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German Pages 266 [267] Year 1967
BRUNO THÜRING
Die Gravitation und die philosophischen Grundlagen der Physik
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 26
Die Gravitation und die philosophischen Grundlagen der Physik
Von
Prof. Dr. Bruno Thüring ehem. Direktor der Univereitäts·Sternwarte Wien
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1967 bei Berliner Buchdrucker ei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1967 Duncker
Inhaltsverzeichnis Vorwort
9
Einleitung: Die große Weltmaschine und der Empirismus
13
Erstes Kapitel
1. 2. 3. 4. 5.
Allgemeine Prinzipien, Geometrische und kinematische Grundlagen
29
Das Prinzip von der pragmatischen Ordnung . ..... ........ · · · · · · · · Ober die Messung überhaupt . .. ... ..... . ...... .. ....... · . · · · · · · · · · Die erste und einfachste Messungsbasis ...... .. ........ · · · · · · · · · · · · Die Zeit und ·die Zeitmessung .............. .. ............... · · · · · Die Wurzel der exakten Wissenschaft .... .. ............... . · · · · · ·
29 34 36 44 50
Zweites Kapitel Das Fundamental-Koordinatensystem für Drehbewegungen 1. Die Antithesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die eindeutige Auflösung der Antithesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Coppernicanische Problem der Bewegung der Erde . . . . . . . . . . . . 4. Das Problem einer translatorischen Bewegung der Sonne . . . . . . . . . .
52 52 57 67 71
Drittes Kapitel Die Kausalität und das Gravitations-Gesetz 1. Vorbemerkungen zum Begriff des Inertialsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empirische Abhängigkeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 75 77
3. Die Idee der physikalischen Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Die protophysikalische Definition der einfachsten physikalischen Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 5. Der Begriff der Masse und der Satz von der allgemeinen Gravitation. Das Denkverfahren der Exhaustion. Der Begriff ·der Kraft . . . . . . . . 92
6
Inhaltsverzeichnis
6. Gibt es absolute Drehbewegungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 7. Die träge Masse ............ . ................ . .............. .. .... 105 8. Historisches zum Denkverfahren der Exhaustion ... . . . ........... . 107 9. Kraft und Trägheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 10. Der eingeschränkte Kraft-Begriff; die causa formalis und die causa efficiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Viertes Kapitel Realisierung des Gravitations-Axiomen-Systems
128
A. Geistige Realisierung des Gravitations-Axioms durch Modell-Bildung 128 1. Von Ptolemäus über Kepler zu Newton ................... . ...... 128 2. Die Massenbestimmung der Planeten und Monde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
3. Die Masse der Erdmondes; die Gezeiten; die Mondbewegung ........ 139 4. Die Entdeckung des Planeten Neptun ......... .. ............... .. .. 145 5. Die Entdeckung des Planeten Pluto .......... .. ................ . . .. 150 6. Die empirischen Unstimmigkeiten in der Bewegung der vier innersten Planeten ... .. . . .... . . ....... .. . .. . .. ............ . ............ . ... . 7. Das Vakuum zwischen den Planeten .. . ...... ... .............. . ... 8. Anomalien in der Bewegung der Kometen .. .... . . ... . ....... .. ... 9. Die Massenbestimmungen an Körpern außerhalb des Sonnensystems a) Doppelsterne: das System Zeta Cancri . .. . ................ .. .. b) Kosmische Wolken und Nebel .......... .. .. . ............. .. ..
151 158 159 161 161 164
B. Manuelle Realisierung des Gravitations-Axioms . . .. . . . . ... . . .. . .. . . 166 1. Die vier Arten der Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
2. Realisierung I: Die gewöhnliche Waage als statisch-partielle Realisierung des Gravitations-Axioms . . ............ . .......... . ... ... . . .. 167 3. Realisierung II : Der freie Fall als nicht-statische partielle Realisierung des Gravitations-Axioms ... .. . . .......... . .. .. ................. . .. 171 4. Die Galilei-Legende ....... . . .. . .. .. .. . ......... .. . .. .. ... . ....... 175 5. Realisierung III: Das Cavendish-Experiment als statische totale Realisierung des Gravitations-Axioms. Die sogenannte Gravitations-Konstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 6. Das Elektrizitäts-Gesetz von Coulomb in seinem Verhältnis zur Gravitation . . .............. .. . . ...... . ...... .. ..... . ............. 184 7. Realisierung IV: Die Astronautik als totale nicht-statische Realisierung des Gravitations-Axioms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Inhaltsverzeidmis
7
8. Zum Begriff der "Schwerelosigkeit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 9. Künstliche Gravitation? .... . ................ . ................ .. .. 196 10. Zwei mögliche, aber der Zukunft vorbehaltene Weltraum-Experimente 198 11. Der Stoß und seine Beziehungen zum Gravitations-Axiom ..... . .... 202 12. Die Welle und das physikalische Medium; Gravitation und Licht .... 205
Fünftes Kapitel Koderungen und Erklärungsversuche des Newton'schen Gesetzes; Nicht-Newton'sche Physiken
211
Vorbemerkung zu deskriptiver Physik und Astronomie ........... . . . .. 211 1. Formale Abänderungen des Gravitations-Gesetzes unter Beibehaltung der operativen Geometrie .......... . . . .. .. . .. . . ................. . 212 a) Erste Versuche . ... . ... . ....... . . .......... .......... ... . .... .. 212 b) 1\nderungen des Newton'schen Gesetzes mit kausaler Scheinbegründung ......... . ............... ... ............... ... .... 214 c) Denkmöglichkeiten ........................................... . 219 2. Einschneidende 1\nderung des Gravitations-Axiomensystems unter gleichzeitiger Verwendung einer nicht-Euklidischen Geometrie ..... . 223 3. Abänderung des Gravitations-Axiomensystems durch Einführung statistischer und dualistischer Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4. Kausale Erklärungsversuche des Newton'schen Gesetzes ...... . ..... 230 5. Zur psychologischen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6. Das Inertial-System . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 234
7. Der Energie-Erhaltungs-Satz und ·das perpetuum mo'bile ..... . ...... 240
Rückblick und Schluß
248
Personenverzeichnis
252
Sachverzeichnis
255
"Wo faß ich dich, unendliche Natur?" Goethe, Faust
Vorwort Dieses Buch wendet sich gleichermaßen an den astronomisch oder physikalisch wie an den naturphilosophisch Interessierten; es behandelt die Fundamental-Fragen der Astronomie und der Physik, es will diesen Wissenschaften tragfähige Fundamente geben und auf dieser Grundlage eine Reihe berühmter Fragen in wohlbegründeter Weise beantworten. Es will so ein Beitrag zur Bewältigung der seit Beginn unseres Jahrhunderts schwelenden Grundlagenkrise der exakten Naturwissenschaften und der Naturphilosophie sein. Das Buch will vor allem unter Einhaltung strenger geistiger Ordnung jene wenig tragfähigen Brücken über nicht bewältigte Tiefen vermeiden, die durch das Schlagwort "Die Erfahrung lehrt" gekennzeichnet sind. Es will nicht einfach, wie üblich, z. B. das Wort "Masse" wie einen deus ex machina erscheinen lassen und so tun, als wüßte jedermann oder wenigstens der Physiker und Astronom, was Masse eigentlich sei oder bedeute. Da dem nämlich nicht so ist, kann auch das Wort "Kraft", von Kindesbeinen an allen so vertraut, um so weniger aus der bloßen Erlebens-Sphäre in die Naturwissenschaft übernommen werden, als es dort sofort mit jenem deus ex machina ,.Masse" unlösbar verknüpft auftritt, nachdem dies viele Jahrhunderte lang nicht der Fall gewesen war und man sich trotzdem zu allen Zeiten auf das alltägliche Krafterlebnis berief. Und gar die, wie man meint, so alltäglidte "Sd1were" der Körper (gravitas), bis vor wenigen Jahrhunderten das Gegenstück zur "Leichtheit" (levitas) anderer Körper, wodurch diese "der Erfahrung entsprechend" nach oben getrieben wurden (eine Vorstellung, die heute aus der Physik vollständig verschwunden ist), hängt im Begriff der Gravitation mit jenem deus ex machina "Masse" auf eine Art zusammen, welche als ganz besonders geheimnisvoll, rätselhaft, wunderlidt und unheimlich empfunden und bezeichnet wird, soweit man sich nicht einfach mit dem schon erwähnten Zauber·· wort "Die Erfahrung lehrt" zufriedengibt.
10
Vorwort
Der Verfasser weiß sehr wohl, daß er mit diesem Buch im Grenzgebiet zweier wissenschaftlicher Welten wandert, welches von Physikern und Astronomen meist ebenso gemieden wird wie von Naturphilosophen; die Physiker und Astronomen bezeichnen den Wanderer im Grenzgebiet als Philosophen, dessen Denken nichts mit der Natur zu tun habe und sie somit wenig oder nichts angehe; dem Philosophen aber sind die physikalisch-astronomischen Fragestellungen und bisherigen Lösungsversuche zu fremd, als daß sie sich mit ihnen auseinandersetzen möchten; sie erklären sich also für unzuständig. Beide Haltungen werden aber diesem Gebiet der strengen geistigen "Methodik" nicht gerecht. lnsoweit es sich nämlich dort um Geistiges handelt, kann man es zur Philosophie rechnen, und insoweit es sich um die Erklärung von "Phänomenen" handelt, muß es zur exakten Naturwissenschaft gezählt werden. Es ist also jene Nahtstelle, in welcher notwendig "das Empirische" vor das Forum strengen Denkens gestellt wird und seine Ansprüche nüchtern und ohne Vorurteile untersucht werden. Weder die exakten Naturwissenschaften noch die Naturphilosophie werden auf die Dauer darum herumkommen, diesen Dingen wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher und von jenem Schubfach-Denken abzugehen, welches zwischen methodischer Naturphilosophie einerseits und exakter Naturwissenschaft andererseits einen unüberbrückbaren Graben aufgerichtet hat, während in Wahrheit gerade an dieser Grenze die Lösungen der Fundamental-Probleme beider wissenschaftlichen Welten zu finden sind. Dies zu zeigen ist der Zweck des vorliegenden Buches. Die Einleitung gibt einen überblick über die Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens bis in die neuere Zeit und wirft erstes Licht auf den Begriff "Masse" und auf das Newtonsehe Gesetz der allgemeinen Gravitation. Das 1. Kapitel versucht vor aller messenden Erfahrung eine Ordnung in das Denken zu bringen, welche dann nicht mehr verlassen werden soll. Dabei treten bereits so abgründige Gedankengebilde wie die sog. "Nicht-Euklidischen Geometrien" ins Blickfeld, sowie die physikalische "Zeit" und die Möglichkeit ihrer Messung. Das 2. Kapitel versucht von vorneherein eine unangreifbare geistige Ordnung in alles das zu bringen, was man Bewegung nennt, und schafft den universellen geistigen Rahmen hierfür im Fundamental-Koordinaten-System.
Vorwort
11
Das 3. Kapitel erschließt auf der in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten geistigen Ordnung das bisherige Geheimnis des Gravitationsgesetzes und jenes deus ex machina "Masse". Auch zwei weitere Fundamentalbegriffe alles bisherigen naturwissenschaftlichen Denkens, "Kraft" und "Trägheit", erscheinen in einer neuen Bedeutung, die auf die Einzelfragen der nächsten Kapitel in überraschender Weise klärend wirkt. Die mit diesen neuen Begriffsbestimmungen begründete neue, "methodische" Physik ist keine klassische, aber auch keine relativistische Physik im bisherigen Sinne: Denn die letzten Reste des Glaubens an absolute Wesenheiten in der Natur, welche auch in der relativistischen Physik noch vorhanden sind, verfallen der Auflösung; Newtons berühmter "Eimerversuch" verliert seine bisherige Rätselhaftigkeit; die Gravitationsbewegung wird als kraftfreie Trägheitsbeschleunigung erkannt, analog, aber entgegen der mittelalterlichen Scholastik, wo die Ruhe als ein "Von-selbst-Zustand", und analog, aber entgegen der klassischen Physik, wo die gleichförmig-geradlinige Bewegung als "Von-selbst-Bewegung" deklariert worden war, beides aber ohne zureichende Begründung. Die Anwendbarkeit des Kraftbegriffes wird in der neuen methodischen Physik auf diejenigen empirischen Fälle eingeschränkt, deren Erklärung durch Gravitation allein bis heute nicht gelungen ist. Im 4. Kapitel werden einige Spezialfrüchte der neuen methodischen Physik geerntet. Die astronomischen Bestimmungen der Massen der Planeten und Monde, die Gezeiten, die Entdeckung des Planeten Neptun durch Leverrier (1840) sowie andere Tatsachen und Phänomene der Astronomie erhalten ein neues Gesicht; ganz besonders trifft dies auf die vier Arten unmittelbarer manueller Realisierung von Gravitationsvorgängen zu: Die Waage, der freie Fall, das Experiment von Cavendish und die Möglichkeit und Verwirklichung der Astronautik (Welt-Raumfahrt). Die weit verbreitete Galilei-Legende über die Entdedmng der Fallgesetze wird ebenso berichtigt wie der widerspruchsvolle Begriff der "Schwerelosigkeit", der heute die astronautische Literatur beherrscht. Neuartige Zusammenhänge zwischen Gravitation und Stoß, Welle und Licht werden sichtbar. Das 5. Kapitel behandelt schließlich viele Denkbemühungen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die zum Zusammenbruch der klassischen Physik geführt haben und zu immer erneuten und wieder verworfenen Versuchen, an ihrer Stelle ein tragfähiges Gebäude zu errichten.
1i
Vorwort
Angesichts der Nicht-Realisierbarkeit des Ideals einer nur empirischen, aber dennoch objektiven Physik und Astronomie glaubte man notgedrungen an allgemeine (metaphysische) Sondereigenschaften der Gesamtnatur, wie etwa an bestimmte Strukturen des Weltraums und der Zeit als selbständiger Wesenheiten, an eine absolute Drehung von Körpern, an die selbständige Existenz von "Inertialsystemen" und damit an eine weitere absolute Eigenschaft des Raumes, an eine absolute Geschwindigkeit (des Lichtes), an eine absolute Naturkausalität und alles in allem - überhaupt an eine rationale Struktur der Gesamtwelt als einer Art Weltmaschine, die man aber in klarer Erkenntnis der von ihr ausgehenden verheerenden Konsequenzen für unser eigenes Dasein doch auch wieder überwinden möchte. Wer sich, aufgeschlossen für neue Wege, aber kritischen Geistes von diesem Buch hat durch die Schwierigkeiten einer echten Grundlegung der Physik hat führen lassen, wird vielleicht mit dem Verfasser zur Einsicht gelangen oder sie bestätigt finden, daß alle jene Absolutheiten als solche gar nicht existieren und daher auch nicht den Menschen irgendwie zu binden vermögen. Denn sie sind seine eigenen Geschöpfe, existieren also nur relativ zu ihm, sind seine Werkzeuge, die er in Freiheit ergreifen oder beiseitelegen kann, um die Natur mit ihrer Hilfe zu interpretieren, sogar zu bestimmten Zwecken zu verändern - oder sie so zu belassen, wie er sie unmittelbar erlebt. Da das Gravitationsgesetz im Zentrum der Bemühungen dieses Buches steht und dieses Gesetz eine, wenn auch sehr einfache, mathematische, d. h. formelhafte Gestalt besitzt, so ist es unumgänglich, einige einfache mathematische Formulierungen und Deduktionen durchzuführen. Sie überschreiten aber nicht den durch eine Gymnasial- und Oberschulbildung gezogenen diesbezüglichen Rahmen. Karlsruhe, Juni 1967
Bruno Thüring
Einleitung
Die große Weltmaschine und der Empirismus
Schon die ältesten Völker, von denen die Geschichte Kunde gibt, aber auch die heutigen primitiven Völker und Menschen, ja sogar die höheren Tiere, hatten und haben die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und sie für die Zwecke ihres Daseinskampfes nutzbringend zu verwenden. Diese Erfahrungen sind im allgemeinen ungeordnet, zufällig, unzusammenhängend, ja vielfach einander widersprechend, unsicher und vieldeutig. Es wird wenige geben, welche dies schon als Wissenschaft bezeichnen wollten. Den Griechen des Altertums gelang ein demgegenüber grundlegend neuer Schritt von unübersehbarer Bedeutung für die Zukunft: Die Entdeckung der Ideen. Mit ihrer Hilfe konnten sie zum ersten Male in der Menschheitsgeschichte absolut sichere und eindeutige Aussagen machen, und sie schufen in der klaren Geordnetheit derselben eine Wissenschaft von Ideen (Episteme), die im Gegensatz zur bloßen Meinung (doxa) stand. Plato (427-347 v. Chr.) erkannte, daß diese Ideen die Eigenschaften der Ewigkeit und Unveränderlichkeit besitzen. Ihnen, die also gerade das Gegenteil des Irdischen, fortwährend Veränderlichen zu sein schienen, wenn auch für Plato durchaus substantieller Natur, wies er als Ort den Raum "hinter dem Fixsternhimmel", den "überhimmlischen Ort" zu. Vom 5. bis 3. Jahrhundert v. Chr. vermochten die Griechen fünf in sich geschlossene Wissenschaften von Ideen aufzustellen: Die Harmonik (Pythagoras), die Arithmetik (Pythagoras), die Logik (Aristoteles), die Geometrie (Euklid) und die Statik (Archimedes). Die Eigenschaft, lediglich aus Ideen zu bestehen, ist der Grund dafür, daß sich an ihrem Gebäude bis heute nichts Wesentliches ändern konnte. Die Ideen, von denen diese fünf Wissenschaften handeln (Begriffe, Sätze etc., Geraden, Ebenen etc., Zahlen, Gewichte, Proportionen etc.) sind zeitlich konstante Gebilde. Wir können daher sagen: Die alten Griechen stellten die Wissenschaft vom Konstanten, Unveränderlichen auf.
14
Einleitung
Diesem steht die unendliche Fülle des Veränderlichen in der Wirklichkeit gegenüber. Bei Aristoteles, der die Ideen "Formen" nennt, findet sich auch schon ein wichtiger Ansatz zu einer ideellen Wissenschaft vom Veränderlichen in seiner Lehre von den Kreisbewegungen der Himmelskörper, von gewissen geradlinigen Bewegungen irdischer Körper (z. B. Fallbewegung), und in seinem Bewegungsgesetz für irdische Körper: Geschwindigkeit = Kraft: Widerstand. Speziell die altgriechische Astronomie lebt von der Idee einer kreisförmig-gleichförmigen Bewegung, und die verschiedenen Epizykel- und Exzentrizitäts-Theorien von Aristarch über Hipparch, Ptolemäus, über die Scholastik, bis herauf zu Coppernicus sind nichts anderes als Abwandlungen dieses Aristotelischen Bewegungsbegriffs. Man kann ihnen auch nicht ihre große praktische Bedeutung und Bewährung, ihren "Erfolg", absprechen. Eine ideelle, systematische Wissenschaft des allgemeinen Veränderlichen hat sich erst sehr allmählich und in jahrhundertelangen Bemühungen vieler mittelalterlicher scholastischer Denker vorbereitet, welche die Aristotelischen Ansätze modifizierten und kritisch weiterentwickelten. Bei der Behandlung der Frage, wie das Veränderliche, das "Fließende", ideell, d. h. begrifflich exakt, zu fassen sei, stellte Albertus Magnus (1193-1280) die Alternative der "forma fluens" (fließende Idee) und des "fluxus formae" (Fließen als Idee) heraus, worüber jahrhundertelang diskutiert wurde. Ähnliches gilt für das Ursache-Wirkungs-Verhältnis, welches im Streit um die (ontologische) Existenz und das Verhältnis von Zweck-Ursachen (causae finales) und Wirk-Ursachen (causae efficientes) zu klären versucht wurde. Ähnliches gilt auch für die methodologische Frage nach der Art der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, wo der Lehre von Nicolaus von Autrecourt (14. Jahrh.) u. a., daß es keine sichere Erkenntnis außer der "Evidenz" gebe (die sich auf den Satz vom Widerspruch müsse zurückführen lassen) die Lehre von der "Induktion" gegenüberstand, welche in Joh. Buridan im 14. Jahrhundert ihren bedeutendsten Vertreter fand. Hiernach wird hinreichende Sicherheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis dadurch erreicht, daß sie in vielen Einzelfällen erprobt und in keinem widerlegt worden ist. Vorbereitet durch Robert Grosseteste (1175-1253), Roger Bacon (1210-1292), Albertus Magnus, Thomas von Aquin (1225-1274) u. a., muß insbesondere das Jahrhundert zwischen 1277, als Ägidius Romanus (1247-1316) seinen Physik-Kommentar verfaßte, und etwa 1397, wo Blasius von Parma (gest. 1416) seine Quaestiones für Physik schrieb, in
Die große Weltmaschine und der Empirismus
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vieler Hinsicht als ein großer Schritt vorwärts in Richtung einer Wissenschaft vom Veränderlichen betrachtet werden. Die heute weitverbreitete Meinung, daß die Scholastiker IediglichNachbeter des Aristoteles gewesen seien, ist ganz unrichtig; man kann im Gegenteil sagen, daß die Physik des 14. Jahrhunderts in manchem geradezu eine Revolution gegen Aristotelische Vorstellungen gebracht hat, ohne welche das Entstehen der "klassischen" Physik des 17. Jahrhunderts nicht wirklich verstanden werden kann. Zu Beginn dieses Zeitraums, also in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, konnte von dem heute für so selbstverständlich gehaltenen "kausalen Denken" in der Naturwissenschaft nur mit größter Einschränkung die Rede sein. Man war da allgemein der Ansicht, daß es auch ursachelose Vorgänge gebe, ja daß die "contingentia" (eine Art statistischer Gesetzlichkeit) und der Zufall (casus, causa per accidens) den größeren Anteil am Weltgeschehen hätten. Der Gedanke einer strengen, durchgängigen, kausalen Determiniertheit des Weltgeschehens ist 1277 von der Kirche sogar offiziell verurteilt worden. Eine der als häretisch verurteilten Thesen lautete: "daß nichts aus Zufall, sondern alles aus Notwendigkeit geschieht, und daß alles, was in Zunkunft sein wird, mit Notwendigkeit so sein wird, und alles, was nicht sein wird, seinsunmöglich ist, und daß nichts in bloß statistischer Weise (contingenter) geschieht, wenn man alle Ursachen berücksichtigt1." Einen ersten bedeutenden Schritt macht Agidius Romanus (General der Augustiner-Eremiten) in seinem Physikkommentar 1277, indem er nicht nur das Prinzip von der Erhaltung der Materie ausspricht, sondern auch zwei Arten von Quantität in der Materie (duplex quantitas) postuliert, eine, welche die Masse (massa), und eine, welche das Volumen ausdrückt2. Das Verhältnis beider Quantitäten definiert er als "Dichte"; diese Definition ist später von der klassischen Physik übernommen worden und findet sich heute in jedem Physik-Lehrbuch. Die Ursache allen Naturgeschehens sieht Agidius Romanus (im 2. Buch seines Physik-Kommentars 1308/9) in der Final-Kausalität (causa finalis), d. h. in dem Bestimmtsein vom Endziel her (Zweckursache): "Agentia naturalia agunt propter finem". Allerdings ist dabei jeder 1 Lateinischer Originaltext bei Anneliese Maier: "Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert", Seite 220, Rom 1949. 2 Interessant zu bemerken, daß Agidius Rom. dabei von Betrachtungen zum sacramentum altaris ausgegangen ist, siehe A. Maier, a.a.O., Seite 31.
16
Einleitung
Finalursache - wie schon bei Aristoteles eine Wirkursache (causa efficiens) zugeordnet, welche das Geschehen zum Ziel hin lenkt. Aber schon bei Guido Terreni (1315) fallen diese beiden KausalitätsArten wesensmäßig zusammen: er lehrt, daß auch die Finalkausalität letzten Endes Wirkkausalität sei, sieht sich aber damit bereits der schwierigen, auch heute noch durchaus ernsten Frage gegenüber, wie dann die Willensfreiheit des Menschen gerettet werden könne. Fast ganz nach der anderen Seite schlägt das geistige Pendel dann bei Johannes Huridan aus, dem wohl bedeutendsten Denker des 14. Jahrhunderts (Paris). In seinem Physik-Kommentar (1328) legt er dar, daß "was noch nicht ist, auch nicht Ursache von etwas sein kann, das ist" und "was die letzte Wirkung einer Reihe von Ursachen ist, nicht selbst deren Ursache sein kann" 3 • Huridan lehnt daher die Finalkausalität radikal ab und sieht die alleinige Ursache des Weltgeschehens in der WirkKausalität, in den causae efficientes, wobei Gott die höchste causa efficiens ist, auf welche alle Wirkungen zurückgehen. Mit dieser Lehre ist eine durchgehende natürliche, gewissermaßen mechanische Determiniertheit des Naturgeschehens ausgesprochen, ein allgemeiner reiner Kausalzusammenhang ohne Ziel und Richtung; auch die bisherige inclinatio naturalis, die natürliche Neigung zu etwas, ist jetzt Wirkkausalität; alles, was ohne Intellekt und Wille ist (alle artificialia und agentia naturalia), ist ausschließlich beherrscht gedacht von Wirkursachen und der durch sie bedingten Notwendigkeit, wobei freilich die Freiheit der menschlichen Willensentscheidungen und insbesondere Gottes unberührt bleibt. Aber wie weit greift Huridan doch in die Zukunft, wenn er schreibt: "Und wenn Gott die Himmelskörper immer in derselben Weise weiterbewegen und nie mit Wundern in den Weltlauf eingreifen würde, und wenn es keine freien Willenshandlungen gäbe, so wäre schon jetzt alles, was künftig geschehen wird, festgelegt und es müßte mit Notwendigkeit und mit unfehlbarer Gewißheit eintreten4 ." Kontingenz und Zufall gibt es für Buridan nur für unser unzulängliches Erkennen, wie er in seinem Kommentar zur Metaphysik lehrt. Auch das berühmte Dilemma des "Buridanschen Esels" - wir würden 3 Siehe Anneliese Maier: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom 1955, Seite 301/302; dort auch der lateinische Originaltext. 4 Lateinischer Originaltext bei A. Maier; Metaphysische Hintergründe etc., Seite 319.
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das heute ein Gedanken-Experiment nennen - gehört in diesen Begründungs-Zusammenhang. In Buridans Auffassung erkennen wir das erstemal in der Geistesgeschichte die Vorstellung von der ontologischen Existenz von Naturgesetzen im modernen Sinne des Wortes. Auch in seinem Eintreten für die "Induktion" als naturwissenschaftliche Erkenntnismethode mutet Buridan ganz neuzeitlich an, allerdings auch in seinem Unvermögen, diese Auffassung wirklich begründen zu können. Er flüchtet sich dafür in die bedauerliche Methode der Herabsetzung des Gegners, wenn er schreibt: "Wer derartige Begründungen in den Naturund Moralwissenschaften nicht anerkennen will, ist nicht wert, in ihnen eine große Rolle zu spielen5." Als besonders wichtige Art einer Veränderung wurde stets der motus localis, die Bewegung als Ortsveränderung, betrachtet. Hier ging die Spätscholastik besonders weit über die Aristotelische Physik durch die Schaffung des Impetus-Begriffs hinaus. Es begann mit Franciscus de Marchia (um 1320 in Paris), der die Wurfbewegung im Gegensatz zu Aristoteles, aber unter Aufrechterhaltung seines Bewegungs- und KraftGesetzes (siehe oben), damit erklärt, daß der Werfende dem geworfenen Gegenstand eine bewegende Kraft (vis derelicta) überträgt, die für die Weiterbewegung des Gegenstandes sorgt, bis sie von selbst erlischt. J. Buridan setzt an die Stelle dieser von selbst erlöschenden Kraft einen permanenten "Impetus", welcher nur durch äußere Widerstände oder innere Tendenzen zerstört werden kann; solange das nicht geschieht, bewegt er den Gegenstand weiter, jedoch ist ein immerwährendes Weiterbewegen infolge des Fehlens von Widerständen nur bei himmlischen Bewegungen möglich, nicht bei irdischen. Nikolaus von Oresme (Oresmus) operiert sogar, wenngleich unter Berufung auf ein nicht vorhandenes Phänomen (anfängliche Wurfbeschleunigung nach der Trennung des geworfenen Gegenstandes, siehe A. Maier: Die Vorläufer Galileis etc., Seite 137), mit dem Gedanken, daß der Impetus eine Beschleunigung bewirke. Nach mancherlei Rückschlägen in der Folgezeit trug die Buridansche Impetus-Theorie den Sieg davon und war Ende des 16. Jahrhunderts (also 200 Jahre nach Buridans Tod) allgemein angenommene Schulmeinung. Auch Galileo Galilei (Anfang des 17. Jahrhunderts) gehörte noch zu ihren Anhängern, wenngleich er die entscheidende Wendung zur Physik-Revolution des 17. Jahrhunderts eingeleitet hat. Buridans Bewegungs-Begriff als ,,fluxus formae" warf noch eine weitere Frucht ab: Im Jahre 1397 zieht Blasius von Parma m semen 5
Lateinischer Originaltext bei A. Maier, a.a.O., Seite 385, 387.
2 Thüring
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Einleitung
Quaestiones zur Physik aus diesen Ideen die letzten Konsequenzen, indem er das Inertial-Prinzip der späteren klassischen Physik zum ersten Male ausspricht: Die geradlinige Ortsveränderung (motus localis) ist ein Zustand des bewegten Körpers, der sich, einmal erzeugt, von selber erhält, bis er von außen zerstört wird6 • Doch war die Zeit für ein Verständnis der Tragweite dieser These noch nicht reiF. Parallel mit dem Ausbau der Impetus-Theorie, welche im wesentlichen die horizontale Bewegung betraf, vollzog sich im 13./14. Jahrhundert eine entsprechende Wandlung der Aristotelischen Vorstellungen über die vertikalen Bewegungen, diejenige nach oben, die levitatio, und die nach unten, die gravitatio. Nach der von Aristoteles überkommenen Lehre waren dies "natürliche Bewegungen" (motus naturales) zum "natürlichen Ort" (locus naturalis) hin, als welche im ersten Fall die Mondsphäre (sphaera lunae), im letzteren Falle der Erdmittelpunkt galt, wenigstens soweit es das absolut leichte Element (das Feurige) bzw. das absolut schwere Element (das Erdige) betraf. Die beiden bewegenden Kräfte waren die levitas bzw. gravitas, die Leichtheit bzw. die Schwere. Bei der Behandlung der von Aristoteles offen gelassenen Frage nach dem Wesen dieser beiden "Qualitäten" und im Anschluß an die Deutung von Averroes, daß bei der Vertikalbewegung außer gravitas und levitas auch das äußere Medium eine wesentliche Rolle spiele und die betreffenden Körper sich lediglich passiv verhalten, kommt Duns Scotus (12701308) zu der Auffassung der gravitas und levitas als inneren, dem Körper inhaerierenden Kräften; die Körper bewegen sich dann also "von selbst", sie sind aktiv an der gravitatio und levitatio zum "natürlichen Ort" hin beteiligt. Levitas und gravitas treten damit in Analogie zum "Impetus" mit dem einzigen Unterschied, daß der letztere dem geworfenen Stein mit Gewalt eingeprägt und von außen her wieder zerstört wird, was bei gravitas und levitas nicht möglich ist. Des weiteren nennt Nikolaus v. Oresme, abweichend von Aristoteles, als Ursache der gravitatio die "Neigung zum .1\.hnlichen" (inclinatio ad simile), ein Ge6 Lateinischer Originaltext bei A. Maier: Zwischen Philosophie und Mechanik, Rom 1958, Seite 141/142: " ... motus localis rectus est dispositio inhaerens mobili ... motus localis est qualitas gradualis intensibilis et remissibilis, mobili inhaerens subiective ... talis qualitas, quae est motus, non potest subito deperdi." 7 A. Maierbezweifelt (a.a.O.), ob Blasius selbst sich über den Gehalt und die Tragweite seiner These im klaren war. (a.a.O., Seite 143).
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danke, der durchaus in die Richtung der späteren "klassischen" Vorstellungen weist: Die einander ähnlichen Dinge streben von sich aus aufeinander zu. Noch Coppernicus (Koppernigk) (1473-1543) steht 200 Jahre später auf diesem Standpunkt, wenn er schreibt (in "De revolutionibus orbium caelestium" I cap. 9), "daß die Schwere (gravitas) nichts anderes ist, als ein von der göttlichen Vorsehung des Weltenmeisters den Teilen eingepflanztes, natürliches Streben, vermöge dessen sie dadurch, daß sie sich zur Form einer Kugel zusammenschließen, ihre Einheit und Ganzheit bilden" 8 • Von einer "Attraktion", einer Anziehung, ist hier keine Rede. Vorstellungen solcher Art, wie sie etwa zuerst Roger Bacon (12101292) vertrat, indem er den locus naturalis als causa efficiens, den natürlichen Ort als Wirk-Ursache für die gravitatio auffaßte, konnten sich im 14. Jahrhundert noch nicht durchsetzen. Dieses und die folgenden Jahrhunderte waren noch vom Problem des Zusammenhangs zwischen Geschwindigkeit, Kraft und Widerstand belastet, und schon in diesen Bemühungen ist ein ständiges Sichloslösen von Aristotelistischer Dogmatik zu erkennen. 1328 ersetzt Thomas Bradwardine die Aristotelische Beziehung: Geschwindigkeit = Kraft: Widerstand, durch eine - wie wir heute sagen würden - logarithmische, wonach Geschwindigkeit = log (Kraft: Widerstand) ist. Aber die Fall-Beschleunigung bleibt als großes Rätsel geistig noch unbewältigt, bis es Joh. Buridan unternimmt, seine Impetus-Lehre auf die gravitatio anzuwenden; hiernach soll die gravitas eine Bewegung nach abwärts erzeugen sowie einen Impetus im bewegten Körper. Dieser bewegt als Kraft den Körper weiter nach abwärts und addiert sich zur stets unverändert vorhandenen gravitas, die nun ihrerseits wieder Bewegung und neuen Impetus erzeugt usw. Die analogen Vorstellungen für die levitas zu entwickeln, wird von Buridan und auch sonst von den mittelalterlichen Autoren meist dem Leser überlassen. Der im Buridanschen Gedankengang liegende logische Zirkel hat aber den Denkern jener Zeit arg zu schaffen gemacht. Nikolaus Oresme modifiziert den Buridanschen Impetusbegriff dahingehend, daß der Impetus eine Beschleunigung erzeugt, aber selbst ebenfalls durch eine Beschleunigung erzeugt 8 Originaltext: Equidem existimo gravitatem non aliud esse quam appetentiam quandam naturalem partibus inditam a divina providentia Opificis universorum, ut in unitatem integritatemque suam sese conferant in formam globi coeuntes. (Siehe auch A. Maier: An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, Rom 1952, Seite 173.)
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wird, nähert sich aber doch damit bereits dem späteren klassischen Kraftbegriff des 17. Jahrhunderts. Auch macht die denkerische Verarbeitung des Beschleunigungsbegriffs den Gesichtspunkt eines tatsächlichen Durchlaufens von Geschwindigkeits-Zwischenstufen (im Gegensatz zur Aristotelischen Physik) bewußt und fördert so die allmähliche Entdeckung des Infinitesimalen (z. B. Zeit-Differential anstelle des Augenblicks) und s~::ine Verwendung in der Physik. Schließlich wird jener logische Zirkel dadurch beseitigt, daß man die definitorische Bindung des Impetusbegriffs an die Geschwindigkeit aufgibt: Die gravitas erzeugt in jedem Augenblick einen Impetus; diese vielen Impetus addieren sich und ergeben eine gleichförmig beschleunigte Bewegung. Diese Erklärung der Fallbeschleunigung finden wir noch im 17. Jahrhundert bei Descartes (Cartesius) (1596-1650), trotzdem inzwischen gerade durch ihn die Impetuslehre durch das neue, klassische Trägheitsprinzip ersetzt worden war. Aber noch ein anderes darf nicht unerwähnt bleiben: Nikolaus Oresme, wenngleich hierbei ziemlich phantastischen Ideen nachjagend, erfand im 14. Jahrhundert die "graphische Darstellung" von zeitlichen Abläufen, wobei er die "Zeit" als selbständige Form (Idee), als einen gleichmäßigen "fluxus" durch eine gerade Linie darstellte, auf welcher er senkrechte Strecken errichtete, deren Länge die "intensio" einer veränderlichen Größe, einer "Qualität", symbolisierte. Damit waren ganz allgemein zeitliche Abläl.lfe ideell-geometrisch erfaßbar geworden. Nehmen wir noch Thomas Bradwardine hinzu mit seiner Einführung der mathematischen Funktion zur Beschreibung von physikalischen Abhängigkeiten, so sehen wir von der Scholastik ein Arsenal neuer Begriffe und Methoden zusammengetragen, dessen Auswirkungen sich bis in unsere Zeit verfolgen lassen, teilweise sogar unverändert noch in Benützung ist. Daß es sich hier stets um Ideen gehandelt hat, und nicht um "Erfahrungen", wird in negativer Form in jenem weitverbreiteten Vorwurf ausgesprochen, die Scholastik (und auch die Aristotelische Physik) sei eine Physik ohne Experiment, ohne Messungen gewesen. Das ist zwar richtig, jedoch schon deshalb keine absolutes Negativum, weil gerade sie es war, welche in vielen Punkten erst die geistigen Voraussetzungen schaffen half, ohne die ein exaktes Messen - als ein nach bestimmten ideellen Richtlinien sich vollziehendes menschliches Handeln - gar nicht möglich ist. Die Spätscholastik hatte aber auch noch einen besonderen Anlaß, auf das Messen zu verzichten, ein Anlaß, der tragischerweise aus einer besonders hohen Auffassung von Wissenschaft erwuchs, nämlich die For-
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derung nach der Möglichkeit eines exakten Vergleichens. Die Situation kann nicht schöner als mit den Worten von A. Maier geschildert werden9: "Eine mathematische Genauigkeit erschien unseren Philosophen von vornherein als unerreichbar, und sie haben darum grundsätzlich auf jedes Messen verzichtet.... Ein Rechnen mit ungefähren Maßen, d. h. mit Näherungswerten, mit Fehlergrenzen und vernachlässigbaren Größen, wie es der späteren Physik selbstverständlich wurde, wäre den scholastischen Philosophen als ein schwerer Verstoß gegen die Würde der Wissenschaft erschienen. So sind sie an der Schwelle einer eigentlichen, messenden Physik stehengeblieben, ohne sie zu überschreiten - letzten Endes, weil sie sich nicht zu dem Verzicht auf Exaktheit entschließen konnten, der allein eine exakte Naturwissenschaft möglich macht." Einen entscheidenden Anstoß zu dieser hat Galileo Galilei (15641642) gegeben, wenngleich seine Rolle im heutigen Schrifttum häufig recht schief und unzutreffend dargestellt wird. Galileis Leistung geht von der Impetus-Lehre Joh. Huridans aus und zwar von deren spezieller Anwendung auf die himmlischen Bewegungen. Buridan hatte die himmlischen Intelligenzen (die Engel) als Himmelsbeweger durch einen himmlischen Impetus (impetus caelestis) ersetzt, welcher sich von den irdischen impetus dadurch unterscheidet, daß er von außen her nicht zerstört wird, da keine Widerstände bestehen, und somit eine gleichbleibende Geschwindigkeit garantiert. Die himmlischen Sphären bewegen sich hiernach also von selbst mit konstanter Geschwindigkeit. Galilei nun 300 Jahre später! - dehnt diese Impetus-Vorstellung auf irdische Bewegungen aus. Er hält auch hier - im Gegensatz zu Buridan - eine Bewegung für möglich, deren Impetus wegen Mangels eines Widerstandes nicht zerstört wird, und die daher von selbst mit konstanter Geschwindigkeit erfolgt. Er illustriert diesen Gedanken10 an der Idee einer auf einer vollständig glatten Unterlage im Vakuum rollenden Kugel; diese Unterlage dachte er sich als eine Kugeloberfläche mit dem Zentrum im Erdmittelpunkt11 • Da so auch die Wirkung der gravitas ausgeschaltet ist wie auch jeder Widerstand, liegt der Buridansche Fall einer himmlischen natürlichen Bewegung (motus naturalis) vor mit allen ihren Konsequenzen, obwohl es sich um eine irdische, gewaltsam erzeugte BeA. Maier: Metaphysische Hintergründe etc., Seite 402. Im zweiten Tag des "Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo". Einzelheiten siehe bei A. Maier: Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom 1951, Seite 306 ff. 11 Erst in seinen "Discorsi" tritt ohne nähere Erklärung die horizontale Ebene an die Stelle der Kugelfläche. 9
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wegung (motus violentus) handelt. Dies war ein bedeutender und mutiger geistiger Schritt; obwohl die alte Impetus-Lehre als solche nicht aufgegeben wurde, stellte diese Art ihrer Anwendung doch eine Abkehr von wesentlichen scholastischen Vorstellungen dar: In jenem "GedankenExperiment" zeigte die rollende Kugel keine inclinatio ad quietem, keine Tendenz zur Ruhelage mehr, sondern eher eine Tendenz, sich stets weiterzubewegen, und sie bewegte sich ohne Widerstand und doch mit endlicher Geschwindigkeit, was scholastischen Grundprinzipien widersprach (nämlich dem Gesetz von Kraft, Widerstand und Geschwindigkeit in allen seinen aufgetretenen Formen). Die Impetus-Vorstellung selbst hat Galilei noch nicht aufgegeben und somit das neue Trägheitsgesetz nicht in seiner Vollständigkeit ausgesprochen. Ein Freund von Descartes, I. Beeckman, scheint das zuerst getan zu haben (in seinem "Journal"): "Omnis res semel mota nunquam quiescit nisi propter externum impedimentum", d. h. Jedes Ding, einmal in Bewegung gesetzt, kommt nicht mehr zur Ruhe, es sei denn durch ein äußeres Hindernis 12• Von dieser Zeit an war dann die gleichförmige Bewegung eine Bewegung "von selbst", eine Kraft zu ihrer Aufrechterhaltung entfiel; eine Kraft konnte dann nur als Ursache einer Beschleunigung gedacht werden. Damit erhält auch die gravitatio ein neues Gesicht: bei Chr. Huygens (16291695) tritt an die Stelle des Impetus einfach eine gleichförmige Geschwindigkeit als Folge der momentanen gravitas. Da diese aber stets weiterbesteht, werden stets neue (konstante) Geschwindigkeiten erzeugt, welche sich zu der bisherigen addieren usw. Damit ist der gravitasBegriff als Kraftbegriff nur noch durch einen Grenzübergang vom Newtonsehen entfernt. Natürlich leben in diesen Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts beide Kraftbegriffe, der alte und der neue, noch nebeneinander her. Joh. Kepler (1571-1630) hatte noch in der ersten Auflage seines "Mysterium cosmographicum" (1596) den Planeten "Seelen" zugeschrieben und in dieser Beseeltheit in Aristotelischer Weise die Ursache ihrer Vonselbst-Bewegung gesehen. Aber schon in seiner "Astronomia nova" (1609) spricht er von der "Kraft" der Sonne, und in der zweiten Auflage des "Mysterium cosmographicum" spricht er deutlich aus, daß das Wort "Seele" durch "Kraft" zu ersetzen sei, wobei er freilich auch diesen Begriff in seiner Aristotelischen Definition meinte, indem er diese Kraft als in Richtung der Bahnbewegung wirkenden Antrieb zur Aufrechterhaltung der Geschwindigkeit der Planeten in Anspruch nahm. Deutt2
Siehe jedoch Blasius v. Parma (Seite 18).
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licher tritt der neue Kraftbegriff bei dem Arzt und Physiker William Gilbert (1540-1603) in seinem Werk über die Magneten (1600) hervor. In exakt mathematischer Form findet sich dann der neue Kraftbegriff :zuerst bei Chr. Huygens. Bei I. Bulliardus (1605-1694) und R. Hooke (1635-1703) nimmt der unscholastische Gedanke einer anziehenden Fernkraft zwischen Sonne und Planeten, welche mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, immer deutlichere Gestalt an und erreicht bei I. Newton (1642-1727) seine umfassende revolutionäre Wirkung. Bei ihm ist "Kraft" das Produkt aus Masse und Beschleunigung; der Begriff der Masse wird erstmalig streng von dem "Gewicht" unterschieden, andererseits die Masse durch das Gewicht erstmals praktisch meßbar. Der Begriff der Masse war dabei ganz im Sinne der Scholastik als die quantitas materiae, die "Menge der in einem Körpervolumen enthaltenen Materie" gedacht und als Produkt Dichte mal Volumen definiert, eine Formulierung, die, wie erwähnt, bereits Ende des 13. Jahrhunderts bei Ägidiüs Romanus vorgekommen war. "Materie" aber war nichts anderes als das "subiectum" von Veränderungen, so daß der Massebegriff und damit auch Kraftbegriff und Dichtebegriff doch noch einer vollen Definition ermangelten. Das Aufgeben der Impetus-Vorstellung hatte noch weitere Auswirkungen: Die gravitas als "inhaerierende Kraft" der Vonselbst-Bewegung verwandelte sich bei den Nachfolgern I. Newtons in eine Anziehungsoder Attraktions-Kraft eines Körpers auf einen anderen und vor allem in eine Fern-Kraft; Fernkräfte waren aber sowohl von der Scholastik fast durchwegs abgelehnt worden als auch waren sie Anlaß zur Kritik an der Newtonsehen Gravitationstheorie in der Folgezeit bis auf den heutigen Tag. Aber I. Kant brach für sie eine Lanze und die Newtonsehe Fern-Gravitationskraft gehört heute zum alltäglichen Vokabular der Astronomen und Physiker. Seit Newton gibt es auch keine levitas mehr: Die gravitas wurde (in der Folgezeit unter der Bezeichnung "Gravitation") zur alleinigen Eigenschaft aller Materie. Das war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer messenden Physik. Denn dieses Fortfallen der levitas ermöglichte erst, eine "Masse" durch ihr Gewicht eindeutig zu messen. Vorher nämlich führte begrifflich eine Anhäufung leichter Massen zu einer Erhöhung der levitas, der Leichtheit, eine Anhäufung schwerer Massen zu einer Erhöhung der gravitas, der Schwere. Seit Newton gibt es in der exakten Wissenschaft allein die zweite Alternative.
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Der praktische Erfolg Newtons in der einheitlichen geistigen Bewältigung ("Erklärung") einer bis dahin ungeahnten Vielzahl der verschiedensten Naturerscheinungen, auch von "Levitationen", besonders in der Weite des Weltalls war überwältigend, und so erschien hier schon trotz aller begrifflichen Schwierigkeiten in immer greifbarerer Gestalt der alte Buridansche Gedanke, daß die Natur durch ewige mathematische u.nd exakte Naturgesetze beherrscht sei; deren tieferes Wesen blieb jedoch rätselhaft. Schon zu Lebzeiten Newtons wurde über das Wesen seines Gesetzes der allgemeinen Gravitation lebhaft diskutiert; da die scholastische Vorstellung körper-inhärenter Bewegungskräfte (wie etwa der Impetus) inzwischen verpönt war und folglich auch der Gedanke einer der Materie inhärenten Anziehungskraft als "qualitas occulta" abgelenht wurde, z. B. von Leibniz, sprach Newton notgedrungen sein berühmtes "hypotheses non fingo" (ich mache keine Hypothesen hierüber) aus und war mit seinen Schülern geneigt, im allgemeinen Gravitationsgesetz das unmittelbare Wirken Gottes zu sehen, der mit seiner Hilfe das Weltall lenke und leite, was allerdings auch ein alter scholastischer Gedanke war. Während sich im 17. Jahrhundert diese Revolution in den Grundlagen der Physik und Astronomie vollzog, wurde vor allem durch Gassendi (1592-1655) und durch den Chemiker R. Boyle (1626-1691) der antike Atomismus wieder zum Leben erweckt, nämlich die Vorstellung, daß aller Stoff aus kleinsten Stoffteilchen, "Atomen", aufgebaut sei. Dieser Gedanke hat die Chemie erobert und von nun an wurden auch feinere, kompliziertere Vorgänge lediglich als Folgen des Zusammenwirkens von Bewegungen solcher kleinster Teilchen angesehen. Diese Geistesströmungen, die von wachsenden Erfolgen in der Naturbeherrschung begleitet waren, vereinigten sich schließlich im Weltbild des R. Descartes (1596-1650): Der ganze Raum soll danach mit Materie erfüllt sein, deren Erscheinungen, auch der kompliziertesten Art, alle auf Bewegung, Stoß und Druck ihrer kleinsten Teilchen zurückzuführen sind. Alles soll streng gesetzmäßig und daher mit Notwendigkeit vor sich gehen, nach Art der Bewegungen einer Maschine. Auch für alle Lebewesen sollte dies gelten. Zwar steht bei Descartes dieser Körperwelt das Seelische, Geistige als ein von ihr getrenntes, unräumliches Reich gegenüber. Mit letzterem jedoch, das noch für Buridan wesentlich war, vermochte der Naturforscher in der Zukunft nichts anzufangen und es verlor für ihn daher rasch jede Bedeutung. In der Praxis war damit als Restbestand der Buridanschen Lehre die reine Maschinen-Auffassung der
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Welt zum Leitmotiv der Naturwissenschaft geworden; wenn auch das 18. Jahrhundert den Descarteschen Stoß und Druck durch die Newtonsehe Fern-Gravitation ersetzte, so war damit doch nichts Prinzipielles geändert. Das Weltbild der großen Weltmaschine hatte sich bei den Naturforschern durchgesetzt und Laplace (1749-1827), der Napoleon gegenüber betonte, er habe die Hypothese "Gott" nicht nötig, konnte dieses Weltbild in dem allgemeinen Satz formulieren: "Wenn für einen einzigen Moment die räumliche Lage und Masse aller Atome und ihre Geschwindigkeiten nach Größe und Richtung bekannt wären, dann wäre für alle Vergangenheit und für alle Zukunft der Weltablauf in allen Einzelheiten berechenbar." Dieser ontologisch gemeinte Satz konnte freilich kein Resultat der wissenschaftlichen Erfahrung oder Messung sein; er war ebenso der Ausdruck einer spekulativ-metaphysischen Hypothese, wie es die entsprechenden Sätze der Scholastik gewesen waren; und man bemerkt mit Erstaunen, daß die Naturwissenschaft, die Astronomie im besonderen, gerade in jener Zeit, wo sie sich ganz unabhängig von Philosophie und für ganz selbständig erachtete, in einer speziellen metaphysischen Hypothese wurzelte. Auch das 19. Jahrhundert hindurch bis heute hat sich hieran nichts Wesentliches geändert. Zwar lernte die Naturwissenschaft nach und nach neue "Naturkräfte" kennen und Robert Mayer (1814-1878) vermochte sie 1842 durch die Formulierung des allgemeinen Satzes von der "Erhaltung der Kraft" (Erhaltung der Energie) unter einheitlichem Gesichtspunkt zusammenzufassen; aber diese Entwicklung trug eigentlich nur noch zu einer Stärkung jener metaphysischen Hypothesen bei; die Weltmaschine erschien von nun an durch die in verschiedenen Formen auftretende, ihrer Menge nach unveränderliche "Energie" betrieben und nach den ihr innewohnenden ewigen Naturgesetzen gelenkt. In der gleichen Zeit wurden Versuche unternommen, dieses "naturwissenschaftliche Weltbild" philosophisch zu unterbauen. Von A. Comte (17981857) und J. St. Mill (1806-1873) wurde die "Erfahrung" zur einzigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisquelle gemacht und damit der moderne "Empirismus" begründet. Entsprechend wurde das (Buridansche) Induktions-Prinzip zur einzigen Methode der Erkenntnisgewinnung universeller Naturgesetze aus Einzelerfahrungen erhoben mit der Aufgabe, -"die Naturaussage aus dem Zahlenkleide zu enthüllen", wie sich einer der Hauptvertreter dieser Lehre, Fr. Dessauer13 ausdrückt. Als 13 Fr. Dessauer: "Naturwissenschaftliches Erkennen", Beiträge zur Naturphilosophie, Frankfurt/M. 1958, Verlag J. Knecht, Seite 68.
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Leitgedanke induktiver Forschung kann aber die Weltmaschinen-Auffassung nicht gleichzeitig Ergebnis dieser Forschungsarbeit sein. Solches zu behaupten, hieße einem logisch-pragmatischen Zirkel das Wort reden. Der Empirismus und die Maschinenauffassung der Welt sind also ein "philosophischer Glaube", dem zwar heute durch die Arbeit führender Geister bereits der Boden entzogen ist14, der aber nichtsdestoweniger für die große Menge derjenigen Gelehrten, die, an philosophischen Überlegungen uninteressiert, mit bewährten praktischen Methoden ihren speziellen Forschungszielen nachstreben, eine problemlose und selbstverständliche geistige Einstellung darstellt. Von hier aus wird der Empirismus seit Jahrzehnten in vielen populären Schriften in die breiten Leserschichten getragen und im allgemeinen Bewußtsein als die wissenschaftlichen Haltung verankert. Es bedeutet keine Xnderung der empiristischen Grundauffassungen, wenn in unserer Zeit Masse und Energie als ineinander verwandelbar betrachtet werden, wobei die Vorgänge selbst durch Energie-QuantenGesetze, partielle Differentialgleichungen, statistische Gesetze mit aufgelockerter Kausalität und Xhnliches beherrscht gedacht werden. Das Bild von der Weltmaschine wird von solchen Wandlungen nicht berührt15, und nur das äußere Gewand der "Naturgesetze" hat sich gegen früher geändert. Es liegt auch keine wesentliche Xnderung der empiristischen Grundauffassung vor, wenn man sich in neuester Zeit bewußt wird, daß die theoretische Naturwissenschaft viele ideelle Elemente enthalte, welche von uns selbst erdacht und nicht "aus der Natur" entnommen sind; indem jedoch die mit empirischen Phänomenen übereinstimmenden (ideellen) Elemente als ontologische Seins-Eigenschaften "der Natur" angesehen werden, bleibt das Wesentliche des Empirismus doch erhalten. So denkt auch ein weitverbreiteter "kritischer Realismus". Die überraschende und umfassende Anwendbarkeit des Robert-MayerHelmholtzschen Energie-Erhaltungssatzes und der durch ihn ausgelöste Fortschritt in der geistigen und manuellen Naturbeherrschung hat schon 14 Das gesamte Lebenswerk H. DingZers ist diesem Problemkreis gewidmet; auch Ed. May ist hier zu nennen; von den jüngeren Philosophen hat sich in dieser Richtung K. Hübner hervorgetan: siehe z. B. "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Naturphilosophie?" in "Philosophia Naturalis" VII, S. 129 ff. (1962), wo es heißt: "Eine empirische Begründung der Phy.sik ist also unmöglich" ... " ... der Empirismus hat keine Chance mehr". 15 Vgl. E. Cassirer: "Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik", Seite 375: "Es ist vergeblich, die Freiheit dadurch retten zu wollen, daß man an die Stelle dynamischer Gesetze statistische Regelmäßigkeiten setzt."
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in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Versuche zu einer Popularisierung dieses Weltbildes der großen Weltmaschine hervorgerufen. Das Buch des Materialisten L. Büchner "Kraft und Stoff" hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Wirkung getan, ebenso des Monisten E. Häckel "Welträtsel", um nur zwei der wichtigsten Gedanken-Erzeugnisse dieser Art zu nennen. Die Stärke ihres Einflusses auf die Wissensdurstigen beruhte dabei auf der immer wieder betonten angeblichen Bewiesenheit dieser Weltauffassung durch die wissenschaftlichexperimentelle Erfahrung. Damit war der Augenblick gekommen, wo die Konsequenzen dieser Weltauffassung für das Handeln des Einzelnen und der Allgemeinheit sichtbar wurden. Wenn alles nur aus stofflichen Atomen, kleinsten materiellen Teilchen zusammengesetzt ist, die sich nach den ihnen eigenen Gesetzmäßigkeiten und Kräften gegenseitig beeinflussen und bewegen, so gilt das auch für den Menschen. Auch dieser ist dann nichts weiter als ein Haufen von Atomen, und seine Lebensäußerungen sind Resultate des mehr oder weniger komplizierten Zusammenwirkens seiner atomaren Bestandteile. Da es nach festgelegten "Naturgesetzen" vor sich geht, so kann hiernach eine wirkliche Freiheit des Willens und Handeins für den Menschen nicht bestehen, alle Freiheitsgefühle müssen Täuschungen sein; das menschliche Leben kann dann auch keinen anderen Sinn haben, als nach diesen Naturgesetzen abzulaufen. Wir müssen es uns hier versagen, die große Rolle im einzelnen aufzuzeigen, welche das Weltbild der großen Weltmaschine im Rahmen unserer Gesamtkultur gespielt hat und noch spielt16• Seine wesentliche Stütze findet es in der Oberzeugung von der Existenz allgemeiner und ewiger Naturgesetze, von denen wir durch die induktive "Erfahrung" Kenntnis erhalten. Erweist sich diese empiristische Auffassung als irrig, so fällt auch das Weltbild der großen Weltmaschine dahin. 18 W. Heitler formuliert sie in seinem Buch "Der Mensch und die naturwissenschaftliche Erkenntnis" (2. Auflage 1962 (Vieweg)), Seite 11, so: "Eine Maschine hat keine Moral. Das Strafgesetzbuch hätte keinen Sinn mehr, denn wir können eine Maschine nicht dafür bestrafen, daß sie nach den Naturgesetzen abläuft. Wir sehen, das führt zu einer völligen Entmoralisierung, der vermutlich die Wissenschaftler selbst zuerst verfallen würden." Der Glaube an die Weltmaschine "führt in eine allgemeine geistige und moralische Verödung, und dieser kann leicht die physische Vernichtung folgen. (Wenn wir einmal so weit sind, im Menschen nur eine komplizierte Maschine zu sehen, was liegt dann daran, jhn zu zerstören?)" (Seite 73).
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Der historische Gang der Astronomie hat zweifellos wesentlich zur Festigung empiristischer Weltmaschinen-Auffassungen beigetragen; deshalb wird es eine wichtige Aufgabe sein, die praktische Undurchführbarkeit des Empirismus in diesem Gebiet und seinen Nachbargebieten darzutun. Im Brennpunkt der Problematik steht das der heutigen Schulwissenschaft noch ganz rätselhaft erscheinende Gesetz von der allgemeinen Gravitation, wie es I. Newton aufgestellt hat: "Ein Körper übt auf einen anderen eine Anziehungskraft K aus, welche beiden Massen m1 und m2 proportional und dem Abstandsquadrat der beiden Körper umgekehrt proportional ist."
Was ist hier "Kraft"? Was ist hier "Masse"? Woher nimmt dieses Gesetz seine Begründung? Wie wurde es gefunden? Sagt es etwas über das Wesen der Welt aus? Ist es wirklich ein allgemeines und ewiges, von unserem Willen unabhängiges Naturgesetz, dem wir alle unterworfen sind? Wenn ja, wie retten wir uns vor der "großen Weltmaschine"? Wenn nein, wie ist es zu verstehen, daß es sich seit seiner Entdeckung immer und überall bewährt und als richtig erwiesen hat?
Erstes Kapitel
Allgemeine Prinzipien Geometrische und kinematische Grundlagen 1. Das Prinzip von der pragmatischen Ordnung Seit Beginn unseres Jahrhunderts befindet sich die exakte Naturwissenschaft in einer permanenten Grundlagenkrise; sie entzündete sich, äußerlich betrachtet, an gewissen überraschenden empirischen Fakten der Astronomie sowie der Strahlungs- und Atomphysik, hatte ihre Wurzel aber in der Ungeklärtheit fundamentaler Vorstellungen wie Kausalität, Raum, Zeit, Innenwelt, Außenwelt etc., die, schon im Vorwissenschaftlichen Lebensbereich vorhanden, als unentbehrlich auch in die Wissenschaft übernommen worden waren, an dem Versuch der Interpretation jener überraschenden Fakten aber selbst ins Wanken gerieten und damit ihre Ungeklärtheit ins allgemeine Bewußtsein erhoben. Dem nach I. Kant orientierten Naturforscher sind Kausalität, Raum und Zeit innere Erlebnisse, dem nach der modernen theoretischen Physik orientierten Forscher dagegen Erlebnisse der äußeren Natur, über deren nähere Konstitution ihm erst äußere Erfahrungen Aufschluß geben können. Aber es gibt keine äußere Erfahrung, welche dem Kant'schen Standpunkt nachweisbar widersprechen würde, so daß von der Seite der Erfahrung her keine Entscheidung zwischen beiden Meinungen herbeigeführt werden kann. Da es andererseits kein physikalisches Experiment, keine astronomische Beobachtung gibt, bei deren Interpretation nicht die Begriffe der Kausalität oder des Raumes oder der Zeit implizit oder explizit gebraucht werden, überträgt sich die Unsicherheit hierüber auf das ganze Gebäude der Naturwissenschaft. Voraussetzung für die Lösung dieser Unsicherheit ist die Erweiterung des Gesichtsfeldes über die Grenzen der engeren Spezialwissenschaften hinaus auf die allgemeinen Denk-Methoden, welche unabdingbare Bestandteile der exakten Wissenschaften sind.
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
Der (empiristische) Einwand, daß man offenbar von der Philosophie das Heil erwarte, dies aber mit Unrecht, da dort das eine "System" gegen das andere stehe, eine unbewiesene Behauptung metaphysischer Art gegen die andere, wird durch den Hinweis entkräftet, daß gerade die Naturwissenschaft, wie sie heute gemeinhin verstanden und gelehrt wird, auf einer unbewiesenen und unbeweisbaren metaphysischen Hypothese ruht, nämlich auf dem philosophischen Glauben an die große Weltmaschine. Es ist aber richtig, daß philosophische Systeme, die selbst letzter Begründung entbehren, uns hier nicht helfen können. Daher wird auf nichts dergleichen Bezug genommen werden. Das Grundprinzip strenger und systematischer Methodik, d. h. aller jener Handlungen, welche in ihrer Gesamtheit "die Wissenschaft" ausmachen, ist das sog. Prinzip von der pragmatischen Ordnung. Es ist in dieser Funktion zuerst von H. DingZer formuliert worden und lautet: "Alle unsere Handlungen und Maßnahmen haben nur in der Ordnung und Reihenfolge einen Sinn, wie sie erfolgen müssen, um überhaupt selbst möglich zu sein, d. h. so, daß niemals für eine Handlung Elemente (Situationen, Hilfsmittel) benützt werden, die durch diese Handlung erst gewonnen werden." Bei diesem Prinzip geht es nicht etwa um logisches Schließen, sondern um praktisches Handeln. Wer etwa dieses Prinzip ablehnen wollte, dessen Handlungen wären schon im alltäglichen Leben zu dauernder Erfolglosigkeit verurteilt. Wollte er etwa ein Schloß aufsperren (ein Beispiel, welches H. Dingler selbst schon anführt), so könnte er dies niemals dadurch bewerkstelligen, daß er zuerst den Schlüssel herumdreht und dann ihn ins Schloß steckt, sondern er muß in Übereinstimmung mit dem Prinzip von der pragmatischen Ordnung die umgekehrte Reihenfolge der Handlungen wählen. Es mag im ersten Augenblick als ziemlich überflüssig erscheinen, eine so selbstverständliche Sache ausdrücklich noch als Grundprinzip der Wissenschaft zu formulieren. Aber tatsächlich enthält das heutige Gebäude der Naturwissenschaften eine ganze Reihe von Verstößen gegen dieses Prinzip (sog. pragmatische Zirkel), die zu manchmal Jahrhunderte alten Scheinproblemen und Begriffsverwirrungen Anlaß gegeben haben. In diesem Buche werden sich dem Leser einige solcher Fälle von selbst darbieten. Wenn im folgenden von "Naturgesetzen" gesprochen wird, so sollen damit lediglich die sog. allgemeinen, semper et ubique, d. h. immer und
1. Das Prinzip von der pragmatischen Ordnung
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überall geltenden Gesetze gemeint sein, z. B. der Satz von der Trägheit der Materie, die Gesetze des Stoßes, das Gesetz der Gravitation der Materie, der Satz von der Gleichheit von schwerer und träger Masse, der Satz von der Erhaltung der Energie etc. Von diesen Gesetzen behauptet der Empirismus, daß sie durch das Experiment und durch die messende Beobachtung, also "empirisch", gewonnen worden sind und auch jederzeit auf solche Weise wieder umgestoßen werden könnten; daß es ferner einen Weg gebe, wie aus Einzelerfahrungen - jedes Experiment, jede Beobachtung liefert nur eine Einzelerfahrung "hic et nunc", d. h. hier und jetzt - ein allgemeines Gesetz sicher erhalten werden könne: dies geschehe durch "Induktion" 1 • Dieses Wort aber enthält keine genau formulierte Anweisung, wie hier zu verfahren sei; es ist nur ein anderes Wort für das zu erklärende selbst. Tatsache bleibt, daß ein zwingender Schluß von empirischem Einzelnen auf ein allgemeines Gesetz nicht möglich ist. Oft wird auch von einem "Induktions-Prinzip" gesprochen und man meint damit, "daß die Natur so beschaffen sei, daß aus einer oder einigen wenigen Beobachtungen derselben Erscheinung stets auf ein allgemeines Naturgesetz geschlossen werden könne.... Es ist eine metaphysische Behauptung, die in manchen Fällen ein echtes Sachverhältnis aussagt, aber keinerlei Abgrenzung der Fälle erkennen läßt, wo sie zutrifft, von denen, wo sie nicht zutrifft. . . . Wenn es unbewiesen benutzt wird, gewinnt es den Charakter einer Hypothese, vermag also selbst nichts zu beweisen. Wird aber versucht, es zu beweisen (was für den Empirismus von entscheidender Tragweite wäre), dann stehen diesem Versuch zwei Wege offen: der geistige und der empirische. Wird das "Prinzip" geistig bewiesen, so bedeutet das eine volle Durchbrechung des empirischen2 Prinzips, und der Empirismus würde dann an seinem fundamentalen Punkte im Nichtempirischen wurzeln und gründen. Soll es aber empirisch bewiesen werden, so würde das bedeuten, daß es durch sich selbst bewiesen würde, was eine logische Unmöglichkeit ist" 3 • Gesetze, welche auf exakten Messungen beruhen, gewinnen wir nicht aus der unberührten Natur heraus unmittelbar, sondern erst unter Zwischenschaltung von sog. Meß-Apparaten, zu deren Herstellung wir selbst aktiv tätig werden müssen. Gemäß dem Prinzip von der pragSiehe das Eintreten von Joh. Buridan (14. Jahrhdt.) für diese Auffassung. Wahrscheinlich ein Druckfehler: es müßte "empiristischen" heißen. 3 Hugo Ding/er: "Aufbau der exakten Fundamentalwissenschaft", aus dem Nachlaß herausgegeben von Paul Lorenzen, Eidos-Verlag München 38 (1964), Seite 264. 1
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
matischen Ordnung geht also die Herstellung der Meß-Apparate pragmatisch der Entdeckung von empirischen exakten Naturgesetzen voraus. Eine Untersuchung der Art und Weise dieser Entdeckung muß daher die Untersuchung des Weges einschließen, auf dem wir zum Bau vom Meß.Apparaten gelangen. Man würde schon einen pragmatischen Zirkel begehen, wollte man beim ersten Bau von Meß-Apparaten empirische exakte "Naturgesetze" verwenden; denn diese könnten ja nur mit Hilfe von Meß-Apparaten gewonnen worden sein, und solche wollen wir doch nach Voraussetzung erst bauen. Die ersten beim Aufbau der Naturwissenschaft notwendigen Meß-Apparate müssen daher nach gewissen, von uns selbst aufgestellten ideellen, qualitativen Richtlinien hergestellt werden. Diese müssen den Charakter von Herstellungs-Anweisungen haben. Die heutige Verwirrung in den Grundlagen der Naturwissenschaft hat zu einem erheblichen Teil ihre Wurzel in der Mißachtung dieses Satzes. Bei der Aufstellung der erwähnten ideellen, qualitativen Richtlinien scheint zunächst volle Beliebigkeit zu bestehen. Aber schon der Gesichtspunkt der angestrebten Sicherheit und Allgemeingültigkeit, der (intersubjektiven) "Objektivität" der wissenschaftlichen Ergebnisse schränkt die Freiheit stark ein. Es muß nämlich unser Wunsch sein, innerhalb der Wissenschaft möglichst nur voll bewußte Handlungen zu vollziehen, über die man anderen Mitteilungen machen und Rechenschaft ablegen kann, damit auch diese dasselbe tun und unsere Arbeit genau nachprüfen können. Wir werden also eindeutige Richtlinien oder Herstellungs-Anweisungen aufzustellen haben. Aber auch da können sich oft noch verschiedene Möglichkeiten bieten. Sie werden sich meist durch einen verschiedenen Grad der Einfachheit voneinander unterscheiden. Der Einfachheits-Grad sei definiert durch die Anzahl der zur eindeutigen Formulierung der Richtlinie oder Herstellungsanweisung notwendigen Bestimmungen. Die (ethisch zu fundierende) Absicht nun, unsere Lebensarbeit, auch die wissenschaftliche, so effektiv wie möglich zu machen und jede überflüssige Arbeit zu vermeiden, sowie der Wunsch nach Eindeutigkeit müssen uns veranlassen, die einfachsten Richtlinien oder Herstellungsanweisungen aufzusuchen. Die Meß-Apparate werden daher aus einfachsten BauElementen aufzubauen sein. So stehen am Beginn der exakten Naturwissenschaft Eindeutigkeit und Einfachstheit als Richtlinien des geistigen und manuellen Handelns, der theoretischen und experimentellen Forschungsarbeit.
1. Das Prinzip von der pragmatischen Ordnung
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Der empiristische Glaube hat gelegentlich zu dem Ausspruch verleitet, daß "die Natur immer und überall einfach sei". Andere haben, von dem gleichen empiristischen Standpunkt ausgehend, ihrem Zweifel darüber Ausdruck gegeben, "ob die Natur wirklich immer und überall einfach sei". Beide Meinungsäußerungen sind Verstöße gegen das Prinzip von der pragmatischen Ordnung, sind pragmatische Zirkel. Denn darüber, ob die Natur einfach sei, könnte erst etwas Begründetes gesagt werden, wenn entsprechende messende Experimente und Beobachtungen angestellt worden sind. Diese setzen aber den Bau von Meß-Apparaten voraus. Stehen diese nun, wie oben gefordert und in der Praxis verwirklicht, unter der Richtlinie der Einfachheit, so werden notwendig auch die mit ihnen erhaltenen Meßresultate und Gesetzmäßigkeiten etwas von dieser Einfachheit besitzen, zumal dasselbe für geistige (theoretische) wissenschaftliche Handlungen, wie Begriffsbildungen, Definitionen etc. gilt. Insoweit diese unter den von uns selbst aufgestellten Richtlinien der Einfachheit stehen, müssen ihre Folgerungen ebenfalls die Eigenschaft der Einfachheit besitzen. Die unberührte Natur ist weder einfach noch ist sie das Gegenteil. Solche Eigenschaften werden erst durch die Art unserer geistigen und manuellen (theoretischen und experimentellen) Maßnahmen in unsere Natur-Interpretation, d. h. in die Wissenschaft, hineingetragen. Es ist eines der großen Verdienste I. Kant's, den Weg zu einer klaren Trennung der die Wissenschaft bildenden Elemente in solche, welche in uns, und in solche, welche außer uns liegen, beschritten zu haben. Er verwirft eindeutig den Empirismus, wenn er lehrt: "Physik ist die Naturforschung nicht durch Erfahrung, sondern für Erfahrung", oder: "Die Vernunft sieht nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt" oder: "Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetz gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenem ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." (Kritik der reinen Vernunft, Vorwort). 3 Thüring
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
Der Weg von Kant führt über E. Mach und E. Busserl zu H. Ding/er, der diese Trennung zwischen Innen und Außen im einzelnen durchgeführt und die hierbei wesentlichen Prinzipien formuliert hat. 2. über die Messung überhaupt Messen heißt Vergleichen. Zum Vergleichen gehören mindestens zwei reale Dinge. Aber die Anzahl der Vergleichsmöglichkeiten ist an jedem Orte und zu jeder Zeit - diese beiden Begriffe hier im qualitativen Sinne des unmittelbaren Erlebens genommen - praktisch unbegrenzt groß. Ein noch so großes Anhäufen von Vergleichen ohne Richtlinien dabei würde noch keine Wissenschaft sein. Es wird daher zunächst das Prinzip der Einfachheit der Vergleiche anzuwenden sein. Als miteinander paarweise zu vergleichende reale Dinge mögen uns die Dinge ah a 2 , • • • • • • an vorliegen. Dann fordert das Prinzip der Einfachheit, diese realen Dinge nicht etwa in allen Hinsichten zugleich miteinander zu vergleichen, sondern zunächst nur in einer Hinsicht, z. B. hinsichtlich ihrer Gestalt. Weiterhin fordert das Pinzip der Eindeutigkeit, die Arbeit so anzulegen, daß möglichst eindeutige Resultate der Vergleiche zustande kommen. Hierzu muß man wissen, daß mindestens eines der realen Dinge a1 bis an in der betrachteten Hinsicht praktisch unveränderlich oder konstant sei'. Denn wenn von keinem dieser Dinge prinzipiell sicher wäre, ob es nicht veränderlich sei, so könnten die Vergleiche keinen Wert für die Entdeckung von "Gesetzen" haben; es wären ja immer mehrere einander widersprechende Aussagen über die an den einzelnen Dingen eingetretenen Veränderungen möglich. Nun steht aber von vorneherein von keinem Ding fest, ob es sich und in welchen Beträgen es sich verändert (das Heraklitische "alles fließt"). Denn eine eindeutige Feststellung der Konstanz eines realen Dinges bedarf bereits eines anderen konstanten Bezugs-Dings. Die Natur (d. h. "die ständig Gebärende") gibt uns aber von sich aus kein Kennzeichen und keinen Hinweis darauf, daß ein bestimmtes Ding konstant sei. Wir haben also erst den Weg ausfindig zu machen, ein konstantes Bezugsding zu erhalten. Für dieses gilt die gleiche Überlegung usf. 4 Praktisch konstant soll heißen: Veränderlichkeit mit den gegenwärtigen Mitteln (d. h. direkten oder indirekten Vergleichsrelationen) nicht feststellbar.
2. Über die Messung überhaupt
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Um diesem "unendlichen Regreß" zu entgehen, bleibt nur zu fordern iibrig, daß dieses andere, was wir die Messungsbasis nennen wollen, nicht selbst wieder ein beliebiges bestimmtes Einzelding sei. Da aber alle bestimmten realen Dinge Einzeldinge sind, so muß die Messungsbasis ideell sein, d. h. sie muß die Konstanz als Idee (ideale Konstanz) sein. Insoweit dann reale Einzeldinge die Kennzeichen der idealen Konstanz aufweisen oder von uns durch manuelle Einwirkung und Bearbeitung aufgeprägt erhalten, kommt ihnen die Eigenschaft der Konstanz zu. So sehen wir zwei Möglichkeiten, praktisch konstante reale Dinge zu erlangen, welche als Messungsbasis für andere reale Dinge dienen können: 1. Das Suchen und Entdecken realer Dinge, welche in der unberührten Natur schon vorliegen und die Kennzeichen der idealen Konstanz in der betrachteten Hinsicht "per accidens" (um einen scholastischen Ausdruck zu gebrauchen) praktisch aufweisen. Dies sei "geistige Realisierung" der Messungsbasis genannt. 2. Das aktive und zielstrebige manuelle Bearbeiten realer Dinge ("Materialien") so lange und so intensiv, bis sie die Kennzeichen der idealen Konstanz in der betrachteten Hinsicht praktisch aufweisen. Wir nennen diese Tätigkeit das "Herstellen" einer Messungsbasis oder ihre "manuelle Realisierung". Die Kennzeichen haben in diesem Falle die Form von "Herstellungs-Anweisungen". In jedem der beiden Verfahren kann die praktische Konstanz eines bestimmten realen Dinges eines Tages verlorengehen, sei es spontan, sei es durch die Entdeckung eines neuen Prüf-Verfahrens. In diesen Fällen muß dann gemäß 2. nach Möglichkeit eine erneute manuelle Bearbeitung einsetzen, bis die praktische Konstanz auch dem neuen Verfahren gegenüber hergestellt ist. Beiden Verfahren 1 und 2 ist der wichtige Umstand gemeinsam, daß die Kennzeichen der idealen Konstanz in der betrachteten Hinsicht schon bekannt sein müssen; ihre Festlegung geht also der Entdeckung oder Herstellung der Messungsbasis und erst recht jeder Messung pragmatisch vorher. Da ferner die Verfahren 1 und 2 logisch eine vollständige Disjunktion bilden, so sind keine weiteren außer ihnen denkbar. Es folgt der Satz: Keine eindeutige Messung ohne ideelle Messungsbasis.
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
3. Die erste und einfachste Messungsbasis Es sind nun die eindeutigen Kennzeichen der idealen Konstanz, welche erste Messungsbasis sein soll, festzulegen. Als leitende Prinzipien werden wieder Eindeutigkeit und Einfachheit zu verwenden sein. Wir haben im unmittelbaren Erleben des Alltags, im "Vorwissenschaftlichen Leben", schon die Idee eines "Raumes" in qualitativem Sinne, wie er uns aus den Tätigkeiten des Zerschneidens, Zerlegens, Teilens usw. geläufig ist (der Raum der sog. Topologie). Innerhalb dieses unmittelbar erlebten qualitativen Raumes bietet sich uns eine Fülle von unmittelbar erlebten Verschiedenheiten oder Nichtverschiedenheiten dar. Insbesondere erleben wir begrenzte Raum teile, sog. "Körper", deren Begrenzungen wir "Flächen" nennen. Nun hat man in der jahrtausendealten Geschichte der Geometrie als der Wissenschaft des Räumlichen immer wieder ohne Erfolg versucht, gewisse Grundbegriffe der Geometrie, insbesondere "Gerade" und "Ebene", formal zu definieren; aber die moderne Axiomatik, insbesondere seit der Jahrhundertwende an D. Hilbert's Axiomensystem der Geometrie orientiert, hat deutlich gemacht, daß ein solches Axiomensystem die Begriffe "Punkt", "Gerade" und "Ebene" oder etwas Kquivalentes undefiniert verwenden muß. Von einem Axiomensystem her gewinnt man also keine eindeutigen Konstanz-Kriterien, wie wir sie oben für die Gewinnung einer ersten Messungsbasis gefordert haben. Das Formal-Axiomatische enthält ja keine Erlebnis-Momente des Wirklichen und somit keine Anknüpfungsmöglichkeiten an jene erlebbaren Verschiedenheiten und Nichtverschiedenheiten innerhalb des qualitativ Räumlichen. Aber schon bei Leibniz - worauf neuerdings P. Lorenzen aufmerksam gemacht hat5 - tritt die Ebene als eine Fläche auf, welche den Raum in zwei ununterscheidbare Teile teilt. Hier ist das Erlebnis des Mangels an Verschiedenheit deutlich und in wesentlicher Weise mit der Geometrie in Verbindung gebracht. Im großen Stil hat dann H. Dingler6 den Aufbau der Geometrie aus solchen Gesichtspunkten vollzogen und aus der qualitativen Sphäre des täglichen Erlebens und Handeins die Definitionen des Punktes, der Geraden und der Ebene sowie des 5 P. Lorenzen: "Das Begründungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der räumlichen Ordnung". Philosophia N aturalis VI/415 (1961). 6 H. Ding/er: "Die Grundlagen der Geometrie, ihre Bedeutung für Philosophie, Mathematik, Physik und Technik", Verlag Enke, Stuttgart 1933.
3. Die erste und einfachste Messungsbasis
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deformationsfreien Körpers in der Form von Herstellungs-Anweisungen explizit gewinnen können. Er zeigte, daß die so definierten Gestalten die logische Rolle der Axiome der Euklidischen Geometrie erfüllen7 • Diese und nur diese enthält also die gewünschten Kennzeichen und Kriterien der idealen Konstanz eines Körpers als erste Messungsbasis. Was aber Messungsbasis ist, kann nicht selbst durch Messung gewonnen werden. Geometrie ist hier also nicht Erkenntnis, sondern Tat. Mit diesem Hinweis auf das in ihm enthaltene Neue beginnt auch das genannte Buch8 • Wir wollen diese unwiderlegte Geometrie-Auffassung als die "methodische" bezeichnen, oder auch die "operative" 9 • Demgegenüber verhält sich die heutige empiristische WissenschaftsAuffassung recht widerspruchsvoll. Einerseits wird der Einwand vorgebracht, es gebe in der Wirklichkeit gar keine Ebenen; alles, was so aussehe, bestehe aus lauter einzelnen Atomen. Der andere Einwand behauptet genau das Gegenteil: Der Begriff der Ebene sei aus der Erfahrung gewonnen worden. Beide Einwände gegen die methodische Auffassung der Geometrie sind Verstöße gegen das Prinzip der pragmatischen Ordnung, sind pragmatische Zirkel: Die Aussage, daß die Materie aus Atomen bestehe, konnte nur auf dem Wege der Messung gewonnen werden. Zu deren Voraussetzungen gehört aber die Idee der Ebene, welche u. a. den Bau der Meß-Apparate leitet. Daß ihre Realisierung stets mit nur endlichem Genauigkeitsgrad möglich ist, liegt schon im Begriffe "Idee"; und gerade der Unterschied zwischen Idee und (ideoidem) Realisat liefert das, was man "Genauigkeit" des Realisats nennt. Der zweite obige empiristische Einwand, der Begriff der Ebene sei aus der Erfahrung gewonnen worden, erledigt sich schon durch die Tatsache, daß die Natur sich gar nicht in Begriffen ausspricht und daß es speziell schon des fertigen und eindeutig von uns definierten Begriffes und der Kennzeichnung der Ebene bedarf, um eine reale Fläche als Ebene ansprechen zu können. Die sogenannten Nicht-Euklidischen Geometrien10 sind demgegenüber nicht-operative Geometrien; man könnte sie auch im Hinblick auf ihre 7 Unter einem Axiom (oder "Postulat") versteht man ein Grundgesetz einer Wissenschaft, welches innerhalb dieser Wissenschaft nicht bewiesen werden kann, sondern selbst als Mittel für den Beweis anderer Sätze dient. 8 "Geometrie nicht als Erkenntnis, sondern als Tat ist das Thema der vorliegenden Schrift" (H. Dingler, a.a.O.). 8 "operativ" ist dabei manuell, handwerklich gemeint. 10 Mit ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert sind die Namen Gauß, Bolyai, Lobatschewsky und Riemann verknüpft.
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
flexible Geeignetheit zu Beschreibungen von Gemessenem ohne Rücksicht auf die Meßapparate "descriptive Geometrien" nennen. Diese Eigenschaft erlangen sie durch den Umstand, daß in ihnen geometrische Gebilde (willkürlich) als Gerade und Ebenen angesprochen werden, welche es in der Euklidischen Geometrie nicht sind. So konnte F. Klein (1849-1925) als erster zeigen (Fig. 1), daß die (Euklidischen) Sehnen eines Kreises, wenn man ihre Endpunkte außer Betracht läßt und den Begriff "Abstand zweier Punkte" u. a. geeignet definiert, widerspruchslos als unendlich lange (nicht-Euklidische) Geraden angesprochen werden können, für welche alle Axiome der Euklidischen Geometrie gelten mit Ausnahme des sog. Parallelen-Axioms: An dessen Stelle tritt das Axiom: Durch jeden Punkt außerhalb einer Geraden gibt es unendlich viele Parallelen, d. h. unendlich viele andere Geraden, welche mit jener keinen Punkt gemeinsam haben (zu einer Euklidischen Geraden gibt es jeweils nur eine einzige Gerade durch einen bestimmten Punkt außer ihr). Diese sog. hyperbolische Geometrie "gilt" auch innerhalb eines (Euklidischen) Kreises, wenn man dort alle Kreisbögen, welche auf jenem Kreis senkrecht stehen, als (hyperbolische) Geraden anspricht, wiederum bei geeigneter Definition des Punktabstandes (H. Poincare) (Fig. 2). Eine Folge dieses geänderten Axiomensystems ist dann z. B., daß die Winkel-Summe in Dreiecken, die aus solchen nicht-Euklidischen Geraden gebildet sind, kleiner als 180 Grad ist. Schon für C. F. Gauß (1777-1855) war daher der Gedanke bestechend, daß vielleicht die Lichtstrahlen nicht-Euklidische Geraden sein könnten, und er stellte Dreiecksmessungen von drei weit entfernten Bergspitzen (in der Umgebung Göttingens) aus an, jedoch ohne den erhofften Erfolg. Aber die Tatsache, daß es sich im Grunde doch nur um Umbenennungen von Euklidischen Kreisbögen bzw. Euklidischen endlichen Strecken in nichtEuklidische unendliche Geraden handelte, also um einen rein geistigen, ganz unserem Willen unterliegenden Vorgang, hätte jeden empirischen Zwang ausgeschlossen, aus einem etwaigen gemessenen Defizit der Winkelsumme jenes Dreiecks auf die Realgeltung einer hyperbolischen Geometrie schließen zu müssen. Denn ebensogut wäre die Interpretation möglich gewesen - und vor der Erfindung der nicht-Euklidischen Geometrien wäre sie allein in Betracht gekommen -, daß die Lichtstrahlen von diesen Bergspitzen aus krummlinige Wege durchlaufen hätten (z. B. wegen anomaler Refraktion in der Luft). Aber wenn in der hyperbolischen Geometrie gerade Linien immerhin noch unendlich sind wie in der Euklidischen, so gelang es B. Riemann (1826-1866), Umbenennungen derartig vorzunehmen, daß endliche und geschlossene Nicht-Geraden,
3. Die erste und einfachste Messungsbasis
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z. B. Kreise, als nicht-Euklidische endliche und geschlossene Geraden angesprochen werden konnten, ohne Widerspruch (Fig. 3). Wenn man z. B. auf der Oberfläche einer (Euklidischen) Kugel die Groß-Kreise als {nichtEuklidische) Geraden bezeichnet, so gibt es zu einer solchen Geraden keine Parallelen, alle Geraden schneiden sich. In dieser sog. sphärischen Geometrie verlieren auch noch andere Euklidische Axiome ihre Gültigkeit und die Winkelsumme eines Dreiecks ist dort größer als 180 Grad (was schon lange vorher aus der Euklidischen sphärischen Trigonometrie bekannt war). Würde man also irgendwo eine Dreieckswinkelsumme mit einem Überschuß über 180 Grad messen, so würde hieraus keinesfalls zwangsläufig die Realexistenz einer endlichen und geschlossenen "Welt" folgen, sondern die nächstliegende, jedenfalls keineswegs auszuschließende Interpretation wäre, daß die Lichtstrahlen krummlinige Wege eingeschlagen haben.
Hyperbolisch-geometrische Umbenennungen Euklidischer Gebilde (nach F. Klein) Euklidische Geometrie
G ist eine endliche gerade Strecke (Sehne) Alle die Strecke G nicht schneidenden Sehnen
Hyperbolische Geometrie G ist eine unendlich lange Gerade
Parallele Geraden zu G. Durch den Punkt P gehen unendlich viele parallele Geraden zur Geraden G Summe der Winkel des Dreiecks abc ------. Summe der Winkel des Dreiecks abc ist 180°. ist kleiner als 180°. Strecke DE ist kürzer als Strecke AB Strecke DE und Strecke AB sind gleich lang Figur 1
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1. Kap.: Allg. Prinzipien, geometrische und kinematische Grundlagen
Da also das Wesen der nicht-Euklidischen Geometrien, wie schon H. Poincare deutlich aussprach, in descriptiven Drohenennungen spezieller Euklidischer Situationen liegt, kann es keine empirischen, d. h. von unserem Willen unabhängigen Entscheidungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen geometrischen Axiomensystemen geben. Wenn auch heute noch solche Versuche in der Astronomie unternommen werden, so gelten sie einem Scheinproblem. "Der Raum" hat überhaupt keine ihm eigene Geometrie; jedenfalls ist die Behauptung, er habe sie, nicht zwingend begründbar, so weit verbreitet sie heute sein mag. Die Axiome der Euklidischen Geometrie haben sich als Herstellungs-Anweisungen eindeutiger und einfachster deformationsfreier Gestalten erwiesen (H. Ding/er) und es sind bloß kompliziertere Spezialsituationen aus dem Euklidischen Gestaltenbereich, welchen durch entsprechende Umbenennungen "nicht-Euklidische" Eigenschaften
Hyperbolisch-geometrische Umbenennungen Euklidischer Gebilde (nach H. Poincare) Euklidische Geometrie
K ist ein Kreisbogen Alle den Bogen K nicht schneidenden Kreisbögen Dreie!X abc besteht aus 3 Kreisbögen
Hyperbolische Geometrie - = .~ @ik •=1
i =!= k 13 Die analytischen Ausdrücke für m; ließen sich ohne weiteres nach der Cramerscllen Regel als Quotienten je zweier Determinanten formulieren.
4. Definition der einfachsten physikalischen Abhängigkeit
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Wir nennen im folgenden ®ik auch die Gravitation des Körpers i "mit" dem Körper k; oder die Gravitation des Körpers k "mit" dem Körper i. Die Gravitation ist hiernach das Produkt aus der Masse m~: und ihrer Partialbeschleunigung bl''J "gemäß" der Masse i. Das aus den Axiomen I bis VI bestehende vollständige "AxiomenSystem der Mechanik" definiert die (ideelle) einfachste physikalische Abhängigkeitsbeziehung. Alle neu eingeführten Größen mi, blkJ, ®ik sind eindeutig definiert und ihre gegenseitigen Beziehungen sowie die Beziehungen zu Kinematik und Geometrie axiomatisch eindeutig festgelegt unter den protophysikalischen Gesichtspunkten innenbestimmter Einfachstheit und der späteren Realisierung und unter Verwendung eines qualitativen Homogenitäts-Postulats, d. h. ohne Einführung oder Benützung von Konstanten, welche erst durch Messung ermittelt werden müßten (Idealität des Axiomen-Systems). Man beachte besonders die axiomatische Oberflüssigkeit einer "Gravitationskonstanten" 14 • Die Fortlassung irgend eines dieser Axiome, etwa des Axioms II oder des Axioms VI, würde die Mechanik im gleichen Sinne unvollständig machen, wie die Fortlassung eines Parallelen-Axioms die Geometrie oder die Fortlassung eines" Uhren-Axioms" die Kinematik unvollständig macht. Das Axiom II kann als "Gravitations-Axiom" bezeichnet werden oder als "Axiom der Masse" 15 • Es wurde schon betont, daß es eine "definitorische Anweisung" ist. Es verbindet zusammen mit den anderen Axiomen definitorisch den Massenbegriff mit dem Begriff der Gravitation und enthält das Newtonsehe Gravitationsgesetz, ist mit ihm (bei Hinzunahme der anderen Axiome) eigentlich identisch 1~. 14 Siehe hierzu auch B. Thüring: Studien über die sog. Gravitationskonstante, Ann. Acad. Scient. Fennicae. Ser. A, III Geologica, 61. 15 In Philos. Naturalis VIII/2 (1964) hat der Verf. dieses Axiom das "Axiom der Wirkfähigkeit" genannt und dementsprechend auch von "Wirkung" gesprochen. In diesem Buche ist er davon abgekommen, um von vorneherein jede Vorstellung einer "Kraftwirkung" bei der Gravitation auszuschalten, vor allem auch die Vorstellung einer "Masse ohne Gravitation", was ein Widerspruch ist, so wie etwa: eine Kugel ohne Oberfläche oder ein Quadrat ohne Ecken. 16 Der explizite Nachweis, daß das Newtonsehe Gravitationsgesetz niemals "aus der Erfahrung" allein gewonnen werden kann (auch nicht etwa aus den Keplerschen Gesetzen), also niemals in dieser Erfahrung seine zwingende Begründung finden kann, findet sich in B. Thüring: Analyse der Beziehungen zwischen Inertialsystem, Gravitation etc. Astron. Nachr. Bd. 281, Seite 49-58 (1952), sowie in .B. Thüring: Methodologisches und Historisches zum Gesetz der allgemeinen Gravitation, Hugo-Dingler-Gedenkbuch, S. 190-209, EidosVerlag, München 1956.
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3. Kap.: Die Kausalität und das Gravitations-Gesetz
Das eben dargelegte Axiomensystem ist wie ein jedes von geistigideeller Art, ist "protophysikalisch", und hat primär mit Dingen oder Vorgängen in der Wirklichkeit ebenso wenig zu tun wie die Axiome der Euklidischen Geometrie primär mit realen Dingen etwas zu tun haben. Es handelt sich insbesondere nicht um bewußtseins-transzendente "Naturgesetze", welche durch bloßes "Nachdenken" oder "a priori" oder durch "Spekulation" oder "dogmatisch" etc. gewonnen worden sein sollen. Eben deshalb erhebt sich nun das Problem der Verknüpfung dieses Axiomensystems mit der Wirklichkeit und ihren Einzelvorgängen, also der Aufstellung jener Reihe geistiger und manueller Handlungen, welche die "Realisierung" genannt worden ist. Hierunter sei das zielstrebige Herausarbeiten oder Absondern solcher Vorgänge aus der potentiell unendlichen Fülle des Wirklichen verstanden, welche die ideellen Beziehungen unseres Axiomensystems praktisch (d. h. innerhalb der mit den jeweils vorhandenen praktischen Messungsmitteln erreichbaren Genauigkeit) aufweisen. Wie bereits erwähnt, kann dies in der zweifachen Weise des "Entdeckens" und des "Herstellens" geschehen. Das erstere bezieht sich vornehmlich auf die "unberührte Natur", wie sie der Astronom vor sich hat, der keine Möglichkeit besitzt, die Objekte seiner Forschungen, die (natürlichen) Himmelskörper, manuell zu beeinflussen ("geistige Realisierung"), das zweite, das "Herstellen", ist Sache des praktischen Physikers, der in seinem Laboratorium mit den Objekten seiner Forschung zu "experimentieren", d. h. sie zielstrebig zu beeinflussen in der Lage ist ("manuelle Realisierung"), seit dem Jahre 1957 auch des "Astronauten", der künstliche Himmelskörper herstellt und mit ihnen experimentiert. Der Realisierung nach beiden Verfahren muß jedoch erst noch ein weiterer geistiger Schritt vorausgehen: Die Gravitation (4) bezieht sich auf je zwei Differentialkugeln, die als solche nicht realisierbar sind. Es müssen erst realisierbare Folgerungen für Körper endlicher Ausdehnung gezogen werden. Diese werden gemäß der Definition eines Differentialkörpers geistig durch Integration aufgebaut (in der sog. "Potentialtheorie"). Baut man z. B. geistig eine endliche Kugel Ao aus Differentialkörpern auf, setzt sie an die Stelle des Differentialkörpers A und ersetzt den Differentialkörper B ebenfalls durch eine endliche, geistig aus Differentialkörpern aufgebaute Kugel Bo, so kann die Gesamtgravitation - der Beweis dafür findet sich in jedem Lehrbuch der Potentialtheorie - folgendermaßen formuliert werden (wie bereits Newton bewiesen hat):
4. Definition der einfachsten physikalischen Abhängigkeit
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Ist die räumliche Verteilung der jeweils mit den Massen mA und mB behafteten Differentialkörper in einer endlichen Kugel lediglich eine Funktion des Abstandes des betr. Differentialkörpers vom Zentrum der Kugel, so ist die Veränderung Vo der Gesamtkugeln Ao und Bo die gleiche, wie wenn alle Massen mA und mB jeweils additiv in den Zentren der Kugeln Ao und Bo vereinigt wären. Die endlichen Kugeln haben also die gleiche Masse wie Differentialkörper mit der "integralen" Masse MA und MB; der Betrag ihrer Gravitation ist daher
Handelt es sich dagegen um nicht kugelsymmetrisch aufgebaute endliche Körper, so bleibt die Definition der "integralen" Massen zwar die gleiche, jedoch sind die Veränderungen (Beschleunigungen) Vo dieser Körper verschieden von den Beschleunigungen von Differentialkörpern, und von verwickelterer Art; sie lassen sich aber in jedem Einzelfalle aus unseren Axiomen eindeutig berechnen. Auf diese Spezialaufgaben der Potentialtheorie braucht hier nicht eingegangen zu werden. Ist es nun einmal gelungen, einen realen Vorgang ausfindig zu machen oder herzustellen, der die Beziehungen unseres Axiomensystems praktisch aufweist, so erlangen damit auch alle seine Konsequenzen für diesen Vorgang Gültigkeit. Ebenso gilt das Umgekehrte: Zeigen sich alle Konsequenzen der Axiome der ungestörten Gravitationsbewegung an einem Vorgang erfüllt (realisiert), so gestattet das Axiomensystem die eindeutige Zuordnung von "Massen"-Werten an die beteiligten Körper. Konsequenzen lassen sich aus unserem Axiomensystem auf dem Wege der Analysis ableiten. Besonders einfach sind sie für den Spezialfall von zwei endlichen Kugeln (also n = 2), welche sich nicht geradlinig aufeinander zu oder voneinander weg bewegen; a) Die beiden Kugeln bewegen sich umeinander in Kegelschnitten (Ellipsen, Parabeln, Hyperbeln) gegenüber dem FKS; b) Die Orientierungslage der Ebene eines solchen Kegelschnitts ist unveränderlich relativ zum FKS. Man sagt auch: Die Bahnen liegen in einer "unveränderlichen Ebene". c) In gleichen Zeitabschnitten überstreichen die geraden Verbindungslinien beider Kugelmittelpunkte (die sog. Radius-Vektoren) gleiche Flächen (sog. "Flächen-Satz").
3. Kap.: Die Kausalität und das Gravitations-Gesetz
92
d) Im Falle einer Ellipsenbahn wird die Summe der Massen (MA + Mn) durch den Ausdruck (5.1)
gegeben, wobei U die Umlaufszeit in der Ellipse und aA sowie an die beiden großen Halb-Achsen bedeuten. e) Die großen Halb-Achsen verhalten sich umgekehrt wie die Massen: (5.2)
f) Sind die großen Halb-Achsen sowie die Umlaufszeit U gemessen worden, so sind damit die beiden Massen MA und Mn, jede für sich, eindeutig, d. h. in einem einheitlichen Maßstab für alle Massen, bestimmt, nicht bloß ihr Massen-Verhältnis. Es ist nämlich dann (5.3)
und
g) Allgemein gilt: (5.4)
Dieser Satz ist hier nicht wie bei Newton ein Axiom (actio = reactio), sondern eine Folgerung aus der axiomatischen Proportionalität von Masse MA und Veränderung b (an Mn) und umgekehrt. Dieser Satz gilt unabhängig vom Axiom li, ein Umstand, auf den wir bei der Betrachtung des "Stoßes" noch zurückkommen werden (Kap. IV, B, 11. Abschn.). h) Numerische Beispiele werden in anderem Zusammenhange im Kap. IV, B, 10. Abschn. gegeben werden.
5. Der Begriff der Masse und der Satz von der allgemeinen Gravitation Das Denkverfahren der Exhaustion. Der Begriff der Kraft Die Definition einer Masse A durch eine meßbare Bewegungsänderung einer anderen Masse B könnte auf den ersten Blick absurd erscheinen. Aber man würde auf diesen Einwurf ähnlich und entsprechend erwidern
5. Masse und allgemeine Gravitation
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müssen, wie I. Kant den Gegnern der "unmittelbaren Wirkung in die Ferne" erwidert hat: Der Einwurf meint, daß eine Masse doch nicht durch etwas definiert werden könne, was sie selbst gar nicht ist. Aber es ist so wenig widersprechend, daß man vielmehr sagen kann: Eine Masse kann nur durch etwas definiert werden, was sie nicht selbst ist. Denn würde sie durch sich selbst definiert, so wäre sie überhaupt nicht definiert17• Da nun sowohl die Gravitation als auch ihre eben formulierten Konsequenzen zunächst geistige Gebilde darstellen ohne einen Zusammenhang mit der Wirklichkeit, so kann die Herstellung eines solchen Zusammenhangs, die "Realisierung", nur durch eine Reihe aktiver Willensakte und Handlungen erfolgen. Die erste aktive Handlung in dieser Richtung besteht darin, jedem realen "Ding" (Körper) im Vorwissenschaftlichen Sinne dieses Wortes eine "Masse" zuzuordnen. Hier aber erhebt sich eine fundamentale Schwierigkeit. Im Axiom VI ist wesentlich von einer bestimmten Anzahl n von Körpern die Rede. In der Wirklichkeit ist es aber niemals möglich, eine solche Anzahl n exakt anzugeben; ja die Irrationalität des Wirklichen drückt sich gegenüber der Rationalität unserer Axiomatik u. a. darin aus, daß die Anzahl n günstigsten Falles mit praktisch hinreichender Genauigkeit angegeben werden kann, - daß in weniger günstigen Fällen die Aussicht besteht, durch allmähliche Entdeckung und theoretisch-hypothetische Einordnung weiterer Körper erst sukzessive eine praktisch hinreichende Genauigkeit der Anzahl n zu erreichen, - und daß in ungünstigen Fällen auch diese Aussicht kaum besteht, sondern die Anzahl n der im Axiom VI (Seite 87) ansetzbaren Körper so sehr von der "Wirklichkeit" abweicht, daß eine direkte Massenbestimmung dieser n Körper aus dem Axiom VI nicht möglich ist. Diese Realisierungsschwierigkeit des Axioms VI führt unmittelbar zur Einführung des zusätzlichen Begriffes der "Störung" und des Begriffes der "Kraft": 17 Der Originalwortlaut Kants lautet: "Der gemeinte Einwurf wider die unmittelbare Wirkung in die Ferne ist, daß eine Materie doch nicht da, wo sie nicht ist, unmittelbar wirken könne ... Allein es ist so wenig widersprechend, daß man v.ielmehr sagen kann: ein jedes Ding im Raume wirkt auf ein anderes nur an einem Ort, wo das Wirkende nicht ist. Denn sollte es an demselben Orte, wo es selbst ist, wirken, so würde das Ding, worauf es wirkt, gar nicht außer ihm sein." (Metaphys. Anfangsgründe der Naturwiss. {1786), Dynamik, Anmerkung 1 zu Lehrsatz 7).
3. Kap.: Die Kausalität und das Gravitations-Gesetz
94
Es seien n (kugelförmige) Körper bekannt, denen im Rahmen des Axioms VI Massenwerte zuzuordnen sind, und deren relative Effektivbeschleunigungen ~elf(kJ (k = 2 ... n) sowie relative Lage-Vektoren tirc meßbar sind. Diese Konfiguration sei ein "mechanisches Modell" genannt; ein solches hat stets singulären (hic-et-nunc-) Charakter. Dann gelten axiomatisch (n-1) Vektorgleichungen der Form (2.1); beim Versuch, hieraus die n Massen m; zu berechnen, möge sich nun zeigen, daß die vorliegenden (3n-3) Gleichungen zu Widersprüchen führen; es mögen sich z. B. aus n dieser Gleichungen zwar n Massenwerte bestimmen lassen, aber die übrigen (2n-3) Gleichungen seien mit diesen Massenwerten nicht vereinbar. Dann würde es dem gesteckten Ziel der Realisierung des Axioms VI widersprechen, wenn man das Axiom VI überhaupt aufgeben und etwa durch ein anderes ersetzen wollte. Auch läge hierzu kein Zwang von außen her vor, ein sog. "empirischer" Zwang. Denn die Realisierung des Axioms VI kann prinzipiell immer durch Erhöhung der Anzahl n der an der Realisierung beteiligten Körper angestrebt und gefördert werden, d. h. durch eine Änderung des "mechanischen Modells". Solange solche zusätzlichen Körper aber (wie wir es vorausgesetzt haben) nicht bekannt sind (die Körper Nr. n+t, n+2, n + 3, .. .), kann immerhin und in jedem Falle deren Beitrag zu den Effektiv-Beschleunigungen Veff(k) (k=1 ... n) durch additive Zusatzglieder auf der rechten Seite von Gl. (2) berücksichtigt werden. Wir wollen sie "Zusatz-Beschleunigungen" oder "Störungs-Beschleunigungen" nennen und mit oPJ bezeichnen: (6)
b(k)
z
=
b(k)l n+
+ b(k)2 + . . . . + ... . n+
Das Axiom VI erhält so die Form: (7)
b (k) = b(k)
•ff
1
+ b(k) + 2
•••
+ b(k) + b(k) n z
unter Ausschluß von b~) •
Nun werde durch eine Nominal-Definition der Begriff der (störenden) "Kraft" eingeführt und zwar als Vektor Sf, welcher mit der Zusatz-Beschleunigung vPJ und mit der Masse mk in der folgenden axiomatischen Beziehung steht: (8) Axiom VII
Das Axiom VII könnte als das "Axiom der Kraft" bezeichnet werden; es lautet in Worten:
5. Masse und allgemeine Gravitation
95
Auf den Körper k mit der Masse mk wirkt die (störende) "Kraft" als sog. "Ursache" 18 und gibt zu einer Zusatz-Beschleunigung 'f>PJ dieses Körpers als sog. "Wirkung" 19 Anlaß.
~(k)
Dieser Satz tritt an die Stelle des 2. Axioms von I. Newton. Wegen dieser Ersetzung eines Axioms durch ein anderes, mit ihm in Widerspruch stehendes, muß die in diesem Buche aufgebaute methodische Physik als "nicht-klassisch" bezeichnet werden. Der Newtonsehen Physik gegenüber, die wegen ihres undefinierten Massenbegriffs axiomatisch unvollständig ist, ist die methodische Physik axiomatisch vollständig. Aus (7) und (8) folgt als zweite, praktisch besonders wichtige Form des Axioms VII die definitorische Bezeichnung für die Kraft ~(k): (9)
unter Ausschluß von gelegt ist.
'f>k(k),
wobei
b/k)
gemäß Axiom II durch {2a) fest-
Sind also n (kugelförmige) Körper bekannt mit ihren Massen m" (k = 1 ... n) und ihren gegenseitigen Lagevektoren t;re, sind ferner ihre Effektiv-Beschleunigungen bett(k) zu einer bestimmten Zeit t gemessen
worden20, so können aus (9) die auf sie wirkenden "Kräfte" ~(k) zur Zeit t berechnet werden. Die Resultate sind mit Recht und in einem klar definierten Sinne als "empirisch" zu bezeichnen, da sie sich auf ein bestimmtes Modell beziehen. Durch das Axiom VII (Gl. (9)), d. h. durch die axiomatische Einführung von (störenden) "Kräften" wird die universelle Realgeltung des Axioms VI praktisch in jedem Einzelfall gesichert; denn die störenden Kräfte ~(k) sind so festgelegt, daß das Axiom VI stets erfüllt sein muß. Man sagt mit einem von H. Ding/er eingeführten terminus technicus: Das Axiom VI (und überhaupt das gesamte Gravitations-Axiomensystem I-VII) wird durch "Exhaustion" in seiner Realgeltung gesichert. 1s Im Sinne von "causa efficiens". 19 Diese Wirkung wird auch oft als "Störung" bezeichnet; jedoch wird dieses Wort nicht nur für Zusatz-Beschleunigungen verwendet, sondern auch für deren Integrale (Geschwindigkeits- und Ortsabweichungen von der kräftefreien Bewegung), so daß es ohne nähere Angabe nicht eindeutig ist. 20 Auf die Verwendung von ff3ett statt bett sei hier im gleichen Sinne hingewiesen wie in GI. (2.0) und (2.1).
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3. Kap.: Die Kausalität und das Gravitations-Gesetz
Es entspricht der Idealität des Gravitations-Axiomen-Systems, daß e!n Exhaustions-Verfahren theoretisch niemals zu einem Abschluß kommt, da auch die von ihm methodisch eingeführten (störenden) "Kräfte" gemäß GI. (6) danach verlangen (im Sinne der Realisierungsforderung der Axiome I bis VI), exhauriert und damit "erklärt" zu werden: GI. (6) für IiPJ hat ja die gleiche Form wie GI. (2) und kann daher prinzipiell genau so behandelt werden. Es ist hiernach und nach GI. (8): (10)
fi(k) Jt -
mk
. ["(k) un+l
l' + t.(k) un+2 + · · •
wobei aber die fl(k)n+i zunächst unbekannt sind. Gelingt es aber, p neue (kugelförmige) Einzelkörper zu entdecken (die Körper Nr. n+1, n+2, ... n + p) und ihre relativen Lagevektoren rik anzugeben, so löst sich (10) auf in: (11)
S{'(k) =
m k . [b(k) >t+l
+ b(k) + n+2
•••
+ b(k) ] + Sf'(k) n+p
Die (störenden) Kräfte Sf(kJ sind damit bis auf Reste und für Sf'(k} gilt, entsprechend zu (9):
Sf'(k)
"erklärt"
(12)
Innerhalb der Klammer steht die nun kleinere Zusatzbeschleunigung st'/k) als "Wirkung" oder als "Störungsbeschleunigung" (13)
'(k) -
bz
wobei die einzelnen
-
t.(k) un+p+l
t.(k) + t.(k) un+p+2 + · · · + un+p+