 178/66 — NJW 1968, S. 1279, 1280). 618 Rosenberg, Beweislast, S. 356f.; Prölss, S. 101 f.; Hainmüller, S. 150f.; SoergelZeuner, § 823, Rdn. 358; RGRK-Haager, § 823, Anm. 113, 115; Leonhard, S. 197; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966,8.13; Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. 90 ff. (unter Aufgabe seiner früheren (Beweis, S. 73 ff.) vertretenen Ansicht, daß bei einem Verstoß gegen ein Schutzgesetz bestimmten Inhalts eine „Beweislastumkehr" für Kausalität und Verschulden eintrete; vgl. auch VersR 1974, S. 1052). Eine „Beweislastumkehr" nehmen dagegen an: Kuchinke, Festschrift, S. 124f.; Hofmann, S. 36ff. (für die Kausalität) ;[Fleck, VersR 1956, S. 331 ( 5) (für das Verschulden); Rabel, RheinZ 12, S. 434 (gleicher Auffassung aber auch für den Anscheinsbeweis; vgl. oben N. 164). 619 BGH (22.10. 55 — VI ZR 203/54) VersR 1955, S. 760, 761; BGH (12. 4. 57 — VI ZR 79/56) VersR 1957, S. 429, 430; BGH (6. 3. 58 — II ZR 306/56) VersR 1958, S. 297, 298; BGH (21.1. 59 — VI ZR 30/58) VersR 1959, S. 277; BGH (7.11. 60 — II ZR 143/ 59) VersR 1961, S. 77, 79; BGH (8. 11. 63 — VI ZR 239/62) VersR 1964, S. 296; BGH (30. 6. 64 — VI ZR 112/63) VersR 1964, S. 1082; BGH (24. 2. 66 — II ZR 25/64) VersR 1966, S. 466,467; BGH (21.11. 68 — ZR 188/66) VersR 1969, S. 181,182; BGH (29.9. 69 — II ZR 54/68) VersR 1969, S. 1091; BGH (20. 9. 73 — ZR 137/72) VersR 1974, S. 158, 159. 620 Oder — wie es der BGH auch formuliert — „die" Vermutung (vgl. z. B. BGH, NJW 1968, S. 1281 — oben N. 617). 621 BGH (3.1. 61 — VI ZR 67/60) VersR 1961, S. 231, 232; BGH, NJW 1968, S. 1281 (oben N. 617); BGH (1. 7. 68 — ZR 214/65) NJW 1969, S. 268, 274.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
157
Im Schrifttum finden sich nur selten Auseinandersetzungen mit dieser Rechtsprechung6211. Hainmüller622 meint, Rechtsprechung und Schrifttum insoweit zusammenfassend, daß der Auffassung, die in diesen Fällen für eine Beweislastumkehr" hinsichtlich der Kausalität und des Verschuldens eintrete, offenbar ein aus früherer Zeit fortwirkendes Mißverständnis des Anscheinsbeweises zugrundeliege, der zunächst für eine Beweislastregel gehalten worden wäre. Sonst richtet sich die Kritik des Schrifttums in erster Linie gegen die Rechtsprechung des BGH zum Kausalitätsbeweis in diesen Fällen, deren Deutung keineswegs ähnliche Schwierigkeiten bereitet, wie die Entscheidungen zum Verschuldensbeweis. So nennt Prölss623 diese Rechtsprechung „teils unklar, teils schwankend"; Gaupp624 vermißt eine klare Unterscheidung zwischen Beweislastumkehr und Anscheinsbeweis.
Der Begriff „ Vermutung" kann hierbei nicht zur Lösung der Frage beitragen. Denn der Bundesgerichtshof gebraucht diesen Begriff außerhalb der Fälle gesetzlicher Vermutungen in wechselnden Bedeutungen. Bald wird von einer „tatsächlichen Vermutung"625 gesprochen, der zufolge sich die Beweislast umkehren soll626; bald wird eine „tatsächliche Vermutung" verneint, weil die Lebenserfahrung ihren Inhalt nicht bestätigt627; in anderen Entscheidungen628 wiederum wird die „Vermutung" mit einem Anscheinsbeweis gleichgesetzt. 621a
Eingehender nur Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 922ff. S. 150. 623 ZZP 82, S. 474 N. 22. 624 S. 90. 625 Das Bundessozialgericht (BSG 19, 54 — oben N. 376) definiert den Begriff der tatsächlichen Vermutung als „auf der Lebenserfahrung beruhende ,aus freier richterlicher' Würdigung hervorgegangene Schlüsse oder Beweisanzeichen, die einen weiteren Beweis überflüssig machen können oder, wenn ihnen eine so starke Beweiskraft nicht zukommt, neben anderen Umständen zu würdigen sind." Im gleichen Sinn das Schrifttum, vgl. von Seuffert-Walsmann, § 286, Anm. l (S. 472); Schönke, ZAkDR 1939, S. 193; Dänzer, S. l, 12, 76f., 109, 139; Nicolini, NJW 1959, S. 1767f.: Buss, DRiZ 1966, S. 294; Smid, S. 50ff.; Ehrlicher, S. 47f., 66; Weyreuther, DRiZ 1957, S. 59 a.E.; Lukes, ZZP 77, S. 80f.; Leonhard, S. 101; s. auch Kummer, Art. 8, Rdn. 362ff.; Wassermeyer, Beweis, S. 32ff., der den Anscheinsbeweis in bestimmten Fällen gerade deshalb für unzulässig hält, weil es sich dabei um eine tatsächliche Vermutung handele (vgl. oben S. 84), ist der Meinung, daß die Rechtsprechung diese Vermutung auch als Beweislastregel behandele; vgl. auch Hainmüller, S. 77. 626 BGH, NJW 1951, S. 360 (oben N. 296). 827 BGH (28. 4. 71 — IV ZR 8/70) NJW 1971, S. 1406,1407. Die tatsächliche Vermutung, die nach der früheren Rechtsprechung des BGH bestehen (vgl. BGH — 16.1. 63 — IV ZR 110/62 —NJW 1963, 955, 956) nach der neueren dagegen nicht bestehen soll, betrifft die Frage, ob ein Ehegatte, der sich durch Aufgabe der häuslichen Gemeinschaft oder in anderer Weise von der Ehe losgesagt hat, durch sein Verhalten die Ehe schuldhaft zerrüttet. Die Wertung dieser Vermutung als einen Anscheinsbeweis ist im Schrifttum streitig (vgl. Deubner, NJW 1969, S. 1647 N. 16). 628 BGH, VersR 1955, S. 761 (oben N. 619); BGH VersR 1957, S. 429 (oben N. 619). Beide Entscheidungen betreffen den Kausalitätsbeweis bei Verstößen gegen Schutzgesetze. Vgl. auch BGHZ 6, 169, 170 (23. 5. 52 — I ZR 163/51). 622
158
1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung Ein anschauliches Beispiel für die allzu großzügige Verwedung des Begriffs „Vermutung" durch den BGH gibt seine Entscheidung vom 18. 12. 1967629. In ihr wird die Frage der Nichtigkeit eines Vereinsbeschlusses wegen der Stimmabgabe nicht stimmberechtigter Versammlungsteilnehmer behandelt. Nachdem zutreffend ausgeführt worden ist, daß die Feststellungslast für das satzungsmäßige Zustandekommen des Beschlusses dem klagenden Verein zufalle, nimmt das Gericht zu der Frage Stellung, welche Bedeutung es hat, daß die Niederschrift über die Versammlung, in der der umstrittene Beschluß gefaßt worden war, ohne Widerspruch seitens des beklagten Vereinsmitgliedes genehmigt worden ist. Der BGH führt dazu aus630: Der Genehmigung der Niederschrift kommt daher die rechtliche Bedeutung zu, daß Mitglieder, die keinen Widerspruch angemeldet haben, die Vermutung gegen sich gelten lassen müssen, die in der Niederschrift festgestellten Abstimmungen und Beschlüsse seien unter „Beachtung des satzungsmäßigen Verfahrens zustandegekommen, es sei denn, aus der Urkunde selbst ergebe sich etwas anderes". Diese „Vermutung" ist nichts anderes als die durch die Lebenserfahrung begründete Regel, daß ein Mitglied, das die Verletzung von Satzungsrecht rügen will, dies bei der förmlichen Genehmigung der Niederschrift in der nächsten Sitzung tun wird und nicht dieser Niederschrift zustimmt oder zumindest die Genehmigung nicht widerspruchslos hinnimmt. Aufgrund dieser Erfahrungsregel kann der Richter davon ausgehen, daß der Beklagte Satzungsverstöße weder in der Versammlung selbst festgestellt noch davon auf andere Weise Kenntnis erhalten hat. Es ist deshalb Sache des Beklagten, triftige Gründe anzugeben, die sein Verhalten erklären. Diese Situation wird vom BGH als ein Beweis gegen eine „Vermutung" beschrieben.
Das gleiche widersprüchliche Bild bieten die Entscheidungen, die den Beweis der Schuld im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB betreffen. Einmal meint der Bundesgerichtshof, der in dieser Frage ebenfalls mehrdeutigen Rechtsprechung des Reichsgerichts831 entnehmen zu können, daß dieses Gericht bei Verstößen gegen Schutzgesetze ständig „für die erste Betrachtung" — d.h. doch wohl aufgrund eines Anscheinsbeweises — die Schuld des Schädigers bejaht habe632; ein anderes Mal beruft sich der BGH auf die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Stütze seiner Auffassung, daß in diesen Fällen eine Verschuldensvermutung eingreife633. Legt diese von demselben Senat des BGH unter Hinweis auf dieselben Entscheidungen des Reichsgerichts634 vorgenommene Gleichstellung von „Vermutung" 829
II ZR 211/65, NJW 1968, S. 543. AaO, S. 545. 831 Die Rechtsprechung des Reichsgerichts (zumindest verschiedene Entscheidungen, vgl. unten N. 634) enthält klare Hinweise auf einen Anscheinsbeweis. Indes kann nicht ausgeschlossen werden, daß vom Reichsgericht in manchen Fällen Beweislastentscheidungen getroffen worden sind. Der Leitsatz, der dem Urteil des RG (16. 1. 28 — VI 307/27) JW 1928, S. 1046, vorangestellt ist und in dem von einer „Beweislastumkehr" gesprochen wird, ist offensichtlich von der Reaktion der Zeitschrift, nicht vom RG selbst verfaßt. 632 BGH (21. 12. 55 — VI ZR 280/54) VersR 1956, S. 190, 191. 633 BGH, VersR 1961, S. 232 (oben N. 621). 634 In den beiden Urteilen (oben N. 632f.) werden u.a. jeweils folgende Reichsgerichtsentscheidungen zitiert: RGZ 91, 72,76 (18.10.17 — VI143/17): „... die Verletzung eines öffentlich-rechtlichen Schutzgesetzes erscheint an und für sich schuldhaft..."; RGZ 113, 630
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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und Anscheinsbeweis den Schluß nahe, daß zumindest in diesen Fällen mit der „Vermutung" ein Anscheinsbeweis bezeichnet werden soll, dann wird die Richtigkeit dieser Annahme durch ein drittes Urteil635 — ebenfalls desselben Senats — wiederum sehr in Zweifel gezogen. Denn dort ist im Hinblick auf die „Verschuldensvermutung" bei § 823 Abs. 2 BGB von einer Beweislastregelung die Rede836, die unverändert bliebe, wenn an die Stelle der Vermutung eine vom BGH für Fälle der Produzentenhaftung entwickelte Beweislastnorm637 trete; diese Entscheidung wird denn auch im Schrifttum als eine Bestätigung der Auffassung angesehen, daß sich bei einer Zuwiderhandlung gegen Schutzgesetze hinsichtlich des Schuldelements die Feststellungslast umkehre638. Die Anforderungen, die der Bundesgerichtshof an den vom Schädiger in der Verschuldensfrage zu führenden Beweis stellt, geben ebenfalls keinen sicheren Aufschluß über den dogmatischen Standort der zugrundeliegenden Auffassung. Da im allgemeinen schuldhaft handelt, wer ein Gesetz verletzt, das er kannte oder kennen mußte, hat der Richter bei seiner Entscheidung auch von dieser auf Erfahrung beruhenden Annahme auszugehen, wenn nicht Tatsachen feststehen, die die Richtigkeit einer solchen Schlußfolgerung ernsthaft in Frage stellen639. Die von der Rechtsprechung erhobene Forderung, der das Schutzgesetz Übertretende müsse „Umstände dartun und beweisen, die geeignet sind, die Annahme seines Verschuldens auszuräumen"640, ist deshalb auch im Rahmen eines Anscheinsbeweises gerechtfertigt. Dagegen bedarf die Feststellung des BGH, daß dieser Beweis vom Schädiger nicht geführt sei, „wenn eine mögliche Ursache ungeklärt geblieben ist, die in der Sphäre seiner Verantwortlichkeit liegt und ein schadensur293, 294 (29. 4. 26—IV 693/25): „...Verletzung des öffentlich-rechtlichen Schutzgesetzes ... rechtfertigt zunächst (für die erste Betrachtung) auch die Folgerungen..., daß die Unterlassung auf einem Verschulden beruhe ..."; RG, JW 1928, S. 1047 (oben N. 631): weil die Verletzung des Schutzgesetzes feststeht, „ist für die erste Betrachtung auch die Folgerung gerechtfertigt, daß die Unterlassung auf einem Verschulden beruht." 635 BGH, NJW 1969, S. 268 (oben N. 621). 636 AaO, S. 274. *37 Vgl. dazu unten S. 180 ff. 638 Lorenz, RabelsZ 34, S. 34ff., AcP 170, S. 368; Rehbinder, JuS 1969, S. 210f.; Kuchinke, Festschrift, S. 124. Anders dagegen Soergel-Zeuner, § 823, Rdn. 358 (Anscheinsbeweis). Vgl. auch Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 923, 925. 839 Wassermeyer, Kollisionsprozeß, S. 90f.; vgl. auch oben S. 96f. 640 BGH, NJW 1969, S. 274 (oben N. 621); ebenso BGH, VersR 1956, S. 191 (oben N. 632); BGH, VersR 1961, S. 232 (oben N. 621); BGH, NJW 1968, S. 1281 (oben N. 617). Ganz ähnlich verlangte das Reichsgericht von dem Schädiger den Beweis, „daß er dasjenige getan hat, was geeignet war, die Ausführung des Gesetzes zu sichern" (RGZ 91, 76 — oben N. 634; ebenso RGZ 113, 294 — oben N. 634; RG — 3. 4. 11 — VI 67/ 10 —JW 1911, S. 542: vgl. auch BGH — 4.4.67 — VI ZR 98/65 — VersR 1967, S. 685, 686) „oder welche besonderen Umstände ... von dem Vorwurf eines für den Unfall ursächlichen Verschuldens entlasten" (RGZ 113, 294, mit weiteren Nachweisen).
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
sächliches Verschulden enthalten würde"641, näherer Erläuterung. Diese Feststellung ist in Verbindung mit § 823 Abs. 2 BGB — soweit ersichtlich — erstmals in einem Urteil des VI. Senats vom 3. 1. 196l642 — getroffen worden. In dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt war es im Keller einer Apotheke zu einer Explosion gekommen, weil ein Benzinbehälter entgegen einem Schutzgesetz nicht ordnungsgemäß verschlossen war. Es bestand die Möglichkeit, daß nicht der beklagte Apotheker selbst, sondern ein bestimmter Verrichtungsgehilfe den Behälter offengelassen hatte. Der BGH, von der Auffassung ausgehend, daß sich der im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB zu erbringende Beweis fehlender Schuld bei Fällen dieser Art mit dem Entlastungsbeweis des § 831 BGB im wesentlichen decke643, faßt nun beide Beweise zusammen und verlangt, der Beklagte solle „Umstände dartun, welche die Annahme eines ihm nach § 823 BGB oder nach § 831 BGB zur Last fallenden Verschuldens zu beseitigen geeignet sind"644. Im Urteil folgt dann der Hinweis, daß dieser Beweis noch nicht geführt sei, wenn in der Sphäre seiner Verantwortlichkeit eine mögliche Ursache, hier sein eigenes Verhalten, ungeklärt geblieben sei. Zum Verständnis dieses Satzes trägt wesentlich das sich anschließende Zitat zweier Entscheidungen desselben Senats bei, des Speiseölfalles645 und des Deckeneinsturzfalles646, beide Musterbeispiele für einen Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit. Im Deckeneinsturzfall findet sich bei Beschreibung der vom Gegenbeweis zu erfüllenden Anforderungen die Bemerkung, die wohl primär in der Formulierung Vorbild füf die hier zu klärenden Ausführungen des BGH im Benzinbehälterfall gewesen sein dürfte. Es heißt dort: der Beklagte müsse Tatsachen beweisen, die die ernsthafte Annahme nahelegten, „daß der Deckenbruch auf Ursachen zurückzuführen ist, die außerhalb seines Organistions- und Verantwortungsbereichs liegen"647. Es geht hierbei nicht, wie es vielleicht den Anschein haben könnte, um die haftungsbegründende Kausalität, sondern um die Verschuldensfrage. Der BGH will den Beklagten darauf hinweisen, daß er den durch die Lebenserfahrung begründeten Schuldvorwurf — der BGH spricht hier wiederum von einer „Vermutung" — durch den Nachweis einer anderen (als der festgestellten) Schadensursache, die keinen Schuldvorwurf gegen ihn begründen würde, entkräften könnte648. Noch aufschlußreicher ist der Speiseölfall·, hier verlangt der BGH für den nach § 831 BGB zu führenden Entlastungsbeweis, daß der Beklagte entweder beweise, welcher Verrichtungsgehilfe den Schaden verursacht habe, damit dann hinsichtlich dieser Person die sorgfältige Auswahl und Leitung nachgewiesen werden kann, oder aber einen solchen Entlastungsbeweis für alle Personen, deren Verhalten als schadensverursachend in Betracht kommt. 641 842 643 644 645 649 847
648
BGH, NJW 1969, S. 274 (oben N. 621). BGH, VersR 1961, S. 231, 232 (oben N. 621). BGH, VersR 1967, S. 686 (oben N. 640). BGH, VersR 1961, S. 232. BGH, VersR 1953, S. 242 (oben N. 215). BGH, VersR 1958, S. 107 (oben N. 213). BGH, aaO. Vgl. oben S. 96 f.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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Dieser Gedanke wird nun offenbar vom BGH im Bezinbehälterfall auf einen Sachverhalt übertragen, in dem nicht mehrere Verrichtungsgehilfen, sondern ein bestimmter Angestellter und der beklagte Betriebsinhaber selbst den Schaden verursacht haben können. Die objektive Verletzung eines Schutzgesetzes steht hier fest; in gleicher Weise wie im Speiseölfall, in dem vergiftetes öl aus dem Betrieb des Beklagten in den Verkehr gelangte, ist im Benzinbehälterfalle nach der Lebenserfahrung anzunehmen, daß der Beklagte an dem ordnungswidrigen Zustand, der in seinem Betrieb zu dem Verstoß gegen das Schutzgesetz führte, ein Verschulden trägt. Der Beklagte kann in beiden Fällen den Schuldvorwurf nicht durch den bloßen Hinweis auf eine Möglichkeit entkräften, die — wenn sie zuträfe — ihn entschuldigen würde. Es genügt demnach nicht, daß der Beklagte behauptet, ein (sorgfältig ausgewählter und geleiteter) Verrichtungsgehilfe habe den ordnungswidrigen Zustand verursacht, wenn er für diese Behauptung keinen Beweis erbringen kann. Der BGH trifft diese Feststellung mit den Worten: „Diesen Beweis hat er nicht geführt, wenn in der Spähre seiner Verantwortlichkeit eine mögliche Ursache, hier ein mögliches schuldhaftes eigenes Verhalten des Beklagten ungeklärt bleibt"649.
In der zweiten Entscheidung, in der dieser Hinweis in ähnlicher Formulierung wiederkehrt660, ist ebenfalls nicht bewiesen, ob der Beklagte selbst oder ein Verrichtungsgehilfe den Schaden durch sein Verhalten ermöglichte; die Erklärungen, die für die vom BGH gestellten Beweisanforderungen im Benzinbehälterfall gefunden worden sind, treffen deshalb auch für den zweiten Fall zu. In beiden Fällen verlangt der BGH von den Beklagten aber keinen Beweis, der über den Rahmen eines Gegenbeweises, der gegen einen Anscheinsbeweis der Schuld geführt wird, hinausgeht. Denn auch für diesen Gegenbeweis reicht der Nachweis der bloßen Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes nicht aus, sondern es müssen dafür Tatsachen festgestellt werden, die den ursprünglich angenommenen Sachverhalt so verändern, daß der Erfahrungssatz, der die Grundlage des Anscheinsbeweises bildet, nicht mehr anwendbar ist861. Die „Umkehr" der Feststellungslast für die Schuld bei § 823 Abs. 2 BGB setzt voraus, daß in Fällen, in denen die tatsächliche Verwirklichung des Merkmals der Schuld ungeklärt bleibt, eine Beweislastregel eingreift und die Ermittlung von Tatsachen fingiert, die ein Verschulden ergeben. Eine solche Beweislastnorm ist nicht durch Richterrecht geschaffen worden; denn dafür wäre zumindest notwendig, daß ihre Geltung unmißverständlich durch die Rechtsprechung festgestellt würde. Es finden sich auch sonst keine Gründe, die sich für eine derartige Beweislastregelung anführen lassen; weder der Zweck der Schutzgesetze im Sinne des §823 Abs.2 BGB652 noch Billigkeitserwägungen653 können zur Rechtfertigung dienen. Der Me
BGH, VersR 1961, S. 232 (oben N. 621). BGH, NJW 1969, S. 274 (oben N. 621). 651 Vgl. oben S. 96f. 652 Leonhard, S. 197; Hainmüller, S. 150; Prölss, S. 102ff.; a.A. Wassermeyer, Beweis, S. 76f.; Heinsheimer, RheinZ 13, S. 7. 653 Lorenz, RabelsZ 34, S. 35f., AcP 170, S. 168f., macht auf die unüberschaubaren Risiken aufmerksam, die bei einer solchen „Beweislastumkehr" in der Produzentenhaftung 650
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Musielak, Bewcislast
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Geschädigte befindet sich bei einem Prozeß in diesen Fällen bereits deshalb in einer günstigen Lage, weil regelmäßig aufgrund der Verletzung des Schutzgesetzes zunächst von dem Verschulden des Schädigers ausgegangen wird. Es spricht manches dafür, daß die „Schuldvermutung", die nach Auffassung des BGH bei Verletzung von Schutzgesetzen wirksam wird, lediglich diese aus der Lebenserfahrung abzuleitende Erkenntnis wiedergeben soll. Ebensowenig unterscheidet sich die. Beweislastregelung, die bei § 823 Abs. 2 BGB für die Kausalität gilt, in ihrem Inhalt von den entsprechenden Beweislastnormen, die hinsichtlich des Kausalitätsmerkmals in anderen Fällen deliktischer Schädigung anzuwenden sind854. Dieser Kausalitätsbeweis wird in gleicher Weise wie der Schuldbeweis bei einer Verletzung von Schutzgesetzen häufig durch Erfahrungssätze erleichtert werden. Denn tritt ein Schaden im Zusammenhang mit einem Verstoß gegen ein Schutzgesetz ein, das gerade Schäden dieser Art verhindern soll, dann deutet die Lebenserfahrung darauf hin, daß jenes rechtswidrige Verhalten für den Schaden ursächlich war655. Für diese Erfahrungsregel, deren Stärke wesentlich von dem jeweiligen Schutzgesetz abhängt656, gibt es naturgemäß erheblich mehr Ausnahmemöglichkeiten als für die Annahme der Schuld in solchen Fällen. Als Beispiel sei die Entscheidung des BGH vom 15. 10 1959657 genannt. Ein Schiff war infolge unsachgemäßen Ladens gekentert, dessen Schiffsführer wegen strafbarer Handlungen das Patent verweigert worden war; außerdem war das Schiff nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Das verbotene Führen eines Schiffes ohne Patent und die vorschriftswidrige Besatzung waren aber für das unsachgemäße Laden und damit für den Unfall ohne jede Bedeutung. Hier spielten Umstände eine Rolle, die den oben beschriebenen Erfahrungssatz unanwendbar sein ließen. Ein ähnliches Beispiel bietet die Entscheidung des BGH vom 21. 1. 1959658. Sowohl Schädiger (Verstoß gegen Beleuchtungsvorschriften und das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr) als auch Geschädigter (Verstoß gegen das Verbot, ein Kraftfahrzeug ohne Führerschein zu führen) hatten Schutzgesetzen zuwidergehandelt. Der Unfall hätte sich jedoch ebenso ereignet, wenn der Geschädigte im Besitz eines Führerscheins gewesen wäre859. durch eine Vielzahl häufig allgemein und abstrakt gefaßter Schutzgesetze (z. B. Maschinenschutzgesetz, vgl. dazu Lukes, JuS 1968, S. 350 f.) entstehen würden. 654 So auch die ganz überwiegende Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung; vgl. oben N. 618. 655 BGH, VersR 1955, S. 761 (oben N. 619); BGH, VersR 1964, S. 1083 (oben N. 619). 656 Wassermeyer, Beweis, S. 76, Kollisionsprozeß, S. 91, unterscheidet zwischen absoluten und relativ wirksamen Schutzgesetzen; bei einem Verstoß gegen Gesetze der ersten Art (z. B. Vorschriften über das Nachtfahrverbot für Schiffe) soll dessen Ursächlichkeit für einen im Zusammenhang damit eintretenden Schaden ohne weiteres feststehen; in anderen Fällen (z.B. Fahren ohne Führerschein) könnte dagegen die Kausalität fraglich sein. Vgl. auch Hofmann, S. 58ff. 857 II ZR 77/58, VersR 1959, S. 985. 658 VersR 1959, S. 277 (oben N. 619). 659 Vgl. dazu auch J. Esser, Schuldrecht I, S. 313f.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
b) Die
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Unfallverhütungsvorscbriften
Nach gleichen Grundsätzen ist bei Zuwiderhandlung gegen Unfallverhütungsvorschiften 2u verfahren. Unfallverhütungsvorschriften, die keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sind6"0, enthalten die Zusammenfassung der in einem Gewerbe gemachten Betriebserfahrungen und zeigen typische Gefährdungsmöglichkeiten eines Gewerbebetriebes auf661. Werden sie nicht beachtet und ereignet sich an der Stelle des Betriebes, an der die gebotenen Maßnahmen unterlassen oder die verbotenen vorgenommen worden sind, sein Unfall, dann muß nach der Lebenserfahrung, die durch die Unfallverhütungsvorschriften eine besondere Bestätigung erhalten hat, davon ausgegangen werden, daß der Unfall auf dem verbotswidrigen Verhalten beruht und bei Beachtung der Vorschriften vermieden worden wäre. Von diesem Erfahrungssatz muß der Richter ausgehen, wenn nicht Tatsachen festgestellt werden, die zu einer anderen Beurteilung führen862. Der Bundesgerichtshof spricht in diesen Fällen wiederum von einer „ Vermutung", die für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Unfallverhütungsvorschrift und den eingetretenen Schaden gelten soll663, und wiederum ist nicht klar, ob diese „Vermutung" eine Beweislastregel darstellt664, oder ob durch sie nur der oben beschriebene Erfahrungssatz zum Ausdruck gebracht werden soll. Eine Analyse dieser Rechtsprechung führt hierbei noch weniger als bei der „Schuldvermutung" des § 823 Abs. 2 BGB zu einem eindeutigen Ergebnis. Denn es gibt Entscheidungen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, daß ein Anscheinsbeweis der Kausalität gemeint ist; ebenso gibt es aber auch andere Entscheidungen, die genauso unmißverständlich einen Anscheinsbeweis in diesen Fällen ablehnen. 680
Ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (vgl. RG — 25. 3. 29 — VI 425/28 — JW 1929, S. 1461) und des BGH (vgl. BGH — 29. 11. 60 — VI ZR 35/60 — VersR 1961, S. 160, 161). Das Schrifttum stimmt weitgehend zu (vgl. Prölss, S. 103 N. 312; Andree, DB 1963, S. 831; Gaupp, S. 91 N. 152; a. A. dagegen Hainmüller, S. 114). 881 BGH (24. 6. 53 — VI ZR 31/52) LM § 823 (E) BGB Nr. 5; BGH (9. 11. 71 — VI ZR 58/70) VersR 1972, S. 149,150; BGH, VersR 1972, S. 768 (oben N. 255) hinsichtlich der Technischen Vorschriften und Richtlinien für die Einrichtung und Unterhaltung von Niederdruckanlagen in Gebäuden und Grundstücken (DVGWTVR Gas 1962), ebenso schon RGZ 95, 238, 240 (3. 4. 19 — VI 11/19). 862 Hanau, S. 135; Prölss, S. 104. 883 BGH, LM § 823 (E) BGB Nr. 5 (oben N. 661); BGH (10. 11. 54 — VI ZR 154/53) VersR 1955, S. 105,106; BGH (8. 5. 56 — VI 48/55) VersR 1956, S. 435; BGH (29. 3. 60 — VI ZR 84/59) VersR I960, S. 614, 615; BGH VersR 1961, S. 160f. (oben N. 660); BGH (19. 3. 63 — VI ZR 146/62) VersR 1963, S. 835; BGH (12. 4. 64 — VI ZR 35/63) VersR 1964, S. 942, 944. * So wird diese Vermutung aufgefaßt von Gaupp, S. 91; Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, S. 15f., Festschrift;Larenz(1973),S.916ff. insbes. N. 45; Hofmann, S. 34f.; vgl. auch Prölss, S. 103 f. 11»
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung Als Beispiel sei einmal die Entscheidung des BGH vom 8. 5. 1956M5 angeführt. In diesem Urteil erklärt der BGH, nachdem er auf die „Kausalitätsvermutung" hingewiesen hat, daß die Feststellungen des Berufungsgerichts genügten, „2unächst einmal" den ursächlichen Zusammenhang anzunehmen. Damit würde sich auch die Rüge der Revision erledigen, daß die Grundsätze des prima-facie-Beweises verkannt worden wären. Das Berufungsgericht habe auf die ständige Rechtsprechung des Senats hingewiesen und ausgeführt, es sei zu vermuten, daß bei Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften der Unfall vermieden worden wäre. Der BGH erklärt dann: „Diese Ausführungen des Berufungsgerichts lassen erkennen, daß es sich nicht mit der Feststellung begnügt hat, ein bestimmter Geschehensablauf sei möglich, sondern angenommen hat, die Erfahrung des Lebens begründe hier die hohe Wahrscheinlichkeit, daß das Fehlen von Sicherungsmaßnahmen mitursächlich für den Unfall war". Erneut wird anschließend auf die „Kausalitätsvermutung" hingewiesen,die hier eingreife. Um eine Beweislastregelung kann es sich dabei schon deshalb nicht handeln, weil die Kausalitätsfrage vom BGH als geklärt angesehen wird. In der Entscheidung vom 9. 11. 19716e5" beruft sich der BGH ebenfalls auf eine ständige Rechtsprechung, nach der in Fällen dieser Art ein Anscheinsbeweis dafür spreche, daß der Unfall vermieden worden wäre, wenn die Unfallverhütungsvorschriften eingehalten worden wären. Dagegen die Entscheidung des BGH vom 19.3.1963 : Das Berufungsgericht667 lehnt in einem Schadensersatzprozeß wegen eines Brandes einen Anscheinsbeweis ab, weil verschiedene gleichwertige Möglichkeiten der Brandverursachung in Betracht kommen. Der BGH billigt diese Entscheidung, bejaht aber dann eine „Vermutung" für die Kausalität. Wenn der BGH die sonst von ihm für den Beweis der haftungsbegründenden Kausalität gestellten Wahrscheinlichkeitsanforderungen zugrundegelegt hat668, dann kann es sich allerdings nicht um eine Beweislastentscheidung handeln, weil die „vermutete" Schadensursache im Vergleich zu den anderen ebenfalls in Betracht kommenden Ursachen entgegen der Auffassung des OLG München doch ein deutliches Wahrscheinlichkeitsübergewicht für sich hat.
Überzeugende Gründe für eine „Umkehr" der Feststellungslast lassen sich dieser Rechtsprechung nicht entnehmen. Deshalb kann daran festgehalten werden, daß bei der Zuwiderhandlung gegen Unfallverhütungsvorschriften regelmäßig ein Erfahrungssatz eingreift, der die Grundlage für einen Anscheinsbeweis der Kausalität bildet. Die „Beweislast", die sich in diesen Fällen „umkehrt"669, ist deshalb lediglich die Beweisführungslast; Beweislastnormen und Feststellungslast bleiben unverändert. 665
VersR 1956, S. 435 f. (oben N. 663). VersR 1972, S. 150 (oben N- 661); vgl. auch BGH; VersR 1972, S. 768 (oben N. 255); BGH (6. 11. 73 — VI ZR 76/72) VersR 1974, S. 263, 264; OLG Frankfurt (6. 3. 70 — 10 U 21/68) VersR 1972, S. 105, 106. 666 VersR 1963, S. 835 (oben N. 663). Es handelt sich hierbei um die Verletzung eines Schutzgesetzes, bei der nach Meinung des BGH eine gleiche Beweislastregelung hinsichtlich der Kausalität wie bei einem Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften angewendet werden soll (vgl. a.aO, S. 836). 667 OLG München (23. 2. 62 — 8 U 610/60) VersR 1962, S. 1113. 688 Vgl. oben S. 121 ff. 669 Es ist bemerkenswert, daß der Bundesgerichtshof in diesen Fällen nicht von einer „Beweislastumkehr" spricht. Nur das Reichsgericht hat in einer Entscheidung (RGZ 665a
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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V. Der Organisations- und Gefahrenbereich a) Die Beweis lastrege lung bei der positiven Forderungsverletzung Die Frage, ob die Vorschriften der § 282, 285 BGB einen allgemeinen Rechtsgrundsatz enthalten, der auch auf Fälle positiver Forderungsverletzung anzuwenden ist, wird von der Rechtsprechung und vom Schrifttum verschieden beantwortet. Das Schrifttum ist überwiegend der Auffassung daß sich bei Verletzung einer im Schuldverhältnis begründeten Pflicht die Beweislast für das Verschulden „umkehre" und es zur Sache des Schuldners werde, seine Schuldlosigkeit an dieser Pflichtverletzung nachzuweisen670. Die Rechtsprechung dagegen hat eine solche allgemeine Regelung bisher abgelehnt671 und eine Lösung unter Berücksichtigung der Vertragsart und der Schadensursache gesucht672. Das Reichsgericht9113 bejahte bei Beförderungs-, Werk-, Dienst-, Gastaufnahme- und ähnlichen Verträgen eine „Beweislastumkehr", „wenn sich aus der Sachlage zunächst der Schluß rechtfertigt, der Unternehmer ... habe die aus dem Vertrag ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt"674. Der 128, 320, 329 — 28. 4. 30 — VI 458/29) erklärt, „daß sich für die Frage des ursächlichen Zusammenhangs die Beweislast umkehrt, wenn der Unternehmer Unfallverhütungsvorschriften nicht beachtet." Die anderen Entscheidungen des Reichsgerichts, auf die der erkennende Senat zur Stütze seiner Auffassung sich beruft, bestätigen aber diese Ansicht nicht, sondern nehmen offenbar einen Anscheinsbeweis an (vgl. RGZ 95, 240 — oben N. 661; RG, JW 1929, S. 1461 — oben N. 660). Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß mit dem Begriff „Beweislast" vom Reichsgericht die Beweisführungslast gemeint ist. 670 Raape, AcP 147, S. 217ff.; Enneccerus-Lehmann, S. 238; Rosenberg, Beweislast, S. 350ff., 360ff.; Staudinger-Werner, § 282, Rdn. 12; Blomeyer, Schuldrecht, S. 163; Krönig, MDR 1953, S. 648f.; Baumgärtel,MDR 1959, S. 207; Baur, S. 86; Hainmüller, S. 157ff.; Meißner, S. 117ff., 123; Rosenthal, § 282, Anm. 1; Neumann-Duesberg, BlGBW1967, S. 127. Einschränkend: Stoll, Festschrift, S. 515ff., 523ff. (nur bei Verletzung von Leistungspflichten, nicht von Schutzpflichten — zum Begriff: aaO, S. 526 oben); ebenso Wassermeyer, Beweis, S. 88f.; Gaupp, S. 61. Für eine differenzierte Lösung auch J.Esser, Schuldrecht I, S. 390; Lindenmaier, S. 349 ff., 357 ff. (nur für bestimmte Vertragsarten); Fikentscher, S. 231f.; Larenz, Schuldrecht I, S. 273ff. (wie Rechtsprechung); ebenso Brox, S. 157; Schlechtriem, VersR 1973, S. 583; Schmidt-Salzer, Produkthaftung, S. 242 ff. 671 Ausnahmen sind selten, so BAG (8. 2. 57 — l AZR 169/55) NJW 1957, S. 647, 648; OLG Schleswig (8. 7. 54 — 4 U 299/53) MDR 1954, S. 738, 739. 872 BGH (26. 9. 61 — VI ZR 92/61) NJW 1962, S. 31, 32: Die Rechtsprechung hat bislang „immer der Art der Vertragsbeziehungen und der Art der Schadensquelle Bedeutung beigemessen." 673 RG (9. 10. 34 — VII 138/34) JW 1935, S. 122; RG (6. 11. 34 — VII 155/34) JW 1935, S. 115; RG (6. 9. 38 — VIII 35/39) JW 1938, S. 2976; RGZ 148, 148 (18. 6. 35 — VII398/34); RGZ 160,153 (4. 4.39 — VE 169/38); RGZ 169, 84, 97 (30. 3. 42 — V 120/ 41); RG (19. 8. 43 — III 36/43) DR 1944, S. 182, 184. 674 RG, JW 1935, S. 115 (vorige N.), hier ausdrücklich als Anscheinsbeweis bezeichnet; auch in anderen Entscheidungen wird entweder ausdrücklich von einem Anscheinsbeweis
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Bundesgerichtshof™ hat den vom Reichsgericht mehr beiläufig erwähnten Gedanken des Gefahrenkreises aufgegriffen und in den Mittelpunkt seiner Erwägungen gestellt, ob die Schadensursache im Gefahren- und Organisationsbereich des Schädigers liege676. Diese Auffassung begründet der BGH damit, „daß der Gläubiger die Vorgänge im Organisations- und Gefahrenbereich des Schuldners nicht wie dieser überblicken kann und daß er sich im allgemeinen darauf verläßt, daß der Schuldner alles tun werde, um die mit einer solchen Leistung typischer Weise verbundenen Gefahren fernzuhalten"677; „dem Berechtigten sei es im Schadensfalle nicht zuzumuten, einen Beweis über Vorgänge zu führen, die seinem Gefahrenbereich und in der Regel auch seiner Sachkenntnis entzogen sind"678. Das Reichsgericht hat erstmals im Wasserwellenfall6'9 2usätzlich den Gefahrenkreis des Schuldners erwähnt und die Ansicht vertreten, es sei bei einem Anspruch auf Schadensersatz wegen positiver Forderungsverletzung bis zum Beweis des Gegenteils der „Beweis eines Verschuldens schon dann als geführt anzusehen, wenn nachgewiesen ist, daß die Ursache aus einem Gefahrenkreis hervorgegangen ist, für den im Zweifel der Beklagte verantwortlich ist"680. Diese Ausführungen weisen auf einen Anscheinsbeweis hin („der Beweis eines Verschuldens als geführt anzusehen); ausdrücklich erwähnt dann das RG noch, daß die „Beweispflicht" des Unternehmers mit den Grundsätzen des prima-facie-Beweises vereinbar seien. Der Gedanke des Gefahrenbereichs kehrt dann in späteren Entcheidungen wieder681. gesprochen oder den Ausführungen ist zu entnehmen, daß ein solcher Beweis gemeint ist (vgl. Stoll, Festschrift, S. 518; E. Pawlowski, S. 77, 80; Schönke, DR 1944, S. 185). 678 Vgl. BGHZ 8, 239, (18.12. 52 — VI ZR 54/52); BGH (11. 2. 57 — VII ZR 236/56) NJW1957, S. 746; BGH (8. 5. 58 — II ZR 304/56) VersR 1958, S. 441; BGH (23.10. 58 — VII ZR 22/58) NJW 1959, S. 34; BGH (17. 2. 59 — VIII ZR 47/58) LM § 377 HGB Nr. 6, Bl. 4; BGH (9. 7. 59 — VII ZR 149/58) VersR 1959, S. 948; BGH (29. 10. 59 — VII ZR 176/58) VersR 1960, S. 344; BGH, NJW 1962, S. 31, 32 (oben N. 672 — Anwendung gleicher Grundsätze auf einen Fall derculpa in contrahendo, vgl. dazu unten S. 179; BGH (16. 1. 62 — VI ZR 133/61) VersR 1962, S. 325; BGH (16. 10. 63 — VHI ZR 28/ 62) NJW 1964, S. 33,35f.; BGH (27. 2. 64 — VII ZR 207/62) VersR 1964, S. 632; BGH (12. 10. 67 — VII ZR 8/65) NJW 1968, S. 43, 44 — Anwendung gleicher Grundsätze auf einen Schadensersatzanspruch nach § 635 BGB; BGH (18. 9. 68 — I ZR 22/67) NJW 1968, S. 2240. 676 Die vom BGH in Übereinstimmung mit dem RG zusätzlich genannte Voraussetzung, „wenn sich nach der Sachlage zunächst der Schluß rechtfertigt, daß der Unternehmer die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt hat (so z. B. BGH, VersR 1958, S. 441 — oben N. 675), findet sich möglicherweise aufgrund der dagegen erhobenen Kritik (vgl. Prölss, S. 71 f.) in neueren Entscheidungen nicht mehr. Welche Bedeutung dieser Voraussetzung zukommen soll, ist bis zuletzt unklar geblieben. 677 BGH, NJW 1968, S. 2240 (oben N. 675). 878 BGH, NJW 1964, S. 35 (oben N. 675). 679 RGZ 148, 148 (oben N. 673). 680 AaO, S. 150. 881 Vgl. RG (4. 3.37 — VI 377/36) JW1937, S. 2190,2192; RG, DR 1944, S. 184 (oben N. 673); Schönke, DR 1944, S. 185.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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In der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen die übrigen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs wegen positiver Forderungsverletzung feststehen, in denen also unstreitig oder erwiesen ist, daß der Schaden des Gläubigers durch ein Verhalten des Schuldners oder seines Erfüllungsgehilfen verursacht wurde, das objektiv eine Verletzung vertraglicher Leistungs- oder Verhaltenspflichten darstellt682, wird bereits aufgrund dieser Feststellungen ein Verschulden des Verantwortlichen zu bejahen sein683. Denn bei Anwendung eines objektiven und typisierten Fahrlässigkeitsmaßstabes684 erscheint ein solcher objektiver Pflichtverstoß, wenn Vorsatz auszuschließen ist, im allgemeinen als fahrlässig, so daß der Richter von dieser Bewertung ausgehen wird, falls nicht glaubhafte Entschuldigungsgründe vorgetragen werden. Die größeren Schwierigkeiten entstehen denn auch häufiger bei Klärung der Frage, ob eine objektive Pflichtwidrigkeit des Schuldners den Schaden des Gläubigers verursacht hat. Hierbei kann sich viel eher ein non liquet ergeben und die Notwendigkeit eintreten, Beweislastnormen anzuwenden. Die Rechtsprechung des BGH bestätigt diese Auffassung. Allerdings erwecken eine Reihe von Entscheidungen den Eindruck, als wenn das Gericht die Gefahrenkreistheorie keineswegs auf die Verschuldensfrage beschränkt, sondern auch anwendet, wenn tatsächliche Zweifel über die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der positiven Forderungsverletzung entstehen685. So war in dem vom BGH entschiedenen Schleppkabnfall™ der Kahn des Klägers, der im Schleppverband vom Boot des Beklagten geschleppt wurde, durch Grundberührung beschädigt worden. Es war streitig, ob die Grundberührung Folge einer falschen Steuerung des Schleppbootes war oder auf einer anderen Ursache beruhte. Der BGH grenzte die Gefahrenkreise des Klägers (für Einrichtung, Ausrüstung, Beladung und Bemannung seines Kahnes sowie für richtiges Nachsteuern während der Fahrt) und des Beklagten gegeneinander ab und stellte fest, es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, daß die Schadensursache im Verantwortungsbereich des Klägers oder eines Dritten liege. Deshalb sei es Sache des Beklagten, sich für seinen Verantwortungsbereich zu entlasten und zu beweisen, daß er mit seinem Boot im Fahrwasser geblieben und nicht in die Nähe einer Untiefe geraten wäre. Im Wettbewerbsfall™ ging es darum, ob der Beklagte, der verpflichtet war, alles zu unterlassen, was die störungsfreie Fortführung seines an die Klägerinnen verkauften Betriebes gefährden könnte, durch einen Verstoß 682
Vgl. Larenz, Schuldrecht I, S. 272; Prölss, S. 65. Darauf weist auch Raape, AcP 147, S. 218f., hin; ebenso Güldner, S. 43; ähnlich auch Prölss, S. 84. 884 Vgl. oben S. 89 f. 688 Dies nehmen insbesondere Prölss, S. 67ff., und Larenz, aaO, S. 273ff., an. Vgl. auch Stoll, Festschrift, S. 522. «8 BGH, VersR 1958, S. 441 (oben N. 675). 887 BGH, NJW 1968, S. 2240 (oben N. 675). 683
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
gegen diese Pflicht den Klägerinnen einen Schaden zugefügt hatte. Der BGH meinte, die Verletzung der Pflicht, sich jeder Förderung des Wettbewerbs zu enthalten, und das Abwandern von Kunden und Angestellten des Unternehmens der Klägerinnen würden im Gefahrenbereich des Beklagten liegen. Deshalb müßte der Beklagte beweisen, „daß sein Verhalten für den eingetretenen Schaden nicht ursächlich oder mitursächlich gewesen ist, daß vielmehr die Ursache für das Abwandern der Kunden und den Weggang der Kraftfahrer allein in den Klägerinnen zuzurechnenden innerbetrieblichen Verhältnissen zu suchen ist"688. Die Frage, ob in diesen Fällen die klärungsbedürftigen Zweifel den objektiven oder subjektiven Tatbestand betreffen, läßt sich nur beantworten, wenn der Inhalt der Vertragspflichten ermittelt ist, um deren Verletzung es sich handelt689. Denn geht man mit dem BGH690 davon aus, daß nach dem Schleppvertrag der beklagte Unternehmer verpflichtet sei, „den geschleppten Kahn unversehrt an seinen Bestimmungsort zu bringen", daß also eine „obligation de resultat" im Sinne des französischen Rechts691 geschuldet wird692, dann ist diese Pflicht bereits bei jeder Beschädigung des Kahns während des Schleppens, gleichgültig aus welchem Grund auch immer, verletzt, und es bleibt im Schleppkahnfall in der Tat nur noch, über die Verschuldensfrage zu entscheiden. Dies wird von Prölss693 nicht ausreichend berücksichtigt, der anhand des Schleppkahnfalles, des Lastwagenfalles894 und des Wasserhahnfalles895 nachweisen will, daß der BGH die Gefahrenkreistheorie auf den objektiven Tatbestand ausdehnt. Im Lastwagenfall wird der Kläger als Mitfahrer im LKW des Beklagten verletzt, es läßt sich nicht klären, ob der Unfall auf das Verhalten eines Dritten oder des Erfüllungsgehilfen des Beklagten zurückzuführen ist. Im Wasserhahnfall wird ein Wasserfall in einem Toilettenraum, den der beklagte Vermieter und ein anderer Mieter gemeinsam benutzen, nicht geschlossen. Dadurch entsteht in den darunter liegenden Räumen des Klägers ein Schaden. Es bleibt ungeklärt, wer den Wasserhahn offengelassen hat. Wird jedoch vom Schuldner die Unversehrtheit des Klägers während der Mitfahrt im LKW69· oder die Abwendung aller aus dem Mietshaus hervorgehenden schädigenden Einwirkungen auf die vermieteten Räume des Klägers697 geschuldet, dann steht auch in diesen Fällen mit dem 688
AaO, S. 2241. Vgl. hierzu Stoll, Festschrift, S. 538 ff. 690 BGH, VersR 1958, S. 441. 691 Vgl. Stoll, aaO, S. 539f., 542ff. 692 Da es hier darum geht, Umfang und Anwendungsmöglichkeiten der Gefahrenkreistheorie des BGH kennenzulernen, braucht nicht der Frage nachgegangen zu werden, welche vertraglichen Verpflichtungen der Unternehmer durch den Schleppvertrag im Regelfall übernimmt, Vgl. dazu A. Walther, Internationale Fragen, S. 76ff. 693 S. 67ff., VersR 1964, S. 902. 694 BGHZ 8, 239 (oben N. 675). 695 BGH, NJW 1964, S. 33 (oben N. 675). 696 So Stoll, Festschrift, S. 542ff.; anders Wassermeyer, Beweis, S. 93f. 697 So Stoll, aaO, S. 548f. 689
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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Schaden die Verletzung der vertraglich übernommenen Pflicht fest und die tatsächlichen Zweifel beziehen sich nur auf die Verschuldensfrage698.
Dagegen bereitet im Wettbewerbsfall die Feststellung der verletzten Vertragspflicht keine Schwierigkeiten; in diesem Fall kommt es eindeutig darauf an, ob die vertragswidrige Förderung eines fremden Wettbewerbs seitens des Beklagten den Schaden der Klägerinnen verursacht hat; wird dies bejaht, dann löst sich die Verschuldensfrage von selbst699. Der BGH will der Wettbewerbsfall nach folgender Regel entscheiden: „Wenn die Schadensursache, die im einzelnen nicht zu ermitteln ist, innerhalb des Gefahrenbereichs gelegen ist, für den der Schuldner die Verantwortung trägt, insbesondere wenn dem Schuldner objektiv eine Pflichtverletzung zur Last fällt, (ist) zu vermuten ..., daß die Ursache für den Schaden in dem pflichtwidrigen und schuldhaften Verhalten des Schuldners zu suchen ist; dieser hat dann den Gegenbeweis zu führen, daß die maßgebliche Ursache eine andere ist oder ihn kein Verschulden trifft"700. Diese Regel wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Zunächst ist zu fragen, was eigentlich der Gefahren- und Organisationsbereich einer Partei ist und wie er abgegrenzt werden muß, wenn der BGH im Wettbewerbsfall mit Selbstverständlichkeit davon ausgeht, daß der Weggang von Kunden und Angestellten in den Gefahrenbereich des Beklagten fällt, andererseits aber von ihm den Beweis erwartet, daß innerbetriebliche Verhältnisse im Unternehmen der Klägerinnen für die Abwanderung ursächlich waren. Weiter ist eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob es sich bei der Vermutung, die der BGH in diesen Fällen bildet, um eine Beweislastregel handeln soll oder ob auch hier701 damit nur auf einen Erfahrungssatz hingewiesen wird. Schließlich bleibt zu klären, in welchem Verhältnis diese „Vermutung" zu der aus § 282 BGB abgeleiteten Beweislastregelung steht, die sich nach Ansicht des BGH nur auf das Verschulden, nicht auf die Ursächlichkeit eines Verhaltens für den Schaden beziehen soll702. 698
So klarstellend zum Schleppkahnfall und zum Wasserhahnfall BGH (21. 5. 70 — VII ZR 175/68) VersR 1970, S. 831, 832; (vgl. auch unten N. 730). 689 Die Bedeutung des Inhalts der verletzten Vertragspflicht wird damit offensichtlich. Dies dürfte auch eine Erklärung sein, warum insbesondere das Reichsgericht eine an einzelnen Vertragstypen orientierte Lösung bevorzugt hat (vgl. auch E. Pawlowski, S. 87ff.). 700 BGH, NJW 1968, S. 2240 (oben N. 675). 701 Vgl. oben S. 157ff., 161 f. 702 BGH (10.1. 63 — VT! ZR 174/61) VersR 1963, S. 385, 386; BGH (23. 4. 64 — VII ZR 154/62) VersR 1964, S. 1063,1064; BGHZ 42,16 (25. 5. 64 — VII ZR 239/62); BGH (21. 12. 65 — VI ZR 161/64) VersR 1966, S. 292; BGH (17. 12. 68 — VI ZR 212/67) NJW 1969, S. 553, 554; BGH, VersR 1970, S. 832 (oben N. 698); BGH (7. 2. 74 — VII ZR 93/73) DB 1974, S. 718; ebenso BAG (30. 6. 72 — 3 AZR 490/71) DB 1972, S. 2165. Dagegen ist im Schrifttum diese Frage streitig; dort wird auch die Auffassung vertreten, daß § 282 BGB die Frage der Kausalität mitumfasse (Hainmüller, S. 152 ff., mit weiteren Nachweisen in N. 476); ebenso auch OLG Koblenz (30.3.65 — 6a W 37/65) NJW 1965, S. 2347,2348, mit ablehnender Anmerkung von Fichtner, NJW 1966, S. 554; OLG Hamburg (19. 11. 70 — 6 U 107/70) VersR 1972, S. 658). Vgl. auch Hanau, S. 38, 118.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
Der Bundesgerichtshof hat den Begriff des Gefabren- und Organisationsbereichs nie umfassend definiert, sondern ihn jeweils im Einzelfall abgegrenzt703. In manchen Entscheidungen wird dieser Bereich mit dem räumlich-gegenständlichen Obhutsbereich gleichgesetzt, den eine Partei rechtlich und tatsächlich innehat704. Andere Entscheidungen dehnen den Gefahrenkreis auf alle Vorgänge aus, die eine Partei gegenüber der anderen zu beherrschen in der Lage ist, also insbesondere auf das eigene Verhalten der Parteien705. Im Schleppkahnfall wird die Schadensursache bereits deshalb dem Verantwortungsbereich des Beklagten zugewiesen, weil feststeht, daß sie nicht in den Gefahrenkreis des Klägers oder eines Dritten liegt. Die Möglichkeit, daß der Schaden auf ein Ereignis zurückzuführen ist, das der Beklagte nicht zu beeinflussen vermag706, hindert den BGH nicht, von ihm den Entlastungsbeweis zu verlangen. Bei einer derartig weiten Auffassung des Gefahren- und Verantwortungsbereichs wird aber für den Beweis des Verschuldens der durch die Gefahrenkreistheorie zusätzlich aufgestellten Forderung, daß die Schadensursache im Gefahrenbereich des Schuldners liegt, kaum praktische Bedeutung zukommen können. Denn bei Vertragspflichten, die nur durch ein Handeln des Schuldners oder seines Erfüllungsgehilfen verletzt werden können, ist diese Voraussetzung bei jedem Pflichtverstoß erfüllt, weil das Verhalten des Schuldners und seines Erfüllungsgehilfen als sein „Gefahrenkreis" gilt707. 703
Um eine Begriffsklärung bemüht sich Prölss, S. 83ff.; vgl. auch Stoll, Festschrift, S. 521; Larenz, Schuldrecht I, S. 274f. 704 Als Beispiel sei wiederum auf den Schleppkahnfall (oben S. 167) hingewiesen; in ihm ist der Gefahrenbereich des Beklagten sein Schleppboot und alle davon ausgehenden Wirkungen. Weitere Beispiele sind: der Lastwagen des Beklagten (BGHZ 8, 239 — oben N. 675), die Geschäftsräume des Beklagten (BGH, NJW 1962, S. 31 — oben N. 672), die mitbenutzten Räume des Beklagten (BGH, NJW 1964, S. 33 — oben N. 675). Ob noch eine Abgrenzung von überschneidenden Gefahrenbereichen des Gläubigers oder Dritten erforderlich wird, richtet sich nach dem jeweiligen Sachverhalt; vgl. dazu unten S. 172 ff. 705 Ein Beispiel dieser Gruppe ist der Wettbewerbsfall (oben S. 167 f.); hier wird zum Gefahrenbereich des Beklagten sein vertragswidriges Verhalten („die Verletzung der Verpflichtung, sich jeder Forderung eines Wettbewerbs zu enthalten") gerechnet. Weitere Beispiele sind: Verursachung eines Brandes beim Auftauen einer Wasserleitung (BGH, VersR 1960, S. 344 — oben N. 675); Einfüllen einer zu großen Menge Heizöls, das zum Platzen von Öltanks infolge Überdrucks führt (BGH, VersR 1964, S. 632 — oben N. 675). 706 Als die wahrscheinlichste Schadensursache kommen im Schleppkahnfall wohl Wrackteile in Betracht, die sich unbemerkbar für den Führer des Schleppbootes in der Mitte des Flusses befunden haben (BGH, VersR 1958, S. 442 — oben N. 675). 707 Staudinger-Werner, § 282, Rdn. 12: „Wenn aber die Schadensursache eine positive Vertragsverletzung durch den Schuldner darstellt, so ist nicht recht vorstellbar, wie sie nicht in seinem .Gefahrenkreis' liegen könnte"; zustimmend Fuchs, NJW 1968, S. 836; im gleichen Sinn auch Güldner, S. 124; Hainmüller, S. 154, 157 („kleiner Schritt... bis zur grundlegenden Analogie zu § 282 BGB").
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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Bezeichnend dafür ist, daß die Ablehnung des BGH, eine § 282 BGB entsprechende Besweislastregel auch auf den Ar^tvertrag anzuwenden708, keineswegs mit Erwägungen der Gefahrenkreistheorie begründet wird (Dies wäre auch nicht möglich, weil gerade die Gründe, auf die diese Theorie gestützt wird, besonders auf ärztliche Pflichtverstöße zutreffen), sondern mit der spezifischen Art ärztlicher Leistung, die nicht mit der gewöhnlichen Dienstleistung vergleichbar wäre. Dieser ablehnenden Auffassung des BGH kann jedoch nicht gefolgt werden. Bei zutreffender Wertung der Leistungspflicht des Arztes, die in der sorgfältigen Behandlung des Patienten nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst besteht709, gibt es keinen triftigen Grund, den Arzt hinsichtlich des Beweises der Schuld zu bevorzugen. Denn eine unzumutbare Belastung des Arztes bei einer solchen Beweislastregelung, die mit der besonderen Art ärztlicher Leistungen unvereinbar wäre, würde nur eintreten, wenn bereits bei jeder Schädigung eine Pflichtwidrigkeit des Arztes bejaht werden müßte und der Arzt so mit dem Risiko der Aufklärung unklarer Krankheitsverläufe belastet wäre. Dies ist aber nach der oben vorgenommenen Beschreibung und Abgrenzung der vom Arzt geschuldeten Leistung nicht der Fall. Für die Beweislastregelung bei der positiven Forderungsverletzung im Rahmen von Arztverträgen können deshalb die gleichen Grundsätze wie bei anderen Verträgen auch angewendet werden710.
Bei Verträgen, bei denen ein bestimmter Erfolg geschuldet wird, den auch ein Dritter oder der Gläubiger selbst vereiteln kann, bedarf es nach der Gefahrenkreistheorie zwar noch der Klärung, ob die Schadensursache nicht in die Sphäre des Gläubigers oder des Dritten fällt, indes ist nicht zu sehen, welcher praktische Vorteil dem Schuldner dadurch gegenüber einer ausnahmslosen Zuweisung der Feststellungslast für das Verschuldenselement eingeräumt wird. Denn in den seltenen Fällen dieser Kategorie, in denen die „Sachlage" noch nicht einmal den Schluß rechtfertigt, daß der Schuldner eine ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt hat — von dieser Voraussetzung macht der BGH im Schleppkahnfall die Zuordnung der Schadensursache zum Gefahrenbereich des Unternehmers abhängig711 —, 708
BGH (4. 4. 67 — VI ZR 175/65) VersR 1967, S. 663, 664; BGH, NJW 1969, S. 554 (oben N. 702). 709 Vgl. Stoll, Festschrift, S. 553f.; Gaupp, S. 65f.; Dunz, S. 21. 710 So auch Stoll, aaO, S. 554; Palandt-Heinrichs, § 282, Anm. 2e, Soergel-Reimer Schmidt, § 276, Rdn. 36; Gaupp, S. 67f.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1062; Güldner, S. 115ff. (jedoch ohne Berücksichtigung des Inhalts der ärztlichen Leistungspflicht); a. A. RGRK-Nastelski, § 282, Anm. 4; Geigel, S. 1232 (Rdn. 25); Locher, S. 263; weitere Nachweise bei Gaupp, S. 63 N. 29. 711 Die Notwendigkeit eines Entlastungsbeweises durch den Schuldner wird daran geknüpft, daß „sich aus der Sachlage zunächst der Schluß rechtfertigt, daß der Unternehmer die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt hat und die Schadensursache aus dem Gefahrenkreis des Unternehmers hervorgegangen ist" (BGH, VersR 1958, S. 441 — oben N. 675). Für die Annahme, daß die Schadensursache in dem Gefahrenbereich des Unternehmers zu suchen ist, läßt der BGH — wie bereits ausgeführt (vgl. ohne zu N. 706) — jedoch schon genügen, daß sie nicht im Verantwortungskreis des Geschädigten oder eines Dritten liegt.
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wird die Feststellung seiner Schuldlosigkeit, die bei einer entsprechenden Anwendung des § 282 BGB erforderlich würde, kaum schwerfallen712. Bedeutet die Gefahrenkreistheorie folglich in der praktischen Konsequenz keine wesentliche Einschränkung gegenüber der von der herrschenden Lehre im Schrifttum befürworteten generellen „Umkehr der Beweislast" für das Merkmal des Verschuldens in Fällen positiver Forderungsverletzung713, dann bleibt zu klären, ob diese Theorie nicht ihre eigentliche Bedeutung im Bereich des objektiven Tatbestandes erhält. Zumindest der Wettberwerbsfall scheint darauf hinzuweisen, daß mit ihrer Hilfe eine Entscheidung in Fällen zu finden ist, in denen die genaue Schadensursache nicht sicher feststeht. Die Regel, die der BGH hierfür aufstellt, scheint das Problem klar und bestechend einfach zu lösen: Fällt die Schadensursache in den Gefahrenbereich des Schuldners, dann ist davon auszugehen, daß er sie pflichtwidrig und schuldhaft verursacht hat714. Die Schwierigkeiten beginnen aber, wenn entschieden werden soll, ob die (nicht ermittelte) Schadensursache im Gefahrenkreis des Schuldners, des Gläubigers oder eines Dritten zu suchen ist. Selbst indem wohl eindeutigsten Fall, daß ein schädigendes Ereignis im räumlich-gegenständlichen Herrschaftsbereich des Schuldners stattfindet, kann nicht ohne weiteres angenommen werden, daß die Schadensursache deshalb auch in seinen Gefahrenkreis fällt. Denn Gefahrenkreis können sich — wie der Schleppkahnfall zeigt — überschneiden und der des Gläubigers oder eines Dritten auch in den räumlich-gegenständlichen Herrschaftsbereich des Schuldners hineinreichen. Deshalb genügt beispielsweise noch nicht die Feststellung, daß der Gläubiger in den Räumen oder auf dem Grundstück des Schuldners einen Unfall erlitten hat, weil dann offenbleibt, ob die Schadensursache nicht in dem Verhalten des Gläubigers, also in seinem eigenen Gefahrenkreis, liegt715 Es bedarf deshalb eines zusätzlichen Anhaltspunktes, der die Zuordnung ermöglicht. 712
E. Pawlowski, S. 103, will den Begriff der „Sphäre" zur Abgrenzung der Pflichten des Schuldners verwenden und ihn mit seinem rechtlichen Verantwortungsbereich gleichsetzen. Dieser Bereich soll die Grenze umreißen, bis zu der dem Schuldner Verhaltenspflichten auferlegt werden können. Daß diese Betrachtung nichts mehr mit einer beweisrechtlichen Gefahrenkreistheorie in dem vom BGH verstandenen Sinn gemein hat, liegt auf der Hand. Auch Stoll, Festschrift, S. 556, meint, daß der Verantwortungsbereich des Schuldners durch den Vertrag bestimmt werde und lehnt die „vage Idee spezifisch beweisrechtlicher Verantwortungsbereiche" ab. 713 Vgl. Blomeyer, Schuldrecht, S. 163. 714 Vgl. BGH, NJW 1968, S. 2240 (oben N. 675), s. dazu oben S. 167f. 715 So ausdrücklich Prölss, S. 83f. N. 244. J. Esser, Schuldrecht I, S. 390, meint denn auch unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Düsseldorf (12.10.65 — 4 U 166/65) NJW 1966, S. 736 f. (gemeinsamer Gefahrenbereich von Fahrlehrer und Fahrschüler bei einem Unfall mit dem Fahrschulauto), daß die bloße räumliche Abgrenzung von Obhuts- und Arbeitsbereichen nichts hergebe, wo beide Parteien Zutritt hätten. Die Richtigkeit dieser Auffassung werden die folgenden Ausführungen bestätigen.
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Ein solcher Anhaltspunkt kann in der Ermittlung eines zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeigneten Mangels oder verkehrswidrigen Zustandes im Organisationsbereich des Schuldners bestehen716. Allerdings wird in diesem Fall die gesamte Konstruktion des Gefahren- und Organisatiosbereich.es entbehrlich, weil die Entscheidung dann gerade nicht aufgrund des Sphärendenkens, das der Gefahrenkreistheorie zugrundeliegt, sondern aufgrund einer Beurteilung des Fehlers und seiner Eignung zur Herbeiführung des eingetretenen Schadens getroffen wird; dies macht die Entscheidung des BGH717 im Kinosaalfall deutlich. Der Kläger besucht eine im Saal des Beklagten stattfindende Kinoveranstaltung. Da der Saal überfüllt ist, muß er während der Filmvorführung in der Nähe eines Notausganges stehen. Später wird der Kläger bewußtlos am Fuße einer hinter dem Notausgang beginnenden Treppe gefunden. Genaue Angaben über den Unfallhergang kann der Kläger nicht machen; er meint, er sei wohl infolge der schlechten Luft im überfüllten und nicht ausreichend belüfteten Saal ohnmächtig geworden und aus der Tür des Notausganges gestürzt. Das Berufungsgericht erwägt als Unfallursachen: die schlechte Luft im Saal und eine dadurch verursachte Ohnmacht. Es steht aber fest, daß während der Veranstaltung mehrfach gelüftet wurde. Wenn die Luft im Saal überhaupt als Ursache in Betracht kommt, dann muß eine besondere körperliche Veranlagung des Klägers die Bewußtlosigkeit herbeigeführt haben. Das gleiche gilt für die zweite denkbare Unfallursache: das lange Stehen. Bleibt als dritte Möglichkeit die Konstruktion der Treppe, an der der Kläger gefunden wurde. Diese Treppe beginnt entgegen baubehördlicher Vorschrift bereits 55 statt 80 cm hinter dem Notausgang und ihre Stufen haben eine Auftrittsbreite von nur 25 statt der vorgeschriebenen 30 cm. Das OLG meint, es fehlten Anhaltspunkte, daß gerade die vorschriftswidrige Beschaffenheit der Treppe die Ursache für den Unfall des Klägers sei. Einen Erfahrungssatz, daß die Konstruktion der Treppe den Schaden des Klägers herbeigeführt oder vergrössert haben könnte, gebe es nicht, denn die Lebenserfahrung spreche nicht dafür, daß derjenige der ohnmächtig gegen eine Tür fällt, durch eine Treppe die 55 statt 80 cm hinter der Tür beginnt, stärker geschädigt wird. Das OLG weist aus diesen Gründen die Klage ab. Der BGH billigt das Urteil. Der Kläger könne ohnmächtig gegen die Tür gefallen sein, dann sei die fehlerhafte Konstruktion der Treppe ohne Bedeutung für seinen Schaden. Der Kläger könne aber auch den Saal 716
Einen solchen Mangel oder verkehrswidrigen Zustand im Verantwortungsbereich des Schuldners hat der BGH wiederholt zur Voraussetzung für die Veränderung der Beweislastregelung bei der positiven Forderungsverletzung erhoben (vgl. BGH, NJW 1962, S. 31 — oben N. 672; BGH — 26. 11. 68 — VI ZR 212/66 — NJW 1969, S. 269, 274). Wie die noch weitergehende Forderung, daß dieser Fehler den Schaden auch „ausgelöst haben müßte", mit der im Wettbewerbsfall getroffenen Entscheidung (vgl. oben S .167f.) zu vereinbaren ist, muß noch geklärt werden (vgl. unten S. 175ff.). 717 BGH, VersR 1966, S. 292 (oben N. 702).
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verlassen haben, weil ihm übel wurde, und dann auf der Treppe gestürzt sein. Welche Möglichkeit zutreffe, sei ungeklärt. Die Voraussetzungen für einen deliktischen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten seien deshalb nicht bewiesen. Das gleiche gelte für einen vertraglichen Schadensersatzanspruch (der BGH läßt deshalb die Frage offen, ob dem Kläger überhaupt ein solcher Anspruch zustehen kann; dies würde voraussetzen, daß der Vertrag zwischen dem Veranstalter und dem Beklagten Schutzwirkung für Dritte hätte). Denn auch hierfür müsse die Schadensursache ermittelt sein. Die Vorschrift des § 282 BGB könne dem Kläger insoweit nicht helfen. Die Entscheidung zeigt: Die sonst für einen Schadensersatzanspruch wegen positiver Forderungsverletzung geltende Beweislastregelung, nach der die Voraussetzungen des objektiven Tatbestandes positiv geklärt sein müssen, wenn es nicht zu einer Abweisung kommen soll, ändert sich nicht deshalb, weil der Schaden im räumlichen Herrschaftsbereich des Beklagten eingetreten ist; sie wird auch nicht dadurch beeinflußt, daß ein Mangel in diesem Bereich festgestellt wird, der den Schaden verursacht haben könnte; sie würde sogar unverändert bleiben, wenn das Gericht nach dem von ihm angestellten Vergleich aller denkbaren Schadensursachen zu dem Ergebnis gekommen wäre, daß dieser Mangel den Schaden herbeigeführt habe. Denn in diesem Fall wäre die Schadensursache nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises der Kausalität718 bewiesen. Daß der Beklagte dann einen anderen Unfallhergang hätte beweisen können, wobei eine annähernd gleiche Wahrscheinlichkeit, wie sie für den aufgrund des Anscheinsbeweises angenommenen Geschehensablaufs spricht, genügt hätte, liegt im Rahmen des Gegenbeweises, der gegen einen Anscheinsbeweis zu führen ist, und hat nur Wirkungen für die Beweisführungslast des Beklagten, nicht für die Beweislastnormen und die Feststellungslast des Klägers719. Der Entscheidung kann ferner entnommen werden: In Fällen, in denen das Verhalten des Geschädigten oder eines Dritten, für dessen Handlungen der Schuldner nicht einzustehen hat, den Schaden herbeigeführt haben kann, ist für die Antwort auf die Frage, in wessen Gefahrenkreis die Schadensursache zu suchen ist, eine weitgehende Bestimmung dieser Schadensursache erforderlich; die Gefahrenkreistheorie macht mithin die Ermittlung der Schadensursache nicht entbehrlich, sondern setzt sie geradezu voraus. Es ist deshalb nicht recht vorstellbar, was die Gefahrenkreistheorie im Rahmen einer die Kausalität betreffenden Beweislastregelung leisten soll. Prölss720, der die Anwendung dieser Theorie auch auf das Deliktsrecht und insoweit auf Ursächlichkeit und Verschulden ausdehnen will, fordert ausdrücklich: Der „Geschädigte muß nicht nur behaupten, sondern im Bestreitungsfall auch beweisen, daß die Schadensursache gerade aus dem Gefah718
Vgl.obenS. 131 f. Vgl. oben S. 96f. 720 AaO, S. 72ff.; ihm hat sich neuerdings Larenz, Schuldrecht I, S. 274f., im vollen Umfang angeschlossen. 719
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renbereich des in Anspruch Genommenen stammt und nicht etwa aus seinem eigenen, dem eines Dritten oder aus einem Bereich, der keiner bestimmten Person zugeordnet werden kann, wenn sich die Beweislast zu seinen Gunsten umkehren soll"721. Aber wenn die Schadensursache so weitgehend lokalisiert ist, dann wird auch in aller Regel die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dieser Ursache und dem eingetretenen Schaden geklärt sein und die Anwendung einer Beweislastregel nicht in Betracht kommen. Zumindest in bezug auf die Beweislastregelung für die haftungsbegründende Kausalität stellt sich der Begriff des Gefahrenkreises als eine Leerformel dar, die erst durch die Ermittlung der Schadensursache und ihrer Zuordnung einen Inhalt erhält, dann aber zu einer Umschreibung des Verhaltens des Schuldners wird, das einen Schaden verursacht hat. Diese Bedenken träfen allerdings nicht zu, wenn man der Auffassung von Kleinewefers-Wilts722 folgte, nach der „der Schuldner das Risiko der Unaufklärbarkeit in allen Fällen, in denen der Schaden in seinem Verantwortungsbereich entstanden ist, also auch dann, wenn möglicherweise eine außerhalb des Gefahrenbereichs ausgelöste Kausalkette schädigend in diesen hineingewirkt hat", tragen soll. Diese Auffassung, die den Begriff „Verantwortungsbereich" zumindest auch mit dem räumlichen Herrschaftsbereich im Sinne des eigenen Grundstücks oder der eigenen Räume gleichsetzen müßte, hätte für den Geschädigten zwar den Vorzug, bei Schäden, die in dem Verantwortungsbereich des Schuldners eintreten, der Suche nach der Ursache weitgehend enthoben zu sein, die auf der Grundlage dieser Auffassung erzielten Ergebnisse wären aber zum Teil grob unbillig. Im Kinosaalfall müßte danach der Beklagte (eine vertragliche Haftung unterstellt) Schadensersatz leisten, wenn nicht festgestellt werden könnte, daß Ursache des Schadens die körperliche Veranlagung des Klägers gewesen ist, und zwar auch dann, wenn die Treppe am Notausgang den baubehördlichen Vorschriften entsprochen hätte. Jeder Unfall in Räumen oder auf einem Grundstück ließe den Besitzer haften, wenn die Unfallursache zweifelhaft bliebe. Daß für ihn die gleichen Aufklärungsschwierigkeiten bestehen können, die Anlaß für die Ausbildung der Gefahrenkreistheorie gewesen sind (er war nicht Zeuge des Unfalls und weiß auch nicht, wie es dazu kam), bliebe unberücksichtigt. Das von Kleinewefers-Wilts angeführte Gegenbeispiel (eingelagerte Möbel werden entweder durch herabfallenden Deckenputz oder durch von außen kommende Steinwürfe beschädigt, würde auch nach der hier vertretenen Auffassung befriedigend gelöst werden. Im übrigen wäre die „bloße Behauptung" des Lagerhalters, der Schaden sei auf Umstände, die er nicht zu vertreten habe, zurückzuführen, angesichts seiner vertraglichen Pflicht (vgl. §§ 390 Abs. l, 417 Abs. l HGB723 auf keinen Fall bedeutsam.
Zu klären bleibt, wie sich diese Feststellungen mit der vom BGH im WettbewerbsfalF"2* getroffenen Entscheidung vereinbaren lassen. In diesem Fall steht fest, daß der Beklagte seiner vertraglich übernommenen Pflicht, sich jeder Förderung eines das Unternehmen der Klägerinnen betreffenden 721
722 723 724
AaO, S. 82. VersR 1967, S. 624. Stoll, Festschrift, S. 540f. Vgl. oben S. 167 f.
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Wettbewerbs zu enthalten, zuwidergehandelt hat; es steht weiter fest, daß die Klägerinnen einen Schaden dadurch erlitten haben, daß Kunden und Angestellte ihren Betrieb verlassen haben und zum Konkurrenzunternehmen der früheren Angestellten des Beklagten übergewechselt sind. Zweifel können sich nur hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Vertragsverletzung und Schaden ergeben. Dazu finden sich im Urteil folgende Ausführungen: „Wer unter Verstoß gegen eine bei einer Geschäftsveräußerung vertraglich übernommenen Unterlassungspflicht Konkurrenzgeschäfte abschließt und Angestellte des Konkurrenzunternehmens bei sich einstellt, fügt damit nach der Lebenserfahrung — sofern nicht besondere Umstände das Gegenteil erweisen — dem Gläubiger des Unterlassungsversprechens einen Schaden zu ... Es spricht daher eine tatsächliche Vermutung dafür, daß aus diesen im Gefahrenbereich des Beklagten liegenden Gründen die Kunden und die Kraftfahrer die Firma der Klägerinnen verlassen haben"725. Der BGH behandelt offenbar das Konkurrenzunternehmen der früheren Angestellten des Beklagten so, als ob es dem Beklagten gehöre. Nur dann erhalten die oben zitierten Ausführungen einen Sinn; denn der Beklagte selbst hat weder Konkurrenzgeschäfte abgeschlossen noch Angestellte bei sich eingestellt. Auch erklärt eine solche Anschauung die vom BGH für den Gegenbeweis erhobene Forderung, der Beklagte möge nachweisen, daß Kunden und Angestellte auch dann das Unternehmen der Klägerin verlassen hätten, wenn die von ihm wesentlich geförderte Konkurrenzfirma nicht eröffnet und betrieben worden wäre. Anlaß für diese Bewertung muß wohl die Feststellung sein — die abgedruckten Entscheidungsgründe geben insoweit keine Auskunft —, daß der Konkurrenzbetrieb ohne die Förderung des Beklagten nicht existieren würde. Dann sind auch alle Nachteile, die den Klägerinnen aus der Wettbewerbssituation zwischen beiden Unternehmen erwachsen, auf das Verhalten des Beklagten zurückzuführen. Bei dieser Sachlage bildet die vom BGH zitierte Lebenserfahrung die Grundlage eines Anscheinsbeweises, und durch die „tatsächliche Vermutung" wird ein Wahrscheinlichkeitsurteil für die Kausalität zwischen Pflichtverstoß und Schaden zum Ausdruck gebracht726. Der Hinweis des BGH auf den Gefahrenskreis des Beklagten, in dem die Gründe für den Wechsel der Kunden und Angestellten liegen sollen, widerspricht dieser Deutung der Entscheidung nicht. Denn die Zuordnung dieser Gründe zum Verantwortungsbereich des Beklagten setzt gerade voraus, daß die Möglichkeit, die Schadensursache im Gefahrenkreis der Klägerin oder eines Dritten zu finden, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Dafür ist aber wiederum in gleicher Weise wie im Kinosaalfall727 erforderlich, die verschiedenen denkbaren Schadensursachen mit725 726 727
BGH, NJW 1968, S. 2240f. (oben N. 675). Vgl. oben S. 121 ff. Vgl. oben S. 173.
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einander zu vergleichen, und die wahlscheinlichste auszuwählen, also nach den Regeln zu verfahren, wie sie bei einem Individualanscheinsbeweis728 angewendet werden. Daß diese Entscheidung hier nicht schwer fällt, spricht für die Stärke des in diesem Fall zutreffenden Erfahrungssatzes. Diese Überlegungen ergeben, daß die Entscheidung im Wettbewerbsfall in Wirklichkeit nicht auf der Gefahrenkreistheorie, sondern auf einem Anscheinsbeweis der Kausalität beruht. Für eine Ausdehnung der Gefahrenkreistheorie auf den objektiven Tatbestand der positiven ForderungsVerletzung besteht in diesem Fall schon deshalb kein Anlaß, weil der zu beurteilende Tatbestand einschließlich der Schadensursache ausreichend geklärt ist. Es ist deshalb nicht recht verständlich, warum die auf diese Frage gerichteten Ausführungen in dem Urteil mit einem weitgehend wörtlich wiedergegebenen Zitat von Larenz729, beginnen, das sich auf Fälle bezieht, in denen nach der Auffassung von Larenz entgegen der Ansicht des BGH die Schadensursache nicht festgestellt war730; die anschließend im Urteil aufgeführten BGH-Entscheidungen betreffen jedenfalls alle den subjektiven Tatbestand der positiven Forderungsverletzung. Der BGH hat in einer späteren Entscheidung731, ohne allerdings auf die Gefahrenkreistheorie einzugehen, nochmals eindeutig klargestellt, daß der Käufer (auch im Wettbewerbsfall war die Rechtsgrundlage ein Kaufvertrag), der aus einer positiven Forderungsverletzung Ansprüche herleitet, die Feststellungslast für die Frage habe, ob der den Vertragsgegner vorgeworfene Pflichtverstoß für den geltendgemachten Schaden ursächlich sei. Erst wenn dies bewiesen sei, wobei auch ein Anscheinsbeweis in Betracht komme, bedürfe es der Prüfung, ob der Schuldner den ihm zur Last gelegten Fehler zu vertreten habe.
Die im Wettbewerbsfall getroffene Entscheidung bietet demnach ebenfalls keinen Grund für die Annahme, daß die Gefahrenkreistheorie zur Lösung von Beweislastproblemen im Rahmen des objektiven Tatbestands der positiven Forderungsverletzung dienen kann, und erst recht nicht, daß der BGH von seiner wiederholt geäußerten Auffassung abgewichen sei, die Gefahrenkreistheorie nur auf die Verschuldensfrage anzuwenden732. Daß aber insoweit diese Theorie — zumindest in dem vom BGH verstandenen Sinn — sich im praktischen Ergebnis nicht wesentlich von 728
Vgl. oben S. 131. Schuldrecht I, 7. Auflage, S. 285. Der Entscheidung ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, daß diese Ausführungen auf die Darstellung von Larenz gestützt werden. Vielmehr erwecken die anschließend zitierten BGH-Entscheidungen den Eindruck, als ob es sich hierbei um eine feste Rechtsprechung des BGH handele. 730 Larenz, aaO, S. 283ff., setzt sich mit dem Schleppkahnfall und der Entscheidung aus BGHZ 8,239 (oben N. 675), vgl. auch oben S. 168, auseinander. Während der BGH in beiden Fällen eine Pflicht des Schuldners, den Fahrgast bzw. den Schleppkahn unversehrt ans Ziel zu bringen, annimmt und deshalb nur über die Verschuldensfrage zu entscheiden hat, lehnt Larenz eine soweit reichende Vertragspflicht ab, muß sich also mit der Frage der Schadensursache auseinandersetzen. 731 18. 6. 69 — VIII ZR 148/67, NJW 1969, S. 1708, 1709. 732 Ygj_ jjg oben jn N. 702 zitierten Entscheidungen. 729
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der Beweislastregelung unterscheidet, die von dem überwiegenden Teil des Schrifttums aus §§ 282, 285 BGB abgeleitet wird, ist bereits dargetan733. Gegen eine entsprechende Anwendung der §§ 282, 285 BGB in Fällen positiver Forderungsverlet2ung ist neuerdings von Laren^^ eingewendet worden, daß der Rechtsgedanke dieser Vorschriften dafür nicht passe. § 282 betreffe nicht nur das Verschulden, sondern auch die Kausalität. Denn nicht die Unmöglichkeit der Leistung, sondern nur ein Verhalten des Schuldners oder seines Erfüllungsgehilfen, das sie bewirkt habe, könne objektiv pflichtwidrig sein; nach § 282 sei zu „vermuten", daß Ursache der Unmöglichkeit eine Pflichtwidrigkeit des Schuldners sei. Eine so weitreichende Regelung sei nur dadurch gerechtfertigt, daß nach der Konzeption des Gesetzes die Unmöglichkeit der Leistung als solche keinen Befreiungsgrund darstelle; der Schuldner habe im Falle nachträglicher Unmöglichkeit grundsätzlich das Erfüllungsinteresse zu ersetzen und werde nur frei, wenn er beweise, daß die Ursache der Unmöglichkeit ein von ihm nicht zu vertretender Umstand sei. In dieser Regelung stecke ein Stück Erfüllungsgarantie, die nicht ohne weiteres auf die positive Forderungsverletzung übertragbar sei. Denn bei ihr gehe es nicht um das ausnahmsweise Freiwerden das Schuldners von seiner Leistungspflicht, sondern darum, ob er sich durch ein pflichtwidriges und schuldhaftes Verhalten zusätzlich zu einers Leistungspflicht schadensersatzpflichtig gemacht habe. Der Umstand, daß der Gläubiger bei Gelegenheit der Durchführung des Schuldverhältnisses einen Begleit- oder Folgeschaden erlitten habe, rechtfertige noch nicht die „Vermutung" daß die Schadensursache in einem pflichtwidrigen, schuldhaften Verhalten des Schuldners liege. Von der Auffassung des §282 BGB als einer „Vermutung" abgesehen735, ist dieser Bewertung der Vorschrift weitgehend zuzustimmen. Jedoch zwingen die beschriebenen Unterschiede zwischen der Unmöglichkeit einer geschuldeten Leistung und dem Fall einer positiven Forderungsverletzung nicht dazu, die entsprechende Übertragung des Rechtsgedankens, der den § § 282, 285 zugrundeliegt, im ganzen abzulehnen, sondern gebieten nur gewisse Einschränkungen bei seiner Anwendung. Es trifft zu, daß die Unmöglichkeit als solche keine objektive Pflichtwidrigkeit des Schuldners bedeutet. Denn die Unmöglichkeit ist ein Zustand, kein Tun oder Unterlassen des Schuldners, das Vertragspflichten verletzt738. Aber mit der Unmöglichkeit steht zugleich auch unverrückbar fest, daß die geschuldete Leistung nicht erbracht wird, der Schuldner folglich sein Versprechen zu erfüllen, nicht einlösen kann. Dieser Widerspruch zwischen dem vom Schuldner in Aussicht gestellten Verhalten und seinem wirklichen Handeln rechtfertigt es, von ihm Aufklärung über die Gründe zu fordern737. 733 734 735 736 787
Vgl. oben S. 170ff. Schuldrecht I, S. 273f.; anders noch die 9. Auflage, S. 283. Zum Begriff der Vermutung vgl. oben S. 75. Stoll, Festschrift, S. 535. Darauf weist Raape, AcP 147, S. 222, 242, besonders hin. Zustimmend Wasser-
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Dagegen ist in dem Fall, daß der Gläubiger bei Durchführung des Schuldverhältnisses einen Schaden erleidet — soweit nicht gerade die Abwendung dieses Schadens geschuldet wird738 —, noch völlig offen, ob dieser Schaden auf die Verletzung einer Vertragspflicht durch den Schuldner zurückgeführt werden kann. Erst wenn durch Feststellung des Ursachenzusammenhangs die Verbindung von Schaden zur Pflichtwidrigkeit des Schuldners hergestellt worden ist, entsteht eine mit dem Fall der Unmöglichkeit vergleichbare Situation; es steht dann fest, daß der Schuldner seinen vertraglich übernommenen Pflichten zuwidergehandelt hat, so daß von ihm die Angabe der dafür maßgebenden Gründe verlangt werden kann. Gleiche Erwägungen können bei Schadenersatzansprüchen des außervertraglichen Bereichs nicht angestellt werden; denn bei ihnen gibt es kein Leistungsversprechen des Schuldnets und keine Leistungserwartung des Gläubigers739. Deshalb ist eine Ausdehnung dieser Beweislastregelung auf das Deliktsrecht entgegen der Auffassung von Prölss und Larenz740 abzulehnen; gleiches muß auch für Ansprüche aus culpa in contrahen do741 gelten; auch in diesen Fällen fehlt eine der Unmöglichkeit und dem Schuldnerverzug vergleichbare Rechtslage, auf die die Beweislastregelung der §§ 282, 285 BGB anwendbar wäre742.
Die Gründe für die Verletzung seiner Vertragspflicht muß der Schuldner in gleicher Weise wie bei der Nichterfüllung wegen Unmöglichkeit der geschuldeten Leistung im allgemeinen besser kennen als der Gläubiger; er steht ihnen näher743. In diesem Zusammenhang läßt sich der Gedanke der Sphäre, des Verantwortungsbereichs, auf den die Gefahrenkreistheorie aufbaut, wenn auch nicht als Abgrenzungsmerkmal und Voraussetzung einer Beweislastregelung, so doch als Erklärung des gesetzgeberischen Motivs für die Bestimmung des § 282 BGB verwenden. Im Fall der positiven Forderungsverletzung ist die Frage, ob die Schadensursache in die Sphäre des Schuldners fällt, erst beantwortet, wenn geklärt ist, ob der Schaden auf einemPflichtverstoß des Schuldners beruht; deshalb kann aus §282 BGB eine Beweislastregelung auch nicht hergeleitet werden, die zu einer „Umkehr" der Feststellungslast hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität führt744. Die herrschende Lehre im Schrifttum, mit der im Ergebnis auch meyer, Beweis, S. 89; ähnlich Esser, Schuldrecht I, S. 390; Ballerstedt, Festschrift, S. 270f.; Rabel, Warenkauf I, S. 148, 371. 738 So daß mit dem Schadenseintritt notwendigerweise eine Vertragsverletzung verbunden ist (Beispiel: Schleppkahnfall, oben S. 167). 739 Stoll, Festschrift, S. 556; zustimmend Rosenberg-Schwab, § 118 III 3 (S. 612). 740 Vgl. oben N. 720; dagegen auch Hainmüller, S. 152 N. 472; Hauss, NJW 1967, S. 970. 741 A. A. aber BGH, NJW 1962, S. 31 (oben N. 672); dagegen J. Esser, Schuldrecht I, S. 379 f. 742 Vgl. Soergel-Reimer Schmidt, Vorbem. 41 vor § 275. 743 Ebenso BGH (11. 10. 51 — IV ZR 71/50) LM § 688 BGB Nr. 2 Bl. 2 R.; Raape, AcP 147, S. 222; RGRK-Nastelski, § 282, Anm. 1; E. Peters, Ausforschungsbeweis, S. 110; Hainmüller, S. 152; Lepa, S. 131; vgl. auch unten S. 367f. 744 Vgl. oben N. 702. 12*
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
die Rechtsprechung des BGH übereinstimmt, beschränkt deshalb zu Recht die auf den Rechtsgedanken des § 282 und des § 285 BGB gestützte Beweislastregelung auf den subjektiven Tatbestand der positiven Forderungsverletzung. Eine Ausnahme soll nach Auffassung des BGH744* bei Verletzung vertraglicher Auf Idärungs- oder Beratungspflichten gelten. In diesen Fällen soll der Auf klärungspflichtige den Beweis dafür erbringen müssen, daß der Schaden auch bei pflichtmäßigen Verhalten eingetreten wäre, weil sich der Geschädigte über jeden Rat oder Hinweis hinweggesetzt hätte. Dem BGH ist darin zuzustimmen, daß der Geschädigte nicht durch die bloße Behauptung, er wäre einem Rat oder Hinweis sowieso nicht gefolgt, zu dem nur schwer zu führenden Beweis gezwungen werden kann, wie er auf die geschuldete Information reagiert hätte. Andererseits geht es aber zu weit, die Feststellungslast für die Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden in diesen Fällen dem Aufklärungspflichtigen aufzuerlegen. Vielmehr ist im Rahmen der Beweiswürdigung davon auszugehen, daß der Geschädigte sich einem richtigen Rat oder Hinweis nicht verschlossen hätte, wenn es keine Anhaltspunkte für eine gegenteilige Annahme gibt744". Finden sich aber solche Anhaltspunkte, dann muß es — wie sonst auch — Sache des Geschädigten sein, die haftungsbegründende Kausalität zu beweisen und die Folgen eines Scheiterns dieses Beweises zu tragen7440.
b) Die Beweislastregelung bei deliktischen Schadenersatzansprüchen gegen Hersteller von Industrieer^eugnissen Der Bundesgerichtshof hat im Hühnerpestfall745 für deliktische Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. l BGB gegen Hersteller von Industrieerzeugnissen folgende Bemislastregel11* aufgestellt: „Wird bei bestimstimmungsgemäßer Verwendung eines Industrieerzeugnisses eine Person oder eine Sache dadurch geschädigt, daß das Produkt fehlerhaft hergestellt 744E
BGH, NJW 1973, S. 1688f. (oben N. 569), mit weiteren Nachweisen; zustimmend Emmerich, JuS 1974, S. 50f. 744b So ausdrücklich BGH (5. 3. 74 — VI ZR 222/72) VersR 1974, S. 782, 783, der in diesem Erfahrungssatz die Rechtfertigung für eine abweichende Beweislastregelung in diesen Fällen sieht. 7440 Anders Hofmann, NJW 1974, S. 1641, 1643f., der es dem Schädiger unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium versagen will, sich darauf zu berufen, daß es nicht feststehe, ob der Geschädigte überhaupt seinen Rat befolgt hätte, wenn er ihn pflichtgemäß erteilt hätte. 745 BGH (26. 11. 68 — VI ZR 212/66) NJW 1969, S. 269; vgl. auch BGH (4. 10. 72 — VIII ZR 117/71) NJW 1972, S. 2300, 2302; BGH (19. 6. 73 — VI ZR 178/71) NJW 1973, S. 1602f.; OLG Hamm (23. 10. 72 — 22 U 127/72) BB 1973, S. 398. 748 Der BGH gebraucht für diesen Rechtssatz neben der Bezeichnung „Beweislastregelung" wiederholt auch den Begriff „Beweisregel" und ignoriert damit den zwischen beiden bestehenden Unterschied (vgl. oben S. 64f.).
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
181
war, so muß der Hersteller beweisen, daß ihn hinsichtlich des Fehlers kein Verschulden trifft"747. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin, die eine Hühnerfarm betreibt, ließ ihre Hühner von einem Tierarzt gegen Hühnerpest impfen. Der Tierarzt verwendete einen von der Beklagten hergestellten Impfstoff, der — wie nachträglich festgestellt wurde — noch aktive Hühnerpest-Viren enthielt. Nach der Impfung brach die Hühnerpest aus, und 4000 Hühner verendeten. Das Berufungsgericht ging aufgrund eines Sachverständigengutachtens davon aus, daß bei der Abfüllung des Serums im Betrieb der Beklagten Bakterien in die Flaschen geraten seien und daß diese bakterielle Verunreinigung zu einer Reaktivierung von Viren geführt habe. Wie es im einzelnen zu dieser Verunreinigung gekommen war, blieb ungeklärt. Dieser Sachverhalt hat an sich keinen Anlaß geboten, auf die Beweislastfrage einzugehen, weil die getroffenen Feststellungen wie in dem vergleichbaren Speiseölfall748 und Schubstrebenfall749 ausgereicht hätten, das Verschulden der Beklagten zumindest prima facie zu beweisen. Die Beklagte hatte nichts dafür vorgetragen, was diesen auf die Lebenserfahrung gestützten Schluß verhinderte. Es kann deshalb Lorenz750 voll zugestimmt werden, daß der Hühnerpestfall keinen Sachverhalt betraf, der nach besonderen Anstrengungen in der Rechtsfortbildung verlangte. Die allgemeine Bedeutung der vom BGH gebildeten Beweislastregel wird allerdings durch diese Erkenntnis nur noch unterstrichen781.
Wenn es an anderer Stelle des Urteils heißt, der Hersteller habe den „Nachweis seiner Schuldlosigkeit" erst zu führen, wenn der Geschädigte seinerseits bewiesen habe, „daß sein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers, und zwar durch einen objektiven Mangel oder Zu747
AaO, S. 269 (Leitsatz der Entscheidung). Eine entsprechende Beweislastregel ergibt sich in Fällen positiver Forderungsverletzung — wie dargelegt — aufgrund des § 282 BGB. In der Entscheidung vom 28. 9.1970 (JZ 1971, S. 29 — oben N. 484 —), die einen vertraglichen Schadensersatzanspruch wegen der Verursachung eines Schadens durch ein angeblich fehlerhaft hergestelltes Industrieerzeugnis betrifft, geht der BGH von einer derartigen Beweislastregelung aus, ohne allerdings die Rechtsgrundlage dafür zu nennen. Die Auffassung Graf von Westphalens, BB 1971, S. 152, daß diese Entscheidung „gegenüber früheren Urteilen auf diesem Gebiet (ergänze: der Produzentenhaftung) einen erheblichen Fortschritt im Sinne eines modernen, zeitgerechten Verbraucherschutzes" bedeute, kann zumindest im Hinblick auf die Beweislast nicht geteilt werden. Insoweit bewegt sich der BGH im Rahmen seiner ständigen Rechtsprechung zur positiven Forderungsverletzung ; das gleiche gilt für die Ausführungen im Urteil zum Anscheinsbeweis der Kausalität (gleicher Auffassung Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 915). Die Übereinstimmung der Beweislastregelung bei der positiven Forderungsverletzung und bei deliktischen Schadensersatzansprüchen wegen Herstellung fehlerhafter Industrieprodukte wird vom BGH in seinem Urteil vom 4. 10. 1972 (oben N. 745 — NJW 1972, S. 2302) ausdrücklich bestätigt. 748 BGH, VersR 1953, S. 242 (oben N. 645). 749 BGH (17. 10. 67 — VI ZR 70/66) NJW 1968, S. 247. 750 RabelsZ 34, S. 33. 751 Einschränkender dagegen Kuchinke, Festschrift, S. 114f.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
stand der Verkehrswidrigkeit ausgelöst worden ist752, dann wird dadurch keine zusätzliche Voraussetzung aufgestellt, die nicht schon von den tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm erfaßt ist. Denn der Gefahrenbereich™ des Produzenten umfaßt nicht nur die in der Industrie übliche Produktionsstätte, sondern auch alle zur Herstellung erforderlichen Fertigungsvorgänge, gleichgültig ob sie maschinell oder mit der Hand vollzogen werden, sowie die verwendeten Materialien und Hilfsmittel754. Es ist deshalb nicht denkbar, daß die fehlerhafte Herstellung eines Industrieproduktes und damit auch der dadurch verursachte Schaden nicht auf einem Mangel im Organisationsbereich des Herstellers beruht. Wenn der BGH dennoch die von ihm für die vertragliche Haftung entwickelte Gefahrenkreistheorie755 heranzieht, dann kann darin nur eine zusätzliche Begründung, kein tragendes Element der gebildeten Beweislastregel erblickt werden. Soll die vom BGH geschaffene Beweislastregel wirksam werden, dann muß folgender Sachverhalt feststehen: die Fehlerhaftigkeit des Industrieerzeugnisses bereits im Zeitpunkt des Inverkehrbringens durch den Hersteller, die bestimmungsgemäße Verwendung dieses Erzeugnisses758 und die Verursachung eines Personen- oder Sachschadens durch den Fehler756". Diese Voraussetzungen beschreiben aber den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach § 823 Abs. l, d.h. das rechtswidrige Verhalten des Schädigers757 und die dadurch verursachte Schädigung eines durch diese Vorschrift geschützten Rechtsguts. Auch das Erfordernis, daß der Schaden bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Produkts eintritt, gehört zur notwendigen Kausalität zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem Schaden, weil nur bei einer solchen Verwendung angenommen werden 752
AaO, S. 274. Vgl. Simitis, S. C 94ff.; oben S. 170ff. 764 Die Frage, ob der Fehler auf ein Versagen der verwendeten Hilfsmittel zurückzuführen ist, stellt sich nur im Rahmen des subjektiven Tatbestands (der Entwurf eines neuen niederländischen Gesetzbuches hat hierfür eine Entlastung ausdrücklich ausgeschlossen; vgl. Lorenz, RabelsZ 34, S. 33, AcP 170, S. 375). Für den objektiven Tatbestand genügt, daß ein Erzeugnis trotz eines Fehlers in den Verkehr gebracht worden ist. 765 Vgl. oben S. 166 ff. 756 Durch diese Voraussetzung sollen Fälle ausgeschlossen werden, in denen Schäden aufgrund einer bestimmungswidrigen Verwendung des Erzeugnisses eingetreten sind (vgl. dazu Hasskarl, BB 1972, S. 121; Schmidt-Salzer, BB 1972, S. 1433). Deshalb kommt es nicht entscheidend darauf an, daß der Schaden gerade im Zeitpunkt der Verwendung (im Sinne von Benutzung oder Gebrauch) entstanden ist. 75ea BGH, VersR 1972, S. 149 f. (oben N. 661); vgl. auch Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 908,911; Schmidt-Salzer, Produkthaftung, S. 164f., 168,171; Diederichsen, Haftung des Warenherstellers, S. 398 f. 757 Dieses rechtswidrige Verhalten besteht in der Auslieferung eines Erzeugnisses mit einem gefährlichen, da zur Schadensverursachung geeigneten Fehlers; an diese Voraussetzung ist — wie ausgeführt — auch das Wirksamwerden der Beweislastregel geknüpft; zweifelnd, im Ergebnis aber gleicher Auffassung Deutsch, JZ 1969, S. 393. 753
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
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kann, daß der Fehler, nicht das davon unabhängige Verhalten des Geschädigten, den Schaden herbeigeführt hat758. Wird aber die Wirksamkeit der Beweislastregel von einem Sachverhalt abhängig gemacht, der den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. l verwirklicht, dann fällt in diesen Fällen dem Kläger durchweg nur die Feststellungslast für diesen objektiven Tatbestand zu, während der Beklagte mit dem Beweis seiner Schuldlosigkeit belastet wird. Die vom BGH entwickelte Beweislastregel, die entsprechend der allgemeinen Auffassung in Beziehung zu der feststellungsbelasteten Partei gesetzt ist759, enthält also die Anweisung an den Richter, bei Zweifeln an dem Verschulden des Schädigers in diesen Fällen so zu entscheiden, als habe er einen Sachverhalt festgestellt, der ein Verschulden ergibt; auf irgendwelche Tatsachen, die außerhalb des Tatbestandes des § 823 Abs. l BGB liegen, kommt es für diese Entscheidung nicht an. Es handelt sich bei der vom BGH gebildeten Beweislastregel deshalb nicht um eine (richterrechtliche) Vermutung760, sondern um eine Beweislastnorm Im eigentlichen Sinn, die allerdings nur bei einer bestimmten Art der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes eingreift761. Der Bundesgerichtshof hat die von ihm gebildete Beweislastregel mit den schut^würdigen Interessen des Geschädigten begründet, die es gebieten würden, daß der Produzent die in seiner Einflußsphäre liegenden und dem Einblick des Geschädigten weitgehend entzogenen Vorgänge aufklärt, die zu einer Fehlleistung geführt haben762. Die moderne hochtechnisierte Produktion von Industrieerzeugnissen ist für den Außenstehenden nicht mehr überschaubar763. Für den Geschädigten ist es häufig deshalb unmöglich, die Gründe für eine Fehlleistung in einem solchen Apparat zu ermitteln und Zweifel an einem Verschulden des Herstellers auszuräumen764. Soll nicht der ihm zustehende rechtliche Schutz gegen deliktische Schädigungen, die durch fehlerhafte Industrieprodukte herbeigeführt werden, wegen dieser allge758
Hasskarl, BB 1972, 121. Ausnahmefälle, in denen der Fehler so beschaffen ist, daß es für die Frage des ursächlichen Zusammenhanges überhaupt nicht auf das Verhalten des Geschädigten ankommt, also auch eine bestimmungswidrige Verwendung für die Schadensverursachung unerheblich ist, mag es geben; sie bleiben aber hier unberücksichtigt. 759 Vgl. dazu unten S. 282. 7 «° Wer wie Deutsch, JZ 1969, S. 292f., und Lorenz, AcP 170, S. 381, diese Beweislastregel als „Verschuldensvermutung" ansieht, muß von einem Vermutungsbegriff ausgehen, der nicht darauf abstellt, daß die Vermutungsbasis außerhalb des Tatbestandes des anzuwendenden Rechtsfolgesatzes liegt (vgl. zu dieser Frage oben S. 73ff.). 781 Vgl. dazu unten S. 311. 762 BGH, NJW 1969, S. 274f. (oben N. 745); ebenso Simitis, S. C 92, 96. 783 Der BGH, aaO, S. 275, weist ausdrücklich darauf hin, daß für kleinere Betriebe, dessen Herstellungsverfahren übersehbar und durchsichtig ist, eine andere Beweislastregelung angemessen sein könnte. 7M Giesen, NJW 1969, S. 585; vgl. auch BGH, JZ 1971, S. 30 (oben N. 484); LG Köln (13. 4. 72 — 2 O 124/71) NJW 1972, S. 1580, 1581.
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
meinen Beweisschwierigkeiten verkürzt werden, dann muß das Beweisrecht die in diesen Fällen bestehenden Ungleichheiten in den Möglichkeiten einer Sachaufklärung zu beheben versuchen. Die Rechtsprechung hat schon seit langem durch hohe Anforderungen an den nach § 831BGB zu führenden Entlastungsbeweis und an die Widerlegung des in solchen Fällen häufig vorkommenden Anscheinsbeweises der Schuld geholfen765. Im praktischen Ergebnis unterscheidet sich die durch die neue Beweislastnorm geschaffene Lage nicht wesentlich von dem früheren Rechtszustand786. Es handelt sich vielmehr um eine folgerichtige Rechtsentwicklung, die davon befreit, durch eine anfechtbare Akzentverschiebung im Rahmen des Entlastungsbeweises nach § 831 BGB gerechte Ergebnisse herbeizuführen767. Man wird die Berechtigung des Bundesgerichtshofs zu dieser Rechtsfortentwicklung nicht in Zweifel ziehen können768. Auf das allgemeine Problem, das sich in der Frage der Bildung von Beweislastregeln durch Richterrecht stellt, wird an anderer Stelle eingegangen werden769; im Rahmen dieser Ausführungen, die einer Abgrenzung von Beweislast und Beweiswürdigung dienen, mag dieser Hinweis genügen. VI. Die Beweislastregelung bei § 618 BGB Das Reichsgericht™ hat unter Hinweis auf den Schutzcharakter der Vorschrift folgende Beweisregelung für § 618 BGB geschaffen, deren Gültigkeit vom Bundesgerichtshof im Seelotsenf all111 ausdrücklich bestätigt worden 765
Lorenz, AcP 170, S. 370, weist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Reichsgerichts im Brunnensalzfall hin (RGZ 87, l — 25. 2. 15 — VI 526/14). Das Thema des dort nach § 831 BGB zu erbringenden Entlastungsbeweises unterschied sich durch nichts von den Anforderungen, die sich aus der im Hühnerpestfall vom BGH entwickelten Beweislastregel ergeben; im gleichen Sinn Schmidt-Salzer, BB 1972, S. 1437. 768 Lorenz, aaO, S. 370ff.; Kuchinke, Festschrift, S. 128f.; vgl. auch die oben in N. 748 f. zitierten früheren Entscheidungen des BGH, die ähnliche Fälle betreffen, und BGH, NJW 1973, S. 1603 (oben N. 745). 767 Lorenz, aaO, S. 373. 768 Rehbinder, JuS 1969, S. 209, bemängelt nur das Fehlen einer eingehenden Auseinandersetzung mit dieser Frage im Urteil, begrüßt aber die Entscheidung selbst als einen Fortschritt im Verbraucherschutz (aaO, S. 211). Auch sonst wird der Schaffung der Beweislastregel durch den BGH allgemein zugestimmt. Vgl. Lorenz, AcP 170, S. 380; Diederichsen, NJW 1969, S. 270; Deutsch, JZ 1969, S. 391; Giesen, NJW 1969, S. 583, 586; Weitnauer, Festschrift Larenz (1973), S. 919. 769 Vgl. unten S. 314f., 319f. 770 RGZ 95 103 (4. 3.19 — 338/18); RG (11.10.21 — 239/21) JW1922, S. 485; RGZ 138, 37 (7. 10. 32 — 139/32); RG (6. 7. 34 — 68/34) HRR 1934 Nr. 1667; RG (30. 4. 35 — III 233/34) JW 1935, S. 2714; RG (6. 12. 35 — III 35/35) JW 1936, S. 803. Auch das Reichsarbeitsgericht ist dieser Rechtsprechung des Reichsgerichts gefolgt; vgl. RAG (9. 6. 37 — RAG 51/37) JW 1937 S. 2849. 771 BGH (14. 4. 58 — II ZR 45/57) NJW 1958, S. 1437.
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ist: Der Geschädigte müsse nachweisen, daß der Dienstberechtigte eine ihm durch § 618 Abs. l und 2 auferlegte Pflicht verletzt habe und daß diese Pflichtwidrigkeit „nach dem natürlichen Verlauf der Dinge" geeignet gewesen sei, den eingetretenen Schaden hervorzurufen; demgegenüber sei es Sache des Dienstberechtigten zu beweisen, daß ihn kein Verschulden an dem Pflichtverstoß treffe oder daß die Pflichtverletzung für den Schaden nicht ursächlich gewesen sei. Der Bundesgerichtshof772 meint, wie vor ihm schon das Reichsgericht773, fehlende Ursächlichkeit könne vom Dienstberechtigten nur dadurch bewiesen werden, „daß er eine andere Schadensursache nachweist, die den festgestellten Mangel als Ursache oder Mitursache ausschließt." Überwiegend wird im Schrifttum den von der Rechtsprechung gebildeten Beweisgrundsätzen zugestimmt774, wobei allerdings die Meinungen bei der Deutung auseinandergehen. Diese Meinungsverschiedenheiten beziehen sich auf die Frage, welcher Partei die Feststellungslast für die Kausalität zwischen Pflichtverstoß und Schaden zufällt; für die Schuldfrage wird dagegen ganz überwiegend wegen der gleichen Interessenlage eine Beweislastregelung wie bei der positiven Forderungsverletzung befürwortet775. Während ein Teil des Schrifttums der Rechtsprechung entnimmt, daß sich hinsichtlich der Kausalität die Feststellungslast „umkehre" und Zweifel an den ursächlichen Zusammenhang zu Lasten des Dienstberechtigten gingen776, wird von anderen die Ansicht vertreten, Grundlage der dem Geschädigten von der Rechtsprechung gewährten Beweiserleichterung sei ein Anscheinsbeweis der Kausalität777. Auch das Reichsgericht778 hatte zunächst die Auffassung geäußert, daß durch die Feststellung einer zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeigneten Pflichtwidrigkeit ein Anscheinsbeweis für die Ursächlichkeit geführt sei; an den Gegenbeweis wurden aber bereits die gleichen Anforderun772
BGH, aaO, S. 1438. Vgl. die in N. 770 zitierten Entscheidungen. 774 Ablehnend (hinsichtlich der Kausalität) dagegen Lindenmaier, S. 359f.; Prölss, S. 105; Güldener, S. lOOf.; einschränkend Stell, Festschrift, S. 553 („Beweislastumkehr", wenn typischerweise mit der Pflichtverletzung das Risiko der Unauf klärbarkeit verbunden ist). 775 Vgl. BAG (8. 6. 55 — 2 AZR 200/54) AP § 618 BGB Nr. 1; oben S. 165, 179f. Die Frage, ob es sich bei einer Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 618 um den Fall einer (gesetzlich geregelten) positiven Forderungsverletzung handelt (so Güldner, S. 98, 100; ähnlich Raape, AcP 147, S. 255; verneinend Wassermeyer, Beweis, S. 83 N. 37), hat nur theoretische Bedeutung. 776 Wassermeyer, aaO, S. 83f.; RGRK-Denecke, § 618, Anm. 11. 777 Nipperdey, JW 1933, S. 646f.; Staudinger-Nipperdey-Mohnen-Neumann, §618, Rdn. 46; Raape, AcP 147, S. 254; Soergel-Wlotzke-Volze, § 618, Rdn. 29; Nikisch, Arbeitsrecht, S. 487f. (Anscheinsbeweis auch für Verschulden); Müser, S. 15ff., 22ff. (vgl. aber oben N. 164). 778 Nachdem das RG zunächst auf die Grundlage der gestellten Beweisanforderung überhaupt nicht eingegangen war, sprach es in der Entscheidung vom 11. 10. 1921 (JW 1922, S. 485 — oben N. 770) von einem prima-facie-Beweis. 773
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1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
gen gestellt, wie sie heute noch gelten. In einer Entscheidung vom 7. 10. 1932779 hat dann das Reichsgericht diese Auffassung ausdrücklich korrigiert und ist in der folgenden Rechtsprechung780 ständig davon ausgegangen, daß die im Rahmen des § 618 BGB von den Parteien zu erbringenden Beweise durch eine entsprechende Beweislastregelung bestimmt würden. Der Bundesgerichtshof781 hat zu dieser Frage lediglich erklärt, er trete dem vom Reichsgericht entwickelten „Grundsatz über die Beweislastverteilung" bei, ohne weiter zu der Frage, nach dem Wesen dieses Grundsatzes Stellung zu nehmen. Eine Antwort auf diese Fragen ergibt der Inhalt der Regelung. Nach ihr hat der Richter unter anderem festzustellen — soll ein Schadensersatzanspruch von ihm bejaht werden —, daß der vom Dienstberechtigten gegen die Vorschrift des § 618 begangene Verstoß nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zur Herbeiführung des entstandenen Schadens geeignet ist; dagegen darf er nicht eine andere Ursache ermittelt haben, die diesen Pflichtverstoß als Ursache oder Mitursache ausschließt. Mit diesen Voraussetzungen läßt sich aber ohne weiteres vereinbaren, daß der entstandene Schaden zumindest mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch auf einer anderen Ursache als der Pflichtverletzung des Dienstberechtigten beruhen kann782. Dies zeigt, daß die vom Reichsgericht in seiner späteren Rechtsprechung vertretenen Meinung zutreffend ist; die von ihm gebildeten Grundsätze lassen sich nicht mit einem Anscheinsbeweis der Kausalität rechtfertigen. Denn ein solcher Anscheinsbeweis würde voraussetzen, daß sich die Pflichtwidrigkeit mindestens als die wahrscheinlichste von allen in Betracht kommenden Schadensursachen darstellt, eine Forderung, die vom Reichsgericht für den Beweis der „nach dem natürlichen Lauf der Dinge zur Schadensverursachung geeigneten Pflichtverletzung" nicht erhoben wurde783. Sind die von der Rechtsprechung für den Beweis der rechtserheblichen Tatsachen des § 618 BGB aufgestellten Grundsätze auf eine Beweislastregelung zurückzuführen, dann ist zu klären, welchen Inhalt die dieser Regelung zugrundeliegenden Beweislastbestimmungen haben. Insbesondere kommt es darauf an festzustellen, wie sich die Voraussetzung, das pflichtwidrige Verhalten des Dienstberechtigten müsse %ur Verursachung 779
RGZ 138, 38f. (oben N. 770). Das RG meinte, die vorher vertretene Ansicht habe auf einer Verkennung des Anscheinsbeweises beruht. 780 vgl. die in N. 770 zitierten Entscheidungen ab 1932. 781 BGH, NJW 1958, S. 1438 (oben N. 771). 782 RG, HRR 1934 Nr. 1667 (oben N. 770) will diese Regelung auch dann anwenden, wenn eine andere Ursache sogar wahrscheinlicher als der Pflichtverstoß des Dienstberechtigten den Schaden herbeigeführt hat. 783 Darauf hat auch Heinsheimer, JW 1922, S. 485, in seiner Besprechung des RGUrteils vom 11. 10. 1921 (oben N. 770) hingewiesen; allerdings kann dem daraus gezogenen Schluß, es müsse sich deshalb um einen „speziellen Fall" des Prima-facie-Beweises handeln, dessen Unterschied zum allgemeinen Anscheinsbeweis durch den Schutzzweck des § 618 BGB begründet werde, nicht zugestimmt werden.
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des Schadens nach dem natürlichen Laufe der Dinge geeignet sein, in diese Beweislastregelung einfügt. Denn durch den Tatbestand des § 618 BGB ist eine derartige Eignung zumindest nicht ausdrücklich vorgeschrieben. Sie könnte aber dennoch in dem Erfordernis des Kausalzusammenhangs zwischen Pflichtverstoß784 und Schaden eingeschlossen sein, weil für eine Schadenshaftung aufgrund der Theorie des adäquaten Ursachenzusammenhangs verlangt wird, daß die Ursache nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge generell geeignet sei, den eingetretenen Erfolg herbeizuführen785 oder negativ formuliert: daß die Möglichkeit des eingetretenen Erfolgs nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegt786. Es kommt auf die Auslegung der Worte „nach dem natürlichen Verlauf der Dinge geeignet" an, ob diese Wendung mit der Forderung übereinstimmt, die von der Adäquan^theorie an die Kausalität gestellt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch seltene Folgen, die nur nach der Erfahrung und dem Wissen eines gedachten „optimalen Beobachters"787, der über das gesamte Wissen der Menschheit verfügt788, möglich erscheinen, nach Auffassung des Bundesgerichtshofs noch adäquat sein sollen789, während die Wendung von dem natürlichen Verlauf der Dinge mehr auf einen nach der Lebenserfahrung zu erwartenden Erfolg hindeutet. Auch darf nicht übersehen werden, daß diese Beweislastregelung auf einer Interessenabwägung beruht und daß den anzuerkennenden Interessen des Dienstberechtigten eine allzu weite und großzügige Auslegung zuwiderlaufen würde. In der Rechtsprechung ist bisher noch kein Fall entschieden worden, in dem sich die hier erörterte Frage ergab und dazu Stellung genommen werden mußte, ob eine Pflichtwidrigkeit, die „nach dem natürlichen Verlauf der Dinge" zur Herbeiführung des Schadens ungeeignet erschien, dennoch als adäquate Schadensursache in Betracht kommen konnte. Gleichgültig jedoch, ob eine weitere oder — wofür vieles spricht — engere Auslegung zu befürworten ist und ob das Erfordernis der Eignung zur Schadensverursachung vom Tatbestand des § 618 BGB erfaßt wird, auf jeden Fall unterscheidet sich die von der Rechtsprechung für die Kausalität gebildete Beweislastregel in ihrem Inhalt von allen bisher betrachteten Beweislastbestimmungen. Denn der zusätzliche Sachverhalt, von dessen Erfüllung die Wirkung der Beweislastregel abhängig gemacht ist, liegt auch bei einer engen, sich auf gewöhnliche Folgen beschränkenden Auslegung des Eig784
Dieser Pflichtverstoß besteht in dem Unterlassen einer durch § 618 Abs. l und 2 BGB gebotenen Maßnahme. Zu der Frage der Kausalität einer Unterlassung für einen bestimmten Erfolg vgl. oben N. 601. 785 RGZ 158, 34, 38 (4. 6. 38 — V 17/38). 786 RGZ 169, 84, 91 (30. 3. 42 — V 120/41). 787 BGHZ 3, 261, 266 (23. 10. 51 — I ZR 31/51), der die von Traeger (Kausalbegriff im Zivil- und Strafrecht, 1904) entwickelte Formel übernimmt. Kritisch dazu Heinrich Lange, AcP 1956, S. 118f. 788 RGZ 81, 359, 361 (15. 2. 13 — I 358/12). 788 Vgl. auch Blomeyer, Schuldrecht, S. 169; J. Esser, Schuldrecht I, S. 302ff.
188
1. Teil. 2. Abschn. Beweislast u. richterl. Beweis- u. Verhandlungswürdigung
nungsmerkmales zum größten Teil innerhalb der vom Tatbestand des § 618 BGB vorgeschriebenen Voraussetzungen; dies unterscheidet die Beweislastregel von einer Vermutung790. Andererseits würde durch diesen Sachverhalt — anders als bei einer Beweislastnorm mit nur vorgetäuschtem zweigliedrigen Tatbestand791 — auch dann kein Tatbestandselement des § 618 BGB verwirklicht werden, wenn von einer weiten Auslegung ausgegangen würde. Denn die Frage der Verursachung, die Frage also, ob der Pflichtverstoß tatsächlich conditio sine qua non des konkreten Schadens ist, bleibt dabei offen. Im Tatbestandsaufbau und in der Funktionsweise ist diese Beweislastregel der Vermutung stark angenähert. Sie ist tatbestandsmäßig verwirklicht, wenn Zweifel hinsichtlich der (naturgesetzlichen) Kausalität zwischen Pflichtenverstoß und Schaden nicht geklärt werden können und wenn die sich nach dem natürlichen Verlauf der Dinge zu beurteilenden Eignung der Pflichtwidrigkeit zur Schadensverursachung feststeht; sie bewirkt, daß die Ermittlung von Tatsachen, aus denen sich der ursächliche Zusammenhang ergibt, fingiert wird792. Derartige Beweislastregeln sind zwar außergewöhnlich, sie kommen aber auch in Rechten anderer Länder vor. So haben die schwedischen Arbeitsgerichte eine ganz ähnliche Beweislastregelung für die gerichtliche Aufhebung von Kündigungen entwickelt, die gegen das Gesetz über das Vereinigungs- und Verhandlungsrecht von 1936 verstoßen. Nach § 3 dieses Gesetzes sind Maßnahmen des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer verboten, die das Koalitionsrecht verletzen. Für die Frage, ob eine Kündigung unter dieses Verbot fällt, verlangen die schwedischen Arbeitsgerichte im Interesse des Arbeitnehmers nur, daß eine solche Möglichkeit glaubhaft gemacht wird; gelingt dies, dann wird die Kündigung aufgehoben, wenn nicht festgestellt werden kann, daß den Arbeitgeber andere „objektiv annehmbare" Gründe zur Kündigung veranlaßten798. An die Glaubhaftmachung werden keine hohen Anforderungen gestellt, die vom Arbeitgeber vorgetragenen Gründe werden dabei nicht berücksichtigt, und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Verstoß gegen § 3 des genannten Gesetzes wird nicht verlangt. Darin zeigt sich eine Ähnlichkeit mit dem Eignungsmerkmal im Rahmen der Beweislastregelung für § 618 BGB. Auch für den Beweis der Gründe, die ausschließen, daß die Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers Anlaß für die Kündigung war, genügt ebensowenig wie bei § 618 für BGB den Beweis anderer Schadensursachen, daß solche Gründe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Betracht kommen können, vielmehr müssen sie mit einer verhältnismäßig hohen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden79*.
Für den Gegenbeweis folgt aus der für § 618 BGB gebildeten Beweislastregel: Gelingt es, die Eignung zur Schadensverursachung in Frage zu stellen, dann greift die Beweislastregel nicht ein; das gleiche gilt, wenn die Schadensursache geklärt werden kann. Zweifel an der Schadensursache 790 791 792 793 794
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
oben S. 72, 75. oben S. 73 ff. auch unten S. 311. Bylund, S. 73ff., 102ff., 190ff. Bylund, S. 118 ff., 194.
§ 7 Die „Umkehr der Beweislast"
189
sind — wie dargelegt796 — Voraussetzung für das Eingreifen der Beweislastregel. Die Rechtsprechung verlangt deshalb zu Recht, daß ein Geschehensablauf festgestellt wird, der die Pflichtverletzung als Schadensursache mit einer für die prozessuale Ermittlung von Tatsachen erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausschließt. Die Feststellungslast hinsichtlich der Kausalität zwischen dem Pflichtverstoß und dem Schaden geht von dem Geschädigten auf den in Anspruch genommenen über, wenn die Eignung zur Schadensverursachung in dem von der Rechtsprechung verlangten Maße geklärt ist. Es kann deshalb in diesem Fall von der Überwälzung oder der Umkehr der Feststellungslast gesprochen werden. 795
Vgl. oben S. 19ff., 71.
ZWEITER TEIL Die geschichtliche Entwicklung
Das geltende Beweisrecht stellt sich als das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung dar, die über das gemeine Recht, die Lehren der Glossatoren und Kommentatoren, germanische und altdeutsche Rechtsideen bis 2um römischen Prozeßrecht in seinen verschiedenen Gestaltungen zurückreicht. Insbesondere in der Beweislastlehre wirken überkommene Rechtsanschauungen fort. Deshalb bietet eine geschichtliche Betrachtung keineswegs nur einen interessanten Überblick über die Art und Weise der Wahrheitsfindung und die Lösung des Problems einer fehlgeschlagenen Sachverhaltsklärung im Prozeß früherer Rechtsordnungen, sondern trägt wesentlich zur Erläuterung und zum Verständnis des heutigen Rechts bei1. Es handelt sich bei der folgenden Darstellung mithin nicht um eine historische „Zierleiste"2, die den übrigen Ausführungen beigegeben wird, sondern um den Versuch, die Fundamente sichtbar zu machen, auf denen unser Beweisrecht und die Beweislastlehre aufbauen. Auf diesen Weg läßt sich am besten feststellen, ob in der Beweislastlehre Reste überholter Entwicklungsphasen enthalten sind, deren Beseitigung die Klärung der Beweislastfrage erleichtern würde. Eine Beweislastregelung hängt weitgehend von dem Inhalt des Verfahrens ab, in dem sie angewendet wird. Um diese Einflüsse und Zusammenhänge kenntlich zu machen, wird auch das übrige Beweisrecht und das Verfahren im ganzen kurz — meist nur skizzenhaft — beschrieben werden. § 8 Der römische Zivilprozeß Der römische Zivilprozeß ist im Laufe seiner Entwicklung grundlegend überarbeitet und umgestaltet worden3. Aus dem Gerichtsverfahren der römischen Frühzeit4, von dem wir nur recht wenig wissen entstand der 1
Vgl. Sturm, Jus 1969, S. 445. Diesen Vorwurf erhebt v. Seuffert, ZZP 35, S. 104, gegenüber den Ausführungen Leonhards über die geschichtliche Entwicklung der Beweislastlehre. 8 Vgl. dazu den Überblick bei Käser, ZPR, S. 3—9. * Vgl. Käser, aaO, S. 17 ff. 2
§ 8 Der römische Zivilprozeß
191
Prozeß der legis actiones, ihm folgte der Formularprozeß, der vom Kognitionsverfahren abgelöst wurde. Die Übergänge von der einen auf die andere Prozeßform waren fließend; teilweise galten sie längere Zeit nebeneinander. I. Die vorklassische und klassische Periode
a) Gericht und Verfahren 1. Der Legisaktionenprozeß Der Prozeß der Legisaktionen6 war dadurch gekennzeichnet, daß in ihm das einzelne privatrechtliche Begehren gerichtlich nur durchgesetzt werden konnte, wenn in den leges, den XII-Tafeln oder späteren Volksgesetzen6, eine actio7 dafür vorgesehen war. Das Verfahren gliederte sich in zwei Abschnitte, in das „in iure" und in das „apud iudicem"8. Das Verfahren in iure wurde vor dem Prätor9 abgewickelt; es diente zur Klärung der Frage, ob für den Rechtsstreit ein Urteilsgericht eingesetzt und mit welchem Streitprogramm sowie vor welchem Richter der Prozeß durchgeführt werden sollte. Waren die Voraussetzungen für die Zulassung des Streitverfahrens erfüllt, konnte insbesondere der Kläger für sein Begehren nach dem Gesetz Rechtsschutz beanspruchen und widersprach der Beklagte dem gegen ihn erhobenen Anspruch10, dann gestattete der Prätor den Parteien die Streiteinsetzung. Durch diese Streiteinsetzung, die litis contestatio11, die durch Austausch feierlicher Spruchformeln vollzogen wurde, legten die Parteien gemeinsam mit dem Prätor die bestrittenen Rechtsbehauptungen des Klägers nach Grund und Inhalt fest12. Mit der Bestimmung 5
Vgl. dazu Gai 4—31; von Bethmann-Hollweg, I, S. 33ff.; Käser, aaO, S. 24ff.; Bekker, S. 18ff.; Engelmann, 2, 2, S. 30ff.; Wenger, Institutionen, S. 118ff.; Juncker, Gedenkschrift, S. 199ff.; Kariowa, aaO; Söllner, S. 45ff., 72ff. 8 Vgl. Wenger, Quellen, S. 372ff.; Jörs-Kunkel-Wenger, S. 5f., insbes. N. 1. 7 Zum Begriff: Käser, ZPR, S. 172ff.; Wlassak, RE, Sp. 308; vgl. auch Kaufmann, JZ 1964, S. 483f. Zu den verschiedenen Typen: Käser, aaO, S. 63ff.; von BethmannHollweg, I, S. 126ff.; Sohm-Mitteis, S. 650ff. 8 Diese Bezeichnung ist genauso wie „in iudicio" üblich geworden, aber untechnisch zu verstehen (Käser, ZPR, S. 31 N. 2). ' Wer vor Schaffung des Prätorenamtes die Gerichtsbarkeit ausübte, ist zweifelhaft (vgl. Käser, ZPR, S. 26 ff.). 10 Zu einem Streitverfahren kam es nicht, wenn der Beklagte den Anspruch des Klägers anerkannte oder ihn nicht formgerecht bestritt; vgl. dazu Käser, aaO, S. 54ff. 11 Litern contestari heißt wörtlich gemeinsam Zeugen für den Prozeß aufrufen (Jahr, S. 226). Wesen und Inhalt dieses Rechtsinstituts sind streitig; vgl. dazu Jahr, S. 19ff., 59ff.; Käser, ZPR, S. 57ff.; Levy-Bruhl, Recherches, S. 188f.; Mayer-Maly, SZ 78, S. 493; J. G. Wolf, S. 28ff., 39ff. 12 Käser, aaO, S. 57; Dulckeit-Schwarz, S. 79.
192
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
des Urteilsgerichts, das entweder aus einem Einzelrichter oder einer Richterbank bestand13, schloß das Verfahren in iure. Aufgabe des Urteilsgerichts war es dann, über den im vorangegangenen Verfahrensteil genau bestimmten Streitgegenstand die Beweise zu erheben und das Urteil zu sprechen.
2. Der Formularprozeß Die Einschränkung des Rechtsschutzes und der strenge, schwerfällige Formalismus, der die legis actiones beherrschte14, ließen dieses Verfahren bei fortschreitender Entwicklung des römischen Staates unzureichend werden. In der Praxis der prätorischen Gerichtsbarkeit bildete sich deshalb etwa im dritten Jahrhundert v. Chr. eine neue Verfahrensordnung aus, der Formularprozeß, in dem an die Stelle der starren Spruchformeln die auf den einzelnen Prozeß zugeschnittene formula trat. Dieses Verfahren dürfte usprünglich für solche Ansprüche geschaffen worden sein, für die nach den legis actiones kein Rechtsschutz vorgesehen war16. Denn in ihm konnte auch ohne gesetzliche Anerkennung ein Anspruch durchgesetzt werden, wenn entweder das Edikt des Prätors eine actio dafür enthielt oder wenn der Prätor das Begehren des Klägers im Einzelfall als rechtsschutzwürdig ansah und eine actio in factum erteilte18. Die Zweckmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit dieser neuen Prozeßform ließ in der Praxis das Legisaktionenverfahren in seiner Bedeutung allmählich immer mehr zurücktreten, bis es durch die leges luliae iudicorum privatorum, zwei Prozeßgesetze des Augustus von 17 v.Chr. — von Ausnahmen abgesehen — beseitigt wurde17. Auch im Formularprozeß teilte sich das Verfahren in iure und apud iudicem. Im Verfahren in iure prüfte der Prätor18 in gleicher Weise wie im ersten Verfahrensabschnitt des Legisaktionenprozesses die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen19; des weiteren klärte er, ob Rechtsschutz- und Prozeßwürdigkeit sowie die Sachgerechtigkeit des klägerischen Begehrens bejaht werden konnten20. Die Rechtsschutzwürdigkeit war nur dann besonders zu untersuchen, wenn der Kläger eine actio beantragte, die nicht im Edikt enthalten war; sonst war diese 13
Vgl. Käser, aaO, S. 37 ff. Das geringste Abweichen vom Wortlaut der Spruchformeln, in denen die Behauptungen und das Begehren der Parteien regelmäßig vorzutragen waren, hatte den Prozeßverlust zur Folge (vgl. Gai 4,11; Käser, ZPR, S. 24). Zu vergleichbaren Erscheinungen im germanischen Recht vgl. unten S. 211. 15 Käser, aaO, S. 3f.; Kunkel, Rechtsgeschichte, S. 92. 16 Jörs-Kunkel-Wenger, S. 370; von Bethmann-Hollweg, II, S. 313ff. 17 Vgl. Gai 4, 30f.; Käser, ZPR, S. 25, 109, 115ff, mit weiteren Nachweisen. 18 Zur Zuständigkeit anderer Gerichtsmagistrate.· Käser, aaO, S. 125ff. 19 Käser, aaO, S. 179 ff. 20 Vgl. Käser, aaO, S. 177 f. 14
§ 8 Der römische Zivilprozeß
193
Frage bereits durch die Aufnahme in das Edikt positiv entschieden. Die Prozeßwürdigkeit fehlte, wenn die Klage offensichtlich unbegründet war, die Sachgerechtigkeit war zu verneinen, wenn der Anspruch des Klägers zwar eine Grundlage im geschriebenen Recht fand, die Anwendung dieses Rechtes aber im Einzelfall eine Ungerechtigkeit bedeutet hätte.
Genügte der geltend gemachte Anspruch des Klägers allen zu stellenden Anforderungen, dann erteilte der Prätor die formula. Die formula hatte die Funktion, Aufgaben und Besetzung des Urteilsgerichts verbindlich festzulegen. In ihr waren alle zwischen den Parteien bestrittenen rechtserheblichen Fragen aufgezeichnet, die das Urteilsgericht entscheiden sollte. Der Wortlaut der Formel wurde vom Kläger vorgeschlagen21; er stützte sich dabei im allgemeinen auf die öffentlich bekanntgemachten Musterformeln, die es für jede anerkannte actio gab22. Als regelmäßige und typische Bestandteile, die aber nicht in jeder Formel enthalten sein mußten, werden von Gaius (4, 39) genannt; demonstratio, intentio, adiudicatio, condemnatio. Die demonstratio ist die Zusammenfassung des Sachverhalts, auf den sich der Rechtsstreit bezieht23; die intentio umfaßt Klagegrund — und bei Leistungsklagen — die Leistung, die der Kläger fordert24; durch die adiudicatio wird der Richter bevollmächtigt, die Streitsache einer Partei zuzusprechen und z. B. bei Teilungsklagen durch rechtsgestaltendes Urteil dingliche Rechte neu zu begründen25; die nur bei Leistungsklagen vorkommende condemnatio weist den Richter an, zu verurteilen oder freizusprechen2'. Weitere Bestandteile einer Formel konnten die exceptio27 und die praescriptio28 sein.
Der Beklagte konnte Anträge auf Abänderung der Formel stellen oder Gegenrechte geltend machen, die durch exceptiones, im älteren Recht durch praescriptiones (pro reo) in die Formel eingefügt wurden. Die exceptio war eine in die Formel eingefügte Klausel, die eine Ausnahme von den Verurteilungs voraussetzungen enthielt29. Sie betraf zivilrechtliche und prozessuale Tatbestände. So wurde z. B. mit der exceptio doli mali dem Kläger entgegengehalten, daß er entweder beim Erwerb des geltend gemachten Rechts einen Verstoß gegen bona fides, Treu und Glauben, begangen habe oder daß er einen solchen Verstoß durch die Klageerhebung begehe30. Jedoch wurde nicht jedes Verteidigungsvorbringen des Beklagten in eine exceptio aufgenommen; vielmehr war die Form der Berücksichtigung der vom Beklagten geltend gemachten Einwände von der Art und dem Aufbau der Formel abhängig. 21
Vgl. Wenger, Praetor, S. 8 ff., 21 ff. Buckland, S. 627; Broggini, NJW 1962, S. 1651; Kunkel, Rechtsgeschichte, S. 95 f. 23 Gai, 4, 40; Keller-Wach, S. 193. 24 Gai, 4, 41; vgl. dazu Juncker, Studi Riccobono, S. 238 ff. 25 Vgl. Gai, 4, 42; Keller-Wach, S. 195f. 26 Vgl. Gai, 4, 43; Bachofen, S. 160ff. 27 Vgl. Gai 4, 115—125. 28 Vgl. Gai 4, 130—137. 29 Vgl. Wenger, RE, Sp. 1553ff.; Sohm-Mitteis, S. 700ff.; Albrecht, Exceptionen, S. 6ff. 30 Vgl. Sohm-Mitteis, S. 705ff.; Seid], S. 176. 22
13 Musielak, Beweislast
194
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung Die praescriptio war — worauf bereits ihr Name hindeutet — eine an den Anfang der Formel gestellte Klausel, durch die das Urteilsgericht angewiesen wurde, den ihr zugrundeliegenden Tatbestand vorab zu prüfen. War sie begründet, so war bei der praescriptio pro reo die Klage abzuweisen, ohne daß es zu einer Untersuchung des Klagegrundes kam31.
Gegenüber der exceptio des Beklagten konnte der Kläger die Aufnahme einer Gegeneinrede (replicatio) in die Formel beantragen32; ihr konnte vom Beklagten die duplicatio entgegengesetzt werden, die vom Kläger wiederum durch die triplicatio33 beantwortet werden konnte und so fort34. Das Verfahren schloß mit der litis contestatio35; mit ihr wurde die Streitsache in das Verfahren vor dem Urteilsgericht überführt38.
b) Das Beweisrecht
1. Die Beweismittel Beweismittel waren im Legisaktionenprozeß zunächst die Parteiaussage, insbesondere die eidliche, und die immer durch Eid zu erhärtende Zeugenbekundung; später kamen Augenschein, Urkunde und Sachverständigenbeweis hinzu37. Da nach Auffassung der Römer der Verfahrensabschnitt apud iudicem dem Bereich des Tatsächlichen zuzuordnen war38, wurde er von den Juristen weitgehend freigegeben und zur Zeit der späteren Republik und des Prinzipats von der forensischen Rhetorik ausgefüllt39. Die Mittel der Rhetorik waren mehr psychologischer Art, die Kunst, durch subjektive Sachdarstellung zu überzeugen40, als der Beweis einzelner konkreter Rechtspositionen41. Diese Einstellung wirkte sich auf Auswahl und Einteilung der Beweismittel aus, die von der Rhetorik verwandt wurden. Die Rhetoriker sahen in jedem tatsächlichen und rechtlichen Um81
Vgl. Wlassak, SZ 33, S. 81 ff. Gai 4, 126, 126a; Jul. D. 27, 10, 7, If.; Ulp. D. 44, l, 2, 1. 33 Gai 4, 127 f. 34 Hier ergab sich eine Behauptungslast der Parteien, die bei den im Gesetz oder im Edikt des Prätors vorgesehenen Klagen und den anerkannten exceptiones von vornherein genau feststand (vgl. Kiefner, SZ 81, S. 224f.). 85 Über Wesen und Inhalt der litis contestatio im Formularprozeß wird gestritten; vgl. dazu Käser, ZPR, S. 218ff.; Jahr, S. 165ff.; Mayer-Maly, SZ 78, S. 499ff.; DulkeitSchwarz, S. 149f.; J. G. Wolf, S. 7ff., 35ff. 38 Vgl. Käser, aaO, S. 224; Jahr, S. 126. 37 Vgl. Broggini, RSJB XVI, S. 263if.; einschränkend Bertolini, I, S. 143, II, S. 134. 38 Vgl. Schulz, Prinzipien, S. 22, 171; Kunkel, Herkunft, S. 369. 89 Vgl. Pugliese, RSJB XVI, S. 288ff.; Käser, ZPR, S. 277; Steinwenter, SZ 65, S. 87ff.; Sturm, RIDA 9, S. 383. 40 Vgl. Broggini, NJW 1962, S. 1650, 1652f. 41 Käser, aaO; Lemosse, S. 159f. 32
§ 8 Der römische Zivilprozeß
195
stand, der geeignet war, in irgendeiner Weise die Uberzeugungsbildung des Richters zu beeinflussen, ein Beweismittel und teilten diese Mittel — je nachdem ob sie vom Redner als unabänderlich hingenommen werden mußten oder künstlich erzeugt und gewandelt werden konnten — in probationes inartificales und probationes artificales ein42. Zu der ersten Gruppe rechneten sie neben Beweismitteln im juristischen Sinne wie Zeugen- und Parteiaussagen43, Urkunden44, Sachverständige45 und Augenschein46 auch Gesetze, Dekrete und Senatsbeschlüsse sowie Gerüchte (rumores), Vorentscheidungen (praeiudicia) und den Ruf von Personen (fama)47. Als probationes artificales galten Indizien (signa), logische Schlüsse, (argumenta) und typische Beispiele (exempla)48; zumindest während der Blütezeit der forensischen Rhetorik dürften diese künstlichen Beweismittel eine bevorzugte Stellung eingenommen haben49.
2. Die Beweiswürdigung Ist zu vermuten, daß der Richter zur Zeit der römischen Frühgeschichte an feste Beweisregeln gebunden war50, so waren diese Bindungen in dem uns bekannten Recht bereits weitgehend gefallen61. Nur in wenigen Fällen galten im Legisaktionenprozeß noch Beweisregeln, die den Richter hinderten, vorgetragene Tatsachen nach eigenem Ermessen zu werten. So war z.B. derjenige, der bei einer Haussuchung vor Zeugen als Besitzer einer gestohlenen Sache ermittelt wurde, unwiderlegbar als Dieb dieser Sache anzusehen52. Dagegen dürfte die früher bestandene Bindung des 42
Pugliese, aaO, S. 308ff., 344ff.; Lausberg, S. 190ff.; J. Ph. Levy, Studi Solazzi, S. 425ff.; Sturm, RIDA 9, S. 375. In der Theorie der probationes inartificales und artificales kommt das nicht zu leugnende Bemühen der Rhetoriker zum Ausdruck, ein an sachlichen Kriterien orientiertes System der Beweisführung für ihre Zwecke auszubilden; vgl. Kiefner, SZ 81, S. 219. 43 Vgl. Jörs-Kunkel-Wenger, S. 377. Über den Parteieid mit Ausnahme des Schätzeides (vgl. dazu Broggini, SZ 75, S. 601 ff.; Steinwenter, RE, Sp. 1259) fehlen in den Quellen sichere Anhaltspunkte (Pugliese, RSJB XVI, S. 325ff.; Käser, S. 281, mit weiteren Nachweisen). Das Geständnis vor dem Richter wurde ebenfalls als Beweismittel gewertet (vgl. Kipp, RE, Sp. 869; Käser, aaO, S. 280f.). ** Vgl. Accarias, S. 906; Brunner, Urkunde, S. 44ff., 145ff. 45 Vgl. Wesenberg, RE, Sp. 38. 48 Vgl. von Bethmann-Hollweg, , S. 87, 601. Der Augenschein — das gleiche galt auch für den Sachverständigen — war überwiegend außerhalb des urteilsgerichtlichen Verfahrens bedeutsam; Käser, aaO, S. 284; Rudorff, S. 253. 47 Vgl. Wesenberg, aaO. 48 Sturm, RIDA, 9, S. 375; Lausberg, S. 194ff. 49 Sturm, aaO, insbes. N. 41. 50 Wenger, Wandlungen, S. 19f.; Käser, ZPR, S. 85, AJ, S. 35. 81 Käser, ZPR, S. 85f.; von Bethmann-Hollweg, L, S. 182. 62 Vgl. Gai 3,186f., 191; Käser, EB, S. 40ff., ZPR, S. 85, SZ 68, 137, SZ 71, 225f. 13*
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Richters an den Inhalt einer eidlichen Parteiaussage53 zur Zeit des uns bekannten Legisaktionenverfahrens nicht mehr bestanden haben54. Im Laufe der Zeit wurden auch die letzten Beweisregeln aufgehoben, und im Formularverfahren war die Freiheit richterlicher Tatsachenwürdigung vollkommen55. Die Ausbildung bestimmter Erfahrungsregeln56 über die Bewertung von Beweisen geschah lediglich aus praktischen Gründen zur Erleichterung der Entscheidung und engte die richterliche Ermessensfreiheit keineswegs ein57.
3. Die Beweislast Im Beweislastrecht vollzog sich eine ähnliche Entwicklung wie bei der Beweiswürdigung: die starren Regeln, die es in der Frühzeit hinsichtlich der Beweisführung gegeben haben dürfte58, lockerten sich und ließen dem Ermessen des Spruchrichters auch in diesem Bereich mehr und mehr Raum. Wie weit die Freiheit des Richters dabei ging, ist allerdings eine recht umstrittene Frage. Den Quellen kann zu dieser Frage nur wenig entnommen werden; denn die in ihnen enthaltenen Aussagen über die Beweislast betreffen entweder das Kognitionsverfahren oder behandeln Spezialprobleme59. Insbesondere helfen die berühmten Beweislastregeln des Corpus luris D. 22.3 und C. 4. 19 kaum weiter. Denn diese Texte sind weitgehend überarbeitet und aus dem Zusammenhang gerissen und können verläßlich nur die Auffassung wiedergeben, die zur Zeit Justinians zur Beweislastfrage vertreten worden ist60. Sowohl im Legisaktionsverfahren als auch im Formularprozeß galt die Verhandlungsmaxime61. Die Beibringung und Führung der Beweise war allein Sache der Parteien; dies kommt deutlich in der Regel actor probare debet62 53
Diese Frage ist streitig, vgl. Gioffredi, S. 119ff.; Broggini, RSJB XVI, S. 245ff.; Jobbo-Duval, S. 23ff., 26ff.; Käser, ZPR, S. 62. 54 Käser, aaO, S. 85 N. 17; a. A. Broggini, RSJB XVI, S. 261. 65 Käser, SZ 71, S. 227; Levy, lura 3, S. 155; Wenger, Institutionen, S. 192; Simon, S. 140. 66 Bekker, II, S. 158, weist darauf hin, daß sich diese „Klugheitsregeln" — wie er sie nennt — aus der immer wiederkehrenden Frage entwickelt haben dürften, wie in bestimmten Beweissituationen am besten eine Überzeugung zu bilden sei (vgl. auch Steinwenter, SZ 65, S. 88f.). Über solche Klugheitsregeln verfügt wohl jeder Richter, heute der deutsche genauso wie damals der in Rom. 67 Käser, ZPR, S. 278 N. 12, SZ 71, S. 229. 58 Vgl. De Sarlo, AG 114, S. 186E, 189; Käser, SZ, 71, S. 227. 59 Käser, aaO, S. 222; Levy, lura 3, S. 169ff., 177f.; Pugliese, RIDA 3, S. 409ff. 60 Wesenberg, RE, Sp. 37; Levy, aaO, S. 177. 61 Käser, ZPR, S. 8, 275 N. 29; a. A. Sturm, RIDA 9, S. 377ff.; gegen ihn insbesondere Kiefner, SZ 81, S. 220f. N. 43. 62 Z. B. in D. 22. 3. 12.
§ 8 Der römische Zivilprozeß
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zum Ausdruck, die ihrem Sinn nach schon im vorklassischen Recht beachtet wurde63. Ursprünglich war allerdings bei der actio in rem*4, solange in ihr noch der Gedanke der Diebstahlsverfolgung lebendig war65, der Besitzer primär beweisbelastet66, doch hat sich später im dinglichen Sakramentsprozeß auch beim Beweis die Gleichstellung der Parteien ergeben. Wie beide Parteien ihr Herrschaftsrecht an der Sache behaupteten'7, so waren auch beide zum Beweis dafür berufen68. Im Sponsionsprozeß ging dann die Beweisführungslast allein auf den Kläger über, da in dieser Verfahrensart das Recht auf die umstrittene Sache auch nur einseitig von ihm zu behaupten war68.
Über die Bedeutung und Verbindlichkeit der für die Beweislast geltenden Regeln bestehen Meinungsverschiedenheiten. Früher ist fast allgemein angenommen worden, daß der Richter auch im Formularprozeß an starre Beweislastbestimmungen gebunden gewesen sei und die Klage abweisen mußte, wenn dem Kläger die ihm obliegende Beweisführung mißlang70. Dagegen sind neuere Forschungen71 zum Ergebnis gekommen, daß die Sätze der Beweislast zumindest im späten Legisaktionenverfahren und im Formularprozeß Richtlinien darstellten, die dem Richter sagten, welche Partei in einer bestimmten Beweissituation primär zum Beweis berufen war. Dem Richter soll jedoch nicht verwehrt gewesen sein, von der Gegenpartei zusätzliche Beweise zu fordern72, bei einer nicht vollständig gelungenen Sachaufklärung zugunsten der primär beweisbelasteten Partei zu entschei63
Käser, aaO, S. 86; Simon, S. 136f.; vgl. auch Levy-Bruhl, Recherches, S. 214f. Vgl. Gai 4,3; von Lübtow, SZ 68, S. 320ff.; Buckland, S. 675ff. 65 Vgl. Käser, EB, S. 41 S. 66 Käser, ZPR, S. 86, EB, S. 8, 68; Kiefner, SZ 81, S. 227; vgl. auch Wubbe, S. 17. 67 Vgl. Krüger, Capitis deminutio, S. 125ff., 133ff.; Bachofen, S. 60. 68 Käser, ZPR, S. 86, EB, S. 55, 83, 85 f., SZ 68, S. 145 f. 69 Kiefner, SZ 81, S. 227; Broggini, RSJB, XVI, S. 275; Käser, EB, S. 285 ff. 70 So z.B. von Bethmann-Hollweg, II, S. 610; Puchta-Krüger, S. 536f.; Leonhard S. lOff.; anders dagegen von Bar, Recht und Beweis, S. 7, der von bewährten Regeln ohne Normcharakter spricht, die eine Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles zugelassen hätten. Ähnlich Unger, II, S. 564 N. 26; Wehli, JurBl. 1896, S. 469. 71 Insbesondere durch Levy, lura, 3, S. 155f., und Käser, SZ 71, S. 221 ff., ZPR, S. 86, 278f., Studi De Francisci, S. 217, 228. Im gleichen Sinn Kiefner, SZ 81, S. 224, 226; Wesenberg, RE, Sp. 37. Dagegen nehmen Sturm, RIDA 9, S. 371 ff., und Longo, lura 8, S. 43ff., lura 11, S. 149ff., AG 149, S. 61 ff., an, daß im klassischen Recht überhaupt keine Beweislastregeln, auch keine mit Richdiniencharakter, bestanden hätten. Dem Standpunkt der früheren Lehre nähert sich die Auffassung von Pugliese, RIDA 3, S. 349ff., und Feenstra, RSJB XVI, S. 649f., die eine Bindung des Richters an bestimmte Beweislastvorschriften bejahen. Wacke, TRG 1969, S. 412ff, will in dieser Frage zwischen den Regeln der Beweisführungslast, bei denen er die Freiheit des Richters zu Abweichungen bejaht, und den Regeln der Feststellungslast, die den Richter gebunden haben sollen, unterscheiden. Vgl. auch Simon, S. 135 ff. 78 Levy, aaO, S. 155f.; auch Zimmern, S. 404, geht bereits von der Pflicht beider Parteien zur Aufklärung des Sachverhalts aus. 64
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
den, wenn er deren Vorbringen aus welchen Gründen auch immer für glaubhafter hielt73, oder sogar von den Beweislastregeln gänzlich abzuweichen, wenn es dafür triftige Gründe gab74. Bedenken gegenüber einer so weitgehenden Freiheit des Richters muß es allerdings erwecken, daß sich die Parteien offenbar sehr bemühten, wegen der damit verbundenen Vorteile im Beweisverfahren die günstigere Beklagtenrolle zu erhalten75. Im Eigentumsprozeß konnte gegen den Besitzer ein possessorisches Interdikt76 geltend gemacht werden, in dem die Partei obsiegte, die gegenüber dem Gegner „nee vi nee clam nee precario" besaß77. Da der Sieger mit dem Besitz auch die Beklagtenposition im Vindikationsprozeß gewann, wurde das Interdiktenverfahren gerade mit dieser Zweckrichtung zur Vorbereitung des Eigentumsprozesses benutzt78. Ein solches Vorgehen wäre aber sinnlos gewesen, wenn die Parteirolle nur für die primäre Beweisführungslast Bedeutung gehabt hätte und die Folgerungen, die aus einem Scheitern der Sachklärung zu ziehen waren, in das Ermessen des Richters gestellt gewesen wären79. Aufgabe des Spruchrichters war es, sich aufgrund der von den Parteien vorgetragenen Beweise und auch anderer bedeutsamer Tatsachen80 eine Meinung über den Rechtsstreit zu bilden und demgemäß zu entscheiden. Diese Funktion des Richters wird durch die Alternative der typischen Klageformel „si paret condemnato — si non paret absofoito"61 zum Ausdruck gebracht. Umfaßte das „si non paret" der Formel auch den Fall tatsächlicher Zweifel, bedeutete es also nicht nur die Überzeugung des Richters, daß es sich nicht so verhält, wie der Kläger vorträgt, sondern auch das Fehlen einer solchen Überzeugung82, dann kann sich die Regel „actor probare debet" nur auf die Beweisführungslast im Sinne heutiger Terminologie83 beziehen. Für die Folgen der Beweislosigkeit bedurfte es dieses Satzes oder anderer Bestimmungen nicht; „si non paret absolvito" genügte, wenn bei der richterlichen Entscheidung die Fälle einer fehlgeschlagenen Tatsachenermittlung und einer negativen Antwort auf die Beweisfrage gleich zu behandeln waren. 73
Käser, SZ 71, S. 224. Levy, lura, 3, S. 170, unter Hinweis auf das Reskript des Antonius Pius an Manilius (C. 2.1.1); vgl. dazu auch De Sarlo, AG 114, S. 198f.; Micheli, S. 15f. 75 Darauf weist Simon, S. 137 f., besonders hin. 78 Vgl. Käser, ZPR, S. 322, 327 f. 77 Käser, aaO, S. 279. 78 Siber, Scr. Ferrini, IV, S. 98ff.; Käser, PR I, S. 397; Kiefner, SZ 81, S. 228. 7i Simon, S. 138. 80 Der Richter berücksichtigte auch die Vorgeschichte des Rechtsstreites, das Auftreten der Parteien im Prozeß, ihren Ruf, ihre wirtschaftliche und soziale Stellung, ihr Bemühen um eine Klärung des Sachverhalts u.a.m.; vgl. Levy, lura, 3, S. 156; Käset, SZ 71, S. 224; Levy-Bruhl, Recherches, S. 216ff.; Broggini, RSJB XVI, S. 272. 81 Vgl. Käser, ZPR, S. 239. 82 Simon, S. 141. 83 Vgl. oben S. 36 f. 74
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Gegen die Gleichsetzung tatsächlicher Zweifel mit einem negativen Beweisergebnis könnte allerdings das Institut des Eides „sibi non liquere" sprechen. Der Richter, der ihn schwor und damit erklärte, daß ihm die Sache nicht bis zur Entscheidungsreife klargeworden sei, schied aus dem Verfahren aus84. Während es sich nach herrschender Auffassung86 bei diesem Demissionseid nur um eine Möglichkeit handeln soll, von der ein Richter Gebrauch machen konnte, aber nicht mußte, vertritt Sturm86 die These, daß der Richter verpflichtet gewesen sei, bei einem non liquet sein Mandat niederzulegen. Demgemäß faßt Sturm das paret — non paret im Sinne eines Ja oder Nein zum thema probandum auf; tertium non datur. Sowohl nach der herrschenden Lehre als auch nach der Ansicht Sturms bleiben Fragen offen. Ungeklärt ist das Verhältnis ^wischen Demission und Bemislastentscheidung, wenn für den Richter kein Zwang bestand, bei jedem Scheitern der Tatsachenfeststellung auszuscheiden. Soll es wirklich der persönlichen Veranlagung des einzelnen Richters überlassen gewesen sein, wie er sich verhielt? Gab es aber einen solchen Demissionszwang, dann mußte der Fall des non liquet im römischen Prozeß eine seltene Ausnahme gebildet haben, weil eine häufige mutatio iudicis, die bei einem Einzelrichter die notwendige Folge war87, den Rechtsschutz in Frage gestellt hätte. Die Auffassung ist also nur praktisch durchführbar, wenn der Richter bereits bei einem geringen Wahrscheinlichkeitsübergewicht zu einem paret oder non paret gelangte. Hohe Wahrscheinlichkeitsanforderung, wie sie heute von der herrschenden Auffassung im Rahmen der prozessualen Tatsachenermittlung gestellt werden88, in Verbindung mit einem Demissionszwang in Fällen, in denen ein solcher Wahrscheinlichkeitsgrad nicht erreicht wird, müßten zwangsläufig dazu führen, daß häufig eine Streitentscheidung durch den Richter nicht möglich wäre; eine derartige Lösung kann für den römischen Zivilprozeß ausgeschlossen werden. Gleichgültig welcher Auffassung man sich anschließt89, in einem Punkt bleibt das Ergebnis gleich: soweit im Legisaktionen- oder Formularprozeß Beweislastregeln bestanden, betrafen sie die Beiveisführungslast, nicht die Feststellungslast. Mußte der Richter bei einem Mißlingen der Tatsachenklärung ausscheiden, dann konnte es keine Beweislastentscheidung in der Sache und folglich auch keine Regeln dafür geben; fiel die Beweislosigkeit unter das non paret, dann war die daraus zu ziehende Folgerung be84
Vgl. Gellius, Noct. Att. 14. 2. 25; Käser, ZPR, S. 88, 284; Costa, S. 67; Micheli, S. 16. 85 Simon, S. 141; Pugliese, RIDA 3, S. 414f.; vgl. auch die in der vorigen N. Zitierten. M RIDA 9, S. 371 f., insbes. N. 35. 87 Vgl. Käser, ZPR, S. 271 f. 88 Vgl. oben S. 116. 89 Weder für die herrschende Lehre noch für die Ansicht Sturms (so auch ausdrücklich Sturm, RIDA, 9, S. 372 N. 35, selbst) finden sich eindeutige Belegs in den Quellen (anders Simon, S. 141 N. 41, für die herrschende Auffassung).
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
reits im Judikationsbefehl des Prätors ausgesprochen und für zusätzliche Regeln kein Raum. In der theoretischen Betrachtung bleibt allerdings noch eine dritte Möglichkeit, nämlich eine Regelung wie im geltenden Recht: die Trennung zwischen Beweislosigkeit und negativem Beweisergebnis, ergänzt durch Beweislastnormen, die im Fall des non liquet eingreifen. Doch gibt es für eine solche Regelung in den Quellen keinen Anhaltspunkt (zumindest müßte dann die Unterscheidung zwischen Beweisführungs- und Feststellungslast im Ansatz bemerkbar sein). Im übrigen würde diese Lösung eine theoretische und systematische Denkweise voraussetzen, die den römischen Juristen der klassischen Zeit, erst recht ihren Vorgängern und Nachfolgern fehlte90.
Diese Deutung würde es auch erklären, warum der Beweislastfrage in vorklassischer und klassischer Zeit so wettig Beachtung geschenkt wurde. Der rechtserhebliche Tatsachenstoff war bereits im Verfahren in iure festgelegt und nach seiner rechtlichen Bedeutung geordnet91. Jede Partei bemühte sich schon im eigenen Interesse, das ihr Günstige aufzuklären. Sätze wie actor probare debet und reus in exceptione actor est92 dürften in ihrem Ursprung nur die Beschreibung dieser Erfahrung gewesen sein. Daß den römischen Juristen bei dieser Situation besondere theoretische Anstrengungen zur Erfassung und Regelung der Beweislast überflüssig vorkamen, ist verständlich. In seiner Prozeßleitung war der Richter jedoch nicht an dieses Schema günstiger und ungünstiger Tatsachen gebunden. Er konnte sich nach seinem Ermessen an jede Partei wenden, sie zur Ergänzung ihres TatsachenVertrages und auch zum Beweis auffordern, wenn es dafür triftige Gründe gab93. Das Verhalten der Parteien, ihre Bereitwilligkeit, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, waren für den Richter wesentliche Anhaltspunkte für die Bildung seiner Überzeugung. Schließlich mußte jedoch das Beweisverfahren in das Ergebnis paret oder non paret münden. Die dann zu treffende Entscheidung war dem Richter vorgegeben; insoweit bestand keine Ermessensfreiheit94. Die hier vertretene Auffassung zur Beweislastregelung im römischen Zivilprozeß der vorklassischen und klassischen Zeit steht durchaus im 90
Vgl. Käser, ZPR, S. 174. Insbesondere im Formularprozeß durch die formula, wenn auch keineswegs damit gesagt werden soll, daß der Kläger durchweg nur die in der intentio und demonstratio, der Beklagte nur die in der exceptio zusammengefaßten Tatsachen zu beweisen hatte (vgl. Levy, Jura 3, S. 157; Käser, ZPR, S. 279; Wacke, TRG 1969, S. 409f.; von Bethmann-Hollweg, II, S. 611 f.; Naber, Mnem. 49, S. 145 f.). Denn diese Aufteilung war vom Typ und technischen Aufbau der Formel abhängig. 92 Z. B. D. 22. 3. 19 pr.; vgl. dazu Simon, S. 143. 93 Vgl. die in Note 71 Zitierten. 94 Im Ergebnis besteht weitgehend Übereinstimmung mit Wacke, TRG 1969, S. 412f. Unterschiede zu der von Wacke vertretenen Auffassung ergeben sich in erster Linie wohl nur hinsichtlich des Begriffs der Feststellungslast, der hier im Gegensatz zu Wacke als Beschreibung der Wirkungen von Beweislastnormen verstanden wird (vgl. oben S. 33 ff.). 91
§ 8 Der römische Zivilprozeß
201
Einklang mit der oben95 wiedergegebenen Beobachtung, daß die Parteien in Eigentumspro^essen bemüht waren, die Beklagtenrolle zu erhalten. Denn konnte der Kläger sein dingliches Recht nicht beweisen, verlor er den Prozeß (non paret absolvito). Beweisschwierigkeiten konnten insbesondere auftreten, wenn sich der Kläger auf einen abgeleiteten Eigentumserwerb berief und die Berechtigung des Veräußerers sowie möglicherweise der Voreigentümer nachweisen mußte96. . Die nachklassische Zeit Der Formularprozeß in seiner verfeinerten, kunstvollen Gestalt machte einen hohen Stand der Rechtswissenschaften und juristisch gut ausgebildeten Berater der Gerichtsmagistrate und Richter erforderlich. Mit dem Niedergang der klassischen Jurisprudenz im römischen Reich erlosch die geistige Kraft, die den Formularprozeß getragen hatte97. Auch paßte zu der Staatsauffassung der nachklassischen Zeit nicht recht ein Gerichtsverfahren, in dem die Parteien so weit reichende Befugnisse hatten wie im Formularprozeß. Eine Neugestaltung des Verfahrensrechts war die notwendige Folge dieser Entwicklung. Dabei war der klassische Kognitionsprozeß das Vorbild für das neue Verfahren98. Unter Diokletian lief das Formularverfahren praktisch aus; formell abgescharrt wurde es in der Mitte des vierten Jahrhunderts n.Chr. An seine Stelle trat das sog. nachklassische Kognitions verfahren89. a) Das Verfahren Der auf den ersten Blick auffallendste Unterschied Bischen Formular- und Kognitionsprozeß bestand darin, daß das Kognitionsverfahren nicht mehr in zwei Abschnitte geteilt war, sondern als ganzes vor demselben Richter100 abgewickelt wurde101. In materieller Hinsicht weitaus gewichtiger war je95 94
Vgl. S. 198.
Vgl. Kiefner, SZ 81, S. 226ff.; Käser, ZPR, S. 279. 97 Käser, aaO, S. 410. Zu einer weitaus positiveren Beurteilung der juristischen Leistungen in der Zeit nach Diokletian gelangt Schulz, Rechtswissenschaft, S. 335 ff., 338 f. 98 Wenn sich auch das nachklassische Kognitionsverfahren aus der zur Zeit des Prinzipats angewandten cognitio extra ordinem entwickelt hat, bestehen doch zwischen beiden wesentliche Unterschiede (zur klassischen Kognition vgl. Käser, ZPR, S. 339 ff.). Im folgenden ist die Erörterung auf das nachklassische Verfahren beschränkt, soweit nicht ausdrücklich auf den klassischen Kognitionsprozeß Bezug genommen wird. 99 Vgl. dazu Käser, ZPR, S. 410ff.; Simon, S. 13ff.; von Bethmann-Hollweg, III, S. 31 ff.; Wieding, aaO, Collinet, Procedure; Zilletti, aaO. 100 Wegen einzelner Ausnahmen (Vertretung durch den Assessor) vgl. Hitzig, S. 155; Zilletti, S. 161, 196; Käser, aaO, S. 412 N. 13, S. 441, 485 N. 3. 101 Die auch im Kognitionsverfahren vorgenommene Einteilung im principium (primordium, initium) litis, medium litis und definitum negotium (ausführlich dazu Simon, S. 13ff.) hatte mehr theoretische Bedeutung.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
doch, daß die im Formularprozeß den Parteien zugestandenen Befugnisse, die Einsetzung eines von ihnen ausgewählten Richters, die Festlegung des Prozeßprogramms, die private Ladung, im Kognitionsverfahren aufgehoben waren102; die volle Herrschaft über den Prozeßablauf lag allein in der Hand des staatlichen Richters103. Der Kognitionsprozeß wurde durch die Einreichung einer Klageschrift bei Gericht eingeleitet104. Diese Klageschrift, der libellus conventionis, der dem Verfahren auch dem Namen „Libellprozeß" gab, enthielt ohne nähere Begründung zur Sache die Tatsachen, die den Kläger zur Anrufung des Gerichts bestimmten, und den Antrag, den Beklagten zu laden105. Der Richter entschied über diesen Antrag nach einer summarischen Prüfung und ordnete entweder die Ladung des Beklagten an oder wies den Antrag ab, wenn er ihn nach Form oder Inhalt für unzulässig hielt106. Der Beklagte hatte, wenn er den Anspruch des Klägers nicht befriedigte, auf die Klageschrift mit einer Gegenschrift zu antworten, in der er das Klagebegehren ebenfalls ohne Angabe von Gründen nur zu bestreiten brauchte107. Waren beide Parteien vor Gericht erschienen, so prüfte der Richter die Prozeßvoraussetzungen, deren Fehlen die Parteien durch Prozeßeinrede rügten108. Das kontradiktorische Verfahren begann mit der Streiteinlassung des Beklagten, d.h. mit dem Bestreiten des Klagebegehrens. Mit der Streiteinlassung war die litis contestatio vollzogen109.
b) Das Beweisrecht
1. Die Beweismittel Beweismittel waren Zeugen, Urkunden, Sachverständige110, Parteiaussagen111 und Eid; hinzu kamen noch Geständnis und Anerkennung, die 102
Vgl. Wenger, Wandlungen, S. 2ff.; Jörs-Kunkel-Wenger, S. 382. Die Parteien behielten jedoch die Herrschaft über den Prozeßstoff; vgl. Käser, ZPR, S. 421; Zilletti, S. 191 f. 104 Im vierten und in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts begann das Gerichtsverfahren mit der litis denuntiato, einer schriftlichen Streitansage des Klägers an den Beklagten, die mit Erlaubnis und meistens auch mit Hilfe des Gerichts zugestellt wurde; Käser, ZPR, S. 456ff.; vgl. dazu auch Kipp, S. 33ff., 184ff.; Wieding, S. 260ff.; Balogh, S. 451 f. 105 Käser, aaO, S. 461; zum Verfahren vgl. auch Steinwenter, Festschrift, S. 39ff. 106 Von Bethmann-Hollweg, , S. 247ff.; Schulin, S. 596. 107 Käser, ZPR, S. 463. 108 Vgl. Simon, S. 64E; Käser, aaO, S. 477f.; von Bethmann-Hollweg, HI, S. 263ff. 108 Käser, aaO, S. 479, 482ff.; Simon, S. 123ff.; vgl. auch Balogh, S. 462ff. uo Vgl. dazu Wenger, Institutionen, S. 285 f. 111 Vgl. dazu Käser, ZPR, S. 488f.; Simon, S. 208. 103
§ 8 Der römische Zivilprozeß
203
unter den Begriff der confessio zusammengefaßt waren112. Die Zulässigkeit und der Beweiswert einzelner Beweismittel waren durch Rechtsvorschriften geregelt. ad) Zeugen
Unfähig, als Zeuge vor Gericht zu stehen113, waren beispielsweise Sklaven114, Kriminelle115 bestimmte Personen aus den unteren Volksschichten116 und Ketzer117. Durch einen einzigen Zeugen konnte kein Beweis geführt werden118; im Regelfall waren zwei Zeugen erforderlich, aber auch ausreichend119. Für bestimmte Sachverhalte war eine höhere Zeugen^ahl vorgeschrieben. So war der Beweis der Tilgung einer verbrieften Schuld durch fünf Zeugen zu führen120. Das gleiche galt, wenn in Erbfällen die Kognation121 zu beweisen war; hierbei verringerte sich die Zahl der notwendigen Zeugen auf drei, wenn die Zeugenaussagen durch Urkunden bestätigt wurden122. Bei diesen Bestimmungen über eine Mindestzahl von Zeugen handelte es sich um Zulassungsvorschriften, nicht um Beweisregeln. Ob der Richter einen Beweis aufgrund der Aussage von Zeugen in der erforderlichen Zahl als erbracht ansah, hatte er allein zu entscheiden123. bb} Urkunden
Die Bedeutung der Urkunden als Beweismittel nahm in der nachklassischen Zeit wesentlich zu124. Wichtige Vorgänge und Erklärungen wurden im allgemeinen in Urkunden festgehalten125; für bestimmte Rechtsgeschäfte war die Aufnahme von Urkunden vorgeschrieben128. Die dem Gericht vor112 113
Simon, S. 202ff.; Cuq, S. 897f.; Collinet, Procedure, S. 355f. Zum Verfahren der Ladung und Vernehmung der Zeugen eingehend Simon, S.
210 ff. U4
Simon, S. 233ff.; Käser, ZPR, S. 494 N. 64; jeweils mit Nachweisen. Die Aussage eines Sklaven, die unter der Folter erhärtet wurde, konnte jedoch im Prozeß verwendet werden (Simon, S. 235). 115 Vgl. D. 22. 5. 3. 5. Diese Regelung bestand schon im klassischen Recht (vgl. Käser, ZPR, S. 282). 118 Z. B. die ihren Lebensunterhalt auf dem Schemel sitzend oder auf dem Boden kriechend verdienten; vgl. Nov. 90. 1. 117 C. 1. 5. 21. Vgl. Simon, S. 239f. 118 CT. 11. 39. 3 (334) = C. 4. 20. 9. Vgl. Fragistas RSJB XVI, S. 613ff.; Wesenberg, RE Sp. 38; Balogh, S. 485. ue Simon, S. 255, 259. 120 C. 4. 20. 18. pr. (528). Vgl. Fragistas, aaO.S. 619f.;von Bethmann-Hollweg, , S. 276. 121 Vgl. Käser, PR I, S. 350f.; Rein, S. 501. 122 C. 4. 20. 15. 6. 123 Simon, S. 254, 259. 124 Käser, ZPR, S. 489; vgl. auch Bertolini, m, S. 154; Morrison, Tulanc Law Review 33, S. 585. 125 Vgl. Levy, Vulgarrecht, S. 46; J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 12. m Vgl. z. B. C. 4.2.17 (528); Nov. 1.2. l; 74.4.1/2; dazuDölger, RSJB XVI, S. 602f.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
gelegten Urkunden127 wurden einer Echtheitsprüfung™ (impositio fidei129) unterzogen. Bei Privaturkunden, bei deren Errichtung Zeugen mitgewirkt hatten, wurde die Echtheit der Unterschriften durch Vernehmung der Zeugen oder durch Schriftvergleich festgestellt130. Bei zeugenlosen Privaturkunden kam nur ein Schriftvergleich in Betracht131. Die Echtheit einer Urkunde, die von einem berufsmäßigen Urkundenschreiber, dem tabellio gefertigt war132, wurde unter Hinzuziehung des tabellio untersucht. Nur wenn die bei der Errichtung mitwirkenden Zeugen nicht zur Verfügung standen, beglaubigte der tabellio seine Urkunde durch Eid allein133. War die Echtheit einer Urkunde nach eingehender Prüfung festgestellt worden, dann blieb schon rein tatsächlich kein Raum mehr für widersprechende Zeugenbekundungen. Demgemäß wurde der Zeugenbeweis gegenüber einer (echten) Urkunde ausgeschlossen134. ) Eid Zwischen drei Arten des Eides wird im Justinianischen Recht unterschieden: iusiurandum vonluntarium, necessarium und iudicale135. Der „freiwillige Eid" wurde zwischen den Parteien außergerichtlich vereinbart und geschworen, die Quellen geben keine klare Auskunft über seine Bedeutung und Wirkung als Beweismittel im Prozeß136. Der „notwendige" und der „richterliche" Eid wurden beide vom Richter auferlegt, nur ging dies beim necessarium auf Veranlassung einer Partei zurück, nämlich auf ihre Erklärung, den Eid dem Gegner zuschieben zu wollen137, während beim iudicale der Richter nach eigenem Ermessen entschied138. In beiden Fällen konnte der Betroffene den Eid zurückweisen, wenn er ihn nicht lei127
Eine Ausnahme gilt nur für öffentliche Urkunden, die Akten und Protokolle von Gericht und Behörden, für die keine Echtheitsprüfung erforderlich war (Simon, S. 298). Jedoch blieb der Gegenbeweis unrichtiger Beurkundung möglich (Käser, ZPR, S. 490 N. 19, unter Hinweis auf D. 1. 18. 6. l von Bethmann-Hollweg, III, S. 280; Bertolini, III, S. 156. 128 Voraussetzung dafür war allerdings, daß der Gegner die Echtheit der Urkunde nicht 2ugestanden hatte (vgl. C. 4. 21. 16 pr.; Nov. 73. 1). 129 Eingehend dazu Simon, S. 289 ff. 130 C. 4. 21. 20. l (530); Nov. 73. 7. 131 Zu den Bemühungen Justinians, die zeugenlose Privaturkunde nach Möglichkeit auszuschließen (s. dazu z.B. C. 4. 2. 17; 4. 21. 20. 1; Nov. 49. 2; 73.1/2), ausführlich Simon, S. 291 ff. 132 Vgl. Käser, PR II, S. 53f.; von Bethmann-Hollweg, III, S. 168ff. 133 Simon, S. 297. 134 C. 4. 20. 1.; vgl. dazu Simon, S. 267ff., 314f. 135 Vgl. die Titelrubrik D. 12. 2. 136 Vgl. Simon, S. 339 ff. 137 Vgl. Simon, S. 315, 329f. 138 Simon, S. 329f. Der Richter griff insbesondere zum Mittel des Eides, wenn andere Beweise nicht ausreichten (vgl. D. 12. 2. 31; C. 4. 1. 3; Steinwenter, RE, Sp. 1258f.; Cuq, S. 896f.).
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sten wollte139, das iusiurandum necessarium konnte auch zurückgeschoben werden140. War der Eid geleistet, dann galt die beschworene Behauptung als bewiesen141, der Richter war daran gebunden142.
2. Die Beweiswürdigung Die dargestellten Bestimmungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln und die vereinzelten Regeln über den Beweiswert schränkten zwar die Freiheit richterlicher Beweiswürdigung im Vergleich zum klassischen Recht erheblich ein, ließen aber dennoch dem Ermessen des Richters einen weiten Raum. Die Reglementierung143 wirkte sich primär auf die formelle Seite des Beweisverfahrens aus, wenn auch das Ziel war, ein richtiges Ergebnis bei der prozessualen Tatsachendarstellung zu sichern. Von einem legalen Beweissystem144 kann aber keineswegs gesprochen werden, wenn man die Regelung des Beweisrecht im romanisch-kanonischen Prozeß als Maßstab nimmt145.
3. Die Beweislast Die durch die Spruch- und Schriftformeln vorgenommene Gliederung und Zuordnung des Streitstoffes gab es im Kognitionsverfahren nicht mehr. Die Antwort auf die Frage, welche Partei bestimmte rechtserhebliche Tatsachen zu beweisen hatte, wurde dadurch wesentlich erschwert148. Die Konsequenz war eine zunehmende Unsicherheit in Einzelfragen und eine häufige Behandlung von Beweislastproblemen in kaiserlichen Re139
Die Weigerung, zu schwören oder den Eid zurückzuschieben, wurde wie eine confessio in iure behandelt (Käser, ZPR, S. 481). 140 Simon, S. 334, mit Nachweisen. 141 D. 12. 2. 11. 3. 142 Käser, aaO, S. 481; Simon, S. 344; Cuq, S. 895. 143 Die im allgemeinen auf zusammenhanglosen Einzelvorschriften ohne eine einheitliche systematische Grundlage basierte (Käser, ZPR, S. 484, N. l; Archi, RSJB XVI, S. 396ff.). 144 Simon, S. 350, meint, daß das Desinteresse der byzantinischen Juristen an Beweisfragen der wesentliche Grund für das Fehlen systematischer und theoretischer Überlegungen in diesem Bereich gewesen sei. Die Ausbildung einer Beweislehre ist aber notwendige Voraussetzung für ein legales Beweissystem. 145 Simon, S. 349f., 377f. 146 Zwar konnten sich die Richter auch weiterhin an den früheren Schriftformeln orientieren, doch versagten diese Hilfen im Einzelfall häufig nicht zuletzt wegen Fehlens des erforderlichen juristischen Sachverstands (vgl. Simon, S. 148X
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
skripten147. Diese Entwicklung hatte schon im Kognitionsprozeß der spätklassischen Zeit begonnen148. In dieser Periode tauchten die vorher nicht gebräuchlichen Begriffe „necessitas probandi" und „onus probationis"149 erstmals auf. Auch diese Begriffe deuten darauf hin, was durch die Beweislastbestimmungen des nachklassischen Rechtsbestätigt wird; nur die Frage der Beweisführung*last wird behandelt; die Folgen, die sich ergeben, wenn eine Partei den ihr obliegenden Beweis nicht führt, ist auch ohne Judikationsbefehl es Prätors weiterhin nicht zweifelhaft. Eine differenzierte Betrachtung und eine Unterscheidung zwischen der objektiven und der subjektiven Seite der Beweislast, die sich selbst heute noch nicht einmal völlig durchgesetzt hat, kann von der Gesetzgebung und der Rechtslehre jener Zeit nicht erwartet werden. Als Grundsätze der Beweisführung galten weiterhin actor probare debet160 und reus in exceptione actor est151. Die Sätze verloren aber ihren flexiblen Charakter und wurden zu bindenden Regeln152, die bewirkten, daß sich das Beweisverfahren gleichsam in zwei Abschnitte teilte, die Beweisstation des Klägers und die des Beklagten; erst wenn der Kläger seine Beweise erbracht hatte, kam die Reihe an den Beklagten153. Schwierigkeiten bereitete — genauso wie im geltenden Recht154 — die Unterscheidung zwischen einem reinen Bestreiten, das an der Beweisführungslast der Gegenpartei nicht änderte, und dem Geltendmachen von Gegenrechte. Der Satz „ei incumbit probatio qui dicit, non qui negat"155 war auf diese Frage bezogen und sollte klarstellen, daß nur derjenige, der eine rechts erhebliche Tatsache behauptete, nicht der sie verneinte, d.h. bestritt, den Beweis zu führen hatte156. 147
Insbesondere Diokletian nahm sich der Beweislast an; vgl. z.B. C. 4. 19. 8 — 23; 4. 24. 10; 8. 35. 9; 8. 42. 25. 148 Vgl. Levy, lura 3, S. 272f.; SZ 70, S. 225ff. 149 Z.B. C. 4. 19. 2 (215); 7. 16. 5. 2. 150 D. 22. 3. 21 (itp.): quia semper necessitas probandi incumbit illi qui agit (vgl. dazu Levy, lura 3, S. 161; C. 4. 19. 20 (294). 161 D. 22. 3. 9 (itp.): verum est, quod qui excipit probare debeat quod excipitur; vgl. Collinet, Procedure, S. 359; Lemosse, S. 236. 152 Es entsprach der Neigung der Zeit, alles in Regeln und Bestimmungen zu fassen (Käser, ZPR, S. 413). „Der weisungsgebundene und an Befehl gewohnte Subalternbeamte suchte das Reglement als Ordnungsfaktor" (Simon, S. 148). 153 Käser, ZPR, S. 488; von Bethmann-Hollweg, III, S. 273. 154 Der Streit zwischen der Einwendungstheorie und der Leugnungstheorie (vgl. dazu unten S. 330 ff.) bietet dafür ein anschauliches Beispiel. 155 Paul. D. 22. 3. 2. 156 Diese Deutung wird von der sog. Negativentheorie (vgl. zu ihr unten S. 259 f.) bestritten, die aus diesem Paulus-Zitat und aus C. 4. 19. 23 („cum per rerum naturam factum negantis probatio nulla sit") die Regel ableiten will, daß negative Tatsachen nicht zu beweisen sind. Wie hier Simon, S. 146 f.; von Greyerz, S. 33; anders dagegen Levy lura 3, S. 168. Vgl. auch die Nachweise unten S. 268 N. 709, 711.
§ 8 Der römische Zivilprozeß
207
Im Grundsatz stand die Beweisführungslast des Klägers für die intentio157 und des Beklagten für die exceptio fest. Bereits im klassischen Kognitionsverfahren hatten sich die Begriffe der Formularen exceptio und praescriptio158 verändert159. Unter einer praescriptio — dieser Begriffwurde in jener Zeit dem der exceptio vorgezogen, ohne daß insoweit noch echte Unterschiede bestanden — hatte man jedes Mittel verstanden, mit dem der Beklagte einen ihm günstigen Umstand zu seiner Verteidigung geltend machte. Im Vulgärrecht des Westens ging schließlich der Begriff der exceptio vollends verloren. Justinian griff wieder auf beide Begriffe zurück und gebrauchte sie gleichbedeutend in einem materiell-rechtlichen Sinn, der die gesamte Verteidigung des Beklagten mit Ausnahme eines bloßen Bestreitens umfaßte160.
Inder Behandlung von Einzelfragen gab es jedoch in der nachklassischen Gesetzgebung und Gerichtspraxis Schwankungen. Im Eigentumsprozeß hätte nach den allgemeinen Regeln der Kläger den Beweis seines Eigentums führen müssen. Konstantin verlangte dagegen aus Billigkeitserwägungen („aequitate et iustitia moti iubemus") für den Fall, daß der Kläger mit diesem Beweis scheiterte, vom Beklagten die Darlegung des Ursprungs und Rechtsgrunds seines Besitzes („unde possideat vel quo iure teneat")161. Justinian beseitigte diese (zusätzliche) Beweisführungslast des Beklagten162 und kehrte damit wieder zu dem Rechtszustand zurück, der im Kognitionsprozeß vor Konstantin gegolten hatte163. Unterschiedliche Regelungen wurden beispielsweise auch in der Frage getroffen, welche Partei die Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde zu beweisen hatte184. Im nachklassischen Recht165 findet sich auch der Begriff der praesumptio™*. 157
Jetzt gleichbedeutend mit dem Klagebegehren (vgl. Steinwenter, SZ 65, S. 97f.; Simon, S. 149). 158 Vgl. oben S. 193 f. «· Vgl. Steinwenter, aaO, S. 98f.; Kolitsch, SZ 76, S. 265ff. 180 Vgl. Käser, ZPR, S. 384f., 472ff, Levy, PS, S. 51; Kolitsch, aaO, S. 295ff.; Wenger, Institutionen, S. 280; Albrecht, Exceptionen, S. 108; Zilletti, S. 168ff.; Collinet, La nature des actions, S. 489 ff. 161 CT. 11. 39. 1. (325); vgl. dazu Simon, S. 152ff.; Kiefner, SZ 81, S. 230f.; Levy, Vulgar Law, S. 233 f., lura 3, S. 177; von Bethmann-Hollweg, III, S. 272 f. 162 C. 3. 31. 11; vgl. dazu Simon, S. 153f.; Levy, Vulgar Law, S. 235f. 163 C. 3. 32. 28 (294); 4. 19. 2 (215), vgl. dazu Kiefner, SZ 79, S. 261; D. 7. 6. 5 pr. 164 CT. 9. 19. 2. l (320) = C. 9. 22. 22. 1; CT. 11. 39. 4 (346): beide Parteien müssen beweisen. CT. 11. 39. 6 (369): nur der Schuldner, der die Kreditierung leugnet, muß beweisen. CT. 11. 39. 7. (378) = C. 4.19. 24: der Produzent einer Urkunde muß beweisen. (Käser, ZPR, S. 486 N. 20, mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Archi, RSJB XVI, S. 399ff., 402f. Zur Beweislast für Einwände gegen die Richtigkeit des Inhalts eines Schuldscheins vgl. Levy, Vulgarrecht, S. 49 f.). 165 Käser, Studi De Francisco, I, S. 215ff., 228, SZ 71, S. 234, ist der Auffassung, daß die praesumptio Muciana bereits z. Z. der legis actiones gegolten habe; nach ihr wurde von Sachen, die sich im Besitz der Ehefrau befanden, angenommen, daß sie diese von ihrem Gatten erhalten hatte (D. 24.1. 51; C. 5.16. 6.1; vgl. dazu auch Simon, S. 195ff). 188 Z.B. in C. 4. 5. 11. 1; 4. 28. 7.1; 5. 13. 1. 13a; 6. 27. 5. Ib; 8. 14. 7; vgl. dazu Simon, S. 177 ff.
208
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Dieser Begriff wurde von der byzantinischen Rechtsschule entwickelt167 und bezeichnete Sachverhalte, die nicht bewiesen zu werden brauchten168. Die Rechtsfigur der praesumptio eignete sich deshalb besonders dafür, Beweislastregelungen zu erklären, und wurde zu diesem Zweck auch von der byzantinischen Rechtswissenschaft verwendet169. Begriff und Wesen der praesumptio sind von der Rechtslehre der damaligen Zeit nicht erfaßt worden. Die Gleichstellung mit einem nicht zu beweisenden Sachverhalt zeigt, wie wenig genau die Grenzen dieses Begriffes verliefen. In Inhalt und Wirkungen gab es bedeutsame Unterschiede zwischen den einzelnen praesumptiones170.
. Zusammenfassung Kurz zusammengefaßt läßt sich zur Beweislast im römischen Zivilprozeß sagen: Vieles spricht dafür, daß Beweislast als Beweisführungslast verstanden wurde. Dementsprechend betrafen die Beweislastregeln, gleichgültig ob nachgiebig und flexibel oder bindend und starr, allein die Frage, welche Partei beweisen mußte. Eine Antwort auf diese Frage zu finden, war aufgrund der Spruch- und Schriftformeln im Legisaktionen- und Formularprozeß für den Spruchrichter verhältnismäßig einfach. Beweislastregeln, insbesondere für einzelne Tatbestände brauchte man deshalb nicht. Im Kognitionsverfahren fehlte für die Verteilung der Beweisführungslast die Orientierungshilfe der Formeln; Beweislastregeln mußten die dadurch entstandene Lücke schließen. Ihre Ausbildung wurde durch die Neigung der nachklassischen Zeit gefördert, alles zu reglementieren. Die Feststellungslast dürfte im römischen Recht keine Beachtung gefunden haben. Denn die Folgen gescheiterter Sachaufklärung bereiteten keine Schwierigkeiten. Non paret absolvito — daran dürfte sich wohl auch nichts geändert haben, als diese ausdrückliche Weisung des Prätors wegfiel.
167
Die Herkunft ist streitig, vgl. Käser, SZ 71, S. 235; Simon, S. 200f.; Hedemann, S. 22ff.; Steinwenter, SZ 65, S. 88 N. 66; Donatuti, Ann. Perugia 43, S. 21 ff. 168 Simon, S. 183, 193f., 201. 169 Simon, S. 194, der auf die sich hierdurch ergebende Parallele 2ur Präsumtionstheorie (vgl. dazu unten S. 270ff.) hinweist. 170 Eingehend dazu Simon, S. 176ff., der nachweist, daß unter den Begriff der praesumptio sowohl Sachverhalte fallen, die den (gesetzlichen) Vermutungen im Sinne der heutigen Terminologie (vgl. dazu oben S. 75) entsprechen, als auch Wahrscheinlichkeitsschlüsse, die später als praesumptio facti bezeichnet worden sind (vgl. unten S. 255) und heute vom Richter im Rahmen der Beweiswürdigung verwendet werden (vgl. oben S. 157 N. 625); vgl. auch Motzenbäcker, S. 29.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
209
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß I. Die germanische Zeit
a) Gericht und Verfahren Rechtspflege war in germanischer Zeit Aufgabe des Volkes; dieses bildete die Gerichte, und zwar in der Weise, daß sich am Gerichtstage unaufgefordert — oder bei gebotenem Ding171 auf eine besondere Einladung hin — alle wehrfähigen Männer an der Dingstätte versammelten, um bei der Rechtsfindung mitzuwirken172. Eine Trennung zwischen Straf- und Zivilprozeß gab es im germanischen Recht nicht173. Jede Klage war ihrer Natur nach Deliktsklage, die in ihrer Funktion nicht nur Zivil-, sondern auch Straf klage war174 und den Vorwurf eines Rechtsbruches enthielt175; der Kläger forderte durch seine Klage Sühne und Wiedergutmachung ihm zugefügten Unrechts. Das Gerichtsverfahren wurde entweder durch den Abschluß eines Streitgedinges, einer vertraglichen Vereinbarung der Parteien, die streitige Angelegenheit vor Gericht zu bringen176, oder durch einseitige Ladung des Beklagten durch den Kläger eingeleitet11"1. Der Beklagte, der trotz mehrmaliger Ladung nicht vor Gericht erschien, machte sich der Rechtsverweigerung schuldig, was die Friedlosigkeit zur Folge hatte178.
Standen die Parteien vor Gericht, dann erhob der Kläger in feierlicher Form unter Anrufung der Götter seine Klage179 und forderte den Beklagten 171
Im Gegensatz zum echten oder ungebotenen Ding, der zu bestimmten Zeiten üblicherweise stattfindenden Versammlung, war das gebotene Ding eine außerordentliche Zusammenkunft der Dinggenossen, die besonders einberufen werden mußte; vgl. von Amira, S. 252. 172 Kern, Geschichte, S. 1; Conrad, I, S. 27; Brunner- von Schwerin, S. 18. 173 Stutz, ZSS 49, S. 10; Engelmann, 2, l, S. 34; Siegel, S. 58; R. Schmidt, Festschrift, S. 71. 174 Gudian, ZSS 90, S. 121 f., weist daraufhin, daß entgegen üblicher Terminologie nicht von einer reinen Straf klage gesprochen werden könnte, weil dieser eigen ist, daß der Inhaber der Gerichtsgewalt oder sein Vertreter den Deliquenten in Anspruch nimmt, nicht wie hier ein Privater. Da aber der Beklagte auch dem Gerichtsherrn ein Friedensgeld zu zahlen hatte oder aber Kläger und Richter sich die vom Beklagten entrichtete Buße teilten, handelt es sich auch nicht um eine reine Zivilklage. 175 Mitteis-Lieberich, S. 34; Stutz, aaO, S. 11. 7 Ygj_ planitz-Eckhardt, S. 63; von Schwerin S. 46. 177 Conrad, I, S. 29; Siegel, S. 63ff.; vgl. auch Grimm, S. 842ff. — , S. 473ff. —; Brunner, HoltzEncykl. I, S. 181. 178 Vgl. Schröder-von Künßberg, S. 87; Conrad, I, S. 29, 48. 179 Brunner, DR I, S. 254; Fehr, S. 12. 14 Musielak, Beweislast
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
auf, darauf zu antworten180. Bejahte der Beklagte die Richtigkeit der klägerischen Rechtsbehauptungen so wurde er entsprechend verurteilt181. Leugnete er, so erging ebenfalls einC7r/«7,indem einmal entschieden wurde, welche Partei welche Vorgänge mit welchen Mitteln zu beweisen hatte182, zum anderen festgelegt wurde, was aufgrund des Beweisergebnisses Rechtens sein sollte183. Eine Zusammenfassung des Beweis- und Endurteils zu einem sog. zweizüngigen Urteil kannten jedoch nicht alle germanischen Rechte. Bei den Nordgermanen wurden beide Urteile getrennt voneinander erlassen184. Auch kam es vor, daß in einem zweizüngigen Urteil die Rechtsfrage offenblieb und lediglich festgestellt wurde, daß entweder der Beweis zu erbringen war oder getan werden mußte, was Rechtens wäre. Einigten sich die Parteien über die Rechtsfrage nicht, so mußte erneut ein Urteil ergehen185.
b) Das Beweisrecht
\. Das Ziel des Beweises Die beweisführende Partei erbrachte den ihr obliegenden Beweis nicht mit dem Ziel, das Gericht von der Wahrheit der von ihr aufgestellten Behauptung zu überzeugen188; für sie kam es vielmehr ausschließlich darauf an, die streng formalen Beweisanforderungen zu erfüllen, von deren genauen Beachtung das Gelingen des Beweises allein abhing187. Genügte der Beweis diesen Anforderungen, so galt er als geführt188. Eine materielle Beweiswürdigung kannte das germanische Recht nicht189. Deshalb konnte sich das Beweisverfahren auch außerhalb des Gerichts abwickeln190. Denn 180
Der Beklagte hatte nur die Wahl zwischen einem vollem Geständnis aller Klage, tatsachen und ihrer vollständigen Leugnung (so Brunner-von Schwerin, S. 22; von Schwerin, S. 46; Schröder-von Künßberg, S. 92); dagegen nehmen Planitz-EckardtS. 63, an, daß die Klage auch bedingt zugestanden oder geleugnet werden konnte. 181 Conrad, I, S. 29; Schröder-von Künßberg, S. 92. 182 yon Schwerin, S. 47; Nagel, S. 153; Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 346. 183 Conrad, I, S. 29; Brunner, Schwurgerichte, S. 47f.; Brunner-von Schwerin, S. 22. 184 Vgl. von Schwerin-Thieme, S. 32 N. 3. 185 Brunner, DR II, S. 482. 186 Zur Frage, ob das Beweisverfahren des germanischen Prozesses überhaupt dazu diente, die Wahrheit zu erforschen, vgl. unten S. 218 ff. M? Vgi von Schwerin-Thieme, S. 33; Schröder-von Künßberg, S. 92; Brunner, Schwurgerichte, S. 48f.; Engelmann, 2, 1. S. 59f. 188 Conrad, I, S. 30. 189 Planitz-Eckhardt, S. 63; Brunner, DR I, S. 256; vgl. auch Planck, Gerichtsverfahren II, S. 2f., dessen auf das sächsische Recht des Mittelalters bezogene Ausführungen in diesem Punkte auch auf das germanische Beweisrecht zutreffen. 190 Conrad, I, S. 30.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
211
für die Feststellung, ob der Beweis formal richtig erbracht wurde, genügte die Kontrolle der Gegenpartei191. Aus dieser rein formalen Beweisführung ohne richterliche Würdigung erklärt sich auch, warum das germanische Beweis verfahren keinen Gegenbeweis zuließ192. Hatte der Beweisführer die Formalhandlungen den Regeln entsprechend vollzogen und damit den Beweis geführt, so war kein Raum mehr für Beweise des Gegners; denn dieser hätte ja auch nur die gleichen Handlungen vornehmen können193.
2. Die Beweismittel Ziel und Zweck der Beweisführung waren auch die Beweismittel angepaßt. Es gab nur solche formaler Gestaltung, die von einer richterlichen Würdigung unabhängig waren194. ad) Eid Wichtigstes Beweismittel war der Eid195. Der Beweisführer mußte den Eid genau in der vorgeschriebenen Weise leisten; jedes Versehen bei der Formalhandlung hatte Mißlingen des Eides und Prozeßverlust zur Folge196. Dieser Formalismus, der den gesamten germanischen Prozeß, insbesondere aber das Beweisverfahren beherrschte, war nicht Selbstzweck, sondern sollte — wie Mayer-Homberg197 überzeugend nachweist — eine Garantie für die materielle Richtigkeit der vorgenommenen Handlung geben. Denn nach germanischer Auffassung war die Wahrung der Form Gewähr für die Rechtmäßigkeit des Inhalts, während umgekehrt Verstöße gegen die vorgeschriebenen Formalien den Schuldigen entlarvten. In dieser Auffassung finden sich Überreste alter Ordalgedanken198.
Seinem Inhalt nach war der Eid eine bedingte Selbstverfluchung des Schwörenden für den Fall, daß die von ihm aufgestellten Behauptungen nicht der Wahrheit entsprächen199. Nach germanischen Vorstellungen wur191 192 193 194
Vgl. von Schwerin-Thieme, S. 33. Vgl. Siegel, S. 166. Engelmann, 2, l, S. 60. Brunner-von Schwerin, S. 22; Planitz-Eckhardt, S. 63; E. Schmidt, Geschichte,
S. 39. 195
Fehr, S. 12; Engelmann, 2, l, S. 63; Siegel, S. 179. Planitz-Eckhardt, S. 63f.; van Caenegem, RSJB XVII, S. 381 f.; Cosack, Eidhelfer, S. 61 f. 197 Beweis, S. 77 ff. 198 Mayer-Homburg, aaO, S. 71. Ähnliche Erscheinungen sind auch im altrömischen Recht festzustellen; vgl. Dekkers, S. 18ff., und oben N. 14. 199 Brunner, DR I, S. 257; Mitteis-Lieberich, S. 36; Nottarp, S. 19; Vogt, ZSS 57, S. 2ff. 198
14*
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de durch die Eidesleistung die Welt der Dämonen in Bewegung gesetzt, die den Lauteren schützten, den Unlauteren vernichteten200. Diese Furchtvorstellungen waren zumindest in altgermanischer Zeit Grundgedanke des Eidbeweises201. Der Eid wurde im Regelfall mit Eideshelfern geleistet202; der Alleineid des Beweisführers war im germanischen Recht die Ausnahme203. Die Eideshelfer, meist Sippengenossen204, hatten nicht aufgrund eigener Kenntnis die Wahrheit des Vorbringens, sondern ihre Überzeugung zu beschwören, daß der von der Partei geleistete Eid rein und unmein sei205. Was die Eideshelfer veranlaßte, die Wahrheit des Parteieides zu beschwören, ob eigene Wahrnehmungen oder das (blinde) Vertrauen in die Ehrlichkeit des Beweisführers war unerheblich206. Die Eideshelfer hatten aber die volle Verantwortung für die Richtigkeit des Eides zu tragen und teilten nach damaliger Auffassung hinsichtlich der Meineidsfolgen das Schicksal des Hauptschwörers207. Für das Institut der Eideshelfer sind verschiedene Erklärungen gegeben worden. So deutet Rogge208 die Eideshilfe als eine besondere Form der Fehdegenossenschaft. In gleicher Weise wie in der Fehde hätten im Prozeß die Fehdegenossen Beistand geleistet. Waitz209 will dagegen die Eideshilfe aus dem Interesse der Sippe erklären, die ursprünglich allein die Eideshelfer gestellt hätte, daß ihr Sippengenosse im Prozeß obsiegte, da sie sonst für das Unrecht hätte miteinstehen müssen. Cosack210 sieht den Ursprung der Eideshilfe in dem Urteil der Gerichtsgemeinde, daß der den Eid Leistende richtig und wahr geschworen habe. Die Eideshelfer hätten eine Gruppe von Urteilern gebildet, die eine Entscheidung über die Richtigkeit des Eides abgegeben hätten211.
Für die Institution der Eideshelfer dürfte zumindest zusätzlich die durchaus praktische Überlegung maßgebend gewesen sein, daß derjenige, der eine ungerechte Sache vertrat oder dem man einen Meineid zutraute, nicht die für die Eidesleistung erforderliche Mitwirkung seiner Sippengenossen oder Freunde erreichen würde212. Damit war für den Eid eine zusätzliche Sicherung geschaffen.
200
Planitz-Eckhardt, S. 63; vgl. auch Erler, Paideuma, 2, S. 62ff. Vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 67; Stutz, 2SS 49, S. 17; van Caenegem, RSJB XVII, S. 381; Brunner, aaO. 202 Vgl. Scovazzi, Inst. Lombardo (Rend. Lett.) 92, S. 150 ff. 203 Engelmann, 2, l, S. 64; Conrad, I, S. 29. 204 Esmein, S. 93f. 205 Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 419f.; Maurer, Krit. Überschau 5, S. 203ff.; E. Schmidt, Geschichte, S. 40; L6vy-Bruhl, Preuve, S. 94. 206 Brunner, DR I, S. 260; von Amira, S. 271. 207 " Ruth, S. 227; vgl. auch Brunner, DR II, S. 576f.; Ganshof, RSJB XVII, S. 78. 208 S. 144ff.; ähnlich Siegel, S. 176; Hildenbrand, S. 9f., 13. 209 I, S. 443 f. 210 Eidhelfer, S. 82. 211 AaO, S. 85f.; vgl. auch Levy-Bruhl, Preuve, S. 93. 212 Vgl. van Caenegem, RSJB XVII, S. 381; Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 206f.; von Bethmann-Hollweg, IV, S. 29f. 201
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
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Stutz213 weist auf die Beschaffenheit der Gesellschaft hin, in der das germanische, Prozeß- und Beweisrecht galt. „Kleine, ja kleinste, engste ländliche Verhältnisse, wo einer den anderen von Geburt an, ja von seinen Vorfahren her persönlich oder durch die Seinigen genau kannte, wo jeder den anderen und seine Beziehungen, sein Kommen und sein Gehen, sein Tun und sein Lassen genau übersah oder doch zu übersehen meinte, wo man sich gegenseitig im Auge hatte und wohl — oder überwollend überwachte". Diese genaue Kenntnis seiner Mitmenschen und die tiefe Überzeugung von der Bestrafung des Meineidigen und der mit ihm durch die Eideshilfe Verbundenen durch eine höhere Macht dürften wirksame Sicherheiten gegen Meineide geboten haben.
Noch durch die zweite Regelung wurde beim Eid erreicht, daß die Erbringung des auferlegten Beweises und damit der Ausgang des Prozesses nicht ausschließlich vom Verhalten des Beweisführers abhängig war. Der Gegner war in der Lage, die Entscheidung des Rechtsstreites durch Eid dadurch zu verhindern, daß er den Eid des Prozeßgegners schalt, d. h. anfocht. Dann kam es zu einem Zweikampf zwischen den Parteien214. Denn einmal bedeutete die Eidesschelte den Vorwurf größter Ehrlosigkeit215; zum anderen mußte die Entscheidung des Rechtsstreites auf einem anderen Weg als durch die Eidesleistung herbeigeführt werden. Es lag damals nahe, vom Sieg im Zweikampf auch den Gewinn des Prozesses abhängig zu machen. Auf die sehr streitige Frage, ob der Zveikampfim altgermanischen Recht als ein Gottesurteil im technischen Sinne dieses Begriffes anzusehen ist218, kann im Rahmen dieser Darstellung nicht eingegangen werden. Hier muß die Feststellung genügen, daß der Zweikampf als Mittel der Entscheidung in solchen Fällen gewählt wurde, in denen sich auf andere Weise keine Ergebnisse herbeiführen ließen217. Es ist denkbar, daß eine Rechtfertigung dieses Verfahrens in der Vorstellung gefunden wurde, daß nur der Gerechte mit Hilfe der Götter siegen werde218.
b&) Zeugen Der Beweis durch Zeugen war im germanischen Rechtsstreit stark eingeschränkt. Nur zwei Gruppen von Zeugen waren zugelassen: erwählte Zeugen und Nachbar- oder Gemeindezeugen219. Erwählte Zeugen waren Personen, die von den Parteien zum Abschluß von Rechtsgeschäften oder zu 213 211
ZSS 49, S. 18.
Conrad, I, S. 29; Planitz-Eckardt, S. 64. 215 Vgl. Conrad, aaO. 216 Vgl. Gal, ZSS, 28, S. 236ff.; Pappenheim, ZSS, 48, S. 149ff.; Dahn, Fehde-Gang. S. 121 ff. 217 Vgl. Unger, Göttinger Studien 1847, S. 361 Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 414, 218 So Planitz-Eckardt, S. 64; Gaudemet, RSJB XVII, S. 101; Mayer, Hist. Vtjschr. 1920/21, S. 316; Siegel, S. 204f.; einschränkender Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 223; vgl. auch Loening, S. 50ff.; Scovazzi, Inst. Lombardo (Rend. Lett.) 92, S. 126ff.; Declareuil, NRH 1899, S. 330ff. 219 Vgl. Ruth, S. 2f.; Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 186ff., Vorlesungen I 2, S. 210ff.; Rogge, S. 96ff.; Bechert, ZSS 49, S. 50f.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
anderen rechtserheblichen Vorgängen zugezogen wurden220, damit sie in Streitfällen über ihre Wahrnehmungen berichten konnten221. Nachbaroder Gemelnde^eugen sagten über orts- und gemeindekundige Verhältnisse und Tatsachen aus222. Der Zeugenbeweis ging dem Parteieid vor223. Jedoch dürfte er wegen seiner begrenzten Zulassung im germanischen Bußprozeß, in dem es um die Feststellung der Schuld des Beklagten an einer unerlaubten Handlung ging, keine wesentliche Rolle gespielt haben224. Auch ist zu vermuten, daß der germanische Prozeß ursprünglich überhaupt keinen Zeugenbeweis kannte und es sich bei diesem Beweismittel um eine spätere Entwicklung gehandelt hat225. Auf die Frage, warum im Prozeß der germanischen Zeit und noch lange danach das Zeugnis zufälliger Wahrnehmungen ausgeschlossen war, sind unterschiedliche Antworten gegeben worden. So wird einmal der Grund für den Ausschluß von Zufallssyugen in dem von jedem Freien erhobenen Anspruch gesehen, daß seinem Wort geglaubt werde und es nicht durch die Bekundung anderer, die keinesfalls besser seien als er, in Zweifel gezogen werden dürfte228. Manche Autoren227 meinen dagegen, daß wegen der Verpflichtung jedes Volksgenossen, beim Hilferuf des Geschädigten als sog. Schreimann228 aufzutreten, auf Zufallszeugen verzichtet worden wäre. Wer dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei, habe eine mit schwerer Strafe bedrohte Pflichtverletzung begangen. Die Möglichkeit, daß jemand Zeuge eines Delikts sein könnte, ohne sofort herbeizueilen und als Schreimann zu fungieren, habe das damalige Recht als atypisch ignoriert. Nach anderer Auffassung229 liegt die Erklärung für die weitgehende Einschränkung des Zeugenbeweises in der Beschaffenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse in den germanischen und altdeutschen Staaten, die einen Zeugenbeweis in unserem Sinne nicht zugelassen hätten. „Pour naitre et se developper, le temoignage judiciaire exige un dtat social oü l'individu soit suffisamment emancipe du groupe pour que son desir ou 220
Das Wort „Zeuge", das von dem althochdeutschen „ziohan" (= ziehen) abgeleitet ist (vgl. Siegel, S. 194), läßt diese Form der Zeugenbestellung noch erkennen. 221 Sie erfüllen eine ähnliche Funktion wie heute Urkunden (Levy-Bruhl, TRG 3, S. 392, spricht von einem „protocole vivant"), und der Begriff der Urkundspersonen, den Sachße, S. 106ff., jedoch in einer anderen Unterscheidung als oben durchgeführt, benutzt, zeigt ihre Aufgabe deutlich. Es sei noch darauf hingewiesen, daß im Althochdeutschen für den Zeugen die Bezeichnung „urchundo" am geläufigsten war (vgl. Grimm, S. 858 — II, S. 493). 222 In manchen Rechten waren für jeden Bezirk bestimmte Personen ernannt, die im Bedarfsfall als Gemeindezeugen vor Gericht auftraten; vgl. Planitz-Eckhardt, S. 64; Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 193. 223 Conrad, I, S. 30; Maurer, aaO, S. 332f.; Schröder-von Künßberg, S. 92; Brunnervon Schwerin, S. 23. 224 Ruth, S. 2f. 225 Bader, Dt. Philologie, , Sp. 2012. 228 Vgl. Siegel, S. 169ff. 227 Mayer-Homberg, Beweis, S. 279ff.; Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 438. 228 Vgl. dazu unten S. 217. 229 Esmein, S. 97; Levy-Bruhl, TRG 3, S. 388 f., 406 f.
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son obligation de dire la verite ne soit pas victorieusement combattu par le souci de rester fidele ä la discipline tribale. Or ces conditions ne paraissent nullement realisees chez les Francs Saliens a l'epoque de la redaction de leur coutume. Leur organisation sociale, si peu connue soit-elle, parait encore tres rapprochee de celle des anciens Germains, et repose sur la forte cohesion du groupe familial (Sippe)". Diese Feststellungen Levy-Bruhls230 treffen nicht nur auf die salfränkischen Verhältnisse, sondern erst recht, wie sich auch aus diesen Ausführungen ergibt, auf die germanische Zeit zu. Schließlich werden die Einschränkungen des Zeugenbeweises auch mit der Einseitigkeit des germanischen Beweisverfahrens erklärt, das eine Kontrolle der Zeugenaussagen auf Wahrheit und Zuverlässigkeit durch andere Beweise unmöglich gemacht hätte, so daß besonders enge Zulassungsvoraussetzungen hätten aufgestellt werden müssen831.
Der Beweis durch Zeugen war ebenfalls rein, formal gestaltet23*, und er mußte es auch sein, weil es eine Würdigung der Aussage nicht gab. Der Zeuge beschwor, das Beweisthema, eine Sachdarstellung wurde von ihm ebensowenig erwartet wie die Auskunft, woher er sein Wissen hatte233. Der Eid des Zeugen konnte ebenso wie der Parteieid gescholten werden234. Auch in diesem Fall entschied der Zweikampf. ff) Gottesurteil Beweismittel im germanischen Prozeß war auch das Gottesurteil235. Es hatte jedoch subsidiären Rang und wurde nur dann angewendet, wenn der Beweis durch Eid oder Zeugen nicht geführt werden konnte. Da der Zeugenbeweis im germanischen Prozeß aus den oben dargelegten Gründen seltene Ausnahme war, wurde die Entscheidung eines Rechtsstreits in solchen Fällen durch Gottesurteil herbeigeführt, in denen der Beweisführer den Eid nicht leisten konnte, weil er entweder eidesunfähig war236 oder weil es ihm nicht gelang, die erforderliche Zahl von Eideshelfern für sich zu gewinnen237. 230
AaO, S. 388 f. So Loening, S. 39 ff. 232 Brunner, Schwurgerichte, S. 50. 233 Ruth, S. 5f.; Planitz-Eckhardt, S. 64; Nagel, S. 151. 234 Brunner-von Schwerin, S. 23 235 Ganz überwiegend wird heute die Existenz von Gottesurteilen im germanischen Gerichtsverfahren der vorchristlichen Zeit angenommen (so insbesondere Nottarp, S. 43ff.; Pappenheim, ZSS 48, S. 142ff., 173f.; Brunner, DR I, S. 261 ff.; Erler Paideuma 2, S. 44f.; Dahn, Studien, S. 24ff.; Mayer, Hist. Vtjschr. 1920/21, S. 289ff., 315f.; vgl. auch Leitmaier, S. 7ff.) und die Auffassung abgelehnt, daß die Gottesurteile erst durch die christliche Religion in den germanischen Prozeß eingeführt worden wären (so von Amira, S. 277ff.; Wilda, S. 480ff., bezüglich der Feuer- und Wasserordale). 236 Eidesunfähig waren Frauen, Minderjährige und Unfreie (vgl. Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 214). Ursprünglich war stets das Familienoberhaupt verpflichtet, für seine Angehörigen und Knechte vor Gericht einzustehen. Er war Partei und leistete auch für sie den Eid. Später war diese Einstands- und Eidespflicht beschränkt, und der Eidesunfähige konnte gezwungen sein, seine Unschuld durch Gottesurteil nachzuweisen (vgl. Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 553f.). 237 Siegel, S. 209 f. 231
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung In vorhistorischer Zeit dürfte ein anderes Verhältnis bestanden und sich der Eid erst aus dem Gottesurteil im weitesten Sinne dieses Begriffes entwickelt haben238. So war noch im salfränkischen23*, im friesischen240 und im angelsächsischen Recht241 das Gottesurteil des Kesselfanges unter bestimmten Voraussetzungen hauptsächliches und primäres Beweismittel242. Es spricht manches dafür, daß es sich hierbei um Überreste alter Regeln handelte. Leitmaier243 meint, daß Vertreter einer religiösen Weltanschauung, denen auch die germanischen Völker zuzurechnen seien, naturgemäß gedrängt gewesen wären, sich in unlösbaren Situationen an Mächte zu wenden, die nach ihrer Auffassung Wahrheit und Recht kannten. Bei dieser Betrachtung erscheint das Gottesurteil als das ursprünglichere und ältere Beweismittel. Schließlich ist auch nicht zu verkennen, daß Gottesurteil und Eid gleiche Wurzeln haben244.
Das Gottesurteil beruhte auf der festen Überzeugung, daß überirdische Kräfte eingreifen und Schuld oder Unschuld des Beweisführers offenbaren würden. Mit Hilfe der Elemente, der Urmächte der Vorzeit, die später zum Sitz und zum Herrschaftsbereich bestimmter Gottheiten wurden — Erde, Feuer und Wasser245 —, sollte die Entscheidung herbeigeführt werden246. Solange im Volk der Glaube an die Wirksamkeit der Ordale tief verwurzelt war, konnten sie als durchaus taugliche Beweismittel angesehen werden247. Denn der Schuldige wird sich regelmäßig entweder überhaupt nicht diesen Proben gestellt oder aber bei ihnen versagt haben248. Bereits in altgermanischer Zeit dürfte es folgende Gottesurteile gegeben haben: den Kesselfang, bei dem aus kochendem Wasser ein Gegenstand herausgenommen werden mußte249; die Eisenprobe, hierbei mußte der Beweisführer über glühende Flugscharen schreiten250 oder glühendes Eisen tragen251; die Kaltwasserprobe, bei der der Beweisführer gebunden auf das Waasser gelegt wurde252. Wann die Probe bestanden war, wurde im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Rechten unterschiedlich geregelt. Im allgemeinen galt derjenige, dessen Brandwunden ohne Komplikationen heilten oder der bei der Wasserprobe unterging, als unschuldig.
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Vgl. Pappenheim, ZSS 48, S. 147; Kohler, HoltzEncykl. I. S. 66; vgl. auch unten S. 219 f. 239 Vgl. Pactus Legis Salicae 53 §§ l, 7; 73 §§ 5, 6; 120. 240 Vgl. Lex Frisionum 14, 3. 241 Vgl. Ine 62. 248 Vgl. Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 215f. N. 2; Brunner, DR I, S. 262f.; s. auch unten S. 225. 243 S. 129. 244 Vgl. Beaudouin, S. 416ff.; Dahn, Fehde-Gang, S. 118, 120f. 245 Vgl. Rehfeldt, ZSS 71, S. 18 f. 246 Vgl. Nottarp, S. 17, 21 f.; Conrad, I, S. 147. 247 J. Ph. L6vy, RSJB XVH, S. 69. 248 Stutz, ZSS 49, S. 17. 248 Vgl. Nottarp, S. 255f.; Kaegi, S. 52f. 250 Vgl. Glitsch, S. 17 ff. 251 Vgl. Nottarp, S. 250, 255ff.; Kaegi, S. 46ff. 252 Vgl. Nottarp, S. 252ff.; Glitsch, S. 26ff.
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Auch das Befragen der Götter durch das Los wurde von den Germanen vorgenommen253.
Die Gottesurteile waren weitgehend so gestaltet, daß sie der Ruhige, von der Gerechtigkeit seiner Sache Überzeugte, wohl bestehen, dagegen der Ängstliche, von seinem Gewissen und der Furcht vor der Strafe der Götter Geplagte sie nicht zu einem guten Ende bringen konnte254. Insbesondere dürfte sich auch die subjektive Auffassung der Urteiler von Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten bei Beantwortung der Frage ausgewirkt haben, ob eine Probe bestanden worden war; man denke nur an die Entscheidung, ob die bei einem Feuerordal verursachte Wunde als gut verheilt zu gelten hatte. Die Überzeugung der Urteiler wurde aber wesentlich durch den Verlauf des Rechtsstreites und durch das Verhalten und Auftreten der Parteien vor Gericht bestimmt. So transzendent und unbeeinflußbar, wie man zunächst meinen könnte, waren also die Grundlagen des Gottesurteils keinesfalls.
3. Die Beweisführung Den Beweis hatte im germanischen Rechtsgang regelmäßig der Beklagte zu führen255. Ausnahmen galten für den im germanischen Bußprozeß seltenen Fall256 des vom Kläger erbrachten Zeugenbeweises257 und für das sog. Handhaftverfahren. Das Handhaftverfahren wurde durchgeführt, wenn der Täter auf frischer Tat ertappt wurde. Durch das Gerüfte, den Hilferuf des Angegriffenen oder Geschädigten, wurden die Nachbarn zum Beistand und zur Feststellung der Missetat herbeigerufen. Jeder war verpflichtet, diesem Hilferuf zu folgen258. Hatte ein Dieb die Flucht ergriffen und hatte der Eigentümer gemeinsam mit herbeigeeilten Nachbarn, den Schreimannen, die Suche nach der gestohlenen Sache sofort aufgenommen (Spurfolge), so war der Bestohlene berechtigt, das Haus eines Verdächtigen zu durchsuchen259. Wurde bei der Haussuchung die gestohlene Sache gefunden, so wurde der Besitzer wie ein Dieb auf handhafter Tat behandelt, wenn er vorher den 253
Vgl. Tacitus, Germania, c. 10. 254 Vgi dazu die Beispiele bei Nottarp, S. 26 ff., aus denen sich ergibt, daß der erfolgreiche Ausgang der Gottesurteile keineswegs als Wunder und Umkehrung der Naturgesetze zu werten ist. 255 Vgl. Stutz, ZSS 49, S. 4; Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 337; Mayer-Homberg, Beweis, S. 27, 55f.; Conrad, I, S. 30; Beaudouin, S. 408f.; Planitz-Eckhardt, S. 63; Brunner, Schwurgerichte, S. 51f.; Zorn, S. 12f., 33; Siegel, S. 167. 256 Ruth, S. 2f.; von Schwerin, S. 48; vgl. auch oben S. 213 f. 257 Auf die Priorität des Zeugenbeweises gegenüber dem Eid ist bereits oben (S. 214) hingewiesen worden. Boten beide Parteien Beweis durch Zeugen an, dann ging der Zeugenbeweis des Beklagten vor (vgl. Brunner-von Schwerin, S. 23; Siegel, S. 172). 258 Vgl. Planitz-Eckhardt, S. 64; His, S. 2. 259 Vgl. London, S. 46 f.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung Besitz abgeleugnet hatte260. Hatte der Besitzer den Besitz der Sache nicht verheimlicht und nannte er denjenigen, von dem er die Sache erhalten hatte, so konnte er sich im Prozeß von dem Diebstahlsvorwurf reinigen261. Der auf handhafter Tat festgenommene Täter wurde vor ein Notgericht gebracht262; dort erhob der Geschädigte Klage und überführte den Angeklagten durch seinen Eid, bei dem die Schreimannen als Eideshelfer mitwirkten263. War der Täter bei der handhaften Tat getötet worden, so wurde der Tote ebenfalls vor das Notgericht gebracht und Klage gegen ihn erhoben264.
Diese nach heutigen Vorstellungen eigenartige Regelung der Beweisführung ist — seitdem man sich mit dieser Frage überhaupt befaßt285 — unterschiedlich gedeutet und erklärt worden266. Überwiegend wird von der Grundanschauung ausgegangen, daß im germanischen Rechtsgang wegen der formalen Gestaltung der Beweismittel und der Einseitigkeit der Beweisführung in der Möglichkeit, den Beweis erbringen %u können, ein Vorzug gelegen habe, der im allgemeinen dem Beklagten zu gewähren gewesen wäre. Planck367 meint: „Die Zulassung zum Beweis war nämlich aus zwei Gründen im altdeutschen Prozeß nicht eine Last, sondern ein Recht. Zunächst deshalb, weil das Hauptbeweismittel, das der ganzen Beweistheorie den Charakter aufdrückte, der Eid nämlich, weiter nichts als eine verstärkte Behauptung der Parthei war, deren Beibringung mit keinen besonderen Schwierigkeiten verknüpft war ... Sodann, weil ein Gegenbeweis nicht gestattet wurde ... Es ist daher vollkommen begreiflich, daß das Hauptbestreben beider Partheien im ersten Verfahren dahinging, sich den Vorzug im Beweis zu sichern268."
Dieser Ansicht ist entgegengehalten worden™, daß von einem Beweisvorzug nur gesprochen werden könnte, wenn der Beweis und das hauptsächliche 260
Von Schwerin-Thieme, S. 34; London, S. 80ff.; Hermann, S. 33f. N. 2; PlanitzEckhardt, S. 65, 58; zu der entsprechenden Regelung im altrömischen Recht vgl. oben S. 195. sei Vg^ Conrad, I, S. 149; zum weiteren Verfahren vgl. Hermann, S. 61 ff. 262 Vgl. Kern, Geschichte, S. 2, 5; Fehr, S. 49; Sohm, Lex Salica, S. 134ff. 263 Vgl. Maurer, Krit. Ueberschau 5, S. 338f.; Planitz-Eckhardt, S. 64; von SchwerinThieme, S. 33 f. 264 Zur Klage gegen den toten Mann vgl. Wallen, S. 163ff.; Scherer, S. 59ff. 265 Noch Rogge, S. 93, erklärte im Jahre 1820: „Vollkommene Beweislosigkeit ist der Charakter des altgermanischen Processes." 266 Vgl. dazu Mayer-Homberg, Beweis, S. l ff. 267 Beweisurtheil, S. 47. 288 In der Zulassung zum Beweis gehen beispielsweise auch folgende Autoren einen Vorzug: von Bethmann-Hollweg, IV, S. 28f.; Stutz, ZSS 49, S. 3ff., mit weiteren Nachweisen insbesondere auf S. 3f. N. 2; Bechert, ZSS 49, S. 26ff., 31 ff.; Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 417; Schulte, S. 393f.; Fehr, S. 59; R. Hübner, S. 160; Beckh, S. 20; Nagel, S. 154; Hasenöhrl, S. 6f.; Beaudouin, S. 410, der jedoch auf die psychologischen und tatsächlichen Sicherungen des Eides hinweist (S. 411 ff.); vgl. auch Maurer, Vorlesungen I 2, S. 243ff. 269 Mayer-Homberg, Beweis, S. 35.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
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Beweismittel, der Eid, jedem so leicht gefallen wäre, daß die Beweisführung im Regelfall gelingen mußte. Dann hätte aber das germanische Recht auch annehmen müssen, daß jeder, auch der Schuldige, den Eid leisten werde. Denn nur dann könnte man in der Zulassung zum Beweis einen Vorzug sehen270. Daß diese leichtfertige Auffasung des Eides in germanischer Zeit nicht bestanden hat, dürfte als sicher gelten. Die feste Überzeugung, daß den Meineidigen schwere Strafen durch das Eingreifen überirdischer Kräfte treffen würden, war ein sicherer Schutz vor falschem und leichtfertigem Schwören271. Weder der Eid noch erst recht die anderen Beweismittel des germanischen Prozesses waren in der Anschauung der damaligen Zeit leere Förmlichkeiten, die von jedem einfach und sicher vollzogen werden konnten272. Mit angeblichen Vorzügen der Beweisrolle und der Einfachheit der Beweishandlungen kann deshalb nicht die regelmäßige Übertragung der Beweisführung auf den Beklagten begründet werden273. Andererseits haben die Gestaltung des Beweis verfahrens und die Beschaffenheit der Beweismittel wesentlich die Regelung der Beweisführung beeinflußt. Am Anfang der Entwicklung eines geordneten Rechtsganges dürfte das Gottesurteil hauptsächliches, vielleicht sogar einziges Beweismittel gewesen sein274. Das Gottesurteil war aber seiner Natur nach, wurde es einseitig vollzogen, im allgemeinen ein Beweismittel des Beschuldigten. In einem Prozeß, der durch einseitiges Ordal entschieden werden sollte, mußte regelmäßig der Beklagte die Beweishandlungen vornehmen und die Entscheidung der Götter über seine Schuld oder Schuldlosigkeit herbeiführen; die Beweisführung allein durch den Beklagten war in dieser Entwicklungsphase aufgrund der Form des Beweises also zwingend geboten. Als sich der Eid aus dem Gottesurteil entwickelte und an seine Stelle trat274, gab es vom Standpunkt der damaligen Zeit keinen Grund, bei der Übertragung der Beweisführung mit der überkommenen Regelung zu brechen. Dem Eid und dem Gottesurteil lagen ähnliche religiöse Vorstellungen zugrunde275; beide dienten dem Zweck, die Wahrheit festzustellen276, und sie waren — wie ausgeführt — dazu durchaus geeignet. Auch der Eid 270
Mayer-Homberg, aaO. Mayer-Homberg, aaO, S. 60S., 678., 73f.; Stutz, ZSS 49, S. 17f.; von BethmannHollweg, IV, S. 32; Ganshof, RSJB XVII, S. 76. Vgl. auch zu den weiteren Sicherungen im Eidesverfahren durch Eideshelfer und Eidesschelte oben S. 212f. 272 Bezeichnend für den festen Glauben des Volkes an eine göttliche Vergeltung jeden Meineides sind die Berichte, die Gregor von Tours in seiner Historia Francorum gibt. Hier kehren Erzählungen von der Bestrafung Meineidiger durch ein Eingreifen Gottes immer wieder (vgl. auch Beaudouin, S. 466 ff.). Erst recht war in vorchristlicher Zeit auf der Grundlage heidnischer Religionen mit ihren ausgeprägten Furchtvorstellungen diese Erwartung überirdischer Vergeltung eines Meineides verbreitet. 273 Ähnlich Declareuil, NRH 1898, S. 225; Leonhard, S. 25. 274 Vgl. oben S. 216. 275 Vgl. Kohler, HoltzEncykl. I, S. 66; Planitz, S. 41; Erler, Paideuma 2, S. 62 ff. 278 Mayer-Homberg, Beweis, S. 21; Maurer, Krit. Ueberschau, 5 S. 370; Siegel, S. 166 N. 17; von Bethmann-Hollweg, IV, S. 32. 271
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
offenbarte nach damaliger Anschauung in gleicher Weise wie das Gottesurteil sicher die Schuld oder Unschuld des Beweisführers. Wer den Eid leistete, war in den Augen seiner Genossen wirklich unschuldig und nicht nur ein geschickter Lügner277. Der Schuldige zahlte im allgemeinen lieber ein Bußgeld oder erschien insbesondere bei todeswürdigen Verbrechen überhaupt nicht vor Gericht278. Es war demgemäß unbedenklich, die Beweisführung weiterhin dem Beklagten zu überlassen, der — war er unschuldig — die Möglichkeit der Beweisführung im Regelfall als einen Vorzug empfand. Dieser Vorzug bestand für ihn darin, daß er sein Schicksal in die eigene Hand nehmen durfte und in dem sicheren Glauben auf den gerechten Ausgang des Prozesses seine Unschuld beweisen konnte279. Da der germanische Prozeß einen Gegenbeweis nicht kannte und immer nur eine der Parteien den Beweis führen konnte, gab es für ihn nur die Alternative, entweder selbst die Beweishandlungen zu vollziehen oder die Ausführung dem Gegner zu überlassen. Nicht deshalb, weil man kein rechtes Zutrauen zu der Zuverlässigkeit der Beweismittel hatte, sondern weil die aktive Rolle des Handelnden, sein Schicksal selbst Bestimmenden weitaus mehr der Lebenseinstellung der Germanen entsprach als das passive Abwarten einer von anderen herbeizuführenden Entscheidung, war die regelmäßige Übertragung der Beweisführung auf den Beklagten nach der Auffassung der damaligen Zeit eine vernünftige und gerechte Regelung280. Es entsprach germanischer Lebensauffassung und germanischen Rechtsdenkens, daß der Beschuldigte den Angriff auf seine Ehre281, der in dem Vorwurf eines Rechtsbruchs lag282, 277 Ware es anders gewesen, so ließe sich kaum erklären, warum sich der Kläger überhaupt auf den Prozeß hätte einlassen sollen. Dann hätte allenfalls der Schwache sein Heil in einem Gerichtsverfahren, der Starke aber in der Fehde gesucht. 278 Von Bethmann-Hollweg, IV, S. 32. 279 Ähnlich Stutz, 2SS, 49, S. 19: „Ist etwa ein Zustand, wonach der bisher Unbescholtene, der Aufrechte, der an Recht und Ehre vollkommene Mann sich zunächst ungehört beschuldigen, ja auf die Beschuldigung hin den Versuch eines Schuldbeweises über sich ergehen lassen muß, das Normale, das Ursprünglichere? Ich denke nein, ebensowenig wie der Beschuldigte, der auf den Vorwurf eines Verbrechens, sagen wir des Diebstahls, hin ruhigen Blutes entgegnet: Beweist mir's doch. Beide Erscheinungen gehören erst einer späteren Entwicklungs- oder, wenn man will, Niedergangsstufe an". Vgl. Declareuil, NRH 1898, S. 226; von Amira, S. 273; Siegel, S. 170. 280 Was in der Grundidee zumindest für den Unschuldigen Vergünstigung war, konnte im Einzelfall nach der subjektiven Auffassung des Betroffenen durchaus zu einer drückenden Last werden. Ob die Beweisführung für den Beklagten Vorteil oder Last bedeutete, läßt sich dashalb m. E. nicht allein nach objektiven Maßstäben beurteilen, sondern es kommt dabei auch auf die subjektive Sicht des Betroffenen an (vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 13£; Bechert, ZSS 49, S. 26ff., 35f.; Siegel, S. 167). 281 Das Bestreben, die Ehre „als anerkannten Stand männlicher Achtbarkeit" zu wahren und zu verteidigen, war wesentliche Triebfeder rechtlichen Handelns (J. Esser, Einführung, S. 57f.). Insoweit wird der Beweis zu einer Abwehrhandlung des Beklagten (Planitz-Eckhardt, S. 63). 282 Conrad, I, S. 30; Ruth, S. 17; Mitteis-Lieberich, S. 34.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
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durch eigenes Tun abwehren durfte. Nur in Fällen, in denen auch einem schuldigen Beklagten zur Rettung seines Lebens der verzweifelte Versuch des Meineides oder des Gottesurteils zuzutrauen war, bei der Anklage des auf frischer Tat festgenommenen Täters, verwehrte man ihm die Beweisführung. Hier überließ man es dem Kläger, durch seinen Eid gemeinsam mit den Schreimannen zu beweisen, daß der vor Gericht geführte Beklagte auf handhafter Tat ergriffen worden war283. Diese Erklärung des Sinns und der Motive der Beweisverteilung, die ihre Begründung mehr von psychologischen Erwägungen als von einem System rationaler Rechtsregeln284 herleitet, gilt nur für die germanische Zeit. Mit den sich in den nachfolgenden Jahrhunderten vollziehenden tiefgreifenden Veränderungen des staatlichen Lebens und der geistigen und religiösen Anschauungen wandelten sich auch die Grundsätze und Formen des Gerichtsverfahrens und damit die Prinzipien der Beweisverteilung. Darüber wird noch zu berichten sein. Eine einheitliche Erklärung der Beweisverteilungssysteme verschiedener Zeitabschnitte ist nicht möglich. An dieser Stelle soll nur global festgestellt werden, daß die vielen Theorien über die Beweisverteilung im altdeutschen Recht, z.B. die Theorie von der Wahrscheinlichkeit (Mayer-Homberg, von Bar, von Schwerin285), von der absoluten Beweiskraft des feierlich gesprochenen Wortes (Siegel, Jolly), von dem Vorrang der Freiheit und rechtlichen Ungebundenheit (Hänel), von dem Vorzug der Verteidigung vor dem Angriff (Planck), von der besseren Kenntnis des Beweisthemas (Dahn), nicht auf den germanischen Rechtsgang zutreffen und von ihren Verfechtern wohl auch nicht vornehmlich auf diese Periode bezogen werden.
U. Die fränkische Zeit a) Gericht und Verfahren Infränkischer Zeit286blieb zunächst die Organisation des Gerichtswesens287 weitgehend in alter Form erhalten288. 283
Vgl. oben S. 217 f. Die Schaffung eines geschlossenen Systems fester Rechtsregeln konnte auf der Entwicklungsstufe, auf der das germanische Recht stand, nicht erwartet werden; vgl. von Schwerin, S. 45. 285 Vgl. dazu unten S. 226. 288 Auf die Unterschiede der einzelnen Volksrechte im fränkischen Reich kann weder bei der Darstellung der Gerichtsverfassung noch bei der Beschreibung des Verfahrens besonders eingegangen werden; wenige Hinweise müssen insoweit genügen. Da jedoch das fränkische Gerichtsverfahren maßgebend für das gesamte Reich war (vgl. Brunner, DR II, S. 435 f.) und die weitere Entwicklung des deutschen Prozesses bestimmt hat (Sohm, Frank. Recht, S. 3ff., 82f.), dürfte die Vernachlässigung anderer Volksrechte innerhalb und außerhalb des Frankenreiches für den Zweck dieser Untersuchung vertretbar sein. Hinzu kommt noch, daß die tragenden Grundsätze des Prozeß- und Beweis284
222
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Gegen Ende des achten Jahrhunderts führte Karl der Große eine umfassende Reform des Gerichtswesen durch289. Nur noch 2um echten Ding290 mußten alle Dinggenossen erscheinen291. Bei dem alle 14 Tage stattfindenden gebotenen Dingen wurde die Gerichtsgemeinde durch ausgewählte Schöffen, die scabini292 ersetzt, die das Urteil fällten293. Daneben gab es das Königgericht, das eine unbegrenzte Zuständigkeit für sich in Anspruch nehmen konnte294 und unter dem Vorsitz des Königs oder seiner Sendboten überall abgehalten werden durfte296. Das Königgericht war in seiner Rechtsprechung nicht an das geltende Recht gebunden, sondern konnte auch ohne gesetzliche Grundlage Billigkeitsentscheidungen treffen296. Das Gerichtsverfahren der germanischen Zeit ist im fränkischen Reich zwar in verschiedener Hinsicht verändert, jedoch nicht grundlegend umgestaltet worden297. Die Bekehrung der deutschen Stämme zum Christentum hatte die Christianisierung der prozessualen Formalhandlungen zur Folge298. rechts in den verschiedenen Volksrechten sehr ähnlich waren und somit am Beispiel des fränkischen Rechtes miterläutert werden (so auch van Caenegem, RSJB XVII, S. 693: „Diversito infinie dans les details et les formes, mais unite fondamentale des grands principes et des etapes historiques capitales, voilä ce qui caracterise l'histoire des institutions du moyen age occidental et notament, comme nous leverrons, l'histoire du droit des preuves".). 287 Vgl. oben S. 209. 288 Vgl. Kern, Geschichte, S. 3; von Schwerin-Thieme, S. 98; Engelmann, 2, l, S. 12. 289 Diese Reform ist jedoch in einzelnen Landesteilen nicht voll durchgeführt worden. So galten in Sachsen und Bayern abweichende Regelungen; vgl. Conrad, I, S. 142; Planitz-Eckhardt, S. 104. 290 Das echte Ding (vgl. oben N. 171), das Grafengericht, entschied über Leben und Freiheit sowie Grundeigentum, das Schöffengericht war für die übrigen Rechtsstreitigkeiten zuständig (Conrad, I, S. 142; teilweise abweichend Fehr, S. 150). 291 Planitz-Eckhardt, S. 104; Rehme, S. 343; Brunner, DR II, S. 296ff.; vgl. auch Sicard, S. 294f. 292 Die scabini waren auf Lebenszeit bestellt, sie traten beim echten Ding an die Stelle der Rachimburgen, eines Ausschusses von sieben Urteilsfindern, die der Gerichtsversammlung den Urteilsvorschlag unterbreiteten. 293 Kern, Geschichte, S. 6; Conrad, I, S. 142; Schröder-von Künßberg, S. 179; vgl. auch von Bethmann-Hollweg, V, S. 19ff. 294 Conrad, I, S. 146. 295 Vgl. Kern, Geschichte, S. 4f.; Conrad, I, S. 145f.; Brunner, DR II, S. 182f. 298 In welchem Umfang das Königgericht vom geltenden Recht abweichen durfte, ob es lediglich ein Milderungs- und Begnadigungsrecht hatte oder völlig ungebunden nach freiem Ermessen entscheiden konnte, ist streitig. Zum Stand der Meinungen vgl. E. Kaufmann, S. lOff., 129ff. 297 Zum fränkischen Gerichtsverfahren vgl. insbesondere Brunner, DR II, S. 435ff.; Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 205ff., 215ff.; Mayer-Homberg, Volksrechte, S. 175ff.; Schröder-von Künßberg, S. 388ff.; Conrad, I, S. 146ff.; Planitz-Eckhardt, S. lllff.; Fehr, S. 57ff. 298 Brunner, aaO, S. 439. Die heidnischen Kultformen insbesondere bei der Prozeßeinleitung und dem Beweisverfahren wurden durch christliche Riten ersetzt; vgl. Fehr, S. 58; Brunner-von Schwerin, S. 80.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
223
Die Erstarkung der Staatsgewalt ließ den staatlichen Einfluß auf den Prozeß größer werden299. Der Gang des Verfahrens und die Grundsätze der Rechtsfindung blieben aber sonst im wesentlichen gleich.
b) Das Bemisrecbt 1. Die Beweismittel Die Beweismittel des germanischen Prozesses wurden auch in fränkischer Zeit im wesentlichen unverändert angewendet300. Die Beschränkung des Zeugenbeweises blieb bestehen301. Die vorgenommenen Änderungen, wie z.B. die Einführung besonderer Anforderungen an die Vermögensverhältnisse von Zeugen, die Schaffung eines Zeugenverhörs zur Erforschung der Glaubwürdigkeit (nicht aber zur Ermittlung von rechtserheblichen Tatsachen) und die Bestimmung, daß ein Teil der Eideshelfer vom Gegner des Beweisführers zu wählen war, bezweckten in erster Linie, die Garantie für die materielle Wahrheit der Beweise zu vergrößern302.
Als neues Beweismittel kam die Urkunde3®* hinzu. Die Einführung des Urkundenbeweises geht auf die Einflüsse des römischen Rechts zurück, die durch die Kirche besonders gefördert wurden304. Jedoch konnten die den Urkundenbeweis im römischen Prozeß tragenden Rechtsgedanken wegen der grundlegenden Unterschiede beider Prozeßsysteme nicht übernommen werden; vielmehr mußte dieses neue Beweismittel in das formale Beweisverfahren des altdeutschen Prozesses eingefügt werden. Dies geschah in folgender Weise: Eine echte Königsurkunde lieferte vollen Beweis für die Richtigkeit ihres Inhalts305 und durfte nicht angefochten werden; wer es dennoch tat, verwirkte sein Leben306. Nur der Einwand der Fälschung konnte erhoben 299
So wurden verschiedene Akte, die in germanischer Zeit durch die Parteien selbst zu vollziehen waren, z.B. die Ladung des Gegners (vgl. Brunner, aaO, S. 443ff., 450ff.), jetzt vom Gericht vorgenommen (Conrad, I, S. 146). 300 Vgl. dazu die eingehende Darstellung bei Brunner, DR II, S. 512ff. 301 Ob nach salischem Recht der Beweis durch Zufallszeugen zulässig war, ist streitig. Diese Frage wird u.a. von Mayer-Homberg, Volksrechte, S. 193ff.; Brunner, DR II, S. 502 N. 20, S. 532f., bejaht; von Ruth, S. 18, und Levy-Bruhl, TRG 3, S. 387ff., verneint (vgl. auch Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 431 ff.; Declareuil, NRH 1898, S. 241 ff). 302 Vgl. Brunner, Schwurgerichte, S. 63f., 66ff.; Schröder-von Künßberg, S. 391. 303 Vgl. Bresslau, I, S. 636ff. 304 Brunner, aaO, S. 560; Bresslau, aaO, S. 639. 305 Wurden zwei sich widersprechende Königsurkunden vorgelegt, so wurde im älteren Recht der Streitgegenstand geteilt, später erhielt die ältere Urkunde den Vorrang; vgl. Bresslau, I, S. 645; Sohm, ZSS 30, S. 113; Brunner, DR II, S. 561, mit Nachweisen. 306 Lex Ribuaria 60, 6. Nach Pactus Legis Salicae 14 § 4 mußte als Buße das Wergeid eines freien Franken bezahlt werden. Vgl. Bresslau, I, S. 641 f., Forsch. Dt. Gesch. 26, S. 8ff; Merkel, S. 12; Ganshof, RSJB XVII, S. 91 N. 48.
224
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
werden. Dann entschied in merowingischer Zeit die Aussage des Referendars, der die Urkunde unterschrieben hatte, in karolingischer Zeit die Aussage des verantwortlichen Kanzleibeamten307. Eine Privaturkunde konnte sowohl wegen Fälschung als auch wegen Unrichtigkeit des Inhalts angefochten werden308; die Anfechtung als solche richtete sich aber immer gegen den materiellen Inhalt309. Form und Wirkung der Anfechtung waren in den einzelnen Stammesrechten verschieden310.
2. Die Beweisführung ad) Inhalt der Regelung
Der Grundsatz, daß in erster Linie der Beklagte den Beweis zu führen hatte, blieb auch im fränkischen Recht bestehen311, wenn sich auch die Ausnahmen mehrten. Der Kläger wurde %um Beweis ^gelassen, wenn er anbot, sein Vorbringen durch Zeugen oder Urkunden zu belegen, und der Beklagte über gleiche Beweismittel nicht verfügte312. Beriefen sich beide Parteien auf gleichartige Beweismittel, so wurden beim Urkundenbeweis alle vorgelegten Urkunden verlesen313. Widersprachen sich die Urkunden, so wurde bei Privaturkunden314 häufig im Wege der Urkundenschelte durch andere Beweismittel, notfalls durch Zweikampf, eine Entscheidung herbeigeführt. Zog keine der Parteien die Echtheit der vom Gegner vorgelegten Urkunde in Zweifel, so war die ältere Urkunde maßgebend315, mitunter gab auch die Anzahl der vorgelegten Urkunden den Ausschlag31'. 307
Brunner, aaO, S. 561. 80s Ygj^ Brunner, aaO, S. 561 ff.; Schröder-von Künßberg, S. 392; van Caenegem, RSJB XVII, S. 705. 309 Brunner, Carta, S. 564. Die Frage der formellen Echtheit war darin eingeschlossen; Schultze, ZPÖR 22, S. 101 f. 310 Vgl. Brunner, DR II, S. 565f.( Carta, S. 463ff., 480if., Schwurgerichte, S. 64f.; Mayer-Homberg, Volksrechte, S. 217f.; Bresslau, I, S. 641. au Vgi Brunner, DR II, S. 500ff. (auch zu der gleichen Regelung in anderen Volksrechten), Schwurgerichte, S. 51; Mayer-Homberg, aaO, S. 211; van Caenegem, RSJB XVII, S. 695; von Bethmann-Hollweg, V, S. 125. 312 Mitteis-Lieberich, S. 81 f.; R. Hübner, S. 159, 171 ff.; Bechert, ZSS 49, S. 51. Eine Besonderheit galt nach fränkischem Recht in Rechtsstreitigkeiten um Erbgut und in Freiheitspro2essen. Hierbei konnte den Beklagten nicht durch Angebot des Zeugenbeweises seitens des Klägers der Weg Zum Eid verlegt werden (Lex Salica, Extravag. B VIII, vgl. Brunner, DR II, S. 680f.; R. Hübner, S. 184f., beide mit Nachweisen auch zu den Ausnahmen von diesen Regelungen zugunsten des Fiskus und der Kirche). 313 Vgl. Brunner, aaO, S. 583; Schröder-von Künßberg, S. 395. 314 Zur Regelung bei Königsurkunden vgl. oben N. 305. 315 Brunner, DR II, S. 584. 316 Daß immer die Partei zum Beweis gekommen wäre, die eine größere Zahl von Urkunden vorlegte, als die andere, wie R. Hübner, S. 180ff., meint, läßt sich aus dem von ihm angeführten Beispiel nicht herleiten.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
225
Eine Untersuchung und Würdigung des materiellen Inhalts der Urkunde gab es nicht. Es wurden sogar Urkunden als Beweis angenommen, die nur wenig oder überhaupt nichts zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen konnten317. Hierbei wirkt sich wieder der rein formale Charakter des altdeutschen Beweisverfahrens aus, der eine Wertung des Inhalts von Zeugenaussagen und Urkunden unmöglich machte318.
Beim beiderseitig angebotenen Zeugenbeweis ging das Beweisangebot des Beklagten vor319. Später wurde es beim Gemeindezeugnis zulässig, den Zeugen des Beweisführers Gegenzeugen gegenüberzustellen. Widersprachen sich die Aussagen, so wurde von jeder Seite ein Zeuge ausgewählt, der seine Bekundungen durch Eid bekräftigen mußte. Schworen beide den Eid, so entschied der Zweikampf zwischen Ihnen über die Wahrheit ihrer Aussagen320. Das Beweismittel des Beklagten war auch im fränkischen Recht321 regelmäßig der Eid322, der mit einer von Fall zu Fall verschiedenen Zahl Eideshelfern geleistet wurde323. Nach der Lex Salica konnte der Beklagte unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein, den von ihm zu führenden Beweis durch das Ordal des Kesselfanges zu erbringen324 Der Beweis durch Kesselfang325 war bei Anklagen wegen Giftmischerei und Zauberei vorgeschrieben; außerdem konnte der Kläger den Beklagten zu diesem Gottesurteil zwingen und mußte dabei vermutlich einen verstärkten Voreid leisten326. Brunner nimmt an, daß diese Beweisgestaltung auf den Einfluß der Kirche zurückgeht , die dadurch den Zweikampf verdrängen wollte327. Nach anderer Auffassung328 soll es im salischen Recht zuvor keinen Zweikampf gegeben haben329. 317 Vgl. die Nachweise bei Mayer-Homberg, Beweis, S. 214ff. sie Vgl. Mayer-Homberg, aaO, S. 14. 319 Brunner, Schwurgerichte, S. 52. 320 Brunner, Schwurgerichte, S. 68f.; Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 368; R. Hübner, S. 182; Gal, ZSS 28, S. 274; von Bar, Beweisurtheil, S. 14 N. 48. 321 Auch das salische Recht macht von diesem Grundsatz keine Ausnahme, wie Brunner, DR II, S. 502ff., entgegen der abweichenden Meinung von Mayer, Geschworenengericht, S. 47 ff., 56ff., überzeugend nachgewiesen hat. Zum Zeugenbeweis des Klägers vgl. auch die in N. 301 Zitierten. 322 Brunner, DR , S. 506; Ganshof, RSJB XVII, S. 76; Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 438; vgl. auch die von R. Hübner, ZSS 12 (Anhang), zitierten Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit. 323 Vgl. Brunner, aaO, S. 523ff.; Pustel de Coulanges, S. 427ff. 324 Zu den Besonderheiten, die im salischen Recht im Verhältnis des Eides zum Gottesurteil galten, vgl. von Amira, S. 60ff.; Beaudouin, S. 423ff., Brunner, DR II, S. 506ff., Thonissen, S. 508 ff.; Pustel de Coulanges, S. 423 ff. Die Grundsätze des salischen Beweisrechtes werden von diesen Autoren unterschiedlich gedeutet; auf diese Frage kann hier nicht näher eingegangen werden. 325 Vgl. oben S. 216. 326 Vgl. Brunner, DR II, S. 508; Mayer-Homberg, Beweis, S. 45. 327 Vgl. auch Maurer, Krit. Ueberschau, 5 S. 215f. N. 2; Dahn, Studien, S. 60f. 328 Gal, ZSS 28, S. 284ff. 329 Vgl. dazu Brunner, aaO, S. 556. 15 Musielak, Beweisest
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Sonst blieb es aber weitgehend bei dem Verhältnis zwischen Eid und Gottesurteil, wie es im germanischen Recht bestanden hatte330. Die Kirche hat die aus germanischer Zeit übernommenen Ordale christianisiert und neue Formen z. B. das Kreuzordal, ein zweiseitiges Gottesurteil, bei dem die Gegner mit ausgestreckten Händen an einem Kreuz so lange stehen mußten, bis einer von ihnen die Hände sinken ließ331, und die Abendmahlsprobe hinzugefügt332. bV) Sachliche Gründe
Die Prinzipien, die der Regelung der Beweisführung im fränkischen Prozeß zugrundegelegen haben, sind unterschiedlich gedeutet worden. Nach einer insbesondere in neuerer Zeit stark vertretenen Auffassung sollen für die Übertragung der Beweisrolle Wahrscheintichkßitserwägungen maßgebend gewesen sein333, die jedoch nicht auf den Einzelfall bezogen gewesen wären, sondern als abstrakte Erfahrungsregeln Aufnahmein die Volksrechte gefunden hätten334. In Fällen, in denen sich nach diesen Regeln kein Wahrscheinlichkeitsübergewicht ergeben hätte, wäre dem Beklagten die Beweisführung zugefallen. Die Erklärung, die von einigen Autoren335 für diese Verteilung der Beweisführung bei gleicher Wahrscheinlichkeit des Vorbringens gegeben wird, der Beklagte habe deshalb beweisen dürfen, weil bei ihm das bessere Wissen von den beweisbedürftigen Tatsachen vermutet werden konnte, deckt sich mit dem von Mayer-Homberg336 angenommenen Beweiszuteilungsgrund der größeren Wahrscheinlichkeit für eine richtige Sachaufklärung infolge besserer Kenntnis der streitigen Vorgänge. Jedoch wird häufig der Kläger den gleichen Einblick in den 330
Vgl. oben S. 215. Vgl. Ganshof, RSJB XVII, S. 74 N. 3; Leitmaier, S. 19f. 332 Vgl. Conrad, I, S. 148; Leitmaier, S. 20 ff. 333 Bereits von Bar, Beweisurtheil, S. 41 f., ihm folgend Donath, BremJB 5, S. 73, haben die Beweisverteilung im altdeutschen Prozeß mit Wahrscheinlichkeitserwägungen erklärt, doch hat erst Mayer-Homberg, mit seiner Schrift „Beweis und Wahrscheinlichkeit nach älterem deutschen Recht" die Wahrscheinlichkeitstheorie eingehend begründet und fundiert. Vertreter der Wahrscheinlichkeitstheorie sind u.a. auch Brunner, DR II, S. 498ff.; von Schwerin, ZSS 42, S. 576ff.; Rehme, S. 345; Nagel, S. 157f.; vgl. auch Bauhofer, Zürcher Taschenbuch 1949, S. 54ff. 334 Brunner, aaO, S. 498: „Wie das ältere Recht überhaupt hatte auch das Beweisrecht einen typischen Zuschnitt, so daß es auf die Lage der Wahrscheinlichkeit im konkreten Falle keine Rücksicht nahm". Daß die Wahrscheinlichkeit des Parteivortrages die Beweiszuteilung im Einzelfall nicht beeinflußte, ergibt sich auch aus den Berichten Gregors von Tour über das fränkische Rechtsleben. So schildert er den Fall, daß er den Reinigungseid eines übelbeleumdeten Mannes annehmen mußte, obwohl erhebliche Verdachtsgründe gegen ihn sprachen (Hist. Franc. VIII, 40). Auch andere Berichte lassen erkennen, daß Wahrscheinlichkeitserwägungen bei der Beweiszuteilung zumindest im einzelnen Fall nicht angestellt wurden (vgl. E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 38 ff.). 335 Brunner, DR II, S. 491; Beaudouin, S. 421 ff.; vgl. auch Sachße, S. 13. 838 Beweis, S. 13. 331
§ 9 Der germanische und altdeutsche Pro2eß
227
Streitfall wie der Beklagte gehabt haben337. Im übrigen ist Stutz338 zuzugeben, daß die bessere Kenntnis der Beweistatsachen keine Garantie für die wahrheitsgemäße Mitteilung dieses Wissens gibt.
Gegenüber der Wahrscheinlichkeitstheorie ist eingewendet worden, daß sie einen prozessualen Rationalismus und ein Maß an rechtlichen Überlegungen zur Frage der geeigneten Verteilung und Einrichtung des Beweises voraussetze, die nicht zu den unkomplizierten Lebens- und Rechtsanschauungen der germanischen und fränkischen Zeit paßten339. Die Erklärung für die Beweisverteilung könne nicht prozessual-juristisch, sondern müsse allein historisch-psychologisch gefunden werden340. Diesen Bedenken ist zuzugeben, daß man wohl den Stand der Rechtsentwicklung im fränkischen Reich überschätzt, wenn man als Grundlage der Beweisverteilung ein komplexes System rechtlicher Regeln vermutet. Ein solches einheitliches juristisches System hätte in den Quellen der fränkischen Zeit erkennbare Spuren hinterlassen müssen. Überzeugende Quellenbelege, die für das fränkische Recht das Wahrscheinlichkeitsprinzip in der Beweisverteilung stützen, sind jedoch bisher nicht genannt worden341. Versucht man das Beweisverteilungssystem im fränkischen Prozeß zu deuten, so ist zunächst festzustellen, daß der auch von den Vertretern der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht bestrittene Vorrang der Beweisführung des Beklagten342 aus der germanischen Zeit übernommen worden ist und sich aus den Besonderheiten des germanischen Prozesses erklärt343. Daß dieser Grundsatz zugunsten des Zeugen- und Urkundenbeweises eingeschränkt wurde344, dürfte mehrere Gründe gehabt haben, die aber alle dem Bestreben dienten, die Wahrheit zu ermitteln345. Einmal wird berücksichtigt worden 337
Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 376; Declareuil, NRH 1898, S. 224; vgl. auch Siegel, S. 70 N. 8. 338 ZSS 49, S. 22. 339 Stutz, aaO, S. 20ff.; vgl. auch Bechert, ZSS 49, S. 26ff. 340 Stutz, aaO, S. 25. 341 Die reichhaltigen Quellenangaben von Mayer-Homberg, Beweis, S. 113ff. N. 544 ff., betreffen entweder nicht die fränkische Zeit oder lassen sich auch durch andere Erwägungen — häufig sogar besser — erklären (vgl. von Schwerin, ZSS 42, S. 481). 342 Vgl. Brunner, DR II, S. 500; Mayer-Homberg, Volksrechte, S. 211. 343 Vgl. dazu oben S. 218 ff. Der von Stutz, ZSS 49, S. 10 ff., und Bechert, ZSS 49, S. 26 ff., genannte Grund für die regelmäßige Beweisführung durch den Beklagten, daß nämlich mit der Klage zugleich der Vorwurf des Unrechts gegenüber den Beklagten erhoben worden wäre und daß er deshalb zur Verteidigung zugelassen werden mußte (ebenso von Bethmann-Hollweg, IV, S. 24, 26), wird auch nach der hier vertretenen Ansicht für zutreffend gehalten, ist aber nicht die einzige Erklärung für die Beweisrolle des Beklagten. 344 Die weitere Ausnahme im Handhaftverfahren, auf die bereits für das germanische Recht hingewiesen wurde (vgl. oben S. 217 f.), galt auch im fränkischen Recht (vgl. Schröder-von Künßberg, S. 406). 345 Den Vertretern der Wahrscheinlichkeitstheorie (vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 21; Nagel, S. 155 f.) ist darin zuzustimmen, daß Ziel des Beweisverfahrens auch im fränkischen Prozeß die Feststellung der Wahrheit war (vgl. oben S. 220 f.). 15·
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
sein, daß diese Beweismittel am besten geeignet waren, Auskunft über den streitigen Tatbestand zu geben, weil sie wegen ihrer Aufgabe, bestimmte Vorgänge für die Zukunft insbesondere für Streitfälle festzuhalten (Urkunden und Geschäftszeugen), oder wegen ihrer genauen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse (Gemeindezeugen) regelmäßig genauer und sicherer den streitigen Sachverhalt mitteilen konnten als die Parteien346, die nicht notwendigerweise bei der Begründung der streitigen Rechte durch Vertrag oder auf andere Weise anwesend sein mußten347. Zum anderen wird auch der objektivere Charakter dieser Beweismittel gewertet worden sein348. Schließlich nahm auch die Geeignetheit des Eides und des Gottesurteils für die Wahrheitsfindung349 im gleichen Maße ab, wie sich die Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit mehrten. So erklärte der Langobardenkönig Liutprand :350 „Quia incerti summus de iudicio dei, et multos audivimus per pugnam sine iustitia causam suam perdere; sed propter consuitutinem gentis nostrae langobardorum legem ipsam vetare non possumus." Karl der Große351 hatte im Jahre 809 Veranlassung anzuordnen, daß jeder ohne Zweifel an die Gerechtigkeit der Gottesurteile glauben mußte. Bezeichnend für den Wandel der Anschauungen über die Unfehlbarkeit des Eides ist auch, daß in germanischer Zeit eine weltliche Strafe für den Meineid wegen der festen Überzeugung göttlicher Vergeltung überflüssig war352, daß dagegen aber solche weltlichen Strafen in die Volksrechte der nachfolgenden Zeit aufgenommen werden mußten353.
Die Bedeutung der Beweisrolle und der Art des Beweismittels für die Entscheidung des Rechtsstreites sollte jedoch auch nicht überwertet werden. Denn es muß berücksichtigt werden, daß es die Parteien häufig in der Hand hatten, eine Korrektur der gewonnen Ergebnisse durch einen Zweikampf herbeizuführen354; dann entschied die Waffe, nicht ein Rechtssatz über den Ausgang des Prozesses. 348
Auch hier wird also das bessere Wissen als Beweiszuteilungsgrund anerkannt, aber nicht im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie, die nur das bessere Wissen der Parteien maßgebend sein läßt (vgl. dazu oben S. 226). 347 Daß Urkunden und Zeugen vornehmlich in Rechtsstreitigkeiten bedeutsam waren, in denen es um den Bestand oder die Begründung von Rechten ging, erklärt sich aus der Gestaltung dieser Beweismittel. 348 So auch Nagel, S. 154, für das Verhältnis des Eides und Zeugenbeweises. Diese Entwicklung mußte zwangsläufig zur Zulassung von Zufallszeugen führen (vgl. unten S. 233). 349 Eid und Gottesurteile waren nach ihrer Grundidee bestimmt, Mittel der Wahrheitsfindung zu sein, und erfüllten diese Aufgabe zunächst durchaus zufriedenstellend (vgl. oben S. 217, 219). 350 Edictus Liutpr. c. 118 (MG. Fontes, S. 130). 351 MG. Cap. I Nr. 62, c. 20. 352 Von Liszt, Meineid, S. 42; His, S. 112. 353 Vgl. von Liszt, aaO, S. 42ff.; Waitz, IV, S. 422f.; His, S. 113. 354 Der Hinweis, den Conrad, I, S. 29, für den germanischen Rechtsgang gibt, daß dieses Verfahren jeden Augenblick in einen Zweikampf übergehen konnte, gilt weitgehend auch für den Prozeß der fränkischen Zeit (einschränkender Gäl, ZSS 28, S. 270).
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
229
3. Das königgerichtliche Beweis verfahren Für die fränkische Zeit bleibt noch eine kurze Beschreibung der Besonderheiten nachzutragen, die für das Beweisverfahren des Königgerichts355 galten. Die wichtigste Abweichung vom allgemeinen Beweisrecht war das sog. Inquisitionsverfahretß™. Bei diesem Verfahren lud der Richter eine Anzahl von ihm ausgewählter Personen, bei denen er die Kenntnis des streitigen Sachverhalts vermutete, und verhörte sie. Eine Anfechtung dieser Aussagen war nicht zugelassen357. Die Inquisition unterschied sich von den sonst benutzten Beweismitteln dadurch, daß sie nicht auf die Bestätigung des Vorbringens einer Partei gerichtet war, sondern der objektiven Ermittlung der Wahrheit diente. Deshalb konnten für sie auch nicht die allgemeinen Grundsätze der Beweisverteilung gelten358. Unter den Karolingern wurden bestimmten Institutionen, wie z. B. dem Fiskus und den königlichen Eigenklöstern, das ius inquisitionis verliehen, aufgrund dessen sie vor jedem Gericht die Anwendung der Inquisition fordern konnten359. Später wurde dieses Recht allen Kirchen zur Feststellung der Tatsache eingeräumt, ob sie den Streitgegenstand 30 Jahre im Besitz gehabt hatten360. Vom Inquisitionsverfahren ist das Rügeverfahren zu unterscheiden, daß außerhalb der Gerichte zur Aufdeckung von Verbrechen durchgeführt wurde. Beim Rügeverfahren wurden glaubwürdige Gemeindegenossen unter Eid über ihre Kenntnis von begangenen Verbrechen befragt. Gegen den Beschuldigten wurde aufgrund der Aussage, der Rüge, von Amts wegen ein Gerichtsverfahren eingeleitet, in dem er sich von dem Vorwurf reinigen mußte3'1.
Das Königgericht wich auch sonst von den volksgerichtlichen Regeln des Beweisrechts ab und gestaltete es nach seinem Ermessen362. Im Vordergrund stand das Bestreben, anstelle der Erhebung rein formaler Beweise die materielle Wahrheit zu erforschen. Die von E. Kaufmann383 mitgeteilten Fälle zeigen diese Tendenz deutlich. So begnügt sich in dem Rechtsstreit des Abtes Fulrad von St. Denis gegen den Abt Hormung364 im Jahre 749 das Königgericht nicht mit dem formalen Prinzip des 355
Vgl. oben S. 222. Vgl. Brunner, HoltzRL , S. 560f., Schwurgerichte, S. 84ff., Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 348, 402ff., DR , S. 689ff.; Schröder-von Künßberg, S. 416; Ganshof, RSJB XVII, S. 95ff. 357 Schröder-von Künßberg, S. 416; Conrad, I, S. 149; Brunner, HoltzRL II, S. 560. 358 Brunner, Schwurgerichte, S. 85. ass Vgi Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 404ff.; Schröder-von Künßberg, S. 416; Nagel, S. 160f. 360 Brunner, DR II, S. 691; Waitz, IV, S. 426f. 361 Vgl. Conrad, I, S. 145; R. Schmidt, Festschrift, S. 73 ff. 362 E. Kaufmann, S. 108. 363 S. 102ff. 384 MG. DDM. (maiorum domus) Nr. 21. 356
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung Vorrangs der älteren Königsurkunde vor der jüngeren365, sondern untersucht die inhaltliche Echtheit der vorgelegten Urkunde. Daß das Königgericht in der Wahl der Beweismittel frei ist, zeigt ein Vergleich zweier Rechtsstreite aus den Jahren 750 und 775. Einmal versucht das Königgericht, die Wahrheit durch Inquisition zu ermitteln36', in dem anderen Fall führt es die Entscheidung durch das Gottesurteil der Kreuzprobe herbei367, ohne daß für diese Unterscheidung ein sachlich begründeter Anlaß erkennbar ist. Das Königgericht erhob auch abweichend von dem volksgerichtlichen Verfahren Beweis über Vorgänge vor den Volksgerichten durch Vernehmung des betreffenden Richters368. In manchen Rechtsstreitigkeiten, wie z. B. Hochverratsprozessen und Freilassungsanfechtungen, wurde dagegen wieder die Entscheidung allein von dem Ausgang eines Zweikampfes des Anklägers gegen den Angeklagten abhängig gemacht368.
III. Das Hoch- und Spätmittelalter
a) Gericht und Verfahren Die karolingische Gerichtsverfassung hat sich in ihren wesentlichen Grundzügen bis zum 13. Jahrhundert erhalten370. Jedoch gingen die Funktionen der Volksversammlung immer mehr auf die Schöffen über, deren Urteilsvorschläge auch im echten Ding nicht mehr die Zustimmung der gesamten Gerichtsgemeinde notwendig hatten371. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, an deren Ende die völlige Abkehr von dem germanischen Prinzip der Rechtsfindung durch das Volk stand. Die bereits in fränkischer Zeit begonnene Zersplitterung der Gerichtsbarkeit nahm weiterhin zu372. Es entstanden nach und nach für die verschiedensten sachlichen und örtlichen Bereiche besondere Gerichte, wie z.B. die Marktgerichte, Stadtgerichte, Zunftgerichte, Berggerichte, Dienstmannengerichte und Lehnsgerichte373. Schließlich entwickelte sich im 13. Jahrhundert eine Standesgerichtsbarkeit, die dazu führte, daß sich die Zuständigkeit der Gerichte nicht mehr nach dem Inhalt des Rechtsstreites, sondern nach dem Stand der Parteien richtete374.
Die Grundsätze und Regeln, die das Gerichtsverfahren der fränkischen Zeit bestimmt hatten, galten im wesentlichen auch noch im Hoch- und 365 888 367 368 869 370 871 372 373 374
Vgl. oben N. 305. MG. DDM. (maiorum domus) Nr. 22. MG. DD. Karol. Nr. 102. Vgl. Brunner, DR , S. 688, Gerichtszeugnis, S. 163 ff. Vgl. Gäl, ZSS 28, S. 242ff., 262ff. Conrad, I, S. 374; Fehr, S. 101. Kern, Geschichte, S. 7. Vgl. von Bethmann-Hollweg, V, S. 197ff.; Bader, Dt. Philologie HI, Sp. 2011. Vgl. Kern, Geschichte, S. 7; Conrad, I, S. 382. Kern, aaO, S. 12; Schröder-von Künßberg, S. 655.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
231
Spätmittelalter375 bis zur Rezeption des römischen Rechts376, doch gab es bedeutsame Änderungen im einzelnen. Hervorzuheben ist insbesondere die Trennung des Zivilverfahrens vom Strafprozeß, die sich in dieser Zeit vollzog377. Es gab noch sog. gemischte Klagen, die beide Rechtsbereiche betrafen oder zumindest betreffen konnten, wie z.B. die Anefangsklage um gestohlene Fährnis, die mit einem Herausgabeanspruch, also zivilrechtlich, begann und in einen Strafprozeß übergehen konnte, wenn sich herausstellte, daß der Beklagte der Dieb oder Hehler der Sache war378.
Das gerichtliche Verfahren war wie bisher ein in öffentlicher Verhandlung mündlich geführter Parteienstreit379. Die Parteien hatten sich mit ihrem Vorbringen und ihren Anträgen an den Richter zu wenden, der aber nicht selbst entschied, sondern zu jeder auftretenden Frage380 ae.n Spruch der Urteiler herbeiführen mußte. In der Glosse zum Sächsischen Weichbildrecht (Art. 16)381 heißt es: „Nach geistlichem rechte sprechin die richter die orteil selber, in unserm rechte vraget der richter eynen anderen, unde das ist denne des richters ratgebe; wenn er sal is eynen schepphen fragen; was der vint, daz wirt recht, wenn is von den beiden gevolbort wirt".
Beherrscht wurde das gesamte Verfahren von einem übersteigerten Formalismus, der seinen eigentlichen Sinn382 verloren hatte und oft in reine Schikanen ausartete383. Wohin dieser Formalismus führte, zeigen viele in den Quellen wiedergegebene Fälle. So wurde ein Mann, der einen anderen körperlich verletzte, deshalb freigesprochen, weil der Kläger sich bei der Klageerhebung versprach und vortrug, die 375
Bereits im Rahmen der Darstellung des fränkischen Rechts ist darauf hingewiesen worden (vgl. oben N. 286) und für das Hoch- und Spätmittelalter zu wiederholen: ein einheitliches deutsches Prozeß- und Beweisrecht gab es zu dieser Zeit nicht (vgl. Gudian, lus commune II, S. 33 ff.). Eine zusammenfassende Beschreibung des mittelalterlichen Beweisrechts ist aber für den Zweck der durchgeführten Untersuchung vertretbar, weil trotz der bestehenden Unterschiede in Einzelfragen die tragenden Prinzipien, auf die es hier ankommt, in den einzelnen deutschen Rechten gleich oder zumindest sehr ähnlich waren. 376 Conrad, I, S. 345; Schröder-von Künßberg, S. 844. 377 Planitz-Eckhardt, S. 228; Mitteis-Lieberich, S. 221. 378 Vgl. Mitteis-Lieberich, aaO. 878 Planitz-Eckhardt, aaO. 380 Brunner-von Schwerin, S. 178: „Auf den durch ein Urteil festgestellten Satz wird durch neue Urteilsfragen weiter gebaut, so daß das ganze Verfahren von Urteil zu Urteil vorwärts schreitet"; vgl. auch Planck, Beweisurtheil, S. 27ff. 381 Von Daniels-von Gruben, S. 255. 382 Vgl. oben S. 210f. 383 Brunner-von Schwerin, S. 177; Fehr, S. 174; Siegel, Gefahr, S. 123; E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 33ff.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung vom Beklagten zugefügte Wunde habe ihm den Tod gebracht. Der Beklagte benützte diesen Versprecher, um der Klage zu entgehen, indem er darauf hinwies, der Kläger habe behauptet, daß er tot sei, obwohl er doch lebe; die Klage müßte deshalb falsch sein. Die Brünner Schöffen folgten dieser Argumentation und wiesen die Klage ab384.
b) Das Beweisrecht Begünstigt durch die noch immer weitgehend formale Gestaltung der Beweismittel und der Beweiserhebung, wirkte sich der prozessuale Formalismus besonders im Beweisverfahren aus385. Dennoch vollzogen sich gerade im Beweisrecht des Hoch- und Spätmittelalters tiefgreifende Veränderungen, die die Möglichkeiten einer materiellen Wahrheitserforschung vergrößerten388.
1. Die Beweismittel Die in fränkischer Zeit dem Königgericht und besonders Privilegierten vorbehaltenen Beweismittel der Inquisition und des Gerichtszeugnisses387 fanden allgemeine Anwendung. Der Inquisitionsbeweis wurde insbesondere bei Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an Grundstücken erhoben388. Das Gerichts^eugnis, das im sächsischen Rechtskreis durch amtliche Auskunft des Richters und der Schöffen, in Süddeutschland durch die Bekundung zweier oder mehrerer Dingleute erbracht wurde389, erlangte wegen seiner Unanfechtbarkeit390 erhebliche Bedeutung und führte zum Entstehen einer freiwilligen Gerichtsbarkeit391. 384
Brünner Schöffenbuch Nr. 67. Engelmann, 2, l, S. 83; vgl. die Beispiele bei Siegel, Gefahr, S. 127 ff. 386 Planitz-Eckhardt, S. 229. 387 Vgl. Hänel, S. 62ff.; Jolly, S. 51; Hasenöhrl, S. 51 ff.; Mayer, Geschworenengericht, S. 306ff.; s. auch oben S. 229f. 388 Planitz-Eckhardt, S. 229; Brunner, HoltzEncykl. I, S. 238; Hasenöhrl, S. 160ff. 389 Brunner-von Schwerin, S. 179; Schröder-von Künßberg. S. 851; Buchda, RSJB XVII, S. 544 f. Im spätfränkischen Prozeß wurde das Gerichtszeugnis durch Aussage des Schultheißen und zweier oder dreier Schöffen (vgl. dazu Kornblum, S. 52; Tillman, S. 45), am Ende der Entwicklung auch durch das Gerichtsbuch oder beglaubigte Auszüge daraus (vgl. die Nachweise bei Merzbacher, S. 121 f.) erbracht. Im magdeburgischen Rechtskreis konnte das Gerichtszeugnis unter bestimmten Voraussetzungen von zwei Schöffen mitgeteilt werden (vgl. Rehme, Festschrift, S. 79 ff., 127 ff.). 390 vgl. Planck, Gerichtsverfahren II, S. 180ff.; Ebel Forschungen, S. 67. 391 Schröder-von Künßberg, S. 851. Später wurde das Gerichtszeugnis auch schriftlich durch sog. Gerichts- oder Schöffenbriefe erstattet (vgl. Buchda, aaO, S. 543; Planck, aaO, S. 196; Rehme, S. 367). 885
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Der Urkundenbeweis wurde durch die Anerkennung der Beweiskraft des Privatsiegels ausgedehnt392. Das Siegel, das ursprünglich nur der Verschluß einer Urkunde war, wurde bereits in karolingischer Zeit bei Königsurkunden 2um Beglaubigungszeichen. Später erhielt es diese Wirkung auch bei den Urkunden der weltlichen und geistlichen Großen. Im Laufe des 13. Jahrhunderts bekam das Siegel — ausgehend von Süddeutschland — fast überall, auch im sächsischen Rechtskreis, wo zunächst der Urkundenbeweis kaum eine Rolle gespielt hatte393 gerichtliche Beweiskraft394. Geistliche Würdenträger, Stadtbehörden und Gerichte erhielten das Recht, fremde Urkunden durch ihr Siegel zu beglaubigen395. Nach manchen Rechten waren durch derartige Siegel beglaubigte Urkunden unanfechtbar396. Die Anerkennung von Privaturkunden als Beweismittel setzte sich im gesamten Reich nur allmählich durch. Dem sächsischen Land- und Lehnsrecht war der Beweis durch Privaturkunden fremd397 und noch im 15. Jahrhundert wurde in manchen niederdeutschen Stadtrechten, wie z. B. in dem Bremens, der Privaturkunde eine selbständige Beweiskraft versagt398.
Der Eid wurde jetzt häufiger allein geleistet, und die Eideshelfer wurden im Zivilprozeß allmählich zu Zeugen399, die aufgrund eigener, auch zufällig erlangter Kenntnis aussagten400. Da zunächst auch Zeugen im allgemeinen weiter wie bisher401 die Richtigkeit des Beweisthemas nur bestätigten, ohne über die Grundlagen ihres Wissens zu berichten, und fast durchweg übereinstimmende Aussagen mehrerer Zeugen erforderlich waren402, war es häufig schwierig, sie von den Eideshelfern zu unterscheiden403. Unterscheidungsmerkmal ist, ob bei den mit der Partei schwörenden Personen eine eigene Wahrnehmung der streitigen Tatsachen vorausgesetzt wurde404.
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Planitz-Eckhardt, S. 229; Kornblum, S. 67ff.; Schlosser, S. 367; Schröder-von Künßberg, S. 851. 893 Vgl. unten N. 452. 394 Vgi dic Darstellung dieser Entwicklung bei Bresslau, I, S. 683 f. 395 Vgl. Brunner-von Schwerin, S. 130; Schröder-von Künßberg, S. 763ff.; Bresslau, I, S. 713ff.; Schultze, ZPÖR 22, S. 115ff. 398 Vgl. Koller, S. 94. 397 Vgl> ^ ^ Gerichtsverfahren II, S. 193E; Buchda, RSJB XVII, S. 545f.; Bresslau, I, S. 636, 639. 898 Vgl. Kühtmann, S. 27; Donandt, BremJB 5, S. 106; Brunner- von Schwerin, S. 178; Conrad, I, S. 386. 399 Vgl. Laband, S. 33; A. Wolff, S. 30f.; Koller, S. 93; Liedl, S. 39. 400 Schröder-von Künßberg, S. 851 f.; Mitteis-Lieberich, S. 222; Kornblum, S. 48, 54; Tillmann, S. 38f.; Rehme, S. 367; Conrad, aaO; vgl. auch Albrecht, II, S. 52ff.; Planck, Beweisurtheil, S. 40, 62f.; Franklin, S. 251f.; 249f.; Böhme, S. 25f. 401 Vgl. oben S. 215, 225. 402 Vgl. Buchda, RSJB XVII, S. 542f. 403 Vgl. Ruth, S. 4ff. 404 Ruth, S. 6.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Der Beweis durch Augenschein wurde zugelassen405; dem Gericht oder beauftragten Gerichtsmitgliedern408 wurden Sachen oder Personen, an denen bestimmte für den Rechtsstreit wesentliche Beobachtung zu machen waren, vorgezeigt407. Die durch eine solche „leibliche Beweisung" festgestellten Tatsachen waren dem Streit der Parteien entzogen408. Die Ordale einschließlich des Zweikampfes verloren als Beweismittel wesentlich an Bedeutung. Der Zweikampf spielte fast ausschließlich noch im Strafverfahren eine Rolle409 und war seit dem 14. Jahrhundert den höheren Gerichten, voi allem dem Gericht des Königs, vorbehalten410. Die einseitigen Gottesurteile, wie das Eisentragen, der Kesselfang und die Wasserprobe, stellten sich schon im Sachsenspiegel als Relikte einer bereits überschrittenen Entwicklungsstufe dar411. Sie wurden nur ausnahmsweise in Fällen angewendet, in denen andere Beweismöglichkeiten erschöpft waren412; im Zivilprozeß wurde nur noch die Wasserprobe zugelassen413. Schließlich wurden die Gottesurteile völlig abgeschafft414. Der Wandel in der Einstellung zu den Gottesurteilen wurde durch die Haltung der Kirche entscheidend beeinflußt415. Nachdem bereits vorher die Kirche eine ablehnende Haltung gegenüber den Gottesurteilen gezeigt und insbesondere den Zweikampfverboten hatte, wurde auf dem 4. Laterankonzil im Jahre 1215 das Verbot des Zweikampfes wiederholt und allen Geistlichen eine Mitwirkung bei Gottesurteilen untersagt416. Als Beispiel für die Folgerung, die der Gesetzgeber aus dieser Auffassung zog, läßt sich die in der Rottweiler HGO von 1435 getroffene Regelung der Eidesschelte anführen417: „Ob aber ieman dem ändern sin Hand niederziehen und in mit sinem übe wissen wollt, des darumb im ain aide ze tund erkennt war, darumb sollen die urtailsprecher sich mit wißhait besprechen, waz 405 vgl. Planck, Gerichtsverfahren II, S. 148; Schlosser, S. 371, mit Nachweisen. 406 Vgl. G. L. Maurer, S. 189. ? vgl. Planck, aaO, S. 149ff. Das Gericht konnte zur Feststellung bestimmter Tatsachen auch Sachverständige, z. B. einen Arzt oder einen vereidigten Feldmesser, hinzuziehen, vgl. Brünner Schöffenbuch Nr. 729; Tillmann, S. 44. 408 Schulte, S. 380. 408 Vgl. Buchda, RSJB XVII, S. 528, 536f.; Nottarp, S. 196; Planck, Gerichtsverfahren I, 2, S. 787 ff., , S. 145 ff. 410 Conrad, I, S. 387; vgl. auch Franklin, S. 245 f. 4U Buchda, aaO, S. 531; von Kries, S. 38ff.; Planck, Gerichtsverfahren II, S. 144; Buchner, S. 157. 418 Vgl. Ssp. Lehnr. 40 § 3 413 Vgl. Ssp. Ldr. 21 § 2; Lehnr. 40 § 2. Es wird hier der Fall erörtert, daß beide Parteien an einem Gut das gleiche Recht geltend machen und eine Befragung der Umsassen keine Klärung bringt. 414 Bezeichnend für diese Entwicklung ist, daß Richtst. Ldr. 26 § 6 den in der vorigen N. genannten Fall behandelt, dabei ein Gottesurteil nicht erwähnt. Vgl. Homeyer, Richtst. Ldr., S. 479; O. Müller, S. 269. 415 Vgl. Nottarp, S. 342ff.; J. Ph. Levy, Hidrarchie, S. 149ff.; Gaudemet, RSJB XVII, S. 123ff.; Glitsch, S. 61 ff. 416 Vgl. Conrad, I, S. 387; J.Ph. Ldvy, RSJB XVII, S. 142. 417 v. 3 — Glitsch-Müller, ZSS 41, S. 331.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
235
darinn ze lassen ze tun oder recht ist". Es war also eine gerichtliche Entscheidung bei der Eidesschelte erforderlich, keinesfalls — wie früher — der Zweikampf automatische Folge. In manchen Rechten wurden später einseitige Ordale in zweiseitige umgewandelt, damit beide Parteien den Beweis führen konnten418. Doch hat es sich hierbei um Neuerungen gehandelt, die — offensichtlich beeinflußt durch römisch-kanonische Rechtsgedanken — entgegen den Prinzipien des altdeutschen Beweisrechts den formalen, streng einseitigen Charakter des Beweises übergingen419. Denn anders als beim Zweikampf konnten sich bei diesen Beweisen widersprechende Ergebnisse zeigen.
Nicht nur bei den Ordalen, sondern auch beim Eid vollzog sich ein Wandel der Auffassungen420. Der unverrückbare Glaube an das strafende Eingreifen einer jeden Meineid rächenden überirdischen Macht, der bereits in fränkischer Zeit erschüttert war421, nahm auch weiterhin ab422. Der Versuch, die dadurch entstehende Lücke durch weltliche Strafandrohungen auszufüllen423, konnte dem Eid nicht die absolute Tauglichkeit zur Wahrheitsermittlung wiedergeben, die er im germanischen Rechtsleben gehabt hatte, wenn er auch als Beweismittel erhalten blieb424. Betrachtet man die einzelnen Beweismittel, die im Prozeß des Hoch- und Spätmittelalters vorkommen, so zeigt sich einmal eine bisher im altdeutschen Rechtsgang nicht gekannte Vielfalt425; noch weitaus bedeutsamer ist aber, daß die Entwicklung von den irrationalen Beweismitteln weg %u einem System von Möglichkeiten materieller Wahrheitsfindung ging426. Die Beweismittel begannen, wie sich aus der Gestaltung des Gerichtszeugnisses, der leiblichen Beweisung427 und des Urkundenbeweises zeigt, ihren streng formalen Charakter zu verlieren428. Diese Entwicklung spricht dafür, daß sich der deutsche Prozeß auch ohne die Rezeption des römischen Rechts der starren Fesseln des Formalismus entledigt und im Beweisverfahren zu Formen 418
Vgl. Markov, ZSS 83, S. 169f., zum böhmischen Recht des Mittelalters. Vgl. Markov, aaO, S. 176f. 420 Vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 82. 421 Vgl. oben S. 228. 422 Auch ist zu berücksichtigen, daß das Erfordernis der Eideshelfer und die Möglichkeit der Eidesschelte (vgl. oben S. 212f.) teilweise oder gänzlich wegfielen und damit die Eidesleistung noch mehr allein vom Willen des Beweisführers abhängig wurde. 423 Vgl. von Liszt, Meineid, S. 64ff.; Kühns, II, S. 508. 424 Vgl. van Caenegem, RSJB XVII, S. 725f. 425 Zutreffend stellt Buchda, RSJB XVII, S. 524, fest: „Keinpraktisch mögliches Beweismittel war rechtlich ausgeschlossen. Natürlich ist nicht darüber zu streiten, daß die Gottesurteile um andere Formen hätten vermehrt werden können. Sehen wir jedoch von ihnen und vom Zweikampf ab, so ist dem Beweis durch Parteieid, durch Augenschein (leibliche Beweisung), durch Zeugen und durch Urkunden, rechtlich gesehen, bis zur Gegenwart nicht viel Neues hinzugefügt worden." 426 Ähnlich schon Kühns, , S. 529. 427 Vgl. Planck, Gerichtsverfahren , S. 156. 428 Vgl. Buchda, aaO, S. 543 f., 525; van Caenegem, RSJB XVH, S. 403 ff. 419
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
gefunden hätte, durch die eine Ermittlung der materiellen Wahrheit im Einzelfall ermöglicht worden wäre429.
2. Die Beweisführung Die Beweisführung wurde angesichts der im Grundsatz noch weiterhin überwiegend formalen, einseitigen Gestaltung der Beweiserhebung, jedoch ohne den notwendigen Ausgleich der in der Vergangenheit wirksamen psychologischen und tatsächlichen Sicherungen zu einem Vorteil, der entscheidenden Einfluß auf den Ausgang des Prozesses hatte430. Auf diese Entwicklungsstufe trifft die für den germanischen und fränkischen Prozeß abgelehnte Auffassung zu, in der Zulassung zum Beweis eine Vergünstigung zu erblicken431. Homeyer432 weist darauf hin, daß die Urteilsfragen des Richtsteigs — und man kann hinzufügen: auch der anderen Rechtsbücher dieser Zeit — zeigen, wie sehr sich die Parteien zum Beweis drängten, um den in der Beweisrolle liegenden Vorzug für sich zu nutzen.
Es war deshalb notwendig, die aus germanischer und fränkischer Zeit stammenden Bestimmungen über die Zulassung zum Beweis dieser Entwicklung anzupassen und eine umfassende Regelung über die Zuteilung der Beweisrolle zu schaffen. Die Frage nach den Regeln und den Prinzipien der Beweisverteilung im mittelalterlichen Prozeß gehört zu den schwierigsten und umstrittensten Problemen der deutschen Rechtsgeschichte. Es ist nicht möglich, hier die vielen Meinungen im einzelnen wiederzugeben, die zu diesem Problem geäußert worden sind433. Exponenten der verschiedenen Meinungsgruppen, in die sich die vertretenen Auffassungen trotz Unterschiede im Detail einordnen lassen, sind Planck, Laband und MayerHomberg. Planck434 nimmt an, daß bei der Beweisverteilung der Angegriffene grundsätzlich den Vorzug vor dem Angreifer hatte, wobei er jedoch in bestimmten Fällen auch dem Kläger die Rolle des Angegriffenen zuerkennt. Laband435 sieht in der rechtlichen Relevanz der Parteibehauptungen den wesentlichen Beweiszu429
Bartmann, S. 55 f. Welchen bedeutsamen Einfluß der Richter auf das Beweisverfahren im späten Mittelalter nehmen konnte, zeigen die Urteile des Ingelheimer Oberhofes aus der Zeit von 1375 bis 1460 (Kornblum, S. HOff.; vgl. auch unten N. 500). O. Müller, S. 268, nimmt sogar an, daß am Ende der Entwicklung des altdeutschen Gerichtsverfahrens dem Gericht eine „ziemlich freie Beweiswürdigung" gestattet war; vgl. auch O. Müller, S. 273; Planck, Beweisurtheil, S. 172; Schlosser, S. 384ff. 430 Homeyer, aaO, S. 482f.; Planck, Gerichtsverfahren II, S. 15; von Kries, S 50; Delbrück, ZDR 14, S. 214. 431 So auch Mayer-Homberg, Beweis, S. 24f., der für das frühere Recht nachdrücklich bestreitet, daß in der Übertragung der Beweisrolle ein Vorzug gelegen hätte. 432 Richtet. Ldr., S. 482. «a Ygi_ dazu 2.B. die Darstellung bei Mayer-Homberg, Beweis, S. Iff. 434 Vgl. Gerichtsverfahren II, S. 13. 435 Laband, S. 46.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
237
teilungsgrund. Mayer-Homberg dagegen will Wahrscheinlichkeitserwägungen für die Beweiszuteilung maßgebend sein lassen436.
Der insbesondere in germanischer, aber auch noch in fränkischer Zeit vorherrschende Grundsatz^ des Beweisvor^uges der beklagten Partei'®·'1 galt, von Sonderregelungen in einzelnen Rechten abgesehen, nur noch uneingeschränkt in Fällen, in denen das Vorbringen der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweismittel gleichwertig waren438. Daß dieser Grundsatz gerade im Hinblick auf die vorteilhaftere Stellung des Beweisführers noch weiterhin, wenn auch durch Ausnahmen eingeschränkt, Geltung hatte, ergibt sich aus den Rechtsaufzeichnungen der damaligen Zeit439. So stellt das Brünner Schöffenbuch fest: Reus, fide dignus, qui bonni nominis et etiam famae potius admittitur ad defendendum honorem, corpus et res, quam vincatur per actorem (Nr. 2). Richtst. Ldr. 4, rät dem Vorsprecher: sprek du jo lever des antwerders wort wen des clegers, wen deme manne is beter tu helpende dat he untga, wen men des gehelpen mach, dat he enen anderen overga. Der Glossator des sächsischen Weichbildrechts begründet den Beweisvorgang des Beklagten unter Hinweis auf D. 50. 17. 125 (Favorabiliores rei potius quam actores habentur) wie folgt: unde dis ist darumme, das das recht ist bereiter eynen zu losen, wenne zu vordampnen (Art. 74; im gleichen Sinn: Art. 32, 38 a.E.) Die Beeinflussung des Verfassers durch das römische Recht ist nicht allein aufgrund des Digestenzitats offensichtlich. So begründet Bulgarus440 die Beweislast des Klägers mit genau derselben Erwägung: iura promptiora sunt ad absolvendum quam ad condempnandum.
Hatte der Kläger seinen Anspruch im einzelnen begründet und den Rechtsgrund für sein Begehren genau bezeichnet, so wurde ihm der Beweis ^ugeteilt, wenn der Beklagte sich auf ein reines Bestreiten ohne nähere Tatsachenangabe beschränkte441. Die für diese Beweisverteilung maßgebende Überlegung dürfte gewesen sein, daß ein Beklagter, der einer detaillierten Sachdarstellung des Klägers ein bloßes Nein entgegensetzt, unglaubwürdig wirkt und daß die Wahrscheinlichkeit für den Kläger spricht442. Hatte der Kläger lediglich eine sog. schlichte Klage erhoben und seinen Antrag auf Ver436
Vgl. dazu oben S. 226. Vgl. oben S. 217, 224. 438 Vgl. Erler, RSJB XVII, S. 509ff.; Schröder-von Künßberg, S. 845ff. 439 Vgi aucij Mayer-Homberg, Beweis, S. 24ff., mit weiteren Nachweisen; Homeyer, Richtst. Ldr., S. 484; Planck, Gerichtsverfahren II, S. 17f. N. 12; Loening, S. 61f. N. 56; Siegel, DR, S. 584. 440 Excerpta legum (Wahrmund, IV l, S. 3). 441 Vgl. Schröder-von Künßberg, S. 846ff.; Planck, Beweisurtheil, S. 68f. 442 VgL von g afj Beweisurtheil, S. 132; a.A. Engelmann, 2, l, S. 52f., der annimmt, daß die Behauptungen jeder Partei so lange als wahr gegolten hätten bis sie durch eine positive Gegendarstellung entkräftet worden wären. Aus dieser Annahme leitet er die Verpflichtung des Beklagten her, die Sachdarstellung des Klägers durch eine eigene Sachdarstellung zu „überbieten". Diese Ansicht steht der früher häufig vertretenen Auffassung von der Beweiskraft des feierlich gesprochenen Wortes nahe (vgl. statt vieler Siegel, S. 169f.; Kühns, II, S. 521 f.; von Bethmann-Hollweg, IV, S. 28). 437
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
urteilung des Beklagten nicht nähet erläutert, so konnte sich auch der Beklagte darauf beschränken, ohne Angabe von Gründen die Klage zu leugnen; er wurde dann zum Beweis zugelassen, den er durch Leistung des Eides führte443. Hatten beide Parteien ihre Anträge im einzelnen begründet, so mußte das Gericht ihr Vorbringen gegeneinander abwägen und untersuchen, in welchem rechtlichen Verhältnis die Behauptungen der Parteien zueinander standen. Diese Prüfung war — abgesehen von Erwägungen der Logik und der Prozeßökonomie notwendige Folge der Einseitigkeit des Beweisverfahrens, daß die Ermittlung und Würdigung einander widersprechender Tatsachen nicht zuließ. Es war deshalb erforderlich festzustellen, ob nicht nach den Regeln des materiellen Rechtes der behauptete Anspruch einer Partei dem von der anderen Partei vorgetragenen Recht vorging444, so daß es überhaupt nicht auf den Beweis des schwächeren Rechts ankam, wenn das stärkere bestand445. Gleiches galt, wenn nach dem Vortrag einer Partei das Recht des Gegners untergegangen oder überhaupt nicht entstanden war; auch in diesem Fall war die rechtlich weitergehende Sachdarstellung unter Beweis zu stellen. Von Bar448 führt den in Ssp. Lehnt. 7 § 4 behandelten Fall an, daß beide Parteien ein Lehnrecht an demselben Gut behaupten, das jedoch beide nicht im Besit2 haben. Dann wurde die Partei zum Beweis zugelassen, die behauptete, zuerst belehnt zu sein, weil eine nachfolgende Belehnung ihre Berechtigung nicht mehr aufheben konnte. Ein weiteres Beispiel ist, daß eine Partei einen Anspruch aus Bürgschaft, der Gegner den Erlaß der Schuld behauptet447. Nach Riehst. Ldr. 16 § 2 hatte der Kläger durch Zeugen sein Eigentum an der Sache, die er nach seinem Vortrag dem Erblasser des Beklagten geliehen hatte, zu beweisen, wenn der Beklagte sich nur auf „angestorven erve" berief; anders aber wenn der Beklagte vortrug, der Erblasser sei Eigentümer gewesen (eod. § 3). Auch in Entscheidungen des Ingehlheimer Oberhofes zeigt sich dieser Einfluß des materiellen Rechts auf die Beweisverteilung. Eine Witwe klagt gegen ihren Schwiegervater auf Erfüllung der Eheberedung. Der Beklagte gibt vor, die Klägerin habe gegenüber ihrem Mann auf den Anspruch verzichtet, als dieser auf dem Sterbebett lag, und bietet hierfür Beweis durch Zeugen an. Der Oberhof übergeht dieses Beweisangebot und weist 443
Brunner-von Schwerin, S. 180; Laband, S. 25; Schlosser, S. 379; vgl. auch Kornblum, S. 86f.; Gudian, Ingelheimer Recht, S. 251; Böhme, S. 69ff. 444 So ging z. B. nach dem Sachsenspiegel unter bestimmten Voraussetzungen Eigentum dem Lehen (Ssp. Ldr. II 43 § 1; vgl. dazu Planck, ZDR 10, S. 288ff.; Delbrück, ZDR 14, S. 229ff.; Homeyer, Richtst. Ldr., S. 497f.; stark einschränkend Laband, S. 168ff.), ererbtes Grundeigentum gekauften oder geschenkten vor (Ssp. Ldr. II 43 § 2; Richtst. Ldr. 26 § 5; vgl. Hänel, S. 188f.). Kühns, II, S. 527, will diesen Vorrang mit dem wenig überzeugenden Hinweis erklären, daß derjenige glaubwürdiger ist, der das „einfachere", natürlichere Rechtsverhältnis behauptet, und daß dieses einfachere Recht in den genannten Fällen Eigentum und Erbgut sei. 445 Laband, S. 46f. (vgl. oben S. 236); ähnlich Kornblum, S. 20f.; Hänel, S. 182ff.; vgl. auch Planck, Beweisurtheil, S. 69. 446 Beweisurtheil, S. 144; vgl. auch Hänel, S. 189f. «' Vgl. Hänel, S. 183.
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darauf hin, daß ein gültiger Verzicht nur dann zustandegekommen wäre, wenn auch das gemeinsame Kind verzichtet hätte. Hierfür hatte der Beklagte aber nichts vorgetragen448. Aus allen diesen Beispielen ergibt sich, daß das Gericht eine materielle Schlüssigkeitsprüfung vornahm und bei der Beweisverteilung auf die Erheblichkeit der vorgetragenen Tatsachen genau achtete.
Waren die behaupteten Rechte beider Parteien materiell gleichwertig, so kam im allgemeinen die Partei zum Beweis, die das stärkere Beweismittel anbot449. Das bedeutete, daß die Partei den Beweis führen konnte, die sich auf ein Gerichtszeugnis450 oder die leibliche Beweisung berief451, daß der Beweis durch Urkunden452 den Vorrang vor dem Zeugenbeweis hatte453 und daß schließlich das Angebot, durch Zeugen zu beweisen, die Beweisführung durch den Eid verhinderte454. Der Vorrang und die Bedeutung von Urkunden wird insbesondere im Schwabenspiegel Landrecht betont wo es heißt455: „Wir sprechen daz briefe bezzer sin danne geziuge. wan sterbend gest so belibent briefe immer me stete. Ditze hainzent hantveste. da hilfet ein toter geziuc als ein lebender." Nach der Rottweiler HGO von 1435456 konnte bei Schuldklagen dem Beklagten nur durch Urkunden, dagegen nicht durch Zeugen der Eid verlegt werden. In manchen Rechten war aber das Zeugnis bestimmter Amtspersonen, wie z.B. des Büttels, des Flurschützen und des geschworenen Aufstössers, besonders beweiskräftig und Urkunden gleichwertig457. Im Sachsenspiegel galt jedoch der Vorrang des Zeugenbeweises vor dem Beweis durch Eid in vielen Fällen nicht. Hier war der Grundsatz aufgestellt: „swaz die man vor gerichte nicht ne düt, swi wizzelich iz si, daz her des mit sinir unschult untgeit, 448
Erler, Nr. 4, 8; vgl. auch Kornblum, S. 20f., 91. Brunner-von Schwerin, S. 180; Schröder-von Künßberg, S. 846; Schlosser, S. 381 f.; Kornblum, S. 89f. Dieser Grundsatz galt jedoch zumindest nicht überall uneingeschränkt (vgl. Hänel, S. 130f., und unten die folgenden Ausführungen); er fand jedoch allmählich in allen Rechten Aufnahme, 450 Vgl. Ssp. Ldr. I 7, 8. 451 Hänel, S. 86ff.; Buchda, RSJB XVII, S. 544; Homeyer, Richtst. Ldr., S. 503f.; Planck, Gerichtsverfahren II, S. 14, ZDR 10, S. 224f.; Retzlaff, S. 86. 452 Im Beweissystem des Sachsenspiegels hatte der Urkundenbeweis noch keine selbständige Bedeutung; vielmehr diente die Urkunde im wesentlichen nur zur Unterstützung des Gedächtnisses (vgl. Planck, aaO, S. 193ff.; Buchda, aaO, S. 545f.). Später trat der Inhalt einer Urkunde an die Stelle der Zeugenaussage und wurde zum eigenständigen Beweismittel, so z.B. die Schöffenbriefe, Eintragungen in Stadtbüchern und Schuldbriefe (vgl. Planck, aaO, S. 199, 204ff.; Buchda, aaO, S. 533). 453 Bresslau, I, S. 726f.; Schlosser, S. 381. 454 Vgl. Erler, RSJB XVII, S. 509; Buchda, RSJB XVII, S. 526f.; Albrecht, , S. 46ff.; Buchner, S. 158. 455 c. 36, a (von Lassberg, S. 21). 456 V. 2 (Glitsch-Müller, ZSS 41, S. 331); vgl. Kohler, Beiträge, S. 652; Speidel, S. 103. 457 Ygi 2utn Spätfränkischen Recht Erler, Festschrift, S. 57; E. Kaufmann, Festgabe, S. 157; Kornblum, S. 24, 53f., 61 f. 449
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung unde men iz ine nicht Vorzügen ne mach."458 Dagegen wurde in späteren Rechtsaufzeichnungen, so z. B. in den Magdeburger Fragen der Zeugenbeweis dem Eid vorgezogen: „ob eyn man mit geczuge claget unde der ander siecht antwort, so sal der cleger yenen obirczugen selbdritte uff den heiligen"459. Auch nach dem Freiburger Stadtrecht hatte der Zeugenbeweis den Vorrang vor dem Eid460. Gleiches galt in verschiedenen anderen Stadtrechten461. In manchen Fällen war der Eid ausdrücklich als Beweismittel ausgeschlossen und der Beweis durch Zeugen vorgeschrieben. So war z. B. nach Ssp. Ldr. II 6 § 2 die Erfüllung einer Schuld mit zwei Zeugen zu beweisen462. Es ist zu vermuten, daß sich diese Beweisregelungen aus der Lebenserfahrung entwickelt hat, daß sich der Schuldner Beweise für die Erfüllung seiner Schuld zu sichern pflegt463. Aus diesem Satz der Lebenserfahrung wurde dann eine feste Beweisregelung. Hier zeigt sich bei der Ausgestaltung des Beweisrechts der noch durch verschiedene andere Regelungen bestätigte Grundsatz der Begünstigung des typischen und wahrscheinlicheren Tatbestandes. Als weiteres Beispiel dafür läßt sich die Regelung im Ssp. Ldr. III 4 § 2 anführen, nach der ein Ausschluß der Gewährleistung beim Kauf durch Zeugen und nicht allein durch Eid belegt werden mußte464.
Wenn auch das Beweisen als solches einen Vorteil darstellte, so war doch die Herbeischaffung des stärkeren Beweismittels, aufgrund dessen man zum Beweis zugelassen wurde, eine zwingende Notwendigkeit, die für jede Partei zu einer erheblichen Belastung werden konnte. Insoweit lassen sich gewisse Parallelen ^ur Beweisführungslast im Sinne heutiger Terminologie ziehen465. Waren die angebotenen Beweismittel beider Parteien gleichwertig, dann führte der Beklagte den Beweis466, soweit nicht eine abweichende Regelung zutraf. So galten z.B. Sonderbestimmungen bei Klagen des Wirtes gegen den Gast wegen der Bezahlung verabreichter Speisen, der Dienstleute gegen ihren Herrn wegen ihres Lohnes467 und des Zinsberechtigten gegen den Verpflichteten468; in diesen Fällen erbrachte der Kläger den Beweis durch seinen Eid469. 458
Ldr. I 18 § 2; vgl. Hänel, Speculum I, S. Iff.; anders dagegen in Ssp. Ldr. II 54 § 6, wo von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht wird, vgl. Jolly, S. 17. 459
II 2, 13; vgl. Hänel, S. 130f. Vgl. Retzlaff, S. 82. 461 vgl. Planck, Gerichtsverfahren I 2, S. 437, 839ff. Zum spätfränkischen Recht: Kornblum, S. 89; zum Düsseldorfer Stadtrecht: Schmitz-Linnartz, S. 30f. 462 Ssp. Ldr. I 54 § 3, 65 § 4; Richtst. Ldr. 8 § l; Planck, Gerichtsverfahren II, S. 117f., mit weiteren Quellenangaben. 463 Anders Homeyer, Richtst. Ldr., S. 501 ff. 164 VgL pianck, aaO, S. 118f. 465 Burckhardt, S. 130. 466 Sonderregelungen galten, wenn beide Parteien Urkunden vorlegten; vgl. Kühtmann, S. 20. 467 Ssp. Ldr. I 22 § 2; vgl. von Bar, Beweisurtheil, S. 102; Kühtmann, S. 22; Böhme, S. 18. 468 Ssp. Ldr. I 54 § 3; vgl. auch Kornblum, S. 38 (mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Ingelheimer Oberhofs). 469 Vgl. dazu Laband, S. 26ff.; Mayer-Homberg, Beweis, S. 128ff.; Homeyer, Richtst. 460
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Eine weitere sich notwendigerweise ergebende Ausnahme von den oben dargestellten Grundregeln mußte bei Tatbeständen zugelassen werden, bei denen nur der Kläger das Beweisthema kannte. So wurde z. B. der Kläger zum Beweis zugelassen, wenn er gegen den Erben des Schuldners eine Schuld einklagte, von der der Erbe nichts wußte470. Die Frau bewies als Klägerin durch Eid, welche Sachen ihr als Morgengabe geschenkt worden waren471, da bei der Übergabe regelmäßig keine Zeugen anwesend waren472. Die Höhe eines Schadens, den nur der Geschädigte genau beziffern konnte, wurde in gewissen Fällen aufgrund der eidlichen Aussage des Klägers festgestellt473. Dagegen kann nicht das besssere Wissen als Beweiszuteilungsgrund anerkannt werden474. Wenn nur eine Partei die zu beweisende Tatsache kennt, ist die Übertragung der Beweisrolle zwingend vorgegeben. Weshalb aber besseres Wissen die Beweisverteilung beeinflußt haben soll, ist nicht recht einzusehen; denn es gibt keine Sicherheit, daß die besser informierte Partei auch in einer der Wahrheit entsprechenden Weise ihre Kenntnis gebraucht475.
Machte der Beklagte bei der Klage um Schuld*™ den Erlaß'der Forderungen geltend, so konnte der Kläger nach sächsischem Recht diesen Erlaß eidlich Ldr., S. 488; Jolly, S. 32; Planck, ZDR 10, S. 244f.; Hänel, S. 116f. Für diese Regelungen sind die verschiedensten Erklärungen gefunden worden. Vieles spricht jedoch dafür, daß es sich hierbei um Ausnahmen von den allgemeinen Beweisbestimmungen handelte, die aus rechtspolitischen Gründen zugunsten bestimmter Personengruppen gemacht wurden. 470 Nach sächsischem Recht mußte er diesen Beweis durch Eid, unterstützt von 72 Eideshelfern, führen (Ebel, Forschungen, S. 65f.). Nach dem Schwabenspiegel war dagegen dieser Eid „selb sibent" und unter bestimmten Voraussetzungen „selb dritt" zu leisten (vgl. Schwsp. Ldr. c. 5, b — von Lassberg, S. 8); doch dürfte es sich dabei wohl um Zeugen gehandelt haben, die aufgrund eigener Kenntnis aussagten (vgl. Urteil des Ingelheimer Oberhofs aus dem Jahre 1415; Erler, Nr. 2025; Tillmann, S. 18.). 471 Ssp. Ldr. I 20 § 6, 9; Görlitzer Ldr. 47 § 6; vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 120f. Typisch für die Entwicklung, die das altdeutsche Beweisrecht nahm, ist die Regelung dieses Falles in der Rottweiler HGO von 1435. In ihr ist angeordnet, daß die (ursprünglichen) Eideshelfer schwören, „das si das gesehen und gehört haben, dabi und mit gewesen sien, do ir die morgengab also geben und verhaissen sige" (V. 5 — Glitsch-Müller, ZSS 41, S. 332; vgl. Leiser, S. 41 f.; Kohler, Beiträge, S. 66). Der Beweis mußte also durch Zeugen geführt werden. 472 Mayer-Homberg, aaO, S. 121. 473 Vgl. Erler, RSJB XVII, S. 510. Diese Regelung dürfte durch romanisch-kanonische Vorbilder beeinflußt worden sein (vgl. Ebel, S. 24). 474 So aber Mayer-Homberg, Beweis, S. 85 if. 475 Vgl. oben S. 226 f. 476 Nach sächsischem Recht wurden die zivilrechtlichen Klagen eingeteilt in a) Klagen um Schuld, die auf eine Geldleistung gerichtet waren, b) Klagen um Gut, die sich auf die Herausgabe beweglicher Sachen bezogen und c) Klagen um Eigen und Erbe, die Streitigkeiten und Liegenschaften betrafen (vgl. Ssp. Ldr. I 70 §§ l, 2; II 3 § l; III 79 § 2; PlanitzEckhardt, S. 231; Conrad, I, S. 388). Dagegen wurden nach Ingelheimer Recht und auch noch nach dem Recht anderer fränkischer Gebiete (Gudian, ZSS 90, S. 124ff.) die Klagen ganz überwiegend in der Form der Unrechtsklage erhoben. Der Kläger trug vor, 16
Muaielak, Beweislast
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
ableugnen477. Diese Regelung muß insbesondere bei einem Vergleich mit den Bestimmungen über den Beweis der Erfüllung478 überraschen. Diese Unterscheidung wird sowohl in Richtet. Ldr. 8 § l als auch in der Glosse zum Ssp. Ldr. I 65 ausdrücklich hervorgehoben. In der Glosse heißt es: Sprekestu, du bist mi nicht schuldich, dat ist din ed. Sprekestu, ik hebbe di los gelaten, des vorsake ik di mit mine ede. Sprekestu, du hebest mi vergulden, dat sint drier lüde ede, dar du it met bewisen mutest". Für diese Bestimmung sind die verschiedensten Erklärungen gegeben worden, so z.B., daß es sich bei dem Erlaß um eine eigene Handlung des Klägers gehandelt habe, über die er deshalb das bessere Wissen habe habe479, daß der Beklagte durch die Behauptung des Schulderlasses zum Angreifer werde480, schließlich auch, daß es sich um eine Inkonsequenz des sächsischen Rechts gehandelt habe481.
Es dürfte sich jedoch hierbei um die Begünstigung des typischen, wahrscheinlicheren Tatbestandes482 handeln. Denn es ist wohl weniger wahrscheinlich, daß der Gläubiger, der eine Schuld zunächst erlassen hat, sie später dennoch einklagt, als daß der Einwand des Erlasses vom Schuldner der Wahrheit zuwider aufgestellt wird. Die Klage um Gut*·™ konnte der Beklagte nur dann eidlich ohne weiteres ableugnen, wenn er sich darauf berief, den Streitgegenstand nicht zu besitzen483, also nicht passiv legitimiert zu sein484. Wurde der Besitz zugestanden oder vom Kläger bewiesen, so war der Beklagte verpflichtet, den Rechtsgrund seines Besitzes anzugeben485. Dies war eine Verteidigung auf das Herausgabeverlangen des Klägers, die einem berechtigten Besitzer in aller Regel leichtfallen mußte und die man deshalb auch von ihm erwarten konndas Verhalten des Beklagten habe einen Schaden in Höhe einer bestimmten Geldsumme verursacht (vgl. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 248ff., Jus commune II, S. 40ff.). Zur Klage auf Gut nach Ingelheimer Recht, die im Unterschied zur persönlichen Klage („Ansprache") nicht gegen den Schuldner persönlich, sondern direkt gegen das Gut gerichtet war, vgl. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 245, 312ff. 477 Richtst. Ldr. 8 § 1. Anders z.B. nach dem spätmittelalterlichen Recht Bremens, nach dem der Beklagte den Erlaß mit Zeugen bewies; vgl. Kühtmann, S. 24. 478 Vgl. oben S. 240. 479 Mayer-Homberg, Beweis, S. 123; vgl. dazu oben S. 241. 480 Planck, Gerichtsverfahren II, S. 208 f. 481 Hasenöhrl, S. 99. 482 Vgl. oben S. 240. 483 Besaß der Beklagte die Sache für einen Dritten, so konnte er diesen zur Verteidigung heranziehen oder ihm in Gegenwart des Klägers die Sache übergeben und sich damit des Rechtsstreites entziehen; vgl. Laband, S. 58; Planck, Gerichtsverfahren I l, S. 402; Schröder-von Künßberg, S. 847 N. 12. 484 Ssp. Ldr. I 15 § 2; Richtst. Ldr. 11 § 3; 26 § 4; vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 192; Schröder-von Künßberg, S. 847; Delbrück, S. 75ff., ZDR 14, S. 246ff.; Homeyer, Richtst. Ldr. S. 492, 494. 485 Vgl. Ssp. Ldr. II 36 §§ 3—5; Delbrück, S. 41 f., ZDR 14, S. 220; von Bar, Beweisurtheil, S. 132; Planck, Gerichtsverfahren I 2, S. 507f., 694f. London, S. 113ff., ist der Auffassung, daß bei der Anefangsklage diese Verpflichtung des Beklagten bereits in den Volksrechten bestanden habe.
§ 9 Der germanische und altdeutsche Prozeß
243
te486. Erklärte der Beklagte nicht, mit welchem Recht er die Sache in seinem Besitz hatte, so sprach die Lebenserfahrung dafür, daß ihm ein solches Recht auch nicht zustand487. Die Beweisverteilung berücksichtigte diese für den Kläger sprechende Wahrscheinlichkeit und ließ ihn in diesem Fall zum Beweis zu. Gab der Beklagte den Rechtsgrund für seinen Besitz an, so mußte nunmehr der Kläger den von ihm geltend gemachten Anspruch näher begründen488. Die Behauptungen beider Parteien wurden vom Gericht gegeneinander abgewogen489 und der Partei die Beweisrolle zuerkannt, die ein stärkeres Recht an der umstrittenen Sache behauptete. Trug der Kläger z. B. vor, die Sache sei ihm gestohlen worden, und behauptete demgegenüber der Beklagte, er habe diese Sache danach auf dem offenen Markt gekauft, so wurde der Kläger zum Beweis zugelassen, den er durch Zeugen zu führen hatte480. Denn war sein Vorbringen wahr, so konnte er auch bei einer richtigen Sachdarstellung des Beklagten die Herausgabe der Sache nach dem materiellen Recht durchsetzen; auf die Wahrheit der Behauptung des Beklagten kam es also nicht an. Ein weiteres Beispiel491 ergibt sich aus Richtst. Ldr. 16 § 2. Der Kläger behauptete, die Sache dem Erblasser des Beklagten gegeben zu haben, der Beklagte berief sich nur darauf, die Sache im Nachlaß vorgefunden zu haben. Auch hier widersprachen sich die Parteivorträge nicht. Der Kläger obsiegte, wenn er sein Recht durch Zeugen beweisen konnte (Richtst. Ldr. 16 § 4); offenbar kam es den Beklagten hier nur darauf an, die Berechtigung des Klägers festzustellen492.
Waren die Ansprüche beider Parteien materiell-rechtlich gleichwertig, so kam die Partei zum Beweis493, die die umstrittene Sache im Besitz hatte494. Das 486
Von Bar, aaO, S. 44f., 132, vertritt die Auffassung, daß im altdeutschen Prozeß jede Partei verpflichtet gewesen wäre, möglichst genaue und eingehende Erklärungen über die eigene Rechtsposition abzugeben. Die Möglichkeit der schlichten Klage und die Form der zulässigen Verteidigung ihr gegenüber sprechen allerdings gegen einen solchen allgemeinen Grundsatz. 487 Vgl. Mayer-Homberg, Beweis, S. 196; Kühns, II, S. 525. 488 Planck, Gerichtsverfahren I 2, S. 707 ff. Allerdings konnte sich auch der Beklagte, ohne den Streitgegenstand selbst zu beanspruchen, darauf beschränken, den Nachweis der Berechtigung des Klägers zu verlangen. Das war z. B. denkbar, wenn der Beklagte die Sache gefunden oder Dieben und Räubern abgejagt hatte (Ssp. Ldr. II 29; 37 §§ l, 2; Richtst. Ldr. 12 §§ l, 2; 15 §§ l, 4; vgl. Planck, aaO, S. 700). Meldete sich der Kläger innerhalb der vorgeschriebenen Aufgebotsfrist, so mußte er sein Recht durch Zeugen beweisen (Ssp. Ldr. II 37 § 1; Richtst. Ldr. 12 § 1; 15 § 4). 489 Vgl. oben S. 238. 490 Vgl. Ssp. Ldr. II 36 § 4. 491 Vgl. auch oben N. 444. 492 Vgl. Homeyer, Richtst. Ldr., S. 492f., 500; Hasenöhrl, S. 110; s. auch oben N. 488. 493 Der Beweis des Besitzes wurde sowohl vom Kläger als auch vom Beklagten im allgemeinen mit Zeugen geführt; vgl. Hohmeyer, Richtst. Ldr., S. 494; Planck, Gerichtsverfahren I 2, S. 507. 494 Mayer-Homberg, Beweis, S. 197; Planck, aaO, S. 711; Homeyer, aaO, S. 493f., Sachsenspiegel II 2, S. 617; Albrecht, II, S. 10f.; von Bar, Beweisurtheil, S. 131,235f.; Hänel, S. 193; Kornblum, S. 98; Delbrück, S. 36f., ZDR 14, S. 221ff.; Schlosser, S. 382; vgl. auch Glosse zu Ssp. Ldr. III 4 § 1. 16*
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
war bei der Klage um Gut in aller Regel der Beklagte, so daß die Beweisregelung bei der auf Fährnis gerichteten Herausgabeklage mit dem allgemeinen Grundsatz des Beweisvorzuges für den Beklagten übereinstimmte495. Jedoch trat hierbei noch die Rechtsscheinwirkung des Besitzes hinzu, die dazu führte, daß der Besitzer auch als Kläger für den Nachweis seines Besitzrechtes bei der Beweisverteilung begünstigt war498. Für Klagen um Eigen und JSrbei91 galten weitgehend die gleichen Regeln wie für Klagen um bewegliche Sachen498. Die das Beweisrecht des altdeutschen Prozesses insbesondere die Regeln über die Beweisführung beherrschenden Grundsätze lassen das Bemühen erkennen, gerechte Entscheidungen zu ermöglichen; die Bevorzugung des „sichereren" Beweismittels, die Berücksichtigung des typischen, wahrscheinlicheren Tatbestandes, die Begünstigung des Beklagten als Angegriffenen dienten diesem Ziel. Daß dennoch dieses Beweissystem die materiell-richtige Entscheidung nicht durchweg gewährleisten konnte, lag vornehmlich daran, daß die starren Rechtsregeln über den Beweis die Berücksichtigung der sich im Einzelfall ergebenden Besonderheiten meist nicht zuließen. Bereits das fränkische Königgericht hatte diesen Nachteil erkannt und versucht, sich von der Bindung an die formalen Beweisvorschriften zu befreien, um eine gerechte Entscheidung mit den Mitteln der damaligen Zeit im Einzelfall erreichen zu können499. Auch in späterer Zeit dürften insbesondere höhere Gerichte ähnlich, wenn auch entsprechend ihrer Stellung in einem eingeschränkteren Umfange verfahren sein. Je mehr sich die Rechtswissenschaft vervollkommnete, desto häufiger wird es ein Abweichen von starren Bestimmungen des Prozeß- und Beweisrechts aus Billigkeitsgründen gegeben haben500. Ob diese Entwicklung von einem formellen zu einem materiellen Beweisrecht allein durch das Vorbild des römischen Rechts beeinflußt wurde, ist eine offene Frage501. 495
Vgl. Laband, S. 120ff., 140ff., 145ff. Delbrück, S. 36£, meint, daß ,,aus dem Besit2e eine Präsumtion für das Eigenthum entspringt und diese Präsumtion ... so stark (ist), daß sie dem, welchem sie zustatten kommt, das Beweisrecht verschafft". Ähnlich auch Mayer-Homberg, Beweis, S. 178, der den Ausgangspunkt für diese an den Besitz geknüpfte Beweiszuteilung primär in dem Wissen der Parteien über die Erlangung des Besitzes sieht. 497 Vgl. oben N. 476. 498 Vgl. Laband, S. 155ff.; Schröder-von Künßberg, S. 847f.; Hänel, S. 163ff., 207f., Speculum II, S. 3 ff. 499 Vgl. oben S. 229 f. 500 Erler, Festschrift, S. 57ff., RSJB XVII, S. 513ff., hat am Beispiel der Rechtsprechung des Ingelheimer Oberhofes in der Zeit von 1400—1430 dieses Abweichen von den Beweisregeln aus Billigkeitsgründen nachgewiesen (zum Ingelheimer Oberhof vgl. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 19ff., 2SS 81, S. 267ff.). Die Untersuchung der Rechtsprechung anderer höherer Gerichte dieser Zeit dürfte zu gleichen Ergebnissen führen. Vgl. auch E. Kaufmann, Festgabe, S. 157. 501 Verneinend Schlosser, S. 387. Der Einfluß des römischen Rechtes ist bereits vor der umfassenden Übernahme des romanisch-kanonischen Gerichtsverfahrens überall bemerkbar. Zu diesem als Frührezeption bezeichneten Vorgang vgl. Wieacker, S. 115ff. 496
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
245
IV. Zusammenfassung Wird aus dieser Betrachtung des germanischen und altdeutschen Prozesses das Fazit lediglich in Blickrichtung auf das Beweislastproblem gezogen, dann ist festzustellen: Den Fall des non-liquet gab es in diesem Rechtskreis nicht; das Beweis verfahren schloß immer mit einem Ergebnis. Folglich konnte nur die Frage erheblich werden, welche Partei den Beweis zu führen hatte. Von einer Beweisführungslast im Sinne heutiger Terminologie kann jedoch nicht gesprochen werden. So lange nach allgemeiner Auffassung die formalen Beweishandlungen die materielle Wahrheit offenbarten, drängte sich der von seinem Recht Überzeugte zum Beweis, um die Gerechtigkeit seiner Sache öffentlich dazutun und unanfechtbar bestätigt zu bekommen; er nahm damit ein ihm zustehendes Recht in Anspruch. Als im Laufe der Entwicklung der Glaube an die Unfehlbarkeit der Beweismittel abnahm, waren die Parteien erst recht bestrebt, die Beweisführung nicht dem Gegner zu überlassen. Es mußten deshalb Regeln über die Zulassung zum Beweis geschaffen werden, die dem Ziel dienten, mit weitgehend formellen Beweismitteln sowie ohne die Möglichkeit eines Gegenbeweises und einer Beweiswürdigung ein materiell richtiges Ergebnis zu erhalten. Die sich aus diesen Regeln ergebende Notwendigkeit, ein zur Beweisführung berechtigendes Beweismittel zu beschaffen, legt zwar den Vergleich zu der Beweisführungslast des geltenden Rechts nahe, die völlig verschiedene Struktur der Beweissysteme und die dadurch bedingten begrifflichen Unterschiede verhindern aber eine Gleichsetzung.
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß502 I. Ursprung und Entwicklung Der Einfluß des römischen Rechts auf den germanischen Rechtsgang war verständlicherweise auf italienischem Boden von Anfang an sehr 502
Das römische Prozeß- und Beweisrecht, daß im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts den altdeutschen Rechtsgang von Grund auf umgestaltete, war nicht identisch mit den Grundsätzen und Regeln, wie sie Justinian im Corpus iuris civilis zusammenstellen ließ (vgl. Brunner, HoltzEncykl. I, S. 269; Kern, Geschichte, S. 18; Planck, Beweisurtheil, S. 127; Marquordt, S. 78ff.). Vielmehr wurde in Deutschland das römische Recht in der Form angewendet, die ihm die Rechtswissenschaft in den oberitalienischen Städten gegeben hatte (vgl. Koschaker, S. 161ff., 223 ff.). Die glossierten Textstellen des römischen Rechts wurden als unmittelbar geltendes Recht angesehen (vgl. Koschaker, S. 86 N. 4; Conrad, II, S. 342; Rehme, S. 370; Going, RabelZ 32, S. 8f.; Planitz-Eckhard, S. 255; Landsberg, S. IXf.). Um die Grundlagen und Prinzipien des infolge der Rezeption des römischen Rechts entstandenen Beweisverfahrens kennenzulernen, genügt deshalb
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
stark503. So gab es im Prozeß der Langobarden, die im 6. Jahrhundert ihr Reich in Oberitalien gründeten504, schon früh Einrichtungen, die auf einer Verbindung germanischer und römischer Rechtsideen beruhten605. Dieser Rechtszustand dauerte auch nach Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen an. Andererseits galt neben dem germanischen Recht in verschiedenen Gebieten Italiens römisches Recht606, das seinerseits germanische Rechtsgedanken aufnahm. Die ständigen gegenseitigen Einwirkungen des germanischlangobardischen und römischen Rechts aufeinander507 bereiteten den Boden für ein neues Prozeßrecht, das sich während des 12. Jahrhunderts in den oberitalienischen Städten entwickelte und das Elemente des germanischen und römischen Gerichtsverfahrens in sich vereinigte608. Diese Entwicklung wurde durch die in den italienischen Rechtsschulen sich stark entfaltende Rechtswissenschaft getragen509, die sich sowohl mit römischem als auch — zumindest teilweise — mit langobardischem Recht befaßte610. Die Arbeiten der italienischen Rechtsgelehrten gestalteten die Grundsätze des neuen Gerichtsverfahrens611, das den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens in den oberitalienischen Städten weitaus besser genügte als der langobardische Prozeß mit seinen überwiegend germanischen Beweisgrundsätzen512. Einen bedeutsamen Anteil an der Ausbildung des neuen Prozeßrechts hatten die päpstlichen Dekretalien™. Aufgrund der überragenden Autorität der Kirche wurden ihre gesetzlichen Regelungen des Prozesses auch zum Vorbild für die Verfahrensordnungen weltlicher Gerichte614. Die wissenschaftliche Bearbeitung des kanonischen Rechts615 befruchtete und förderte die Erörterungen der römischen Quellen und umgekehrt616. Seit dem späten nicht ein Hinweis auf die Darstellung des römischen Zivilprozesses, sondern es muß kurz auf die Entwicklung und Gestaltung des rezipierten Rechts vor seiner Übernahme in Deutschland eingegangen werden. 803 Vgl. Engelmann, 2, 3, S. 4ff.; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 59; Himstedt, S. 4f. st» vgl. Planitz-Eckhardt, S. 37. 505 Engelmann, aaO, S. lOff.; R. Schmidt, aaO, S. 67ff.; von Bethmann-Hollweg, IV, S. 376if. 806 Vgl. R. Schmidt, aaO, S. 67, Festschrift, S. 98ff.; Muther, Glasers Jahrb. 9, S. 234; Engelmann, aaO, S. 15; von Savigny, Geschichte II, S. 215. Zur Frage des Fortbestands des römischen Rechts in der Kirche vgl. Feine, SZ (kan.) 73, S. Iff. so? vgl. von Savigny, aaO, S. 225ff.; R. Schmidt, Klagänderung, S. 10f. 508 Vgl. Lefebvre, DDC 7, Sp. 285ff.; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 69; Kohler, HoltzEncykl. II, S. 55; Planck, Beweisurtheil, S. 127; Eichmann, S. 5, 20. 509 Vgl. Going, RabelsZ 32, S. 2f. 510 Von Savigny, Geschichte , S. 83ff.; Schröder-von Künßberg, S. 267f. 511 Vgl. Nörr, S. Iff. 512 R. Schmidt, Lehrbuch, S. 70f.; Ficker, III, S. 304f. 513 Vgl. Nörr, S. 2. 514 Vgl. Meile, S. 14. 815 Vgl. Wieacker, S. 74ff. 816 Nörr, S. 104; Wieacker, S. 79.
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
247
12. Jahrhundert wurde in den Prozeßrechtsschriften der italienischen Juristen das justinianische und kanonistische Quellenmaterial gemeinsam behandelt517 und der einheitliche ordo iudiciarius518 des romanisch-kanonischen Prozesses519 geschaffen520. Richtungsweisen für die weitere Prozeßrechtsentwicklung ist der ordo iudiciarius des Tancred (1214—16)521, auf den sich auch das im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandene Speculum des Durantis stützt, das wichtigste Werk der mittelalterlichen Prozeßrechtsliteratur622, das eine umfassende Beschreibung des Prozeßrechts seiner Zeit enthält. Wird auf der Grundlage dieser und anderer Prozeßrechtschriften sowie der übrigen einschlägigen Quellen der romanisch-kanonische Prozeß betrachtet, wie er sich zur Zeit der Rezeption darstellt523, so ergibt sich folgendes Bild:
. Das Verfahren Der Rechtsstreit begann mit der gerichtlichen Ladung des Beklagten, dem der Kläger im Termin die Klageschrift524 überreichte oder durch den Richter überreichen ließ. Gegenüber dem in der Klageschrift genau zu bezeichnenden Klagebegehren hatte sich der Beklagte zu erklären525. Erkannte der Beklagte den gegen ihn erhobenen Anspruch nicht an und machte er auch keine prozessualen Rügen oder materiall-rechtliche Einwendungen geltend, aus denen sich ergab, daß er noch nicht zur Erfüllung verpflichtet war528, 517
Nörr, S. 4. Zum Begriff: Nörr, Studia Gratiana 11, S. 327 ff. 519 Ob diese Bezeichnung den Einfluß der Kirche auf die Entwicklung dieses Prozeßrechts überbewertet, wie R. Schmidt, Lehrbuch, S. 72, annimmt, mag hier dahinstehen. Die führende Rolle der Kirche bei dieser Entwicklung des neuen Verfahrensrechts betonen insbesondere Hohenlohe, S. 57 ff. (in einer sehr einseitigen, fast überschwenglichen Weise); Groß, Beweistheorie I, S. 2f., mit weiteren Nachweisen. Eine vermittelnde Auffassung vertritt in dieser Frage von Mora, S. 47 f. 520 Vgl. Nörr, S. 4, 104; R. Schmidt, aaO, S. 72; Marquordt, S. 79; Meile, S. 14. 521 Nörr, S. 5. 522 Wieacker, S. 75. 523 Eine solche Zusammenfassung erscheint nach dem Ziel der Darstellung vertretbar. Eine ins einzelne gehende Untersuchung der Entwicklung ist hier nicht möglich; einschlägige dogmengeschichtliche Arbeiten, an die insoweit angeknüpft werden könnte, fehlen weitgehend (vgl. Nörr, S. 2 N. 3). 524 Nachdem zunächst auch eine mündliche Klageerhebung zulässig war, wurde später die Notwendigkeit eines schriftlichen Libells allgemein anerkannt (vgl. R. Schmidt, Klagänderung, S. 32ff., 54ff.). 525 Hellwig, Lehrbuch, S. 11. 526 Beide Gruppen von Einwendungen wurden als exceptiones dilatoriae bezeichnet, die vor der litis contestatio vorgebracht und notfalls in diesem Stadium des Prozesses zu beweisen waren; vgl. Ordo „Invocato" 16 (Wahrmund V l, S. 32); Engelmann, 2, 3 S. 58f.; von Bieberstein-Krasicki, S. 96. 518
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
so wurde durch seine Gegenbehauptung die Litiskontestatio527 vollzogen528. Die Parteien beschworen daraufhin die Redlichkeit ihrer Prozeßführung. Durch das sog. iuramentum calumniae, das auf Antrag des Gegners zu leisten war, gelobte der Kläger das Unterlassen von Bestechungen und Kollusionen sowie eine gerechte Beweisführung, der Beklagte beschwor, daß er nur im Bewußtsein seines Rechtes widerspreche und sich nur gerecht verteidigen werde529.
Der nächste Schritt im Prozeß war die Bildung der positiones, kurzer Behauptungssätze, in die das Klagevorbringen, die Einwendungen, die Repliken und Dupliken zu zerlegen waren630 und auf die der Gegner mit einem Ja oder Nein antworten mußte531. Der Vorteil dieser Positionen wurde darin gesehen, daß durch sie ein genauer Überblick über alle streitigen Behauptungen vermittelt und dadurch der Beweis erleichtert würde532. Der Richter, der bei Prüfung des Tatsachenstoffes an das Vorbringen der Parteien gebunden war533, hatte nur die Zulässigkeit der einzelnen Positionen zu untersuchen, dagegen nicht ihre rechtliche Erheblichkeit. Vielmehr wurden die bestrittenen Positionen, zu Beweissätzen, sog. articuli, umgewandelt534, ohne daß für das Beweisverfahren noch eine richterliche Ent527
Durch die litis contestatio (vgl. dazu Endemann, ZZP 15, S. 228ff.; Jacobi, SZ (kan.) 34, S. 279f.; R. Schmidt, Klagänderung, S. 31 f., 70) wurde u.a. der Anspruch des Klägers festgestellt, über den das Gericht zu entscheiden hatte. 528 Durantis, lib. II, part. II, de litis contestatio, § l: „Litis contestatio est principalis negotii apud competentem iudicem facta narratio ad eam secuta responsio"; „Si quis vult" 20 (Wahrmund, IV 4, S. 18); Ordo „Invocato" 15 (Wahrmund, V l, S. 31); Summa Trecensis 3.3 (Fitting, S. 49); Parvus Ordinarius (AKKR 81, 195). Vgl. auch Albrecht, Exceptionen, S. 147f. 629 vgl. Tancred, Ordo 3, 2 (Bergmann, S. 201 ff.); Parvus Ordinarius (AKKR81,202); Ordo „Invocato" 35 (Wahrmund, V l, S. 69f.); Aegidius de Fuscarariis, Ordo 44 (Wahrmund, III l, S. 87ff.); Durantis, lib. II, part. II, de iuramento calumiae, § 4; Endemann, ZZP 15, S. 236; Engelmann, 2, 3 S. 61. 530 Vgl. Endemann, aaO, S. 237ff.; Albrecht, Exceptionen, S. 149f.; Roßhirt, S. 114f.; von Canstein, II, S. 5. Das Positionenverfahren hat sich allmählich entwickelt und war erst seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts voll ausgebildet (vgl. Himstcdt, S. 45ff.). A. Wolff, S. 144f., will die Schaffung der Positionen und Artikel auf das Vorbild germanischer Rechtsinstitute zurückführen. 531 Vgl. Aegidius de Fuscarariis, Ordo 49 (Wahrmund III l, S. 97f.). Alle nicht ausdrücklich bestrittenen Positionen galten als zugestanden und bedurften keines Beweises; vgl. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 76; Planitz-Eckhardt, S. 308. 532 Durantis, Hb. II, part. II, de positionibus: „Ideo positiones inventae sunt, ut per eas partes releventur ab onere probationum", vgl. auch aaO, § 2. 533 VgL Nörf) s> looff> 534 R. Schmidt, aaO; von Canstein, II, S. 5. Die Frage, ob die Parteien die articuli neu formulieren und dem Gericht einreichen mußten oder ob die bestrittenen Positionen unmittelbar und automatisch Gegenstand des Beweises wurden, ist in den Rechtsaufzeichnungen und den Prozeßrechtsschriften der damaligen Zeit unterschiedlich beantwortet (vgl. Himstedt, S. 68 ff.).
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
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Scheidung über das Beweisthema und über die Beweisführung erforderlich war535. III. Das Beweisrecht Das Beweisrecht des romanisch-kanonischen Prozesses wurde durch die sog. legale Beweistheorie beherrscht, deren Ziel es war, anstelle eines freien subjektiven Ermessens des Richters feste und klare Richtlinien zu setzen, auf deren Grundlage der Einzelfall zu entscheiden war536. Unter dem Eindruck des germanischen Beweis rechts537, in dem für eine richterliche Entscheidungsfreiheit nicht der geringste Raum war, und beeinflußt durch die Scholastik538, knüpfte diese Theorie an die Beweiszulassungsund Beweiswürdigungsbestimmungen des justinianischen Rechts an und entwickelte die dort im Ansatz vorhandenen Gedanken zu einem umfassenden System vom Beweisregeln539. Am Beispiel des Zeugenbeweises läßt sich die dieser Theorie %ugrundeliegende Denkweise gut erkennen. Die im Corpus iuris enthaltene Regelung, daß für den Zeugenbeweis zwei Zeugen erforderlich sind540, wird zum Ausgangspunkt eines Rechenexempels gemacht541: zwei Zeugen ein voller Beweis, folglich ein Zeuge ein halber Beweis542. Wird dieses Verfahren auch auf die anderen Beweismittel übertragen, dann lassen sich mühelos Kombinationen zwischen ihnen herstellen und Beweise mit einem halben Beweiswert oder einer darüber oder darunter liegenden Wirkung543 zu einer probatio plena zusammenfassen544. Eine Ermessensentscheidung des Richters erübrigt sich. a) Die Beweismittel
Als Beweismittel waren im romanisch-kanonischen Recht Zeugen, Urkunden und die eidliche Parteiaussage, von vielen Rechtsgelehrten auch die 535
Engelmann, 2,3, S. 67; Planck, Beweisurtheil, S. 145f.; vgl. auch Schaumann, S. 32f. Endemann, Beweislehre, S. 25. 537 Vgl. Lefebvre, DDC7, Sp. 288 S.; Sohm-Mitteis, S. 144; Hellwig, Lehrbuch, S. 11; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 71. 538 Vgl. Koschaker, S. 62, 68, 90f.; Wieacker, S. 56ff.; Patermann, S. 12. 539 Vgi 2-B, die umfangreichen Beweiswürdigungsregeln, die Tancred, Ordo 3, 12 (Bergmann, S. 245ff.) nennt. 540 Vgl. oben S. 203. 541 Vgl. Hedemann, S. 65f.; J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 67f. 542 Endemann, Entwicklung, S. 58, meint, die Lehre vom halben Beweis sei ursprünglich aus der Frage entstanden, unter welchen Voraussetzungen einer Partei der Eid auferlegt werden könnte. 543 J. Ph. Levy, aaO, S. 161; Groß, Beweistheorie I, S. 21 f. 644 Von der Regel, daß zwei halbe einen vollen Beweis schaffen, gab es allerdings eine Reihe von Ausnahmen; vgl. J. Ph. Levy, aaO, S. 122ff., 31 N. 44. 534
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Notorität und die Präsumtionen sowie verschiedene Untergruppen dieser Beweismittel als selbständige Arten des Beweises anerkannt. Zahl und Art der Beweismittel werden in den Prozeßrechtsschriften des 12. und 13.Jahrhunderts unterschiedlich angegeben. So nennt z.B. Tancred545 sechs Beweismittel („probatur videlicet per evidentiam facti, per famam, per praesumptionem, per iuramenti delationem, per testes et per instrumenta"). Durantis546 zählt für Zivilsachen 12 Beweismittel auf (1. per testes, 2. per confessionem partis, 3. per instrumenta, 4. per evidentiam facti, 5. per praesumtionem, 6. per famam, 7. per iuramenti delationem, 8. per libros antiques vel per scripturas in lapide sculptas, 9. per litteras sigillatas, 10. per denunciationem publicarum personarum, 11. per comunem opinionem, 12. per indicia)547.
1. Zeugen Wie bereits bemerkt, galt als Regel, daß zwei klassische Zeugen einen vollen Beweis erbrachten648; es gab jedoch auch Fälle, in denen eine größere Zahl für die Führung eines vollen Beweises verlangt wurden649, oder sogar ein Zeuge genügte550. Klassische Zeugen waren Personen, die nicht wegen bestimmter persönlicher Bindungen an eine Partei, z.B. als Verwandte oder Ehegatten (sog. testes suspecti), oder wegen bestimmter persönlicher Mängel, z.B. Geisteskrankheit, Unmündigkeit oder Vorstrafen wegen Meineides (sog. testes inhabiles) in ihrem Beweiswert eingeschränkt oder vom Zeugnis völlig ausgeschlossen waren551.
Der Sachverständigenbeweis wurde als eine besondere Form des Zeugenbeweises gesehen552. Er wird nur kurz in der italienischen Prozeßrechtsli545
Ordo 3, 5, 6 (Bergmann, S. 220); ebenso Bernardus Papiensis, Summa 2, 12, 4 (Laspeyres, S. 44). 546 Lib. II, part. 2, de probationibus, § 3. 547 Vgl. auch Hostiensis, Summa, lib. II, de probat. 7, („et quot sunt speciis"); Mascardus, De probationibus, S. 5f.; J. Ph. Levy, Hiorarchie, S. 24, RSJB XVII, S. 148f.; Endemann, ZZP 15, S. 255f. 548 Placentinus, Cod. 4. 20 (S. 158); Azo, lect. C. 4. 1. 3 (S. 382); „Scientiam omnes naturaliter" 29 (Wahrmund, II l, S. 52); Himstedt, S. 138ff. Die übereinstimmende Aussage zweier Zeugen als vollen Beweis kennen auch das Alte und Neue Testament (vgl. Moses 17, 6; Paulus, 2. Kor. 13, 1; Math. 18, 16; 26, 60). Sie dürften die entsprechende Beweisregelung im romanisch-kanonischen Recht gefördert haben (Patermann, S. 11). Vgl. auch J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 69; von Caenegem, RSJB XVII, S. 727; Lefebvre, DDC 7, Sp. 289. 649 Vgl. Tancred, Ordo, 3, 5 (Bergmann, S. 228f.); Hostiensis, Summa, lib. , de test. 3 („quotiis numeris"); „si quis vult" 61 (Wahrmund, IV 4, S. 44f.); Incerti auctoris ordo l, 13 (Groß, S. 120ff.); Parvus Ordinarius (AKKR 81, S. 210). 650 Vgl. Endemann, Entwicklung, S. 233, mit Nachweisen. 551 Vgl. Himstedt, S. 122ff.; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 76. 552 Vgl. Groß, Beweistheorie , S. 32f.
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
251
teratur des Mittelalters behandelt; es galt die Regel, daß dem doctor de disciplina, dem faber de fabrica, dem medicus de sua medicina, jedem also de suo officio geglaubt werden könnte553. Der Richter sollte jedoch im Regelfall zwei Sachverständige berufen554.
2. Urkunden Ein voller Beweis wurde auch durch eine öffentliche Urkunde geführt556. Als instrumenta publica wurden die notariellen und gerichtlichen558, die mit einem sigillum authenticum557 versehenen und die aus einem öffentlichen Archiv entnommenen Urkunden bezeichnet558. Ihnen gleichgestellt wurden Urkunden, die von drei Zeugen unterschrieben waren. Bei dieser Urkunde handelte es sich ihrer Natur nach um ein instrumentum privatum, das aber von verschiedenen Juristen559 wegen seiner Beweiskraft wie eine öffentliche Urkunde behandelt wurde560. Alle anderen Urkunden waren instrumenta privata581; durch sie konnte nur, wenn ihre Echtheit feststand oder bewiesen wurde, gegen den Aussteller ein voller Beweis geführt werden582. Sie wurden dann als ein außergerichtliches Geständnis gewertet583. Private Urkunden, die eine dritte nicht am Rechtsstreit beteiligte Person betrafen, wurden der Aussage 553
Endemann, ZZP 15, S. 257, Beweislehre, S. 243f., mit Nachweisen. Endemann, Beweislehre, S. 244. 555 Endemann, aaO, S. 271 ff.; Bresslau, I, S. 718. 556 Vgl. Summa Trecensis 4, 21, 2 (Fitting, S. 93). 557 X. 2. 22. 2. Ein authentisches Siegel führten Bischöfe und weltliche Fürsten. Überwiegend wurde das Siegel von anderen Geistlichen in solchen Sachen als authentisch anerkannt, die in ihre Gerichtsbarkeit fielen (vgl. Bresslau, I, S. 718ff.). 558 Vgl. Tancred, Ordo 3, 12, 2 (Bergmann, S. 248f.); Parvus Ordinarius (AKKR 81, S. 219); Durantis, lib. II, part. II, de instrumentorum edit., § 7; Endemann, Beweislehre, S. 268ff., ZZP 15, S. 274f.; Bresslau, I, S. 655ff. 55» Vgl. z.B. Tancred, aaO; Parvus Ordinarius, aaO. 560 Vgl. Endemann, Beweislehre, S. 276 N. 6. 561 Die Begriffe der öffentlichen und privaten Urkunde wurden nicht von allen Autoren gleich ausgelegt. Vielmehr gab es bei der Abgrenzung erhebliche Unterschiede. Vgl. J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 73; Endemann, Beweislehre, S. 266ff. Einzelne Autoren kannten auch noch die Gruppe der instrumenta forensia; vgl. z. B. Ricardus Anglicus, Ordo 31 (Wahrmund, II 3, S. 50); Incerti auctoris ordo l, 14, 3 et 6 (Groß, S. 124f.). Im römischen Recht wurde die Tabellionsurkunde (vgl. oben S. 204) als instrumentum forense bezeichnet (vgl. Simon, S. 296). 5 VgL — auch zu den Ausnahmen von dieser Regel — „Scientiam omnes naturaliter" 30 (Wahrmund II l, S. 57f.). Typisches Beispiel für derartige Urkunden sind der Schuldschein und die Quittung; vgl. Lo Codi 4, 33, 2 et 3 (Fitting, S. 95). Weitere Beispiele nennt Wetzell, S. 223ff.; vgl. auch Gobier, S. 120f. 663 Vgl. Meyers, TRG 12, S. 58ff.; Endemann, Beweislehre, S. 143f.. 278f., ZZP 15, S. 275; J. Ph. Levy, RSJB XVTI, S. 152, Hierarchie, S. 77f. 554
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
eines Zeugen gleichgesetzt und erbrachten allenfalls einen halben Beweis664
3. Eid Der Parteieid konnte vom Beweisführer beantragt, dem Gegner zugeschoben und vom Richter von Amts wegen auferlegt werden565. Die Eides^uschiebung setzte im allgemeinen voraus, daß die zuschiebende Partei für den zu beschwörenden Streitpunkt bereits einen (unvollständigen) Beweis erbracht hatte oder daß für die Richtigkeit ihres Vertrages eine Vermutung566 sprach567. Auch der Richter durfte die Entscheidung eines Rechtsstreits durch Eid regelmäßig nur in Fällen herbeiführen, in denen durch die Eidesleistung ein Beweis zu vervollständigen war (Ergän^ungseid) oder in denen sich der Beklagte von behaupteten, aber im Prozeß nicht voll bewiesenen Verdächtigungen oder gegen ihn sprechenden Vermutungen reinigen sollte (Reimgutigseid)566. Gerechtfertigt wurde diese Regelung mit dem Hinweis, daß bei Fehlen jeden Beweises nach dem Grundsatz „actore non probante absolvitur reus" zu verfahren war und dann ebensowenig wie in dem Fall, daß der Kläger auf andere Weise einen vollen Beweis führte, noch Raum für einen Eid blieb; nur bei einem unvollständigen Beweis konnte es nach dieser Auffassung zum Eid kommen569. Die Frage, welche Partei in solchen Fällen %um Eid ^gelassen werden sollte, wurde nicht einheitlich entschieden. Es wurde versucht, in einer kasuistischen Behandlung dieses Problems zu einer Lösung zu gelangen. Entweder es wurde der Kläger begünstigt, weil für ihn bereits ein halber Beweis sprach, oder man entschied sich für den Beklagten, weil man der Meinung war, daß diesem als dem Angegriffenen der Beweisvorzug gebührte. Auch wurde darauf geachtet, ob es sich um einen bedeutsamen Streitgegenstand handelte. In weniger wichtigen Fällen neigte man eher dazu, den Kläger zum Eid zuzulassen670. 564
J. Ph. Levy, aaO; vgl. auch Endemann, aaO, S. 275 ff. Durantis, lib. II, part. II, de iuramenti delatione; „Ulpianus de edendo", de iusiurando (Hänel, S. 36); R. Schmidt, Lehrbuch, S. 76. 568 Vgl. unten S. 254ff. 587 Kleinfeiler, S. 50ff., 60ff.; Schwartz, Erneuerung, S. 168; R. Schmidt, aaO; vgl. auch Jacobi, SZ (kan.) 34, S. 261. 568 Vgl. „Si quis vult" 56 (Wahrmund, IV 4, S. 40); Azo, lect. C. 4.1. 3 (S. 382); Endemann, ZZP 15, S. 282, Beweislehre, S. 453ff.; J. Ph. L6vy, Hierarchie, S. 139ff.; Engelmann, 2, 3, S. 79. Die Reinigungspflicht bei öffentlichen üblen Gerüchten (vgl. Jacobi, aaO, S. 297ff., 320ff.; von Mora, S. 58ff.) spielte vornehmlich in Strafsachen eine Rolle. Zum Reinigungseid vgl. auch Endemann, Beweislehre, S. 457. 589 Vgl. Endemann, aaO, S. 453f. 570 Vgl. Durantis, lib. II, part. II, de iuramenti delatione; J. Ph. Levy, aaO, S. 118ff., RSJB XVII, S. 158; Kleinfeiler, S. 60; Wetzeil, S. 277f. 585
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
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Zusammenfassend läßt sich zu der im romanisch-kanonischen Prozeß getroffenen Regelung des Parteieides sagen, daß seine Bedeutung im Vergleich zum germanischen Rechtsgang ganz erheblich zurückgegangen war571, daß sich aber gerade in diesem Rechtsinstitut starke Elemente des germanischen Rechts z. B. in der Einrichtung eines Reinigungseides erhalten hatten572. Für die Einschränkung des Beweises durch Eid gab es neben anderen Gründen, die bereits im altdeutschen Prozeß wirkten573, religiöse Motive. Die berühmten Stellen des Neuen Testaments: „Ich aber sage Euch: Schwört überhaupt nicht" (Matth. 5, 34), „Es sei Euer Wort Ja ein Ja, Nein ein Nein, Was darüber geht, ist vom Bösen" (Matth. 5, 37), veranlaßte viele, den Eid abzulehnen und ihn allenfalls als äußerstes Mittel der Beweisfühung zu betrachten574.
4. Notorität Zu den Beweismitteln wurde von vielen Juristen des Mittelalters auch die Notorität eines Tatbestandes gerechnet575. Die Frage, ob nun die Notorität als ein echtes Beweismittel gewertet werden müßte oder ob man sie nur den Beweismitteln gleichzustellen habe, weil sie einen Beweis überflüssig machte576, wurde unterschiedlich beurteilt. In ihrer Wirkung war sie mindestens577 der plena probatio gleichwertig578. Bei der Rechtsfigur der Notorität579 handelt es sich um eine eigene Schöpfung der mittelalterlichen italienischen Rechtslehre, die im römischen Recht kein Vorbild hat580. Man unterschied im allgemeinen581 zwischen notorium facti582, 571
Vgl. Endemann, ZZP 15, S. 282. Vgl. J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 141. 573 Vgl. oben S. 228. 574 Vgl. X. 2. 19. 2; J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 133, RSJB XVII, S. 143 f. 575 J. Ph. Lovy, RSJB XVII, S. 116; vgl. auch München, I, S. 104ff.; Groß, Beweistheorie I, S. 50 ff. 576 C. 2 q. l c. 17: „In manifesta et nota plurimis causa non sunt querendi testes". Vgl. Ghisalberti, Ann. di Storia I, S. 437ff.; Jacobi, SZ (kan.) 34, S. 318ff.; Endemann, Beweislehre, S. 75ff. 677 In der Wertskala der Beweise stand sie in aller Regel sogar über der probatio plena (vgl. J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 67), doch war diese höhere Wirkung im Zivilprozeß nur von theoretischer Bedeutung. 578 Von manchen (vgl. Baldus l ad C. 4. 19 — Bl. 36 R.) wurde sie sogar als optima et superlativa probationum gewertet. Vgl. auch Endemann, aaO, S. 76. 579 Ygj_ Durantis, lib. Ill, part. I, de notor. crim., § 8. 580 Ghisalberti, aaO, S. 403; Groß, Beweistheorie I, S. 48; J. Ph. Levy, aaO, S. 33; Dziatzko, AKKR 47, S. 225. 581 Zur Entwicklung der Lehre von der Notorität vgl. die Darstellung von J. Ph. Levy, aaO, S. 33 f. 582 Zu der durch richterlichen Augenschein vermittelten Notarität vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 4f. 572
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
notorium iuris und notorium praesumptionis583. Zu der ersten Gruppe zählte man alles, „quod exhibet et offert se oculis omnium, id quod habet ita facti evidentiam, quod non potest negari"584. Das notorium facti wurde von vielen wiederum in drei Untergruppen gegliedert. Als notorium facti permanentis sive continui wurden — wie der Name sagt — Tatsachen von dauerndem Bestand bezeichnet, wie z. B. die Tatsache, daß ein Bischof einer Diözese vorsteht, oder die Existenz eines Bauwerkes auf einem öffentlichen Platz585. Diese Gruppe umfaßt die klarsten und unstreitigsten Fälle des notorium facti. Als notorium facti transeuntis seu momentane! wurden allgemein bekannte einmalige Ereignisse angesehen, wie z. B. ein Verbrechen, das an einem öffentlichen Ort bei Anwesenheit einer großen Menschenmenge begangen wurde. Dabei war jedoch insbesondere streitig, ob die Notorität durch Zeitablauf aufgehoben werden konnte586. Zwischen diesen beiden Gruppen war der Begriff des notorium facti interpolati einzuordnen, der von Durantis587 wie folgt beschrieben wird: „quod saepius iteratur, non tarnen fit continue". J. Ph. Levy588 nennt als Beispiel das gewohnheitsmäßige Wuchern; jedes einzelne Wuchergeschäft ist ein einmaliger Vorgang; durch die ständige Wiederholung nähert sich diese Tätigkeit einem factum continuum. Vor Erreichung dieses Grades liegt das factum interpolatum. Man bezeichnete diese Art einer Notorität als quasi-notorium und billigte ihr nur den Beweiswert einer semiplena probatio zu589.
Unter den Begriff des notorium iuris fiel in erster Linie das vor Gericht abgelegte Geständnis590, ferner die rechtskräftig entschiedene Sache (res iudicata)691. Als notorium praesumptionis wurden die Wirkungen einer gesetzlichen Vermutung bezeichnet592, die den Beweiswert einer probatio plena hatte593.
5. Vermutungen Die Lehre von den Vermutungen594 ist von den italienischen Juristen des Mittelalters wohl in erster Linie zu dem Zweck entwickelt worden, die Beweiswerte einzelner Indizien und die daraus abzuleitenden Schlüsse 583
Vgl. Ghisalberti, aaO, S. 420, J. Ph. Levy, aaO, S. 162ff.; Dziatzko, aaO, S. 227ff. X. 3. 2. 10: „notorium ... per evidentiam rei, quae tergiversatione aliqua celari non possit". 585 Vgl. Ghisalberti, aaO, S. 424. 586 Vgl. dazu J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 48ff. 587 Lib. Ill, part. I, de notor. crim., § 8 Nr. 9. 588 AaO, S. 52; vgl. auch Ghisalberti, Ann. di Storia I, S. 426 f. see vgl. Dziatzko, AKKR 47, S. 228. 590 J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 54ff., RSJB, XVII, S. 164f.; Ghisalberti, Ann. di Storia I, S. 427ff. 591 Vgl. J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 61 f. 592 J. Ph. Levy, aaO, S. 62, 84; vgl. auch Ghisalberti, aaO, S. 432ff. 593 Durantis, lib. Ill, part. I, de notor. crim., § 8 Nr. 1. 594 Ausführlich dazu Motzenbäcker, S. 47 ff. 684
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
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normieren zu können595. Es mag ursprünglich auch eine maßgebende Erwägung gewesen sein, gegenüber der Starrheit der das Ermessen des Richters bindenden Beweisregeln und Beweislastbestimmungen die Lebenserfahrung zur Geltung zu bringen596; nach der vollen Ausbildung der Vermutungslehre läßt sich jedoch keineswegs mehr sagen, daß für jede aufgestellte Vermutung eine sich auf Erfahrung gründende Wahrscheinlichkeit spricht597. Die Zahl der Vermutungen wuchs im Laufe der Zeit ins Unermeßliche. Jedem Schriftsteller, der eine Abhandlung diesem Thema widmete, gelang es, noch einige Dutzend neue Vermutungen zu erfinden, und am Ende der Entwicklung konnte die Masse der Präsumtionen, von denen sich viele widersprachen, niemand mehr überschauen589. Das Ziel, die Vielfalt des Lebens durch Vermutungen erschöpfend zu erfassen, war sowieso unerreichbar. Entsprechend der in der Wissenschaft jener Zeit herrschenden Tendenz, alles nach verschiedenen Gesichtspunkten zu schematisieren und zu klassifizieren, wurden die Vermutungen in einzelne Gruppen eingeteilt. In der Glossa ordinaria findet sich an zwei Stellen der Versuch einer solchen Einteilung9*. Die Titelglosse zu D. 22. 3600 unterscheidet nach der Vermutungswirkung zwischen Präsumtionen, gegen die ein Gegenbeweis nicht zulässig ist solchen, die widerlegt werden können, und solchen, die nur eine Wirkung entfalten, wenn sie durch andere Beweise unterstützt werden. Das entspricht in etwa der später üblichen Dreiteilung praesumptio iuris et de iure601, praesumptio iuris und praesumptio facti602. In der Glosse (praesumptioni) zu D. 4. 22. 23 pr.603 werden vier Arten von Vermutungen aufgezählt: praesumptio iuris et de iure, hominis, naturae und facti604. Gegen die erste Art ist ein Gegenbeweis ausgeschlossen; die Glosse spricht von ihr als praesumptio legis und bemerkt: „Haec magis dicitur fictio"605. Die praesumptio hominis und die praesumptio naturae lassen beide einen 585
Hedemann, S. 67. Buckland, S. 114; Pickel, S. 9. 597 So gab es z.B. die Vermutung, daß jeder von zwei Brüdern einen gleichen Teil des väterlichen Vermögens erbt („Si quis vult" 54 — Wahrmund, IV 4, S. 39; diese Vermutung kehrt auch bei Gobier, S. 101, wieder) oder die Vermutung, daß eine körperliche Schädigung vorsätzlich begangen wurde (Hedemann, S. 67 f. N. 5, mit weiteren Beispielen). 598 Hedemann, S. 70 f. 599 Vgl. zum folgenden Kleiner, SZ 78, S. 317ff. 600 Corpus Glossatorum VII, Bl. 323 (R.). 601 Vgl. dazu unten N. 616. 402 Hedemann, S. 72. 603 Corpus Glossatorum VII, Bl. 75. 604 So auch Hostiensis, Summa, lib. II, de praesumpt. 2 (quot eius speciis); vgl. ferner Burckhard, S. llff. 605 Auf eine begriffliche Unterscheidung zwischen unwiderlegbaren Vermutungen und Fiktionen wurde verzichtet; vgl. Hedemann, S. 211; Motzenbäcker, S. 78, 148f. 596
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Gegenbeweis zu; sie sind einfache Rechtsvermutungen, von denen die dritte Vermutungsart nur eine Untergruppe der zweiten darstellt606. Von der Wirkung der praesumptio facti sagt Accursius nichts; nur zu der Art des Schließens (de praeterito ad praesens oder ex praesenti ad praeteritum607) werden Ausführungen gemacht. Von einer anderen Klassifizierung geht dagegen Tancred*0* aus; er unterteilt in praseumptio temeraria, probabilis, violanta und necessaria609. Die praesumptio temeraria betrifft Tatbestände, die böswillig in einem negativen Sinn ausgelegt werden können, z.B. wenn aus dem Umstand, daß ein Mann ein- oder zweimal allein mit einer bestimmten Frau spricht, auf ein ehebrecherisches Verhältnis geschlossen wird. Solche haltlosen Verdächtigungen haben überhaupt keine Beweiswirkungen und brauchen nicht widerlegt zu werden. Vielmehr wird der Richter — und dies dürfte wohl der einzige Grund sein, warum dieser Tatbestand im Zusammenhang mit den eigentlichen Vermutungen behandelt wird —· angewiesen, derartige Vorgänge in einem der verdächtigten Partei positiven Sinn auszulegen610. Daß eine solche Anweisung nicht überflüssig sein muß — wie man meinen sollte —, zeigt ein in unserer Zeit ergangenes Urteil eines deutschen Gerichts, von dem Krönig611 berichtet. In einem Ehescheidungsprozeß nahm das Gericht ausschließlich aufgrund der Feststellung, daß die Ehefrau und ihr angeblicher Freund mehrfach über ein Balkongitter gelehnt und dicht nebeneinander stehend in einen Garten geblickt hatten, einen Ehebruch als bewiesen an.
Die praesumptio probabilis hat die Wirkung einer probatio semiplena612 und berechtigt den Richter, die durch sie begünstigte Partei zur Vervollständigung des Beweises zum Eid zuzulassen613 oder ihrem Gegner einen ReinJgungseid aufzuerlegen. Die praesumptio violenta und die praesumptio necessaria sind der probatio plena gleichzusetzen. Während aber die violenta durch einen Gegenbeweis entkräftigt werden kann614, gilt die necessaria als unwiderlegbar615, ist also eine praesumptio iuris et de iure616. «°« Kiefner, aaO, S. 319. 807 Vgl. Kiefner, aaO. 608 Ordo 3, 14, 2 (Bergmann, S. 258ff.); ebenso auch Durantis, lib. II, part. II, de praesumptionibus, § 1. Vgl. Burckhard, S. 18ff.; Endemann, Beweislehre, S. 92f.; Dänzer, S. 84f. 610 Tancred, aaO (Bergmann, S. 258); vgl. auch Gobier, S. 60; Roßhirt, S. 120. 611 Krönig, S. 75. 612 J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 109. 613 Tancred, aaO. 614 „Si quis vult" 59 (Wahrmund, IV 4, S. 42). 615 Nach kanonischem Recht wurde z. B. aus Verlöbnis und Beischlaf unwiderlegbar die Ehe vermutet (vgl. X. 4. 1. 30; Endemann, Beweislehre, S. 93 N. 21; Hedemann, S. 62). 616 Vgl. dazu Azo, lect. C. 3. 32. 2 (S. 331); C. 4. 28. 7 (S. 461); C. 4. 29. 22 (S. 467); Endemann, aaO, S. 91 ff.; Lefebvre, DDC 7, Sp. 290; J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 65; oben S. 255.
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Die Wirkungen der Vermutung und ihr Einfluß auf die Beweisführungslast der Parteien617 sind von den mittelalterlichen Juristen eingehend untersucht und beschrieben worden; Struktur und Wesen dieses Rechtsinstituts blieb ihnen aber weitgehend verschlossen618. Dies zeigt sich insbesondere auch in der von vielen vorgenommenen Zuordnung der Vermutung zu den Beweismitteln619. b) Die Beweiswürdigung Trotz der genauen und verbindlichen Bestimmung der Beweiswerte der einzelnen Beweismittel wurde nach dem Vorbild des römischen Rechts als Ziel der Beweisführung angesehen, den Richter von der Wahrheit einer Parteibehauptung zu überzeugen620. Da jedoch die Regeln über die Beweiswirkungen gerade verhindern sollten, daß die subjektive Auffassung des Richters den Einzelfall entschied, konnte es sich in aller Regel nur um eine „objektivierte" richterliche Überzeugung handeln, deren Zustandekommen nach festen Maßstäben vorausbestimmt — man kann auch sagen: fingiert — war. Die Ausführungen, die München in seinem 1865 erschienenen Lehrbuch des kanonischen Gerichtsverfahrens*21 über die (freie) richterliche Überzeugung macht, können als Beschreibung der Auffassung dienen, die in der mittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft vorherrschte. „Überzeugung ist die Entschiedenheit des Fürwahrhaltens und in so fern immer ein subjektiver Zustand, auf dessen Heranbringung die Neigungen, die Gefühle und die Einbildung des Urtheilenden großen Einfluß haben, um eine solche, auch in ihrem Entstehen und in ihren Ursachen subjektive Überzeugung kann es aber den Rechtsuchenden und der sie schützenden höchsten Gewalt nicht zu thun sein, sondern um eine in ihrem Entstehen und in ihrer ganzen Wesenheit objektiven, wie sie aus der klaren und deutlichen Erkenntnis der gegebenen Verhältnisse im denkenden und sittlich frei urtheilenden Menschen entspricht. Die Subjektivität im Urtheilen ist die gefährlichste Klippe für die Gerechtigkeit, daher ihre möglichste Ausschließung im Prozeßverfahren, eine der vorzüglichsten Aufgaben der Gesetzgebung." Um die „gefährliche Subjektivität" auszuschliessen, stellte man bindende Beweisregeln auf, die eine Objektivität sichern sollten622. Es gab jedoch auch Fälle, in denen der Richter eine Entscheidung nach seinem Ermessen zu treffen hatte. So wurde dem Richter nach überwiegender, wenn auch 817
Tancred, Ordo, 3. 5. 2 (Bergmann, S. 217): „Praesumtio, quae est pro actore, transfert onus probationis in reum." 618 Durantis, lib. II, part. II, de praesumptionibus, § l, bemerkt zum Wesen der Vermutung nur recht oberflächlich: „Praesumptio est argumentum ad credendum unum factum, surgens ex probatione alterius facti'. 819 Vgl. oben S. 250. 620 Ygjf ^Quia iudicorum" (Ordo Bambergensis) XVI (S. 313); Incerti auctoris ordo l, 11, 5 (Groß, S. 115); Planck, Beweisurtheil, S. 137; J. Ph. Ldvy, Hierarchie, S. 28. 621 I, S. 98 f. 622 Vgl. auch Eck, S. 30. 17 Musielak, Beweislast
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung nicht unbestrittener Auffassung das Recht zugestanden, bei widersprechenden Zeugenaussagen zu entscheiden, ob ein Beweis erbracht sei623.
Der Vorgang der Über^eugungsbildung vollzog sich in der theoretischen Betrachtung*™ in verschiedenen Etappen. Ausgehend von einem völligen Nichtwissen (nescientia), begann der Richter zunächst, an der Wahrheit des Tatsachenvortrages einer Partei zu zweifeln (dubitatio); diese Zweifel verstärkten sich aufgrund der Beweisführung der Gegenpartei zu einem Verdacht (suspicatio), verdichteten sich zu einer bestimmten Meinung (opinio), die schließlich zu einer festen Überzeugung (perfecta credulitas)625 wurde626. Diese verschiedenen Stufen der Uberzeugungsbildung waren in Beziehung zu den Wirkungsgraden der einzelnen Beweismittel gesetzt. Der volle Beweis, die probatio plena, bewirkte immer eine perfecta credulitas, die probatio semiplena erzeugte eine opinio, Beweismittel mit geringeren Beweiswerten konnten nur einen Verdacht erregen. Auch der Fall widersprechender Beweismittel war weitgehend durch bindende Regeln erfaßt, die eine freie Entscheidung des Richters ausschlössen oder zumindest stark einschränkten. Bei Zeugen war im Gegensatz zum germanischen und altdeutschen Recht im allgemeinen nicht die Zahl, sondern die Glaubwürdigkeit ausschlaggebend627. Ebenfalls hatte bei Urkunden im Grundsatz die Qualität vor der Quantität den Vorrang. Streitig war die Frage, wie bei einem Widerspruch zwischen öffentlichen und privaten Urkunden zu entscheiden sei. Bei den Kommentatoren setzte sich die Auffassung durch, daß die private Urkunde als Beweismittel gegen ihren Aussteller die gleiche Beweiskraft hatte wie eine öffentliche Urkunde und daß der Richter bei seiner Entscheidung nicht gezwungen war, der öffentlichen Urkunde allein wegen ihres Charakters den Vorzug zu geben628.
Bei einem Widerspruch zwischen Zeugen und Urkunden wurde zunächst der Zeugenbeweis ganz allgemein höher bewertet; später wurde dieser Grundsatz stark eingeschränkt und in einer Reihe von Fällen der Urkunde der höhere Beweiswert zuerkannt629. 623
Vgl. Cod. Chis. 138 (Hänel, S. 230f.); s. dazu auch unten N. 627. Weitere Nachweise von Fällen freier richterlicher Beweiswürdigung bei Patermann, S. 11 N. 6. 624 Vgl. Johannes de Lignano (Wahrmund, IV 6, S. 9). 625 J. Ph. Levy, Hierarchie, S. 29, meint, die perfecta credulitas sei nicht einer festen Gewißheit, sondern nur einem „Fürwahrhalten", einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit gleichrangig gewesen. 628 J. Ph. Levy, aaO, S. 28. 627 Bartolus, C. 4, 20, 8, Nr. 8 (Bl. 164 R.): „Dignitas est praeferenda numero testium". Tancred,Ordo 3, 12 (Bergmann, S. 245); vgl. auch Jacobi, SZ (kan.) 34, S. 307. 628 Vgl. J. Ph. Levy, Hiorarchie, S. 86, mit Nachweisen. 629 ygj_ 2U dieser Frage die eingehende Darstellung von J. Ph. Levy, aaO, S. 86 ff.; s. auch Tancred, Ordo, 3, 13, 6 (Bergmann, S. 254ff.); Hostiensis, Summa, lib. II, de fide Instrument. 8 (quid si instrumentum); „Scientiam omnes naturaliter" 30 (Wahrmund, II l, S. 59f.); Diss. Pseudo-Hugolini217 (Hänel, S.410f.); Ordo „Invocato" 42 (Wahrmund,
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
259
c) Die Beweislas t Der Grundsatz, daß jede Partei die von ihr aufgestellten Positionen630 beweisen müßte631, lenkte die Diskussion keineswegs auf die Frage, was die Parteien im Einzelfall vorzutragen hätten, um auf dem Weg über die Behauptungslast das Beweislastproblem zu lösen. Dafür war dieser Grundsatz zu allgemein formuliert und mußte zu viele Ausnahmen zulassen632. Bedeutsame und weitreichende Ausnahmen galten z. B. in Fällen, in denen Vermutungen anzuwenden waren633. Ferner gab es eine Reihe von abweichenden Sonderregeln für einzelne Tatbestände634. Schließlich wurde eine weitere Ausnahme von der Negativentheorie**5 für den Beweis negativer Tatsachen gemacht. Diese Theorie, als deren Begründer Irnerius genannt wird636, stützte auf das Paulus-Zitat „ei incumbit probatio qui dicit, non qui negat" und auf die Codex-Stelle 4. 19. 23 („cum per rerum naturam factum negantis probatio nulla sit") die Auffassung, daß nur positive Tatsachen bewiesen werden müßten637. Da sich jedoch fast jede Aussage ohne eine rechtlich erhebliche Änderung des Inhalts auch negativ formulieren läßt638, mußte eine genaue Abgrenzung des Begriffes der negativen Tatsache vorgenomV l, S. 91 f.); „Si quis vult" 87 (Wahrmund, IV 4, S. 56); Placentinus, Cod. 4,21 (S. 153f.); Parvus Ordinarius (AKKR 81, S. 218); Johannes Teutonicus, Glossa ad C. 4 q. 2 et 3c. 3. 830 Vgl. oben S. 248. 631 Vgl. Engelmann, 2, 3, S. 68; von Canstein, II, S. 5; Leonhard, S. 28. 632 Vgl. die Darstellung der Beweislastfrage bei Tancred, Ordo 3, 5, 2 (Bergmann, S. 215ff.); Durantis, lib. 2, part. II, de probationibus, § l Nr. 1; Azo, Summa, C. 4, 19; Placentinus, Cod. 4,21 (S. 153f.); Ordo „Invocato" 40 (Wahrmund, V l, S. 84ff.); s. auch C. 6 q. 5; C. 4 q. 2 et 3 § 35 (dazu von Mora, S. 55f.); Glossa ord. (ei incumbit) ad D. 22.3. 2 (Corpus Glossatorum VTI, Bl. 323 R.); Ricardus Anglicus, Ordo 29 (Wahrmund, II 3, S. 40f.); „Si quis vult" 53 (Wahrmund IV 4, S. 38); „Quia iudicorum" (Ordo Bambergensis) XVI (S. 312); Questiones de iuris subtilitatibus 22 (Zanetti, S. 68f.); Summa Trecensis 4. 19. 6 (Fitting, S. 90f.); Lo Codi 3, 6 et 7 (Fitting, S. 41f.); Bernardus Papiensis, Summa 2,12, 2f. (Laspeyres, S. 43£); Planck, Beweisurtheil, S. 138; Endemann, Beweislehre, S. 49 f. 633 Vgl. oben S. 254fT. 634 Vgl. Tancred, aaO, (Bergmann, S. 218). Eine Übersicht über diese Sonderregelungen gibt Martin, Vorlesungen, S. 201 f. 635 Vgl. X. 1.6. 23; 1. 9. 5; 2. 19. 11; Glossa (ei incumbit) aaO; Tancred, Ordo 3, 5, 2 (Bergmann, S. 218f.) Odofredus, lect.D. 22, 3, 2 (B1.159f.); Hostiensis, Summa, lib. II, de probat. 2 (quis debet probare), lect. X. 1. 9. 15 (Bl. 92, §Porro); Azo, Summa, C 4, 19, Nr. Iff.; Leonhard, S. 28ff.; Rizy, S. 155ff.; Groß, Beweistheorie I, S. 27ff.; Klötzer, S. 51 ff.; von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 325ff.; vgl. auch unten S. 268f. 638 Odofredus, aaO. 637 Zum richtigen Verständnis dieser Stellen vgl. oben S. 206. 638 Dieses Problem wurde durchaus richtig erkannt; vgl. Tancred, aaO (Bergmann, S. 218f.); Glossa (ei incumbit), aaO. 17*
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
men werden, wenn die Negativentheorie praktisch durchführbar sein sollte. Auch hier wurde die Lösung über eine schematische Einteilung negativer Aussagen in verschiedene Gruppen gesucht639. Einmal unterschied man zwischen negativa determinata und indeterminata. Die negativa indeterminata hatte die Feststellung zum Inhalt, daß ein Ereignis zu keiner Zeit und an keinem Ort eingetreten sei640. Als negativa determinata wurde die Verneinung eines bestimmten Sachverhalts bezeichnet, z.B. zu einem feststehenden Zeitpunkt nicht an einem angegebenen Ort gewesen zu sein641. Eine derartige Aussage ließ sich noch weiter unterteilen, und zwar in negativa iuris (es sei etwas nicht dem Recht gemäß geschehen, z. B. seien bei einem Vertragsschluß bestimmte Rechtsvorschriften nicht beachtet worden642, negativa qualitatis (z. B. eine Sache besitze nicht eine bestimmte Eigenschaft)643 und negativa facti praegnans (z.B. man habe etwas nicht aus dem vom Gegner behaupteten Grund, sondern aus einem anderen getan, man habe nicht freiwillig, sondern gezwungen verzichtet)644. Da eigentliches Bemistbema bei der negativa praegnans, die in ihr enthaltene positive Behauptung war644, konnte sie die regelmäßige Beweisführung nicht ändern. Aber auch für die negativa iuris und qualitatis wurde überwiegend eine gleiche Behandlung wie für positive Tatsachen empfohlen. Denn der zum Nachweis dieser Tatsachen zu führende indirekte (positive) Beweis war im allgemeinen nicht schwerer zu erbringen als andere Beweise auch. Einen triftigen Grund, eine Partei von diesem indirekten Beweis freizustellen, gab es folglich nicht. So blieb nur die negativa indeterminata, für die eine Sonderregelung in Betracht kam. Zwar wurde nicht verkannt, daß auch solche Behauptungen durch positive Hilfserwägungen und Eid indirekt beweisbar sind645, doch dürften die mit einer solchen indirekten Beweisführung verbundenen Schwierigkeiten und mithin Billigkeitserwägungen Grund für die Befreiung vom Beweis gewesen sein646. Daß allerdings die Negativentheorie mit diesen Einschränkungen große praktische Wirkungen gehabt hat, muß bezweifelt werden. Die Unbestimmtheit der negativa indeterminata wird 639
Vgl. J. Ph. Ldvy, RSJB XVII, S. 140; Micheli, S. 27ff.; von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 329; Endemann, ZZP 15, S. 253f.; Rizy, S. 159ff. 640 Vgl. Durantis, lib. II, part. II, de probationibus, § l Nr. 2. 641 Vgl. Endemann, aaO, S. 253. 642 Durantis, aaO, Nr. 5: „negativa iuris est, cum negatur aliquid iure factum esse"; vgl. auch Durantis, aaO, Nr. 4 und 6; Endemann, aaO, S. 254. 643 Glossa (ei incumbit) ad D. 22. 3. 2 (Corpus Glossatorum VII, Bl. 323 R.). 644 Vgl. Durantis, aaO, Nr. 3. 645 Tancred, Ordo 3, 5, 2 (Bergmann, S. 219); Durantis, aaO, Nr. 2. Allerdings wurde auch die Meinung vertreten, der Beweis einer negativa indeterminata sei nicht möglich; vgl. Ri2y, S. 185ff.; Cüppers, S. 27f. 646 Leonhard, S. 29; Groß, Beweistheorie I, S. 28f.; vgl. auch „Scientiam omnes naturaliter" 31 (Wahrmund, II l, S. 63).
§ 10 Der romanisch-kanonische Zivilprozeß
261
verhindert haben, daß sie allzu häufig zu einem rechtserheblichen Beweisthema wurde647. Nur wenn der Kläger den ihm obliegenden Beweis erbracht hatte, mußte der Beklagte seine Positionen beweisen648. Sonst war nach der Regel zu verfahren: actore non probante absolvitur reus649. Die Grundregel des Beweises der eigenen Positionen wurde auf die Sätze „actor probare debet" und „reus in exceptione actor est" gestützt650. Es galt: „Exceptio transfert onus probationis in reum"651. Dabei wurde nach dem Vorbild des justinianischen Rechts652 als exceptio das gesamte Vorbringen des Beklagten mit Ausnahme des einfachen Bestreitens und des Zugestehens der klägerischen Behauptungen angesehen653. Will man ein zusammenfassendes Urteil über die Beweislastregelung des romanisch-kanonischen Porzesses abgeben, dann ist festzustellen: Trotz enger Bindungen an das römische Beweisrecht der nachklassischen Zeit haben die italienischen Juristen des Mittelalters insbesondere durch Ausbildung der Vermutungslehre und durch Schaffung der Negativentheorie einen eigenständigen Beitrag zur Behandlung des Beweislastproblems geleistet und damit nachhaltig die weitere Entwicklung des Beweisrechts beeinflußt. In einem entscheidenden Punkt stimmen sie jedoch völlig mit der römischen Beweislastauffassung überein; auch sie sehen das Beweislastproblem ausschließlich in Blickrichtung auf die Beweisführung der Parteien654. Die Folgen einer gescheiterten Sachaufklärung werden mit Selbstverständlichkeit der Partei zugerechnet, die den fehlgeschlagenen Beweis zu erbringen hat. Eine unbewiesene Tatsache wird somit als nicht existent gewertet; die Problematik, die sich aus dieser Gleichstellung ergibt, bleibt unbeachtet. Für diese Anschauung dürfte nicht allein die Darstellung der Beweislastfrage in den römischen Quellen maßgebend gewesen sein; auch das germanische Beweisrecht, nach dem nur zu entscheiden war, welche Partei zu beweisen hatte, dürfte insoweit nachgewirkt haben. 647
Von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 329, meint, die vielen Ausnahmen hätten die Negativentheorie praktisch in ihr Gegenteil verkehrt. 648 Durantis, aaO, Nr. 17; s. auch Joh. Andreae, Additiones l zu dieser Stelle; Endemann, ZZP 15, S. 253. 649 Tancred, aaO (Bergmann, S. 215f.); Azo, Summa C. 4, 19 Nr. 17; Endemann, Beweislehre, S. 22, 49 f., mit weiteren Nachweisen. 650 Vgl. oben S. 206. 651 Tancred, aaO, (Bergmann, S. 216); vgl. auch Bulgarus, Excerpta legum (Wahrmund, IV l, S. 3f.); Placentinus, Cod. 2, l (S. 38f.), 4, 19 (S. 149); „Si quis vult" 25 (Wahrmund, IV 4, S. 20); Ordo „Invocato" 18, 40 (Wahrmund, V l, S. 35ff., 84f.); „Quia iudicorum" (Ordo Bambergiensis) XII (S. 306); Lo Codi 3,7 (Fitting, S. 41 f.); „Ulpianus de edendo", de exceptionibus (Hänel, S. 21); Mascardus, De probationibus, S. 42. 652 Vgl. oben S. 207. 853 Vgl. Ricardus Anglicus, Ordo 38 (Wahrmund, II 3, S. 88ff.); Knappe, S. 70ff., 55ff.; Albrecht, Exceptionen, S. 111; Engelmann, 2, 3, S. 57; Rizy, S. 91f.; Jacobi, SZ (kan.) 34, S. 295; Leonhard, S. 29. 654 Vgl. Nörr, S. 17 N. 5, 28 N. 53.
262
2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
§ 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption I. Die Zeit bis zum Jüngsten Reichsabschied Mit mehr oder weniger bedeutsamen Änderungen wurde das romanischkanonische Prozeß- und Beweisrecht in Deutschland übernommen und im Verfahren vor den Gerichten des Reiches und der Länder zugrundegelegt655. Bereits in der Kammergerichtsordnung von 1495, der ersten Rechtsgrundlage für das neugeschaffene Reichskatnmergericb^y-vmtac das Gericht angewiesen, „nach des Reichs gemainen Rechten", d.h. nach romanisch-kanonischem Recht zu entscheiden und statutarisches Recht und Gewohnheitsrecht nur in Fällen anzuwenden, in denen die Geltung nachgewiesen und dieses Recht dem Gericht billig und gerecht erschien667. Diese zugunsten des romanisch-kanonischen Rechts getroffene Entscheidung galt sowohl für das materielle als auch für das formelle Recht. Alle in der folgenden Zeit erlassenen Kammergerichtsordnungen, die das im Kammergerichtsprozeß geltende Verfahrensrecht ergänzten und änderten658, beruhten auf romanisch-kanonischen Prozeßrechtsgrundsätzen. Den überragenden Einfluß des rezipierten Rechts auf das Kammergerichtsverfahren zeigt besonders deutlich die Vorschrift des Artikels LIV im Dritten Teil der Kammergerichtsordnung von 1555, in der bestimmt ist, „daß in allen und jeden Fällen, diehie oben nicht sonderlich und ausdrücklich in dieser Ordnung des Gerichtlichen Proceß halben versehen, daß gemein Recht statt haben, und vermög desselben gehandelt und procedirt werden soll"659. Da die Abweichungen der reichsgesetzlichen Zivilprozeßordnungen von den Regeln des romanisch-kanonischen Prozesses italienischer Prägung nicht die hier allein interessierenden Prinzipien des Beweisrechts betreffen660, kann auf eine Beschreibung des Kammergerichtsprozesses jener Zeit verzichtet werden. Die gegen Ende des 15. und im 16. Jahrhundert erlassenen Pro%eßgeset%e der Länder haben in einem unterschiedlichen Umfange romanisch-kanonische Prozeßrechtsgrundsätze übernommen und sie mit deutschen Prozeßinstituten vermischt. Am bereitwilligsten und weitreichendsten haben die süd- und westdeutschen Städte und Länder das neue Recht aufgenommen661. Dort erhielten die Meinungen und Ideen der italienischen Juristen einen unmittelbaren Zugang, wenn auch das Vorbild des Kammergerichtsprozesses die Rezeption des fremden Rechts wesentlich förderte662. Vornehmlich übernahmen die Verfahrensordnungen für die höhe655
R. Schmidt, Lehrbuch, S. 82f., Klageänderung, S. 94f.; Planck, Beweisurtheil, S. 147, 176. 656 Vgl. Schröder-von Künßberg, S. 914ff.; Kern, Geschichte, S. 28ff.; G. L. Maurer, S. 321; zum Kammergericht allgemein vgl. Smend, S. 23 ff. 657 Schwartz, S. 72; Muther, Glasersjahrb. 9, S. 245; Guldener, Herkunft, S. 11. ess Yg^ fia>,„ dje Darstellungen von Schwartz, S. 75ff., und Endemann, Entwicklung, S. 6ff. 659 Vgl. Schwartz, S. 99; Conrad, , S. 456. 660 Vgl. Gobier, S. 44ff., 55ff., lOOff., 164E, 171 ff.; Schwartz, S. 70ff.; Endemann, Entwicklung, S. 7 ff., 44ff. 661 Planck, Beweisurtheil, S. 150. 682 Vgl. Kleinfeiler, Festgabe, S. 288.
§ 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption
263
ren Gerichte das romanisch-kanonische Prozeßrecht, während sich die Prozeßgesetze für die unteren Instanzen insbesondere wegen des Mangels an gelehrten, das neue Recht kennenden Richtern zurückhaltender zeigten663. Jedoch setzten sich fast überall die Grundsätze des romanisch-kanonischen Beweisrechts durch664.
Die Prozeßordnungen des sächsischen RechtsPreises665 beschriften einen eigenen Weg und hielten in einem besonderen Maße an altdeutschen Rechtsinstituten fest. Das geschlossenere, einheitliche System des sächsischen Rechts konnte der fremden Rechtsordnung eigenständige Gedanken und Vorstellungen entgegensetzen668; die Entwicklung war jedoch nicht überall gleich und manches sächsische Prozeßgesetz hat anfangs das romanischkanonische Verfahrensrecht fast vorbehaltlos übernommen657. Aus der Verbindung romanisch-kanonischer und altdeutscher Rechtsgedanken entstand im sächsichen Recht ein Verfahren, das sich deutlich vom Kammergerichtsprozeß und von den Partikularrechten der anderen deutschen Länder unterschied668. So wurden im sächsischen Prozeß bei der Klage und ihrer Erwiderung auf die Bildung von Positionen verzichtet669, in einem Beweisurteil Beweisthema und Beweislast bestimmt670 und dem richterlichen Ermessen ein größerer Raum gewährt als im Kammergerichtsprozeß671. Auf der Grundlage altdeutscher Rechtsvorstellungen672 wurde dem Kläger das Recht eingeräumt, dem Beklagten den Eid 663
Vgl. Leiser, S. 130f.; Planck, aaO, S. 189. Schwartz, S. 64. Beispielsweise seien genannt: Das Beweisverfahren der Nürnberger Reformationen von 1479,1503 und 1564 (vgl. Schwartz, S. 25ff.) der Hessischen Gerichtsordnung von 1497 (vgl. Probst, S. 9ff.; Schwartz, S. 31 f.), der Wormser Reformation von 1499 (vgl. Diehl, S. 32ff.), der Badischen Hofgerichtsordnung von 1509 (vgl. Leiser, S.77 f.), der Mainzer Untergerichtsordnung von 1534,der Kölner Gerichtsordnung von 1537, der Trierer Untergerichtsordnung von 1537 (zum Beweisrecht dieser drei Prozeßordnungen vgl. Marquordt, S. 52ff.), der Augsburger Gerichtsordnungen von 1518,1539 und 1552 (A. Wolff, S. 146ff., 191ff; vgl. auch Liedl, S. 78 ff.), der Bayrischen Landrechtsreform von 1518 und der Bayrischen Gerichtsordnung von 1520 (vgl. Schwartz, S. 228 f., 233 f.), der Schwäbisch-(Donau-)Wörther Reformation aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (vgl. M. Mayer, S. 64ff.), des Freiburger Stadtrechts von 1520 (vgl. Schwartz, S. 35), der Fürstenbergischen Hofgerichtsordnung von ca. 1540 (vgl. Leiber, S. 380ff.; zu den romanisch-kanonischen Beweisregeln anderer fürstenbergischer Gerichtsordnungen des 16. Jahrhunderts vgl. Bieberstein-Krasicki, S. 105ff.) und der Jülich-Bergischen Reformation von 1555 (vgl. Adenauer, S. 58ff.). Zum Beweisrecht des Bremer Zivilprozesses in der Mitte des 16. Jahrhunderts: Achelis, BremJB 35, S. 191 ff. 665 Vgl. Muther, Glasersjahrb. 9, S. 248. 666 Vgl. Engelmann, 2, 3, S. 121. 667 Kleinfeiler, S. 105ff. 668 Zum sächsischen Prozeß vgl. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 86ff.; Schwartz, S. 131 ff.; Conrad, II, S. 458; Planck, Beweisurtheil, S. 184ff.; Engelmann, 2, 3, S. 123f. 669 Fehr, S. 250; Ebel, Studie, S. 20. 670 R. Schmidt, Lehrbuch, S. 88; Brunner-von Schwerin, S. 309; Rehme, S. 388. 671 Vgl. Schwartz, S. 155 f. 672 Es lebte hier der Rechtsgedanke, der in der „schlichten Klage" (vgl. oben S. 237 f.) enthalten war, in der romanisch-kanonischen Form der Eideszuschiebung fort (Kleinfeiler, S. 126f.). 664
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
über den gesamten Rechtsstreit anzutragen673; daneben war es jeder Partei gestattet, über bestimmte einzelne Tatsachen dem Gegner den Eid zuzuschieben, den dieser entweder leisten, zurückschieben oder durch andere Beweise ersetzen konnte674.
II. Die Entwicklung des Prozeßrechts bis zum Inkrafttreten der ZPO Das sächsische Gerichtsverfahren war Vorbild, als durch den Jüngsten Reichsabschied von 1654 der kammergerichtliche Prozeß reformiert wurde675. Aus dem sächsischen Prozeß wurde die Form der summarischen, nicht artikulierten Klage und Klageerwiderung übernommen676; die Bildung von Artikeln war nur noch für das Beweisverfahren vorgesehen677. Zur Beschleunigung des Verfahrens wurde die Eventualmaxime eingeführt. Die Eventualmaxime gebot dem Kläger alle Klagetatsachen, dem Beklagten alle Exzeptionen im ersten Termin vorzubringen (vgl. §§ 34, 37 IRA), und zwar auch dann, wenn diese Exzeptionen in ganz verschiedenen Richtungen gingen und es bei der Begründetheit einer von ihnen, z. B. einer prozessualen Rüge, gar nicht mehr auf die anderen gegen den Klageanspruch selbst geltend gemachten Einwendungen ankam678. Grund für diese Regelung war das Bestreben, die Parteivorbringen nach Möglichkeit zusammenzufassen und zu straffen. Die Eventualmaxime hatte bereits früher im Kammergerichtsprozeß gegolten, war aber wieder abgeschafft worden879.
Das Betveisrecht blieb im wesentlichen unverändert680; erst im 18. Jahrhundert übernahm die Praxis aus dem sächsischen Prozeß das Beweisurteil (Beweisinterlocut)681. In der folgenden Zeit wurden teils unter dem Einfluß des Jüngsten Reichsabschieds682, teils unmittelbar Grundsätze des sächsischen Prozesses auch 873
R. Schmidt, aaO, S. 89; Kleinfeller, S. 112f., 127. R. Schmidt, aaO; Engelmann, 2, 3, S. 124; Schwartz, Erneuerung, S. 170. 875 Conrad, II, S. 459; Blomeyer, ZPR, S. 8. 7 Endemann, Entwicklung, S. 50, 54ff.; Engelmann, 2, 3, S. 128f. 677 Endemann, aaO, S. 51. 878 Vgl. Rehme, S. 388. 879 Vgl. Schwartz, S. 82f., 109f., Ulf. 680 Vgi. wiggenhorn, S. 210ff. 681 Planck, Beweisurtheil, S. 225f.; Mittermaier, II, S. 121. R. Schmidt, Lehrbuch, S. 92 N. l, weist darauf hin, daß der Richter zwar aufgrund des § 50 IRA verpflichtet gewesen wäre, alles Unstreitige und Unerhebliche vom Beweis auszuschließen, daß aber eine entsprechende richterliche Entscheidung nicht die charakteristischen Wirkungen eines Beweisurtheils gehabt hätte. 682 Der in § 137 IRA ausgesprochenen Aufforderung an die Reichsstände, ihr eigenes Gerichtswesen nach dem Vorbild des kammergerichtlichen Verfahrens zu ordnen, wurde weitgehend Folge geleistet (Engelmann, 2, 3, S. 128). 674
§ 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption
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in andere Partikularrechte übernommen683. Die Gegensätze zwischen dem kammergerichtlichen und dem sächsischen System verschwanden allmählich684, und Praxis und Theorie schufen auf der Grundlage des Jüngsten Reichsabschieds den sog. gemeinen Die entscheidenden Impulse für die Fortentwicklung des Prozeßrechts gingen während des 17. und 18. Jahrhunderts von Wissenschaft und Praxis aus. Die Gesetzgebung folgte allenfalls dieser Entwicklung und beschränkte sich im wesentlichen auf die Regelung einzelner Grundsatzfragen*86.
Es entstand jedoch keinesfalls ein einheitliches deutsches Prozeßrecht. Die Regeln des gemeinen Prozesses wurden von den Gerichten der Länder nur angewendet, soweit es kein geschriebenes oder ungeschriebenes Landesrecht gab. „Der Rechtsgang auch in bürgerlichen Streitsachen ist öffentlichen Rechts und seit dem Ausgang des Mittelalters in schier unzähligen deutschen Ordnungen überall gesetzlich geregelt worden. Solchen Gesetze gegenüber war der „gemeine deutsche Proceß" machtlos, denn seine Lehren wurden ja gebrochen durch Landrecht und Stadtrecht, sie schwebten in dieser Richtung nur als eine theoretische Abstraction, als eine wissenschaftliche ratio-subsidiäre Anwendung beanspruchend, aber durchaus nicht allenthalben findend — über den Gesetzen"687.
Will man einen umfassenden Überblick über das Prozeßrecht gewinnen, das während des 17. und 1 8. Jahrhunderts in Deutschland galt, so muß man die große Zahl der Gerichtsordnungen betrachten, die von den deutschen Städten und Ländern erlassen worden ist688. Eine solche Darstellung, die bei weitem über Rahmen und Ziel dieser Abhandlung hinausgehen würde, ist jedoch für die hier zu gebende allgemeine Übersicht über die Entwicklung der Grundzüge des Beweisrechts nicht erforderlich. Denn die Grundsätze des Beweisrechts in den Partikularrechten stimmten im wesentlichen mit den entsprechenden Regeln des gemeinen Prozesses überein. Abweichungen betrafen nicht die Kernfragen; sie können deshalb vernachlässigt werden. Wenn auch das Beweisverfahren des gemeinen Prozesses in seinen Grundlagen auf den romanisch-kanonischen Rechtsanschauungen beruhte, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß Praxis und Lehre viele Einzelfragen anders beurteilen als die italienische Rechtswissenschaft des Mittelalters. Das Beweisrecht verlor im Laufe der Zeit manches von seiner formalistischen Starrheit. Die fast mathematisch anmutenden Beweisregeln, deren 683
Vgl. Kleinfeiler, S. 164ff.; Endemann, Entwicklung, S. 59f. Vgl. Endemann, aaO, S. 75 ff.; Muther, Glasers Jahrb. 9, S. 253. 685 Conrad, II, S. 459. 686 Vgl. Engelmann, 2, 3, S. 130. 687 Schwartz, S. 727 f. 888 Vgl. die eingehenden Darstellungen von Schwartz, S. 160ff., 212fF, 254ff., und Kleinfeller, Festgabe, S. 288f. 684
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Höhepunkt in Deutschland gegen Ende des 16. Jahrhunderts erreicht wurde689, lockerten sich allmählich mehr und mehr690. Am Ende dieser Entwicklung691 war dem Richter bei Beurteilung des TatsachenstofTes ein Ermessensspielraum geschaffen, der es ihm in vielen Fällen ermöglichte, anstelle einer „förmlichen Wahrheit"692 seine eigene Überzeugung von dem zu beurteilenden Tatbestand zu setzen693. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts694, im vollen Umfange aber erst während des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland bedeutsame Prozeßrechtsreformen vollzogen, die sich die Beseitigung der immer stärker empfundenen Mängel der gemeinrechtlichen Prozeßgrundsätze zum Ziel gesetzt hatten und die in einem unterschiedlichen Maße den bisherigen Rechtszustand änderten695. Richard Schmidt696 kennzeichnet diese Mängel wie folgt: „So tief die Entwicklung das Problem der Gründlichkeit der Prüfung erfaßt hatte, so ernst es andererseits mit dem Bedürfnis der Schleunigkeit mindestens gerungen hatte, so hatte es doch beide durch das Opfer eines dritten Interesses, der Natürlichkeit 680
Anschaulich dafür Mascardus, De probationibus und Conclusiones probationum, sowie Menochius, De arbitriis; vgl. auch Patermann, S. 12f. Bolgiano, S. 529. 691 Wie sich die Hinwendung zur freien richterlichen Beweiswürdigung in der Gutachten- und Urteilstätigkeit der Erlanger Juristenfakultät bemerkbar macht, wird von Baumgärtel, Gutachten- und Urteilstätigkeit, S. 112ff., dargestellt. 692 Der Begriff der „förmlichen Wahrheit" ist von Justus Möser (Patriotische Phantasien, Band 4, S. llOff.) geprägt worden, um einen Tatbestand zu bezeichnen, der aus rein formellen Gründen für wahr gilt, ohne daß es auf den tatsächlichen Ablauf der Dinge ankommt. Vgl. von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 251; Patermann, S. 17 ff. 893 Eingehend zu dieser Entwicklung Patermann, S. 15ff., 75ff., 170ff.; ferner auch Zink, S. 45ff. 694 Zur Vorbereitung dieser Entwicklung durch die Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts vgl. Döring, Geschichte, S. 313 f. 695 Aus der Fülle der Gesetze seien beispielhaft genannt: die beiden preußischen Gesetze, der Corpus iuris Fridicianum von 1781 und die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 (zum Inhalt vgl. Abegg, S. 115ff.; Schwartz, S. 495; Conrad, II, S. 467ff.; Engelmann, 2, 3, S. 203ff.; Mittermaier, I, S. 21 ff.); die bayrischen Gesetze vom 22. Juli 1819 und 17. November 1837; die hannoversche Proceßordnung vom 5. Oktober 1827; die badische Prozeßordnung vom 31. Dezember 1831; die Allgemeine bürgerliche Prozeßordnung für das Königreich Hannover vom 8. November 1850, ein Gesetz, das eine gelungene Synthese französischer und gemeinrechtlicher Prozeßrechtsgrundsätze darstellte und die Arbeiten an einer einheitlichen Zivilprozeßordnung für Deutschland wesentlich beeinflußte; die badische Proceßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 18. März 1864; die Civilprozeßordnung für das Königreich Württemberg vom 3. April 1868, die beide anstelle des gemeinrechtlichen rechtskraftfähigen Beweisinterlokuts eine den Richter nicht bindende Beweisverfügung setzten (vgl. Schwartz, S. 628, 633; R. Schmidt, Lehrbuch, S. 105); schließlich die bayrische Proceßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 1. Februar 1869, die im wesentlichen dem französischen Code de procedure civil folgte. «9 Lehrbuch, S. 93f.
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und Wahrheit der Prüfung, erkauft. Während das gemeine Recht die gründliche Sammlung der Arbeitsunterlage durch Reihenfolge und schriftliche Aufzeichnung zu erzwingen suchte, zerstörte es gerade hierdurch in zunehmendem Maße den freien mündlichen Austausch des Gerichts nicht nur mit den Parteien, sondern auch mit den Anwälten. Während das Recht dadurch, daß es die Reihenfolge mit der Eventualmaxime kombinierte, die Schleunigkeit zu fördern strebte, machte es eben durch diese Maßregel das Verfahren zu einem äußerst künstlichen. Der Zwang auf die Partei, schon vor der Beweisantretung Angriff und Verteidigung abzuschließen, der entsprechende Zwang auf das Gericht, durch das Beweisinterlokut in dem gleichen Zeitpunkt alles ebentuell zu beurteilen, entwürdigte den Prozeß zu einem Rechenwerk, bei dem die beurteilten Begebenheiten niemals als wirkliche Vorgänge des Lebens, wie sie sich nach einer Beweiserhebung annähernd rekonstruieren lassen, sondern als bloße Möglichkeiten juristischer Tatbestände vor das richterliche Auge traten".
Höhepunkt und Abschluß fanden diese Reformbestrebungen in der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich, die nach umfangreichen Vorarbeiten697 an 1. Oktober 1879 in Kraft trat.
III. Die Entwicklung der Beweislastlehre bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Bei Entscheidung der Beweislastfrage haben die deutschen Juristen bis in das 19. Jahrhundert hinein an die allgemeinen Grundsätze über die Verteilung der Beweisführungslast angeknüpft, die bereits den romanischkanonischen Zivilprozeß des Mittelalters beherrschten: das allgemeine Prinzip der Beweislast des Klägers für die klagebegründenden Tatsachen und der Beweislast des Beklagten für den Tatbestand einer Einrede698, die Durchbrechung dieser Grundregeln in Fällen von Vermutungen und negativen Behauptungen. Während sich viele Autoren damit begnügen, auf der Grundlage dieser Regeln praktische Beweislastprobleme in einer umfangreichen Kasuistik zu erörtern699, setzen sich im Laufe der Zeit immer mehr auch kritisch mit der Gültigkeit und der Rangordnung der überkommenen Beweislastprinzipien auseinander700. Auf diese Weise entstehen verschiedene Theorien, die eine Lösung der Beweislastfrage auf ein einheitliches Prinzip zurückführen wollen. In gleicher Weise wie im romanisch-kanonischen Recht wird der Begriff der Beweislast fast durchweg im Sinne der Beweisführungslast verstanden. Diese Auf897
Vgl. dazu Hellweg, AcP 61, S. 78 ff. Zu diesem Begriff und seiner Entwicklung vgl. Knappe, S. 92ff.; Reinhold, Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß, S. 195ff; unten S. 274f. 899 Vgl. z. B. Pacianus, aaO, der diesem Thema annähernd tausend Seiten widmet. 700 Vgl. z.B. Cocceji, S. off; Justus Henning Boehmer, Lib. , Tit. XIX, §§3ff. (S. 1170ff.); Walch, S. 759f.; Westphal, S. 4ff. 698
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung Fassung wird noch besonders durch die Einführung des Beweisinterlokuts701 gefördert; denn in ihm ist neben den Tatsachen, die zu beweisen sind, auch die Partei zu nennen, die den Beweis führen muß702. Das Beweisinterlokut hat den Charakter einer Auflage für die Partei, die nach ihm den Beweis zu erbringen hat708. Dementsprechend sieht man als Inhalt der Beweislast die Verbindlichkeit zur Beweisführung an704. Bezeichnenderweise trägt die bedeutendste Monografie jener Zeit über die Beweislast, die Schrift Adolph Dieterich Webers, den Titel „Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprozeß". Die Erkenntnis, daß die Beweislast auch in einem Verfahren mit Untersuchungsmaxime bedeutsam sein kann705, bleibt ganz vereinzelt.
a) Die Negativentheorie Die bereits oben708 dargestellte Negativentheorie707 hat bis zum 19. Jahrhundert708 viele Anhänger709 gefunden, die eine Verteilung der Beweisführungslast nach der Unterscheidung zwischen negativen und positiven Tatsachen vornehmen wollen. Insbesondere in der gerichtlichen Praxis710 ist diese Theorie lange Zeit herrschend gewesen, obwohl es nicht an überzeugend vorgetragenen Angriffen gegen sie gefehlt hat711. Da die Negativtheorie überwiegend damit begründet wird, daß der Beweis einer Nega701
Vgl. oben S. 264. Vgl. Linde, S. 283; Wetzeil, S. 975. 703 Wetzell, aaO. 704 Martin, Vorlesungen, S. 199; Linde, S. 286; vgl. auch Gensler, AcP l, S. 264. 705 So Gönner, Handbuch, S. 265f., der ausdrücklich den Beweislastbegriff auf die Folgen eines Scheiterns der Tatsachenklärung erstreckt. 706 S. 259 f. 707 Zur Entwicklung der Negativentheorie vgl. von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 325ff.; Rizy, S. 69ff., 155ff.; von Greyerz, S. 33f. 708 Noch im Jahre 1827 stellte von Bethmann-Hollweg, aaO, S. 331, fest, daß keine Seite — weder Befürworter noch Gegner — den Streit um diese Theorie für sich entschieden hätten. 709 Vgl. Leyser, S. 949ff.; Thomasius, S. 43; Walch, S. 759f.; Claproth, S. 217; Assmann, S. 3ff., 11 ff.; Klötzer, S. 79ff.; Kori, AcP 8, S. 90ff.; Rizy, S. 38ff. (mit einem eingehenden Überblick über die Anhänger der Negativentheorie in der Pandektenliteratur des 18. Jahrhunderts); Dernburg, Pandekten, S. 370f., Lehrbuch, S. 278f.; Beckh, S. 57ff. (allerdings mit anderer Begründung). 710 Vgl. Kori, AcP 8, S. 90. 711 So insbesondere durch Cocceji, S. 6ff., 18ff., und Justus Henning Boehmer, aaO. Gegen die Negativentheorie auch von Mezger, S. 25ff.; Trier, S. llff.; Westphal, S. 4ff.; Specht, S. 42ff.; Moeckert, S. 3ff.; Danz-Gönner, S. 361 f.; Gönner, Handbuch, S. 270f.; Borst, S. 19ff.; Adolph Dieterich Weber, S. 103ff.; Glück, S. 245f., 248; Petri, S. 8f.; Collmann, S. 48ff., 61 ff.; Gensler, AcP l, S. 264ff.; Maxen, S. 48f., 54f.; Reinhold, ZZP 20, S. 113 f. 702
§ 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption
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tiven nicht möglich712 oder zumindest besonders schwierig sei, führt man die Diskussion in erster Linie über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Nachweises negativer Tatsachen. Dabei übertreiben die Anhänger der Negativentheorie diese Schwierigkeiten, ihre Gegner verharmlosen sie. Wenn ganz allgemein von der Unmöglichkeit gesprochen wird, Negative « beweisen, dann dürfte wohl nur der direkte Beweis gemeint sein. Auf die naheliegende Erkenntnis, daß selbst Negative, die nach Zeit und Ort völlig unbestimmt sind, indirekt beweisbar sind, ist bereits in der romanisch-kanonischen Beweislehre hingewiesen worden713; sie dürfte auch den späteren Anhängern der Negativentheorie nicht verborgen geblieben sein. Andererseits läßt sich kaum bestreiten, daß der Beweis einer negativa indeterminata im Sinne des romanisch-kanonischen Beweisrechts, also einer nach Zeit und Ort unbestimmten negativen Tatsache, im allgemeinen schwer %u beweisen ist. Allerdings ist zu bezweifeln, daß dieser Beweis in der Praxis oft geführt werden muß. Eine andere Begründung wird von Klöts^erlli für die Negativentheorie gegeben. Klötzer meint dem Sinn nach, daß von einem „Nichts" keine Rechtsfolgen abgeleitet werden können und deshalb ein Beweis eines solchen „Nichts", sei er auch möglich, unnütz wäre und deshalb nicht geführt zu werden brauche715. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Gesetz durchaus Rechtsfolgen von dem Nichtvorhandensein einer Tatsache abhängig machen kann716 und dies auch tut, z. B. wenn es einen Schadensersatzanspruch wegen einer deliktischen Schädigung gewährt, die durch Unterlassen begangen wird717.
Letztlich scheitert die Negativentheorie an der nicht zu lösenden Aufgabe, den Begriff der Negativen so zu bestimmen, daß die Lehre ihre Substanz und praktische Bedeutung behält718, die Gefahr des Mißbrauchs durch geschickte Urnformulierungen, der im Prozeß vorgetragenen Behauptungen719 aber ausgeschlossen wird720. 712
So Leyser, S. 950; gegen ihnCocceji, S. 77; Adolph Dieterich Weber, S. 105,127ff., und passim. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die nicht gerade tiefschürfende Begründung verwiesen, die Gerh. Noodt, Commentarius in libros XXVII Dig. in ejus operibus, Tom. II, Lugd. 1735, gegeben hat: „Quid enim est negatio nihil. Atqui quod non est, probari, i. e. monstrari, nulla via potest." (zitiert nach Rizy, S. 165). 713 Vgl. oben S. 260. 714 S. 31. 715 Ähnlich auch Rizy, S. 107ff., 190ff.; Kori, AcP 8, S. 91 f. 716 Larenz, Methodenlehre, S. 214. 717 Leonhard, S. 50; gegen diese Auffassung auch Borst, S. 25ff.; Langenbeck, S.252f.; Kress, S. 33. 718 Dies wäre der Fall, wenn man sie auf die negativa indeterminata beschränkt. Die Abgrenzung fiele hierbei relativ leicht; ihre praktische Bedeutung würde die Negativentheorie aber damit verlieren. 719 Die Gegner der Negativentheorie haben ständig darauf hingewiesen, daß es sprachlich ohne weiteres möglich sei, mit Ausnahme der negativa indeterminata jede Verneinung in eine Bejahung umzuformen; vgl. von Mezger, S, 32f.; Westphal, S. 5f. 720 In der Tat ist es unter Herrschaft der Negativentheorie ein Advokatentrick gewesen, die Beweislastverteilung durch die Formulierung der vorgetragenen Tatsachen zu beeinflussen; vgl. H. H. Meyer, S. 11 f.; von Mezger, S. 33 f.
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b) Die Präsumtionstheorie Eine Lösung des Beweislastproblems, mit Hilfe von Vermutungen zu erreichen, versuchen die Vertreter der Präsumtionstheorie721, die — beeinflußt durch naturrechtliche Anschauungen — der individuellen Billigkeit in der Beweislastregelung mehr Raum geben wollen722. Sie kehren das Verhältnis der Vermutung als Ausnahme zu den anderen Beweislastprinzipien als Regeln gleichsam um und gehen von dem Satz aus, daß der zu beweisen habe, gegen dessen Behauptung eine Vermutung spricht723. Teilweise mittels einer sehr freien Interpretation des geschriebenen Rechts, teilweise mittels eigener Erfindungen entwickeln sie eine Vielzahl von Vermutungen724, die regelmäßig, nach Auffassung mancher sogar immer725, als Instrument der Beweislastverteilung dienen sollen726. Die Präsumtionstheorie hat besonders mit dem Problem zu kämpfen, die Vielfalt tatsächlicher Erscheinungen in abstrakte727 Wahrscheinlichkeitsregeln zu pressen728. Manche ihrer Anhänger machen aus dieser Not eine Tugend, indem sie eine Vermutung für das Gegenteil dann annehmen, wenn für eine bestimmte Sachverhaltsgestaltung keine Vermutung besteht. Demgegenüber weist Adolph Dietericb Weber1'1'9 autreffend auf die Möglichkeit hin, die diese Auffassung nicht sieht oder nicht sehen will, daß nämlich für keine Alternative eine Vermutung spricht. Im Grunde versucht diese Auffassung nur die ausnahmslose Geltung der Präsumtionstheorie künstlich aufrechtzuerhalten. Denn 721
Westphal, S. llff.; Specht, S. 66ff., 85; H. H. Meyer, S. Iß.; Schierschmid, S. Vff., XIV, XlXff.; von Grolmann, S. 112; von Tevenar, S. 31ff.; Ernst Christian Schneider, S. 17ff.; vgl. auch Birkmeyer, S. 85; Feuerlein, Gönners Archiv 4, S. lllff. 722 Leonhard, S. 33. 723 Von Grolmann, S. 112: „Derjenige muß beweisen, welcher seine rechtliche Bitte auf bestrittene Thatsachen stützt, gegen welche die rechtliche Vermuthung streitet". 724 Burckhard, S. 126 N. 3, weist darauf hin, daß Lucas de Penna einhundert Fälle aufzählt, in denen keine Vermutung besteht, sonst soll immer eine Vermutung eingreifen. 725 Den Ausführungen der einzelnen Autoren läßt sich nicht immer mit Bestimmtheit entnehmen, ob sie neben dem Vermutungsprinzip für die Verteilung der Beweislast noch andere Regeln gelten lassen wollen. Eindeutig spricht sich z. B. von Grolmann, S. 112, für eine ausnahmslose Geltung der Präsumtionstheorie aus; ebensowohl auch Westphal, S. 19. Dagegen möchte anscheinend von Tevenar, S. 31, in Fällen, in denen keine Vermutung gilt, den Grundsatz anwenden, daß derjenige eine Tatsache beweisen muß, der sich zu seinen Gunsten darauf beruft. 726 Vgl. Burckhard, S. 125ff. 727 Bei Geltung der legalen Beweistheorie kann nicht erwartet werden, daß dem Ermessen des Richters eine Verteilung der Beweislast aufgrund konkreter Wahrscheinlichkeiten des Einzelfalles gestattet wird. 728 Hedemann, S. 88, sagt zu Recht, daß die Präsumtionstheorie jede Lücke in ihrem System bestreiten muß, wenn sie den Anspruch auf eine umfassende Regelung des Beweislastproblems erheben will. 729 S. 74.
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ob man sagt, bewiesen muß werden, wofür keine Vermutung besteht, oder ob man dasselbe Ergebnis über den Umweg einer Vermutung für das Gegenteil erreicht, ist praktisch gleich730.
Eine Verbindung ^wischen Präsumtions- und Negativentbeorie schaffen verschiedene Autoren731 dadurch, daß sie eine Vermutung für die Existenz negativer Tatsachen aufstellen. Diese Vermutung soll eingreifen, wenn keine spezielle Vermutung für das positive Gegenteil besteht, und denjenigen, der sich auf die Negative beruft, vom Beweis dafür befreien. Diese Lehre gibt aber den Begriffen der Verneinung und Bejahung einen neuen Inhalt und wertet die Fortdauer eines Zustandes als negativ, die Veränderung als positiv732. Zur Rechtfertigung dieser Auffassung werden von einigen 733 Wahrscheinlichkeiiserwägungen angestellt und die Vermutung für die (negativ wirkende) Fortdauer mit der Überlegung begründet, es sei „doch die Wahrscheinlichkeit, daß von den unendlich vielen möglichen Veränderungen des ZuStandes der Dinge sich irgendeine andere zugetragen habe, weit größer, als die, daß sich gerade diejenige, welche der bejahende Thatsatz ausdrückt, zugetragen habe"734. Andere735 berufen sich zur Stütze ihrer Meinung auf das Gesetz der Kausalität, nach dem keine Veränderung ohne wirkende Ursache vorstellbar sei, so daß „wenn kein Grund für die Annahme der Veränderung besteht, nothwendig die Fortdauer des bisherigen Zustandes angenommen werden muß"736; mit anderen Worten: für die Fortdauer eines einmal eingetretenen Zustandes soll eine Vermutung sprechen, die durch den Beweis einer verändernden Ursache zu widerlegen ist737. Diese Fortdamr730
Leonhard, S. 120. Ernst Christian Schneider, S. 26f.; Rizy, S. 38ff., 189ff.; ähnlich Fitting, ZZP 13, S. 18ff., 60f.; Martinius, S. 17ff., 49. Dagegen insbesondere Adolph Dieterich Weber, S. 124ff.; Wach, ZZP 29, S. 386. 732 Ernst Christian Schneider, S. 21ff.; Rizy, S. 40; Fitting, aaO, S. 18ff.; Kori, AcP 8, S. 91 f.; Beckh, S. 59f. 733 Ernst Christian Schneider, S. 32; Rizy, S. 190ff.; vgl. auch Rogowski, AcP 104, S. 327f., insbes. N. 47. 734 Ernst Christian Schneider, aaO. 735 Fitting, aaO, S. Iff. Martinius, S. 18f., ArchBürgR 24, S.49f., bezieht sich dabei auf das Trägheitsgesetz; gegen diese Begründung: Brodmann, AcP 98, S. 139ff.; Wach, ZZP 29, S. 384f.; Kress, S. 37f.; Dossmann, S. 17f.; Rosenberg, ZZP 32, S. 480ff. 736 Fitting, aaO, S. 18. 737 Die Existenz einer solchen Fortdauervermutung ist stark umstritten, sie wird auch von Autoren bejaht, die sonst die Präsumtionstheorie ablehnen. Für die Fortdauervermutung u.a. Ernst Christian Schneider, S. 32; Fitting, aaO, S. 17ff.; Westphal, S. 13; Bayer, S. 321; Betzinger, S. 54f.; Beckh, S. 66f.; Burckhard, S. 144; Litten, Krit. VjSchr. 45, S. 299; weitere Nachweise bei Rosenberg, Beweislast, S. 115 N. 8, und Kasparek, S. 33ff. Gegen diese Vermutung: RG (27. 1. 87) SeuffA 42, Nr. 214 (S. 303) Rosenberg, aaO, S. 115£, ZZP 32, S. 482fF.; Leonhard, S. 53ff.; Reinhold, ZZP 20, S. 115ff.; Wach, ZZP 29, S. 384f.; Dossmann, S. 18ff.; Kress, S. 37ff. Manche Autoren unterschei731
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
Vermutung hat die Beweislastlehre bis heute beeinflußt738. Von der Präsumtionstheorie selbst ist nur noch die vereinzelt zu findende These geblieben, daß außerhalb gesetzlicher Regelungen (natürliche) Vermutungen die Beweislast veränderten739. c) Die Grundlagentheorienlw. Das Prinzip, daß jede Partei die tatsächlichen Grundlagen der von ihr im Prozeß geltend gemachten Rechte beweisen muß, ist zwar immer fast einhellig741 anerkannt gewesen742, seine Bedeutung war aber durch die Negativen- und die Präsumtionstheorie erheblich eingeschränkt worden. Nach Überwindung jener Theorie haben alle neueren Beweislastlehren bis heute auf diesem Grundprinzip aufgebaut743.
1. Die Beweislastlehre Adolph Dieterich Webers und von Bethmann-Hollwegs Es ist das Verdienst Adolph Dieterich Webers™* die Mängel und Schwächen der Negativentheorie und der Präsumtionstheorie so überzeugend nachgewiesen zu haben, daß diese Theorien schließlich fast völlig aufgegeben worden sind. In seiner eigenen Beweislastlehre geht Weber von dem Grundsat^ aus: „Wer ein Recht oder eine Befreiung von Rechten oder Anmaßungen anderer ganz oder zum Theil mit Erfolg vor Gericht geltend den zwischen der Vermutung für die Fortdauer tatsächlicher und der für die Fortdauer rechtlicher Verhältnisse. Für rechtliche Verhältnisse soll eine auf Gewohnheitsrecht beruhende Vermutung gelten (so Hedemann, S. 160f., mit weitren Nachweisen; für diese Vermutung bereits von Bethmann-Hollweg, Versuche, S. 346 f., 367; ebenso Lent, Gesetzeskonkurrenz, S. 85), während der Gedanke, der der Fortdauervermutung zugrundeliegt, bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden soll (Hedemann, S. 162; Wehli, JurBl. 1896, S. 471; Hellwig, Anspruch, S. 68; Sattelmacher, S. 43). 739 Vgl. unten S. 358. 739 Vgl. oben S. 46 N. 306. 740 Im Interesse einer Sprachregelung werden unter diesen Begriff alle die Beweislasttheorien zusammengefaßt, die eine Beweislastverteilung unter den Parteien nach der Regel vornehmen wollen, daß jeder die tatsächlichen Voraussetzungen (= Grundlagen, so Unger, II, S. 562) eines von ihm im Prozeß geltend gemachten Rechtes zu beweisen habe. 741 Anders nur die Vertreter einer extremen Vermutungstheorie; vgl. oben N. 725. 742 Vgl. Borst, S. 14f.; Pfeiffer, S. 112; Petri, S. 13ff., 36ff. 743 Dies gilt in gewisser Weise auch für die Wahrscheinlichkeitstheorie (vgl. dazu unten S. 290ff.), die nach Wahrscheinlichkeit und Billigkeit des Einzelfalles die Beweislast verteilen will. Denn auch für sie ist dieses Prinzip zumindest der Ausgangs- und Orientierungspunkt einer Lösung der Beweislastfrage. 744 „Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprozeß"; in erster Auflage 1805 erschienen.
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zu machen sucht, ist schuldig, die noch Ungewissen Thatsachen, deren Wahrheit das Recht oder die Befreiung als nothwendig voraussetzt, zu beweisensen"745. Eine Ausnahme soll nur gelten, wenn gesetzliche Regelungen etwas Abweichendes bestimmen. Die Frage, welche Tatsachen „das Recht oder die Befreiung als nothwendig voraussetzt" versucht Weber746 dadurch zu beantworten, daß er zwischen den regelmäßigen und allgemeinen Bedingungen eines Rechts unterscheidet. Die Verwirklichung solcher Merkmale, die „wesentlich und als Regel vorausgesetzt" werden, sind von der Partei zu beweisen, die sich auf das Recht stützt; dagegen sind „die allgemeinen Bedingungen aller Rechte und Verbindlichkeiten überhaupt, die Abwesenheit der Hindernisse, die der Gültigkeit oder Wirksamkeit eines Vorganges entgegentreten können" von der Gegenpartei zu beweisen; als solche Hindernisse nennt Weber beispielhaft die Minderjährigkeit und die Geisteskrankheit. Man kann nicht sagen, daß diese Beschreibung sichere und praktikable Abgrenzungsmerkmale enthält, die eine genaue Bestimmung der Begriffe „Recht" und „Befreiung"747 sowie die Feststellung ihrer „notwendigen" Voraussetzungen ermöglichen. Heffter erklärt denn auch in seinen Anmerkungen zu den Ausführungen Webers748, die Regel von der Beweislast setze „ein durchgebildetes System oder doch eine verständige juristische Absonderung in den verschiedenen Angriffs- und selbständigen Verteidigungsmittein der Parteien voraus". Heffter unterstellt die Existenz eines solchen Systems, wenn er meint: „Probatio incumbit ei qui agit, richtig verstanden, ist genug für den gebildeten Juristen"749. Um die Ausbildung eines derartigen Systems, das eine exakte Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungsmitteln und den dazu gehörenden rechtlichen Merkmalen gewährleistet, geht es aber gerade; dieses System zu ermitteln und zu beschreiben, ist das Hauptproblem jeder Grundlagentheorie, das von Weber zwar aufgeworfen, aber nicht gelöst worden ist750. Von Betbmann-Hollweg stimmt mit Weber darin überein, „daß jede Parthey die Bedingungen des von ihr behaupteten Rechts beweisen müsse"751, und verlangt wie Weber, daß „wer ein Recht vor Gericht geltend macht, ... nur dessen eigentümliche, unmittelbare, wesentliche Bedingungen darzuthun" brauche762. Von Bethmann-Hollweg legt sich aber 745
AaO, S. 86f. Eine gleiche Auffassung vertreten Danz-Gönner, S. 361 ff.; Knappe, S. lOOff., 119f., 125f.; Martin, Vorlesungen, S. 199ff., Lehrbuch, S. 265f.; Glück, S. 248; Gensler, AcP l, S. 264f.; Linde, S. 286f. 746 S. 131 f. 747 Unter diesen Begriff sind sowohl die rechtsvernichtenden als auch die rechtshindernden Tatsachen im Sinne der heutigen Terminologie zu fassen (Knappe, S. 95). 748 2. Auflage (1832), S. 269. 749 AaO, S. 266. 750 Kritisch insoweit gegenüber Weber bereits Collmann, S. 18f.; ähnlich Kress, S. 41; Sattelmacher, S. 26; C. Esser, S. 18. 751 Versuche, S. 344f. 752 AaO, S. 349 f. 18
Musielak, Beweislast
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
des weiteren auch die Frage vor, „weshalb der Kläger durch den Beweis des eigentlichen Erwerbungsgrundes genug bewiesen habe"752 und findet darauf die Antwort, weil „jenes die Thatsachen sind, welche die Entstehung des Rechts seinem Begriff nach, also auch in der Regel zur Folge haben. Die Regel nemlich in diesem Sinne bildet nicht die Mehrzahl einzelner Fälle, sondern was unmittelbar aus dem Begriffe des Rechts oder Rechtsgeschäfts abgeleitet werden kann. Jene ändern Bedingungen der Entstehung eines Rechts oder der Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts hingegen gehören nicht unmittelbar seinem Begriff an. Wird daher hierauf das Nichtdaseyn des Rechts, die Ungültigkeit des Rechtsgeschäfts gegründet, so ist dieß Ausnahme von der Regel, welche dargethan werden muß, da die Regel solange angenommen wird, bis die Ausnahme bewiesen ist"753. Als das grundlegende Prinzip der Beweislastverteilung bezeichnet von Bethmann-Hollweg die Regel „affirmanti, non neganti, incumbit probatio", bezieht diese Regel aber nicht auf einzelne tatsächliche Behauptungen, sondern auf das geltend gemachte Recht, deren wesentliche Bedingungen, auch wenn sie in Negativen bestehen, von dem bewiesen werden müßten, der sich auf das Recht beruft, nicht der es bestreitet. Von Bethmann-Hollweg754 weist darauf hin, daß die größten Schwierigkeiten für die Beweislastverteilung darin lägen, die „den Begriff eines Rechts oder Rechtsgeschäfts constistuierenden Merkmale" zu finden, und erklärt, diese Schwierigkeiten könnten nur „durch Untersuchung der rechtlichen Natur der einzelnen Verhältnisse gelöst werden". Die richtige Fragestellung innerhalb des Beweislastproblems und auch der Weg zu einer Lösung sind damit zutreffend erkannt: entscheidend ist die Antwort auf die Frage, was zu beweisen ist; wird diese Frage, die Frage des Beweisthemas, geklärt, dann löst sich die weitere Frage, wer zu beweisen hat, nach den Regeln der Grundlagentheorie von selbst755. Das Beweistbema soll dadurch gefunden werden, daß in einer genauen Tatbestandsanalyse nach dem Regel- Ausnahmeprin^ip die das geltend gemachte Recht begründenden Merkmale ermittelt werden, wobei die Frage, was als Regel zu gelten hat, nicht nach allgemeinen Erfahrungssätzen, sondern nach dem einzelnen Rechtsbegriff, d. h. nach einer gesetzlichen Regelung zu beantworten ist. Es wird sich zeigen, daß alle in der folgenden Zeit herrschenden Beweislasttheorien diesen von Bethmann-Hollweg vorgeschlagenen Weg beschritten haben, um zu einer Klärung der Beweislastfrage zu gelangen. Die Unterscheidung rechtsbegründender und rechtsvernichtender Merkmale läßt sich meist aufgrund der gesetzlichen Regelung verhältnismäßig einfach 753
AaO, S. 351. Im gleichen oder zumindest ähnlichen Sinn auch Unger, II, S. 454ff.; Römer, S. 17f.; Reinhold, S. 36ff.; Maxen, S. 113f.; Gerber, S. 9ff., 29f.; Regelsberger, S. 696; Burchardi, AcP 18, S. 208ff.; Brodmann, Vom Stoffe des Rechts, S. 110. 754 AaO, S. 368 f. 755 So ausdrücklich Burckhard, S. 132, 136; Unger, II, S. 563 N. 23; Reinhold, Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß 13, S. 13 N. 1.
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und sicher durchführen758; das eigentliche Abgrenzungsproblem entsteht erst, wenn geklärt werden soll, ob ein Merkmal recbfsbegründend oder sein kontradiktoriscb.es Gegenteil rechtshindernd wirkt. Die Terminologie ist zunächst sehr schwankend757. Die heute durchgeführte Unterscheidung zwischen rechtsbegründenden, rechtshindernden und rechtsvernichtenden Tatsachen (genauer: Mermalen758) findet sich bereits bei Knappe759. Auch Borst780 gebraucht den Begriff der rechtshindemden Tatsachen und stellt diese Tatsachen den rechtserzeugenden gegenüber. Soweit man den Begriff der rechtshindernden Tatsachen oder Merkmale nicht benutzt, wird eine entsprechende Trennung der Sache nach, nur unter Verwendung anderer Bezeichnungen vorgenommen. Beispielsweise grenzt Pfeiffer761 die Gründe, „die den Erwerb des Rechts überhaupt verhinderten, und wodurch also, daß dem ändern das Recht jeweils zugestanden, gänzlich geleugnet wird", von solchen Gründen ab, „die ohne den einmal geschehenen Erwerb des Rechts in Abrede zu stellen, nur darauf hinauslaufen, daß dasselbe jetzt nicht mehr ausgeübt werden könne, die also, diesen Ausdruck in einem weiteren Sinne genommen, den Verlust eines erworbenen Rechts beziehen". Heffter762 spricht von „wahren Exceptionen" und von „sonstiger selbständiger Defension" und meint damit einmal die rechtsvernichtenden und zum anderen die rechtshindemden Elemente; ganz ähnlich unterscheidet von Bethmann-Hollweg763 zwischen „wahren Exceptionen" und „Thatsachen, woraus der Beklagte die Nullität des Klagerechts ableitet."
Im Grunde betreffen fast alle Vorschläge, die von den verschiedenen Grundlagentheorien zur Abgrenzung der von jeder Partei zu beweisenden Tatsachen gemacht werden, den Gegensat^ recbtsbegründender und recbtshindernder Tatbestandselemente. Diesem Zweck dient in erster Linie die Regel-Ausnahme-Formel von Bethmann-Hollwegs und seine Beschreibung der rechtsbegründenden Tatsachen als die eigentlichen, unmittelbaren und wesentlichen Bedingungen des Rechts. Das gleiche Ziel verfolgt eine von verschiedenen Autoren784 empfohlene Unterscheidung zwischen äußeren Merkmalen765 die, wenn sie verwirklicht sind, ein Recht äußerlich als existent in Erscheinung treten lassen, und inneren Merkmalen, die das äußer756
Heffter, S. 216. Vgl. die Nachweise bei Knappe, S. 94ff., 113ff. 758 Vgl. Betzinger, S. 30 N. l; Rosenberg, Beweislast, S. 108, die zutreffend daraufhinweisen, daß sich die rechtserzeugenden, rechtshindernden und rechtsvemichtenden Wirkungen aus dem Rechtssatz, nicht aus dem ihn verwirklichenden Tatsachenstoff ergeben; anders dagegen Kühn, S. 43 N. 1. 759 S. 112f. 760 S. 30ff. 761 S. 114. 762 S. 216. 763 Versuche, S. 373. 764 Langenbeck, S. 279ff.; Burckhard, S. 141 ff., 156f.; F. Endemann, Bürgerl. Recht, S. 496ff.; ähnlich auch von Hellmolt, S. 33ff.; Bolgiano, S. 480f.; Hüppner, SächsArch. l, S. 643. 765 Bereits Linde, S. 286f., verlangt vom Kläger nur den Beweis der „äußeren Voraussetzungen für das Daseyn des Thatumstandes in der nothwendigen Vollständigkeit." 757
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung
lieh ohne Mangel bestehende Recht — oder genauer: den äußeren Schein des Rechts — beseitigen. Zur Begründung dieser Unterscheidung wird die Meinung vertreten, daß alles, was ohne äußeren Mangel in der Rechtsphäre existiere, einen Besitzstand begründe, der es rechtfertige, von demjenigen den Beweis zu fordern, der diesem Besitzstand wegen besonderer äußerlich nicht erkennbarer Gründe die Anerkennung versage789.
Im Grunde stellen sich auch die von der sog. Kausaltheorie767 gebildeten Begriffe der causa efficiens und conditio sine qua non als eine Kennzeichnung der rechtsbegründenden und rechtshindernden Elemente dar, wenn auch der Begriff der conditio sine qua non die leicht erkennbaren und deshalb unproblematischen rechtsvernichtenden Tatbestandsmerkmale mit umfaßt768.
2. Die Kausaltheorie Die lange Zeit insbesondere während der Arbeiten am Bürgerlichen Gesetzbuch herrschende Kausaltheorie769 unterscheidet sich in den grundlegenden Fragen nicht von der Beweislastlehre Adolph Dieterich Webers und von Bethmann-Hollwegs; in gleicher Weise wie diese legt sie der Partei, die ein Recht im Prozeß geltend macht, die Beweislast für die rechtsbegründenden Merkmale auf, die sie als causa efficiens der Rechtsentstehung bezeichnet, während sie vom Gegner den Beweis der rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Tatsachen erwartet, deren Fehlen eine conditio sine qua non für das Recht bedeutet. Die Begriffe der causa efficiens und der conditio sine qua non drücken gleichsam ein Zielvorstellung der Beweislastverteilung und der ihr zugrundeliegenden Leitgedanken aus770. Bei der Abgrenzung dieser Begriffe greift die Kausaltheorie auf gleiche Erwägungen zurück, wie sie von Bethmann-Hollweg innerhalb seiner Lehre zur Unterscheidung von Regel und Ausnahme verwendet werden. Die vom Kläger zu beweisende causa efficiens soll die regelmäßigen771 7
Gegen diese Auffassung insbesondere Leonhard, S. 58ff.; Kress, S. 44ff., 85ff.; Mosbacher, S. 18ff.; Reinhold, S. 58ff.; Cüppers, S. 46f.; Schühly, S. 37f.; C. Esser, S. 21 f.; Hedemann, S. 152f. 787 So die treffende Bezeichnung Leonhards, S. 67. 788 Wetzell, S. 158f. 789 Wetzell, S. 148, 158ff.; Hellmann, S. 491; Wach, Handbuch, S. 126, ZZP 29, S. 362f., 388; Sattelmacher, S. 34ff., 44ff.; Sieveking, S. 20ff. 770 Vgl. Wetzell, S. 148 N. 19. 771 Planck, Lehrbuch, S. 171;Cosack, Lehrbuch S. 279; Reinhold, Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß 13, S. 27. Im gleichen Sinn auch § 194 Abs. l des 1. Entwurfs eines BGB (vgl. unten S. 277).
§ 11 Das deutsche Prozeß- und Beweisrecht nach der Rezeption
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oder normalen Tatsachen772 umfassen773. Nach überwiegender Auffassung ist der gesetzlichen Regelung zu entnehmen, was als regelmäßig und normal zu gelten hat774. Nur wenige Vertreter der Kausaltheorie wollen bei dieser Abgrenzung auch der Lebenserfahrung Einfluß einräumen und den gewöhnlichen Stand und Verlauf der Dinge berücksichtigen776. Alles in allem erscheint die Kausaltheorie als eine — noch nicht einmal sehr bedeutsame — Fortentwicklung des theoretischen Fundaments der Beweislastlehre, die Adolph Dieterich Weber und von Bethmann-Hollweg maßgebend gestaltet haben. d) Die Vorbereitung des Bürgerlichen Gesetzbuches Da der Gesetzgeber der Zivilprozeßordnung der Auffassung gewesen ist, daß die Regeln der Beweislast dem materiellen Recht angehörten und somit seiner Regelungsbefugnis entzogen seien, hat er davon Abstand genommen, Bestimmungen über die Beweislast in die ZPO einzufügen778. Ohne sich diese Meinung über die systematische Stellung der Beweislast zu eigen zu machen777, wird zunächst bei den Vorbereitungen des Bürgerlichen Gesetzbuches vorgesehen, allgemeine Vorschriften über die Beweislastverteilung zu erlassen. Die im ersten Entwurf enthaltenen Beweislastbestimmungen entsprechen weitgehend der zu dieser Zeit herrschenden Ansicht und haben ihre Vorbilder im Code civil und im sächsischen Gesetzbuch778. Diese Vorschriften lauten: „S 193 Wer einen Anspruch geltend macht, hat die zur Begründung desselben erforderlichen Tatsachen zu beweisen. Wer die Aufhebung eines Anspruchs oder die Hemmung der Wirksamkeit desselben geltend macht, hat die Tatsachen zu beweisen, welche zur Begründung der Aufhebung oder Hemmung erforderlich sind.
§194 Wer die rechtliche Wirkung eines Tatbestandes wegen besonderer, die regelmäßige Wirksamkeit ausschließender Tatsachen verneint, hat diese besonderen Tatsachen zu beweisen. 772
Zitelmann, S. 25f.; Regelsberger, S. 696. Das man den Begriff des Normalen (genauso wie des Regelmäßigen) auch von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten kann, zeigt die Bemerkung Fittings, Civilprozeß, S. 269, der gerade umgekehrt meint, „was vom Standpunkte des Rechtes als das Normale gilt, wie z.B. die Geschäfts- und Prozeßfähigkeit des Menschen, ist anzunehmen, wo nicht eine Abweichung bewiesen ist, (oder sonst feststeht)". 778 Zu anderen Bezeichnungen vgl. Leonhard, S. 67. 771 ROHG (30. 6. 76) SeufA 32, Nr. 191 (S. 243); Zitelmann, S. 26; Windschcid-Kipp, S. 678; Sieveking, S. 40 ff. 775 So z.B. Hellwig, System, S. 475. 776 Vgl. Materialien zur CPO, l, S. 270f. 777 Motive zum BGB, I, S. 382. 778 Vgl. Motive zum BGB, I, S. 382.
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2. Teil. Die geschichtliche Entwicklung Dies gilt insbesondere für Rechtsgeschäfte, wenn geltend gemacht wird der Mangel der Geschäftsfähigkeit, der Übereinstimmung des wirklichen Willens mit dem erklärten Willen, der Willensfreiheit wegen Drohung oder Betruges, oder wenn geltend gemacht wird, daß eine besondere Form rechtsgeschäftlich bestimmt worden sei.
§195 Wer Rechte aus einem Rechtsgeschäft geltend macht, hat, wenn eine besondere Form zur Gültigkeit desselben erforderlich ist, auch die Beobachtung dieser Form zu beweisen. §196 Wer Rechte aus einem Rechtsgeschäft geltend macht, hat zu beweisen, daß dasselbe in der von ihm behaupteten Weise zu Stande gekommen ist, auch wenn der Gegner die Errichtung zugesteht, jedoch behauptet, daß das Rechtsgeschäft in anderer Weise, insbesondere unter Beifügung einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung oder unter Beifügung eines Anfangstermins oder Endtermins errichtet worden sei. §197 Die Erfüllung oder den Ausfall einer Bedingung hat derjenige zu beweisen, welcher aus der betreffenden Tatsache ein Recht herleitet."
Bei der ^weiten Lesung werden diese Vorschriften wieder gestrichen, einerseits weil man meint, daß gesetzliche Regeln über die Beweislast überhaupt entbehrlich seien779, andererseits weil man die vorgeschlagenen Bestimmungen teils für selbstverständlich, teils für bedenklich ansieht780. Man beschränkt sich auf Einzelvorschriften, durch die Sonderfragen der Beweislast entschieden werden781. Außerdem bemühen sich die Redaktoren des BGB durch die Fassung der einzelnen Bestimmungen die Verteilung der Beweislast zum Ausdruck zu bringen782. 779
Vor nicht allzu langer Zeit, nämlich im Jahre 1966, hat die verfahrensrechtliche Abteilung des Deutschen Juristentages diese Auffassung indirekt bestätigt, indem sie die Frage, ob es sich empfehle, das Recht der Beweislast und der Beweiswürdigung durch gesetzliche Vorschriften fortzubilden, verneinte und feststellte, eine Gesetzesreform der Beweislast und der Beweiswürdigung erscheine zur Zeit nicht dringlich; vgl. Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, S. E 130; s. auch Blomeyer, Gutachten, S. 53. 780 Protokolle zum BGB, I, S. 259: „Für die Regelung der Beweislast seien logische Gründe sowie Billigkeits- und Zweckmäßigkeitsrücksichten maßgebend, so daß durch die Aufstellung genereller Bestimmungen Nichts gewonnen werde. Bei richtiger Fassung und Auslegung der Rechtssätze müsse sich nicht nur das Beweisthema sondern auch die Beweispflicht von selbst ergeben. Die Vorschriften der §§ 193 bis 198 seien überwiegend doktrinären, wissenschaftlichen Inhalts; soweit sie dies seien, müßten sie gestrichen werden". Vgl. auch Holder, AcP 73, S. 154ff.; Leonhard, S. 36f.; Wach, ZZP 29, S. 366f.; Düringer, Recht, S. 577. 781 §§ 282, 345, 358, 363, 442, 542 Abs. 3, 636 Abs. 2, 2336 Abs. 3 BGB. 783 vgi. Protokolle zum BGB, VI, S. 384; Küntzel, Gruch. 40, S. 357 f. Die Bedeutung der Fassung eines Gesetzes ganz allgemein für die Beweislastverteilung betont Wehli, JurBl. 1896, S. 485.
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Nach Inkraftreten des BGB ist dieser Gedanke einer Beeinflussung durch die Gesetzesfassung von Lehre und Rechtsprechung zustimmend aufgegriffen worden783. Immer dann, wenn die Fassung der anzuwendenden Vorschrift dies zuläßt, soll die Verteilung der Beweislast dem Gesetzeswortlaut entnommen werden. Nach dieser Ansicht sind die rechtsbegründenden Tatsachen häufig in einem positiven Konditionalsatz zusammengefaßt, während die vom Prozeßgegner zu beweisenden Ausnahmen durch Wendungen wie „es sei denn", „dies gilt nicht, wenn" oder „ausgenommen sind" eingeleitet werden; gleiches soll gelten, wenn in einem negativen Konditionalsatz die Verneinung unmittelbar hinter dem „wenn" oder „sofern" steht784; ist die Verneinung dagegen durch mehrere Worte von dem „wenn" getrennt785, so soll derjenige auch die Negative beweisen müssen, der für sich Rechte aus der Vorschrift herleiten möchte786. Nachdem anfangs entschiedener Widerspruch gegen die Möglichkeit erhoben worden ist, der Fassung des Gesetzes787 etwas für den Inhalt einer Beweislastentscheidung zu entnehmen788, hat sich heute die als Sat^bautbeorie bezeichnete Auffassung fast allgemein durchgesetzt789.
e) Der Beweislastbegriff Als Inhalt des Beweislastproblems wird auch weiterhin bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ganz allgemein die Frage angesehen, welche Partei die im Rechtsstreit erheblichen Tatsachen zu beweisen habe790. Neben dieser heute als Bemisfübrungslast bezeichneten Notwendigkeit, Beweise führen zu müssen, werden die Folgen, die eintreten, wenn diesem Erforderniss 783
Die ersten Vertreter dieser Lehre waren Gottlieb Planck (vgl. Planck-Knoke, Einleitung, Bd. I, S. LIVff.); Beckh, S. 48ff.; Düringer, Recht 1905, S. 577; F. Endemann, Bürgerl. Recht, S. 483f. (allerdings im Hinblick auf die Behauptungslast); R. Schmidt, Lehrbuch, S. 475; Betzinger, S. 10ff.; C. Esser, S. 25ff. Aus der Rechtsprechung dieser Zeit sind zu nennen: RGZ 51,30,32 (3.2.02 — VI370/01); RGZ 61,239,240 (13.7.05 — VI 557/04). 784 Beispiel: § 250 Satz 2 BGB. 785 Beispiel: § 293 BGB. 786 Düringer, Recht 1905, S. 577; Betzinger, S. 15. 787 Die Satzbautheorie erstreckt sich nicht nur auf das BGB. Zum HGB vgl. Düringer, aaO, S. 579. 788 Insbesondere Leonhard, S. lOSff., mit eingehender Begründung; Eck, Vorträge, S. 35f.; Cüppers, S. 51 f.; Wach, ZZP 29, S. 354ff.; Hedemann, S. 133. 789 Vgi Rosenberg, Beweislast, S. 126ff.; Leipold, S. 51 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 780 Vgl. oben S. 267 f. Soweit erkannt wird, daß es vor allem darauf ankommt, zu klären, was bewiesen werden muß (vgl. oben N. 755), wird doch das Beweisthema durchweg im Zusammenhang mit der beweisbelasteten Partei gesehen und gefragt, welche Partei was beweisen muß.
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nicht entsprochen wird, offenbar als so unproblematisch und klar angesehen, daß ihnen fast durchweg791 keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, erst recht nicht an ihre begriffliche Verselbständigung gedacht wird792. Die ersten tiefer gehenden Auseinandersetzungen mit den dogmatischen Fragen der Beweislast enthalten die Schriften vonju/ius Gläsernes, dem Jahre 1883793. Glaser unterscheidet als erster zwischen verschiedenen Beweislastbegriffen: der materiellen, der formellen und der faktischen Beweislast794. Die materielle Beweis/äst beschreibt Glaser als die Gefahr, die dadurch erwächst, daß der Richter bei Zweifeln an tatsächlichen Vorgängen so handelt, als wäre das Gegenteil bewiesen; dieser Gefahr sei derjenige ausgesetzt, dessen Interessen darunter leiden müßten, wenn eine bestimmte Tatsache nicht erwiesen, der Richter nicht von ihrer Wahrheit überzeugt werden könne795. Die formelle Beweislast treffe den, dem der Verlust seines Anspruchs bevorstehe, wenn er nicht die dafür erforderlichen Tatsachen beweise oder wenigstens Beweise durch genaue Anträge dem Gericht zur Verfügung stelle798; sie gebe es nur in Verfahren, in denen das Gericht auf die Beweistätigkeit der Parteien angewiesen sei797. Auch in Verfahren, die vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht würden, könnte das Gericht erhebliche Beweismittel übersehen oder von Beweismitteln in seiner Überzeugung irregeführt werden. Diese Gefahr vergrößere sich dort, wo eine Person, beispielsweise im Strafprozeß der Angeklagte, allein über die Mitel verfüge, den Belastungsbeweis zu entkräften. „Wozu der Angeklagte rechtlich nicht verpflichtet ist, nämlich den Belastungsbeweis zu widerlegen, dazu nöthigt ihn in solchen Fällen sein eigenes Interesse"798. Diese Erscheinung nennt Glaser die faktische Beweislast199. Der Begriff der faktischen Beweislast hat sich nicht durchsetzen können; die durch ihn bezeichnete Erscheinung wird weitgehend nicht beachtet800. Dagegen ist die Unterscheidung zwischen materieller und formeller Beweislast — überwiegend als objektive und subjektive Beweislast oder Feststellung- und Beweisführungslast bezeichnet801 — insbesondere aufgrund der Untersuchungen Rosenbergs zu einem festen Bestandteil in der Beweislasttheorie geworden, wenn auch bei der Diskussion von Beweislast791
Vgl. oben N. 705. 792 Ygj_