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German Pages 348 Year 2004
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 944
Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State Zur veränderten Rolle des Staates nach der Deregulierung der Stromwirtschaft in Deutschland, Großbritannien und der EU
Von
Reinhard Ruge
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
REINHARD RUGE
Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 944
Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State Zur veränderten Rolle des Staates nach der Deregulierung der Stromwirtschaft in Deutschland, Großbritannien und der EU
Von
Reinhard Ruge
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat aufgrund dieser Arbeit im Jahre 2003 den Doktorgrad Dr. iur. verliehen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11350-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort „In Jene lebt sich’s bene“! Diese Studentenweisheit ist so richtig wie sie alt ist. So war es auch für mich eine große Bereicherung, meine Promotion an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Graduiertenkolleg der DFG „Möglichkeiten privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Steuerung im europäischen und internationalen Wirtschaftsrecht (Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung)“ verfassen zu können. Nicht zuletzt die zahlreichen Ausflüge auf die umliegenden Hügel und der Ausblick auf anmutige Landschaften haben immer wieder für freies „Forschersichtfeld“ gesorgt. Zum guten Gelingen haben auch die paradiesischen Räumlichkeiten in „der Villa“ am Jenaer Sonnenberg beigetragen. Der finanziellen Sorgen hat mich ein Stipendium der DFG enthoben. Hierfür und für die Betreuung des DFG-Graduiertenkollegs durch Herrn Prof. Dr. K. M. Meessen und sein Lehrstuhl-Team bin ich sehr dankbar. Dank schulde ich auch meinem Doktorvater Prof. Dr. P. M. Huber für Betreuung und Begutachtung sowie Herrn Prof. Dr. M. Brenner für die Erstellung des Zweitgutachtens. Einen großzügigen Druckkostenzuschuß gewährte die Deutsch-Britische Juristenvereinigung. Schließlich und endlich möchte ich meinen Eltern danken, deren Liebe und Unterstützung mich über die letzten drei Jahrzehnte wie selbstverständlich begleitet haben. Die vorliegende Arbeit ist auf dem Stand ihrer Einreichung bei der Fakultät im Herbst 2001, ganz vereinzelt konnten noch Beiträge aus dem Jahre 2002 berücksichtigt werden. Wegen ihres grundsätzlichen Ansatzes hat die Arbeit dennoch nichts von ihrem aktuellen Charakter verloren. Hamburg, im Herbst 2003
Reinhard Ruge
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Zur Rechtsvergleichung im allgemeinen, im öffentlichen Recht und im Bereich des Energierechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtsvergleichung im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Rechtsvergleichung im Bereich des Energierechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben . . . .
27
I. Privatisierung und Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Privatisierung: Eigentumsstruktur und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Gretchenfrage: Effizienzsteigerung durch private Eigentumsform? . . . . . . . . . .
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a) Eigentumsrechts-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Prinzipal-Agent-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
c) Public Choice Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Empirische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Begriff der Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Gründe für Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Normative Theorie der Regulierung: Fünf Fälle des Marktversagens . . . . .
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aa) Informationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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bb) Externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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cc) Monopole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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dd) Ruinöser Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ee) Öffentliche Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis b) Theorie der Privatinteressen / Positive Theorie der Regulierung . . . . . . . . . .
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aa) Capture-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
bb) Public-Choice-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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cc) Theorie der Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
2. Deregulierung und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
3. Deregulierung und Re-Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit: Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gemeinsame Wurzeln der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften bei der Betrachtung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Von der Antike bis zum Mittelalter: Einheit von Ethik, Wirtschafts- und Staatsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Merkantilismus, Kameralistik und die „gute Policey“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Staatswissenschaft und Staatswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Auseinanderentwicklung der Staatswissenschaft als einigendes Band von Rechtswissenschaften und Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Positivismus als Erscheinung der modernen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Rechtspositivismus: Auseinanderfallen von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Die Situation vor dem Auftreten des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Hobbes als Ahne des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Zentrale These des Rechtspositivismus: Trennung von Recht und Moral
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d) Rechtspositivismus in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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e) Besonderheiten des Rechtspositivismus in der deutschen Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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f) Untersuchungsgegenstand und Methode der Rechtswissenschaft . . . . . . . . .
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4. Positivismus und Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Wirtschaftsdenken bis zum Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Trennung des wirtschaftswissenschaftlichen vom moralischen Denken . . .
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c) Der Methodenstreit in Deutschland: Schmoller gegen Menger . . . . . . . . . . .
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d) Untersuchungsgegenstand und Methode der heutigen Nationalökonomie
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Inhaltsverzeichnis
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III. Re-Integrationsversuche neuerer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Wiederbelebung interdisziplinärer Forschung und Lehre zwischen Recht, Wirtschaft und Politik an den Universitäten in Deutschland und Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
a) Forschung und Lehre in Deutschland im ausgehenden 20. Jahrhundert . . .
72
b) Forschung und Lehre in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Fazit: Differenzen und Kongruenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kongruenz rechtswissenschaftlicher mit wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Divergenzen zwischen rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Die Rolle der EU nach der Liberalisierung des Elektrizitätssektors im EURecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Rechtsdogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Neutralität, Art. 295 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Staatliche Handelsmonopole, Art. 31 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Öffentliche Unternehmen, Art. 86 I EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, Art. 16 und 86 II EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Universaldienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Herkunft des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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bb) Heutige Verwendung im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
5. Typisch hoheitliche Staatsaufgaben und Art. 86 EG: Eingeschränkter Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Deregulierungspolitik der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Wettbewerbsförderung durch Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
2. Gemeinwirtschaftliche Regelungen im Zuge der Deregulierung . . . . . . . . . . . . .
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III. Der Stromsektor bis zur Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. EU-Energiepolitik und Rechtsgrundlagen im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
2. Entwicklungsstadien einer EU-Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Zögerlicher Anfang: Die 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Verstärkte Aktivitäten nach der Ölkrise 1973 / 74 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
c) Strukturen der Stromwirtschaft vor der Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Notwendigkeit und Prinzipien der EU-Strompolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
a) Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Grundprinzipien der EU-Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Wettbewerb durch Energiebinnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Versorgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Drei Stufen der Deregulierung in den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Der Beitrag des EuGH zur Entstehung des Strombinnenmarktes . . . . . . . . . . . . 106 a) Das Almelo-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Kommission / Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Kommission / Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 d) Kommission / Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 e) Kommission / Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 f) PreussenElektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 g) Bewertung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Das Rechtsregime im Stromsektor nach der Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Zwei Kategorien rechtlicher Regeln im Stromsektor: Wettbewerbsfördernde und gemeinwirtschaftliche Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Wettbewerbsfördernde Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Datenerhebung für weitere Deregulierungsschritte: Preistransparenz-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Interoperabilität nationaler Netze durch Interkonnektoren: Transit-RL 118 cc) Leitungsverbindung Erzeuger / Kunde als zentrale Wettbewerbsbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 dd) Wettbewerb im Erzeugungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 ee) Entflechtung von Rechnungslegung und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . 121 ff) Schrittweise Marktöffnung und Ungleichgewichtsklausel . . . . . . . . . . . 123 gg) Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Gemeinwirtschaftliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Versorgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 dd) Art. 3 III RL und Art. 86 II EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 ee) Teilhaberechte aufgrund EG-Primärrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 V. Ergebnis: Veränderte Rolle der EU im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Inhaltsverzeichnis
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E. Staatliche Gewährleistungsverantwortung nach der Liberalisierung des Elektrizitätssektors in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 I. Rechtsdogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Der Privatisierungsbegriff in der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zur Bestimmung staatlicher Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Staatsaufgabenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Georg Jellinek: exklusive und konkurrierende Staatsaufgaben . . . . . . . . . . . 139 b) Hans Peters: Staatsaufgaben und öffentliche Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Abgrenzung der Staatsaufgabe zu Staatsziel, Staatszweck und Staatsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 d) Fehlen einer einheitlichen Staatsaufgabenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Die Begründung und der ursprüngliche Inhalt des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Der Begriff im Wandel: Daseinsvorsorge als moderner Rechtsbegriff mit Tatbestand und Rechtsfolge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Ursprung, Tatbestand und Rechtsfolgen des französischen Konzepts des „service public“ im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Merkmale des Tatbestands der Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 cc) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 dd) Jüngste Verwendung im Rahmen des Europarechts: Neue Konturen für einen alten Irrwisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 c) Kritik am Begriff der Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5. Verantwortungsbereiche als jüngste Kategorie zur Bestimmung staatlicher Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Ursprung des Verantwortungsbegriffs in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . 161 b) Zweck und Funktion des Verantwortungsbegriffs in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Verantwortungsbegriff in heuristischer und normativer Verwendung
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bb) Verantwortungsbegriff als interdisziplinärer Verbundbegriff . . . . . . . . . 164 cc) Verantwortungsbegriff als Zurechnungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 dd) Verantwortungsbegriff als Kompetenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 ee) Verantwortungsbegriff als Betätigungsabschichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 c) Spielarten des Verantwortungsbegriffs in Gesetz und Dogmatik . . . . . . . . . . 167 aa) Der Verantwortungsbegriff in Gesetz und Rechtsprechung . . . . . . . . . . 167 bb) Kombinationsmöglichkeiten in der Rechtswissenschaft: Die Rückkehr der Begriffsjurisprudenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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Inhaltsverzeichnis d) Kritik am Verantwortungsbegriff aus der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . 169 e) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6. Gewährleistungsverantwortung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Begrifflicher Zusammenhang: Erfüllungsverantwortung, Auffangverantwortung, Infrastrukturverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Gewährleistungsverantwortung bei der Bahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Gewährleistungsverantwortung bei Post und Telekommunikation . . . . . . . . 176 d) Gewährleistungsverantwortung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 e) Normative und heuristische Bedeutungsebene der Gewährleistungsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Normativer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 bb) Heuristischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 f) Ergebnis: Existenz einer Gewährleistungsverantwortung in den Bereichen Bahn, Post und Telekom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Zur Entwicklung der öffentlichen Unternehmen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 188 2. Die Strukturen der Stromwirtschaft in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 a) Wirtschaftliche Gründe für Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Geschichtliche Entwicklung der Stromwirtschaft in Deutschland im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Struktur der Stromwirtschaft im Nachkriegsdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Deutschland – Ost (SBZ / DDR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Deutschland – West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Das Rechtsregime im Stromsektor vor der Deregulierung (bis 1998) . . . . . . . . 198 a) Zwei Kategorien rechtlicher Regeln im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Wettbewerbsersetzende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 aa) Ausgangspunkt: Zielrichtung des EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 bb) Staatliche Regulierung und Aufsichtsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (1) Betriebsaufnahmegenehmigung § 5 EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . . . . 199 (2) Investitionskontrolle § 4 EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (3) Betriebsuntersagung und Enteignung §§ 8,9 EnWG 1935 („Abmeierung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (4) Wegenutzung § 12 EnWG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (5) Wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahmen § 103 I GWB a.F. und Energiekartellaufsicht § 103 V (104a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (6) Aussage des EnWG 1935 zur Eigentumsstruktur § 2 II EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 cc) Wettbewerbsfreundliche Ausnahme: Durchleitungstatbestand des § 103 V S. 2 Nr. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Inhaltsverzeichnis
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b) Gemeinwirtschaftliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 aa) Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 bb) Anschluß- und Versorgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 cc) Versorgungssicherheit durch Bevorratung und technische Regelungen 205 dd) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Fazit: Keine Erfüllungsverantwortung des Staates vor der Deregulierung . . . . 206 III. Der Stromsektor seit der Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Das politische Umfeld: Politik der Privatisierung und Deregulierung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Ursachen der Diskussion in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Ziele und Gründe der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 c) Politische Umsetzung der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungsideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 aa) Programme und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Praktische Umsetzung der politischen Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Die Deregulierungspolitik im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektors: Gewährleistungsverantwortung in normativer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Berechtigung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 b) Verpflichtung des Staates: Staatliche Gewährleistungsverantwortung . . . . 219 aa) Staatszielbestimmung des Art. 20 I GG: Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . 220 bb) Staatszielbestimmung des Art. 20a GG: Umweltstaatsprinzip . . . . . . . 223 cc) Menschenwürde, Art. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 dd) Grundrechte als normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 ee) Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, Art. 109 II GG . . . . . . . . . . . . . 231 ff) Kompetenzordnung: Gesetzgebungskompetenz Art. 74 I Nr. 11 und Verwaltungskompetenz Art. 83 ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 c) Ergebnis: Existenz staatlicher Gewährleistungsverantwortung für Stromversorgung in normativer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4. Bestehendes Rechtsregime im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) EU-rechtlicher Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 aa) Wettbewerbsfördernde und wettbewerbsausschließende Regelungen
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(1) Betriebsaufnahmegenehmigung § 5 EnWG 1935 und Art. 5 I StromBM-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 (2) Investitionskontrolle § 4 EnWG und Art. 4 und 5 RL . . . . . . . . . . . 234
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Inhaltsverzeichnis (3) Wegebenutzung und Demarkationsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 (4) Durchleitungsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 (5) Entflechtung und Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 bb) Gemeinwirtschaftliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 (1) Preisgestaltung und Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 (2) Anschluß- und Versorgungspflicht, Versorgungssicherheit . . . . . . 235 (3) Quersubventionen der Stadtwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Wettbewerbsfördernde Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 aa) Zielrichtung des EnWG 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 bb) Betriebsaufnahmegenehmigung § 3 EnWG 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 cc) Streichung der Investitionskontrolle des § 4 EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . 237 dd) Streichung der Abmeierung nach §§ 8, 9 EnWG 1935 . . . . . . . . . . . . . . 238 ee) Wegenutzung § 13, 14 EnWG 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 ff) Durchleitungsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 (1) Energierechtlicher Durchleitungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 (2) Kartellrechtlicher Durchleitungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 gg) Stromhandel über Strombörsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 c) Gemeinwirtschaftliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Anschluß- und Versorgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 cc) Versorgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 dd) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 ee) Braunkohleverstromung in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5. Ergebnis: Staatliche Gewährleistungsverantwortung im deutschen Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
F. Der „Regulatory State“ nach der Deregulierung des Elektrizitätssektors in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Begriffliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Der Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung vergleichbares Begriffspaar: „Providing and Regulatory State“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. „Providing State“, „Productive State“ und „Rowing State“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. „Regulatory State“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 a) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 b) Regulierung „UK Style“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 c) Traditionelle Regulierung in Großbritannien, das Modell „Regulation UK Style“ und die Wirklichkeit: Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4. Die Begriffe „Government“ und „State“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Inhaltsverzeichnis
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II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Entwicklung öffentlicher Unternehmen in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Geschichtliche Entwicklung der Stromwirtschaft in Großbritannien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Das Rechtsregime im Stromsektor vor der Deregulierung 1989 . . . . . . . . . . . . . 257 a) Wettbewerbsersetzende Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Eigentumsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 bb) Investitionsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 cc) Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Gemeinwirtschaftliche Regeln („Social Regulation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 aa) Anschluß- und Versorgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 bb) Verbraucherschutz und „Disconnections“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 cc) Versorgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 dd) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4. Fazit: Der britische Staat als „Providing State“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 III. Der Stromsektor seit der Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Das politische Umfeld: Politik der Privatisierung und Deregulierung in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Ursachen der Diskussion in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Ziele und Gründe der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Politische Umsetzung der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Deregulierungspolitik im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektors? . . . 267 a) Parliamentary Sovereignty oder Supremacy: Parlamentarische Allmacht
267
aa) Ursprung des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 bb) Inhalt des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 (1) Umfassende und unbeschränkbare Souveränität ohne konkurrierende legislative Autoritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 (2) Einschränkung der Souveränität möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (3) Formelle, keine materielle Einschränkbarkeit der Souveränität 271 cc) Bedeutung des Prinzips für energiewirtschaftliche Regelungen . . . . . . 272 b) Constitutional Conventions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Eine vergessene Geschichte: Common Law Prinzipien als gemeinwirtschaftliche Ansprüche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 d) Grundrechte nach britischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Inhaltsverzeichnis e) Menschenrechte nach der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 aa) Die EMRK und britisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 bb) Positive Rechte aus der EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 f) EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 aa) Parliamentary Sovereignty und britische EU-Mitgliedschaft . . . . . . . . . 284 bb) Gemeinwirtschaftliche Regelungen im EU-Recht und ihre nationale Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 g) Ergebnis: Keine verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben für gemeinwirtschaftliche Regelungen im Stromsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4. Bestehendes Rechtsregime im Stromsektor nach der Deregulierung . . . . . . . . . 288 a) Wettbewerbsfördernde Regelungen („Competitive Regulation“) . . . . . . . . . 290 aa) Eigentumsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 bb) Das Lizenzsystem: Betriebsaufnahmegenehmigung und Betriebsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 cc) Preisgestaltung („Pricing“): „Electricity-Pool“ und seine Abschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Funktion, Organisation und Arbeitsweise des Pools . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik am Strom-Pool . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Abschaffung des Strom-Pools . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291 291 295 298
b) Gemeinwirtschaftliche Regelungen („Social Regulation“) . . . . . . . . . . . . . . . 305 aa) Anschluß- und Versorgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 bb) Umweltfreundliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 cc) Verbraucherschützende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 c) Rechtliche Umsetzung der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 aa) Rechtsgrundlage für Lizenzänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 bb) Notwendige Lizenzänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Rechtliche Struktur des Balancing and Settlement Codes . . . . . . . . . . . 309 d) Notwendige Änderungen der bindenden Industrievereinbarungen . . . . . . . . 310 IV. Ergebnis: Der britische Staat als „Regulatory State“ im Stromsektor . . . . . . . . . . . 310 G. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 English Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. a.F. ABl. AC AöR Art. Aufl. Bd. BDI BGBl. BGHZ BR-Drs. BSC BT-Drs. BTOElt BVerfG BVerwG C.M.L.Rev. CEGB ders. DÖV DTI DtZ DVBl. DVG ECHR EG EGV EMRK EnWG ER ET EU 2 Ruge
am angegebenen Ort Alter Fassung Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Appeal Court Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Band Bundesverband der Deutschen Industrie Bundesgesetzblatt Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesrats-Drucksache Balancing and Settlement Code Bundestags-Drucksache Bundestarifordnung für Elektrizität Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Common Market Law Review Central Electricity Generation Board derselbe Die öffentliche Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik Department for Trade and Industry Deutsch-deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verbundgesellschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag über die Europäische Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Amsterdam Vertrag über die Europäische Gemeinschaft in der Fassung bis zum Vertrag von Amsterdam Europäische Menschenrechts-Konvention Energiewirtschaftsgesetz England Law Reports Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Zeitschrift für Energiewirtschaft, Recht, Technik und Umwelt Europäische Union
18 EuGH EuGRZ EuZW EW Fn. GewArch GG GWB HdWW HG Hrsg. Ibid. ICLQ JA JEV JöR JuS JZ Kom m. w. N. MW NETA NGC NJW Nr. OFFER OFGEM PSA QBD RdE REC RFDA RGBl. RIW RL Rn. Rs. S. SJZ Slg. StwStpr TKG Tz.
Abkürzungsverzeichnis Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Magazin für Energiewirtschaft Fußnote Gewerbearchiv: Zeitschrift für Gewerbe- und Wirtschaftsverwaltungsrecht Grundgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften Hauptgutachten Herausgeber Ibidem (= a. a. O.) The international and comparative law quarterly Juristische Arbeitblätter Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Juristenzeitung Mitteilungen der Kommission der EG Mit weiteren Nachweisen Megawatt New Electricity Trading Arrangement National Grid Company Neue Juristische Wochenschrift Nummer Office for Electricity Regulation Office or Gas and Electricity Markets Pooling and Settlement Agreement Queen’s Bench Division Recht der Energiewirtschaft Regional Electricity Company Revue française de droit administratif Reichsgesetzblatt Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtssache Seite Süddeutsche Juristen-Zeitung Sammlung der Entscheidungen des EuGH Staatswissenschaften und Staatspraxis Telekommunikationsgesetz Textziffer
Abkürzungsverzeichnis u. a. UK ULR v. VDEW VEnergR VerwArch vgl. VIK VO Vol. VV VVDStRL WISU WuW ZaöRV ZgStW zit. ZNER ZögU ZRP
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und andere (bei Verfassern oder Erscheinungsorten), sonst unter anderem United Kingdom: Vereinigtes Königreich Utilities Law Review versus (in Urteilen) sonst vom Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln Verwaltungsarchiv: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht u. Verwaltungspolitik vergleiche Vereinigung Industrieller Kraftwirtschaft Verordnung Volume Verbändevereinbarung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Das Wirtschaftsstudium: Zeitschrift für Ausbildung, Examen und Weiterbildung Wirtschaft und Wettbewerb Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht / Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft = Journal of institutional and theoretical economics (JITE) zitiert Zeitschrift für neues Energierecht Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen Zeitschrift für Rechtspolitik
A. Einleitung I. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung Im Zuge der Deregulierungs- und Privatisierungspolitik seit den 1980er Jahren in Europa vollzog sich ein Wandel der Form, in der die öffentliche Hand in der Wirtschaft tätig wurde. Dieser Wandel wird häufig als Rückzug des Staates bezeichnet und in der Regel so beschrieben, daß der Staat selbständige Tätigkeit zugunsten privater Tätigkeit aufgibt und gleichzeitig die Verstärkung des Wettbewerbs fördert. In der deutschen Rechtswissenschaft, insbesondere in der Staatsrechtslehre, wird diese neue Rolle des Staates gelegentlich als staatliche Gewährleistungsverantwortung bezeichnet und in Gegensatz zur älteren Erfüllungsverantwortung gesetzt. In Großbritannien wird auf die Begriffe Providing / Regulatory State zurückgegriffen. In diesem Zusammenhang zielt die vorliegende Arbeit auf die Beantwortung verschiedener Fragen. So wird zunächst untersucht, in wieweit die Rechtswissenschaft in Deutschland und Großbritannien mit ihrer Begrifflichkeit die Rolle des Staates in der Wirtschaft unterschiedlich behandeln. Dabei wird deutlich werden, daß die britische Rechtswissenschaft im Zusammenhang mit der Deregulierungsund Privatisierungspolitik ganz wesentlich auf wirtschaftswissenschaftliche Begrifflichkeiten Rückgriff nimmt, während die deutsche Staatsrechtslehre eher eigenständige Lösungsansätze weitgehend unabhängig von anderen Disziplinen zu finden sucht. Zu diesem Zweck wird zunächst die Herangehensweise der Volkswirtschaftslehre an den Problemkreis dargestellt und diesem im Laufe der Untersuchung die Begrifflichkeiten der deutschen und britischen Rechtswissenschaften gegenübergestellt. Neben dieser eher wissenschaftstheoretischen Fragestellung werden in dogmatischer Hinsicht die Begriffe „Staatliche Gewährleistungsverantwortung“ der deutschen und „Regulatory State“ der britischen Rechtswissenschaft untersucht. Der in der deutschen Rechtswissenschaft noch verhältnismäßig unerschlossene Begriff der Gewährleistungsverantwortung wird durch Analyse der Wirtschaftssektoren Bahn, Post und Telekom sowie insbesondere Strom präzisiert. Die Gegenüberstellung dieses Begriffs mit dem britischen „Regulatory State“ fördert grundlegende Unterschiede bzgl. des normativen Inhaltes beider Begriffe zu Tage. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, inwieweit die These „von der staatlichen Erfüllungsverantwortung hin zur staatlichen Gewährleistungsverantwortung“
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A. Einleitung
bzw. „vom Providing zum Regulatory State“ als zutreffende Beschreibung der vollzogenen Veränderung der Rolle des Staates aufrechterhalten werden kann. Dabei werden im deutschen Teil ältere und neuere Bemühungen der Staatsrechtslehre zur Abschichtung von Betätigungskompetenzen zwischen Staat und Privatwirtschaft untersucht – Trennung Staat und Gesellschaft, Staatsaufgabenlehre, Daseinsvorsorge, Verantwortungsbegriff – sowie die genannte These anhand einer Analyse der Veränderungen des Rechtsregimes in Deutschland, Großbritannien und der EU überprüft. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede: Während in Großbritannien die These uneingeschränkt übernommen werden kann, muß in Deutschland im Stromsektor eine Einschränkung vorgenommen werden. Die EU wiederum läßt sich nur schwer in dieses Schema einpassen. Schließlich verdeutlicht die Untersuchung, daß bzgl. der Regelungen in der Versorgungswirtschaft im Zusammenhang mit Privatisierungs- und Deregulierungsvorhaben eine Unterscheidung zwischen wettbewerbsbezogenen (wettbewerbsersetzenden und wettbewerbsfördernden) und gemeinwirtschaftlichen Regelungen hilfreich ist. Sie erleichtert Analyse und Vergleich der jeweiligen Rechtsregimenter, indem bestehende Spannungslagen transparent werden. Da die vorliegende Arbeit eine rechtsvergleichende Untersuchung überwiegend im Bereich des öffentlichen Rechts ist, erscheinen einige grundlegende Bemerkungen über die Rechtsvergleichung angemessen.1
II. Zur Rechtsvergleichung im allgemeinen, im öffentlichen Recht und im Bereich des Energierechts 1. Rechtsvergleichung im allgemeinen a) Ziele Zwar gibt es die zweckfreie, reine Rechtsvergleichung, die allein die Gewinnung von Erkenntnissen zum Gegenstand hat2. Rechtsvergleichende Arbeiten werden jedoch in aller Regel mit einem ganz bestimmten Ziel verfaßt. Unter einer Vielzahl 1 Auf Ausführungen zur Geschichte der Rechtsvergleichung wird hier verzichtet, ebenso wie zum Streit um die Einordnung der Rechtsvergleichung als eigene Wissenschaft oder bloße Erkenntnismethode. Über die Geschichte finden sich zahlreiche Erörterungen; beispielhaft seien genannt Sturm, Geschichte, Methode und Ziele der Rechtsvergleichung; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 47 ff. Zum genannten Streit Constantinesco, Rechtsvergleichung Bd. III, in dem er den Beweis antritt, die Rechtsvergleichung sei eine autonome Disziplin. Dagegen vertritt Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, die Ansicht, die Rechtsvergleichung sei eine fünfte Auslegungsmethode in Savigny’scher Tradition. 2 Sturm, Geschichte, Methode und Ziele der Rechtsvergleichung , S. 235.
II. Zur Rechtsvergleichung im allgemeinen
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von Zielen sind die vier wohl bedeutendsten die Rechtsvergleichung als Auslegungsinstrument für die Rechtsprechung, Vorbereitung für Rechtsangleichung, Schärfung des Problembewußtseins in der Rechtswissenschaft und Praxis und schließlich als wohl traditionsreichstes Ziel die Rechtsvergleichung als Hilfsmittel für den Gesetzgeber. Dieser kann sich bei der Neuschaffung von Rechtsnormen die Problemlösungen anderer Rechtsordnungen vor Augen führen und hieraus Anregungen für den eigenen Gesetzgebungsprozeß gewinnen. Dies gilt sowohl für den nationalen Gesetzgeber als auch für die Schaffung internationalen Rechts3. b) Methode Jede rechtsvergleichende Arbeit sollte sich am Funktionalitätsprinzip ausrichten. Danach kommt es einerseits darauf an, sich bei der Darstellung fremder Rechtsordnungen von der eigenen nationalen Dogmatik zu lösen und sich auf das zugrundeliegende Problem bestimmter Regelungen zu konzentrieren. Entscheidend ist insofern die Funktion, die bestimmte Rechtsnormen erfüllen, die Art und Weise, wie sie im Leben auftretende Probleme lösen. Andererseits ist es wichtig, sich nicht auf einen kleinen Kreis von Rechtsnormen zu beschränken. Vielmehr müssen alle Rechtsquellen für die Untersuchung in Betracht gezogen werden4. Beim Vergleichen kann man sich entweder mit ganzen Rechtssystemen bzw. Rechtskreisen beschäftigen, man spricht hier von Makrovergleichung5. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Mikrovergleichung auf einzelne Rechtsprobleme innerhalb verschiedener Rechtsordnungen. In beiden Fällen ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Untersuchung eine gewisse Vergleichbarkeit der Rechtsordnungen oder Rechtsprobleme. Nach dem Funktionalitätsprinzip heißt dies, daß in den untersuchten Rechtsordnungen zumindest ähnliche Rechtsprobleme entstehen können. Vergleichbar ist nur, was dieselbe Aufgabe oder Funktion erfüllt. Vergleiche zwischen unterschiedlichen „Zivilisationsstufen“ oder etwa marktwirtschaftlich-demokratischen mit planwirtschaftlich-diktatorischen Systemen bieten wenig Grundlage für Vergleiche6. Der konkrete Vergleichungsprozeß vollzieht sich grundsätzlich in drei Stufen. Zunächst werden in Länderberichten die Rechtslagen der ausgewählten Länder 3 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 12 ff.; Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 441 ff. unterscheidet zwischen „nationalen“ und „internationalen“ Zielen. 4 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33 ff. 5 Die Rechtskreislehre, die für das Zivilrecht entwickelt wurde, und die Rechtsordnungen der Welt in verschiedene Rechtskreise mit Mutter- und Tochterordnungen einteilt, ist seit einiger Zeit starker Kritik ausgesetzt. Vgl. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. III, S. 73 ff.; Rösler, Rechtsvergleichung als Erkenntnisinstrument in Wissenschaft, Praxis und Ausbildung, S. 1187 f.; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 62 ff. 6 Sturm, Geschichte, Methode und Ziele der Rechtsvergleichung, S. 233 f.; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33.
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A. Einleitung
dargestellt. Anschließend werden die zu untersuchenden Phänomene ausgemacht und soweit zum Verständnis erforderlich in ihren geschichtlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Dabei bedient sich die Rechtsvergleichung auch der entsprechenden gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Schließlich erfolgt im dritten Schritt mit Synthese und Kritik der eigentliche Vergleich7. Der Aufbau der vorliegenden Arbeit folgt diesem Aufbau nur bedingt. So werden wirtschaftswissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Untersuchungen als grundlegende Teile gleichsam vor die Klammer gezogen. Darüberhinaus wird jeder einzelne Länderteil mit einem ausführlichen Ergebnis abgeschlossen, sodaß der eigentliche vergleichende Teil mit dem Gesamtergebnis zusammenfällt. Dieser Aufbau rechtfertigt sich vor allem dadurch, daß beide Länderteile sowie der EU-Teil stark auf die wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen Bezug nehmen und mit dem Vorziehen dieser das Verständnis und die Übersichtlichkeit gefördert wird. Ebenso wird bereits durch das Vorziehen der wissenschaftstheoretischen Ausführungen deutlich, auf welche unterschiedliche Weise die Rechtswissenschaften in den beiden Ländern sich dem untersuchten Phänomen nähern. 2. Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht Wenngleich die ersten Gegenüberstellungen des Rechts verschiedener Staaten Verfassungsvergleiche bei Platon und Aristoteles waren, so hat sich doch die Rechtsvergleichung lange Zeit auf das Privatrecht beschränkt, das entprechend als Heimat der Rechtsvergleichung bezeichnet wurde8. Der Grund dafür liegt darin, daß das öffentliche Recht traditionell von verfassungspolitischen, moralischen oder auch staatsmythischen Grundüberzeugungen geprägt ist und traditionell wenig Berührung zwischen den Verwaltungen zweier Länder oder den Verwaltungen eines Landes mit Bürgern eines anderen Landes stattfand. Im Gegensatz dazu machte der grenzüberschreitende Handel und Verkehr die Privatrechtsvergleichung bereits frühzeitig für einen großen Kreis von Personen interessant9. Während die Ziele, natürlich mit entsprechender Ausrichtung auf das öffentliche Recht, im Wesentlichen denen des Privatrechts entprechen10, so sind doch einige Eigenheiten bei der öffentlich-rechtlichen Vergleichung zu beachten11. 7 Vgl. Sturm, Geschichte, Methode und Ziele der Rechtsvergleichung, S. 234 f.; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 40 ff. 8 Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, S. 402. 9 Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, S. 396; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht I, S. 87. 10 Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 441 ff. 11 Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 432 ff.
II. Zur Rechtsvergleichung im allgemeinen
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So ergeben sich Besonderheiten daraus, daß das öffentliche Recht sich mit Struktur und Aufgaben der öffentlichen Gewalt und ihrem Verhältnis zum Einzelnen beschäftigt, also die wesentlichen Konstruktionselemente des Staates im Blick hat. Anders als überwiegend im Privatrecht wird das öffentliche Recht weitgehend nicht von immanenten Sachgesetzlichkeiten, sondern von politischen Kräften geprägt. Insbesondere für das Verfassungsrecht nimmt die Rechtsprechung beinahe eine wichtigere Rolle ein als die geschriebenen Verfassungsregeln12. Das öffentliche Recht arbeitet zudem besonders stark mit Rahmenvorschriften und ausfüllungsbedürftigen Wertbegriffen, die nicht mit formalen Auslegungsmethoden, sondern vor allem mit Bezug auf die Praxis ausgefüllt werden. Bei der Ausübung staatlicher Tätigkeit sind die Grenzen zwischen staatlicher Gebundenheit und Gestaltungsfreiheit der Staatsorgane häufig fließend. Schließlich ist das öffentliche Recht weit mehr als das Privatrecht ständigem Druck der politischen Kräfte ausgesetzt.
3. Rechtsvergleichung im Bereich des Energierechts Die Rechtsvergleichung im Bereich des Energierechts wiederum weist als Gegenstand einer rechtsvergleichenden Untersuchung einige Besonderheiten auf. So ist zunächst festzustellen, daß das Energierecht in besonderem Maße eine Querschnittsmaterie zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht ist. Je nach Ausgestaltung der Energiewirtschaft in den verschiedenen Staaten ist die Privatwirtschaft stärker engagiert, werden privatrechtliche Verträge über die Stromlieferung abgeschlossen und die Energie insgesamt von der Privatwirtschaft bereitgestellt. In Deutschland etwa sind Durchleitungsansprüche von Konkurrenten zivilrechtlicher Natur und ex-post-Preisaufsicht über Billigkeit von Stromtarifen kann nach § 138 BGB durch die Zivilgerichte erfolgen. Andererseits ist die ex-ante Preisaufsicht nach der BTOElt öffentlich-rechtlich und kann die Aufnahme der Energieversorgung von staatlichen Genehmigungen oder Lizenzen abhängen oder sogar ganz verboten sein zugunsten einer vollkommen staatlich organisierten Energieerzeugung. Aber auch in solchen Fällen bedient sich der Staat privatwirtschaftlicher Rechtsinstitute im Rechtsverkehr mit den Kunden. Es gibt bereits eine kleinere Anzahl von rechtsvergleichenden Arbeiten im Bereich des Energierechts.13 Zahlreich sind Studien internationaler Energieinstitutionen. Im Zuge der Herstellung eines Europäischen Binnenmarktes für Strom nehmen hier die Vergleiche zwischen den Mitgliedstaaten zu. Auch hier bieten sich zwei Möglichkeiten der Rechtsvergleichung. Die Mikrovergleichung untersucht einzelne Aspekte des Rechts der Energie. Die Makrovergleichung analysiert das 12 Welches große Ausmaß an Einfluß dabei einzelne Richter erreichen können kommentiert Zuck, Danke, Richter Kirchhof, danke! 13 Köster, Wettbewerbsorientierte Stromversorgung im Pool-System; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft.
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A. Einleitung
gesamte Rechtssystem der Energiewirtschaft. Notwendigerweise rücken dabei Einzelprobleme stärker in den Hintergrund. Die vorliegende Arbeit fällt in die zweite Kategorie. Sie vergleicht die Rolle des Staates im Energiesektor vor und nach der Liberalisierung. Dabei sind außerjuristische Exkurse in die Volkswirtschaftslehre (Teil B) sowie Untersuchungen politischer Zusammenhänge (D.III, E.III, F.III) unerläßlich.
B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben Bei der Frage nach staatlicher Verantwortung für die Gewährleistung der Stromversorgung ist es notwendig, zunächst einen Blick auf die wirtschaftswissenschaftlichen Vorstellungen über Sinn und Zweck von Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung zu werfen. Erst aus dieser Richtung der Wirtschaftspolitik, nämlich einem gewissen Rückzug des Staates von bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeiten, ergeben sich die Fragen nach Umfang Ausgestaltung und möglichen Grenzen für einen solchen staatlichen Rückzug. Nur wenn man die wirtschafswissenschaftlichen Konzepte und Ideen versteht, die hinter dieser Politik stehen, lassen sich sinnvolle Antworten auf die Frage nach staatlicher Verantwortung geben. Die Darstellung beschränkt sich auf grundlegende Darstellungen, um den Rahmen einer rechtswissenschaftlichen Arbeit nicht zu sprengen.
I. Privatisierung und Deregulierung Die Begriffe Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung stehen im Zentrum jüngerer Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaften. Dabei werden sie häufig gemeinsam genannt und synonym verwendet. Dies findet seinen Grund in der Tatsache, daß die Begriffe trotz ihrer Verschiedenheit auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Gemein ist ihnen zunächst, daß mit allen drei Schlagworten ein gewisser Rückzug des Staates von staatlich besetzten Positionen beschrieben wird. Dies kann sich auf den wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich beziehen, aber auch schlicht auf die Intensität öffentlicher Regelungen. Neben dieser gemeinsamen Tendenz eines staatlichen Rückzuges stehen die drei Begriffe aber auch für ein bestimmtes Politikprogramm vornehmlich aus den 1980er und 1990er Jahren. Gerade diese Tatsache erschwert eine trennscharfe Abgrenzung, da neben bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Bedeutungen andere Bedeutungen mitklingen, die in der Politik – bewußt oder unbewußt – unscharf bleiben. Liberalisierung hat in der Wirtschaftswissenschaft keine eigenständige Bedeutung erlangt und wird häufig als Oberbegriff für eine bestimmte Politikrichtung gebraucht. Hingegen verbindet die Wirtschaftswissenschaft mit den Begriffen Privatisierung und Deregulierung unterschiedliche Problemstellungen.
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B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben
II. Privatisierung: Eigentumsstruktur und Effizienz 1. Begriff Der Begriff der Privatisierung läßt sich in zweierlei Weise gebrauchen: Zum einen wird er als Schlagwort verwendet, das ganz allgemein eine staatliche Politik des Rückzuges wirtschaftlicher Aktivitäten des Staates zugunsten des privaten Sektors bezeichnet. Dieses Politik-Paradigma wird ganz allgemein mit der ReaganÄra, noch mehr aber mit der Regierungszeit Maragaret Thatchers verbunden1. Die politische Natur dieses Gebrauchs bringt eine gewisse Unschärfe mit sich und hat zur Folge, daß es sich hierbei um ein sehr weites Verständnis handelt. Die andere, in aller Regel enger gezogene Begrifflichkeit in der Wirtschaftswissenschaft, orientiert sich als zentralem, sinnstiftenden Kriterium an der Eigentumsform. In diesem Sinn bedeutet Privatisierung, die Übertragung staatlichen oder kommunalen Eigentums auf Private2. Diesem Verständnis entspricht die als materielle oder Vermögens- bzw. Eigentumsprivatisierung beschriebene Form der Privatisierung. Sie erfolgt durch den Verkauf staatlicher Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen an Private3. Mit ihr zieht sich der Staat aus wirtschaftlicher Tätigkeit zugunsten der Privatwirtschaft zurück. Diese Form stellt den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Fall der Privatisierung dar. In einem eher formal-juristischen Sinn wird nicht auf die Eigentumsposition, sondern auf die Rechtsform abgestellt. Entsprechend wird als formelle Privatisierung oder Organisationsprivatisierung die rechtliche Umwandlung der Rechtsbzw. Organisationsform eines Unternehmens von einem Regie- oder Eigentbetrieb oder öffentlichen Unternehmen in Gesellschaften des Privatrechts, wie z. B. Aktiengesellschaft oder GmbH, bezeichnet, ohne die bestimmende Position der öffentlichen Hand im privatrechtlich organisierten Unternehmen zu reduzieren.4 Die Organisationsprivatisierung ändert nichts an der Eigentumsposition der öffentlichen 1 In diesem weiten Sinn mit starkem Bezug auf das Privatisierungsprogramm der Thatcher-Regierung etwa Heald, Will the Privatization of Public Enterprises Solve the Problem of Control ?, S. 7 ff.; ders., Privatization and Public Money, S. 21 ff.; Beesley / Littlechild, Privatization: Principles, Problems, Priorities, S. 26 ff.; Beesley, Privatization: Reflections on UK Experience, S. 43 ff. 2 Vgl. Budäus, Privatisierung öffentlich wahrgenommener Aufgaben, S. 16; Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 42; Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 12; Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 28. 3 Vgl. Budäus, Privatisierung öffentlich wahrgenommener Aufgaben, S. 15 f.; Vickers / Wright, The Politics of Industrial Privatization in Western Europe: An Overview, S. 3 f.; Windisch, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 15 f. 4 Vgl. Budäus, Privatisierung öffentlich wahrgenommener Aufgaben, S. 15; Windisch, Privatisierung natürlicher Monnopole, S. 17.
II. Privatisierung: Eigentumsstruktur und Effizienz
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Hand. Sie ist jedoch häufig der erste Schritt zu einer Privatisierung im materiellen Sinn, indem zunächst eine Aktiengesellschaft mit staatlichem Aktienbesitz gegründet und dann in einem zweiten Schritt Aktien an Private veräußert werden5. Schließlich wird teilweise von „impliziter“ oder Privatisierung auf kaltem Wege gesprochen, wenn der Staat neben seiner eigenen Tätigkeit zusätzlich Private auf den Markt läßt6. Mit den beiden letztgenannten Kategorien wird der klassische Begriff der Privatisierung, der sich an der Eigentumsform orientiert, stark überdehnt. Es verschwimmen die Grenzen zu anderen Begriffen und Konzepten. In diesem schwierigen Bereich der Abgrenzung werden zahlreiche unterschiedliche Positionen vertreten, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Beispielhaft sei hier nur darauf hingewiesen, daß teils in der Literatur die kalte Privatisierung als Deregulierung verstanden wird. Diese wiederum wird als Synonym für Liberalisierung und als Unterfall der Privatisierung bezeichnet7. Um diesen Abgrenzungsschwierigkeiten zu entgehen, wird in der Arbeit im Folgenden mit Privatisierung die Vermögensprivatisierung gemeint. Sollte ein weiteres Verständnis im Sinne des politischen Programmes beschrieben werden, wird dies ausdrücklich deutlich gemacht.
2. Gretchenfrage: Effizienzsteigerung durch private Eigentumsform? Ziele der Politik der Privatisierung sind vielfältig8. So wird auf eine Reduzierung der Staatsverschuldung durch Verkauf von Unternehmen und damit einhergehend die Entlastung der Steuerzahler9 sowie insbesondere in Großbritannien auf die Entmachtung der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst hingewiesen10. Im Zentrum der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte um Für und Wider der Privatisierung steht jedoch die Frage „Does Ownership matter?“11, d. h. die Frage nach der Auswirkung der Eigentumsstruktur von Unternehmen auf die produktive und die allokative Effizienz. Unter Effizienz in diesem Sinn versteht man die Lenkung der Produktionsfaktoren (Input) in die produktivste Verwendung (Input-Optimierung) und gleichzeitig die Zusammensetzung des Güterangebots entsprechend den Nachfragebedürfnissen (Output-Optimierung) sowie zusätzlich die Erfüllung der Vgl. Pickering, The Mechanics of Disposal, S. 45 ff. Vgl. Windisch, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 15; Spelthahn, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 10; Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 13. 7 Windisch, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 22. 8 Kay / Thompson, Privatization: a Policy in Search of a Rationale, argumentieren, daß die Ziele der Privatisierungspolitik in Großbritannien nicht nur zahlreich, sondern vielmehr schlecht durchdacht und widersprüchlich waren und nicht erreicht wurden. 9 Vgl. Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 27 f. 10 Vgl. Thomas, The Union Response to Denationalization, S. 59 ff. 11 Yarrow, Does Ownership Matter?, S. 53 ff. 5 6
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B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben
dynamischen Wettbewerbsfunktionen, nämlich die Verwirklichung von Innovationen und Imitationen12. Diese Beschreibung kann sich einerseits auf ein einzelnes Unternehmen beziehen und wird daher aus dem betriebswirtschaftlichen Blickwinkel als produktive Effizienz bezeichnet. Zum anderen beschreibt der Ausdruck der allokativen Effizienz den volkswirtschaftlichen Blickwinkel, indem es die Volkswirtschaft quasi als Riesenunternehmen13 betrachtet. Hinsichtlich der Beurteilung der Effizienz gibt es verschiedene Ansätze, die auf unterschiedliche Weise und anhand unterschiedlicher Kriterien die Überlegenheit privater Eigentumsformen gegenüber öffentlichen zu begründen suchen. Die herausragendsten Ansichten bilden die Theorie der Verfügungsrechte, die PrinzipalAgent-Theorie und schließlich die Public-Choice-Theorie. a) Eigentumsrechts-Theorie Die Eigentumsrechts-Theorie oder Analyse, englisch „property-rights-theory“, sucht gesellschaftliche Entwicklungen anhand der Zuordnung von gesellschaftlich anerkannten Handlungsrechten zu erklären14. Nach dieser Theorie sind öffentliche Unternehmen weniger effizient als private. Der Grund hierfür wird im Auseinanderfallen von Eigentums- und Verfügungsrechten bei öffentlichen Unternehmen gesehen. Da Eigentümer den Gewinn einbehalten könnten, würden sie alles daran setzen, Unternehmensleistungen zu den geringst möglichen Kosten zu erbringen und ihren Interessen durch entsprechende Entscheidungen entweder als Unternehmereigentümer oder als Aktionäre zu verfolgen. Die Aussicht auf Gewinn erzeuge also Effizienz15. Anders sei dies im öffentlichen Unternehmen. Dem Eigentümer Steuerzahler sei es wenig einsichtig, welches konkrete Interesse er an einem effizienten Staatsunternehmen habe16. b) Prinzipal-Agent-Theorie Während die Theorie der Verfügungsrechte das Auseinanderfallen von Eigentum und Verfügungsrecht als Begründung für Ineffizienz öffentlicher Unternehmen benennt, begründet die Prinzipal-Agent-Theorie die Ineffizienz öffentlicher Unternehmen mit deren mangelhaften Anreizstrukturen17. Ausgangspunkt der Theorie Bartling / Luzius, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 46. Bartling / Luzius, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 45. 14 Wegweisend die Schrift von Coase, The Problem of Social Cost; einen aktuellen Überblick zu dieser Theorie gibt Kramer, Der Beitrag des Property-Rights-Ansatzes zur Erklärung wirtschaftlicher Entwicklungen. Vgl. auch die Ausführungen weiter unten C.III.5. 15 Vgl. Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 30. 16 Vgl. Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 30 f.; Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 14 f. 17 Vgl. Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 15. 12 13
II. Privatisierung: Eigentumsstruktur und Effizienz
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ist das Verhältnis zwischen Eigentümer als Prinzipal und Manager als Agent18. Problematisch ist, daß der Agent als eigeninteressiertes und nutzenmaximierendes Individuum möglicherweise andere Ziele verfolgt als der Eigentümer. Durch den Informationsvorsprung des Managements entsteht für den Prinzipal ein Überwachungsproblem. Wesentlicher Anreiz zu effizientem Handeln für den Agenten sind jedoch beim privaten Unternehmen eine mögliche Übernahme oder ein möglicher Bankrott des von ihm geleiteten Unternehmens. Dadurch wird der Agent diszipliniert. Diese beiden Anreize zu effizientem Handeln fehlen nach der Theorie beim öffentlichen Unternehmen, was einen wesentlichen Beitrag zur Ineffizienz leiste.
c) Public Choice Theorie Die Public-Choice-Theorie, zu deutsch Neue Politische Ökonomie beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit sich ökonomische Gesetzmäßigkeiten auf politische Prozesse übetragen lassen19. Im Zentrum der Public-Choice-Theorie steht die Annahme, daß Politiker und Staatsdiener („bureaucrats“) als nutzenmaximierende und eigeninteressierte Individuen anstatt des öffentlichen Interesses bzw. Gemeinwohls vorzugsweise ihre persönlichen Vorteile verfolgen20. Ensprechend werde Politik so arrangiert, daß sie die Wahlergebnisse zugunsten der Politiker positiv beeinflußt und Haushalte vergrößert, damit Staatsdiener von besseren beruflichen Stellungen und höheren Gehältern profitieren könnten. Gleichzeitig werde die Aufsicht über öffentliche Ausgaben behindert, um mit Hilfe von Informationsvorsprüngen der Staatsdiener für bessere Finanzausstattung Lobbyarbeit zu betreiben. Auch diese Theorie gelangt damit zum Ergebnis, daß private Eigentumsstrukturen Effizienzvorteile vor öffentlichen bieten, da letztere stets um Ausdehnung des öffentlichen Sektors zur Befriedigung persönlicher Vorteile benutzt werde. Man spricht von diesem Phänomen auch als „Staatsversagen“21.
d) Empirische Untersuchungen Zahlreiche Wissenschaftler haben versucht, mit Hilfe von empirischen Untersuchungen die Richtigkeit der dargestellten Theorien zu beweisen oder zu widerlegen22. Dabei weisen viele, vor allem ältere Studien erhebliche methodische Män18 Zum Ganzen vgl. Vickers / Yarrow, Privatisation, S. 9 ff. sowie Spelthahn, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 32. 19 Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 58 – 61; ausführlicher unter C.III.3. 20 Vgl. überblicksartig Martin / Parker, The Impact of Privatisation, S. 11 – 15. 21 Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 41. 22 Eine Zusammenstellung von 106 Studien aus den späten 70er und den 80er Jahren findet sich bei Pommerehene, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 33 ff.; aktuellere Untersuchun-
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gel und Ungenauigkeiten in der Untersuchung auf23. Im Ergebnis gibt es jedoch kaum Studien, die eine eindeutige Überlegenheit des privaten Sektors lediglich aufgrund der Eigentumsstruktur feststellen24. Vielmehr kommt es entscheidend auf die Existenz von Wettbewerb an. In einer wettbewerblichen Umgebung ist sowohl für private als auch für öffentliche Unternehmen die Effizienz höher, die bloße Privatisierung verspricht in einer nicht-wettbewerblichen Umwelt keine wesentlichen Vorteile25.
III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung Die Einführung von Wettbewerb steht anders als bei der Privatisierung im materiellen Sinn bei der Deregulierung im Mittelpunkt. Allerdings gibt es auch bei diesem Begriff neben der wettbewerblichen Komponente noch eine zweite, eher politische Bedeutung. Ausgangspunkt für die Erschließung des Begriffs Deregulierung ist zunächst der Begriff der Regulierung.
1. Begriff der Regulierung Regulierung ist ein wissenschaftlicher Begriff mit verschiedenen Bedeutungen. Während in den USA im Bereich der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften Regulierung als wissenschaftlicher Begriff einen anerkannten Platz einnimmt, besteht in Europa noch immer ein sehr pluralistisches Verständnis des Begriffs mit einer Vielzahl verschiedener Bedeutungen26. In den USA versteht man unter Regulierung „sustained and focussed control exercised by a public agency over activities that are generally regarded as desireable to society“27. Dabei schließt das Merkmal „social desireable“ Regelungen etwa gen über britische und internationale Unternehmen finden sich bei Martin / Parker, The Impact of Privatisation; S. 66 ff. und 85 ff.; Parker / Martin, Assessing the Impact of Privatisation on Company Efficiency; für Großbritannien jüngst Pollitt, Liberalization of Public Enterprises, 150 ff.; für Deutschland Bösenberg / Hauser, Der schlanke Staat, S. 48 ff. 23 Dazu ausführlich Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 38 ff.; wie man methodisch vorgehen sollte, um wissenschaftlich korrekt das Abschneiden von privaten und öffentlichen Unternehmen zu vergleichen, zeigen Martin / Parker, The Impact of Privatisation, S. 46 ff. 24 Vgl. Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 33. 25 Pommerehne, Genügt bloßes Reprivatisieren?, S. 45. 26 Vgl. Wright, Public Adminsitration, Regulation, Deregulation and Reregulation, S. 245 f.; Prosser, Law and the Regulators, S. 4 – 6; Majone, The Rise of the Regulatory State in Europe, S. 77 – 80; Majone, Deregulation or Re-Regulation, S. 1 ff. 27 Vgl. Majone, Deregulation or Re-Regulation, S. 1 ff.; Selznik, Focussing Organisational Research on Regulation, S. 363.
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der Strafverfolgung aus, während mit „sustained and focussed control“ zum Ausdruck gebracht wird, daß Regulierung nicht allein in der Verabschiedung eines Gesetzes zu sehen ist, sondern daß es entscheidend auf die Existenz einer fachspezifischen Regulierungsbehörde ankommt, die Befugnissse zur Untersuchung, zum Erlaß von Regeln und zu deren Durchsetzung hat28. Seinen Ursprung findet dieses klar eingegrenzte Verständnis im Interstate Commerce Act von 1887, der eine Interstate Commerce Commission und eine Regulierungsbehörde für den Eisenbahnsektor einrichtete 29. Seitdem sind zahlreiche andere fachspezifische Regulierungsbehörden in den USA eingerichtet worden. Dies ist Zeugnis für die lange Tradition der USA im Bereich Regulierung. Es erklärt auch die Tatsache, daß in den USA Regulierung ein eigener Bereich der Politik ist und daß das Studium der Regulierung als eigene Unterdisziplinen der Wirtschaftswissenschaften und der Politikwissenschaften anerkannt ist30. In Deutschland gab es in der Wirtschaftswissenschaft (Sax und Wagner31) gegen Ende des 19. Jahrhunderts vereinzelte Bemühungen „staatlich regulierte Unternehmen“ zu errichten. Darunter verstand Sax ein „Übergangsgebilde zwischen Privatund Gemeinwirtschaft, durch welches unter den Firmen der Privatwirtschaft gemeinwirtschaftliche Zwecke realisiert werden“ kann.32 Eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion des Begriffs in Europa begann jedoch erst mit der Politik der Deregulierung und Privatisierung in den 1980er Jahren33. Zuvor betrachtete man hier den Begriff Regulierung eher als Umschreibung aller Normen gesetzgeberischer, administrativer Art und anderer Formen sozialer Kontrolle34. Die deutsche Deregulierungskommission formulierte in ihrem Bericht von 1990 / 91 in diesem Sinne: „Regulierung ist jede staatliche oder staatlich sanktionierte Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten, der Verfügungsmöglichkeiten des Menschen“35. Dieses weite Verständnis des Begriffs Vgl. Majone, Deregulation or Re-Regulation, S. 1 ff.; Selznik, ebenda. Kaufer, Theorie der öffentlichen Regulierung, S. 5; Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 21. 30 Vgl. Majone, Deregulation or Re-Regulation?, S. 1 ff.; ausführlich Noll, Regulatory Policy and the Social Sciences, S. 3 – 63; Joskow / Noll, Regulation in Theory and Practice: An Overview, S. 1 ff. 31 Sax, Die Verkehrsmittel in der Volks- und Staatswirtschaft; Wagner, Finanzwissenschaft. 32 Sax, Die Verkehrsmittel in der Volks- und Staatswirtschaft, S. 65, zitiert nach Kaufer, Theorie der öffentlichen Regulierung, S. 1. 33 Vgl. Majone, The Rise of the Regulatory State in Europe, S. 77 f. 34 Majone, The Rise of the Regulatory State, S. 78. 35 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 1, Tz. 2; neben dieser weiten Definition erkennt die Deregulierungskommisison noch eine zweite Form, die „spezielle“ Regulierung an. Diese ziele „auf die Sicherung zufriedenstellender Ergebnisse eines arbeitsteiligen Wirtschaftens, das über Märkte koordiniert wird“. Diese speziellen Regulierungen seien Thema der Deregulierungskommisison, S. 1, Tz. 4. 28 29
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wurde seit dem Ende der 1970er und vor allem zu Beginn der 1980er Jahre durch die Wissenschaft eingeschränkt: „Staatliche Regulierung umfaßt alle hoheitlichen Eingriffe in die Gewerbe- und Vertragsfreiheit, die nicht allein der Festlegung und Durchsetzung allgemein gültiger Spielregeln der Marktwirtschaft dienen“36. Mit diesem Verständnis wird der Begriff der Regulierung auf die wettbewerbspolitischen Ausnahmebereiche Verkehr, Kommunikation, Landwirtschaft, Versicherung und Versorgungswirtschaft beschränkt37. Diese Ausnahmebereiche sind gekennzeichnet durch Marktversagen, d. h. ein Versagen der freien Kräfte des Marktes mit dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage als Grundlage für den Preismechanismus. Dieses Verständnis ist mittlerweile in der deutschen Literatur weit verbreitet38. Auch in Großbritannien bestand lange Zeit kein so klar abgegrenztes Verständnis des Begriffs „regulation“ wie in den USA39. Auch hier haben sich klarere Konturen hin zu einem engeren Verständnis des Begriffs entwickelt40, nicht zuletzt durch die Liberalisierungspolitik der EU, die im Bereich der Telekommunikation in den Mitgliedstaaten von den ehemaligen Monopolisten unabhängige nationale Regulierungsbehörden ähnlich dem US-amerikanischen Vorbild verlangte41.
2. Gründe für Regulierung Wie bereits erwähnt, hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „Regulierung“ in den USA entwickelt. Entsprechend kommen die meisten grundlegenden Beiträge zum Marktversagen42 und den sich anschließenden staatlichen Korrekturmaßnahmen von US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern43, insbesondere aus dem Kreis der Neuen Politischen Ökonomie44. EuMüller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 342. Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 36 f. 38 Müller, Deregulierung und Privatisierung, S. 37 m. w. N. 39 Wright, Public Administration, Regulation, Deregulation and Reregulation, S. 244. 40 Baldwin / Cave, Understanding Regulation, S. 2; Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation, Introduction, S. 2 – 4. Sie erkennen allerdings an, daß der Begriff von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen unterschiedlich gebraucht wird. 41 Vgl. Art. 7 der Richtlinie 90 / 388 / EWG, EG-ABl. L 192, 24. 07. 1990. 42 Der Begriff des Marktversagnes geht auf Bator, The Anatomy of Market Failure, zurück. Andel, Finanzwissenschaft, S. 76, definiert Marktversagen als jene Konstellationen, bei denen der Markt mit seiner pretialen Lenkung die ihm zugedachte Funktion der optimalen Allokation aus prinzipiellen Gründen nicht zu erfüllen vermag, Andel, Finanzwissenschaft, S. 76. 43 Kahn, The Economics of Regulation: Principles and Institutions; Posner, Natuaral Monoply and its Regulation; Stigler, The Theory of Economic Regulation; Demsetz, Why Regulate Utilities? 44 Vgl. dazu überblicksartig Buchanan, Constitutional Economics, S. 82 f. 36 37
III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung
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ropäische Literatur zu diesem Thema ist häufig stark eklektizistisch 45. Es lassen sich grundsätzlich zwei Erklärungsansätze für die Rechtfertigung staatlicher Regulierung unterscheiden: Die sogenannte normative Theorie der Regulierung, auch Theorie des öffentlichen Interesses genannt, und die positive Theorie der Regulierung, auch die Theorie der Privatinteressen genannt.46
a) Normative Theorie der Regulierung: Fünf Fälle des Marktversagens Die Theorie des öffentlichen Interesses oder normative Theorie geht davon aus, daß der Staat als Urheber der Regulierung allein im öffentlichen Interesse handelt und nicht durch Interessengruppen oder die eigenen Interessen der politischen Akteure und Bürokraten beeinflußt wird. In der Regel wird zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Gründen für Regulierung unterschieden. Die nicht-ökonomischen Gesichtspunkte sind solche der distributiven Gerechtigkeit und der Sozialpolitik47. Dazu gehören etwa Kontinuität und Verfügbarkeit von Dienstleistungen, ungleiche Verhandlungsstärke der beteiligten Wirtschaftssubjekte und Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands in einer Gesellschaft48. Für die Volkswirtschaftslehre von grundsätzlicherer Bedeutung sind jedoch Fragen der Allokationseffizienz. Die klassische Grundthese Adam Smiths besteht darin, daß sich allokative Effizienz von selbst einstellen wird, wenn man die wirtschaftlichen Entscheidungen der eigeninteressierten und nutzenmaximierenden Individuen akzeptiert. Dieser Mechanismus ist die berühmte Smithsche unsichtbare Hand des Marktes. Die Nichteinmischung des Staates wird zur Preisbildung anhand von Angebot und Nachfrage führen, letztere als Offenlegung der Präferenzen der Beteiligten. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat jedoch fünf Kategorien ausgemacht, in denen dieser Marktmechanismus nicht funktioniert. Die fünf Fälle des Marktversagens sind Informationsdefizite, Externe Effekte, Monopole, Ruinöser Wettbewerb und Öffentliche Güter.49 45 Besonders deutlich wird dies an dem ausgezeichneten Buch von Hood, Explaining Policy Reversals, dessen Reiz darin liegt, daß er alle bisherigen Theorien, mit denen Paradigmenwechel in der Wirtschaftspolitik erklärt werden können, in ein Modell bringt. Die meisten der von ihm benannten Erklärungsmodelle sind US-amerikanischen Ursprungs. Vgl. zur Rechtfertigung staatlicher Regulierung Kay / Vickers, Regulatory Reform, An Appraisal; Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 31 – 46; Tenhagen, Die Legitimation der Regulierung von Märkten durch die Theorie des Marktversagens. 46 Vgl. Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 101 – 120. 47 Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 46 ff. 48 Baldwin / Cave, Understanding Regulation, S. 12 ff. 49 Baldwin / Cave, Understanding Regulation, Kapitel 2: „Why Regulate?“, S. 9 – 17; Breyer, Regulation and its Reform, Kapitel 1; Deregulierungskommission, Marktöffnung und
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aa) Informationsdefizit Die Volkswirtschaft arbeitet grundsätzlich mit Modellen als vereinfachten Abbildungen eines Ausschnitts der Realität. Dabei wird nur ein Teil der Realität nachgebaut, der Rest wird weggelassen50. So sind insbesondere die Klassiker um Adam Smith von einem Modell vollständiger Konkurrenz ausgegangen, in dem eine Modellannahme das Fehlen von Informations- und Transaktionskosten ist. Solche Geld- und Zeitkosten entstehen vor allem durch die Notwendigkeit, den Vertragspartner mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis zu finden, Verträge auszuhandeln, ihre Erfüllung zu überwachen und nötigenfalls durchzusetzen51. Die Notwendigkeit bei der Wahl der Güter informiert zu sein und die Defizite, die hinsichtlich dieser Informationen bestehen, bedeuten ein Hindernis für die Erreichung allokativer Effizienz durch die Selbststeuerung des Marktes. Um diese Informationsdefizite, auch asymmetrische Informationen genannt, zu beseitigen wird traditionell staatliche Regulierung zur Optimierung der Information der Marktteilnehmer anerkannt.52 Es gibt allerdings auch kritische Stimmen gegenüber staatlicher Information zur Korrektur der Defizite und Probleme im juristischen Bereich in Deutschland sind am Beispiel staatlicher Warnung vor ungesunden Teigwaren der Firma Birkel und diethylenglykosehaltigen Weinen aus Österreich deutlich geworden53.
bb) Externe Effekte Externe Effekte oder Externalitäten bestehen, wenn die Aktivitäten eines Wirtschaftssubjektes das Wohlergehen eines anderen Wirtschaftssubjektes außerhalb des Preismechanismusses des Marktes beeinflussen54. Dadurch entspricht der nicht-regulierte Preis nicht den wahren Kosten, die der Gesellschaft durch die Produktion des Gutes entstehen55. Klassisches Beispiel für Externalitäten ist der „kostenfreie“ Verbrauch von Umweltgütern durch den Einzelnen, der für die GesellWettbewerb, S. 3 ff.; Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 31 – 45; Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 29 – 41; Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 110 – 115; Tenhagen, Die Legitimation der Regulierung von Märkten durch die Theorie des Marktversagens, S. 59 – 108; Samuelson / Nordhaus, Volkswirtschaftslehre / Economics; S. 59 – 62. 50 Bartling / Luzius, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 12. 51 Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 112 f.; Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 38 – 41. 52 Vgl. die formal-mathematisch ausgerichteten Ausführungen von Tenhagen, Die Legitimation der Regulierung von Märkten durch die Theorie des Marktversagens, S. 96 – 108. 53 Vgl. aus der Sicht eines Ökonomen Breyer, Typical Justifications for Regulation, S. 74 und aus juristischer Perspektive Gröschner, Öffentlichkeitsaufklärung als Behördenaufgabe, S. 619 ff.; Meyn, Warnung der Bundesregierung vor Jugendsekten, S. 630 ff. 54 Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 112. 55 Breyer, Typical Justifications for Regulation, S. 68; vgl. auch Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 35 – 38.
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schaft insgesamt zu höheren Kosten durch Ausgleichsmaßnahmen führt. Auch an dieser Rechtfertigung staatlicher Regelung zur Korrektur volkswirtschaftlicher Fehlallokation ist Kritik geübt worden. Insbesondere wurde gefordert, anstelle von staatlichen Eingriffen in den Marktmechanismus sollten die Eigentumsrechte neu definiert werden und damit quasi die Externalitäten internalisiert werden56. Beispiel für den Versuch einer derartigen Internalisierung ist die Einführung einer CO2-Steuer zur Internalisierung von Emissionen aus Kohlekraftwerken oder auch die Auferlegung einer besonderen Versicherungspflicht für Betreiber von Atomkraftwerken für potenzielle Unfälle mit weitreichenden Folgen.
cc) Monopole Wettbewerb ist das Herzstück der Marktwirtschaft. Monopole verhindern den Wettbewerb und erzeugen so Marktversagen. Als Monopol kann man eine Stellung eines Unternehmens bezeichnen, in der es als einziges für den gesamten Markt oder einen bestimmten Industriezweig produziert57. Es lassen sich dabei drei Arten von Monopolen unterscheiden. Zunächst kann sich aus der wachsenden Marktmacht eines ursprünglich im Wettbewerb befindlichen Unternehmens schlußendlich ein tatsächliches Monopol entwickeln. Man vergleiche hier die quasi-monopolistische Stellung, die die US-amerikanische Computerfirma Microsoft in den letzten Jahren erlangt hat. Staatliches Gegenmittel gegen diese Entwicklungen sind Instrumente des Wettbewerbsrechts und des Fusionsrechts58. Allerdings kann das Recht auch eine dem Wettbewerb entgegengesetzte Rolle spielen. So kann als zweite Art des Monopols durch den Gesetzgeber ein solches eingeführt werden, man spricht dann von einem gesetzlichen oder rechtlichen Monopol. Als Beispiele können hier die vor der Liberalisierung des Strommarktes durch die Bereichsausnahmen der §§ 103, 103a GWB zugelassenen kommunalen Gebietsmonopole der Stromversorger in Deutschland genannt werden. Die dritte und wichtigste Art des Monopols ist das sogenannte natürliche Monopol. Nach allgemeiner Ansicht ist die Stromversorgung über die Übertragungsleitungen als natürliches Monopol anzusehen.59 Damit wird eine Situation am Markt bezeichnet, in der aufgrund ökonomischer Gesetzmäßigkeiten zwingend ein Monopol entsteht. Dies hat seine Ursache in sogenannten Größenvorteilen oder Skalenerträgen („economies of scale“) und sogenannten Verbundersparnissen („economies of scope“). Skalenerträge sind Kostenvorteile, die durch die Vergrößerung des Outputs der Produktion erreicht 56 Vgl. Breyer, Typical Justifications for Regulation, S. 69 ff.; Coase, The Problem of Social Cost, S. 11 f. 57 Vgl. Baldwin / Cave, Understanding Regulation, S. 9. 58 Vgl. für GB und die EU Wish, Competition Law; für Deutschland Emmerich, Kartellrecht. 59 Bundeskartellamt, Bericht, 1. Teil, D.I.1.; Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 121, Fn. 408 m. w. N.; Kaufer, Theorie der öffentlichen Regulierung, S. 12 – 23; Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 121 ff., 204 ff.
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werden, ohne daß dadurch wesentliche zusätzliche Investitionen in die Produktionsstätten getätigt werden müßten. Verbundersparnisse sind Kostenvorteile, die durch die Zusammführung verschiedener Produktionssparten erreicht werden. Da bei beiden ein großer Teil der Kosten Fixkosten sind, ist es bis zu einem gewissen Grad verhältnismäßig günstiger, den Output zu erhöhen. Dies hat zur Folge, daß aufgrund der beschriebenen firmeninternen Kostendegression auf Dauer nur ein Unternehmen am Markt überleben würde und dieses Unternehmen die relevante Nachfrage zu niedrigeren kostendeckenden Preisen bedienen kann als jede andere Anzahl von Unternehmen. Weiteres Charakteristikum sind die sogenannten versunkenen Kosten („sunk costs“), die vor allem bei Netzwerkindustrien für die Herstellung der Infrastruktur notwendig sind. Diese wirken zusätzlich abschreckend für neue Wettbewerber, während für bereits am Markt befindliche Unternehmen die einmal getätigten Kosten nur noch eine geringere Rolle spielen. Von staatlicher Seite wird nun oft versucht werden, das natürliche Monopol durch Preisgestaltung zu kontrollieren, d. h. durch Festlegung von Preisen und Tarifen exzessive Preise zu verhindern60. Kritik an dieser Auffassung des natürlichen Monopols wurde begründet von Demsetz61. Er erkannte die grundsätzliche Argumentation des Marktversagens im Falle des natürlichen Monopols an, d. h. also daß ein Wettbewerb auf dem bestehenden Markt nicht möglich sei. Allerdings sei sehr wohl ein Wettbewerb um den Markt möglich, indem sich ein Anbieter in einem Bieterprozeß („auctioning“) um die Bedienung des gesamten Marktes mit seinem günstigeren Gebot gegen andere Mitbieter durchsetzen muß. Dies geschieht in regelmäßigen Abständen, um Anreize zu effizientem Angebot aufrechtzuerhalten. Dieser Wettbewerb um den Markt stellt gleichsam ein Wettbewerbssurrogat dar und sorgt durch den regelmäßig drohenden Marktzutritt von Mitbietern für wettbewerbsorientierte Preisgestaltung. Dabei ist allerdings zu beachten, daß der ausgewählte „Monopolist auf Zeit“ ausreichend Zeit zur Verfügung haben sollte, um seine hohen Investitionskosten, die erwähnten „versunkenen Kosten“, zu amortisieren. Weiterhin ist anzumerken, daß aufgrund technischer Entwicklungen ganze Wirtschaftssektoren oder wenigstens Teile davon ihre Natur als natürliches Monopol verlieren können. Lehrbeispiel hierfür ist der Markt für Mobiltelephone, mit dem ein großer Bereich der Telekommunikation durch technische Innovation seinen Charakter als natürliches Monopol verloren hat. Schwierig wird es für Monopolisten dann, wenn sich neue Anbieter aus dem Gesamtbereich des Industriesektors einzelne Bereiche heraussuchen, die profitabel sind und nur in diesen Bereichen 60 Vgl. zum Ganzen Breyer, Typical Justifications for Regulation, S: 59 – 65; Kahn, The Economics of Regulation, S. 119; Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 36 – 41; Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 30 ff.; Posner, Natural Monopolies and Regulation, S. 548 ff.; Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 35 f.; Spelthahn, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 44; Tenhagen, Die Legitimation der Regulierung von Märkten durch die Theorie des Marktversagens, S. 59 – 81; Windisch, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 43 ff. 61 Demsetz, Why regulate Utilities.
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mit dem Monopolisten konkurrieren („Rosinenpicker“). Der ehemalige Monopolist verliert dann Einnahmen, die er bisher zur Quersubventionierung verlustreicher Unternehmensbereiche und zur Instandhaltung der Infrastruktur verwendet hat. Der Staat kann in diesen Fällen durch mehr oder weniger wettbewerbsfreundliche Regulierung großen Einfluß nehmen. So bietet die aktuelle TelekommunikationsRegulierung den Wettbewerbern des Ex-Monopolisten Deutsche Telekom die Möglichkeit, für ein sehr geringes Entgelt die Infrastruktur des Konkurrenten Deutsche Telekom zu nutzen und auf dessen Kosten Marktanteile zu gewinnen. Durch eine einfache Vorwahl sind die Konkurrenten erreichbar, ohne daß die Kunden insgesamt die Deutsche Telekom als Grundanbieter verlassen müßten. Der Ex-Monopolist ist sogar verpflichtet, die Rechnungen der Konkurrenten zu erstellen und die Zahlungen für diese abzuwickeln62.
dd) Ruinöser Wettbewerb Ein weiterer Fall des Marktversagens ist der ruinöse Wettbewerb. Hier wird ein Eingriff als notwendig angesehen, weil es zuviel Wettbewerb gibt. Dies kann an dauerhaften Überkapazitäten in einer Branche verbunden mit hohen Marktaustrittsbarrieren aufgrund teurer Produktionsanlagen liegen63. Eine andere Begründung „ist der Umstand, daß sich die Lüge im Wettbewerb lohne“64 und damit schlechtere Anbieter durch falsche Informationen Anbieter besserer Produkte vom Markt drängen könnten, mit der Folge, daß nicht die leistungsfähigsten Unternehmen den Wettbewerb überlebten65. ee) Öffentliche Güter Als fünfter und letzter Rechtfertigungsgrund für staatliche Eingriffe in den Markt sind schließlich die Öffentlichen Güter66 zu nennen.67 Die Theorie der Öf62 Vgl. § 15 Telekommunikationskunden-Schutz-Verordnung; zum Streit über die Pflicht der Deutschen Telekom zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs für die Konkurrenten vgl. Kerkhoff, Anhang § 41 TKG, § 15, Rn. 11. 63 Vgl. Müller / Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 41 – 43; Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 38 f. 64 Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 47. 65 Vgl. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 38 f.; zum Ganzen ausführlich Tolksdorf, Ruinöser Wettbewerb, S. 28 ff. 66 Vgl. dazu etwa Andel, Finanzwissenschaft; Geyer, Öffentliche Güter; Hanusch, Theorie des öffentlichen Gutes; Kirsch, Die öffentlichen Güter; Krause-Junk, Abriß der Theorie öffentlicher Güter; Molitor, Wirtschaftspolitik; Musgrave, Finanztheorie; Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I; Samuelson / Nordhaus, Economics / Volkswirtschaftslehre; Schmidt, Zur Substitution der Lehre von den öffentlichen Gütern. 67 Zur Frage, inwieweit diese wirtschaftswissenschaftliche Theorie in die Rechtswissenschaft übertragen werden kann Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, S. 196 ff.
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fentlichen Güter steht im Zentrum der Untersuchungen der Finanzwissenschaft. Als Finanzwissenschaft kann man die Wissenschaft von der staatlichen Einnahmeund Ausgabepolitik bezeichnen68. Die Einnahmepolitik bezieht sich dabei weitgehend auf die Steuerpolitik. Als öffentliche Ausgaben kann man alle von öffentlichen Kassen angewiesenen Zahlungen an private oder öffentliche Empfänger bezeichnen. Dabei werden diese Zahlungen allgemein nach ihrem Entstehungsgrund unterschieden in (a) Entgelte für die öffentliche Inanspruchnahme von Gütern und Dienstleistungen (öffentliche Realausgaben), (b) unentgeltliche Übertragungen z. B. durch Subventionen und (c) Transaktionen des öffentlichen Geld- und Kapitalverkehrs z. B. Schuldentilgung oder Kreditgewährung69. Der erste Entstehungsgrund dieser Ausgaben, die Realausgaben, haben sich zu einer eigenständigen Theorie, der Theorie der öffentlichen Ausgaben entwickelt. Sie wird synonym auch als Theorie der öffentlichen Güter bezeichnet, da der Staat mit seiner Ausgabenpolitk bestimmte Güter im weit verstandenen Sinn bereitstellt70. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen zum einen positive Fragen nach der Art der vom Staat bereitgestellten Güter, nach der Effizienz ihrer Bereitstellung sowie nach den Gründen für politische Entscheidungen über die Bereitstellung von Gütern. Zum anderen werden normative Fragen nach Art und Umfang der vom Staat zu übernehmenden Aufgaben und der Ausgestaltung der dafür notwendigen Entscheidungsprozesse gestellt. Hilfreich für die begriffliche und inhaltliche Erklärung der öffentlichen Güter ist es, zunächst die öffentlichen Güter mit ihrem Widerpart aus der idealen Marktwirtschaft zu vergleichen, den privaten Gütern. Beim Konzept der privaten Güter steht das Indiviuum mit seinen Präferenzen im Mittelpunkt. Spätestens seit Adam Smith wird eine ideale, vollkommene Marktwirtschaft so verstanden, daß es über die Beziehung von Angebot und Nachfrage, der die individuellen Präferenzen eigeninteressierter und nutzenmaximierender Wirtschaftssubjekte zugrunde liegen, zu einer Preisbildung für ein Gut kommt. Eine steigende Güternachfrage führt zunächst bei knappen privaten Gütern zu einem Preisanstieg, signalisiert aber gleichzeitig den Produzenten, daß sie – ihrerseits eigeninteressiert und gewinnmaximierend- mit einer Erhöhung der Produktion größere Gewinne erzielen können. Durch eine erhöhte Produktion kann die erhöhte Nachfrage befriedigt werden und es entsteht wieder ein Gleichgewicht zwischen angebotenen und nachgefragten Gütern. Dieser Mechanismus wird von Smith als die „unsichtbare Hand des Marktes“ bezeichnet. Sie hat zur Folge, daß allein durch die Präferenzen der Individuen gesamtwirtschaftlich eine effiziente Allokation von Gütern stattfindet, ohne daß der Staat in irgendeiner Weise eingreifen, d. h. Vorgaben für Produktion und Verteilung geben müßte71. Allerdings war bereits Smith klar, daß diese ideale, vollkommene MarktRosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 5. Krause-Junk, Abriß der Theorie der öffentlichen Güter, S. 687 – 689. 70 Krause-Junk, Abriß der Theorie der öffentlichen Güter, S. 689. 71 Vgl. etwa Samuelson / Nordhaus, Economics / Volkswirtschaftslehre, Kapitel 2; Bartling / Luzius, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 52 – 94; Geyer, Öffentliche Güter, S. 420. 68 69
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wirtschaft eher ein Modell als eine Abbildung der Wirklichkeit darstellt. Vielmehr leiden in der Realität Marktwirtschaften an einer Reihe von Unzulänglichkeiten. Neben den bereits dargestellten vier Fällen bilden die öffentlichen Güter die letzte Art des Marktversagens. Der Unterschied der reinen öffentlichen Güter zu den privaten Gütern besteht nun darin, daß die öffentlichen Güter von Privaten nicht angeboten und deshalb vom Staat produziert oder bereitgestellt werden müssen, will man auf sie nicht gänzlich verzichten. Der Grund dafür ist, daß keine Preisbildung über den Marktmechanismus stattfindet. Damit würde es nie zur Produktion dieser Güter auf dem privaten Sektor kommen, weil der Nutzen in der Bevölkerung so breit gestreut ist, daß ein einzelnes Unternehmen oder ein einzelner Konsument keinen wirtschaftlichen Anreiz darin sähe, die Dienstleistung zu erbringen und eine Gegenleistung dafür einzutreiben72. Ursächlich für das Versagen des Preismechansimus sind verschiedene Charakteristika der rein öffentlichen Güter. Die beiden wichtigsten sind Nichtrivalität im Konsum und Nichtausschließbarkeit. Unter Nichtrivalität im Konsum versteht man eine Situation, in der von einem gewissen Gut ein derartiges Angebot herrscht, daß der Konsum eines Individuums den Konsum eines anderen Individuums in keiner Weise stört73. Ist ein rein öffentliches Gut erst einmal bereitgestellt, dann kann sein Konsum beliebig vielen Wirtschaftssubjekten ohne zusätzlichen Aufwand zugänglich gemacht werden74. Mathematisch ausgedrückt liegt Nichtrivalität im Konsum vor, wenn die Grenzkosten für einen zusätzlichen Nutznießer gleich Null sind75. Klassisches Beispiel für ein rein öffentliches Gut ist der Leuchtturm an der Küste76. Ist der Leuchtturm in Betrieb, so leitet sein Licht alle Schiffe in seinem Umkreis und bringt ihren Besitzern den Nutzen geretteten Lebens und sicheren Warentransportes. Die Kosten des Betriebes des Leuchtturms erhöhen sich nicht mit der Zahl der vorbeifahrenden Schiffe, die Nutzung der Leuchtturmdienste durch ein Schiff hindert kein anderes Schiff an der Inanspruchnahme dieser Dienste.77 Der zweite Ansatz für die Erklärung des Marktversagens bei bestimmten als rein öffentlich bezeichneten Gütern ist das Kriterium der Nichtausschließbarkeit. Es besagt, daß Verbraucher nicht vom Konsum dieses Gutes ausgeschlossen werden können oder wenn, dann nur unter unverhältnismäßig hohem technischen und finanziellen Aufwand. Es handelt sich also um Güter, bei denen ihrer Natur nach eine Preisbildung deshalb nicht stattfindet, weil sie jeder in Anspruch nehmen kann, ohne dafür etwas bezahlen zu müssen.78 72 73 74 75 76 77
Samuelson / Nordhaus, Economics / Volkswirtschaftslehre, S. 61. Musgrave, Finanztheorie, S. 8. Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 128. Andel, Finanzwissenschaft, S. 421. Samuelson / Nordhaus, Economics / Volkswirtschaftslehre, S. 61. Zur Kritik am Merkmal der Nichtrivalität vgl. Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 77.
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Auch hier kann als Beispiel wieder der Leuchtturm herangezogen werden. Die Erhebung von Gebühren für die konkrete Nutzung eines Leuchtturmes ist nur schwer vorstellbar. Jedes Schiff nutzt die Dienste des Leuchtturmes, ohne für die Inanspruchnahme einen konkreten Preis zu zahlen, der seinem tatsächlichen konkreten Nutzen entspräche.79 Sowohl dem Kriterium der Nichtrivalität als auch dem der Nichtausschließbarkeit liegt ein gemeinsames Problem zugrunde. Die Wertschätzung des betreffenden Gutes durch den Konsumenten ist schwer oder gar nicht feststellbar. So ist dem Schiffer mit teurer Ladung der Dienst des Leuchtturmes sicherlich mehr wert, als dem Schiffer eines leeren Schiffes. Da jedoch wegen der Nichtausschließbarkeit bei öffentlichen Gütern kein Druck besteht, seine individuellen Präferenzen offenzulegen, wie dies beim Marktmechanismus für die Preisbildung bei privaten Gütern der Fall ist, bleiben die wahren Präferenzen des Verbrauchers verborgen.80 Dieses Problem der verdeckten Präferenzen oder verborgenen Wertschätzungen kann dazu führen, daß Einzelne die öffentlichen Güter nutzen, ohne sich an den Kosten zu beteiligen. Sie verhalten sich damit wie Schwarzfahrer. Da aufgrund der Nichtrivalität im Konsum beliebig viele Verbraucher das bereitgestellte öffentliche Gut in Anspruch nehmen können und aufgrund der Nichtausschließbarkeit kein konkreter Preis für eine konkrete Nutzung verlangt werden kann, liegt es für den Verbraucher nahe, seine bei privaten Gütern üblicherweise offengelegte Wertschätzung zu verbergen81. Dies fällt dem Einzelnen umso leichter, je unübersichtlicher, d. h. größer die Zahl der Nutzer ist82. Damit kommt er in den Genuß des Gutes, ohne an den Kosten für seine Produktion oder Bereitstellung angemessen beteiligt zu werden. Dieses Problem wird als Schwarzfahrer- oder Trittbrettfahrer-Problematik bezeichnet. Je mehr Schwarzfahrer es bzgl. eines öffentlichen Gutes gibt, desto ineffizienter wird seine Bereitstellung83. Damit stellt sich die Frage, wie alle Nutzer in die Erbringung der Kosten einbezogen werden können. Als Lösungsmöglichkeit wird allgemein auf die Errichtung eines angemessenen kollektiven Entscheidungsmechanismus verwiesen. Könnte man alle zur Beteiligung bringen, so wäre die Bereitstellung effizient. Insofern ist es nur logisch, wenn für die Finanzierung des öffentlichen Gutes durch die Allgemeinheit ein gewisser Zwang ausgeübt wird. Wenn nämlich sichergestellt 78 Samuelson / Nordhaus, Economics / Volkswirtschaftslehre, S. 61; Musgrave, Finanztheorie, S. 9; Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 76 f. 79 Zur Kritik am Merkmal der Nichtausschließbarkeit vgl. Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 128 f. 80 Musgrave, Finanztheorie, S. 9 f. 81 Inwieweit das tatsächlich geschieht ist abhängig vom jeweiligen Gut und vom institutionellen Kontext. Insofern helfen nur empirische Untersuchungen zur Feststellung tatsächlichen Vorkommens von Schwarzfahrern. Einen Überblick über derartige Untersuchungen geben Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 140 – 142. 82 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, S. 51 ff. 83 Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 139.
III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung
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ist, daß alle von dem Gut profitierenden Individuen sich an der Finanzierung beteiligen müssen, werden sich die Verbraucher auch freiwillig beteiligen84. Diese zwangsweise Beteiligung aller geschieht dadurch, daß Einzelne sich in einem Kollektiv (Staat, Bundesländer, Gemeinden, Verbände) zusammenfinden und organisieren und sich über angemessene kollektive Entscheidungsmechanismen innerhalb eines Kollektivs einigen85. Dabei empfiehlt sich aus freiheitlich-individueller Sicht das Einstimmigkeitsprinzip für Entscheidungen, da dadurch niemand in seinen Präferenzen eingeschränkt wird.86 Problematisch an der Einstimmigkeit ist jedoch zweierlei: Zum einen ist es fraglich, ob bei der praktischen Durchführung der Abstimmung über die Finanzierungsanteile nicht ähnlich wie beim Schwarzfahrer-Problem die Individuen dazu neigen, ihre wahren Präferenzen zu verbergen und damit bereits bei der grundlegenden Verteilung durch strategisches Verhalten die Abstimmung ad absurdum führen. Zum anderen dürfte es schwierig und entsprechend teuer sein, zwischen einer größeren Anzahl von Individuen nach Maßgabe der Einstimmigkeit Einigung herbeizuführen. Dieser Mechansimus kann leicht zur völligen Blockade von Entscheidungen und zu unangemessen hohen Einigungskosten führen. Alternativ zum Einstimmigkeitsverfahren wird daher das Mehrheitsverfahren vorgeschlagen, das jedoch seinerseits nicht kritiklos geblieben ist.87 Schließlich ist noch auf die Begriffe meritorische Güter und Mischgüter hinzuweisen, die Sonderfälle der öffentlichen Güter darstellen.88 Damit sind die Hauptfälle des Marktversagens als Rechtfertigungsinteressen staatlicher Eingriffe in den Marktmechanismus dargestellt. Eingriffe in diesen Fällen geschehen formal im öffentlichen Interesse, um ein als richtig festgestelltes Ziel zu erreichen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird darauf eingegangen, welche dieser Gründe zur Monopolisierung der Stromwirtschaft angeführt wurden und noch werKirsch, Die öffentlichen Güter, S. 57. Kirsch, ibid. 86 So das von Wicksell in seinem Jenaer Werk „Finanztheoretische Untersuchungen“ von 1896 und Lindahl in „Die Gerechtigkeit der Besteuerung“ von 1919 entwickelte „Prinzip der gerechten Besteuerung“; zusammenfassend Geyer, Öffentliche Güter, S. 421 – 426; Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 162 – 165. 87 Zusammenfassend Rosen / Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 165 – 169; zu weiteren Kritikpunkten, insbesondere dem sogenannten Unmöglichkeitstheorem von Arrow, das eine deutliche Skepsis gegenüber der Funktionsfähigkeit demokratischer Willensbildung ausdrückt vgl. ders., Finanzwissenschaft I, S. 173 – 207. 88 Andel, Finanzwissenschaft, S. 423 f.; Andel, Zur Diskussion über Musgraves Begriff der „merit wants“, S. 209; Kirsch, Die öffentlichen Güter, S. 57 f.; Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 78 f.; Musgrave, Finanztheorie, S. 15 ff.; Schmidt, Zur Substitution der Lehre von den öffentlichen Gütern, S. 222 ff. 84 85
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B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben
den und inwieweit sich diese Argumentation durch die Liberalisierungen verändert hat (E.II.2.a). Die Tatsache, daß nach der Theorie des öffentlichen Interesses, zu denen die fünf dargestellten Gründe des Marktversagens zählen, persönliche Interessen der Politiker und Bürokraten keine Rolle beim Tätigwerden des Staates spielen, ist nicht ohne Kritik geblieben. Dieser Ansatz beschreibt tendenziell einen Soll-Zustand und keinen Ist-Zustand, da der Einfluß von Interessen auf staatliche Entscheidungen nicht von der Hand zu weisen ist. Aufgrund dieser Tatsache spricht man auch von der normativen Theorie der Regulierung. Insbesondere die Neue Politische Ökonomie beschäftigte sich dagegen mit den Hemmnissen einer solchen normativ geprägten Art der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe und entwickelte eine positive, vermeintlich mehr an der Wirklichkeit orientierte Theorie. Die normative Theorie, die Marktversagen mit staatlichen Eingriffen heilen will, wird von der der positiven Theorie im Hinblick auf die Wirksamkeit der staatlichen Korrekturmaßnahmen kritisiert. Dem Marktversagen wird das Staatsversagen gegenübergestellt.89
b) Theorie der Privatinteressen / Positive Theorie der Regulierung Die Kritik an der normativen Theorie oder Theorie des öffentlichen Interesses wurde aufgegriffen von der Theorie der Privatinteressen. Analog zur normativen Theorie, die einen Soll-Zustand beschreibt, wird sie auch als positive Theorie bezeichnet, um den -unterstellten- Realitätsbezug der Theorie zu unterstreichen. Teilweise wird sie auch Ökonomische Theorie der Regulierung genannt. Alle drei Namen sind Oberbegriff für verschiedene Erklärungsansätze mit dem Fokus auf individuellen Privatinteressen.
aa) Capture-Theorie Die erste Antwort auf die Kritik an der Theorie des öffentlichen Interesses gab die Capture Theorie, gelegentlich auch Chicago-Theorie nach der Universität ihrer Hauptvertreter genannt. Insbesondere Stigler repräsentierte diesen Erklärungsversuch für Regulierung mit Ausrichtung auf private Interessen90. Auslöser für diese Überlegungen war die Tatsache, daß es zu unerwünschten Ergebnissen kam, obwohl es Regulierungsinstitutionen ganz im Sinne der Theorie des öffentlichen Interesses zur Vermeidung von Marktversagen gab. Die Capture-Theorie antwortete Vgl. Scherrer, Markt versus Staat; Watrin, „Marktversagen“ versus „Staatsversagen“. Stigler, The Theory of Economic Regulation; einen historischen Überblick gibt Peltzman, The Economic Theory of Regulation after a Decade of Deregulation; zusammenfassend Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 55 – 58; Krakowski, Theoretische Grundlagen der Regulierung, S. 95 ff. 89 90
III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung
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auf dieses Problem mit der Annahme, daß Regulierungsbehörden unterwandert würden und zwar ausgerechnet von denen, die sie regulieren und kontrollieren sollten. Danach unterliege eine Regulierungsbehörde einem Lebenszyklus im Verhältnis zu ihrer politischen Umgebung. Nach ihrer Einrichtung genieße sie großes Interesse und handele schlagkräftig. Mit nachlassendem Interesse der Öffentlichkeit gewönnen jedoch mehr und mehr die regulierten Industrien Einfluß auf die Behörden, damit komme es zur „capture“91. Allerdings ist auch an diesem Erklärungsversuch Kritik geübt worden: Warum sollte eine Behörde sich unterwandern lassen, warum sollte sie und nicht bereits die Legislative Objekt der Lobby-Tätigkeit der Unternehmen sein?92 bb) Public-Choice-Theorie Einen wesentlich grundlegenderen Erklärungsansatz entwarfen die Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie / Public-Choice-Theorie. Wie bereits oben dargelegt, geht es dabei um die Übertragung der zentralen Modellannahme des homo oeconomicus, Eigeninteresse und Nutzenmaximierung der Individuen, auf den politischen Prozeß. Danach werden verschiedene Beziehungen quasi als politischer Markt aufgefaßt93. So wurde die Beziehung zwischen Wahlvolk und Regierung bzw. Parlamentsmitgliedern untersucht und die These aufgestellt, daß hier eine Art Handel stattfände, in dem Politiker bestimmte Politikergebnisse versprechen, um ihre Wiederwahl zu sichern oder auch andere Ziele wie persönliche Macht und die Möglichkeit, sich im Großen Buch der Geschichte zu verewigen, verfolgen. Ein weiteres Untersuchungfeld der Public-Choice-Theorie ist der staatliche Verwaltungsapparat. Max Weber stellte die staatliche Verwaltung noch als reines Umsetzungsmittel der Regierungspolitik dar, in der „der echte Beamte“ „sine ira et studio“ seines Amtes walten soll.94 Die Public-Choice-Theorie hingegen stellte die These auf, daß auch die Staatsdiener eigeninteressiert und nutzenmaximierend handelten und insofern Regierungspolitik beeinflußten und nicht bloß umsetzten. Das Interesse der Verwaltungsmitarbeiter bestehe darin, ihre Einkommen und ihre Macht auszudehnen, was zur Ausdehnung des Budgets ihrer Behörde führe. Möglich werde dies durch den Informationsvorteil, den sie durch ihre Sacharbeit hätten95. Auch diese Theorie ist kritisiert worden. So ergaben empirische Studien, daß Regierungen größere Kontrollmöglichkeiten über die Budgets ihrer Verwaltungsapparate 91 Bernstein, Regulating Business by Independent Commission; Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 57 f.; Krakowski, Theoretische Grundlagen der Regulierung, S. 96 ff. 92 Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 58 m. w. N. 93 Vgl. dazu den Überblick von Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 63 – 71. 94 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 825 ff., insbesondere S. 833. 95 Vgl. Niskanen, Bureaucracy and Representative Government; zusammenfassend Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 68 f.
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B. Volkswirtschaftliche Grundlagen der Liberalisierung öffentlicher Aufgaben
haben, als Niskanen dies zugegeben hatte. Darüberhinaus gäbe es auch eine Art Wettbewerb innerhalb der Verwaltungen zwischen ihren Zweigen und ihren Mitarbeitern. Und schließlich sei es wahrscheinlich, daß Verwaltungsbeamte an hohem Ansehen und wichtigen Aufgaben interessiert seien und nicht lediglich an hohem Einkommen für wenig Arbeitseinsatz96.
cc) Theorie der Interessengruppen Die Vertreter dieser dritten Richtung verstehen Regulierung als Produkt der Beziehungen zwischen verschiedenen Interessengruppen untereinander und den Interessengruppen und dem Staat97. Dabei können diese Interessengruppen direkt durch Lobbyarbeit bei den politischen Entscheidungsträgern ihre Gruppeninteressen verfolgen. Sie können aber auch indirekt über Öffentlichkeitsarbeit das Wahlvolk in ihrem Sinne beeinflussen, so daß dieses diejenigen Politiker wählt, die sich für ihre Interessen einsetzen98. Wie bei der Capture- und der Public-Choice-Theorie geht es also auch hier um einen Erklärungsversuch, der private, individuelle Interessen einbezieht. Die beiden großen Richtungen, die Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe aus dem öffentlichen und aus dem privaten Interesse, haben gemeinsam, daß sie Gründe für Regulierung anführen.
2. Deregulierung und Wettbewerb Ausgehend vom Begriff der Regulierung und deren Rechtfertigungen fällt es nun leicht, die Deregulierung von der Privatisierung in einem wirtschaftswissenschaftlichen Sinn abzugrenzen. Während die Motivation für Privatisierung in dem Bemühen zu sehen ist, Effizienz in der Produktion und Bereitstellung zu erzielen, so ist der Grund für Deregulierung in der Erkenntnis zu sehen, daß bestimmte Gründe, die zuvor eine Regulierung gerechtfertigt haben, weggefallen sind99. Mit dem Wegfall dieser Gründe oder der Veränderung der Umstände und deren Wahrnehmung ist der Markt aus ökonomischer Sicht wieder wettbewerbstauglich geworden. Man kann dementsprechend Deregulierung definieren als die Reduzierung staatlicher Kontrolle über einen Wirtschaftszweig oder wirtschaftliche Aktivität, um sie strukturell dem Wirken der Marktkräfte auszusetzen100. Entscheidendes Kriterium ist also die Einführung von Wettbewerb, nicht der Wechsel der Eigentümerstruktur. Wettbewerb läßt sich auch erfolgreich unter Fortbestehen öffentlicher Unternehmen einführen, soweit nur der Marktzugang neuer Wettbewerber Vgl. Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 69. Baldwin / Cave, Understanding Regulation, S. 21. 98 Vgl. Ogus, Regulation: Legal Form and Economic Theory, S. 70 f. m. w. N. 99 Vgl. Müller, Deregulierung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht, S. 37 und 38. 100 Vgl. Baldwin / McCrudden, Regulation and Public Law, S. 23. 96 97
III. Deregulierung: Wettbewerb und Rechtsvereinfachung
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und die Chancengleichheit in Bezug auf bestehende und neue Infrastruktur gewährleistet wird101. Allerdings wird der Begriff Deregulierung häufig auch noch in einem zweiten, eher politischen Sinn verwendet. So wurde der Begriff in der Politik zum Schlachtruf für den Abbau von als überflüssig empfundenen Regelungen jeder Art. Mit der in Großbritannien 1985 eingesetzten „Enterprise and Deregulation Unit“ sowie der 1983 in Deutschland eingesetzten „Unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung“ versuchten die Regierungen unter dem Stichwort Deregulierung zu einer Verwaltungs- und Rechtsvereinfachung zu kommen102. Diesem Begriff liegt ein sehr wörtliches Verständnis zugrunde, das unter Deregulierung ein schlichtes Weniger an Regeln versteht. Insofern verbindet sich mit dem Begriff jedoch kein unmittelbar wirtschaftswissenschaftliches Konzept.
3. Deregulierung und Re-Regulierung Im Zusammenhang mit der Deregulierung verstanden als Abbau von Wettbewerbshemmnissen tritt regelmäßig ein Phänomen auf, das in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft als Re-Regulierung bezeichnet wird.103 Mit dieser Bezeichnung wird das Phänomen beschrieben, daß es bei dem Abbau von Wettbewerbshindernissen, also der Deregulierung, regelmäßig gleichzeitig zur Entstehung neuer Regulierung beispielsweise in der Form der Einsetzung von sektorenspezifischen Regulierungsbehörden mit starken Befugnissen zu Eingriffen in das Marktgeschehen kommt104. Dies wird mit dem Argument gerechtfertigt, daß durch weitestgehend unabhängige Fachbehörden der staatliche Eingriff in einen freien Wettbewerb weniger stark sein soll, als der Eingriff des Staates in die wirtschaftlichen Freiheiten der Bürger durch unmittelbare staatliche Beschränkung des Wettbewerbs oder gar staatliche Produktion105. 101 Diese Aussage wird durch zahlreiche Studien und empirische Untersuchungen gestützt. Beispielhaft sei hier der Bereich der Deregulierung der britischen Fernbuslinien 1980 genannt, die zu massivem Wettbewerb führte, ohne daß staatliche Eigentumsstrukturen aufgegeben wurden, während die Privatisierung des ehemaligen staatlichen Monopolisten zu keinen erwähnenswerten Effizienzverbesserungen oder einer Stärkung des Wettbewerbs führten. Vgl. Vickers / Yarrow, Privatisation: An Economic Analysis, S. 367 ff. 102 Vgl. Loughlin / Scott, The Regulatory State, S. 210; Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation: Introduction, S. 7 m. w. N.; Huber, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung, S. 78 ff., dort auch zu parallelen Bemühungen auf Landesebene; Unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung, Unnötiger Aufwand durch Vorschriften?; dies., Zwischenbilanz 1983 – 1987. 103 In diesem Sinne auch Huber, Weniger Staat im Umweltschutz, S. 493. 104 Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation: Introduction, S. 6 f.; Majone, The Rise of the Regulatory State in Europe, S. 97; Majone, Paradoxes of privatisation and deregulation, S. 62 f.; Majone, De-Regulation or Re-Regulation, S. 3. 105 Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation: Introduction, S. 7.
C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit: Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften im Vergleich Nachdem im vorangegangenen Teil die wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen der Fragestellung untersucht wurden, richtet sich im Folgenden das Interesse auf die Frage, wie die Wissenschaften bei der Untersuchung des Staates vorgegangen sind und heute noch vorgehen. Zunächst parallel verlaufende Entwicklungen trennen sich bald. So entwickeln sich einerseits die Ansatzpunkte der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften auseinander. Andererseits, und das ist für den Vergleich des deutschen und englischen Systems von großem Interesse, entwickeln sich auch deutsche und britische Rechtswissenschaften bei der Untersuchung des Staates und seiner Grenzen auseinander. Insbesondere durch die Entwicklung einer an geschriebenen Verfassungen ausgerichteten Staatsrechtslehre in Deutschland, der es an einem Pendant in Großbritannien fehlt, sind große Unterschiede offenbar. Dies kann erklären, warum die britische Rechtswissenschaft wesentlich stärker auf wirtschaftswissenschaftliche Begrifflichkeiten zurückgreift.
I. Gemeinsame Wurzeln der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften bei der Betrachtung des Staates 1. Von der Antike bis zum Mittelalter: Einheit von Ethik, Wirtschafts- und Staatsdenken Überlegungen zur rechten Ausgestaltung des Staates, seiner Einrichtungen und seines Wirtschaftslebens lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen.1 Insbesondere bei Aristoteles finden sich diese eingebettet in philosophische Abhandlungen in einer „Einheit von Ethik, Ökonomik und Politik“2. Die römische Jurisprudenz, die für unser heutiges Rechtsdenken und unsere Rechtstradition von 1 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 28 ff.; Winkel, Wirtschaftswissenschaft I: Geschichte, S. 413. 2 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 62; ähnlich auch Horn, Moral und Wirtschaft, S. 28 ff.; Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, S. 12 f.; Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung in der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 426. Vgl. die beiden Werke Politik und Ethik von Aristoteles, die inhaltlich eng miteinander verknüpft sind.
I. Gemeinsame Wurzeln der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften
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prägender Bedeutung ist3, ist gekennzeichnet durch die Entwicklung praktischer juristischer Technik oder Technä4, während ihr Beitrag zum Staatsdenken eng mit den Vorstellungen der Griechen verbunden ist und nicht weit über sie hinausgeht.5 Mit dem „Einbruch des Christentums in die Antike“6 lebte die aristotelische Einheit von Ethik, Ökonomie und Staatsdenken wieder auf und fand insbesondere in der stark von Aristoteles geprägten Scholastik ihre Fortsetzung7. Erst in der Frühen Neuzeit ab dem 17. Jahrhundert vollzog sich eine allmähliche Ausdifferenzierung der Teilbereiche und eine schrittweise „Loslösung des Staatsdenkens von der . . . Religion“8 mit ihren philosophisch-ethischen Fragestellungen. Daß diese Loslösung ein längerer Prozeß war wird durch die Tatsache verdeutlicht, daß noch Adam Smith, der gemeinsam mit den französischen Physiokraten um Quesnay als Begründer der Wirtschaftswissenschaften und hier insbesondere der Volkswirtschaftslehre gilt, stark in der fächerübergreifenden Tradition des Universalgelehrten stand. So schrieb er neben dem berühmten „An Inquiry into the Causes and Nature of the Wealth of Nations“ ein ethisches Grundwerk, die „Theory of Moral Sentiments“ und hielt fundierte „Vorlesungen über Rechtsund Staatswissenschaften“9. Das von ihm im Vorwort zur Theory of Moral Sentiments angekündigte rechtliche Grundwerk „A Theory of Law“ hat er allerdings nie geschrieben.10
2. Merkantilismus, Kameralistik und die „gute Policey“ Berührungspunkte praktischer und wissenschaftlicher Art zwischen rechtlichem und wirtschaftlichem Denken mit Bezug auf das Gemeinwesen entwickelten sich mit dem Auftreten des Staatenphänomens. Dieses setzte nach dem 30jährigen Krieg in den Flächenstaaten Frankreich und England und in Deutschland in den Territorialstaaten ein.11 Mit der Ausdehnung des Heeres und der Wirtschaftstätigkeit des Staates und der damit einhergehenden Vergrößerung der Finanzverwaltung 3
Vgl. Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 57 –
80. 4 Dazu Esser, Rechtswissenschaft, S. 777; zur Unterscheidung der Technä von Technik und Methode Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Howardt, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 65 – 75. 5 Zu nennen sind die Stoiker, die eine griechische Tradition fortsetzten, unter ihnen insbesondere Cicero. Vgl. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 46 ff. 6 Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 52. 7 Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 62 ff. 8 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 149. 9 Smith, Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften. 10 Vgl. Gröschner, Der homo oeconomicus und das Menschenbild des Grundgesetzes, S. 34. 11 Vgl. Oppermann, Öffentliches Recht, Staatswissenschaften und Sozialwissenschaften, S. 721; Winkel, Wirtschaftswissenschaft I: Geschichte, S. 413.
4 Ruge
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
entstand das Bedürfnis effizienter Ordnung der fürstlichen bzw. königlichen Haushalte und staatlichen Ausgaben12. Dieses neue Phänomen staatlicher Tätigkeit wird in England und Frankreich als Merkantilismus, in Deutschland als Kameralistik (camera, lat. fürstliche Schatzkammer) bezeichnet.13 Zentrales Anliegen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik war es, die fürstliche Schatzkammer zu füllen und gefüllt zu halten.14 In Frankreich entstand der Colbertismus, benannt nach dem Wirtschaftsminister Ludwig XIV., Jean Baptiste Colbert (1619 – 1683), als System von Schutzzöllen nach außen und intensiver Gewerbeförderung im Inneren.15 England entwickelte eine besondere Art von Handels- und Agrarmerkantilismus, gekennzeichnet durch die Navigationsakte, die Korngesetze Wilhelm III. und die Handelsverträge mit Portugal und Spanien.16 In Deutschland schließlich kam es zu jener besonderen Form des Merkantilismus, die man als Kameralwissenschaft und später mit inhaltlichen Verschiebungen als Staatswissenschaft bezeichnete. 17 Die Kameralwissenschaft bestand aus drei Teilen, der Ökonomik, der Polizeiwissenschaft und der Kameralistik im engeren Sinne.18 Unter Ökonomik verstand man theoretische Volkswirtschaftslehre und technische Fächer wie Land- und Forstwirtschaft. Kameralistik im engeren Sinne war Finanzwissenschaft, d. h. die Wissenschaft von den Ausgaben und Einnahmen des Staates. Polizeiwissenschaft schließlich bezog sich auf die „gute Verfassung und Ordnung“19 eines Staates. Dieser Teil der Kameralistik umfaßte Volkswirtschaftspolitik und Verwaltungsrechtslehre und begann rasch, eine besonders wichtige Stellung innerhalb der kameralistischen Disziplinen einzunehmen20. Die Polizeiwissenschaft fußt auf den Vorstellungen der „guten policey“. Diese war ursprünglich gleichbedeutend mit bona adminstratio oder guter Verwaltung und beschrieb sowohl einen Zustand als auch eine Tätigkeit: Das Gemeinwesen ist in guter Ordnung oder soll es sein, und der Fürst soll, um diesen 12 Schmölder, Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung in der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 426. 13 Winkel, Wirtschaftswissenschaft I: Geschichte, S. 413. 14 Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III, Theorienbildung der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 426. 15 Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III, Theorienbildung der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 426. 16 Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III, Theorienbildung der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 426 f. 17 Vgl. Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III, Theorienbildung der Volkswirtschaftslehre, Geschichte, S. 427. Die beiden großen Lehrbücher des preußischen Kameralismus sind Justi, Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten aus dem Jahre 1760 und Darjes, Erste Gründe der Kameralwissenschaften aus dem Jahr 1768. 18 Vgl. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 175 ff. und 194 ff.; Winkel, Wirtschaftswissenschaft I: Geschichte, S. 414. 19 Justus Christoph Dithmar, Einleitung in die Oeconomischen-, Polizey- und Cameralswissenschaften, 1731, zitiert nach Winkel, Wirtschaftswissenschaft I: Geschichte, S. 414. 20 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 181.
I. Gemeinsame Wurzeln der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften
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Zustand zu erreichen oder zu erhalten, „gute polizey“ ausüben.21 Dies bezog sich anfänglich auf einen sittlichen oder sozialehtischen Zustand und verschob sich im Laufe des 18. Jahrhunderts hin zu einem sehr weit gefaßten obrigkeitsstaatlichen Verständnis.22 Während den älteren deutschen Kameralisten des 17. Jahrhunderts eine Lehrtätigkeit an Universitäten versagt blieb, mündeten die neuen staatlichen Bedürfnisse der Frühen Neuzeit in die Einrichtung zahlreicher Lehrstühle der Kameralwissenschaften im deutschsprachigen Raum, allen voran 1727 in Halle / Saale und Frankfurt / Oder, eingerichtet durch den preußischen König Friedrich Wilhelm I.23 Wenngleich die Kameralwissenschaft mit den drei Elementen Ökonomik, Polizei und Kameralistik Elemente der Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaften im heutigen Sinne enthielt, so bestand doch alles andere als eine harmonische Kooperation zwischen den unterschiedlichen Fachaspekten und ihren Lehrern. Insgesamt gesehen blieb der Anteil der Jurisprudenz an den Materien der Kameralwissenschaft gering und konnte nach Ansicht der Zeitgenossen am besten anhand der konkreten Rechtsfrage dem entsprechenden Gebiet innerhalb der Jusristischen Fakultät zugeordnet werden; Kameralwissenschaften und Jurisprudenz blieben auf Distanz; die ältere Rechtswissenschaft nährte Zweifel am Wissenschaftscharakter der neuen Disziplin.24
3. Staatswissenschaft und Staatswissenschaften Die Kameralwissenschaft erweiterte sich allmählich, vor allem um Volkswirtschaftslehre und Statistik sowie im Bereich der Finanzwissenschaften.25 Seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde statt Kameralwissenschaften der Name Gesamte Staatswissenschaften gebräuchlich.26 „Obwohl gelegentlich in ihr auch juristische Gegenstände mitbehandelt wurden, war die Staatswissenschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Wesentlichen eine um Statistik und vergleichende Verfassungslehre erweiterte kameralistische Lehre von der Staatsverwaltung mit den drei Hauptgebieten Ökonomik, Polizei (= innere Verwaltung) und Finanz; als selbständige Fachbereiche ergänzte sie die juristischen Disziplinen, vor allem das sog. natürliche Privatrecht, nach der politischen Seite hin und 21 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, S. 345; ähnlich auch Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 24 f. 22 Vgl. zur Entwicklung des Verständnisses des Wortes Polizei Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 92 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, S. 369 – 371. 23 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 177 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, S. 372 – 376. 24 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, S. 377. 25 Oppermann, Öffentliches Recht, Staatswissenschaften und Sozialwissenschaften, S. 721. 26 Maier, Staatswissenschaft, S. 226.
4*
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
erfüllte insoweit eine wichtige Aufgabe bei der Ausbildung der Staatsbeamten.“27 So wurden im 19. Jahrhundert an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum Staatswissenschaftliche Seminare eingerichtet, das erste im Jahre 1849 in Jena, gefolgt von Heidelberg 1871, Halle und Straßburg 1872, Tübingen 1876 und Leipzig 1889.28 Trotz dieser Entwicklung traten die Staatswissenschaften im Universitätsstudium zugunsten der Wahl zwischen juristischer und nationalökonomischer Ausbildung zurück: Zwar waren in den Studien und Prüfungen juristische und nationalökonomische Fächer zu kombinieren; aber mangels des staatswissenschaftlichen Bandes blieb dies mehr äußerlich. Statt einer ganzheitlichen Bearbeitung staatswissenschaftlicher Materien, verblieb nur die Möglichkeit, auf dem Grenzgebiet zwischen Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft zu arbeiten. Doch war dies unzeitgemäß und verbot sich in der Regel, weil die Veröffentlichungen sich eindeutig als juristische oder als nationalökonomische erweisen mußten.29 Etwa zeitgleich mit der Einführung der neuen Seminare an den Universitäten entstand im Jahr 1844 die durch Robert von Mohl und Christian Schütz begründete „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“. Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts erlebten den Höhepunkt der staatswissenschaftlichen „Enzyklopädien“, die aufbauend auf der Idee der Enzyklopädie der Kameralwissenschaften eine deutsche Eigentümlichkeit darstellt30. Mit ihnen werden alle nur in irgendeiner Weise mit dem Staat zusammenhängenden Aspekte menschlicher Forschung in reihender Weise dargestellt. Die drei letzten großen staatswissenschaftlichen Enzyklopädien stammen von Lorenz von Stein31, Carl Salomo Zachariä32 und Robert von Mohl33. Stellvertretend für die Idee der Enyklopädien der gesamten Staatswissenschaft schreibt Stolleis über Zachariäs Abhandlung: „Das Werk zielt auf eine umfassende Darstellung der Staatswissenschaften. Es ist der fast vermessene Versuch, auf nahezu 2000 Seiten den Staat „nach allen seinen Beziehungen“ auszuschreiten, also nicht nur über Staats- und Völkerrecht, allgemeine Staatslehre, Volkswirtschaft und Finanzwissenschaft zu schreiben, sondern auch Mechanik, Chemie und Biologie, Astronomie, Klimalehre, Geographie, Anthropologie, Psychologie, Geschichte, Politik, Pädagogik etc. auf ihre Aussage zum Staat zu befragen und sie in Form einer Maier, Staatswissenschaft, S. 226. Maier, Staatswissenschaft, S. 226; bereits 1817 hatte Friedrich List ein einem Gutachten für die Universität Tübingen die Errichtung einer staatswissenschaftlichen Fakultät gefordert, vgl. Taeuber, Staatswissenschaft, S. 766. 29 Taeuber, Staatswissenschaft, S. 766; dieses Hindernis für interdisziplinäres Arbeiten hat sich mit wenigen Ausnahmen interdisziplinärer Publikationsreihen bis heute bewahrt. 30 Taeuber, Staatswissenschaft, S. 764. 31 Stein, System der Staatswissenschaft, 2 Bände, 1852 / 56. 32 Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Band I-V, Heidelberg 1820 – 1832. Vgl. zu den explizit staatsrechtlichen Vorstellungen Zachariäs Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 64 ff. 33 Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bände, Erlangen 1855 / 56 / 58. 27 28
II. Auseinanderentwicklung der Staatswissenschaft
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Enzyklopädie systematisch zu ordnen.“34 Wenngleich auch Robert von Mohl ein fachlich sehr umfassendes Werk schuf, insbesondere im Hinblick auf die Situation in Frankreich, Großbritannien und den USA, so erkannte er doch die Notwendigkeit, zahlreiche Forschungsbereiche aus der gesamten Staatswissenschaft auszuscheiden und diese dem neu entstehenden breiten Wissenschaftszweig der Gesellschaftswissenschaften zuzuweisen. So hatten für ihn das gesamte Privatrecht, das Ständerecht, das Gesellschaftsrecht und das Kirchenrecht keinen Platz mehr in der Staatswissenschaft.35 Ebenso schied er die Nationalökonomie aus dem Bereich der Staatswissenschaft.36 Mohls Werk stellte die letzte große staatswissenschaftliche Enzyklopädie dar. Von nun an bediente man sich, wenn es um den Zusammenhalt von „Staatswissenschaften“ ging, der formlosen Medien der fortlaufenden Zeitschrift (ZgSt) oder des Lexikons (Handwörterbuch der Staatswissenschaften).37 Der Zusammenhalt der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche innerhalb der gesamten Staatswissenschaft, man könnte auch sagen der verschiedenen Staatswissenschaften in der einen Staatswissenschaft, sollte jedoch nicht mehr lange andauern.
II. Auseinanderentwicklung der Staatswissenschaft als einigendes Band von Rechtswissenschaften und Nationalökonomie 1. Das Phänomen Noch im Vorwort der Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften hatten sich die Herausgeber vorgenommen, ein wahrhaft interdisziplinäres Journal unter Berücksichtigung auch der rechtlichen Aspekte der Verwaltung herauszugeben: „Ein besonderes Augenmerk gedenken wir jedoch auf das, so häufig von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelte, Verwaltungsrecht zu richten, in so ferne auch der Anwendung auf das Leben und nicht allein dem Grundgedanken Beachtung gebührt .“38 Gleichzeitig heißt es jedoch: „Ausgeschlossen bleibt von uns rein Juristisches, da für diese Seite des öffentlichen Rechts hinreichende Organe aller Art bestehen.“39 Bald stellte sich jedoch ein Übergewicht der wirtschaftlichen Beiträge ein. Dies mag wohl mit den entstehenden juristischen Fachpublikationen begründet Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, S. 171. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, S. 105 f. und 117. 36 Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, S. 105 f. und 117 f. Vgl. zu den explizit staatsrechtlichen Vorstellungen Mohls Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 69 ff. 37 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, S. 171. 38 Mohl / Knaus / Volz / Schütz / Fallati / Hoffmann, Vorwort, ZgSt 1844 (1), S. 4. 39 Dieselben, ebenda. 34 35
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
werden.40 Einen ähnlichen Trend repräsentiert das 1890 erstmalig herausgegebene Handbuch der Staatswissenschaften. Trotz des oberflächlich an der interdisziplinären Tradition der Staatswissenschaften festhaltenden Titels, wandten sich die Herausgeber von der traditionellen umfassenden Konzeption der Staatswissenschaften ab, um diejenigen Gegenstände, die sie als juristische oder nichtwirtschaftliche ansahen, nicht auffnehmen zu müssen. Sie konstatierten einen Begriff der „Staatswissenschaften im neueren und engeren Sinne“, bestehend aus der theoretischen und praktischen Volks- und Staatswirtschaftslehre sowie der unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt aufgefaßten Gesellschaftslehre und Sozialpolitik41, bevor das Handbuch der Staatswissenschaften schließlich in Handbuch der Sozialwissenschaften umbenannt wurde42. Diese Beispiele verdeutlichen eine allgemeine Tendenz, die sich folgendermaßen beschreiben läßt: „Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts verflüchtigte sich das Denken über den Staat zumindest in Deutschland in die sich ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften, namentlich in die Rechtswissenschaften. Diese löste sich vom Anspruch, Rechts- und Staasphilosophie zu sein und betrachtete sich selbst primär als nicht mehr auf das Ganze von Recht und Staat gerichtete, sondern am positiven Recht orientierte Wissenschaft.“43 Für dieses Auseinanderfallen der Staatswissenschaft in seine einzelnen fachspezifischen Disziplinen läßt sich vor allem eine allgemein wissenschaftlichphilosophische Strömung als Ursache benennen, nämlich der große Einfluß, den der auftretende Positivismus auf die Rechtswissenschaft und die anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausübte.
2. Positivismus als Erscheinung der modernen Wissenschaften Als „Erfinder“ des Positivismus wird gemeinhin Auguste Comte benannt, der von 1798 bis 1857 in Frankreich lebte44, wenngleich die dem Positivismus zugrunde liegende Einstellung und auch der Begriff selbst bereits vor Comte anzutreffen ist45 und auch andere Philosophen seiner Zeit, insbesondere John Stuart Mill und Herbert Spencer,46 erheblich zur Ausgestaltung des Positivismus beigetragen haben. Im Mittelpunkt der Comteschen Philosophie stehen das DreistadienSo Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, S. 290 f. Taeuber, Staatswissenschaft, S. 764. 42 Oppermann, Öffentliches Recht, Staatswissenschaften und Sozialwissenschaften, S. 721. 43 Gröschner, in Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Howart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 257. 44 Zum Leben Comtes und dem prägenden Einfluß seiner Umwelt auf sein Werk vgl. Fetscher, Einleitung, S. XVI-XXIV, sehr gerafft Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 167 f. 45 Fetscher, Einleitung, S. XV. 46 Vgl. überblicksartig zu beiden Kempski, Positivismus, S. 141 f. Comte selbst verweist auf das Werk „Ein System der Logik“ aus dem Jahr 1843 von J. S. Mill und darin insbesondere auf die Lehre von der induktiven Logik. 40 41
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gesetz und das Hierarchie- oder enzyklopädische Gesetz. Das Hierarchiegesetz stellt eine Rangfolge sechs verschiedener Wissenschaften auf, geordnet nach ihrer jeweiligen Methode.47 Jede der höherrangigen Wissenschaften muß die Methoden der niedrigeren Wissenschaften zur Kenntnis nehmen und ergänzt sie noch um eine eigene weiterentwickelte Methode. Den Schlußstein stellt die von Comte erstmalig so bezeichnete „Soziologie“ dar, die mit der positiven Methode arbeitet, die Comte in seinem Dreistadiengesetz darstellt. Das Dreistadiengesetz beschreibt drei Zeitalter, die von jeder der sechs Grundwissenschaften durchlaufen werden muß und gleichzeitig die Gesamtentwicklung einer Zivilisation beschreibt.48 Comte nennt diese Stadien das theologische, das metaphysische und das positive Stadium.49 Im theologischen Stadium sucht danach der Mensch nach den „wesentlichen Ursachen der verschiedenen Erscheinungen“, nach „absoluten Erkenntnissen“.50 Diese sucht er zu erklären durch das Walten von Göttern und Dämonen51. Das metaphysische Stadium ist ebenfalls gekennzeichnet durch den Versuch, „die innerste Natur der Wesenheiten, Ursprung und Bestimmung aller Dinge und die wesentliche Erzeugungsweise aller Phänomene zu erklären; aber anstatt hierzu übernatürliche Wirkkräfte im eigentlichen Sinn zu verwenden, ersetzt sie diese mehr und mehr durch jene Wesenheiten oder personifizierte Abstraktionen, deren wahrhaft charakteristischer Gebrauch es oft erlaubte, sie mit dem Namen Ontologie zu bezeichnen.“52 Auch wenn hier der Verstand bereits stark an Boden gewönne und sich auf noch unklare Weise auf seine wahrhaft wissenschaftliche Tätigkeit vorbereite, so sei infolge der „hartnäckigen Tendenz zu argumentieren anstatt zu beobachten“ der theoretische Anteil gewaltig übertrieben.53 Erst das dritte, das positive Stadium, löse sich von dem Versuch, das Wesen der Erscheinungen auf transzendentale Weise mit irgendwelchen jenseits der Erfahrung liegenden letzten Ursachen zu erklären. Vielmehr gehe nun alle Erkenntnis von wahrnehmbaren Tatsachen aus. Mit dem positivistischen Stadium ist danach das endgültige Stadium erreicht. Damit verzichte der menschliche Geist fortan auf absolute Forschungen und beschränke seine Bemühungen auf das „Gebiet der echten Beobachtung, der einzig möglichen Grundlage der wirklich erreichbaren und unseren tatsächlichen Bedürfnissen weise angemessene Erkenntnisse“; logische Grundregel sei von nun an, „daß keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen und verständlichen Sinn enthalten kann.“54 Allerdings weist Comte in Abgrenzung zu bloßem Empirismus darauf hin, daß es nicht zu „einer Art unfruchtbaren Anhäufung zusammenhangloser 47 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 68 – 77, S. 104 ff. Fetscher, Einleitung, S. XXIV, XXVI. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 2, S. 5. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 3, S. 6. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 168. Fetscher, Einleitung, S. XXV. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 9, S. 12. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 9, S. 13. Vgl. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 12, S. 16.
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Fakten“ kommen dürfe. Vielmehr komme es darauf an, die Beziehungen und deren Gesetzmäßigkeiten zwischen den Erscheinungen zu erklären. Dazu seien Theorien notwendig, um die Beobachtungen auf induktive Weise zu erklären.55 Man folgt also bei der Erhebung von Daten theoretischen Vorstellungen und versucht, Tatsachen aus Tatsachen zu erklären. Kommt es zu einem Umbruch, dann tritt eine neue oder modifizierte Theorie auf, die verspricht, die Tatsachenmassen besser zu ordnen, besser zu durchleuchten oder in ihren Erklärungssträngen durchsichtiger zu machen.56 Nach Comte ist diese Methode notwendig, schließlich bestehe „der wahre positive Geist vor allem darin, zu sehen um vorauszusehen, zu erforschen was ist, um daraus auf Grund des allgemeinen Lehrsatzes von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze – das zu erschließen, was sein wird.“57 Mit seinen beiden Gesetzen steht Comte unverkennbar in historizistischer Tradition. Fetscher stellt im Hinblick auf Comtes Vorstellungen von der Gesetzmäßigkeit der verschiedenen Stadien und der Entwicklung der Wissenschaften unter Bezugnahme auf die Geschichtskonstruktion Hegels fest: „Heute, nachdem alle Versuche einer philosophischen oder wissenschaftlichen Gesamtdeutung der Geschichte als gescheitert anzusehen sind, erscheinen Comtes und Hegels Geschichtskonstruktionen nur noch als Spielarten eines und desselben Irrtums . . .“.58 Auch wenn natürlich die Ideen Comtes in verschiedener Weise von anderen kritisiert oder aufgegriffen und in ihrem Sinne modifiziert oder weiterentwicklet wurden59, so hat er doch das bleibende Grundanliegen des Positivismus bestimmt. Mit dem Eindringen des Positivismus beginnt ein neuer Abschnitt in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland.60 Diese Entwicklung erfaßte in vollem Umfang auch die Rechtswissenschaft.
3. Rechtspositivismus: Auseinanderfallen von Recht und Moral Das Comtesche Dreistadiengesetz zur Entwicklung der Naturwissenschaften läßt sich auch auf die Rechtswissenschaften übertragen. So sucht die Rechtswissenschaft im theologischen Stadium Recht und Staat mit göttlichem Ursprung zu erklären, während im metaphysischen Stadium allgemein gültige, auf Vernunft be55 Zum zentralen Zusammenhang zwischen Theorie und Beobachtung und deren Rolle in den Erfahrungswissenschaften bei Comte vgl. Kempski, Zum Selbstverständnis des Positivismus, S. 15 ff. 56 Vgl. Kempski, Positivismus, S. 145. 57 Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Nr. 15, S. 20. 58 Fetscher, Einleitung, S. XLI. Vgl. zur Kritik am Historizismus Popper, Das Elend des Historizimus; ders., Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde. 59 Vgl. zu gesamten Entwicklung des Positivismus Kempski, Positivismus, S. 141 – 146; Kempski, Zum Selbstverständnis des Positivismus, S. 15 – 26; zur Kritik am Positivismus vgl. Fetscher, Einleitung, S. XXXIII-XXXVI. 60 Wach, Das Verstehen, S. 42 f.
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gründete Prinzipien hinter den konkreten Rechtssätzen ergründet werden, bis schließlich im dritten und letzten, dem positiven Stadium das Recht aus dem geschriebenen Recht allein erklärt wird, ohne dabei auf letzte Prinzipien oder Wahrheiten zurückzugreifen.
a) Die Situation vor dem Auftreten des Rechtspositivismus Mit Radbruch gesprochen war von ihrem Anbeginn bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts alle Rechtsphilosophie Naturrechtslehre61. Während sich das Naturrecht des Mittelalters noch auf den Gegensatz zwischen göttlichem und menschlichem Recht konzentrierte62 und letztlich im göttlichen Ursprung den Quell des höchsten Rechts sah63, ersetzte im Zuge der Aufklärung die Vernunft Gott als den Ursprung des Rechts. Damit war der Schritt vom theologischen zum metaphysischen Stadium im Sinne Comtes getan. Diese auch als Vernunftrecht bekannte Variante des Naturrechts, deren wohl berühmtester deutscher Vertreter Samuel von Pufendorf war, entwickelte das Recht allein aus der Vernunft oder der Natur der Sache oder des Menschen, unabhängig von Zeit und Ort; Naturrecht in diesem Sinne war das, „was Naturrechtler in ihren Büchern dafür hielten“.64 Das mittelalterliche und das vernunftorientierte Naturrecht verbindet mithin eine Gemeinsamkeit. „Es liefert inhaltlich bestimmte rechtliche Werturteile. Diese Werturteile sind entsprechend ihrer Quelle – Natur, Offenbarung, Vernunft – allgemeingültig und unwandelbar. Sie sind der Erkenntnis zugänglich. Sie gehen, einmal anerkannt, widersprechendem gesetzten Recht vor: Naturrecht bricht positives Recht.“65 Eine weitere wichtige geistige Strömung im Vorfeld des Rechtspositivismus66 stellt die Historische Schule67 des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts dar. Ihre Vertreter, deren berühmtester Friedrich Carl von Savigny war, fanden sich vereint durch eine konservative Grundhaltung, kritisch bis ablehnend gegenüber dem Vernunftrecht, dem Rationalismus der Aufklärung und dem Gedankengut der französischen Revolution.68 Im Zuge einer allgemeinen Hinwen61 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 21 [13]; vgl. auch die sehr anschauliche Darstellung der Entwicklung des Naturrechts von der Antike über das theologische Naturrecht des Mittelalters bis zum Vernunftrecht der Aufklärung bei Rüthers, Rechtstheorie, S. 237 – 269, der von der 2500-jährigen Geschichte des Naturrechtsgedankens spricht, ibid. S. 241. 62 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 21 [13]. 63 Vgl. etwa zu Thomas von Aquins Naturrechtslehre Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, S. 86 – 93; Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 64 ff. 64 Vgl. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, S. 340. 65 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 21 [13]; vgl. Rüthers, Rechtstheorie, S. 238. 66 Vgl. dazu überblicksartig Viehweg, Positivismus und Jurisprudenz, S. 105 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, S. 237 – 269. 67 Vgl. den Überblick bei Rüthers, Rechtstheorie, S. 261 – 264; zur Methodenlehre Savignys Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 11 – 18. 68 Vgl. etwa Pöggeler, Vom Naturrecht zum Rechtspositivismus, S. 340.
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dung der Wissenschaften und des öffentlichen Interesses zum geschichtlichen Denken im 18. Jahrhundert, verkörpert etwa durch Schiller und Herder, ließ sich der Gedanke, die Vergangenheit sei ursächlich für die Gegenwart, auch auf die Juristerei übertragen.69 Nach Savigny war „der eigentliche Sitz des Rechts das gemeinsame Bewußtsein des Volkes“ und „dieser organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes bewährt sich auch im Fortgang der Zeiten“.70 Damit war die sog. Volksgeistlehre geboren: Recht entsteht auf natürliche Weise durch Wachsen im Volk, nicht etwa durch Revolutionen, und damit beruhte gegenwärtiges Recht immer auf dem in der Vergangenheit entstandenen Recht. Mit dieser Strömung wurde die Rechtsgeschichte zu einer der Kardinalmethoden der Erkenntnis des geltenden Rechts und ist dies bis heute geblieben. Mit dieser Absage an den Gesetzgeber machte die Wissenschaft, gemeinsam mit der Richterschaft, ihren Anspruch auf die alleinige Definitionsmacht des Rechts geltend.71 Das Recht wurde scheinbar entpolitisiert, „entstaatlicht“, indem der Gesetzgeber zurückgedrängt wurde. Die Wissenschaft wurde zum „Herrn des Rechts“.72 Diesen Gedanken der Historischen Rechtsschule führten die Vertreter der sog. Begriffsjurisprudenz konsequent vom Volksgeist weiter zum Juristenmonopol73. Die Begriffsjurisprudenz dürfte ebenso noch in das metaphysische Stadium der Comteschen Dreistadientheorie einzustufen sein. Aufbauend auf der Idee des Volksgeistes im Recht und der Vorstellung eines vorhandenen Systems im Recht stellte die Begriffsjurisprudenz eine Rechtswissenschaft allerhöchster Abstraktion dar. Nach den Vorstellungen ihrer Vertreter, von denen Georg Friedrich Puchta wohl der bedeutendste war, stehen alle Rechtssätze zueinander in einem engen System. Aus diesem System der Rechtssätze ergibt sich die Möglichkeit, von der Existenz des einen auf die Existenz des anderen zu schließen, also durch Deduktion zu neuen rechtlichen Erkenntnissen zu gelangen („Genealogie der Begriffe“). Diese Vorgehensweise stellte neben dem Gewohnheitsrecht und dem geschriebenen Recht eine eigenständige Rechtsquelle dar.74 Vorbild der Begriffsjurisprudenz waren die erfolgreichen exakten Naturwissenschaften mit ihrem präzisen Begriffsapparat.75 Als positive Folge der Begriffsjurisprudenz erhielt das gesetzlich kaum geregelte positive Recht des frühen 19. Jahrhunderts eine willkommene, dogmatisch durchgebildete, wissenschaftliche Gestalt; negative Auswirkung war die Entstehung einer reinen Begriffslogik mit der Folge, daß sich Rechtswissenschaft und Vgl. Pöggeler, Vom Naturrecht zum Rechtspositivismus, S. 340. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 8 ff. 71 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, S. 262. 72 Rüthers, Rechtstheorie, S. 268. 73 Rüthers, Rechtstheorie, S. 265; vgl. zur Begriffsjurisprudenz Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 19 – 35. 74 Vgl. zum Ganzen die Übersicht bei Pöggeler, Vom Naturrecht zum Positivismus, S. 342 f., Rüthers, Rechtstheorie, S. 264 – 268. 75 Rüthers, Rechtstheorie, S. 266. 69 70
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Rechtspraxis von der Realität entfernten.76 So ist denn auch das verbindende Moment zwischen Historischer Schule und Begriffsjurisprudenz vor allem, daß sie die Wissenschaftler zu Herren des Rechts machten, indem sie ihnen das Monopol der Definitionskompetenz zusprachen.77 Mit den dargestellten Strömungen läßt sich eine Entwicklung von den theologischen Erklärungsversuchen des Rechts über das Vernunftrecht, den Volksgeist im Recht und die abstrakte Systembildung der Begriffsjurisprudenz erkennen. Sie entfernt sich immer mehr von transzendentalen Erklärungsversuchen. Den endgültigen Abschied von derartigen Ansätzen fanden die Rechtspositivisten im späten 19. Jahrhundert. Allerdings lassen sich Grundideen des Rechtspositivismus bereits im 17. Jahrhundert erkennen.
b) Hobbes als Ahne des Rechtspositivismus78 Thomas Hobbes (1588 – 1679) erlebte den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund ständiger Auseinandersetzungen um moralphilosophische oder religiöse Letztwahrheiten nimmt es nicht Wunder, daß für Hobbes eine zentrale Ordnungsmacht im Mittelpunkt seiner Staatsphilosophie stand. Diese hatte das vorrangige Ziel der Sicherung des Rechtsfriedens.79 Dabei bedient er sich der sog. bürgerlichen Gesetze, die Hobbes im Leviathan wie folgt definiert: „Die bürgerlichen Gesetze sind die Regeln, die der Staat jedem Untertanen durch Wort, Schrift oder andere ausreichende Willenszeichen befahl, um danach Recht und Unrecht, das heißt das Regelwidrige und das der Regel Entsprechende, zu unterschieden“.80 Die Bedeutung, die dabei den Gesetzen für die Erkennung von Recht und Unrecht zukommen, beschreibt Hobbes folgendermaßen: „Jeder sieht auch, daß Gesetze die Regeln für gerecht und ungerecht sind, da nichts als ungerecht angesehen werden kann, das nicht einem Gesetz widerspricht. Ebenso, daß niemand anderes als der Staat Gesetze erlassen kann, da wir nur dem Staat unterworfen sind, und daß Befehle durch ausreichende Zeichen kenntlich gemacht werden müssen, da andernfalls niemand weiß, wie er ihnen gehorchen soll“.81 Das Rechtsetzungsmonopol liegt also beim Staat, was Hobbes im Leviathan mit dem Satz „auctoritas non veritas facit legem“82 auf eine prägnante Formel gebracht hat. Nach Hobbes gilt: „Gesetze sind also ihrem Wesen nach die Voraussetzung für Gerechtigkeit und Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, S. 266. Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, S. 269. 78 Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 166. 79 Vgl. Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 166 ff., insbes. S. 169; Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 103 f. 80 Hobbes, Leviathan, S. 203. 81 Hobbes, Leviathan, S. 204. 82 Vgl. Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 167. 76 77
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Ungerechtigkeit“.83 Diese Gedanken Hobbes zeigen seine Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung des Rechtspositivismus: „Seine Auffassung vom bürgerlichen Gesetz löst die Gesetze des States von jeder Abhängigkeit gegenüber religiösen oder wissenschaftlichen oder sonstigen Wahrheiten. Die Gesetze gelten allein aufgrund ihrer positiven Bestimmtheit durch den legitimen Gesetzgeber. Das garantiert zum einen die Neutralität der staatlichen Rechtsgesetze, zum anderen zeigt es, wie sich das positive Gesetzesrecht in der Neuzeit als ein selbständiges und von anderen Systemen unabhängiges Teilsystem der Gesellschaft entwickeln kann. Aus dieser Perspektive ist Hobbes zweifellos ein wichtiger Ahne des modernen Rechtspositivismus.“84
c) Zentrale These des Rechtspositivismus: Trennung von Recht und Moral Damit sind wesentliche Aspekte des Rechtspositivismus bereits angedeutet.85 Zentrale Neuerung ist die Trennung von Recht und Moral86. Nicht mehr die Frage, wie das Recht moralisch, ethisch oder aus anderen Gerechtigkeitserwägungen heraus sein soll, sondern das tatsächlich bestehende Normensystem, also die Frage, wie das Recht ist, ist der Untersuchungsgegenstand der Rechtswissenschaft. Damit findet sich jedwede Ableitung eines Gerechtigkeitsbegriffs, der sich aus objektivistischen Moralkonzepten ableitet, jenseits der rechtspositivistischen Rechtswissenschaften wieder. Seinen Höhepunkt in Deutschland fand diese scharfe Trennung in der Reinen Rechtslehre Kelsens. Kelsen kann das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, die methodische Selbständigkeit der Rechtswissenschaften wiederbelebt oder mindestens erheblich gefestigt zu haben, indem er sie von allen ihr fremden Elementen befreite.87 Nach dem Vorbild des Positivismus, orientiert an den „exakten“ Naturwissenschaften, bemühte sich auch die Rechtswissenschaft um Fakten als Anknüpfungspunkt juristischer Forschung.88 Als solche Fakten kamen zum einen Tatsachen der „Außenwelt“, d. h. sichtbare, hörbare oder irgendwie meßbare Vorgänge in Betracht, zum anderen Tatsachen der „Innenwelt“, d. h. psychische Vorgänge. Aus den „Außenwelt“-Betrachtungen entwickelten sich entsprechende Rechtstheorien, die sich an Tatsachen des sozialen Daseins orientierten. Derartige soziologi83 Hobbes, Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Recht, S. 71. 84 Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 169. 85 Vgl. den guten Überblick bei Engländer, Grundzüge des modernen Rechtspositivismus, S. 113 – 118 m. w. N.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 36 – 83; Rüthers, Rechtstheorie, S. 269 – 286, Ott, Der Rechtspositivismus. 86 Vgl. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral. 87 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 72. 88 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 37.
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sche Rechtstheorien waren naturgemäß in Methode und Untersuchungsgegenstand der Soziologie sehr nahe. Aus der Anknüpfung an innenweltliche, psychologische Vorgänge entwickelte sich die psychologische Rechtstheorie, die wiederum der eigenständigen Wissenschaft der Psychologie nahe stand. Entsprechend verbreitete sich ein Gefühl, daß die Selbständigkeit der Rechtswissenschaften zugunsten anderer Wissenschaften, namentlich der Soziologie und Psychologie, preisgegeben würde.89 Hier setzt nun Kelsen mit seiner Reinen Rechtslehre an, mit der er die Rechtswissenschaften auf denknotwendig rechtswissenschaftliches reduziert und alles andere aus dem Bereich der Rechtswissenschaft ausscheidet. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die strikte Trennung von Sein und Sollen. Das Sein repräsentiert dabei die Wirklichkeit und ihre Tatsachen, während das Sollen das rechtlich Gebotene darstellen, das in Rechtsnormen zum Ausdruck kommt. Nach Kelsen ist die Rechtswissenschaft beschränkt auf das Sollen. Sie ist daher keine Tatsachenwissenschaft wie die Soziologie, sondern eine Normenwissenschaft; ihr Gegenstand ist nicht das Seiende oder Geschehende, sondern ein Komplex von Normen.90 Trotzdem lehnt Kelsen jedwede Naturrechtslehre ab und beschränkt sich mit seiner Reinen Rechtslehre auf positives Recht. „Sie lehnt es ab, das positive Recht zu bewerten. Sie betrachtet sich als Wissenschaft zu nichts anderem verpflichtet, als das positive Recht seinem Wesen nach zu begreifen und durch eine Analyse seiner Strukturen zu verstehen.“91 Entsprechend kann sich die Geltung von Recht nicht aus theologischer Offenbarung, der Vernunft oder anderen inhaltlichen Vorstellungen des Rechts ergeben, sondern besteht allein deshalb, weil die Rechtsnorm durch eine setzungsbefugte Autorität geschaffen wurde.92 „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“93 Allerdings bedeutet diese Trennung von Recht und Moral insbesondere für Kelsen nicht, daß sich damit die Frage nach der moralischen Richtigkeit des Rechts erledigt hätte. Im Gegenteil beteiligte sich Kelsen selbst engagiert an Diskussionen über derartige Fragestellungen, allerdings nicht im Rahmen der Rechtswissenschaften, sondern im Rahmen der Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie.94 MethoLarenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 38. Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 69 f. 91 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 112. 92 Dies gilt allerdings nicht für die Annahme einer fiktiven Grundnorm, die ihrerseits einen Geltungsbefehl für das gesetzte Recht, das seine Geltung immer von einer höherrangigen Rechtsnorm ableite, denknotwendig enthält. 93 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 201. 94 Vgl. Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 263 f. Dagegen ist in Deutschland ausgelöst durch die Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes mit der Radbruchschen Formel der Rechtspositivismus dahingehend eingeschränkt worden, als daß Recht seinen Geltungsanspruch verlöre, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat“, Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, S. 216 [107]. Andere Kritiker des Rechtspositivismus schlagen die 89 90
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dologisch folgt daraus für Kelsen die Beschränkung der Aufgabe der juristischen Interpretation auf die bloße Wortauslegung, das Aufzeigen der dem Wortsinn nach möglichen Bedeutungen, unter denen der Anwender der Norm dann eine zu wählen hat.95 Historische, systematische und teleologische Auslegung scheiden für Kelsen damit als rechtswissenschaftliche Methoden aus.96
d) Rechtspositivismus in Großbritannien In Großbritannien erlangte in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Hart als Vertreter der Rechtspositivismus Berühmtheit. Dieser identifizierte fünf verschiedene Aspekte des Rechtspositivismus, von denen er die Trennung von Recht und Moral als den zentralen ansah und ihn gegen verschiedene Vorwürfe verteidigt. Dabei kritisierte er insbesondere die im Nachkriegsdeutschland mit der Radbruchschen Formel wiederauftretenden Tendenzen des Naturrechts.97 Der berühmteste Vertreter des Rechtspositivismus des 19. Jahrhundert in Großbritannien war zweifelsohne John Austin (1790 – 1859). Er vertrat die Ansicht, daß nichts, was nicht einen Befehl oder eine Sanktion enthielte, auferlegt durch einen übergeordneten Souverän, Recht sein könne.98 Verbunden mit diesem Ansatz war bei Austin und vor allem seinem Zeitgenossen Jeremy Bentham (1748 – 1832) die Annahme, daß sich das positive Recht auf einige wenige Grundprinzipien reduzieren lasse, wobei das letzte Prinzip das „Utility Principle“ sei. Dies hatte zum Inhalt, die Vorgabe, daß insbesondere bei gesetzgeberischem Handeln der größte Nutzen für die größtmögliche Zahl der Bürger erreicht werde. Diese Herangehensweise ähnelt dem System der Begriffsjurisprudenz in Deutschland und sah sich wie dieses dem Vorwurf der Realitätsferne ausgesetzt. Bentham fand in der juristischen Praxis mit der Abstraktheit seiner rechtlichen Konstruktionen wenig Anklang.99 Ebenso scheiterte in Großbritannien die mit dem Rechtspositivismus verbundene KodifikationsbeweEinführung einer neuen Kategorie der „geltenden nicht verbindlichen Rechtsnorm“ vor, d. h. die als ungerecht erkannte Norm verlöre zwar nicht ihren Charakter als geltende Rechtsnorm, sei aber für die Rechtssubjekte nicht verbindlich und nicht anzuwenden, Jachmann, Die geltende nicht verbindliche Rechtsnorm, S. 336 – 340; ähnlich auch Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, S. 45 f. Gegen all diese Versuche, moralische Maßstäbe entgegen der rechtspositivistischen Trennungstheorie wieder zurück in die Rechtswissenschaft zu holen, so geschehen insbesondere zur Aufarbeitung staatlichen Unrechts in Deutschland, vgl. Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, sprechen die gewichtigen Gründe, die bereits bei Hobbes angeklungen sind. Vgl. auch dazu die sog. Prinzipientheorie, die bei der Auslegung von Rechtsbegriffen moralische Bewertungen im Rahmen positivierter Prinzipien, die abwägungsbedürftige Optimierungsgebote darstellen, berücksichtigen will; Engländer, Grundzüge des modernen Rechtspositivismus, S. 115. 95 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 80. 96 Vgl. Larenz, Methodenlehre, der Rechtswissenschaft, S. 80. 97 Hart, Recht und Moral, S. 39 ff. 98 McEldowney, Administration and Law in England in the 18th and 19th Centuries, S. 30. 99 Baker, English Legal History, S. 246.
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gung des 19. Jahrhunderts an den notwendigen als zu radikal empfundenen Veränderungen des bestehenden Rechts, ähnlich den Volksgeist-Argumenten der historischen Schule in Deutschland.100 Die aus Deutschland stammende historische Schule beeinflußte auch insofern die Rechtswissenschaften im England des 19. Jahrhunderts als sie dort ein breites Spektrum an Schriften zu Verfassungsgeschichte und damit verbunden den Institutionen des Staates auslöste.101
e) Besonderheiten des Rechtspositivismus in der deutschen Staatsrechtslehre Nicht von ungefähr sind die Ausführungen zur Methodik und insbesondere zum Positivismus im Wesentlichen mit Namen großer Zivilrechtswissenschafter verknüpft. Diese waren es nämlich, welche die Methodenlehre der Rechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten und von hier aus wurden die entwickelten systematischen Ansätze in die Staatsrechtswissenschaft getragen. Während noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Methodenfragen in der Staatsrechtswissenschaft eher beiläufig erörtert wurden, so treten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere bei Carl Friedrich von Gerber und, wennauch weniger explizit, bei Paul Laband, zwei ausgewiesenen Zivilrechtswissenschaftern, in den Mittelpunkt.102 Zwar existierte auch in der Staatsrechtslehre bereits um 1800 eine offensichtliche Neigung zum Positivismus. Diese äußerte sich jedoch zumeist in einer als Gesetzespositivismus103 bezeichneten Sammelleidenschaft bezüglich bestehender Gesetzes- und anderer Rechtstexte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielt der wissenschaftliche Positivismus durch Gerbers Bemühungen Einzug in die Staatsrechtslehre. Unter Vermeidung des Rückgriffs auf außerjuristische Grundsätze wurde eine systematische Durchdringung der Rechtstexte von innen heraus vorgenommen.104 Dabei wurde dem Staatsrecht parallel zu Gerbers privatrechtlichen Vorstellungen eine „willenstheoretische Codierung“ zugrunde gelegt. Staatsrecht ist danach die Lehre vom Staatswillen, der sich in der Staatsgewalt niederschlägt. Damit wird jede staatsrechtliche Frage Gerber zufolge auf eine Frage nach Inhalt, Umfang, Grenzen, Organen, Formen und Verfahren des Staatswillens und seiner Bildung reduziert.105 Erst durch den staats100 Vgl. zu den Kodifikationsbemühungen Jeremy Benthams und Henry Broughams in England Baker, English Legal History, S. 246 ff.; Schofield, Jeremy Bentham and Nineteenth Century English Jurisprudence, S. 58 ff.; zum Kodifikationsstreit in Deutschland Lingelbach, Anton Friedrich Justus Thibaut und der Kodifikationsstreit in der Rechtswissenschaft, S. 71 ff.; Mincke, Thibaut vs Savigny, S. 150 ff. 101 Collini / Winch / Burrow, That Noble Science of Politics, S. 247 ff. 102 Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 11, 92 ff. 103 Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 74 ff. 104 Vgl. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 74 f., 146 ff. 105 Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 141.
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rechtlichen Willenscode entwickelten sich ein spezifischer staatsrechtlicher Blickwinkel und eine spezifisch staatsrechtliche Sprache.106 Damit entwickelte sich die Staatsrechtslehre zu einer eigenständigen Rechtsdisziplin fort. Die von Gerber entwickelte methodische Herangehensweise wurde insbesondere von Paul Laband rezipiert und ohne noch schwerpunktmäßig auf die theoretische Vorgehensweise einzugehen, auf die mittlerweile entstandenen Verfassungstexte des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches angewandt.107 Die auch als Gerber / LabandSchule bezeichnete Methode staatsrechtlichen Positivismus entwickelte sich trotz zahlreicher Kritik der Zeitgenossen zur herrschenden Lehre und dominierte die Staatsrechtswissenschaft bis in die Weimarer Republik. Erst hier kam es erneut zu einem bedeutenden Methodenstreit, deren Exponenten Hans Kelsen, Carl Schmitt, Hermann Heller und Rudolf Smend waren.108 f) Untersuchungsgegenstand und Methode der Rechtswissenschaft Die Trennung von Recht und Moral und die Fokussierung der Rechtswissenschaften auf das bestehende Normensystem hat die Rechtswissenschaften in ihren Methoden und mit ihrem Untersuchungsgegenstand ganz erheblich verändert. Auch wenn sich die Beschränkung Kelsens auf die Wortlaut-Auslegung nicht durchgesetzt hat und historische, systematische und teleologische Auslegung zu den geläufigen rechtswissenschaftlichen Denkprozessen gehören109, so ist doch die Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes der Rechtswissenschaft als Normenwissenschaft auf ein Normsystem geblieben. Damit ist die Rechtswissenschaft Rechtsdogmatik geworden. Auch die Anwendung der genannten klassischen Auslegungsmethoden finden grundsätzlich ihre Grenze im Wortlaut, rechtspolitische und rechtsphilosophische Fragen nach einem gerechten Ergebnis bleiben außerhalb der rechtswissenschaftlich-rechtsdogmatischen Betrachtungen. Die Rechtswissenschaft ist nicht mehr berufen, Recht zu schaffen. Dies ist ein Privileg des Gesetzgebers geworden. 4. Positivismus und Nationalökonomie a) Wirtschaftsdenken bis zum Mittelalter Wie bereits hinsichtlich des juristischen Denkens über den Staat dargestellt, beherrschte bis ins hohe Mittelalter die aristotelische Trias von Politik, Ökonomie Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 141 f. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 169, 171 ff., 186 ff., 205 ff. 108 Einführend Robbers, Die Staatslehre der Weimarer Republik, S. 69 ff. 109 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 80. 106 107
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und Ethik das Denken über die Gesellschaft. Die antike Wirtschaftslehre stellte überhaupt keine Volkswirtschaftslehre im heutigen Sinne dar. Sie bezweckte keine Erklärung des gesamtwirtschaftlichen Ablaufs, sondern erwähnte wirtschaftliche Themen nur im Rahmen politischer, d. h. auf die Polis bezogener, oder religiöser Fragen.110 In dieser Tradition stehen auch noch die mittelalterlichen Scholastiker um Thomas von Aquin.111 Erst mit dem Auftreten des oben dargestellten Kameralismus beginnt die eigentliche Volkswirtschaftslehre.112 Diese Neuerung fällt in die Zeit der Aufklärung und erfährt ihren Höhepunkt in der Trennung des wirtschaftswissenschaftlichen vom moralischen Denken im Zuge des wissenschaftlichen Positivismus.
b) Trennung des wirtschaftswissenschaftlichen vom moralischen Denken Erste sichtbare Anzeichen der Abspaltung der Ökonomik von der praktischen Philosophie werden im 18. Jahrhundert sichtbar und diese Trennung vollzieht sich immer stärker bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein. Dieses Phänomen entsprach der wachsenden Bedeutung der Wirtschaft in der Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung wirtschaftlicher sowie anderer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Fragen.113 Die wachsende Ausdifferenzierung der Gesellschaft machte eine derartige Ausdifferenzierung der Wissenschaften insbesondere in den Geisteswissenschaften erforderlich, um mit der steigenden Komplexität gesellschaftlicher Phänomene umgehen zu können. Die endgültige Loslösung der moralphilosophischen Studien von der praktisch-staatswissenschaftlichen Analyse ist erst ein Ergebnis der Moderne. Erst um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert hat sich die ökonomische Wissenschaft zur „monistischen“, von möglichst jedem Wertgehalt freien Pseudo-Naturwissenschaft114 entwickelt. Große Bedeutung kam der klassischen objektiven Preistheorie zu, die auf dem Methodenindividualismus fußte und als zentrale Theorie das Modell des homo oecomicus aufstellte. Als Grundannahmen dieses Modells wurden Eigeninteresse und Nutzenmaximierung sowie rationales Handeln des Individuums bestimmt. Von diesen wenigen Grundannahmen ausgehend wurden verschiedenste Betrachtungen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge angestellt. 110 Derartige Schilderungen finden sich nicht nur bei Aristoteles, sondern bereits bei Sokrates und Platon, Herodot, Thukydides, Xenophon, Hesiod und in den Komödien Aristophanes. Vgl. Schmölders, Wirtschaftswissenschaften III, Theorienbildung, S. 426. 111 Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, S. 12. 112 Schmölders, Wirtschaftswissenschaften III, Theorienbildung, S. 426. 113 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 32, 36; Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, S. 12. 114 Horn, Moral und Wirtschaft, S. 36.
5 Ruge
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
Der wohl bedeutendste Schritt in dieser Theorienbildung war die Erfindung der Grenznutzenbetrachtung, auch Marginalanalyse genannt. Auch sie basiert auf dem Methodenindividualismus, unterscheidet sich jedoch fundamental von der klassischen objektiven Preistheorie. Als Begründer dieser neuen, noch heute die Volkswirtschaftslehre dominierenden Theorie, gelten Stanley Jevons, Carl Menger und Léon Walras in den 1870er Jahren.115 Während in der klassischen Ökonomik mit der objektiven Wertlehre bzw. Preistheorie die Produktionskosten den Wert und Preis eines Gutes bestimmten, beobachtete man das Phänomen, daß selbst lebenswichtige Güter bei Vorhandensein in großen Mengen am Markt einen nur sehr geringen Wert hatten, während objektiv unwichtige Güter hohe Preise erzielen konnten. Daraus zogen die genannten Wissenschaftler den Schluß, daß nicht der objektive Wert eines Gutes, verkörpert in den Produktionskosten, sondern die subjektiven Wertschätzungen und individuellen Nutzen der Konsumenten ausschlaggebend für den Preis seien. Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich die Grenznutzenbetrachtung zum zentralen methodischen Instrument.116 Sie wird in stark formalisierter Weise durch das Erstellen von Funktionen und deren Abbildung in Graphiken angewandt. Mit dieser neuen Methode ging eine Abkehr von der klassischen dynamischen Betrachtungsweise volkswirtschaftlicher Entwicklungen einher. Während sich das Hauptaugenmerk der Klassiker auf das volkswirtschaftliche Geschehen im Laufe der Zeit, auf die Gesetzmäßigkeiten des langfristigen Wachstums mit den zentralen Anliegen der Erklärung von Entstehung, Verteilung und Verwendung eines volkswirtschaftlichen Überschusses richtete, konzentrierte man sich nun auf das Allokationsproblem mit der Preisbildung am Markt. Im Rahmen der neuen Marginalanalyse betrachtete man die Güterallokation zu einem bestimmten Zeitpunkt, gewissermaßen statisch. Diese neue theoretische Herangehensweise stellt den Beginn der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik dar.117
c) Der Methodenstreit in Deutschland: Schmoller gegen Menger Während sich die neue Methodik der Grenznutzenbetrachtung in England, Italien und Frankreich rasch und endgültig durchsetzte118, kam es in Deutschland im Zuge der allgemeinen Strömung des Historizismus über die neue theoretisch-formale Herangehensweise zum berühmten Methodenstreit zwischen Carl Schmoller Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung, S. 433. Vgl. zur Marginalanalyse Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung, S. 434 – 436; Windisch, Finanzwissenschaft I, S. 538 – 540. 117 Vgl. Felderer / Homburg, Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 21 – 29. 118 Schmölders, Wirtschaftswissenschaft III: Theorienbildung, S. 434; vgl. zu England Collini / Winch / Burrow, That Noble Science of Politics, S. 247 ff. 115 116
II. Auseinanderentwicklung der Staatswissenschaft
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und Gustav Menger119, der die negative Folge hatte, daß der Hauptstrom des theoretischen Fortschritts jener Zeit an Deutschland vorbeigegangen ist120. Während der sudentendeutsche Menger mit seiner neuen subjektiven Wertheorie und den formalen Grenznutzenbetrachtungen sich für mehr Wissenschaftlichkeit und die Anwendung der deduktiven wissenschafttlichen Methode sowie die Konzentration auf den methodologischen Individualismus einsetzte121, bestand die von Schmoller vertretene damalige herrschende Lehre auf der induktiven Methode und einer Zusammenschau von Geschichte und Theorie. Dies äußerte sich vor allem in statistischen Aufzeichnungen der wirtschaftlichen Phänomene des Lebens122 und wertende Einflußnahme, insbesondere im Hinblick auf die Ende des 19. Jahrhunderts scharf diskutierte „sociale Frage“. Letztlich hat sich auch in Deutschland die „reine Theorie“ der Volkswirtschaftslehre123 Mengers durchgesetzt. Dazu trug nicht zuletzt Max Webers Einsatz für die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft bei124. Weber vertrat die Ansicht, daß zwischen empirisch-logischen Ist-Aussagen und persönlich-subjektiven Soll-Aussagen deutlich getrennt werden müsse.125 Zwar seien auch die Wirtschaftswissenschaftler aufgerufen, sich über Ethik Gedanken zu machen, im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Studien sollten sie sich jedoch jeder ethischen Wertung enthalten.126
d) Untersuchungsgegenstand und Methode der heutigen Nationalökonomie Hauptuntersuchungsgegenstand der Nationalökonomie ist die Untersuchung allokativer Effizienz. Sie nimmt mit ihrer Marginalanalyse im Verhältnis zur Distributionstheorie, die auch einen Teil der Nationalökonomie darstellt, und zwar gerade den Teil der aus der Nationalökonomie verdrängten wertenden Ökonomik127, den weitaus größten Platz ein.128
119 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 56 – 62; Schmölders, Wirtschaftswissenschaften III: Theorienbildung, S. 433 – 435. 120 Horn, Moral und Wirtschaft, S. 57. 121 Vgl. zur induktiven und deduktiven Methodik Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 105 ff. 122 Dies ist Teil des oben genannten Phänomens der Enzyklopädien. 123 Diese Formulierung findet sich bei Schmölders, Wirtschaftswissenschaften III: Theorienbildung, S. 435; Utz, Sozialethik, Wirtschaftsethik, S. 19. 124 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 125 Horn, Moral und Wirtschaft, S. 62; Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, S. 18. 126 Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, S. 18. 127 Allerdings orientiert sich auch die Distributionstheorie am ökonomischen Ansatz der Allokationstheorie, so Horn, Moral und Wirtschaft, S. 95. 128 Horn, Moral und Wirtschaft, S. 95.
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
Im Zentrum der volkswirtschaftlichen Methode steht das Modell des homo oeconomicus.129 Dieses Modell geht von den Wünschen, d. h. Präferenzen des Individuums aus, sogenannter Methodenindividualismus.130 Bestimmte abstrakte Verhaltensannahmen bilden das Grundgerüst der nationalökonomischen Methodeninstrumentariums: Der homo oeconomicus, d. h. das Individuum, handelt eigeninteressiert und rational. Das bedeutet, daß es alle Entscheidungen in einer Weise trifft, durch die die vorhandenen Mittel möglichst nutzenmaximierend, also zur bestmöglichen Erreichung und Befriedigung der persönlichen Präferenzen eingesetzt werden. Allerdings stellen diese Grundannahmen kein konkretes Menschenbild dar, sondern sind lediglich die Methode, zur Analyse von Ziel-Mittel-Relationen.131 Auf dieser Grundfigur bauen sämtliche volkswirtschaftliche Analysen auf: Im Zentrum stehen dabei die neoklassische Preistheorie, die neoklassische Wohlfahrtsökonomik und die neoklassische Grenznutzentheorie. Von größter Bedeutung für die volkswirtschaftliche Methodik ist die ceteris-paribus-Analyse132. Dies bedeutet, daß im Rahmen von Modellen einzelne Faktoren geändert werden, während alle anderen Faktoren unverändert bleiben. Dieses Modell dient der Abstraktion, Vereinfachung und Praktikabilität wissenschaftlicher Analysen in Modellen. Es ist ebenso wie die Figur des homo oeconomicus gerade aufgrund der starken Vereinfachung häufig kritisiert worden. Ebenso zentral und nicht weniger kritisiert ist das Modell der Pareto-Optimalität133. Insbesondere in der Wohlfahrtsökonomik, der Analyse der Optimierung der sozialen Wohlfahrt auf der Grundlage des individuellen Nutzenkalküls134, findet dieses Modell Anwendung. Es besagt, daß kein einziges Individuum schlechter gestellt werden darf als bei der Ausgangslage. Kritik gilt insbesondere der Tatsache, daß die Frage ausgeblendet wird, ob die Erstausstattung mit Gütern gerecht war.135 Insbesondere die Herauslösung von Einzelproblemen aus ihrem Gesamtzusammenhang durch die starke Abstraktion, die formal-mathematische Betrachtungs129 Vgl. etwa Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft, S. 4 ff., Gröschner, Der homo oeconomicus und das Menschenbild des Grundgesetzes, S. 31 ff.; Horn, Moral und Wirtschaft, S. 66 ff. 130 Diese Grundannahme stellt offensichtlich auch eine Wertung dar, da sie von einem humanistischen, selbstbestimmten und freiheitlichen Menschenbild ausgeht, dem die Fähigkeit unterstellt wird, ein Entwurfsvermögen zu haben. Dies wird jedoch als zurückhaltende Wertung auch im Rahmen der formalwissenschaftlichen Theorie akzeptiert. Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 68 f. 131 Zur häufig geäußerten Kritik an diesem Modell, insbesondere zur vermeintlichen Ausblendung altruistischer Handlungsmotive und Handlungsweisen, sog. Irrationalität vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 66 ff. 132 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 84 f. 133 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 84 f. 134 Horn, Moral und Wirtschaft, S. 86. 135 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 84 f.; Lohmann / Priddat, Ökonomie und Moral, S. 10 f.
III. Re-Integrationsversuche neuerer Zeit
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weise vor allem der Grenznutzenanalyse und der Wohlfahrtsökonomik, verstärkt durch das Arbeiten mit vereinfachenden Modellen wird der heute vorherrschenden nationalökonomischen Methodik vorgeworfen.136
III. Re-Integrationsversuche neuerer Zeit Es ist deutlich geworden, in welch hohem Maße sich das Denken über den Staat in der Rechtswissenschaft und in der Wirtschaftswissenschaft von den gemeinsamen Wurzeln der Staatswissenschaft entfernt hat. Trotz aller Unterschiede sind die Parallelen in der Entwicklung nicht zu übersehen. Dies ermutigt dazu, die Frage aufzuwerfen, ob es Tendenzen in der Wissenschaft gibt, die beiden in die Einzelwissenschaften ausdifferenzierten Ansätze von Verfassungsrechtslehre und Staatsrechtslehre sowie Nationalökonomie, insbesondere der Finanzwissenschaften und Wirtschaftspolitik, zu reintegrieren. Derartige Tendenzen sind in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte verschiedentlich zu beobachten.
1. Die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze So beschäftigen sich etwa der Ordoliberalismus, die Neue Politische Ökonomie, die Institutionenökonomie, die Ökonomische Analyse des Rechts und die Verfassungsökonomie mit Schnittmengen aus dem wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Bereich. Darüberhinaus gibt es im anglo-amerikanischen Raum zahlreiche Tendenzen, diese drei Bereiche unter dem Titel „Theory of Regulation“ zusammenzufassen und als eigenständige Studiengänge anzubieten. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Versuche, die alten staatswissenschaftlichen Studien und Fakultäten wiederzubeleben.137 Als Vorläufer einer Integration von Rechtswissenschaft und Ökonomie138 läßt sich der Ordoliberalismus der Freiburger Schule begreifen. Die Ordnungspolitik dieser Theorienschule berücksichtigt den Einfluß rechtlicher Institutionen auf die wirtschaftlichen Entscheidungen der Individuen. Sie strebt eine Ausgestaltung der rechtlichen Institutionen unter dem Aspekt wirtschaftlicher Ordnungsprinzipien an.139 Durch die Festsetzung eines rechtlichen Rahmens für den Wirtschaftsprozeß sollte staatliche Einzelfallintervention auf ein Mindestmaß reduziert werden.140 Vgl. Horn, Moral und Wirtschaft, S. 71 – 85. Müller / Sturm, Ein neuer regulativer Staat in Deutschland? Die neuere Theory of the Regulatory State und ihre Anwendbarkeit in der deutschen Staatswissenschaft. 138 Frey / Serna, Recht und Wirtschaft, S. 536. 139 Frey / Serna, Recht und Wirtschaft, S. 536. 140 Vgl. zum Ganzen Horn, Moral und Wirtschaft, S. 98 – 118; Böhm, Die Idee des ORDO im Denken Walter Euckens; Eucken, Grundsätze der Wirtschatspolitik. 136 137
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
Gegen Ende der 50er Jahre trat vornehmlich in den USA das Phänomen auf, daß Wissenschaftler das der Ökonomik zugrundeliegende Instrumentarium, insbesondere das Modell des homo oeconomicus und den damit verbundenen Methodenindividualismus, auf andere außerwirtschaftliche Bereiche ausdehnten.141 Die Übertragung des wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentariums auf andere Wissenschaftsdisziplinen brachte der Ökonomik den Ruf ein, eine imperialistische Wissenschaft142 zu sein. Hinsichtlich des Denkens über den Staat sind hier vor allem die Neue Politische Ökonomie, im englischsprachigen Raum bekannt unter Public Choice143, die Verfassungsökonomik144 und die Ökonomische Theorie der Regulierung145 zu nennen. Allgemeiner, ohne Beschränkung auf ein bestimmtes Rechtsgebiet, entstand die Ökonomische Analyse des Rechts146. Nach der Neuen Politischen Ökonomie wird der politische Entscheidungsprozeß maßgeblich vom Eigennutz der Beteiligten bestimmt. Daher nahm man nun eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber staatlicher Regulierung und deren positiver Auswirkung auf das Gemeinwohl ein. Während die traditionelle Ökonomik ihre Untersuchungen auf das Marktversagen konzentriert hatten, war für die Vertreter der Public Choice -Theorie das „Staatsversagen“147 in den Mittelpunkt gerückt. Im Unterschied zu den dargelegten Ansätzen der Neuen Politischen Ökonomie, die sich in ihrer Anerkennung des gesetzten Rahmens der Wirtschaft nicht von den Neoklassikern unterscheiden, stellen die Untersuchungen der sog. Verfassungsökonomen ähnlich wie die der Ordoliberalen den Ordnungsrahmen der Wirtschaft in den Mittelpunkt und untersuchen die Wechselwirkungen zwischen verändertem Ordnungsrahmen und individuellem Verhalten.148
141 Kritisch Morlok, Vom Reiz und Nutzen, von den Schwierigkeiten und den Gefahren der Ökonomischen Theorie für das Öffentliche Recht, S. 10 ff. m. w. N. für eine Übertragbarkeit der grundlegenden Verhaltensannahmen Behrens, Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie, S. 219 ff.; dagegen Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law und am property rights approach; Gröschner, Der homo oeconomicus und das Menschenbild des Grundgesetzes, S. 45 f., der dem Verhaltensmodell des homo oeconomicus das „juristische“ Modell des homo republicanicus entgegensetzt. 142 Adams, Ist die Ökonomie eine imperialistische Wissenschaft?; Stigler, Economics-The Imperial Science? 143 Bernholz / Breyer, Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd. 2, S. 3. 144 Brennan / Buchanan, Die Begründung von Regeln; Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. 145 Peltzman, The Economic Theory of Regulation after a Decade of Deregulation. 146 Vgl. Assmann / Kirchner / Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts. 147 Vgl. Wille, Marktversagen versus Staatsversagen – ein ideologisches Karussell? 148 Vgl. Buchanan, Constitutional Economics, S. 79; vgl. den Überblick „Ökonomische Theorie der Verfassung“ in Vahlens Großes Wirtschaftslexikon; vgl. ausführlich zu den Ideen der Verfassungsökonomen Brennan / Buchanan, Die Begründung von Regeln; Buchanan, Die Grenzen der Freiheit.
III. Re-Integrationsversuche neuerer Zeit
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Die Eigentumsrechts-Analyse ist ein weiteres Forschungsfeld der Wirtschaftswissenschaft, in dem erhebliche Gemeinsamkeiten mit rechtlichen Fragen bestehen. Das Ziel der Eigentumsrechts-Analyse ist die „Gewinnung empirisch gehaltvoller Aussagen über die Wirkungen von Eigentumsrechtsgestaltungen auf Wirtschaftsablauf und Organisationsformen sowie über die Richtung der Veränderung von Eigentumsrechten“. 149 Die Theorie der Regulierung entstand ebenfalls im Zuge der Verallgemeinerung der ökonomischen Grundannahmen und deren Übertragungen auf andere wissenschaftliche Disziplinen und deren Forschungsgegenstände in den 70er Jahren in den USA. Im Mittelpunkt des Interesses standen und stehen weiterhin diejenigen Wirtschaftsbereiche, die allgemein als öffentliche Versorgungswirtschaft bezeichnet werden und mit denen man Probleme wie natürliche Monopole, Netzwerkindustrien, Preisregulierung und ähnliches verbindet.150 Zum einen beschäftigt sich die Ökonomische Theorie der Regulierung mit der „Naturgeschichte“151 von Regulierung.152 Der zweite große Bereich der Theorie konzentriert sich auf Fragen der regulatorischen Strategie, d. h. auf Fragen der Art der Überwachung des Marktes und der Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit von Regulierungsbehörden. Die Übertragbarkeit dieser Theorie in die deutsche Wissenschaftslandschaft ist nicht unumstritten.153 Bei den Untersuchungen der Ökonomischen Analyse des Rechts geht es zum einen um eine Folgeanalyse, d. h. um eine Analyse der wirtschaftlichen Auswirkungen rechtlicher Regeln. Zum anderen geht es um die Effizienz und Optimalität rechtlicher Regeln. Sie erweitert insofern den Blickwinkel des auf Einzelfallgerechtigkeit ausgerichteten Juristen.154 149 Vgl. zum ganzen Gäfgen, Entwicklung und Stand der Theorie der Property Rights, Eine kritische Bestandsaufnahme, S. 43 ff.; Kramer, Tietzel, Die Ökonomie der Property Rights: Ein Überblick, S. 207 ff. 150 Vgl. den bahnbrechenden Artikel von Stigler, The Theory of Economic Regulation; weiterhin Baldwin / Cave, Understanding Regulation; Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation, m. w. N.; Krakowski, Theoretische Grundlagen der Regulierung; Peltzman, The Economic Theory of Regulation after a decade of deregulation. 151 Baldwin / Scott / Hood, A Reader on Regulation, Introduction, S. 8. 152 Vgl. dazu oben B.III.2.a). 153 Dies bejahen etwa Krakowski, Theoretische Grundlagen der Regulierung; Müller / Sturm, Ein neuer regulativer Staat in Deutschland? Die neuere Theory of the Regulatory State und ihre Anwendbarkeit in der deutschen Staatswissenschaft. 154 Standardeinstiegslektüre ist Assmann / Kirchner / Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts m. w. N., vgl. darin insbesondere die Einleitung zur Neubearbeitung mit einem Überblick über die Entwicklung in Deutschland; grundlegend Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts; Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft; besonders pointierter Austausch von Pro und Contra findet sich bei Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law und am property rights approach; ders., Nochmals: Kritik an der ökonomischen Analyse des Rechts, Ott / Schäfer, Die Ökonomische Analyse des Rechts – Irrweg oder Chance wissenschaftlicher Rechtserkenntnis? Zahlreiche Beiträge finden sich regelmäßig in der ZgS / JITE und dem Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie.
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
Schließlich steht im Zentrum der Neuen Institutionenökonomik die Beobachtung, daß Institutionen und wirtschaftliches Verhalten der Individuen eng miteinander verknüpft sind. Im Gegensatz dazu ignorierte die neoklassische Wirtschaftstheorie den Einfluß der Institutionen auf den Wirtschaftsprozeß.155 Die Neue Institutionenökonomik schafft keine grundlegende neue Theorie, sondern stellt vielmehr ein Konglomerat von Transaktionskostenökonomik, EigentumsrechtsAnalyse und Vertragstheorie156 dar.
2. Wiederbelebung interdisziplinärer Forschung und Lehre zwischen Recht, Wirtschaft und Politik an den Universitäten in Deutschland und Großbritannien a) Forschung und Lehre in Deutschland im ausgehenden 20. Jahrhundert Von der Mitte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hat sich in Deutschland die Trennung zwischen Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft endgültig und anhand der universitären Strukturen und Curricula sichtbar vollzogen. Das Forschen und Lehren über den Staat findet im Rahmen der jeweiligen Fakultät und Institute der Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Politischen Wissenschaften und Soziologie statt. Von 40 Universitäten, an denen juristischer und wirtschaftswissenschaftlicher Studienbetrieb stattfindet157, knüpfen lediglich zwei in der Einteilung der Fakultäten an die staatswissenschaftliche Tradition: Allein in Bonn und Greifswald exisitiert noch je eine „Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät“. In Osnabrück findet sich ein Fachbereich für „Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“. Aber auch an diesen Universitäten hat sich die strikte Trennung in tatsächlicher Hinsicht vollzogen, indem innerhalb der Fakultät streng in rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fachbereiche getrennt und auch im Curriculum wenig bis gar kein interdisziplinäres Studium eingefordert wird. Neben den Namen der Fakultäten in Bonn und Greifswald findet sich eine weitere Reminiszenz an die „vergessene Disziplin“ Staatswissenschaft an der „Rechtswissenschaftlichen Fakultät“ der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem „Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie“. Dort heißt es in einer Vor155 Vgl. Richter / Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 1. Vgl. Kirchner, Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie, Die Neue Institutioinenökonomie und die Rechtswissenschaft. 156 Vgl. Richter / Furobotn, Neue Institutionenökonomik, S. VI. 157 Die folgenden Universitäten wurden untersucht: Augsburg, Bayreuth, FU Berlin, HU Berlin, Bielefeld, Bochum, Bonn, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Erlangen-Nürnberg, Freiburg, Göttingen, Greifswald, Halle-Wittenberg, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Mainz, Mannheim, Marburg, München, Münster, Osnabrück, Passau, Potsdam, Regensburg, Rostock, Trier, Tübingen und Würzburg.
III. Re-Integrationsversuche neuerer Zeit
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stellung des Instituts: „Ungeachtet einer wechselvollen Begriffsgeschichte und der zeitweisen Dominanz der Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft steht die Bezeichnung „Staatswissenschaft“ für den Versuch, juristische, philosophische, ökonomische, historische und sozialwissenschaftliche Betrachtungsweisen im Hinblick auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand „Staat“ wieder ein Stück weit zusammenzuführen.“ 158 Während jedoch noch 1964 an der Universität Freiburg eine Ringvorlesung zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften159 abgehalten und damit die ältere Tradition gepflegt wurde, ist auch dort heute die Staatswissenschaft aus dem Namen der Fakultät verbannt worden. Zu einer verstärkten Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit der Wirtschaftswissenschaft in Deutschland scheint es wieder seit den 80er Jahren zu kommen. Hier ist insbesondere die „wirtschaftswissenschaftliche Zusatzausbildung“ für Juristen an der Universität Bayreuth zu nennen. Weiterhin hat sich in Anlehnung an die oben dargestellte Ökonomische Analyse des Rechts in den USA an der Universität Hamburg ein „Institut für Recht und Ökonomie“ sowie ein gleichnamiges Graduiertenkolleg der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) etabliert. An der Universität Jena existiert seit 1993 das Hellmuth-Loening-Zentrum für Staatswissenschaften. Mit regelmäßigen Veranstaltungen und einer eigenen Veröffentlichungsreihe stellt dies den Versuch dar, an die Tradition der ältesten deutschen Staatswissenschaftlichen Fakultät und die damit verbundene starke Tradition im Bereich der Staatswissenschaften und des Wirtschaftsrechts anzuknüpfen.160 Auch an anderen Universitäten fanden zahlreiche Kolloquien zu den Staatswissenschaften statt161. In den 1980er Jahren kam es zur Neugründung staatswissenschaftlicher Zeitschriften wie dem Jahrbuch für Staats- und Verwaltungswissenschaften und der Zeitschrift Staatswissenschaft und Staatspraxis.
158 Vosskuhle, Das Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie stellt sich vor. Im Internet unter http: // www.jura.uni-freiburg.de / rphil / Stawineu / 1allg / allg05.htm vom 28. 10. 00 159 „Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften: Ringvorlesung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Brsg., Wintersemester 1966 / 67“. 160 Vgl. Informationen zum Hellmuth-Loening-Zentrum für Staatswissenschaften Jena im Internet unter http: // www.recht.uni-jena.de / z11 / HLZ / hlz.htm. 161 Zu einem 1988 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer abgehaltenen Colloquium Ellwein / Hesse, Staatswissenschaft: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?; sowie Benz, Staatswissenschaft oder Staatswissenschaften?; Boettcher / Herder-Dorneich / Schenk, Interdisziplinarität – Voraussetzungen und Notwendigkeiten; Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften; Verhandlungen auf der Arbeitstagung des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Würzburg 1963 zum Thema „Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft“, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge Band 33, 1964.
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
Alle diese Unternehmungen sind jedoch weit entfernt von einer wahrhaft interdisziplinären Forschung und Lehre wie es die Staatswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war. Die einzige Fakultät Deutschlands, die erklärtermaßen interdisziplinäre Forschung und Lehre betreiben will und dies durch Universitätsstruktur und Curriculum umzusetzen trachtet, ist die wiedergegründete Universität Erfurt mit ihrer „Staatswissenschaftlichen Fakultät“. Diese enthält drei „Studienrichtungen“, die rechtswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche. Um den für Aufbaustudiengänge qualifizierenden, in Deutschland neuartigen Studienabschluß „Baccalaureus Artium (BA)“ zu erhalten, schreibt das Curriculum ein vollkommen interdisziplinäres Studium der drei Richtungen in gleichem Verhältnis zueinander vor. Es muß sich allerdings noch erweisen, inwieweit diese wiederbelebte Staatswissenschaft von anderen Universitäten und den üblichen Fakultäten anerkannt wird und sich möglicherweise weiter ausdehnen kann. Denn trotz der gebetsmühlenartig auf Kolloquien und Tagungen insbesondere von Professoren der Rechtswissenschaft eingeforderten Interdisziplinarität, bleibt es spannend, ob der traditionsreiche Standesdünkel der Juristenfakultäten, mit dem schon die alte Kameralwissenschaft und die Staatswissenschaft zu kämpfen hatten162, überwunden werden kann.
b) Forschung und Lehre in Großbritannien Wie bereits dargestellt herrschte auch in Großbritannien bis weit in die Aufklärung hinein keine scharfe Trennung zwischen Disziplinen wie Recht, Wirtschaft, Philosophie und Religion. Auch hier war das Auseinanderentwickeln ein langsamer Prozeß. Diejenigen Disziplinen, die sich mit dem Staat beschäftigten, fanden sich neben anderen Fragestellungen innerhalb dieses Kanons unter der Disziplin „Moral Sciences„ wieder. Hierzu gehörten insbesondere Geschichte, im 19. Jahrhundert insbesondere Verfassungsgeschichte, und die sog. Jurisprudence, was wohl am besten mit Rechtsphilosophie übersetzt werden kann, Philosophie, Logik und Psychologie sowie als die am weitesten entwickelte Unterdisziplin die Political Economy, eine Art Volkswirtschaftslehre mit stark politischem Einschlag.163 In Entsprechung zu den Staatswissenschaften des 19. Jahrhunderts in Deutschland begann sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien vorsichtig eine immer mehr an Eigenständigkeit gewinnende Politikwissenschaft zu entwicklen. Diese neue Disziplin bewegte sich im Rahmen der Disziplinen Political Economy, Geschichte und Philosophie. In dem Maße, in dem sich die Political Economy mehr und mehr auf rein wirtschaftliche Fragen mit formal-mathematischen Methoden konzentrierte und schließlich seit Alfred Marshall (1842 – 1924) auf das Beiwort „Political“ vollends verzichtete, gewann die Political Science an Boden. Daneben entwickelte sich eine mehr philosophisch orientierte Politikwissenschaft, die 162 163
Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, S. 377. Collini / Winch / Burrow, That Noble Science of Politics, S. 345.
IV. Fazit: Differenzen und Kongruenzen
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in der Regel als Political Theory bezeichnet wird.164 Wenig Konkurrenz erlebte die neue Disziplin seitens der Rechtswissenschaft, ausgenommen der sog. Jurisprudence, der Rechtsphilosophie. Bis weit ins 19. Jahrhundert fand an den englischen Universitäten nämlich keine umfassende juristische Ausbildung statt. Erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts enstand mit Blackstones Commentaries on the Laws of England das erste und lange Zeit einzige Werk über englisches Recht. Der Erwerb juristischer Kenntnisse vollzog sich vielmehr im Selbststudium insbesondere durch Hilfstätigkeiten in Anwaltsbüros. Dies führte dazu, daß zwischen 1850 und 1950 die herausragendsten Juristen Englands keinerlei juristische Universitätsausbildung genossen hatten. Erst im 20. Jahrthundert begann sich dies zu ändern.165
IV. Fazit: Differenzen und Kongruenzen 1. Kongruenz rechtswissenschaftlicher mit wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen Die bisher dargestellten Entwicklungen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zeigen, daß es zahlreiche Überschneidungen und Ähnlichkeiten der beiden Disziplinen gibt. Dabei ist zunächst auf die dargestellten gemeinsamen Wurzeln beider Disziplinen zu verweisen, die sich über einen langen Zeitraum von der Antike bis ins Mittelalter erstrecken. Während dieser Zeit waren beide Wissenschaften denselben Einflüssen und Entwicklungen ausgesetzt. Aber auch mit der Auseinanderentwicklung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften existierte eine parallellaufende geistesgeschichtliche Entwicklung166. Dies wird an den Auswirkungen des Positivismus deutlich, die ihren Höhepunkt in der „Reinen Rechtslehre“ und der „reinen Volkswirtschaftslehre“ fanden. Ein ebenso wichtiges Beispiel stellt der große Einfluß der deutschen Historischen Schule auf beide Disziplinen dar. Neben den gemeinsamen Wurzeln und den Parallelen in der Entwicklung haben die ausdifferenzierten Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften gemein, daß – anders als die recht junge Politikwissenschaft – lediglich Teilbereiche der Disziplinen Untersuchungen des Staates und seiner Rolle zum Gegenstand haben. Während sich bei den Wirtschaftswissenschaften insbesondere die Wirtschaftspolitik, die Finanzwissenschaft und andere Teilbereiche der Volkswirtschaftslehre mit dieser Thematik beschäftigen, ist dies im Bereich der Rechtswissenschaft vor allem die Verfassungsrechtslehre und die Staatsrechtslehre. Schon allein diese Tatsache zeigt die Grenzen der Gemeinsamkeiten auf. Gleichzeitig wird aber deutlich, worin die Überschneidungen liegen, nämlich im Bereich des allge164 165 166
Vgl. Collini / Winch / Burrow, That Noble Science of Politics, 309 ff. Baker, English Legal History, S. 196. Raisch / Schmidt, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, S. 150.
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C. Kongruenz und Differenz in der Begrifflichkeit
meinen Untersuchungsgegenstandes des Staates und seiner Aufgaben. Folgt man der Unterscheidung der Rechtswissenschaft in einen anwendungsorientierten und einen normbildenden Bereich, so ergeben sich die Überschneidungen insbesondere im Bereich der Normenbildung oder auch Gesetzgebungslehre.
2. Divergenzen zwischen rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Begrifflichkeiten Trotz zahlreicher festgestellter Gemeinsamkeiten und Überschneidungen werden oft genug Bedenken gegen die Übertragbarkeit volkswirtschaftlicher Terminologie in die Rechtswissenschaft geltend gemacht.167 Dies rührt von verschiedenen Ursachen her. So kann zwar von einer Überschneidung hinsichtlich des allgemeinen Untersuchungsgegenstandes „Staat und seine Aufgaben“ gesprochen werden, beim näheren Hinsehen werden jedoch hinsichtlich des speziellen Untersuchungsgegenstandes Unterschiede sichtbar. So läßt sich feststellen, daß die Rechtswissenschaft als Normenwissenschaft Rechtsnormen zu untersuchen hat, deren Inhalt sie zu interpretieren aufgerufen ist. Dabei orientiert sie sich am Leitbild der Gerechtigkeit im Einzelfall, dies vor allem im Bereich der Anwendung des Rechts. Hingegen hat die Volkswirtschaftslehre als Leitbild das Postulat der Effizienz, das sich an der Wirklichkeit individuellen Handelns, nicht an bestehenden Normensystemen orientiert. Entsprechend unterscheiden sich auch die Methoden der beiden Disziplinen. Während die Rechtswissenschaft als Interpretationswissenschaft einer bestimmten am Gesetzestext orientierten Auslegungsmethode folgt, bedient sich die Volkswirtschaftslehre formal-mathematischer Methoden und Modelle, um Theorienbildung zu erleichtern. Im Mittelpunkt steht hier das Verhaltensmodell des homo oeconomicus, dessen Übertragbarkeit auf die Rechtswissenschaft nach wie vor höchst umstritten ist. Bevor die hier gewonnen Erkenntnisse, insbesondere den Unterschied im Rückgriff auf wirtschaftswissenschaftliche Begrifflichkeiten in der britischen Rechtswissenschaft, im Rahmen der beiden Länderuntersuchungen ihre konkreten Niederschlag zeigen, ist es erforderlich, auf die Entwicklung des Stromregimes auf EU-Ebene einzugehen. Hier lassen sich sowohl eigenständige Erkenntnisse gewinnen, als auch Impulse auf die beiden nationalen Regime erkennen.
167 Vgl. Raisch / Schmidt, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, S. 152; Rinck, Wirtschaftswissenschaftliche Begriffe in Rechtsnormen, S. 361, 368.
D. Die Rolle der EU nach der Liberalisierung des Elektrizitätssektors im EU-Recht Wenngleich in US-amerikanischen Studien häufig die EU als gleichwertiges Vergleichsobjekt zu Nationalstaaten, insbesondere zu den USA herangezogen wird,1 so erscheint eine Gleichsetzung im Rahmen der rechtsvergleichenden Untersuchung aus zwei Gründen unangebracht. Zum einen ist die EU zwar mehr als eine bloße internationale Organisation, jedoch hat sie auch keine Staatenqualität. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts steht sie als Staatenverbund zwischen einer Einstufung als Bundesstaat und Staatenbund.2 Zum anderen, und diesem Aspekt widmet sich im Folgenden das Hauptaugenmerk, erscheint die Anwendung der These vom Wandel des Productive zum Regulatory State in Bezug auf die EUEnergiepolitik fragwürdig, da die EU nie selbst als Stromproduzent aufgetreten ist und auch der Rechtsrahmen sich erst spät entwickelt hat. Im Folgenden werden zunächst die für die Betrachtung erforderlichen Grundlagen erörtert (I), bevor in einem zweiten Schritt die Deregulierungspolitik der EU untersucht wird (II). Schließlich wird der rechtliche Rahmen des Stromsektors vor der Deregulierung (III) dem nach der Deregulierung (IV) gegenübergestellt.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen Die Diskussion des Europarechts findet in erster Linie auf nationaler Ebene in nationalen Zeitschriften und Schriften zum Europarecht statt. Insofern bestehen große Schwierigkeiten, wenn man von einer europäischen Rechtsdogmatik sprechen will, insbesondere im Hinblick auf eine möglichst vollständige Erfassung des „gesamteuropäischen“ Schrifttums. Grundlage der dogmatischen Überlegungen dieser Arbeit sind die Rechtsvorschriften des Europarechts mit darauf bezogenen deutschsprachigen, englischsprachigen und französischsprachigen Beiträgen. Das EU-Recht enthält zahlreiche Bindungen und Vorgaben für die Ordnung des Wettbewerbs allgemein und des Stromsektors im Besonderen. Darüberhinaus be1 Vgl. Scott, Institutional Competition and Coordination in the Process of Telecommunications Liberalization, S. 381 ff. m. w. N. 2 BVerfGE 89, 155 (184 ff.); dazu Huber, Recht der europäischen Integration, S. 70 ff.; Huber, Europäisierung und nationales Verfassungsrecht.
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D. Die Rolle der EU
treibt die EU durch ihre Organe eine stark wettbewerbsfördernde Politik, die über Deregulierungen hinaus auch Privatisierungen begünstigt. Daneben steht in wachsendem Maße auch eine soziale und gemeinwirtschaftliche Politik der EU.
1. Neutralität, Art. 295 EG Diese Begünstigung von Privatisierungen ist rein tatsächlicher Art und hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Schaffung privater Eigentumsordnungen in der Regel durch wettbewerbliche Strukturen auf einem Markt begünstigt wird. Rechtlich ist die EU mit ihren Institutionen nach Art. 295 EG zur Neutralität gegenüber den Eigentumsordnungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten verpflichtet.3 Das bedeutet, daß die EU keinerlei rechtliche Schritte ergreifen darf, um Privatisierungen in den Mitgliedstaaten anzuordnen oder durchzuführen. Rein tatsächlich besteht jedoch durch die EU-Regeln insbesondere zum Binnenmarkt und zum Wettbewerb eine Situation, die Privatisierungen fördert. Man spricht hier auch von Privatisierungsdruck.4 Anhand der in den Verträgen getroffenen Regelungen läßt sich trotz dieser tatsächlichen Tendenz zu Privatisierungen, die vom EG-Recht deutlich getroffene Unterscheidung zwischen Privatisierung und Deregulierung im Sinne der oben dargestellten volkswirtschaftlichen Grundlagen nachvollziehen. Zahlreiche Vorschriften richten sich dementsprechend auf die Deregulierung abgeschotteter Märkte, um Wettbewerb sicherzustellen, ohne dabei die Überführung in Privateigentum zu verlangen. Diese rechtlichen Vorgaben bestimmen auch die Zielrichtung wissenschaftlicher Arbeiten im Europarecht über Privatisierung und Deregulierung. Aufgrund der EG-rechtlichen Neutralitätspflicht hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen sind Untersuchungen über rechtliche Probleme von Privatisierungen selten und beschränken sich in der Regel auf Art. 295 sowie Auswirkungen von Privatisierungen auf das Beihilfenrecht. Das Hauptaugenmerk richtet sich hingegen auf die Deregulierung und die damit bezweckte Öffnung der Märkte in der EU. Neben den Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln betreffen vor allem die Art. 31 und 86 Abs. I und II EG die ehemals abgeschotteten, monopolistischen Strukturen der mitgliedstaatlichen Elektrizitätswirtschaften.
3 Vgl. Hochbaum, in: Groeben / Thiesing / Ehlermann, Kommentar zum EU / EG-Vertrag, Art. 222. Vgl. auch Mitteilung der Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM (2000), 580 endg., S. 11. 4 Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts; vgl. auch Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, Devroe, Privatization and Community Law: Neutrality versus Policy; S. 258; Schuppert, Die Privatisierungsdiskussion in der deutschen Staatsrechtslehre, S. 548; Verhoeven, Privatisation and EC Law: Is the European Commission „Neutral“ with Respect to Public versus Private Ownership of Companies?; S. 861, 886.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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2. Staatliche Handelsmonopole, Art. 31 EG Im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 EG verpflichtet Art. 31 EG die Mitgliedstaaten, die bei Vertragsschluß bestehenden staatlichen Handelsmonopole schrittweise derart umzuformen, daß am Ende der Übergangszeit (1. 1. 1970) jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist.5 Diese Regelung stellt insofern eine Ergänzung zur in Art. 28, 29 EG vorgeschriebenen Beseitigung von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung dar, als auch staatliche Handelsmonopole den freien Warenverkehr erheblich beeinträchtigen können.6 Art. 31 EG ist auch nach Ablauf der Übergangszeit weiterhin von Bedeutung, da er auch auf bereits umgeformte Handelsmonopole sowie insbesondere auf neue Beitrittsländer anwendbar ist. In seinem Franzen-Urteil7 nahm der EuGH ausführlich zu Zweck, Auslegung und dem Art. 31 EG inhärenten Konflikt Stellung: „Art. 37 EGV [jetzt Art. 31 EG] soll sowohl nach seinem Wortlaut wie nach seiner Stellung im System des Vertrages die Einhaltung der Grundregel des freien Warenverkehrs innerhalb des gesamten Gemeinsamen Marktes insbesondere durch die Abschaffung der mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gewährleisten und auf diese Weise normale Wettbewerbsbedingungen zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten aufrechterhalten, wenn ein bestimmtes Erzeugnis in dem einen oder anderen dieser Staaten einem staatlichen Handelsmonopol unterliegt ( . . . ). Wie der Gerichtshof jedoch wiederholt ausgeführt hat, verlangt Art. 37 des Vertrages nicht die völlige Abschaffung der staatlichen Handelsmonopole, sondern schreibt vor, sie in der Weise umzuformen, daß jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist ( . . . ). Art. 37 des Vertrages soll nämlich die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, bestimmte Handelsmonopole als Mittel zur Verfolgung von im öffentlichen Interesse liegenden Zielen beizubehalten, mit den Erfordernissen des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes in Einklang zu bringen. Er soll die Hindernisse für den freien Warenverkehr, allerdings mit Ausnahme der durch das Bestehen der betreffenden Monopole bedingten Einschränkungen des Handels, beseitigen. Art. 37 verlangt daher, daß die Organisation und die Funktionsweise des Monopols so umgeformt wird, daß jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist, so daß der Handel mit Waren aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber dem mit einheimischen Waren weder rechtlich noch tatsächlich benachteiligt und der Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten nicht verfälscht wird ( . . . ).“8 5 Vgl. zum Ganzen Hochbaum, a. a. O., Art. 37 und Art. 90, Rn. 28 ff.; Oppermann, Europarecht, S. 526 ff., Rn. 1309 ff. 6 Zu den möglichen Beeinträchtigungen vgl. Hochbaum, a. a. O., Art. 37, Rn. 5 f. 7 EuGH, Urt. v. 23. 10. 1997, Rs. C-189 / 95, Franzen, Slg. 1997, I-5909, Rn. 37 ff.
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D. Die Rolle der EU
Für die Anwendbarkeit des Art. 31 EG und die Auslösung seiner Rechtsfolge der Umformungspflicht zur Beseitigung von Diskriminierung zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten kommt es entscheidend auf die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale „Ware“ und „staatliches Handelsmonopol“ an. Zwar kommt das Wort „Ware“ selbst im Text des Art. 31 EG nicht vor, jedoch hat der EuGH aus verschiedenen Umständen, insbesondere der Stellung des Art. 31 EG im Vertragstitel über den freien Warenverkehr, diese Schlußfolgerung gezogen und gleichzeitig seine Anwendung auf Dienstleistungsmonopole ausgeschlossen.9 Nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des EuGH ist Strom als Ware i. S. d. Art. 28 einzustufen.10 Hinsichtlich des Vorliegens eines staatlichen Handelsmonopols kommt es nach Art. 31 I S. 2 EG entscheidend auf die Möglichkeit staatlicher Beeinflussung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten an. Damit werden privatrechtliche Akte grundsätzlich ausgeschlossen.11 Zweck des Art. 31 EG ist also nicht die Abschaffung der staatlichen Handelsmonopole, sondern deren Anpassung an die allgemeinen Regeln der Warenverkehrsfreiheit. Damit respektiert er die grundsätzliche Entscheidung des Art. 295 EG, die Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten unangetastet zu lassen und gleichzeitig für die Möglichkeit freien Wettbewerbs zu sorgen. In dieser Hinsicht vergleichbar regelt Art. 86 EG die Betätigung öffentlicher Unternehmen und die Betrauung öffentlicher und privater Unternehmen mit ausschließlichen Rechten.
3. Öffentliche Unternehmen, Art. 86 I EG Zentraler Begriff des Art. 86 I EG ist der des öffentlichen Unternehmens. Art. 86 I EG setzt die Existenz öffentlicher Unternehmen voraus und erachtet sie für zulässig, wenn sie sich nach den Vorschriften des Vertrages, insbesondere des Wettbewerbsrechts richten. Zweck dieser Vorschrift ist es, die Mitgliedstaaten der Möglichkeit zu berauben, sich durch Gründung oder Betreiben öffentlicher Unternehmen dem strengen wettbewerbsrechtlichen Regime der Art. 81, 82 und 87 EG zu 8 Weitere Urteile des EuGH zu Art. 31 EG (37 EGV) sind: Rs. 59 / 75, Manghera, Slg. 1976, 91; Rs. 91 / 78, Hansen, Slg. 1979, 935; Rs. 78 / 82, Kommission / Italien, Slg. 1983, 1955; Rs. C-347 / 88, Kommission / Griechenland, Slg. 1990, I-4747; Rs. C-387 / 93, Banchero, Slg. 1995, I-4663. Allerdings, so auch in Franzen, ist der EuGH mit der Anwendung des Art. 31 EG eher zurückhaltend und greift statt dessen bei der Beurteilung staatlicher Handelsmonopole grundsätzlich auf die Vorschriften der Warenverkehrfreiheit direkt zurück. 9 Vgl. Schlußantrag GA Darmon, EuGH, Almelo, a. a. O., S. 1489 f., Tz. 57 – 67; EuGH, Rs. 155 / 73, Sacchi, Slg. 1974, 409, Rn. 10; Rs. Almelo, a. a. O., S. 1516, Rn. 27. 10 Schlußantrag GA Darmon, Rs. Alemelo, a. a. O., S. 1490, Tz. 63 – 67, EuGH, Almelo, a. a. O., S. 1516, Rn. 28; EuGH, Kommission / Italien, a. a. O., S. 5799, Rn. 17. Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 77. 11 Vgl. Schlußantrag GA Darmon, Rs. Almelo, a. a. O., S. 1490 f., Tz. 69 – 77; EuGH, Rs. Almelo, a. a. O., S. 1517, Rn. 29 – 31. Anders wohl Ehricke, Staatliche Handelsmonopole im Recht der EU, S. 694.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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entziehen.12 Der EuGH hat es bisher vermieden, den Unternehmensbegriff des Vertrages abstrakt zu definieren.13 Allerdings findet sich in der für den Bereich der Finanzierung öffentlicher Unternehmen relevanten Transparenzrichtlinie 14 eine Legaldefinition im Sekundärrecht der EU. In Art. 2 RL wird als öffentliches Unternehmen jedes Unternehmen definiert, auf das die öffentliche Hand aufgrund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstigen Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, mittelbar oder unmittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben kann. Dabei kommt es entscheidend auf die Möglichkeit der Einflußnahme, nicht auf die tatsächliche Einflußnahme an.15 Nach Art. 2 RL wird vermutet, daß ein beherrschender Einfluß ausgeübt wird, wenn die öffentliche Hand die Mehrheit des Kapitals hält, über die Mehrheit der mit den Anteilen des Unternehmens verbundenen Stimmrechte verfügt oder mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des Unternehmens bestellen kann.16 Aus der Formulierung des Art. 86 I EG wird deutlich, daß er sich an die Mitgliedstaaten, nicht an die Unternehmen richtet. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die erwähnten Wettbewerbsregeln der Art. 81 EG (Kollusion) und 82 EG (Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) an die Unternehmen und nicht an die Mitgliedstaaten richten. Ist ein Unternehmen als öffentliches oder sonst begünstigtes identifiziert, so trifft die Mitgliedstaaten die Pflicht, keine dem Vertrag widersprechenden Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten. Maßnahme in diesem Sinne ist jedes rechtliche oder tatsächliche Einwirken eines Mitgliedstaates auf die genannten Unternehmen, das zu einem dem Vertrag widersprechenden Verhalten des Unternehmens oder für den Mitgliedstaat selbst führt oder dazu führen kann.17 Über diese Auslegung erlangen die gegen die Unternehmen gerichteten Vorschriften der Art. 81, 82 EG auch für den jeweiligen Mitgliedstaat Bedeutung.
12 Vgl. Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 1; so auch der EuGH, Rs. C-157 / 94, Kommission / Niederlande, Slg. 1997, I-5768. 13 Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 6. 14 RL 80 / 733 / EWG vom 25. 6. 1980 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen, ABl. 1980 Nr. L 195 / 35, geändert durch RL 2000 / 52 / EG vom 26. 7. 2000 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehem, ABl. 2000 L 193 / 75. Vgl. dazu Britz, Staatliche Förderung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen in liberalisierten Märkten und Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 1647 ff. Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 110 ff. 15 Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 112. 16 Eine identische Definition des öffentlichen Unternehmens enthält Art. 1 Nr. 2 RL 93 / 38 / EWG v. 14. 6. 1993 zur Koordinierung der Auftragsvergabe im Bereich Wasser-, Energieund Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor ABl. L 199 / 84. 17 Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 38.
6 Ruge
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D. Die Rolle der EU
Weiterhin von Bedeutung im Zusammenhang mit Art. 86 I EG sind das Beihilfeverbot nach Art. 87 EG, das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG und die Grundfreiheiten, insbesondere Art. 31 EG über staatliche Handelsmonopole.18
4. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, Art. 16 und 86 II EG a) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Daseinsvorsorge Anders als Art. 86 I EG ist Art. 86 II EG nicht an die Mitgliedstaaten, sondern an die Unternehmen unmittelbar gerichtet. Insofern bietet die Vorschrift eine den Unternehmen zustehende Rechtfertigung für die Verletzung der ebenfalls unternehmensgerichteten Art. 81 und 82 EG.19 Art. 86 II EG erklärt die Vertragsvorschriften, insbesondere die Wettbewerbsvorschriften für anwendbar auf Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, soweit die Vorschriften des Vertrags nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindern. Diese Rechtfertigungsmöglichkeit stellt eine Legalausnahme von den Vorschriften des Vertrages dar und ist somit grundsätzlich eng auszulegen.20 Sie regelt den Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse an der Erfüllung der besonderen Aufgaben einerseits und dem Interesse der Gemeinschaft an der Einhaltung der Wettbewerbsregeln und der Wahrung der Einheit des Gemeinsamen Marktes andererseits. Sie stellt außerdem klar, daß die Mitgliedstaaten auf wirtschaftlichem Gebiet auch das Recht haben, Unternehmen besondere Aufgaben zu übertragen.21 Dem Art. 86 II EG liegen drei Grundsätze22 zugrunde: Der Grundsatz der Neutralität nach Art. 295 EG verbietet Vorgaben der EU darüber, ob Leistungen der Daseinsvorsorge von öffentlichen oder privaten Anbietern zu erbringen sind und 18 Nach dem Urteil des EuGH, Urt. v. 13. 3. 1979, Rs. 91 / 78, Hansen, Slg. 1979, 935 ff., Rn. 77 ff., sind Art. 31 und 87 nebeneinander anwendbar, wobei Art. 31 EG lex specialis ist. 19 Unklar ist insofern, ob Art. 86 II EG auch nach Art. 87 EG verbotene Beihilfen rechtfertigen kann. Die Beihilfevorschriften richten sich nämlich gegen die Mitgliedstaaten und nicht gegen die Unternehmen. Der EuGH hat zu dieser Frage eine Aussage bisher vermieden, vgl. EuGH, Rs. C-387 / 92, Ayuntamiento, Slg. 1994, I-877, 907 f., Rn. 11 ff. Die Kommission ist der Ansicht, Art. 86 II EG könne eine Beihilfe nach Art. 87 I EG rechtfertigen, vgl. Mitteilung Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM (2000), 580 endg., S. 12, Tz. 26. 20 Vgl. nur EuGH, Rs. 157 / 94, Kommission / Niederlande, Slg. 1997, I-5768, 5778, Rn. 37. 21 Vgl. Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 49. Vgl. EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5779, Rn. 39 f. 22 Mitteilung der Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM (2000), 580 endg., S. 11 f.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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damit europarechtliche Privatisierungsverlangen hinsichtlich öffentlicher Unternehmen. Der Grundsatz der Gestaltungsfreiheit bedeutet, daß für die Definition dessen, was als Daseinsvorsorge einzustufen ist, vorrangig die Mitgliedstaaten zuständig sind. Und schließlich besagt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 86 II EG, daß Einschränkungen gegenüber den EG-Vertragsbestimmungen und insbesondere Einschränkungen des Wettbewerbs oder der Binnenmarktfreiheiten nicht über das zur tatsächlichen Erfüllung des Auftrags erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Dazu gehört als Bedingung die Leistungsfähigkeit des betrauten Unternehmens. Art. 86 II EG hat in jüngerer Zeit insbesondere dadurch einen Bedeutungszuwachs erfahren, daß er vom EuGH ausdrücklich als Rechtfertigungsmöglichkeit für verschiedene Einschränkungen von Vertragsregeln herangezogen wird.23 Er stellt somit zunehmend eine umfassend anwendbare Rechtfertigungsnorm für Vertragsbeschränkungen dar. Die große Bedeutung der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bzw. der Daseinsvorsorge in der EU und den Mitgliedstaaten wird durch die Aufnahme des Art. 16 EG in den EG-Vertrag durch den Vertrag von Amsterdam unterstrichen. Darüberhinaus ist mit Art. 36 eine vergleichbare Vorschrift in die EU-Grundrechtscharta aufgenommen worden.24 Schließlich bemüht sich die Kommission durch Stellungnahmen zu diesem Bereich für mehr Klarheit zu sorgen. So hat sie 1996 und 2000 Mitteilungen zu den Leistungen der Daseinsvorsorge veröffentlicht.25 Daseinsvorsorge ist dabei die deutsche Übersetzung für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, in der englischen Fassung der Mitteilung „services of general interest in Europe“.26 Die Kommission definiert Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse als marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden. Gemeint seien insbesondere Verkehrs-, Energieversorgungs- und Telekommunikationsdienste. Daseinsvorsorge ist genauso definiert, lediglich erweitert um nichtmarktbezogene Tätigkeiten.27 Insbesondere bei den Bereichen Strom, Gas und Wasser wird deutlich, daß unter Dienstleistung i. S. d. Vorschrift nicht nur Dienstleistungen i. S. d. Art. 49 EG gemeint sind, sondern hierunter auch Waren fallen.28 23 Vgl. für Art. 31 EG Ehricke, Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV, S. 741 ff. für Art. 87 Britz, Staatliche Förderung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen in liberalisierten Märkten und Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 1644 f. 24 Zu beidem Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, S. 336 f. 25 Mitteilung über die Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM (96) 443 = ABl. C 281 v. 26. 9. 1996, S. 3; KOM (2000), 580 endg. v. 20. 9. 2000. 26 Zur Verwendung des Begriffs der Daseinsvorsorge für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vgl. unten F.I.4.b.bb. 27 KOM (2000), 580 endg., S. 42. Dazu Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, S. 339 m. w. N.
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In ihrer Mitteilung bezeichnet die Kommission die Leistungen der Daseinsvorsorge als „Schlüsselelement des europäischen Gesellschaftsmodells“ und mißt den Werten, die Diensten dieser Art zugrunde liegen, grundsätzliche Bedeutung bei.29 Dabei schlössen sich die Gewährleistung von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse einerseits und Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln andererseits nicht aus, sondern ergänzten einander bei der Verfolgung der grundsätzlichen Ziele des Vertrages.30 Entsprechend sieht die Kommission mehrere Möglichkeiten der Sicherstellung der Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge: sie reichen von der Liberalisierung des betreffenden Dienstleistungsmarkts über die Auferlegung von Gemeinwohlverpflichtungen bis hin zur Übertragung ausschließlicher oder besonderer Rechte auf einen einzigen Anbieter oder eine begrenzte Zahl von Anbietern, und zwar mit oder ohne Bereitstellung von Finanzmitteln.31 Diese Sichtweise ist durchaus bemerkenswert. Sie verdeutlicht nämlich, daß es nicht nur durch Auferlegung von Gemeinwohlverpflichtungen oder der Betrauung mit ausschließlichen Rechten zur angemessenen Versorgung mit Leistungen der Daseinsvorsorge kommen kann. Erheblich zur Versorgung mit diesen Diensten kann auch die Einführung und Stärkung des Wettbewerbs beitragen. Diese Interpretation ist insbesondere interessant bei der Analyse dessen, was im deutschen Recht in den Bereich der Gewährleistungsverantwortung einzuordnen ist. In diesem Zusammenhang wird in der Regel auf die Auferlegung von Gemeinwohlverpflichtungen verwiesen. Der klassische Fall der Gemeinwohlverpflichtung ist die sog. Universaldienstverpflichtung für Anbieter, die einen bestimmten Dienst im gesamten Staatsgebiet zu erschwinglichen Entgelten und in vergleichbarer Qualität unabhängig von der Wirtschaftlichkeit einzelner Geschäfte erbringen müssen.32
b) Universaldienste Der Universaldienst ist als solches ein für das deutsche Recht fremdes Konzept. Erst im Zuge der Deregulierungen auf Europaebene und der anschließenden Regelung von Universaldienstleistungspflichten in verschiedenen EG-Richtlinien hat durch deren Umsetzung der Begriff der Universaldienstleistung ins deutsche Recht Eingang gefunden. Für die Bedeutung, die der Begriff der Universaldienstleistung im deutschen aber auch im EU-Recht hat, ist seine Herkunft von eini28 Vgl. Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Rn. 52. Ansonsten ist die Vorschrift als Ausnahmevorschrift restriktiv auszulegen. Vgl. zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen, ibid., Rn. 62 ff. 29 KOM (2000), 580 endg., S. 3, 5. 30 KOM (2000), 580 endg., S. 5. 31 KOM (2000), 580 endg., S. 12, Tz. 25. Vgl. auch ibid., S. 9, Tz. 14. 32 KOM (2000), 580 endg., S. 9., Tz. 14.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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gem Interesse. In deutschen Abhandlungen zu diesem Begriff ist in der Regel wenig oder nichts gesagt.33 aa) Herkunft des Begriffs Der Begriff des Universaldienstes („universal service“) stammt aus den USA. Dort wurde er vom Präsidenten der Amerikanischen Telephon und Telegraphen Firma AT&T, Theodore Vail, ab 1907 in den Jahresberichten des Unternehmens benutzt: „Ein System, eine Politik: der Universaldienst“. Der Universaldienst wurde von Vail als Wettbewerbsstrategie, politischer Slogan und als griffiger Werbespruch zugleich gebraucht.34 Er ist nur in seinem historischen Kontext zu verstehen und unterscheidet sich in seiner Stoßrichtung erheblich von der heute verwendeten Bedeutung. Im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der US-amerikanische Telephonmarkt dadurch gekennzeichnet, daß es zwei vollkommen voneinander getrennte Telephonnetzwerke gab, zwischen denen keinerlei Verbindungen bestanden. Aufgrund dieser fehlenden Interkonnexion war es für die Kunden der einen Firma nicht möglich, die Kunden der anderen Firma zu erreichen. Um für jedermann erreichbar zu sein, mußte man also beiden Netzwerken als Kunde beitreten. Vail versuchte nun mit seiner neuen Strategie die monopolistische Geschäftsstrategie der Telegraphenfirma Western Union nachzuahmen, die durch strategische Isolierung und Vernichtung der Konkurrenz erfolgreich monopolistische Markstrukturen anstrebte. Hierdurch entstand im Telegraphenbereich das erste landesweite Netzwerk. Auch landesweite Telephonnetzwerke wurden damals allgemein für nützlich gehalten, da hierdurch die nationale Einheit und die Chancengleichheit befördert werden konnte.35 Wie Mueller darlegte, ging es Vail mit seiner Strategie nicht darum, im heutigen Sinne des Begriffs alle Kunden mit Diensten überall zu erschwinglichen Preisen zu versorgen, auch wenn dies im Nachhinein von verschiedenen Autoren aus gewissen Gründen so interpretiert wurde.36 Vielmehr ging es Vail um die Herstellung der Interkonnexion der getrennten Netzwerke durch die Herstellung eines Monopols. Er sah dadurch den Wert des Telephons allgemein gesteigert, da dieser von der Zahl der Anschlüsse abhinge. Weiterhin hielt er zentrale Koordinierung und Kontrolle für notwendig, und schließlich forderte er die Einrichtung eines Monopols, wobei er staatliche Regu33 Vgl. nur Badura / v. Danwitz / Herdegen / u. a., PostG Kommentar, Einleitung; Büchner / Ehmer / u.a., TKG Kommentar, § 1; Herdegen, Die Regulierung des Postuniversaldienstes, 63 ff.; Windthorst; Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation, S. 112 ff. Neuerdings jedoch Cox, Das Angebot von Universaldienstleistungen und Probleme ihrer Vergabe im öffentlichen Bieterwettbewerb, S. 77 ff. 34 Vgl. Arlandis, Service universel, evolution d’un concept-clé, S. 41; Mueller, Le service universel dans l’histoire du téléphone, S. 28. 35 Mueller, Le service universel dans l’histoire du téléphone, S. 13. Dieser Aspekt ist grundlegend für den Begriff der Infrastrukturverantwortung bei Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, siehe unten E.I.6.a. 36 Mueller, Le service universel dans l’histoire du téléphone, S. 26 f.
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D. Die Rolle der EU
lierung der Tarife und Dienstleistungen für akzeptabel hielt.37 Damit ist deutlich geworden, daß es beim ursprünglichen Verständnis nicht um die Versorgung aller mit flächendeckenden Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen ging, sondern vielmehr um die Errichtung eines Monopols zum Zwecke der Interkonnexion bis dahin getrennter Netzwerke. Erst in den 1970er Jahren, nachdem das bestehende Monopol von AT&T durch Konkurrenten bedroht wurde, haben sich Vertreter der Firma auf das Konzept des Universaldienstes in einer etwas veränderten Form berufen. Sie argumentierten, daß nur ein reguliertes Monopol die flächendeckende Versorgung zu erschwinglichen Preisen garantieren könnte.38 Damit ist der zweite Unterschied zum heutigen Verständnis des Begriffs im Europarecht angedeutet. Während im Europarecht das Konzept des Universaldienstes nach der Liberalisierung des Sektors eingeführt wurde, wurde es in den USA in seiner ursprünglichen Form gerade als das Gegenteil benutzt, nämlich zur Rechtfertigung der Einführung bzw. Aufrechterhaltung eines Monopols.
bb) Heutige Verwendung im Europarecht Wie das ursprüngliche Konzept des Universaldienstes, so ist auch das Konzept im Europarecht im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsmarkt erstmalig aufgetreten. Wie gleich noch zu zeigen sein wird, nahm die allgemeine Deregulierungspolitik zur Öffnung der Märkte ihren Anfang im Bereich der Telekommunikation. Dieser Markt war es auch, der als erster, wenn auch schrittweise, geöffnet wurde. Dabei existierte anfangs noch kein Konzept wie das des Universaldienstes; in den ersten Richtlinien finden sich keinerlei Vorschriften diesbezüglich. Erst nach der Durchführung erheblicher Deregulierungsschritte, erkannte man die Notwendigkeit der Schaffung eines solchen Konzeptes auf Europaebene an. Hierfür gab es wohl zwei Gründe: Zum einen existierten in allen Mitgliedstaaten zahlreiche und sehr unterschiedliche Gemeinwohlverpflichtungen im nationalen Recht, die miteinander in Einklang gebracht werden mußten, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden. Zum anderen war es notwendig, das Europäische Parlament zu besänftigen, das sich traditionell dem Verbraucherschutz verpflichtet sah, in diesem Fall dem Schutz kleiner und geographisch abgelegener Nutzer, die über keine mit den Möglichkeiten der Industrie vergleichbare Lobbyarbeit verfügen. Schon 1987 erkannte die Kommission in ihrem Grünbuch an, daß flächendeckend nachgefragte Güter über ein allgemein zugängliches Netz jedem unter der Wahrung von Chancengleichheit preisgünstig und ohne Verzögerung angeboten werden sollen.39 Dieses Vorhaben bekräftigte der Rat 1994 durch eine Entschließung, in welcher er die Notwendigkeit von Universaldienstleistungspflichten im Telekomsektor bestätigte: Er erkannte an, a) daß die Aufrechterhaltung und Ent37 38 39
Vgl. Mueller, Le service universel dans l’histoire du téléphone, S. 28. Vgl. Mueller, Le service universel dans l’histoire du téléphone, S. 31. KOM (87), 209 vom 30. 6. 1987.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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wicklung eines universalen Telekommunikationsdienstes, der durch eine adäquate Finanzierung abgesichert ist, ein Schlüsselfaktor der künftigen Entwicklung der Telekommunikation in der Gemeinschaft ist; b) daß die Grundsätze Universalität, Gleichbehandlung und Kontinuität die Grundlagen eines solchen Dienstes bilden, um den Zugang zu einem festgelegten Mindestdienst mit bestimmter Qualität und die Bereitstellung dieses Dienstes für alle Benutzer, unabhängig von ihrer geographischen Lage, und – im Lichte spezifischer nationaler Gegebenheiten – zu einem erschwinglichen Preis zu ermöglichen; c) daß gemeinsame Grundsätze für die Bereitstellung eines Universaldienstes erforderlich wären, um gemeinschaftsweit ein ausgewogenes und gerechtes ordnungspolitisches Umfeld zu verwirklichen, das auch spezifische nationale Gegebenheiten hinsichtlich Regulierung und Marktaspekten Rechnung trägt; . . . h) daß das Konzept des Universaldienstes weiterentwickelt werden muß, um mit dem technologischen Fortschritt, den Marktentwicklungen und dem sich ändernden Bedarf der Benutzer Schritt zu halten.40 Allerdings gingen die Bezugnahmen der EU-Institutionen auf den Universaldienst lange Zeit nicht über unverbindliche Meinungsbekundungen hinaus. Zum ersten Mal in rechtlich bindender Form enthielt die Richtlinie über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste 41 Aussagen zum Universaldienst. Dort wurden Universaldienstpflichten zwar nicht definiert, allerdings wurden Regelungen zu seiner Finanzierung getroffen und damit eine rechtliche Anerkennung für die Existenz von Universaldienstpflichten geschaffen. Die Richtlinie schafft einen Rahmen für die Finanzierung und überläßt die Wahl zwischen verschiedenen Finanzierungsmodellen den Mitgliedstaaten unter Verpflichtung auf objektive und diskriminierungsfreie Kriterien und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Wesentlich weiter als im Telekomsektor ist die EU im Postsektor gegangen. Bereits im Grünbuch der Kommission über die Entwicklung des Binnenmarktes auf dem Gebiet der Postdienstleistungen von 1992 fanden Universaldienstverpflichtungen Erwähnung. In der Richtlinie über Postdienstleistungen42 wurden sehr detaillierte Regelungen getroffen. Die RL enthält Kriterien zur Definition derjenigen Dienste, die als Universaldienste gelten können, Tarifregelungen für die Versorgung mit diesen Diensten, die Festsetzung von Qualitätsstandards und der Einrichtung eines Systems zur Einhaltung dieser Standards. Art. 3 – 6 RL sind dem Universaldienst gewidmet. Art. 3 I RL schreibt vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, daß den Nutzern ein Universaldienst zur Verfügung steht, der ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu tragbaren 40 ABl. C 1994, 48 / 1 v. 16. 2. 1994. Weitere Entschließungen und Mitteilungen zum Universaldienst: ABl. 1993 C 42, S. 240; ABl. 1994 C 205, S. 551; ABl. 1995 C 166, S. 109; ABl. 1995 C 249, S. 212; KOM (96) 73 und 443. 41 Art. 4c RL 90 / 388 / EWG ABl. 1990 L 192 / 10 in der geänderten Fassung der RL 96 / 19 / EG ABl. 1996, L 74 / 13. 42 RL 97 / 67 / EG v. 15. 12. 1997, ABl. 1998 L 15 / 14 – Postdienst-RL. Ähnliche Regeln für den Bereich der Telekommunikation enthält nunmehr auch die Universaldienst-RL 2002 / 22 / EG, ABl. 2002 L 108 / 51.
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D. Die Rolle der EU
Preisen für alle Nutzer bietet.“ Die RL spezifiziert dann detaillierte Minimumstandarddienste. Zur Sicherung des Universaldienstes kann ein Mitgliedstaat einen Ausgleichsfonds einrichten, um unverhältnismäßige finanzielle Belastungen für den Anbieter von Universaldiensten zu vermeiden. Der Fonds muß von einer von den Nutznießern unabhängigen Stelle verwaltet werden und den Grundsätzen der Transparenz, Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit entsprechen.43 In den anderen Sektoren finden sich keine vergleichbar detaillierten Vorschriften und der Begriff Universaldienst erscheint weder im Gas- oder Elektrizitätsbereich, noch im Luftverkehrs- oder Eisenbahnwesen. Trotzdem ist der Universaldienst ein Konzept, das nicht nur auf Post und Telekom beschränkt ist. Dies zeigt nicht nur die Entschließung des Rates von 1994 und vereinzelte Regeln im Energiebereich, die zumindest inhaltlich ähnliche Regelungen zulassen44, sondern insbesondere die Mitteilungen der Kommission zu Leistungen der Daseinsvorsorge. Während es 1996 zum Universaldienst noch hieß: „Dieser von den Gemeinschaftsinstitutionen entwickelte, noch ausgestaltungsfähige Begriff bezeichnet eine Reihe gemeinwohlorientierter Voraussetzungen, welche die Tätigkeiten in den Bereichen Telekommunikation und Postwesen gemeinschaftsweit erfüllen sollten. Durch die sich daraus ergebenden Verpflichtungen soll der Zugang aller Bürger zu qualitativ hochwertigen Grundversorgungsleistungen gegen ein vertretbares Entgelt gesichert werden.“ Diese noch auf Post und Telekom beschränkte Definition wurde in der Mitteilung von 2000 erweitert: „Der Universaldienst und insbesondere die Festlegung konkreter Universaldienstverpflichtungen ist eine wichtige Begleitmaßnahme zur Liberalisierung von Dienstleistungsbranchen wie der Telekommunikationsindustrie in der Europäischen Union. Durch die Festlegung und Garantie des Universaldienstes wird sichergestellt, daß der ständige Zugang zu etablierten Dienstleistungen und deren Qualität während des Übergangs vom Monopolangebot zum vollen Wettbewerb mehrerer Anbieter für alle Nutzer und Verbraucher gewährleistet ist. Universaldienst in offenen Telekommunikationsmärkten mit Wettbewerbsbedingungen wird definiert als ein Mindestangebot an Diensten von bestimmter Qualität, das allen Nutzern und Verbrauchern gemessen an landesspezifischen Bedingungen zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung steht.“45 Aus diesem veränderten Wortlaut kann gefolgert werden, daß die Kommission Universaldienste, ausgehend vom Beispiel der Telekom, für andere vergleichbare Sektoren ebenfalls für einschlägig hält. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Konzept des Universaldienstes im Zusammenhang mit Deregulierung und der Einführung von Wettbewerb Verbraucherinteressen schützen soll. In gewisser Weise wird damit die Deregulierung wieder eingeschränkt, oder anders ausgedrückt, sozial abgefedert und der Wettbewerb ergänzt. Die der Deregulierungspolitik zugrunde liegenden primärrechtlichen 43 44 45
Art. 9 (4) RL 97 / 67 / EG. Art. 8 und 10 RL 96 / 92 / EG v. 19. 12. 1996 ABl. 1997 L 27 / 20. KOM (2000) 580 endg., S. 18, 42.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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Regeln des EG-Vertrages erfahren ebenfalls in bestimmten Fällen Einschränkungen und begrenzen damit die Möglichkeiten der Deregulierung auf EU-Ebene. Dies ist vor allem der Fall bei typisch hoheitlichen Staatsaufgaben der Mitgliedstaaten.
5. Typisch hoheitliche Staatsaufgaben und Art. 86 EG: Eingeschränkter Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts Sowohl Art. 86 I EG als auch Art. 86 II EG erklären im Bereich öffentlicher Unternehmen, die mit ausschließlichen oder besonderen Rechten betraut sind, sowie für den Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse das Wettbewerbsrecht und die Vorschriften über den Binnenmarkt grundsätzlich für anwendbar. Trotz dieser grundsätzlichen Aussage sind von der Kommission und dem EuGH Bereiche anerkannt, auf die die wettbewerbsfördernden Vorschriften des Wettbewerbsrechts und des Binnenmarktes keine Anwendung finden. Dazu zählt die Kommission Leistungen der Daseinsvorsorge, die keine wirtschaftlichen Tätigkeiten darstellen. Dies sind solche staatlichen Aufgaben, die typischerweise hoheitliche Befugnisse und per se dem Staat vorbehalten sind. Dazu zählt die Kommission die Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit, die Justizverwaltung, die Pflege auswärtiger Beziehungen und andere hoheitliche Aufgaben.46 Der EuGH urteilte, daß eine Einrichtung, die den Luftraum kontrolliert und überwacht und Gebühren für die Benutzung ihres Flugsicherungssystems erhebt47, sowie eine privatrechtliche Einrichtung, die einen Seehafen zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung überwacht,48 Aufgaben ausüben, die typischerweise hoheitliche Befugnisse sind und keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen. In weiteren Urteilen49 hat der EuGH Dienstleistungen im Zusammenhang mit nationalen Bildungssystemen und die Pflichtmitgliedschaft in Grundversorgungssystemen der sozialen Sicherheit von der Anwendung der Wettbewerbsregeln und den Binnenmarktvorschriften ausgenommen. Dies beruhte auf dem Vorliegen einer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit, die ohne Gewinnabsicht ausgeübt wird und nicht in der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit besteht. Sobald derartige soziale Einrichtungen jedoch bei der Erfüllung eines Gemeinwohlauftrages wirtschaftliche Tätigkeiten aufnehmen, sind hierauf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften anzuwenden.50 46 Gonzales-Orus, Beyond the Scope of Art. 90 EC Treaty: Activities Excluded from the EC Competition Rules, S. 387 ff. 47 EuGH, Rs. C-364 / 92, SAT / Eurocontrol, Slg. 1994, I-43, Rn. 28 ff. 48 EuGH, Rs. C-343 / 95, Diego Cali, Slg. 1997, I- 1547, Rn. 22 f. 49 EuGH, Rs. C-263 / 86, Humbel, Slg. 1988, 5365, Rn. 16 ff.; Rs. C-159,160 / 91, Poucet, Slg. 1993, I-637, 16 ff.; Rs. C-109 / 92, Wirth, Slg. 1993, I-6447, 15 ff. 50 Mitteilung der Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM (2000), 580 endg., S. 14, Tz. 30.
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D. Die Rolle der EU
Mit der Anerkennung bestimmter typisch hoheitlicher Bereiche als ausschließliche Bereiche der Mitgliedstaaten ist die gemeinschaftliche Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten berührt. Sie ähnelt damit in gewisser Weise der deutschen Staatsaufgabenlehre, in der ebenfalls um Kompetenzabschichtung zwischen Bund und Ländern, sowie der Übertragbarkeit ausschließlicher oder originärer Staatsaufgaben auf Private diskutiert wird. Insbesondere der zweite Punkt, die Frage nach der Übertragbarkeit hoheitlicher Aufgaben auf Private, ist in Deutschland und der ganzen EU ausgelöst und konkretisiert worden durch europarechtliche Vorgaben zur Einführung von Wettbewerb in zahlreichen Bereichen. Damit rückt die allgemeine Politik der Deregulierung und Marktöffnung in den Blickpunkt des Interesses.
II. Deregulierungspolitik der EU Spricht man von der Politik der Deregulierung und Privatisierung, so wird allgemein auf die Vorreiterrolle Großbritanniens unter der Regierung Margaret Thatcher verwiesen. Diese hat einige Jahre nach ihrer Wahl 1979 ein umfangreiches Programm zur Umsetzung liberaler, wettbewerbsfördernder Projekte beschlossen und Anfang der 1980er Jahre begonnen, sie umzusetzen.51 Trotz dieser verbreiteten Meinung, die Großbritannien als Impulsgeber für die Deregulierungspolitik in Europa benennt, ist festzustellen, daß die Idee der Deregulierung und ihre Umsetzung in politische Forderungen auf europäischer Ebene einige Jahre vor den britischen Reformplänen entwickelt wurde und auch konkrete Gesetzesentwürfe zur Liberalisierung des Telekomsektors einige Jahre vor den britischen Gesetzesvorhaben vorgestellt wurden.52
1. Wettbewerbsförderung durch Deregulierung Marktöffnung ist eines der Grundanliegen der ursprünglichen Europäischen Verträge gewesen. Zahlreiche Vorschriften sahen die Öffnung der nationalen, größtenteils abgeschotteten Märkte bis zu einer bestimmten Frist vor. Diese Fristen liefen überwiegend in den 1960er und 1970er Jahren ab und sind durch die letzten Vertragsänderungen zum Großteil aus dem Vertragstext gestrichen worden. Im Zentrum dieser Vorschriften standen allerdings ursprünglich diejenigen Bereiche, auf denen im nationalen Bereich Wettbewerb herrschte, jedoch durch nationale Regelungen der zwischenstaatliche Handel und Wettbewerb beeinträchtigt wurde. Diese Handelshemmnisse zu beseitigen war und ist noch zentrales Anliegen der europäischen Wirtschaftspolitik. Nach einem gewissen Erlahmen Vgl. dazu unten F.III.1. Vgl. Sandholtz, The Emergence of a Supranational Telecommunications Regime, S. 146 f., 149. 51 52
II. Deregulierungspolitik der EU
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des europäischen Integrations- und Marktöffnungsprozesses in den 1970er Jahren gab es gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre neue Impulse für weitere Marktöffnungen. Zum einen wurde in der traditionellen Weise der Abbau zwischenstaatlicher Markthindernisse durch das Binnenmarktprogramm der Kommission von 198553 vorangetrieben. Dieses betraf in erster Linie Bereiche, in denen zwar innerhalb eines Mitgliedstaates durchaus Wettbewerb vorherrschte, aber durch verschiedene Regelungen die nationalen Märkte voneinander abgeschottet waren. Das Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarktes basierte zu großen Teilen auf der Idee der „wechselseitigen Anerkennung“, die der EuGH in seiner Cassis de Dijon-Entscheidung aus dem Jahr 1979 niedergelegt hatte. Damit sollten Produkte, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und vermarktet wurden, in jedem anderen Land der EU auf dem Markt zugelassen werden. Mögliche Hindernisse wie Sicherheitsanforderungen oder technische Standards sollten dementsprechend entweder anerkannt oder aber europaweit harmonisiert werden. Der Vertrag wurde mit Art. 100a EGV um eine Rechtsetzungskompetenz auf der Grundlage der qualifizierten Mehrheit zur Errichtung des Binnenmarktes ergänzt, durch die zahlreiche Maßnahmen, die zuvor durch das Einstimmigkeitsprinzip blockiert wurden, durchgeführt werden konnten. In dem Weißbuch zur Errichtung eines europäischen Binnenmarktes von 1985 wurden zahlreiche Bereiche benannt, insgesamt 282 Vorschläge, in denen ein Tätigwerden der EU durch rechtliche Maßnahmen zur Errichtung des Binnenmarktes und zur Marktöffnung für notwendig erachtet wurde, nicht jedoch der Bereich Energie.54 Neben diesem auf den Abbau von Markthindernissen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Grundfreiheiten gerichteten Politik des Binnenmarktes, begann die Kommission vergleichsweise früh mit der Deregulierung von Wirtschaftsbereichen, die nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten abgeschottet waren, sondern auch innerhalb der Mitgliedstaaten traditionell nicht dem Wettbewerb unterlagen. Der erste und wichtigste dieser Bereiche war der Bereich der Telekommunikation. Dieser Aspekt der Deregulierung ist mit den auf nationaler Ebene in den USA und Großbritannien frühzeitig eingeleiteten Deregulierungs- und Privatisierungsprogrammen vergleichbar. Bereits 1979 definierte die EG-Kommission die Schlüsselelemente für die Deregulierung auf EU-Ebene, zu einer Zeit, in der derartige Programme in Großbritannien noch nicht oder nur sehr vage bestanden.55 Mit Etienne Davignon besaß die 53 Kommission, Vollendung des Binnenmarktes, KOM (85), 310 endg. Vgl. Chalmers, EU Law, S. 1 ff.; Huber, Recht der Europäischen Integration; S. 168 ff., Rn. 31 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 42. 54 KOM (85) 310 endg. v. 14. 6. 1985. 55 Vgl. Sandholtz, The Emergence of a Supranational Telecommunications Regime, S. 146; zwar wird regelmäßig behauptet, die Konservativen seien 1979 aufgrund ihres Priva-
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D. Die Rolle der EU
Kommission ein unternehmerisch gesinntes Mitglied mit besonderem Interesse im Bereich der Informationstechnologien.56 Dieser schuf die „Information Technologies Task Force“ (ITTF) innerhalb der Kommission. Diese Arbeitsgruppe, unterstützt von Fachleuten außerhalb der Kommission, entwickelte großes Fachwissen im teils höchst komplizierten Bereich der Regulierung des Telekommunikationssektors. Im November 1979 legte Davignon das Kommissionspapier „European Society faced with the Challenge of New Information Technologies: A Community Response“, dem Rat vor. Vier der sechs darin enthaltenen Punkte bezogen sich auf den Telekommunikationssektor mit dem Ziel der Schaffung eines Europäischen Marktes für Telekommunikationsausrüstung und -dienstleistungen. Der Rat forderte konkrete Maßnahmen und daraufhin legte die Kommission im Jahre 1980 ihren ersten Gesetzesentwurf für die Deregulierung im Telekomsektor vor, der allerdings erst 1984 als Empfehlung des Rates umgesetzt wurde. Mitte der 1980er Jahre57 erfolgten dann sukzessive weitere Schritte der Deregulierung, die von der Einigung auf bestimmte Standards58, über die Deregulierung des Produktmarktes für Telekommunikations-Endgeräte 59, sowie der Liberalisierung des Mobilfunkes60 bis hin zur völligen Öffnung der Netze für Konkurrenten und der durch Europarecht vorgeschriebenen Einführung unabhängiger nationaler Regulierungsbehörden61 reichte. Der Vorreiterrolle des Telekomsektors folgten andere Bereiche in den 1990er Jahren nach: Liberalisierung des Luftverkehrs62, des Stromsektors63, des Postsektors64, des Gassektors65 sowie der Eisenbahn66. Im Bereich der Wasserversorgung bestehen ebenfalls Pläne der Kommission zur Deregulierung67. tisierungsprogrammes gewählt worden, allerdings findet sich ausgerechnet zu diesem Punkt fast keine Aussage in ihrem Wahlprogramm („Election Manifesto“), vgl. Steel / Heald, The New Agenda, in: dies., Privatizing Public Enterprises, S. 14. 56 Vgl. zum Ganzen Sandholtz, The Emergence of a Supranational Telecommunications Regime, S. 149. 57 Wichtige Impulse gingen 1987 vom Grünbuch der EG-Kommission aus, KOM (87) 209 v. 30. 6. 1987. 58 RL des Rates 86 / 361 / EWG. 59 RL des Rates 91 / 263 / EWG und RL der Kommission 88 / 301 / EWG, ABl. 1988, Nr. L 131 / 73. 60 RL der Kommission 96 / 2 / EG. 61 RL des Rates 90 / 387 / EWG zur Verwirklichung des Binnenmarktes für Telekommunikationsdienste durch Einführung eines offenen Netzzugangs (ONP), ABl. 1990, Nr. L 192, S. 2, abgeändert durch RL 97 / 67 / EG, ABl. 1998 Nr. L 15 / 14. 62 VO des Rates (EWG) Nr. 3975 / 87, ABl. L 374 vom 31. 12. 1987, S. 1, geändert durch die VO (EWG) Nr. 2410 / 92, ABl. L 240 vom 24. 8. 1992, S. 18. Vgl. auch Vorschläge der Kommission KOM (97) 218 endg. und ABl. C 165, S. 13. 63 RL 96 / 92 / EG v. 19. 12. 1996, ABl. L 27, S. 20. 64 RL 97 / 67 / EG v. 15. 12. 1997, ABl. 1998 L 15 v. 21. 1. 1998. 65 RL 98 / 30 / EG v. 22. 6. 1998 ABl. L 204, S. 1. 66 RL 91 / 440 / EWG, ABl. 1991, L 237.
II. Deregulierungspolitik der EU
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Kennzeichnend für die Deregulierungspolitik der EU ist, wie bereits angeklungen, die Ausrichtung auf die Marktöffnung zur Einführung von Wettbewerb. Entsprechend des oben dargelegten Grundsatzes der Neutralität hat die EU-Kommission keinerlei Anstrengungen gemacht, Privatisierungen anzustoßen. Hier zeigt sich die Bedeutung, die eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Deregulierung und Privatisierung im Recht erlangen kann. Trotz der Neutralität und der Beschränkung auf Marktöffnung ohne Einflußnahme auf die Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten haben jedoch Kommission und Rat an verschiedener Stelle darauf hingewiesen, daß Privatisierungen für den Wettbewerb förderlich sind und sie diese begrüßten, soweit Mitgliedstaaten Privatisierungen durchführen wollen.68 Die Kommission ist sogar in ihrer Beihilfepolitik bereit, bei Privatisierungen von staatlichen Unternehmen vorübergehend großzügiger zu verfahren, da zu erwarten ist, daß nach der Privatisierung der Wettbewerb gestärkt und staatliche Leistungen an das Unternehmen beendet werden.69
2. Gemeinwirtschaftliche Regelungen im Zuge der Deregulierung Die oben dargelegte Entstehung von Universaldienstpflichten im EU-Recht weist im Zusammenhang mit den Liberalisierungen eine Besonderheit auf. Gemeinwirtschaftliche Pflichten wurden zeitlich erst nach den einzelnen Liberalisierungsschritten auferlegt. Am deutlichsten wird dies im Telekomsektor. Während die Liberalisierung bereits Mitte der 1980er Jahre einsetzte, fanden sich gemeinwirtschaftliche Regelungen wie die über den Universaldienst erst zehn Jahre später in der Wettbewerbs-Richtlinie von 1996. Offensichtlich setzte sich die Erkenntnis durch, daß im Sinne der Verbraucher neben der Einführung von Wettbewerb auch andere verbraucherschützende Mechanismen notwendig sind. Diese Erfahrung wurde bei der Liberalisierung des Postsektors berücksichtigt. Hier finden sich in der Liberalisierungsrichtlinie von 1998 gleichzeitig Vorschriften über den Universaldienst. In dieser Weise enthalten auch die Richtlinien über die Liberalisierung von Strom- und Gasmärkten neben den Regeln zur Einführung von Wettbewerb auch grundlegende Regeln über die Zulässigkeit gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen auf nationaler Ebene. Unabhängig von der zeitlichen Aufeinanderfolge ist jedoch auf EU-Ebene der Zusammenhang zwischen Deregulierung und Marktöffnung einerseits und gemeinwirtschaftlichen Regeln andererseits anerkannt. Beide 67 Handelsblatt 30. 10. 2000: „Wassermarkt vor dem Umbruch“; 27. 3. 2001: „Liberalisierung des Wassermarktes steht ganz am Anfang“; Wirtschaftswoche Nr. 13, 22. 3. 2001: „Warten auf den Markt“. 68 Empfehlung des Rates v. 10. 6. 1995 ABl. 1995 Nr. L 191 / 24; Mitteilung der Kommission, Eine Politik der industriellen Wettbewerbsfähigkeit für die EU, KOM (94) 319 endg. v. 14. 9. 1994. 69 Gemeinschaftsrahmen für staatliche Umweltschutzbeihilfen, ABl. 1994 C 72 / 3; dazu Verhoeven, Privatisation and EC Law, S. 874 ff.
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D. Die Rolle der EU
werden als zusammengehörende Elemente der europäischen Maßnahmen angesehen. Dabei wird die Regelung der gemeinwirtschaftlichen Aspekte in besonderem Maße den Mitgliedstaaten überlassen, während sich die EU häufig auf die Statuierung der Möglichkeit der Einführung derartiger Regeln durch die Mitgliedstaaten (Strom) oder die Regelung von Mindeststandards beschränkt (Post). Im Folgenden werden die Veränderungen im Stromsektor und ihre Auswirkungen auf die staatliche Rolle im Wettbewerb durch EU-Recht untersucht. Dabei wird zunächst die EU-Energiepolitik und der europäische Energiesektor vor der Deregulierung dargestellt. Daran schließt sich die Darstellung der EU-Energiepolitik und der Stromsektoren nach der Deregulierung. Bei der Analyse der rechtlichen Vorgaben wird die hier vorgenommene Einteilung zwischen wettbewerbsfördernden und gemeinwirtschaftlichen Regelungen fortgeführt.
III. Der Stromsektor bis zur Deregulierung 1. EU-Energiepolitik und Rechtsgrundlagen im Primärrecht Die Stromwirtschaft ist Teil der Energiewirtschaft. Dabei lassen sich primäre und sekundäre Energieträger unterscheiden. Zu den primären Energieträgern gehören Kohle, Erdgas und Kernenergie sowie erneuerbare Energien, etwa Sonne, Wind, Wasser oder Biomasse. Aus diesen lassen sich die sekundären Energieträger Strom und Gas herstellen. Strom selbst findet im EU-Primärrecht keine Erwähnung. Da seine Gewinnung aber wesentlich auf die Primärenergieträger zurückgeht, soll hier ein kurzer Überblick über einige Grundstrukturen und daraus resultierende Probleme gegeben werden. Das EU-Recht ordnet die verschiedenen Primärenergiequellen unterschiedlichen Vertragsregimen mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben und Befugnissen der beteiligten Gemeinschaftsorgane zu, die anfangs noch über getrennte Institutionen verfügten.70 So stand am Anfang der Geschichte der EU die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl durch die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951. In der Nachkriegszeit nahm die Kohle unter den Primärenergiequellen den wichtigsten Platz ein. Gegen Ende der 1950er Jahre änderte sich diese herausragende Rolle der Kohle in der europäischen Energiewirtschaft radikal. Es entstand ein großes Überangebot, das zu massiven Anpassungsbemühungen der nationalen Kohlewirtschaften nötigte. Damit rückte die Begleitung und Überwachung der Umstrukturierungsprozesse mehr und mehr in den Mittelpunkt der EU-Kohle70 Diese wurden durch das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25. 3. 1957 und den Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8. 4. 1965 miteinander verschmolzen.
III. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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politik.71 Insbesondere die Frage der Restrukturierungsbeihilfen erwies sich als problematisch und ist auch heute noch aktuell.72 Neben den positiven Erfahrungen mit der Herstellung einer Quasi-Zollunion in diesem Bereich und den Befugnissen der EU zur Preisgestaltung erwies sich der EGKS-Vertrag jedoch häufig als wenig geeignet, die tatsächlichen Problemen zu bewältigen. Dies wurde gefördert durch den Bedeutungsverlust der Kohle und die neue Aufgabe der Anpassung der nationalen Wirtschaften. Insbesondere hier zeigte sich, daß Einigungen über die Zulässigkeit von Stillegungsbeihilfen durch Einigungen außerhalb des vertraglichen Rahmens stattfanden. Aufgrund dieser Marginalisierung des EGKS-Vertrages wurde eine radikale Revision des Vertrages gefordert.73 In dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25. 3. 1957 wurden Regelungen über eine gemeinschaftliche friedliche Nutzung der Kernenergie getroffen.74 Auch hier geht es wie beim EGKS-Vertrag lediglich um den Primärenergieträger, nicht aber um die daraus gewonnene sekundäre Energie. Als zentrale Vorschriften des Vertrages waren die Vorschriften über die Vergemeinschaftung der Versorgung mit nuklearen Brennstoffen (Art. 52 ff. EAG) und das gemeinschaftliche Eigentum an besonderen Brennstoffen (Art. 86 EAG) geregelt. Daneben standen die Förderung der Kernforschung (Art. 4 EAG) und die nukleare Sicherheit zunächst im Hintergrund. Dies hat sich jedoch radikal verändert. So wurde die Vergemeinschaftung im wesentlichen dadurch entscheidend verhindert, daß Frankreich die Kernenergie zu einer Angelegenheit ausschließlichen nationalen Interesses erklärte.75 Statt dessen nahmen Förderung der Kernforschung und vor allem nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 die Aktivitäten im Bereich der nuklearen Sicherheit erheblich zu.76 Schließlich fallen die verbliebenen primären Energieträger Erdöl und Erdgas sowie die sekundären Energieträger Strom und Gas grundsätzlich unter die Vorschriften des EG-Vertrags, insbesondere die Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften. Strom wurde vom EuGH regelmäßig als Ware i. S. d. Art. 28 EG angesehen.77 Insofern finden also die Vorschriften über die Grundfreiheiten Anwendung. Insbesondere Art. 31 EG über staatliche Handelsmonopole und Art. 86 II EG über die 71 Vgl. zum Ganzen Schweitzer / Hummer, Europarecht, § 12; Oppermann, Europarecht, Rn. 1323. 72 Handelsblatt 23. 10. 2000: „Zechen überleben nur mit Subventionen“ und „RAG bangt ohne Kohlehilfe um Existenz“. 73 Vgl. Jarass, Europäisches Energierecht, S. 13; Oppermann, Europarecht, Rn. 1323 ff. 74 Vgl. zum Ganzen Schweitzer / Hummer, Europarecht, § 13. 75 Vgl. Ehlermann, EG-Binnenmarkt für die Energiewirtschaft, S. 689; Oppermann, Europarecht, Rn. 1332. 76 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1338 f. 77 EuGH, Rs. 6 / 64, Costa / ENEL, Slg. 1964, 1251, 1253; Rs. C-393 / 92, Almelo, Slg. 1994, I-1477, 1489 f., Tz. 57 – 67, 1516, Rn. 28.
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D. Die Rolle der EU
Betrauung mit besonderen Rechten sind hier von Bedeutung. Spezielle Vorschriften über den Energiesektor oder einzelne Energiearten enthielt der EG-Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung nicht. Erst mit dem Vertrag von Maastricht wurden 1993 verschiedene Vorschriften in den EG-Vertrag eingefügt. So umfaßt seitdem die Tätigkeit der Kommission nach Art. 3u EG auch Maßnahmen im Bereich Energie. Nach Art. 154 EG trägt die Gemeinschaft zum Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze auch im Bereich der Energieinfrastruktur bei. Schließlich sieht Art. 175 II EG für Maßnahmen im Bereich der Umweltpolitik, welche die Wahl eines Mitgliedstaates zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren, das Erfordernis der Einstimmigkeit vor. Die in der Erklärung Nr. 1 der Schlußakte des Vertrags von Maastricht für spätestens 1996 auf der Grundlage eines Kommissionsberichtes geforderte Überprüfung der Einfügung eines Titels Energie im EG-Vertrag ist nicht erfolgt.78 Im Bezug auf Drittländer wurde 1994 die Europäische Energiecharta gegründet, die insbesondere im Hinblick auf Osteuropa der Schaffung eines gesamteuropäischen Energieverbundes dient.79 Neben diesen wenigen ausdrücklichen Regelungen des EG-Vertrages zur Energiepolitik, lassen sich Maßnahmen in diesem Bereich vor allem auf die allgemeinen Vorschriften des Vertrages stützen.80 Zu nennen sind hier insbesondere Art. 95 EG über die Angleichung von Rechtsvorschriften über den EG-Binnenmarkt, Art. 47 II und 55 EG zur Erleichterung des Zugangs und der Ausübung selbständiger Tätigkeiten im Rahmen der Niederlassungsfreiheit sowie der Dienstleistungsfreiheit, Art. 83 I, II c EG zur Verwirklichung der in Art. 81 und 82 EG niedergelegten Grundsätze, insbesondere zur näheren Bestimmung des Anwendungsbereichs der Art. 81, 82 EG für einzelne Wirtschaftszweige, Art. 86 III EG zur Anwendung der Vorschriften über öffentliche Unternehmen und Unternehmen, denen besondere Rechte übertragen wurden, Art. 93 EG zur Harmonisierung indirekter Steuern, Art. 133 EG zum Erlaß von Maßnahmen der gemeinsamen Handelspolitik und schließlich die Vertragsergänzungsklausel des Art. 308 EG, der faktisch eine Kompetenz-Kompetenz der EU81 enthält. Die vorangehenden Erörterungen haben deutlich gemacht, daß einer einheitlichen europäischen Energiepolitik gewisse Hindernisse entgegenstehen. Zu diesen Hindernissen zählen vor allem die Aufspaltung der verschiedenen Energieträger auf unterschiedliche vertragliche Regime mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und damit das Fehlen eines einheitlichen Politiktitels Energie, der grundlegende Wandel der Energiepolitik in Bezug auf die Nutzung der Primärenergiequellen und schließlich die starken nationalen Interessen und unterschiedlichen Vgl. Hochbaum, a. a. O., Art. 90, Fn. 363; Oppermann, Europarecht, Rn. 1319. Vgl. Lukes, Die europäische Energiecharta. 80 Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 24 ff.; Jarass, a. a. O., S. 81 ff. 81 Vgl. Steinberg / Britz, Die Energiepolitik im Spannungsfeld nationaler und europäischer Regelungskompetenzen, S. 318. 78 79
III. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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Regelungen in Bezug auf Reserven, Nachfragestruktur, Wirtschaftsentwicklung, staatliche Traditionen der Eigentumsordnung und stark differierende Ansichten über die zu nutzenden Energiequellen.82
2. Entwicklungsstadien einer EU-Energiepolitik Trotz der primärrechtlichen Regelungen zur Kohle und Atomenergie lassen sich die Anfänge einer europäischen Energiepolitik frühestens auf das Ende der 1960er Jahre datieren. Diese begann zögerlich, erhielt Impulse vor allem durch die Ölkrise und mündete schließlich in die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte. Wie der nationalen Energiepolitik stellt sich auch der europäischen Energiepolitik ein grundsätzliches Dilemma. Einerseits läßt sich der Wirtschaftsstandort durch die Einfuhr preiswerter Energie stärken mit dem Nachteil größerer Krisenanfälligkeit durch Importabhängigkeit. Andererseits lassen sich durch die vorrangige Nutzung heimischer Energieträger unmittelbar arbeitsmarktpolitische Vorteile und größere Autarkie erzielen. Insofern ist die praktikable Lösung ein Energiemix aus heimischen und importierten Energieträgern.
a) Zögerlicher Anfang: Die 1960er Jahre Das erste EU-Dokument zur Energiepolitik war das „Abkommen über die Energieprobleme“ vom 21. 4. 196483. Anlaß dieses Protokolls war die Kohlekrise, in deren Verlauf ein massives Überangebot an Steinkohle entstanden war. Ziele des Protokolls waren dementsprechend die Verminderung des Kohleabbaus und -verbrauchs, die Förderung der Versorgung mit Erdöl und Erdgas zu niedrigen Preisen durch Nullzölle auf Einfuhren aus Drittländern und gemeinsame Lagerhaltungspolitik sowie der Aufbau der Kernenergiewirtschaft.84 In diesem Abkommen wurden erstmalig Grundsätze einer Energiepolitik niedergelegt: billige und sichere Energieversorgung, angemessener Wettbewerb zwischen Energieträgern und möglichst freie Wahl der Verbraucher. 1968 schloß sich ein weiteres wichtiges Dokument an, das die Kommission ausgearbeitet und dem Rat vorgelegt hatte: „Erste Ausrichtung für eine gemeinschaftliche Energiepolitik“85. Diesen nicht verbindlichen Dokumenten folgten die ersten Rechtsakte zur Sicherung der Energieversorgung, insbesondere durch Bevorratung und verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.86 82 Zur Rolle des Subsidiaritätsprinzips bei der Abschichtung nationaler von gemeinschaftlichen Kompetenzen im Energiebereich Jarass, a. a. O., S. 73 ff. 83 ABl. 1964, S. 1099. 84 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1342. 85 Bulletin, EG, Beilage 12 / 68.
7 Ruge
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D. Die Rolle der EU
b) Verstärkte Aktivitäten nach der Ölkrise 1973 / 74 Die zaghafte Energiepolitik der EU wurde durch die Ölkrise 1973 / 74 forciert, da sich die Erkenntnis durchsetzte, sich gegen Exporteure und andere Importeure von Energie gemeinschaftlich mit stärkerem Gewicht durchsetzen zu können. Im Zuge der Ölkrise kam es zu massiven Preissteigerungen um über 1000% mit der Folge einer dauerhaften wirtschaftlichen Stagnation und einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Dadurch wurde die Importabhängigkeit, insbesondere vom Öl besonders deutlich und es setzte sich der Wille zu größerer Importunabhängigkeit in der EU durch. Dieses Ziel wurde durch Energiesparmaßnahmen, Förderung von erneuerbaren Energien und den Ausbau der Kernenergie betrieben.87 Der Rat bekundete 1974 in zwei Entschließungen88 seinen Willen zur Ausarbeitung und Durchführung einer EU-Energiepolitik. Die Kommission arbeitete „EG-Energiestrategien“ für gewisse Zeiträume aus. Seit 1988 forcierte die Kommission die Deregulierung der Strom- und Gasmärkte. Dies geschah wie von der Kommission angekündigt in drei Stufen89.
c) Strukturen der Stromwirtschaft vor der Deregulierung Die vor der Deregulierung in der EU bestehenden Strukturen und Handelshemmnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassend beschreiben.90 Der Zugang neuer Marktteilnehmer war beschränkt. Es gab kaum Wettbewerb bzgl. der Verbindungen zwischen Stromproduktion, -transport, -verteilung und lieferung. Die Märkte waren wegen der monopolistischen Struktur der Erzeugungs- und / oder Verteilungsunternehmen abgeschottet, was die Elektrizitätsabnehmer daran hinderte, ihre Lieferanten frei auszuwählen. Außerdem waren die verschiedenen Aktivitäten der integrierten Unternehmen nicht getrennt, was die Beurteilung ihrer Effizienz und Qualität schwierig machte. Darüber hinaus waren die Elektrizitätsmärkte durch eine besonders große Einflußnahme der Mitgliedstaaten in der Investitions- und Preispolitik gekennzeichnet. Beispielsweise wurden einige Elektrizitätstarife subventioniert, damit bestimmte Verbraucher niedrigere Tarife genießen können. Schließlich gab es unzureichende Infrastrukturen für den Transport der Elektrizität, insbesondere bei den Netzverbindungen, innerhalb der Mitgliedstaaten, insbesondere aber auch zwischen den Mitgliedstaaten. RL 68 / 414 / EWG und RL 73 / 238 / EWG. Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1345. 88 ABl. 1975, C 153, S. 1 ff. 89 Dazu sogleich unter IV.2. KOM (91) 548 endg., S. 9 – 11; KOM (88) 238 endg., Arbeitsdokument der Kommission v. 2. 5. 1988. Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 47 ff.; Jarass, a. a. O., S. 30 ff.; Palinkas, Der europäische Binnenmarkt für Energie, S. 162 f. 90 Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 62. 86 87
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Die Deregulierung des Stromsektors sollte diese Handelshemmnisse innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten abbauen. Grundlegend für die Deregulierungspolitik im Stromsektor war eine erst in den 1990er Jahren entstehende einheitliche Energiepolitik der EU.
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung 1. Notwendigkeit und Prinzipien der EU-Strompolitik Parallel zum Beginn der Deregulierung der Strom- und Gasmärkte mit dem Ziel der Schaffung eines Binnenmarktes bemühte sich die Kommission, andere Aspekte als die Schaffung des Binnenmarktes verstärkt in eine EG-Energiepolitik einzubeziehen. Nach dem Dokument der „EG-Binnenmarkt für Energie“ geschah dies bisher in drei Dokumenten. 1994 veröffentlichte die Kommission das Grünbuch „Für eine Energiepolitik der Europäischen Union“91. Zentrales Anliegen des Grünbuchs war es, eine breite Debatte über die verschiedenen Zielsetzungen einer Energiepolitik auszulösen. An dieser Debatte haben sich alle Gemeinschaftsorgane92, die Mitgliedstaaten, die einzelstaatlichen Parlamente und über fünfzig nationale und gemeinschaftliche Organisationen beteiligt, die zusammen alle wirtschaftlichen, industriellen und sozialen Interessen vertreten.93 Die Ergebnisse dieses Meinungsbildungsprozesses wurden von der Kommission in ihrem Weißbuch „Eine Energiepolitik für die Europäische Union“ vorgestellt.94 Das Weißbuch enthält ein indikatives Arbeitsprogramm für einen Zeitraum von fünf Jahren, um die identifizierten Politikziele zu erreichen. Schließlich legte die Kommission 2000 das Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ vor.95 In diesem Dokument untersucht die Kommission die Politik der Versorgungssicherheit vor dem Hintergrund der im Grünbuch erarbeiteten Energieszenarien und liefert eine Analyse des aktuellen Rahmens und Zustandes der Energiewirtschaft in der EU. Dabei betont sie verstärkt eine nachfrageorientierte Energiepolitik, da die Nachfrage durch verschiedene Maßnahmen (z. B. Steuern) stärker als das Angebot beeinflußbar ist. Mit den drei vorliegenden Dokumenten liegt jetzt eine weitgehend kohärent formulierte Energiepolitik der EU vor. Im Gegensatz dazu mußte die Kommission zu Beginn der 1990er Jahre noch begründen, warum es überhaupt einer EU-Energiepolitik bedürfe.
KOM (94) 659 endg. v. 11. 1. 1995. Vgl. Entschließung d. Rates Nr. 7802 / 95 v. 13. 6. 1995; Entschließung d. EP Nr. A4 v. 2. 12. 1995; Stellungnahme d. Wirtschafts- und Sozialausschusses, CES 804 / 95 v. 5. 7. 1995; Stellungnahme d. Ausschusses d. Regionen, CdR 241 / 95. 93 KOM (95) 682 endg. v. 13. 12. 1995, S. 1, Tz. 4 und S. 5 f., Tz. 16 – 21. 94 KOM (95) 682 endg. v. 13. 12. 1995. 95 KOM (2000) 769 endg. v. 29. 11. 2000. 91 92
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D. Die Rolle der EU
a) Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Energiepolitik Energiepolitik ist als fundamentale Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg und soziale Entwicklung traditionell ein Zentralanliegen nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik. Erst die bereits erwähnte Ölkrise brachte den Mitgliedstaaten gewisse globale Zwänge stärker ins Bewußtsein. So wurde denn auch ein gemeinschaftliches Auftreten gegenüber globalen Wettbewerbern (Japan, USA) sowie gegenüber internationalen Energielieferanten (OPEC) als vorteilhaft für alle Mitgliedstaaten angesehen, da die eigenen Positionen dadurch stärkeres Gewicht erhielten. Man nahm an, daß eine Zunahme des Stromaustausches zwischen den großen Netzen geeignet ist, die Investitionskosten und die Brennstoffkosten der Stromgewinnung und des Stromtransportes bei optimaler Nutzung der Produktionsmittel und der Infrastrukturen auf ein Mindestmaß zu senken.96 Darüberhinaus kann dem Umwelt- und Klimaschutz, der eng mit den Fragen der Energiewirtschaft verbunden ist, vor allem auf übernationaler Ebene Rechnung getragen werden. Schließlich sah man eine gemeinschaftliche Energiepolitik als Mittel zur Erreichung des allgemeinen gemeinschaftlichen Zieles des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten an. Bei Formulierung und Durchführung der gemeinschaftlichen Energiepolitik war und ist das im Gemeinschaftsrecht verankerte Subsidiaritätsprinzip zu beachten.97 Bei der Formulierung der konkreten Politikziele wurden zumindest teilweise bereits von den Mitgliedstaaten verfolgte energiepolitische Ziele aufgenommen und weiterentwickelt.
b) Grundprinzipien der EU-Energiepolitik Die Energiepolitik der EU wurde im Energie-Binnenmarktdokument, im Grünund Weißbuch zur EG Energiepolitik und im Grünbuch zur Versorgungssicherheit entwickelt und im 4. Erwägungsgrund der Strombinnenmarkt-RL aufgenommen. Sie besteht aus drei grundsätzlichen Zielen: Der Integration der Energiemärkte, der Erreichung und Stärkung der Versorgungssicherheit und schließlich der Verwirklichung des Umweltschutzes. Die drei Ziele überschneiden sich teilweise, teilweise geraten sie miteinander in Konflikt, jedenfalls haben Maßnahmen zur Verwirklichung jedes einzelnen Zieles zwangsläufig Auswirkungen auf die anderen Ziele. Die Durchführung der Energiepolitik muß sich in die allgemeinen Ziele der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft einfügen. Hierzu zählen die Integration des Marktes, Deregulierung, die Begrenzung der Interventionen der öffentllichen Hand auf das, was strikt notwendig ist für die Wahrung der Interessen der Allgemeinheit und Vgl. Transit-RL, 90 / 547 / EWG, ABl. 1990, Nr. L 313 / 30, Erwägungsgrund 8. Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, S. 15, Tz. 24; Kommission, Weißbuch „Für eine Energiepolitik der EU“ (Energiepolitik), S. 10, Tz. 34. Vgl. dazu Jarass, Europäische Energiepolitik, S. 73 ff. 96 97
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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das Wohlergehen, für die Gewährleistung einer zukunftsfähigen Entwicklung, den Verbraucherschutz und die wirtschaftliche und soziale Kohäsion.98
aa) Wettbewerb durch Energiebinnenmarkt Das erste und zentrale Anliegen der Energiepolitik, bereits 1988 festgeschrieben im Kommissionsdokument „EG-Binnenmarkt für Energie“ und in den Folgedokumenten weiter präzisiert, ist die Schaffung eines Binnenmarktes für Energie durch die Integration des Gemeinschaftsmarktes.99 Deregulierung der Märkte soll für mehr Wettbewerb sorgen, was insgesamt zu einer Effizienzsteigerung in allen Bereichen führen soll. Dabei bezieht sich die Deregulierung nicht nur auf die Abschottung der nationalen Märkte, sondern zielt auch auf die Einführung des Wettbewerbs innerhalb der nationalen Märkte ab. Die angestrebte Effizienzsteigerung durch Wettbewerb wird nach den Vorstellungen der Kommission positive Effekte auch auf die anderen beiden Ziele der Energiepolitik haben. Hinsichtlich der Versorgungssicherheit kann durch Einsparpotentiale die Importabhängigkeit verringert, hinsichtlich des Umweltschutzes durch Verbrauchssenkung der Schadstoffausstoß vermindert werden. Gleichzeitig mit der Marktöffnung und der Errichtung des Binnenmarktes strebt die Kommission die Standardisierung nationaler technischer Anforderungen durch die privaten europäischen Normungsgremien CEN und CENELC an. Dies beruht auf der Erkenntnis, daß Technische Regeln der Mitgliedstaaten, wenn sie nicht gegenseitig anerkannt werden, negative Auswirkungen auf den freien Warenverkehr haben.100 Aber nicht nur nationale technische Standards können den Binnenmarkt gefährden, sondern auch nationale Beihilfen tragen zur Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen bei. Daher hat die Kommission hier Leitlinien für staatliche Beihilfen für Umweltmaßnahmen erlassen, die auch staatliche Beihilfen für Energieeffizienz und erneuerbare Energien abdecken.101 Schließlich betont die Kommission verschiedentlich, daß Wettbewerb im Energiebereich auch den Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Energiequellen beinhaltet. Hier sorgt sie sich insbesondere um die Ungleichbehandlung der Energieträger durch nationale Steuermaßnahmen (z. B. Mineralölsteuern), die zur BeKommission, Weißbuch „Energiepolitik“, KOM (95) 682 endg., S. 1, Tz. 5. Vgl. auch Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 61 ff. 100 Vgl. Kommission, Weißbuch, „Energiepolitik“, S. 15, Tz. 54 f.; allgemein Kommission, Weißbuch, „Vollendung des EG-Binnenmarkts“, KOM (85) 310 endg. v. 14. 6. 1985; KOM (95) 412, Größerer Gebrauch von Standardisierung in der Gemeinschaftspolitik. 101 Vgl. Kommission, Weißbuch, „Energiepolitik“, S. 16, Tz. 57 ff.; Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, S. 78 f.; Gemeinschaftsrahmen für staatliche Umweltschutzbeihilfen, ABl. 1994 C 72 / 3; RL-Vorschlag zur Förderung erneuerbarer Energien, KOM (2000) 279; dazu Britz, EEG, Rn. 36 ff. 98 99
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nachteiligung und einseitigen Förderung bestimmter Energieträger führen können. Die Kommission strebt daher eine Harmonisierung der Energiesteuern gemeinschaftsweit an und hat dem Rat 1997 einen entsprechenden Richtlinienvorschlag102 vorgelegt, der aber insbesondere wegen spanischer Bedenken blockiert wird.
bb) Versorgungssicherheit Die zweite Leitlinie der EG-Energiepolitik ist die Versorgungssicherheit, deren Verwirklichung seit dem Maastricht-Vertrag in Art. 100 EG anerkannt ist.103 Unter Versorgungssicherheit versteht die Kommission die Möglichkeit, „künftig den wesentlichen Energiebedarf einerseits mit ausreichenden, unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen geförderten oder als strategische Reserve bewahrten heimischen Ressourcen und andererseits mit diversifiziert und stabil verfügbaren äußeren Energieträgern kontinuierlich zu befriedigen“104. Damit ist der wesentliche Aspekt der EG-Politik hinsichtlich der Versorgungssicherheit deutlich geworden. Die Ölkrise der 1970er Jahre hat die Importabhängigkeit der EU hinsichtlich der Primärenergie deutlich gemacht. Im Grünbuch zur Versorgungssicherheit betont die Kommission die starke Abhängigkeit der Wirtschaft der Union von Energieimporten.105 Diese zu verringern ist ein zentrales Ziel der EU-Energiepolitik. Seit der Ölkrise ist dies bereits durch verschiedene Maßnahmen erfolgreich vorangetrieben worden, insbesondere durch Regelungen über die Pflicht zur Bevorratung von Energie.106 Der Verringerung der Einfuhrabhängigkeit dienen aber auch andere wichtige Grundsätze. So betrachtet die Kommission einen ausgewogenen Energiemix, d. h. Brennstoffdiversifizierung, als grundlegende Garantie für relativ hohe Importunabhängigkeit. Im Interesse der Versorgungssicherheit gelte es, unbedingt alle möglichen Energieoptionen offenzuhalten. Wenn die Brennstoffauswahl verkleinert würde, schwänden die Möglichkeiten für künftige Umstellungen auf eine alternative Energiequelle.107 Zu einem diversifizierten Energiemix gehört also, trotz bestehender Sicherheitsbedenken, sowohl die Beibehaltung der Kernenergie 102 Entwurf einer Richtlinie für die Besteuerung von Energieerzeugnissen, KOM (97) 30 endg., ABl. C 139 v. 6. 5. 1997. Vgl. zur Energiesteuerharmonisierung Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, S. 69 ff. 103 Vgl. auch Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 53 ff.; Slot, Energy and Competition, S. 522 ff. 104 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, S. 22, Tz. 40. 105 Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, S. 16 ff. 106 RL 68 / 414 / EWG v. 20. 12. 1968 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten der EWG, Mindestvorräte an Erdöl und / oder Erdölerzeugnissen zu halten; RL 73 / 238 / EWG v. 24. 7. 1973 über Maßnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen von Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Erdöl und Erdölerzeugnissen. Die Kommission schlug Ende 2000 verschiedene Erweiterungen und Neuerungen in ihrer Bevorratungspolitik vor. Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, a. a. O., S. 106. 107 Kommission, Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 22, Tz. 81.
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als auch, trotz hoher wirtschaftlicher Kosten, die Förderung und der Ausbau erneuerbarer Energien. Weiterhin können Maßnahmen der Energieeinsparung zur Importunabhängigkeit beitragen. Hier hat die EU einerseits durch verschiedene Programme und die SAVERichtlinie versucht, Energieeinsparungen in den Mitgliedstaaten zu fördern, ist dabei jedoch nach Einschätzung der Kommission wenig erfolgreich gewesen.108 Andererseits wird auf Effizienzsteigerung durch die Einführung von Wettbewerb gehofft. Der Wettbewerb und die offenen Märkte können auch dadurch zur Versorgungssicherheit beitragen, daß sich zum einen aufgrund attraktiverer Marktdimensionen höhere Investitionen in Energieprojekte finden lassen, zum anderen die Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen Energiequellen einander ergänzen.109 Schließlich betont die Kommission in ihren Dokumenten die wesentliche Rolle, die der EU-Außenwirtschaftspolitik bei der Sicherung der Energieimporte zukommt. Dabei steht die Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Erzeugerländern im Mittelpunkt, die durch ständigen Dialog, sowohl bilateral als auch in internationalen Gremien, befördert werden soll.110
cc) Umweltschutz Der dritte Aspekt der EU-Energiepolitik ist der Umweltschutz.111 Umweltschutz ist als Ziel und eigenes Politikfeld im EG-Vertrag ausdrücklich festgeschrieben und die EU hat auf diesem Sektor eine eigene Politik mit zahlreichen Maßnahmen entwickelt. Die Kommission beschreibt den besonderen Zusammenhang zwischen Umweltschutzpolitik und Energiepolitik sehr deutlich: „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, belastet jede energiewirtschaftliche Betätigung des Menschen – Energieproduktion, -transport und -einsatz – die Umwelt. Je nach Energieträger fallen radioaktive Abfälle an, werden Schwefelemissionen freigesetzt usw. CO2 ist das Nebenprodukt von Verbrennung von Kohle, Öl und Gas“.112 Insbesondere Letzteres macht die Kommission für die rasante Klimaveränderung verantwortlich, deren mögliche Auswirkungen sie zu bekämpfen als wichtiges Ziel auch der Energiepolitik ansieht.113 108 Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, a. a. O., S. 79 ff. SAVE-Entscheidung d. Rates, 91 / 565 / EWG v. 29. 10. 1991, ABl. 1991, L 307 / 34; SAVE-RL d. Rates, 93 / 76 / EWG v. 13. 9. 1993, ABl. 1993, L 237 / 28. 109 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 23, Tz. 41. 110 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 14, Tz. 20 und S. 38 f., Tz. 77; Kommission, Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 25 ff.; Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, S. 33 ff. 111 Vgl. dazu auch Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 73 ff. 112 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 12, Tz. 14. 113 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 27 ff., 39 f.; Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 8, 12, 29 ff.; Grünbuch „Versorgungssicherheit“, a. a. O., S. 63 ff.
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Wie im Folgenden deutlich wird, sind Maßnahmen der Kommission in diesem Bereich Maßnahmen der Steuerpolitik, der staatlichen Beihilfen und der Steuerung der Nachfrage. Eine Möglichkeit des Umweltschutzes sieht die Kommission in der Internalisierung externer Kosten, d. h. der Einbeziehung von Kosten in den Preis eines Produktes, die ohne spezielle Maßnahmen die gesamte Gesellschaft tragen würde. Dadurch läßt sich eine Steuerung des Käuferverhaltens über Marktmechanismen erreichen. Als Beispiel wird eine CO2 / Energiesteuer genannt.114 Entsprechend sieht die Kommission, wie bei der Versorgungssicherheit auch, die Notwendigkeit zur Angleichung der Energiebesteuerung, zu welchem Zwecke sie einen Richtlinienvorschlag unterbreitet hat.115 Ebenso auf Marktmechanismen setzt die Kommission in der Hoffnung auf Effizienzsteigerung und damit Energieeinsparung durch die Einführung von Wettbewerb.116 Ein Schwerpunkt der energiebezogenen Umweltpolitik liegt in der verstärkten Förderung von erneuerbaren und neuen Energien. Dies ist bereits als Teil der Strategie zur Erreichung von Versorgungssicherheit benannt worden, um damit zu einem diversifizierten Energiemix und zur stärkeren Importunabhängigkeit beizutragen. Gleichzeitig fordert die Kommission eine Förderung aus Gründen des Umweltschutzes, da erneuerbare Energien die Umwelt kaum belasten. Dabei sind die erneuerbaren Energien bei der heutigen Marktlage verstärkt auf Förderung angewiesen, damit ihre Investitionen konkurrenzfähig werden. Die Union hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: 12% des Energieverbrauchs im Jahr 2010 sollen auf erneuerbare Energien entfallen. Dazu müssen ihre Nutzung und der Ausbau ihrer Nutzung während eines vergleichbaren Zeitraumes unterstützt werden.117 In diesem Zusammenhang hat die EU Erleichterungen hinsichtlich staatlicher Beihilfen zur Förderung von Umweltschutzbeihilfen118 erlassen und einen Richtlinienvorschlag zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien119 vorgelegt. Die so vorangetriebene umweltbezogene Energiepolitik der Kommission wird auch durch die Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf den Beihilfecharakter von nationalen Fördermaßnahmen für erneuerbare Energien gestützt.120 Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Förderung von Forschung und Technik, sowie des Technologietransfers im Bereich umweltscho114 Kommission, Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 28 ff.; Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 30 f.; Grünbuch „Versorgungssicherheit“, a. a. O., S. 101. 115 Vgl. Entwurf einer RL für die Besteuerunug von Energieerzeugnissen, KOM (97) 30 endg., ABl. C 139 v. 6. 5. 1997. 116 Kommission, Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 31 ff.; Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 27 ff., insbes. Tz. 55. 117 Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, a. a. O., S. 105. 118 Gemeinschaftsrahmen für staatliche Umweltschutzbeihilfen, ABl. 1994 C 72 / 3. 119 KOM (2000) 279, vgl. dazu Britz, EEG, Rn. 38 ff. 120 So Ruge, Urteilsanm. PreussenElektra, S. 248; ausführlich zur Beihilfeproblematik des EEG Ruge, Das Beihilfemerkmal der staatlichen Zurechenbarkeit in der Rechtsprechung des EuGH am Beispiel des Stromeinspeisungsgesetzes, S. 560 ff.
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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nender Techniken. Hier existieren verschiedene Förderprogramme der Union (JOULE / THERMIE; SAVE / ALTENER, ESPRIT).121 Schließlich hat die Kommission jüngst auch in der umweltbezogenen Energiepolitik den Schwerpunkt auf die Nachfrageseite gelegt. Hier sieht sie starke Defizite, insbesondere bei Maßnahmen zum Stromsparen, und erhebliches Potential für weitere Gemeinschaftsmaßnahmen. 122
2. Drei Stufen der Deregulierung in den 1990er Jahren Die Deregulierung im Energiesektor vollzog sich in drei Stufen. Die erste Stufe (1990 / 91) legte den Grundstein für die Öffnung der Elektrizitätsmärkte. Dies geschah zum einen durch die Einführung des Prinzips der Durchleitung zwischen den Stromverbundunternehmen durch die RL über den Transit von Elektrizitätslieferungen über große Netze123. Nach Art. 1 RL müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um den Elektrizitätstransit zwischen großen Hochspannungsübertragungsnetzen auf ihrem Gebiet unter gewissen Bedingungen zu erleichtern. Verteilungsnetze werden nicht erfaßt und es gibt auch kein Recht auf Abschluß eines Transitvertrages. Die Bedingungen für die abgeschlossenen Verträge sollen nach Art. 3 RL angemessen und nicht diskriminierend sein. Nach Art. 3 III RL üben die Kommission und die Mitgliedstaaten eine Aufsicht über das Aushandeln der Tarifvereinbarungen mittels einer Melde- und Begründungspflicht aus. Zweiter Bestandteil der ersten Phase der Liberalisierung war die Richtlinie zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gas- und Strompreise124. Danach sollen die Gas- und Stromversorgungsunternehmen, die die industriellen Endverbraucher beliefern, dem statistischen Amt der EG und den zuständigen nationalen Behörden die Preise, Verkaufsbedingungen und Preissysteme mitteilen, um dadurch die Verhandlungen zwischen den Verbauchern und den Versorgungsunternehmen zu erleichtern. In der zweiten Phase (1992 – 98) wurden die Richtlinien zur Marktöffnung in den Bereichen Elektrizität und Gas eingeführt. Die Kommission legte 1992 den ersten Vorschlag für eine Deregulierung des Stromsektors vor.125 Die schließlich verabschiedeten Richtlinien126 sehen die grundsätzliche Abschaffung von Exklusiv121 Kommission, Grünbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 31, Tz. 62, S. 40, Tz. 82.; Kommission, Weißbuch „Energiepolitik“, a. a. O., S. 34 f. 122 Kommission, Grünbuch „Versorgungssicherheit“, S. 79 ff. 123 Transit-RL Nr. 90 / 547 v. 29. 10. 1990, ABl. 1990 Nr. L 313 / 30. Jarass, a. a. O., S. 20 ff. 124 Preistransparenz-RL Nr. 90 / 337 vom 29. 6. 1990, ABl. 1990 Nr. L 185 / 16. Jarass, a. a. O., S. 26 f. 125 KOM (91) 548 endg. = ABl. 1992 Nr. C 65 / 4.
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rechten für Stromerzeugung und für den Bau von Kraftwerken und Leitungen vor, verpflichten die Strom- und Gasunternehmen zur getrennten Rechnungsführung von Produktion, Transport und Verteilung („Entflechtung“)127 und ermöglichen Konkurrenten der Netzeigentümer den Zugang zu deren Netzen.128 Die dritte und letzte Phase sollte ursprünglich am 1. 1. 1996 beginnen. Mit ihr soll der Binnenmarkt für Elektrizität vollkommen verwirklicht werden.129 Sie wurde aufgrund von Verzögerungen der zweiten Phase verschoben und durch Art. 26 Strombinnenmarkt-RL auf 2006 festgesetzt. Allerdings kündigte die Kommission Anfang 2001 eine beschleunigte Öffnung der Märkte an, die über die begrenzte schrittweise Öffnung hinausgehen soll.130 Während die Ziele der Versorgungssicherheit und des Umweltschutzes auf Gemeinschaftsebene noch stark ausbaubedürftig und ausbaufähig sind, ist die Verwirklichung des Binnenmarktes durch Marktöffnung als zentrales Anliegen der Energiepolitik bereits gut vorangeschritten. Zwar bestehen weiterhin noch erhebliche Beschränkungen, nicht zuletzt, da die nationalen Märkte nur schrittweise geöffnet werden müssen und einigen Mitgliedstaaten längere Übergangsfristen eingeräumt wurden. Doch nicht zuletzt die Rechtsprechung des EuGH hat erheblich zur Klärung verschiedener Grundfragen bei der Verwirklichung des Binnenmarktes beigetragen.
3. Der Beitrag des EuGH zur Entstehung des Strombinnenmarktes Dem EuGH kommt bei der Deregulierung des Strombinnenmarktes eine bedeutende Rolle zu. Er hat mit verschiedenen Urteilen über die Anwendbarkeit der Art. 28, 31, 81, 82, 86 EG wesentliche Impulse zugunsten einer Öffnung der nationalen Märkte gegeben. Im folgenden werden die Urteile Almelo, Kommission / Niederlande, Kommission / Italien, Kommission / Frankreich, Kommission / Spanien und PreussenElektra untersucht. a) Das Almelo-Urteil In einem Vorabentscheidungsverfahren, das von einem holländischen Schiedsgericht angestrengt wurde, hatte der EuGH die Vorlagefrage zu beantworten, ob ein 126 Strombinnenmarkt-RL 96 / 92 / EG v. 19. 12. 1996, ABl. 1997 Nr. L 27 / 20; Gasbinnenmarkt-RL 98 / 30 / EG v. 22. 6. 1998, ABl. 1998 Nr. L 204 / 1. 127 Für öffentliche Unternehmen ist hierbei auch die Transparenz-RL zu beachten. Vgl. dazu Britz, Staatliche Förderung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen in liberalisierten Märkten, S. 1647 ff. 128 Dazu sogleich unter IV. 129 Gemäß KOM (91) 548, S. 11 und Art. 26 Strombinnenmarkt-RL sollte es neun Jahre nach Inkrafttreten der RL zu weiteren Öffnungsschritten kommen. 130 Dazu unten F.IV.4.b)gg).
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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aufgrund Vertrages bestehendes Einfuhrverbot für Strom gegen die Art. 31, 81 und 82 EG verstößt und inwieweit Ausnahmen von den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Verboten nach Art. 86 II EG zulässig sind. Diese Frage stellte sich in einem Rechtsstreit zwischen lokalen Stromversorgern und einem regionalen Stromversorger über einen Ausgleichszuschlag, den der Regionalversorger den Lokalversorgern in Rechnung gestellt hatte. Die Stromversorgung in Holland war folgendermaßen organisiert: Die vier Erzeuger hatten als Aktionäre eines Gemeinschaftsunternehmens dieses mit der Koordinierung der Stromerzeugung und dessen Weiterverkauf betraut. Aufgrund Vertrages waren die Erzeuger verpflichtet, keinen Strom aus dem Ausland zu importieren oder ins Ausland zu exportieren. Das Gemeinschaftsunternehmen verkaufte seinerseits den Strom an die holländischen Regionalversorger, die diesen an die Lokalversorger weiterverkauften. Die Lokalversorger waren durch Vertrag mit den Regionalversorgern zur ausschließlichen Abnahme des Stroms von den Regionalversorgern verpflichtet. Damit bestand auch für die Lokalversorger ein implizites Einfuhrverbot und sie konnten der Erhebung des Ausgleichszuschlages durch den Regionalversorger nicht durch Einfuhr von Strom ausweichen.131 Der EuGH nahm in seinem Urteil zu Art. 31, 81, 82 und 86 II EG Stellung. Zur Anwendbarkeit des Art. 31 EG führte das Gericht aus, daß es für seine Anwendbarkeit einerseits auf das Vorliegen einer Ware und damit die Einstufung von Strom als Ware, andererseits auf das Vorliegen eines staatlichen Handelsmonopols ankomme. Während der EuGH die Wareneigenschaft von Strom bejahte, verneinte er jedoch das Vorliegen eines staatlichen Handelsmonopols, da die einschlägigen Vertragsklauseln weder ausschließliche Rechte einräumten, noch mit einem Träger öffentlicher Gewalt abgeschlossen worden seien, sondern vielmehr durch privatrechtliche Verträge. Damit fiel der Sachverhalt aus dem Anwendungsbereich des Art. 31 EG heraus.132 Anders fiel die Beurteilung von Art. 81 und 82 EG aus. Hier hatte der EuGH zu beurteilen, ob es sich bei dem dargelegten Sachverhalt um Vereinbarungen zwischen Unternehmen handelte, die den Wettbewerb einschränken und den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Die Vertragsklausel über die ausschließliche Abnahme von Strom stufte der EuGH als derartige Vereinbarung ein, das damit verbundene Einfuhrverbot als Wettbewerbsbeschränkung. Die Erheblichkeit der zwischenstaatlichen Handelsbeeinträchtigung bejahte der EuGH aufgrund der Prüfung des wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhanges und unter Berücksichtigung kumulativer Wirkungen der vertraglichen Bedingungen aller Regionalversorger, deren vertragliche Beziehungen zu anderen Lokalversorgern in gleicher Weise geregelt waren. Damit lag ein Verstoß gegen Art. 81 EG vor. 131 EuGH, Rs. C-393 / 02, Slg. 1994, I-1447 – Almelo. Vgl. zum Sachverhalt ausführlich Schlußantrag GA Darmon, a. a. O., S. 1481 f. Siehe auch Hancher, Urteilsanmerkung, C.M.L.Rev. 1997, 1509 ff. 132 EuGH, Rs. Almelo, a. a. O., S. 1516 f., Rn. 27 – 32.
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D. Die Rolle der EU
Gemäß Art. 82 EG prüfte das Gericht, ob eine mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben vorliegt, die dazu führen kann, den Handels zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Bezüglich der marktbeherrschenden Stellung verwies der EuGH die Frage, ob die verschiedenen Regionalversorger gemeinsam eine marktbeherrschende Stellung aufgrund enger Verbindungen innehätten, an das vorlegende Gericht zurück. Einen Mißbrauch bejahte der EuGH mit dem Vorliegen einer Verpflichtung oder Zusage, den gesamten Bedarf ausschließlich bei einem Unternehmen zu beziehen. Ebenso unproblematisch nahm der EuGH die mögliche zwischenstaatliche Handelsbeeinträchtigung an. Mit diesen Verstößen war jedoch der Fall noch nicht entschieden. Es bot sich für die betroffenen Unternehmen die Möglichkeit einer Rechtfertigung ihres Verhaltens nach Art. 86 II EG. Wie oben dargelegt, müßten die Regionalversorger entsprechend mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut worden sein und die Erfüllung dieser Aufgaben muß durch die Anwendung der Wettbewerbsregeln verhindert werden. Allerdings darf die Beschränkung der Wettbewerbsregeln nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Aufgaben zu erfüllen. Der EuGH stufte die Sicherstellung ununterbrochener Stromversorgung im gesamten Konzessionsgebiet für alle Abnehmer, lokale Versorgungsunternehmen oder Endverbraucher, in den zu jeder Zeit geforderten Mengen zu einheitlichen Tarifen und unter Bedingungen, die nur nach objektiven Kriterien unterschiedlich sein dürfen, d. h. für alle Kunden gelten, als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ein, mit dem der Regionalversorger aufgrund einer staatlichen Konzession betraut wurde.133 Die Entscheidung über die Erforderlichkeit überließ der EuGH wiederum dem vorlegenden Gericht zur Entscheidung. Ausschließlich um Art. 31 und 86 II EG ging es in vier verbundenen Rechtssachen vor dem EuGH aus dem Jahr 1997, in denen die Kommission Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 266 EG gegen die Niederlande, Italien, Frankreich und Spanien wegen ausschließlicher Einfuhr- und Ausfuhrrechte von Gas und Strom angestrengt hatte.134
133 EuGH, Rs. Almelo, a. a. O., S. 1520 f., Rn. 47 f. So später auch in EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5779, Rn. 41. 134 EuGH, Rs. C-157 / 94, Kommission / Niederlande, Rs. C-158 / 94, Kommission / Italien, Rs. 159 / 94, Kommission / Frankreich, Rs. 160 / 94, Kommission / Spanien, Slg. 1997, I-5699. Vgl. zu allen vier Fällen Cameron, European Communities and EEA, Towards an Internal Market in Energy, S. 479 ff.
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
109
b) Kommission / Niederlande In dem Verfahren wendete sich die Kommission gegen das bereits im Fall Almelo beschriebene ausschließliche Ein- und Ausfuhrrecht für Strom, das seit 1989 für Strom mit einer Spannung von mehr als 500 Volt gesetzlich festgelegt und durch Verordnung dem erwähnten Gemeinschaftsunternehmen SEP übertragen wurde. Weiterhin verbietet das Elektrizitätsgesetz die Lieferung von nicht durch das Gemeinschaftsunternehmen eingeführten Strom an Dritte. Lediglich Endverbraucher, nicht aber Regional- und Lokalversorger, dürfen für ihren Eigenbedarf Strom einführen. Der EuGH entschied hier, daß ein Verstoß gegen Art. 31 I EG vorlag. Zwar dürfe an Endverbraucher geliefert werden, damit werde aber lediglich die Einfuhr an bestimmte Gruppen zugelassen, während etwa an regionale oder lokale EVUs nicht geliefert werden dürfe. Dies diskriminiere ausländische Stromexporteure gegenüber dem holländischen Gemeinschaftsunternehmen SEP. Das Diskriminierungsverbot gelte nämlich nicht nur, wenn sämtliche Einfuhren, sondern bereits dann, wenn ein Bruchteil erfaßt werde, der es dem Monopol erlaube, die Einfuhren merklich zu beeinflussen.135 Schließlich stellte der EuGH fest, daß bereits die Innehabung eines ausschließlichen Einfuhrrechts und nicht erst die diskriminierende Ausübung von ausschließlichen Rechten nach Art. 31 EG verboten sei, da die ausschließlichen Rechte den Wirtschaftsteilnehmern der anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeiten nehmen, ihre Erzeugnisse den Verbauchern ihrer Wahl in dem betroffenen Mitgliedstaat anzubieten.136 Damit liegt ein Verstoß gegen Art. 31 EG vor. Der EuGH prüfte im Weiteren, ob ein Verstoß gegen Art. 31 I EG durch Art. 86 II gerechtfertigt werden könne und ob dies im vorliegenden Streit tatsächlich der Fall sei. Der EuGH entschied, daß sich Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Ausnahmen von Vertragsregeln, auch von Art. 31 EG, auf Art. 86 II EG berufen können.137 Er verwarf auf dieser Grundlage die Vertragsverletzungsvorwürfe der Kommission, in erster Linie mangels Vortragen tatsächlicher Gesichtspunkte durch die Kommission, die eine andere Beurteilung erlaubt hätten. Entsprechend Art. 86 II EG ist eine Rechtfertigung nur dann möglich, wenn die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert würde und dabei die Einschränkungen der allgemeinen Vertragsregeln zur Erfüllung der Aufgabe erforderlich sind. Dazu muß die Erfüllung entgegen früherer Rechtsprechung nicht unmöglich gemacht werden. Der Tatbestand ist nicht erst dann erfüllt, wenn das finanzielle Gleichgewicht oder das wirtschaftliche Überleben des mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmen bedroht ist. Vielmehr genügt es, wenn ohne die streitigen Rechte die Erfüllung der 135 136 137
EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5774, Rn. 17 f. EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5775, Rn. 21, 23. EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5777, Rn. 27 – 32.
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D. Die Rolle der EU
dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben gefährdet wäre, wie sie sich aus den ihm obliegenden Verpflichtungen und Beschränkungen ergeben.138 Die holländische Regierung hat hier detaillierte Angaben gemacht. Die Beweislast geht jedoch nicht so weit, daß die Regierung positiv belegen müßte, daß keine andere vorstellbare, der Natur der Sache nach hypothetische Maßnahme es erlaubte, die Erfüllung dieser Aufgabe unter solchen Bedingungen sicherzustellen.139 Einen derartigen hinreichend konkreten Nachweis konnte auch die Kommission nicht erbringen. Ebensowenig konnte sie eine Beeinträchtigung der Entwicklung des zwischenstaatlichen Handels nachweisen und damit wies der EuGH die Klage ab.140
c) Kommission / Italien Gleichzeitig mit der Vertragsverletzungsklage gegen die Niederlande erhob die Kommission Vertragsverletzungsklage gegen Italien. Auch hier ging es um ausschließliche Ein- und Ausfuhrrechte für Strom. Diese bestanden seit der Verstaatlichung des Stromsektors 1962 und einem Dekret aus dem Jahr 1965. Das Verstaatlichungsgesetz von 1962 übertrug dem neu geschaffenen Monopolisten ENEL die Aufgabe, im Staatsgebiet Elektrizität zu erzeugen, einzuführen und auszuführen, sowie unabhängig von ihrer Herkunft fortzuleiten, zu transformieren, abzugeben und zu verkaufen. Nach dem Dekret von 1965 ist es allen Unternehmen mit Ausnahme von ENEL verboten, Einfuhren, Ausfuhren und Austausch von Strom vorzunehmen sowie diese für Rechnung von Dritten fortzuleiten. Die Kommission rügte auch hier einen Verstoß gegen Art. 28, 29 und 31 EG. Als lex specialis prüfte der EuGH zunächst Art. 31 EG. Dazu untersuchte er wiederum, ob es sich bei Strom um eine Ware handele und bejahte dies ebenfalls.141 Mit derselben Begründung wie zuvor bejaht der EuGH eine Verletzung des Art. 31 EG durch bloßes Vorliegen eines ausschließlichen Ein- und Ausfuhrrechts. Dabei weist der EuGH ausdrücklich darauf hin, daß dies lediglich bei Waren so ist, während das bloße Vorliegen von Dienstleistungsmonopolen an sich noch keine Vertragswidrigkeit darstellte.142 Da die Spezialregelung des Art. 31 EG einschlägig ist, prüfte der EuGH die Art. 28 und 29 sowie die Rechtfertigung nach Art. 30 EG nicht. Statt dessen wendete er sich wiederum der Frage zu, ob die Vertragsverletzung nach Art. 31 EG durch Art. 86 II EG gerechtfertigt werden kann. Mit identischen Erwägungen wie im Urteil Kommission / Niederlande bejahte der EuGH die EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5782, Rn. 52. EuGH, Kommission / Niederlande, a. a. O., S. 5784, Rn. 58. 140 Vgl. zum Ganzen auch Cameron, European Communities and EEA, Towards an Internal Market in Energy, S. 581 ff.; Ehricke, Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV; Lecheler, Urteilsanm. Kommission / Frankreich, S. 83 ff.; Litpher, Urteilsanm., Kommission / Frankreich, S. 72 ff. 141 EuGH, Kommission / Italien, a. a. O., S. 5798 f., Rn. 14 – 18. 142 EuGH, Kommission / Italien, a. a. O., S. 5803, Rn. 30. 138 139
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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Möglichkeit der Rechtfertigung der Verletzung des Art. 31 EG durch den Art. 86 II EG.143 Ebenfalls mit ähnlichen Erwägungen wurde die mögliche Rechtfertigung des Ein- und Ausfuhrmonopols für ENEL akzeptiert, vor allem mangels Vortragens tatsächlicher Gesichtspunkte seitens der Kommission.144 Folglich wies der Gerichtshof auch diese Klage ab.145
d) Kommission / Frankreich Gleichzeitig mit den beiden vorigen Klagen hat die Kommission auch die Klage gegen Frankreich wegen Vertragsverletzung nach Art. 226 EG eingereicht. In diesem Verfahren ging es ebenfalls um ausschließliche Ein- und Ausfuhrrechte, allerdings nicht nur für Strom, sondern auch für Gas. Daneben unterschied sich die Art der Betrauung mit den ausschließlichen Rechten von den vorherigen beiden Fällen. Zwar wurde die Erzeugung, die Fortleitung, die Abgabe, die Einfuhr und die Ausfuhr von Strom und Gas 1946 durch Gesetz verstaatlicht und der Electricité de France (EDF) und der Gas de France (GDF) übertragen. Die Ausschließlichkeit für Ein- und Ausfuhr ergibt sich jedoch beim Gas nicht aus diesem Gesetz, sondern aus einer 1958 für 75 Jahre geschlossenen Konzessionsvereinbarung. Die Kommission hatte die bestehenden ausschließlichen Ein- und Ausfuhrrechte als Verletzung von Art. 28, 29, 31 EG angegriffen. Mit identischen Erwägungen wie in Kommission / Niederlande und Kommission / Italien stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 31 EG fest und sah aufgrund der Spezialität der Regelung von einer Prüfung der Art. 28, 29 und 30 EG ab. Ebenso wie in den vorgenannten Urteilen prüfte und bejahte der EuGH die grundsätzliche Möglichkeit, Einschränkungen von Vertragsregeln, insbesondere Art. 31 EG, durch Art. 86 II EG zu rechtfertigen. Abweichend von den vorangegangenen beiden Urteilen nahm der EuGH ausführlich zur Frage Stellung, in Bezug auf welche Verpflichtungen bzw. besonderen Aufgaben grundsätzlich und im besonderen die Erforderlichkeit der Beibehaltung der ausschließlichen Ein- und Ausfuhrrechte zu erörtern ist.146 Frankreich hatte geltend gemacht, die ausschließlichen Rechte seien erforderlich, um die Erfüllung von drei besonderen Aufgaben nicht zu gefährden. Erstens wies Frankreich auf die Verpflichtung öffentlicher Versorgungsunternehmen hin, alle Kunden im gesamten Staatsgebiet (EDF) bzw. in den Versorgungsgebieten (GDF) zu beliefern, die ununterbrochene Versorgung sicherzustellen, die wettbewerbsfähigsten Tarife und die geringsten Kosten für die Allgemeinheit zu suchen und die Gleichbehandlung der Kunden zu beachten.147 Zweitens und drittens ist es Aufgabe der EDF und GDF, EuGH, Kommission / Italien, a. a. O., S. 5804 ff., Rn. 35 – 43. EuGH, Kommission / Italien, a. a. O., S. 5807 ff., Rn. 45 ff. 145 Vgl. zum Ganzen Cameron, European Communities and EEA, Towards an Internal Market in Energy, S. 584 f. Ehricke, Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV. 146 EuGH, Kommission / Frankreich, a. a. O., S. 5833 ff., Rn. 51 – 89. 147 EuGH, Kommission / Frankreich, a. a. O., S. 5835, Rn. 60 f. 143 144
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D. Die Rolle der EU
zur nationalen Umwelt- und Raumordnungspolitik beizutragen. Die Kommission machte nun geltend, zur Auferlegung besonderer Aufgaben sei eine Betrauung durch Rechtsvorschriften nötig. Darüberhinaus könnten die Umwelt- und Raumordnungsverpflichtungen nicht Teil der besonderen Aufgaben der EDF und GDF sein, da sie recht allgemein alle Wirtschaftsteilnehmer träfen.148 Der EuGH urteilte, daß die Betrauung nicht durch Rechtsvorschrift erfolgen müsse, sondern auch durch Konzessionen vorgenommen werden könne. Derartigen Konzessionen könne man die genannten Verpflichtungen der Versorgungsunternehmen mit Ausnahme der beiden von Frankreich vorgetragenen Verpflichtungen zur Suche des wettbewerbsfähigsten Tarifs und der geringsten Kosten für die Allgemeinheit entnehmen. Hinsichtlich der Umwelt- und Raumordnungspolitik urteilte der EuGH, daß Verpflichtungen eines mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmens nur dann Teil der besonderen Aufgabe sein könnten, mit der es betraut ist, wenn sie mit dem Ziel der jeweiligen Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse in Zusammenhang stehen und unmittelbar zur Befriedigung dieses Interesses beitragen sollten. Dies sei grundsätzlich für Umwelt- und Raumordnungspolitik nicht der Fall, soweit es sich nicht um Verpflichtungen handelt, die für diese Unternehmen und ihre Tätigkeit spezifisch sind.149 Entsprechend maß der EuGH die Erforderlichkeit der Beibehaltung der ausschließlichen Ein- und Ausfuhrrechte der EDF und der GDF nur an denjenigen Verpflichtungen, welche Frankreich nachgewiesen hatte, nämlich die Verpflichtung zur Lieferung, zur Versorgung und zur Gleichbehandlung der Kunden.150 Mit beinahe identischen Hinweisen wie im Urteil Kommission / Niederlande und Kommission / Italien kam der EuGH auch hier zu dem Ergebnis, daß insbesondere mangels Vortrag tatsächlicher Gesichtspunkte seitens der Kommission, die einer ausführlichen Darlegung Frankreichs über die bei Abschaffung der Ausschließlichkeitsrechte drohenden Gefahren gegenüberstanden, die Klage abzuweisen war.151
e) Kommission / Spanien Schließlich hatte die Kommission gleichzeitig mit den drei anderen Klagen auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Spanien eingeleitet. Sie machte geltend, daß Spanien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 28, 29 und 31 EG und Art. 48 der Akte über die Bedingungen des Beitritts Spaniens und Portugals verstoßen hätten, indem Spanien ausschließliche Ein- und Ausfuhrrechte für Strom beibehalten hätte. Nach spanischem Recht ist seit 1984 der einheitliche Betrieb der HochspanEuGH, Kommission / Frankreich, a. a. O., S. 5836, Rn. 63 f. EuGH, Kommission / Frankreich, a. a. O., S. 5837, Rn. 68 f. 150 EuGH, Kommission / Frankreich, a. a. O., S. 5841, Rn. 89. 151 Vgl. zum Ganzen Cameron, European Communities and EEA, Towards an Internal Market in Energy, S. 585 ff. Ehricke, Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV; Lecheler, Urteilsanm., a. a. O.; Litpher, Urteilsanm., a. a. O. 148 149
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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nungsnetze öffentliche Leistung des Staates, die dem Staatsunternehmen Redesa 1985 übertragen wurde. Nach dem spanischen Betriebsgesetz fällt es unter diese öffentlichen Leistungen, den Betrieb und die Unterhaltung aller Einrichtungen internationaler Verbindungen sicherzustellen sowie internationale Austauschvorgänge vorzunehmen, anderen Unternehmen zuzuweisen und zu überwachen. Nach der Beitrittsakte wird ausdrücklich Art. 31 EG für anwendbar erklärt und vorgeschrieben, daß die Umformungsprozesse ab 1986 beginnen und bis Ende 1991 abgeschlossen werden müssen. Ausschließliche Ausfuhrrechte sollten bis Anfang 1986 beseitigt werden, dies galt nicht für Strom. Spanien trug vor, daß das spanische Gesetz gerade keine ausschließlichen Ein- und Ausfuhrrechte einrichte, sondern lediglich für die Koordinierung der Tätigkeiten mannigfacher Versorgungsunternehmen geschaffen worden sei, von denen niemand an Ein- und Ausfuhren über die Hochspannungsnetze der Redesa gehindert sei. Da der Kommission der Nachweis des Gegenteils und damit der von ihr vorgetragenen Vertragverletzung nicht gelungen ist, wies der EuGH ohne weitere rechtliche Ausführungen die Klage ab.152
f) PreussenElektra Weiterhin nahm der EuGH im Urteil PreussenElektra neben der Frage, ob das deutsche Stromeinspeisungsgesetz mit seiner Abnahme- und Vergütungsverpflichtung für Regionalversorger eine Beihilfe i. S. d. Art. 87 EG darstellt,153 zur Frage Stellung, inwieweit der Binnenmarkt für Strom, der unter die Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EG fällt, durch staatliche Maßnahmen zugunsten des Umweltschutzes beschränkt werden darf. Der EuGH geht dabei davon aus, daß das StrEG grundsätzlich den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, rechtfertigt jedoch das Gesetz aufgrund seiner Zielbestimmung des Umweltschutzes und des Schutzes von Gesundheit und Leben von Tieren, Menschen und Pflanzen.154 Damit war das Stromeinspeisungsgesetz mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar und verstieß nicht gegen Art. 28 EG. g) Bewertung der Urteile Auch wenn der EuGH in keinem der Fälle zu dem Ergebnis kam, daß die Ein- und Ausfuhrmonopole, soweit sie als vorliegend anerkannt wurden, aufzuheben sind und damit insbesondere die Kommission deutlich in die Schranken wies, hat der 152 Vgl. zum Ganzen Cameron, European Communities and EEA, Towards an Internal Market in Energy, S. 588 f. 153 EuGH, Rs. C-378 / 98, Slg. 2001, I-2099 – PreussenElektra. Dazu ausführlich Ruge, Das Beihilfemerkmal der staatlichen Zurechenbarkeit in der Rechtsprechung des EuGH am Beispiel des Stromeinspeisungsgesetzes, S. 560 ff. 154 Vgl. Ruge, Urteilsanm. PreussenElektra, S. 248.
8 Ruge
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D. Die Rolle der EU
EuGH doch auf verschiedene Art und Weise zur Förderung des Binnenmarktes beigetragen, vor allem in Bezug auf staatliche Handelsmonopole, zu denen verschiedene Aspekte der nationalen Stromversorgungssysteme nach wie vor zu zählen sind. Zunächst hat der EuGH mit verschiedenen Argumenten Strom als Ware eingestuft und damit grundsätzlich den Vorschriften über den Binnenmarkt, insbesondere auch der Warenverkehrsfreiheit unterworfen. Daraus folgte auch, die bereits zuvor schon in Costa / ENEL vorgenommene Anwendung des Art. 31 EG, die hier nun auf verschiedene Art und Weise begründet wurde. Damit nähert sich die EU zumindest rechtlich der Verwirklichung des Binnenmarktes im Strombereich. Hinsichtlich des Art. 31 EG ist deutlich geworden, daß bereits die bloße Existenz von Ein- und Ausfuhrmonopolen für Strom die nationalen Märkte gegeneinander abschotten und damit durch Diskriminierung in- und ausländischer Erzeuger bzw. Abnehmer gegen Art. 31 EG verstößt. Damit nimmt der EuGH eine wesentlich dezidiertere Position ein, als er das in seiner bisherigen Rechtsprechung getan hat, in der er häufig von einer Anwendung des Art. 31 EG zugunsten des Art. 28 EG Abstand genommen hat.155 Neu ist ebenfalls, die eindeutige Anwendung des Art. 86 II EG als mögliche Rechtfertigung für Verstöße gegen Art. 31 EG. Art. 86 II EG wurde auf Art. 31 EG erstmalig angewendet, was offensichtlich auch die Kommission überraschte, da sie gerade hier nach Ansicht des EuGH regelmäßig zu dürftig argumentiert hatte. Die gemeinsame Anwendung von Art. 31 und 86 II EG auf staatliche Monopole sorgt auch für eine Klärung der Frage nach dem Regel / Ausnahme-Verhältnis hinsichtlich der Zulässigkeit der Monopole. Während zuvor unklar war, ob Monopole grundsätzlich erlaubt sind, solange sie nicht gegen das Gemeinschaftsinteresse verstoßen, ist jetzt deutlich geworden, daß staatliche Monopole vertragswidrig sind, es sei denn der Mitgliedstaat bzw. das Unternehmen weist nach, daß sie mit EU-Recht vereinbar sind. Damit wird auch die wichtige Frage der Beweislast geklärt. Es ist grundsätzlich der Mitgliedstaat bzw. das Unternehmen, das nachweisen muß, daß seine ausschließlichen Rechte erforderlich sind und damit nicht dem EU-Recht widersprechen. Gleichzeitig legt der EuGH Grenzen fest, die für die Beweislast gelten. So muß der Mitgliedstaat nicht auf jede mögliche Alternative zu seinem System eingehen. Schließlich hat der EuGH im Urteil Kommission / Frankreich festgestellt, daß nur solche Verpflichtungen eines mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmens Teil der besonderen Aufgabe sein können, mit der es betraut ist, wenn sie mit dem Ziel der jeweiligen Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse in Zusammenhang stehen und unmittelbar zur Befriedigung dieses Interesses beitragen sollten. Damit kann einem Ausufern der Ausnahmevorschrift entgegengewirkt werden.
155
So etwa in EuGH, Rs. C-189 / 95, Franzen, Slg. I-5909 ff.
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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Aus dem Urteil PreussenElektra lassen sich Schlußfolgerungen zur Einschränkbarkeit des Strom-Binnenmarktes ableiten. Mit diesem Urteil erkannte der EuGH an, daß eine Einschränkung des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten aus Gründen des Umweltschutzes zulässig sein kann. Daneben scheint der EuGH die von der Literatur traditionell durchgeführte strikte Trennung zwischen den Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EG einerseits, die nur bei diskriminierenden Maßnahmen anwendbar sind und zu denen der Umweltschutz nicht zählt, und den Rechtfertigungsgründen der „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“, zu denen der Umweltschutz zählt, aufgegeben zu haben, da er im vorliegenden Fall den Umweltschutz und den in Art. 30 EG geregelten Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen unterschiedslos nebeneinander anwendet und dies auf eine Regelung, die als diskriminierend einzustufen ist, da sie zwischen deutschen und nichtdeutschen Erzeugern unterscheidet.156 Neben diesen konkreten rechtlichen Folgen der Urteile läßt sich auch eine politische Auswirkung feststellen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die Mitgliedstaaten nach jahrelangem Zögern und Blockieren nach Einreichung der Klage in den Fällen b, c, d und e wieder Verhandlungen über die Errichtung des Binnenmarktes aufnahmen und schließlich die Strom-Binnenmarktrichtlinie 1996 verabschiedeten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Furcht vor einer negativen Entscheidung des EuGH einige Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich, dazu veranlaßte, lieber eine gemeinsame Position zu verabschieden. Diese gemeinsame Position der Mitgliedstaaten bestand in der schrittweisen Deregulierung der EU-Strommärtkte durch die EG-Richtlinie für den Elektrizitätsbinnenmarkt.157
4. Das Rechtsregime im Stromsektor nach der Deregulierung Die entscheidende Maßnahme zur Öffnung der europäischen Strommärkte war die Verabschiedung der Strombinnenmarktrichtlinie 1996. Dabei war lange Zeit umstritten, auf welcher Kompetenz eine derartige Richtlinie beruhen sollte. Nach dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung, das sich aus Art. 5 S. 1 und 7 I S. 2 EG ergibt, bedürfen die Gemeinschaften für jeden Rechtsakt einer ausdrücklichen oder mindestens auslegungsmäßig nachweisbaren Rechtsgrundlage. Sie dürfen daher weder in Bereichen Recht setzen, die in den Verträgen nicht geregelt bzw. ausgeschlossen sind, noch dürfen sie über die in den Verträgen einzeln aufgeführten Kompetenzen hinausgehen, indem sie andere als die für den speziellen Fall vorgesehenen Rechtshandlungen erlassen.158 Die Kommission hat die Strombinnenmarkt-RL auf Art. 95 EG zur Rechtsangleichung zwecks Verwirklichung des Binnenmarktes und auf So schon Ruge, Urteilsanm. PreussenElektra, S. 248. RL 96 / 92 / EG v. 19. 12. 1996, ABl. Nr. L 27 / 20 v. 30. 1. 1997. 158 Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 146 ff.; Oppermann, Europarecht, S. 197 ff.; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 255 f.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, § 3 D, Rn. 335. 156 157
8*
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D. Die Rolle der EU
Art. 47 II und 55 EG zur Erleichterung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gestützt. Dieses ist bereits im Vorfeld kritisiert worden, da Rechtsangleichung i. S. d. Art. 95 EG keine allgemeine Rechtsschöpfungskompetenz enthalte. Vielmehr setze Rechtsangleichung voraus, daß die materielle Zielrichtung nationaler Normen gewahrt wird, jedenfalls nicht in ihr Gegenteil verkehrt werde.159 Allerdings ist auch den Kritikern der gewählten Rechtsgrundlage klar, daß die EU ihr Vorhaben auf jeden Fall hätte verwirklichen können.160 So kündigte die Kommission im Vorfeld der Verabschiedung der Richtlinie an, daß sie bei Stocken der Verhandlung auf die Rechtsgrundlage des Art. 86 III EG zurückgreifen werde161, der ihr eine ausschließliche Kompetenz ohne Einflußmöglichkeiten von Rat und Parlament einräumt. Diesen Weg war die Kommission im Fall der Telekom-Liberalisierung gegangen und hatte bei Klagen vor dem EuGH, die Frankreich, Spanien, Belgien und Italien angestrengt hatten, Recht erhalten.162 Der zweite Weg, der die EU zum Erfolg geführt hätte, wäre die Vertragsergänzungsklausel des Art. 308 EG gewesen, der der EU faktisch eine Kompetenz-Kompetenz einräumt.163 Die wesentlichen Regeln der Stromwirtschaft finden sich in der genannten Richtlinie, in den Transit- und Preistransparenz-Richtlinien sowie der Richtlinie über die Mindestbevorratung. Daneben finden sich Kommissionsvorschläge zum Stromsektor in der RL über Erneuerbare Energien und Besteuerung von Energien.
a) Zwei Kategorien rechtlicher Regeln im Stromsektor: Wettbewerbsfördernde und gemeinwirtschaftliche Regeln Bereits oben wurde bei der Darstellung der EU-Energiepolitik eine Unterteilung in zwei Politikbereiche vorgenommen: Der wettbewerbsfördernde einerseits und der gemeinwirtschaftlich orientierte andererseits. Diese Unterscheidung im Bereich der Energiepolitik, läßt sich auch auf die bestehenden und vorgeschlagenen Rechtsvorschriften des Stromsektors übertragen. Für eine derartige Kategorisierung der bestehenden Regeln spricht vor allem die Möglichkeit, dadurch mehr Klarheit über konfligierende Interessen im Rahmen der Energie- bzw. Strompolitik zu erzielen. Zwar betont die Kommission im Rahmen ihrer Energiepolitik regelmäßig, 159 Steinberg / Britz, Die Energiepolitik im Spannungsfeld nationaler und europäischer Regelungskompetenzen, S. 315 ff. 160 Steinberg / Britz, a. a. O., S. 322. 161 Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft in der EU, S. 32, Fn. 102. 162 Vgl. Ehlermann, EG-Binnenmarkt für die Energiewirtschaft, S. 690; EuGH, Rs. 202 / 88, Frankreich / Kommission, Slg. 1991, I-1223; Rs. C-271, 281, 289, Spanien, Belgien, Italien / Kommission, Slg. 1992, I-5833. A.A. Steinberg / Britz, a. a. O., S. 313. 163 Vgl. Steinberg / Britz, a. a. O., S. 318, 322. Allerdings hat der EuGH bei elementaren, von erheblicher politischer Bedeutung getragenen Vorhaben, die Anwendbarkeit von Art. 308 EG abgelehnt und auf die Vertragsänderung verwiesen. EuGH, Gutachten nach Art. 228 VI EGV, 2 / 94, v. 28. 3. 1996, Slg. 1996, I-1759, 1783, Rn. 31 ff.
IV. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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daß die Grundsätze der Energiepolitik – Wettbewerb, Versorgungssicherheit und Umweltschutz – einander ergänzen und sich nicht widersprechen. Trotzdem sind gerade die im Folgenden als gemeinwirtschaftlich eingestuften Regelungen Ausnahmen oder Einschränkungen des Wettbewerbs und geraten damit zunächst einmal mit dem Ziel der Verwirklichung des Wettbewerbs in Konflikt. Es ist selbstverständlich Aufgabe einer Energiepolitik, diese bestehenden Konflikte zu lösen. Hilfreich hierbei ist jedoch nicht, von vornherein die Konflikte zu verschweigen, sondern vielmehr die Offenlegung dieser potentiellen Bruchstellen. Zu diesem Bestreben erscheint es zweckmäßig, parallel zu den politischen Zielen, auch die rechtlichen Regeln den beiden Kategorien wettbewerbsfördernd und gemeinwirtschaftlich zuzuordnen. Dabei ist zu beachten, daß sich sowohl wettbewerbsfördernde als auch gemeinwirtschaftliche Regelungen innerhalb einer Richtlinie finden lassen, d. h. Richtlinien sind nicht notwendigerweise als ganze der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen.
b) Wettbewerbsfördernde Regelungen Seit dem Erscheinen des Kommissionsdokuments zum Energiebinnenmarkt 1988 ist das erklärte Ziel aller Maßnahmen im Stromsektor, einen Binnenmarkt für Energie herzustellen, d. h. nach Art. 14 II EG einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist.164 Wie bereits dargelegt dient die Vollendung des Binnenmarktes der Einführung und Förderung von Wettbewerb. Erste legislative Schritte auf diesem Weg wurden bereits 1990 mit der Preistransparenz-RL und der Transit-RL unternommen, die die wesentlichen Vorschriften über die Deregulierung der Strommärkte sind in der Strombinnenmarkt-RL enthalten.
aa) Datenerhebung für weitere Deregulierungsschritte: Preistransparenz-RL Um die Verhandlungen zwischen industriellen Endverbrauchern und den Versorgungsunternehmen europaweit zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, daß Verkaufspreise und -bedingungen sowie die geltenden Preissysteme mitgeteilt werden. Darüberhinaus muß die Verteilung der Verbraucher auf verschiedene Verbrauchskategorien, die sich nach der Größe des Verbrauchs richten, mitgeteilt werden. Diese Pflicht hat insbesondere Bezug zu den in der Strombinnenmarkt-RL getroffenen Regelungen über die Marktöffnungsquoten 164 Vgl. Binnenmarkt für Energie, KOM (88) 238 endg.; Preistransparenz-RL, a. a. O., Erwägungsgrund 1; Transit-RL, a. a. O., Erwägungsgrund 1, Strombinnenmarkt-RL, a. a. O., Erwägungsgründe 1 – 3.
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D. Die Rolle der EU
für bestimmte Verbrauchergruppen, den sog. zugelassenen Kunden („eligible customers“), da auch diese Kategorie von der Größe des Verbrauchs abhängt (Vgl. Art. 19 Strombinnenmarkt-RL).165
bb) Interoperabilität nationaler Netze durch Interkonnektoren: Transit-RL Mit der Transit-RL versuchte die EU, eine bessere Integration des europäischen Energiemarktes über verstärkten Austausch von Stromlieferungen über Hochspannungsnetze zur Stärkung des Wettbewerbs und der Versorgungssicherheit zu erreichen. Die Richtlinie schloß Verteilungsnetze nicht ein. Zwar sind die Übertragungsnetzbetreiber zu Verhandlungen über den Stromaustausch über ihre Netze verpflichtet und die Transitbedingungen müssen nichtdiskriminierend und angemessen sein (Art. 3 II RL), jedoch besteht letztlich keine Pflicht zum Abschluß von Transitverträgen, lediglich eine Begründungspflicht bei Ausbleiben einer Einigung und die Einrichtung einer Schlichtungsstelle bei der EU ist vorgesehen.166 Die Verbindungsstellen zwischen den nationalen Übertragungsnetzen, über die der Stromaustausch zwischen den nationalen Netzen erfolgt, bezeichnet man als Interkonnektoren. Bis zum Beginn der Liberalisierung bestanden diese Verbindungen mit dem primären Zweck eines Garantiemechanismus für Reserven als Beitrag zur nationalen Versorgungssicherheit. Durch die Transit-RL sollte ihre Funktion dahingehend verändert werden, daß sie als Herzstück des grenzüberschreitenden Stromhandels und als wesentlicher Bestandteil transeuropäischer Netze angesehen werden, der als Rückgrat eines Strombinnenmarktes eingestuft wird. Entsprechend dieser sich wandelnden Funktion der Interkonnektoren beabsichtigt auch die Kommission ihr Augenmerk verstärkt auf deren Funktion und gegenwärtigen Gebrauch zu richten.167 Damit rücken weitere Maßnahmen, die auf der Transit-RL fußen, in den Bereich künftiger möglicher Regelungen.
cc) Leitungsverbindung Erzeuger / Kunde als zentrale Wettbewerbsbedingung Entscheidende Bedingung für den Handel mit Strom ist das Vorhandensein von Leitungen, über die Spannungen geleitet werden können. Anders als andere Güter ist Strom auf diesen einen Transportweg beschränkt. Da Strom also leitungsgebunden ist, kann er nur auf diesem Weg vom Erzeuger zum Kunden gelangen. Wett165 166 167
RL 90 / 377 / EWG, a. a. O.; Jarass, a. a. O., S. 26. RL 90 / 547 / EWG, a. a. O.; Jarass, a. a. O., S. 20 ff. So Albers, Energy Liberalization and EC Competition Law, S. 935 ff.
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bewerb um Kunden durch neue Wettbewerber erfordert also entweder den Bau neuer Leitungen oder die Benutzung bereits bestehender Leitungen. Da die bestehenden Leitungen bereits im Eigentum anderer Unternehmen stehen spricht man bei der Benutzung dieser Leitung durch Konkurrenten vom Netzzugang Dritter. Die EU hat bei ihren Deregulierungsbemühungen diese zentrale Bedeutung der Leitungsnutzung für den Wettbewerb erkannt und in ihrer Strombinnenmarkt-RL entsprechende Regelungen getroffen. Zunächst bietet sich nach Art. 21 RL einem Konkurrenten die Möglichkeit, seine Kunden über Direktleitungen mit Strom zu versorgen. Direktleitungen sind nach Art. 2 Nr. 12 RL zusätzliche zum Verbundnetz errichtete Leitungen. Mit dem Bau einer derartigen Direktleitung ist die notwendige Verbindung zwischen Erzeuger und Kunde hergestellt. Netzbetreibern bestehender Leitungen ist jede Möglichkeit genommen, durch die Bevorzugung eigener Erzeugungskapazitäten den Konkurrenten zu diskriminieren. Allerdings weist dieser Weg verschiedene erhebliche Nachteile auf, die dazu führen, daß der Bau paralleler Direktleitungen eher der Ausnahmefall bleiben wird. Wie bereits oben im Abschnitt über die volkswirtschaftlichen Grundlagen dargestellt, ist der Bau von Leitungen sehr teuer und stellt einen Fall der versunkenen Kosten dar, die den Marktzutritt quasi als natürliche Schranke erschweren. Im Bereich der deshalb als natürliche Monopole bezeichneten Netzwerkindustrien ist der parallele Leitungsbau insofern i.d.R. höchst unrentabel.168 Neben dem Kostenargument gibt es noch die Argumente des unerwünschten Landschaftsverbrauches sowie der Bereitung von Verkehrshindernissen durch Bau und Instandhaltung zahlreicher Netzwerke.169 Den Mitgliedstaaten räumt Art. 21 RL trotz der grundsätzlichen Pflicht zur Ermöglichung des Baus von Direktleitungen erheblichen Spielraum hinsichtlich der nationalen Umsetzung ein. Insbesondere kann nach Art. 21 IV RL die Genehmigung von der Verweigerung der Durchleitung über fremde Netze abhängig gemacht werden und damit eine Subsidiarität170 des Baus von Direktleitungen festgeschrieben werden. Als kostengünstige und landschaftsschonende Alternative zum Bau eigener Leitungen bietet sich die Benutzung fremder Leitungen an. Die Strombinnenmarkt-RL sieht hier zwei Modelle vor, an die die Mitgliedstaaten ihre Systeme anpassen müssen. Zum einen ist in Art. 17 RL der verhandelte oder geregelte Netzzugang Dritter (v / gNZD), zum anderen in Art. 18 RL das Alleinabnehmersystem (AAS) niedergelegt.171 Nach dem System des vNZD schließen Erzeuger und zugelassene Kunden einen Stromlieferungsvertrag und verhandeln mit dem Netzbetreiber die Bedingungen der Netznutzung aus. Dieser muß 168 Vgl. nur Britz, Öffnung der Europäischen Strommärkte durch die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie?, S. 85. 169 Vgl. Britz, a. a. O., S. 90. 170 Britz, a. a. O., S. 90. 171 Vgl. Briche, Die Elektrizitätswirtschaft der EU, S. 63 ff.; Britz, a. a. O., S. 89 f.; Hancher, The New Rules for the Community Electricity Market, S. 218 f.; Lewington, Economic Regulation of Utilities and Network Industries Worldwide, S. 12 ff.
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D. Die Rolle der EU
den Zugang in der Regel gestatten, was sich e contrario aus Art. 17 V RL ergibt, in dem die Fälle möglicher Zugangsverweigerung geregelt sind. Beim gNZD nach Art. 17 IV RL wird den zugelassenen Kunden auf der Grundlage veröffentlichter Nutzungstarife ein generelles Netzzugangsrecht eingeräumt. Allerdings kann auch hier insbesondere aufgrund von Kapazitätsengpässen der Zugang nach Art. 17 V RL verweigert werden. Anders funktioniert das AAS, das auf Betreiben Frankreichs in die RL aufgenommen wurde, um allzu große Umstellungen des französischen Systems vermeiden zu können. Nach Art. 2 Nr. 22 RL ist ein Alleinabnehmer eine juristische Person, die in dem System, in dem sie eingerichtet ist, für den einheitlichen Betrieb des Übertragungsnetzes und / oder die zentralisierte Abnahme und den zentralisierten Verkauf der Elektrizität verantwortlich ist. Damit bleibt das Monopol des Netzbetriebes bestehen und der monopolistische Netzbetreiber kann gleichzeitig alleiniger An- und Verkäufer von Strom sein sowie zusätzlich Erzeuger und Verteiler. Allerdings trifft auch das insoweit vertikal integrierte Unternehmen die Verpflichtung, seine Netze Dritten zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht grundsätzlich durch die Verpflichtung nach Art. 18 II RL, Strommengen, die Gegenstand eines Vertrages zwischen Erzeuger und zugelassenem Kunden sind, zu einem Preis abzunehmen, der dem von dem Alleinabnehmer den zugelassenen Kunden angebotenen Verkaufspreis abzüglich eines Nutzungsentgeltes entspricht. Damit wahrt der Alleinabnehmer seine alleinige Verkaufsposition gegenüber dem Kunden. Besteht allerdings nach den nationalen Regeln diese Abnahmeverpflichtung des Alleinabnehmers nicht, dann muß der Mitgliedstaat den Netzzugang nach Maßgabe des vNZD oder des gNZD ausgestalten und auch auf diese Weise die Benutzung der Netze durch Dritte gewährleisten. Unabhängig von der Frage, ob es lediglich einen einzigen Übertragungsnetzbetreiber oder mehrere gibt, regelt die Strombinnenmarkt-RL in Art. 7, 8 und 9 RL den Betrieb des Übertragungsnetzes. Entscheidend ist hier nach Art. 8 II RL die Festlegung von Kriterien zur Einspeisung und Nutzung der Verbindungsleitungen, die objektiv und veröffentlicht sowie auf nichtdiskriminierende Weise angewandt werden müssen. Dabei kommt es insbesondere auf den wirtschaftlichen Vorrang sowie technische Beschränkungen des Netzes an. Dies muß nach dem Zweck der Vorschrift, der die Diskriminierung fremder Erzeuger zugunsten eigener Erzeugungskapazitäten des Übertragungsnetzbetreibers verhindern will, auch dazu führen, daß der Übertragungsnetzbetreiber, fremde Kapazitäten bevorzugt einspeisen muß, selbst wenn er damit eigene Kapazitäten nicht einspeisen kann.172 Etwas anderes gilt jedoch für den Betrieb von Verteilungsnetzen nach Art. 11 RL, da hier eine dem Art. 8 II RL entsprechende Vorschrift nicht existiert.173
172 173
A.A. Britz, a. a. O., S. 87. Zu diesem Streit vgl. auch Jarass, a. a. O., S. 47 m. w. N. So auch Britz, a. a. O., S. 88
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dd) Wettbewerb im Erzeugungsbereich Die Frage der Einspeisung ist insbesondere für den Bau neuer Erzeugungsanlagen von Bedeutung. Art. 4 ff. RL hat das Ziel, auch im Erzeugerbereich mehr Wettbewerb durch den Neubau von Erzeugungsanlagen zu schaffen. Die Mitgliedstaaten können nach Art. 4 RL bei der Ausgestaltung ihrer nationalen Regelungen für den Bau neuer Erzeugungsanlagen zwischen einem Genehmigungs- und / oder einem Ausschreibungsverfahren wählen. Beide Verfahrensarten müssen nach objektiven, transparenten und nichtdiskriminierenden Kriterien verfahren. Für das Genehmigungsverfahren legt Art. 5 RL zulässige Kriterien für die Erteilung der Genehmigung fest. Eine Verweigerung muß objektive und nichtdiskriminierende Gründe haben und dem Antragsteller müssen Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Daraus folgt, daß sich nach diesem System jeder um eine Genehmigung bewerben dürfen muß, ausschließliche Rechte der Erzeuger sind mit diesem Modell unvereinbar.174 Beim Ausschreibungsverfahren werden lediglich die erforderlichen zusätzlichen Kapazitäten ausgeschrieben und vergeben. Diese werden unter Berücksichtigung der bestehenden Kapazitäten ermittelt, wodurch für bestehende Anlagen Schutz vor Konkurrenz und Ersatz durch neuere Anlagen gewährt wird, da den neuen Anlagen nur die ausgeschriebenen Mengen abgenommen werden, nicht aber darüberhinaus produzierte Kapazitäten.175 Bei der Auftragsvergabe für den Bau von Kraftwerken und der Bereitstellung oder dem Betreiben fester Netze sind außerdem die Vergaberechtsvorschriften der Richtlinie 93 / 38 / EWG zu beachten. Sie gilt allerdings nicht für den Kauf und Verkauf von Energie selbst. Insofern sind die Strom- und Gasbinnenmarkt-RL vorrangig.176 ee) Entflechtung von Rechnungslegung und Verwaltung Die Strombinnenmarkt-RL enthält verschiedene Regelungen über die Entflechtung von Verwaltung und Buchführung integrierter Elektrizitätsunternehmen. Unter integrierten Elektrizitätsunternehmen sind nach Art. 2 Nr. 17 RL vertikale und horizontale Integration des Unternehmens zu verstehen. Vertikale Integration liegt nach Art. 2 Nr. 18 RL vor, wenn ein Elektrizitätsunternehmen mindestens zwei der Funktionen Erzeugung, Übertragung oder Verteilung von Elektrizität vornimmt. Horizontale Integration liegt nach Art. 2 Nr. 19 RL vor, wenn ein Elektrizitätsunternehmen von diesen drei Funktionen mindestens eine und außerdem eine weitere Tätigkeit außerhalb des Elektrizitätsbereichs wahrnimmt. Vgl. Jarass, a. a. O., S. 36 f. Vgl. Britz, a. a. O., S. 86; Jarass, a. a. O., S. 37 f. 176 Vgl. RL 93 / 38 / EWG des Rates v. 14. 6. 1993 zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, ABl. 1993 Nr. L 199 / 84. Zur Spezialität: Erwägungsgrund 17. 174 175
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D. Die Rolle der EU
Zweck dieser Regelungen ist nach Art. 14 III RL die Vermeidung von Diskriminierungen, Quersubventionen und Wettbewerbsverzerrungen. Insbesondere aus der Tatsache, daß Netzbetreiber häufig auch über Erzeugungs- und Verteilungskapazitäten verfügen, ergibt sich ein Anreiz, Dritte durch diskriminierende Netzzugangsbedingungen an der Nutzung der eigenen Netzinfrastruktur zu hindern, um Konkurrenz für die eigene Tätigkeit auszuschließen. Die getrennte Rechnungslegung soll Aufschluß darüber geben, welche Kosten der Netzbetreiber bei der Netzbenutzung durch die eigenen Unternehmensteile in Rechnung stellt, um gegebenenfalls eine Diskriminierung Dritter feststellen und unterbinden zu können.177 Die Strombinnenmarkt-RL enthält zum einen Regelungen bzgl. getrennter Buchführung, zum anderen bzgl. getrennter Verwaltung der unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche. Hinsichtlich der Rechnungslegung sieht Art. 14 RL vor, daß integrierte Elektrizitätsunternehmen in ihrer internen Buchführung getrennte Konten für ihre Erzeugungs-, Übertragungs- und Verteilungsaktivitäten sowie konsolidierte Konten für ihre sonstigen Aktivitäten außerhalb des Elektrizitätsbereiches in derselben Weise führen müssen, wie sie dies tun müßten, wenn die betreffenden Tätigkeiten von separaten Firmen ausgeführt würden. Neben diesen Vorschriften über getrennte Buchführung sieht die RL Vorschriften über die Entflechtung der Verwaltung der einzelnen Bereiche vor, allerdings beschränkt auf die Übertragungsnetze. Zum einen schreibt Art. 7 VI RL vor, daß der Übertragungsnetzbetreiber zumindest auf Verwaltungsebene unabhängig von den übrigen Tätigkeiten sein muß, die nicht mit dem Übertragungssystem zusammenhängen. Zum anderen regelt Art. 15 RL diese Pflicht nochmals speziell für Alleinabnehmer als integriertem Unternehmen mit der zusätzlichen Maßgabe, daß außer den Informationen, die für den Alleinabnehmer zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind, keine Informationen zwischen den Tätigkeiten des vertikal integrierten EVU als Alleinabnehmer und seinen Erzeugungs- und Verteilungstätigkeiten übermittelt werden.178 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch die RL über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen. Nach Art. 2 dieser RL wird als öffentliches Unternehmen jedes Unternehmen angesehen, auf das die öffentliche Hand einen beherrschenden Einfluß 177 Britz, Staatliche Förderung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen in liberalisierten Märkten und Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 1650. 178 Diese beiden Vorschriften werden von Britz, Öffnung der Europäischen Strommärkte durch die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie?, S. 88 als widersprüchlich angesehen. Diese Einschätzung ist jedoch nicht überzeugend, sieht doch Art. 15 II RL hinsichtlich des Alleinabnehmers speziellere Vorschriften vor als dies in Art. 7 VI RL genereller für alle integierten EVUs der Fall ist. Die getrennte Verwaltung bedeutet jedoch nicht notwendig, getrenntes Eigentum, vgl. Jarass, a. a. O., S. 41.
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ausüben kann.179 Sie enthält ebenfalls Verpflichtungen bestimmter Unternehmen zur getrennten Kontoführung und Rechnungslegung. Allerdings gelten nach Art. 3a II der RL die Bestimmungen über die getrennte Buchführung nicht, soweit Spezialvorschriften bestehen. Insofern schließt Art. 14 III Strombinnenmarkt-RL die Anwendung der Transparenz-RL aus. ff) Schrittweise Marktöffnung und Ungleichgewichtsklausel Die im Vorangegangenen beschriebene Deregulierung und Einführung des Wettbewerbs wird jedoch nur schrittweise eingeführt. Nach Art. 19 I, II RL werden die nationalen Marktquoten, d. h. der Prozentsatz des Strommarktes, den ein Mitgliedstaat für den Wettbewerb öffnen muß, auf der Grundlage von durchschnittlichen Gemeinschaftsquoten innerhalb von sechs Jahren stufenweise erhöht. Die Mitgliedstaaten bestimmen nach Art. 19 III RL, welche Kategorie von Verbraucher in Genuß der Deregulierung kommen und damit für die Berechnung der nationalen Marktquote ausschlaggebend sind, wobei Endverbraucher mit einem Jahresverbrauch von mehr als 100 GWh jedenfalls in diese Kategorie einzubeziehen sind. Den Mitgliedstaaten obliegt es, Kriterien für diese sog. zugelassenen Kunden („eligible custumers“) aufzustellen und zu veröffentlichen. Mit fortschreitender Marktöffnung wächst also auch der Kreis der zugelassenen Kunden, wobei zunächst die Großverbraucher, insbesondere die Industriekunden in den Genuß der Deregulierung kommen. Die in der Strombinnenmarkt-RL vorgesehene stufenweise Einführung von Wettbewerb im Energiesektor in einem zeitlichen Rahmen von sechs Jahren und auf einen Teil des gesamteuropäischen Marktes begrenzt, ist jüngst von der EU-Kommission in Frage gestellt worden. Die Kommissarin de Palacio stellte in Berlin die Absicht der Kommission vor, anstelle der begrenzten Liberalisierung bis zum Jahr 2005 die Märkte für Strom und Gas schon vollständig zu liberalisieren. Ein entsprechender RL-Vorschlag sollte Mitte Februar vorgelegt werden und die Trennung von Produktion und Netz noch effizienter ausgestalten.180 Art. 19 V RL enthält die sog. Ungleichgewichtsklausel. Diese gibt den Mitgliedstaaten übergangsweise die Möglichkeit, die eigenen EVUs vor einer ungleichmäßigen Marktöffnung zu schützen. Es soll verhindert werden, daß EVUs aus einem anderen Mitgliedstaat den EVUs des eigenen Mitgliedstaates Kunden abwerben, umgekehrt aber keine Kunden aus diesem anderen Mitgliedstaat beliefert werden können. Daher kann ein Mitgliedstaat nach Art. 19 V a RL Lieferverträge zugelassener Kunden mit EVUs aus anderen Mitgliedstaaten untersagen.181 179 Eine identische enthält Art. 1 Nr. 2 der RL zur Koordinierung der Auftragsvergabe im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor 93 / 38 / EWG, ABl. 1993 L 199 / 84. 180 Handelsblatt 17. 1. 2001: „Schon 2005 vollständige Liberalisierung von Strom und Gas in Europa“ und „EU will Energiemarkt rascher liberalisieren“. 181 Vgl. Britz, Öffnung der Europäischen Strommärkte durch die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie?, S. 90 f.
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gg) Aufsicht Nach der Strombinnenmarkt-RL obliegt die Aufsicht über die Stromwirtschaft in den verschiedenen Bereichen weiterhin den nationalen Regierungen. So sind die Mitgliedstaaten nach Art. 4 ff. RL für die Durchführung von Verfahren zum Bau neuer Erzeugungsanlagen zuständig und es obliegt ihnen nach Art. 5 III und 6 V RL Rechtsmittel gegen abschlägige Bescheide bzw. unabhängige Stellen zur Überwachung des Ausschreibungsverfahrens einzurichten. Die Mitgliedstaaten können im Rahmen des geregelten Netzzugangs Tarife festlegen und EVUs gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen. Hinsichtlich der Entflechtung der Buchhaltung haben Behörden der Mitgliedstaaten nach Art. 13 RL das Recht auf Einsichtnahme in die Buchführung, um die Durchführung der Entflechtung zu überwachen. Schließlich können Mitgliedstaaten im Rahmen der Ungleichgewichtsklausel nach Art. 19 V RL einseitige Marktöffnungen zu Lasten der eigenen nationalen Produktion verhindern. Zahlreiche weitere Aufsichtsbefugnisse im Rahmen der Energiewirtschaft, die bereits traditionell nach nationalem Recht bestehen und nicht durch die RL berührt werden, bestehen weiter. Die EU hat diejenigen Aufsichtsbefugnisse, die ihr nach dem allgemeinen EU-Recht zukommen. So überwacht sie die Umsetzung der Richtlinie und kann gegebenenfalls Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Zu diesem Zweck werden die Mitgliedstaaten in verschiedenen Vorschriften verpflichtet, die Kommission über getroffene Maßnahmen zu unterrichten. Bereits seit längerer Zeit wird die Einrichtung sektorenspezifischer Regulierungsbehörden für den Bereich von Strom und Gas nach dem Vorbild der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation diskutiert. Dies wird aufgrund der i.d.R. wettbewerbsfördernden Arbeit derartiger Behörden insbesondere von kleineren Wettbewerbern, in Deutschland etwa den kommunalen EVUs begrüßt.182 Im Januar kündigte die Energiekommissarin de Palacio in Berlin diesbezüglich das Vorhaben der Kommission an, in der geplanten RL Regulierungsbehörden in allen EU-Ländern und in Brüssel eine EU-Regulierungsbehörde als gemeinschaftliche Aufsicht für die nationalen Regulierer einzurichten.183 Die dargestellten Regelungen verschiedener Richtlinien zielen auf die Verwirklichung des Binnenmarktes für Strom. Sie treffen weitreichende deregulierende Maßnahmen und greifen stark in die nationalen Rechtsvorschriften und Stromwirtschaftssysteme ein. In der ganzen EU waren und sind die Mitgliedstaaten noch mit 182 VKU und Initiative pro Wettbewerb (LichtBlick, Energy, Yello) vgl. Handelsblatt 17. 1. 2001, Sonderbeilage Energie 2001, „Wir brauchen rechtsverbindliche Regeln“. 183 Handelsblatt 17. 1. 2001: „Schon 2005 vollständige Liberalisierung von Strom und Gas in Europa“ und „EU will Energiemarkt rascher liberalisieren“. Ablehnend hingegen etwa Meller, VDEW, Pressegespräch, 24. 2. 00, www.strom.de / zf_s_04.htm; BKartA-Präsident Böge, Interview, S. 886, 887 f.; Monopolkommission, Wettbewerbspolitik in Netzstrukturen, Tz. 84. Neuerdings weniger ablehnend LKartA Brandenburg-Präsident Piltz, Netznutzungsentgelte für Stromlieferungen in der Kritik: Ist jetzt auch in Deutschland eine Regulierungsbehörde erforderlich?, S. 552 ff.
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der Umsetzung und Anpassung sowie der Durchführung der wettbewerblichen Strukturen beschäftigt. Wichtiger Bestandteil der europäischen Strompolitik sind aber nicht nur die wettbewerbsfördernden Maßnahmen, sondern auch verschiedene soziale oder gemeinwirtschaftliche Regelungen. Diese sind ebenfalls auf unterschiedliche Richtlinien verteilt bzw. liegen erst als RL-Vorschläge der Kommission vor. Im Folgenden soll über diese Regelungen ein Überblick verschafft werden.
c) Gemeinwirtschaftliche Regelungen Neben den Regelungen des sekundären EU-Rechts zur Öffnung des Strommarktes und zur Förderung des Wettbewerbs hat sich insbesondere auf Druck einzelner Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments die Erkenntnis durchgesetzt, daß den Mitgliedstaaten Möglichkeiten zur Einrichtung oder Beibehaltung sozialer oder gemeinwirtschaftlicher Regeln eingeräumt werden muß. Entsprechend sieht Art. 3 II RL vor, daß die Mitgliedstaaten den EVU gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Allgemeininteresse auferlegen können, die sich auf die Sicherheit, einschließlich der Versorgungssicherheit, die Regelmäßigkeit, die Qualität und den Preis der Lieferungen sowie auf den Umweltschutz beziehen können. Dieser Grundsatz wird durch einzelne Vorschriften der RL noch konkretisiert. Derartige gemeinwirtschaftliche Regelungen der Mitgliedstaaten sind auch im Sinne der allgemeinen EU-Politik, da hierzu nach Art. 2 EG auch die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Gemeinschaft gehört.184 Im Gegensatz zu den wettbewerbsfördernden Regelungen verpflichtet die RL die Mitgliedstaaten jedoch nicht zu bestimmten Maßnahmen gemeinwirtschaftlicher Art. Entsprechend gibt es auch aus dem EU-Sekundärrecht keine individuellen Ansprüche auf Versorgung mit Strom zu erschwinglichen Preisen im ganzen Gebiet der EU. Keine der Richtlinien enthält mit dem Postdienst vergleichbare detaillierte Universaldienstverpflichtungen.
aa) Preisgestaltung Nach Art. 10 I RL können die Mitgliedstaaten den Verteilungsunternehmen die Verpflichtung auferlegen, Kunden in einem bestimmten Gebiet zu beliefern. Der Tarif für diese Lieferungen kann festgelegt werden, z. B. um die Gleichbehandlung der Kunden zu gewährleisten. Ansonsten sind die Preise für Energielieferungen und Netzbenutzung grundsätzlich frei auszuhandeln. Ausnahme hiervon bietet das System des geregelten Netzzugangs sowie das Alleinabnehmersystem hinsichtlich des Tarifs für die Netznutzung nach Art. 17 IV RL und Art. 18 II RL. Bereits 1981 hatte sich der Rat in einer Empfehlung zu den Stromtarifen geäußert: „Die Bereit184 So auch Preistransparenz-RL, a. a. O., Erwägungsgrund 3 und 4, StrombinnenmarktRL, a. a. O., Erwägungsgrund 20.
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D. Die Rolle der EU
stellung von elektrischer Energie ist, unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens, eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse, und die Unternehmen müssen daher bei vergleichbaren Versorgungsbedingungen die Gleichbehandlung der Verbraucher gewährleisten.“185
bb) Versorgungssicherheit Im Rahmen der Versorgungssicherheit ist die bereits erwähnte RL zur Bevorratung von Primärenergie zu nennen, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, Konsultationsorgane und -mechanismen bei Ölknappheit einzurichten, sowie Erdölreserven für mindestens 65 Tage vorzuhalten. Zweck dieser Maßnahme ist es, eine höhere Importunabhängigkeit zu gewährleisten. Diesem Ziel entspricht auch eine Vorrangregelung für einheimische Energieträger in der Strombinnenmarkt-RL: Nach Art. 8 IV RL kann ein Mitgliedstaat aus Gründen der Versorgungssicherheit Anweisung geben, daß eine bestimmte Menge an Strom von Erzeugeranlagen abgerufen wird, die einheimische Primärenergie als Brennstoffe einsetzen. Für eine flächendeckende, ununterbrochene Stromversorgung zu gleichen Preisen für alle können die Mitgliedstaaten über die Lieferverpflichtung nach Art. 10 I RL sorgen.
cc) Umweltschutz Im Bereich des strombezogenen Umweltschutzes finden sich gemeinwirtschaftliche Regelungen in verschiedenen Vorschriften der Strombinnenmarkt-RL, in Emissionsbegrenzungs-RL sowie in zwei von der Kommission vorgelegten Richtlinien-Vorschlägen, die jedoch noch nicht vom Rat und Parlament angenommen wurden. In der Strombinnenmarkt-RL finden sich elektrizitätsbezogene Umweltschutzmöglichkeiten in Art. 8 III und 11 III RL, in denen den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt wird, den Betreibern von Übertragungs- und Verteilungsnetzen die vorrangige Abnahme erneuerbarer Energien oder Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen vorzuschreiben. Die Kommission hat jüngst auch einen Richtlinienvorschlag unterbreitet, mit dem ein gemeinsamer Rahmen geschaffen werden soll, um einer Steigerung des Anteils erneuerbarer Energiequellen an der Elektrizitätserzeugung im Elektrizitätsbinnenmarkt Vorschub zu leisten.186 Zur Begrenzung der Schadstoffemissionen hat die EU zwei Richtlinien verabschiedet, die jedoch keine konkreten Vorgaben für Anlagenbetreiber machen, son185 Empfehlung d. Rates v. 27. 10. 1981 betr. die Strukturen der Elektrizitätstarife in der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 337 v. 24. 11. 1981, S. 12, 5. Erwägungsgrund. 186 KOM (2000) 279 (01). Dazu Britz, EEG, Rn. 36 ff.
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dern lediglich generelle Rahmen setzen und prozentuale Verringerungen der Gesamtemissionsbelastung verlangen.187 Schließlich hat die Kommission einen Richtlinienvorschlag für die Einführung einer Klimaschutz-Steuer auf CO2 unterbreitet.188 Die RL soll zwei Komponenten haben: Die erste Hälfte ihrer Bemessungsgrundlage richtet sich nach dem EnergieGehalt des eingesetzten Energieträgers, die andere Hälfte knüpft an der CO2-Emission an. Eine derartige Steuer würde insbesondere diejenigen Länder stark treffen, deren Stromproduktion einen hohen Anteil an Kohle haben (Deutschland und Dänemark), während Länder mit hohen Kernenergie-Anteilen (Frankreich und Großbritannien) wenig belastet würden.189
dd) Art. 3 III RL und Art. 86 II EG Neben der bereits erwähnten Grundsatznorm des Art. 3 I StrombinnenmarktRL enthält noch Art. 3 III RL eine wesentliche Vorschrift über gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen. Dieser Artikel gestattet es den Mitgliedstaaten, die Regeln über die Marktöffnung im Erzeugungsbereich (Art. 5,6 RL), über den Netzzugang (Art. 17, 18 RL) und über den direkten Leitungsbau (Art. 21 RL) nicht anzuwenden, wenn ansonsten die Erfüllung der den Elektrizitätsunternehmen übertragenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen faktisch oder rechtlich unmöglich würden. Die benannten Vorschriften sind wie dargestellt die zentralen Vorschriften zur Einführung des Wettbewerbs im Strommarkt. Diese Regelung entspricht dem Art. 86 II EG. Allerdings ist Art. 3 III RL leichter zu erfüllen und damit Unternehmen nach dieser Vorschrift leichter von den Wettbewerbsvorschriften der RL freizustellen als nach Art. 86 II EG, da es keiner „Betrauung“ bedarf.190 ee) Teilhaberechte aufgrund EG-Primärrechts? Wie sich aus dem zu gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen Gesagtem ergibt, besteht für Individuen aufgrund gemeinschaftlichen Sekundärrechts kein positivrechtlicher Anspruch auf flächendeckende Versorgung mit Strom zu erschwinglichen Preisen. Es stellt sich die prinzipielle Frage, ob sich Leistungsansprüche aus 187 RL d. Rates 84 / 360 / EWG v. 28. 6. 1984 zur Bekämpfung der Luftverunreinigung durch Industrieanlagen, ABl. Nr. L 188; RL d. Rates 88 / 609 / EWG v. 24. 11. 1988 zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in der Luft, ABl. Nr. L 336. Vgl. Grawe, Umweltschutz und Energiepolitik, S. 86 f. 188 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Einführung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie v. 2. 6. 1992, ABl. Nr. C 196 / 1. 189 Vgl. Grawe, Umweltschutz und Energiepolitik, S. 87. 190 Vgl. Britz, Öffnung der Europäischen Strommärkte durch die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie?, S. 91 f.
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dem Primärrecht ergeben könnten.191 In Betracht kommen hier insbesondere die Grundfreiheiten. Ziel der Grundfreiheiten ist die Verwirklichung des Gemeinsamen und des Binnenmarktes durch die Beseitigung nationaler Handelshemmnisse. Die Grundfreiheiten sind ihrer Funktion nach gegen nationalstaatliche Maßnahmen gerichtet192 und stellen diesen gegenüber Handlungsverbote193 dar. Diese Zielrichtung ist vergleichbar mit der Abwehrfunktion der deutschen Grundrechte, die den Bürger vor Eingriffen des Staates in seinen Freiheitsbereich sichern sollen. Es ist daher fraglich, ob die EU-Grundfreiheiten eine weitere, etwa der Leistungsfunktion der deutschen Grundrechte194 oder den objektiv-rechtlichen Schutzpflichten des Staates195 entsprechende Bedeutung haben, die man als Handlungsgebote196 bezeichnen könnte. Dies wurde bisher nach ganz herrschender Meinung abgelehnt und auch vom EuGH nicht in Erwägung gezogen.197 Möglicherweise deutet sich jedoch in der Rechtsprechung des EuGH eine Abkehr von dieser Interpretation der Grundfreiheiten an. Anlaß zu dieser Vermutung bietet ein Urteil des EuGH aus dem Jahr 1997.198 Die Kommission hatte beim EuGH nach Art. 226 EG Klage auf Feststellung erhoben, daß Frankreich dadurch gegen Verpflichtungen aus den gemeinsamen Marktorganisationen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und aus Art. 28 i.V.m. 10 EG verstoßen hat, daß es nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird. Die Kommission führte aus, daß bei ihr seit mehr als einem Jahrzehnt regelmäßig Beschwerden eingegangen seien, mit denen die Untätigkeit der französischen Behörden bei Gewalttaten gerügt wurde, die Privatpersonen und Protestbewegungen französischer Landwirte gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verübt hätten. Diese Taten bestanden unter anderem im Anhalten von Lastwagen mit solchen Erzeugnissen in Frankreich und der Vernichtung ihrer Ladung, in Angriffen auf LKW-Fahrer, in der Bedrohung französischer Supermärkte, welche landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verkauften, sowie in der Beschädigung dieser in französischen Geschäften liegenden Waren. Die Kommission intervenierte mehrfach bei der französischen Regierung. Nachdem von der französi191 Zur grundlegenden Frage, inwieweit dem EU-Primärrecht überhaupt subjektiv-öffentliche Rechte entnommen werden können vgl. Huber, Gemeinschaftsrechtlicher Schutz vor einer Verteilungslenkung durch deutsche Behörden, S. 31 ff. 192 Vgl. dazu Huber, Recht der europäischen Integration, S. 93 f. 193 Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 404. 194 Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 43, 122 ff.; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 7, 21 ff. 195 Dazu oben D.III.3.b)dd). 196 Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 404. 197 Vgl. Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 404. 198 Vgl. EuGH, Urt. v. 9. 12. 1997, Rs. C-265 / 95, Kommission / Frankreich, Slg. 1998, I-6990 („Fernfahrerstreik“).
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schen Regierung versprochene Maßnahmen nicht zum gewünschten Erfolg führten, sondern im Gegenteil erneut schwere Vorfälle dieser Art auftraten, gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, worin sie die französische Regierung aufforderte, die oben genannten Verletzungen des EU-Rechts abzustellen. Nach einer erneut als unbefriedigend empfundenen Reaktion Frankreichs und erneuten Ausschreitungen in Frankreich leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH ein. Der EuGH gab der Klage statt und urteilte, daß Frankreich dadurch gegen die Verpflichtungen aus Art. 28 i.V.m. Art. 10 EG und aus den gemeinsamen Marktorganisationen für landwirtschaftliche Erzeugnisse verstoßen hat, daß es nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird. Entscheidend für dieses Urteil war die Vorschrift des Art. 28 EG, der nicht nur Maßnahmen verbiete, die auf den Staat zurückzuführen sind und selbst Beschränkungen für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten schaffen, sondern auch Anwendung finden könne, wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen hat, um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind.199 Der innergemeinschaftliche Handelsverkehr könne nämlich ebenso wie durch eine Handlung dadurch beeinträchtigt werden, daß ein Mitgliedstaat untätig bleibt oder es versäumt, ausreichende Maßnahmen zur Beseitigung von Hemmnissen für den freien Warenverkehr zu treffen, die insbesondere durch Handlungen von Privatpersonen in seinem Gebiet geschaffen wurden, die sich gegen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten richten.200 Art. 28 EG verbiete den Mitgliedstaaten somit nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen könnten, sondern verpflichte sie i.V.m. Art. 10 EG auch dazu, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheiten sicherzustellen.201 Einschränkend erkannte der EuGH jedoch an, daß den Mitgliedstaaten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allein zuständig bleiben, ein Ermessen zusteht, zu entscheiden, welche Maßnahmen in der konkreten Situation am besten geeignet sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr von Erzeugnissen zu verhindern.202 Insofern dürfe sich die EU nicht an Stelle der Mitgliedstaaten setzen und vorschreiben, welche Maßnahmen getroffen werden müßten.203 Jedoch müsse der EuGH unter Berücksichtigung des Ermessens prüfen, ob die ergriffenen Maßnahmen überhaupt geeignet seien. Im vorliegenden Fall sei dies ganz offenkundig nicht der Fall gewesen.204
199 200 201 202 203 204
9 Ruge
EuGH, a. a. O., Tz. 30. EuGH, a. a. O., Tz. 31. EuGH, a. a. O., Tz. 32. EuGH, a. a. O., Tz. 33. EuGH, a. a. O., Tz. 34. EuGH, a. a. O., Tz. 52.
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D. Die Rolle der EU
Diese Ausführungen geben Anlaß zu einigen interessanten Schlußfolgerungen hinsichtlich der Dogmatik der Grundfreiheiten. So wurde im Anschluß an dieses Urteil vertreten, daß nunmehr der EuGH, in Anlehnung an die objektiv-rechtliche Funktion der deutschen Grundrechte, eine für die Grundfreiheiten neue Funktion der Schutzpflichten entwickelt habe.205 Nach dieser Lesart müßten sich die Nationalstaaten gleichsam „schützend vor die Grundfreiheiten stellen“. In ähnlicher Weise wird von positiven staatlichen Handlungspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU zur Sicherung der Grundfreiheiten gegen Eingriffe Privater gesprochen.206 Aus einem eher polizei- und verwaltungsrechtlichen Blickwinkel wurde die Schlußfolgerung gezogen, die Gemeinschaft habe einen Anspruch auf polizeiliches Einschreiten der Mitgliedstaaten bei Untätigkeit und einer bestehenden Handlungspflicht nach Art. 10 EG.207 Jedoch wird auch vor allzu weitgehenden Schlußfolgerungen im Hinblick auf die Schutzpflichten gewarnt. So ist insbesondere das vom EuGH anerkannte Ermessen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wahl der Mittel zu berücksichtigen und daneben die Tatsache, daß kein bestimmter Erfolg von den Mitgliedstaaten verlangt werde.208 Dem ist noch hinzuzufügen, daß losgelöst vom vorliegenden Fall, der EuGH insgesamt wenig Rücksicht auf feingewobene Dogmatik nimmt. Dies zeigt sich immer wieder, wenn er entgegen ausgefeilter rechtsdogmatischer Systeme Recht spricht und die Dogmatik vollkommen unbeachtet läßt.209 Geht man von der Entstehung einer neuen Dimension der Grundfreiheiten aus, so ist festzustellen, daß es sich um eine objektiv-rechtliche Funktion handelt, die das Verhältnis Mitgliedstaaten-Gemeinschaft prägt. Damit ist für die Ausgangsfrage, ob sich aus dem Primärrecht subjektiv-rechtliche Zugangs- oder Teilhaberechte ableiten lassen können, nichts gewonnen. Dies wäre nur der Fall, wenn sich aus den Grundfreiheiten auch unmittelbar subjektive Rechte ableiten ließen. Da die Grundfreiheiten in negativer Stoßrichtung gegen staatliche Maßnahmen subjektiv-rechtlichen Inhalt haben, erscheint es durchaus denkbar, daß sie auch in ihrer positiven Dimension subjektiv-rechtliche Wirkung entfalten und dem Einzelnen einen Anspruch auf Tätigwerden einräumen könnten.210 Allerdings ist dabei zu be205 Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpflichten – eine „neue“ Funktion der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, S. 222. 206 Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 403. 207 Schwarze, Zum Anspruch der Gemeinschaft auf polizeiliches Einschreiten der Mitgliedstaaten bei Störungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs durch Private, Urteilsanm., S. 53 ff. 208 Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 403. 209 Jüngstes Beispiel ist der Umgang des EuGH mit den Rechtfertigungsgründen zu Art. 28 EG, die von der Rechtsdogmatik immer scharf in die ausdrücklich geregelten Gründe des Art. 30 EG und die weiterreichenden Gründe „zwingender Erfordernisse“ getrennt wurden. In der Entscheidung PreussenElektra ignorierte der EuGH diese Trennung ohne jede Bemerkung vollkommen. Vgl. kritisch Ruge, Urteilsanm. PreussenElektra, S. 248. 210 So Kühling, Staatliche Handlungspflichten zur Sicherung der Grundfreiheiten, S. 404.
V. Ergebnis: Veränderte Rolle der EU im Stromsektor
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rücksichtigen, daß sich im vorliegenden Urteil der EuGH vor allem an Art. 10 EG anlehnt. Dieser regelt jedoch ausschließlich das Verhältnis Mitgliedstaat-Gemeinschaft. Insofern ist bei einer derartigen Schlußfolgerung Vorsicht geboten. Für unsere Frage würde jedoch auch eine derart subjektiv-rechtlich ausgelegte Schutzpflicht nicht weiterhelfen, da sie auf keinen Fall, ausgehend vom vorliegenden Fall, als subjektiv-rechtliche Leistungsansprüche ausgelegt werden könnte. Es ist demnach festzustellen, daß auch die Grundfreiheiten keine gemeinwirtschaftlichen Ansprüche auf Zugang zur Stromversorgung einräumen können. Ähnlich ist auch die Vorschrift des Art. 16 EG zu verstehen. Sie betrifft hinsichtlich der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse / Daseinsvorsorge die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse. Dies kann allenfalls auf subjektiv-öffentliche Rechte aus den nationalen Verfassungsordnungen verweisen, nicht jedoch subjektiv-öffentliche Leistungsansprüche aus der Vorschrift selbst begründen.
V. Ergebnis: Veränderte Rolle der EU im Stromsektor Die Untersuchung der Europäischen Union hat im Wesentlichen drei Ergebnisse hervorgebracht. Zum einen ist deutlich geworden, daß das EU-Recht im Gegensatz zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sehr eindeutige Aussagen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Hinblick auf Deregulierung und Privatisierung enthält. Zum anderen hat sich gezeigt, daß trotz fehlender rechtlicher Grundlage seit Ende der 1980er Jahre eine EU-Energiepolitik besteht, der die drei Prinzipien Wettbewerb durch Binnenmarkt, Versorgungssicherheit und Umweltschutz zugrundeliegen und die durch die Rechtsprechung des EuGH gestützt und weiterentwikkelt wird. Hier ist ein deutlicher Wandel der Rolle der EU im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten zu beobachten. Schließlich hat sich drittens bei der Analyse der verschiedenen Aspekte die Einteilung in gemeinwirtschaftliche und wettbewerbsbezogene Regelungen als hilfreich erwiesen. Die Analyse der rechtsdogmatischen Grundlagen, insbesondere der Vorschriften Art. 31, 86 und 295 EG über staatliche Handelsmonopole, öffentliche Unternehmen insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge und Neutralität des EU-Rechts gegenüber den Eigentumsstrukturen der Mitgliedstaaten, hat gezeigt, daß das Europarecht keine rechtlichen Verpflichtungen zu Privatisierungen in den Mitgliedstaaten enthält. Gefordert wird jedoch durch verschiedene Vorschriften die Deregulierung von Märkten durch die Einführung von Wettbewerb. Allenfalls läßt sich durch die Pflicht zur Deregulierung und die damit verbundene Politik der EUKommission von Privatisierungsdruck sprechen, ohne jedoch Rechtspflichten nachweisen zu können. Während bis weit in die 1970er Jahre die europäische Integration weitgehend festgefahren war und Öffnung nationaler Märkte nur noch über 9*
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D. Die Rolle der EU
den sehr komplizierten Weg der Harmonisierung detailreicher Vorschriften vonstatten ging, vollzog sich gegen Ende der 1970er Jahre eine Wende in der Deregulierungspolitik der EU. Es begann die Arbeit an der Deregulierung einzelner Wirtschaftsektoren und Mitte der 1980er Jahre mit der Einführung des Binnenmarktes ein breitgefächertes Deregulierungsprogramm zur Öffnung nationaler Märkte. Durch diese neue Politik, die den eigentlichen Charakter der EU als „Deregulierungsgroßprojekt“ wieder deutlicher werden ließ, wurden starke Impulse an die Mitgliedstaaten gegeben. Die Rolle, die die EU im Rahmen dieser neuen Deregulierungspolitik im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten spielt hat sich insofern stark verändert. Mit dieser Veränderung einher ging auch eine grundlegende Veränderung der Energiepolitik der Union. Ohne einen eigenen Titel im EG-Vertrag ließ sich lange Zeit die Existenz einer europäischen Energiepolitik verneinen. Dies änderte sich seit Ende der 1980er Jahre entscheidend. Die EU entwickelte eine eigene Energiepolitik mit den drei Grundprinzipien Wettbewerb durch Binnenmarkt, Versorgungssicherheit und Umweltschutz zu deren Verwirklichung verschiedene europarechtliche Vorschriften erlassen wurden. Die von der EU-Kommission ausgehenden Bemühungen wurden vom EuGH im hochsensiblen Spannungsfeld zwischen Daseinsvorsorge und Binnenmarkt gestützt und weiterentwickelt, insbesondere durch seine Rechtsprechung zu staatlichen Strommonopolen sowie Ausnahmen vom Wettbewerbsrecht und den Grundfreiheiten aufgrund von Daseinsvorsorge- und Umweltschutz-Aufgaben. Schließlich konnte mit der Einteilung der Rechtsvorschriften in wettbewerbsbezogene und gemeinwirtschaftliche Regelungen für mehr Klarheit bei der Analyse des Rechtsregimes gesorgt werden. Dabei ist deutlich geworden, daß in der EU im Zuge der Deregulierung immer erst wettbewerbsfördernde Regelungen eingeführt wurden und erst im Laufe ihrer Umsetzung die EU gemeinwirtschaftliche Regelungen erließ. Dies ist insbesondere im Post- und im Telekommunikationssektor anhand der Deregulierungs-Richtlinien und der Regelungen über die Universaldienste deutlich geworden. Im Stromsektor ist dieses Phänomen weniger deutlich ausgeprägt, jedoch am Beispiel der Deregulierungsrichtlinie von 1996 und dem Richtlinien-Vorschlag der Kommission zur Förderung Erneuerbarer Energien von 2000 ebenfalls nachvollziehbar. Insgesamt sind EU-weite gemeinwirtschaftliche Regelungen im Stromsektor jedoch wesentlich weniger ausgeprägt als in den anderen genannten Bereichen. Weder aus dem Sekundärrecht noch aus dem Primärrecht über eine mögliche neue Dimension der Grundfreiheiten lassen sich subjektive Rechte etwa auf Zugang zur Energieversorgung zu angemessenen Preisen in der gesamten Union ableiten.
E. Staatliche Gewährleistungsverantwortung nach der Liberalisierung des Elektrizitätssektors in Deutschland I. Rechtsdogmatische Grundlagen Seitdem es das Phänomen des Staates gibt, existiert die Frage nach der Bestimmung von angemessenen Tätigkeitsbereichen des Staates, die die verschiedenen Zweige der Wissenschaft schon seit Jahrhunderten beschäftigt. So stellte bereits Wilhelm von Humboldt in einer Schrift aus dem Jahr 1792 die im Grunde noch bis heute gültige Frage, „ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre Sicherheit abzwecken soll, bei allen Einrichtungen nur auf das zu sehen, was sie hauptsächlich zum Gegenstande oder zur Folge haben, und bei jedem beider Zwecke zugleich die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf.“1 Aus der vernunftgeleiteten Überlegung heraus, die Bürger sollten den größtmöglichen Freiraum haben zwischen mannigfaltigen Situationen zu wählen, gibt Humboldt als Antwort: „der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er die Freiheit.“2 Während zu Beginn der vorliegenden Arbeit die volkswirtschaftlichen Modelle dargestellt wurden, wie sich anhand von verschiedenen Kategorien des Marktversagens der Umfang staatlicher Regulierung oder Betätigung eingrenzen läßt, werden im Folgenden rechtsdogmatische Versuche der Staats- und Verwaltungsrechtslehre zur Lösung des Problems aufgezeigt. Dabei zeigt sich, daß nicht selten die bereits dargestellten wirtschaftswissenschaftlichen Ansatzpunkte als außerjuristische Argumente auch bei der juristischen Argumentation ins Spiel kommen. Zunächst wird dem volkswirtschaftlichen Privatisierungsbegriff seine Behandlung durch die Rechtswissenschaft gegenübergestellt. Daran schließt sich die Darlegung der verschiedenen Ansatzpunkte zur Bestimmung staatlicher Tätigkeitsbereiche: die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die Staatsaufgabenlehre, das Konzept der Daseinsvorsorge und die jüngere Debatte um staatliche Verantwortungsbereiche. Darauf aufbauend wird schließlich der Begriff der Gewährleistungsverantwortung erschlossen. 1 Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, S. 30. 2 Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, S. 52.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
1. Der Privatisierungsbegriff in der Rechtsdogmatik Aus der Staats- und Verwaltungsrechtslehre wird häufig geäußert, es fehle an einer positiven Privatisierungstheorie im Recht3, Privatisierung sei ein im Recht nicht klar konturierter Gegenstand.4 Trotz oder gerade wegen dieser Aussagen häufen sich Abhandlungen zur Privatisierung seit Mitte der 1990er Jahre.5 Was auch immer unter „positiver Privatisierungstheorie“ zu verstehen ist, die Staats- und Verwaltungsrechtslehre diskutiert unter dem Stichwort Privatisierung einen Kreis bestimmter rechtlicher Probleme. Wie die folgende kursorische Darstellung zeigt, unterscheidet sich diese rechtswissenschaftliche Diskussion in Gegenstand und Ansatz erheblich von der oben dargestellten volkswirtschaftlichen Herangehensweise, die sich in erster Linie auf die Fragen der produktiven und allokativen Effizienz konzentriert. Zunächst wird die Frage aufgeworfen, ob Privatisierung die Qualität eines Rechtsbegriffes habe.6 Obwohl die Privatisierung seit 1993 in § 7 I 2 BHO positiviert ist, wird allgemein davon ausgegangen, daß es an trennscharfem Tatbestand und Rechtsfolgen fehlt und dem Begriff damit lediglich eine heuristische, aber keine rechtsdogmatische Funktion zukommt. Der Begriff diene als Chiffre für Umverteilungsprozesse „hin zum Privaten“, mache auf tiefgreifende Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft aufmerksam und rege die Rechtslehre an, die normativen Direktiven für Privatisierungsvorgänge zu sichten, zu ordnen und zu strukturieren.7 Aufgrund der Schwierigkeiten einer eindeutigen begrifflichen Abgrenzung der Privatisierung wird häufig auf eine rechtliche Definition des Begriffs verzichtet. Statt dessen findet man sich damit ab, verschiedene Privatisierungstypen zu unterscheiden.8 Einige Typen der Privatisierung sind bereits bei den volkswirtschaftlichen Grundlagen dargestellt worden, wobei dort zwar Vermögensprivatisierung als materielle Privatisierung und Organisationsprivatisierung als formelle Privatisierung unterschieden werden, die Volkswirtschaftslehre selbst sich in ihren Untersuchungen aber fast ausschließlich auf die materielle Vermögensprivatisierung konzentriert. Gusy, Privatisierung als Herausforderung an Rechtspolitik und Rechtsdogmatik, S. 331. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 249; di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 585; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, S. 27. 5 v. Arnim, Rechtsfragen der Privatisierung; Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe; Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem; di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben; Gusy, Privatisierung als Herausforderung an Rechtspolitik und Rechtsdogmatik; Huber, Die entfesselte Verwaltung; Lee, Privatisierung als Rechtsproblem; Schmidt, Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben als Problem des Staats- und Verwaltungsrechts; Schuppert, Die Privatisierungsdiskussion in der deutschen Staatsrechtslehre. 6 Vgl. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 251 f. 7 Vgl. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 251. 8 Vgl. Lee, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 26 ff. 3 4
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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Dieses Bild ist bei der Rechtswissenschaft anders. Auch hier wird zwischen formeller Organisationsprivatisierung und materieller Aufgabenprivatisierung unterschieden. Dabei stoßen beide Privatisierungarten aber auf gleichmäßiges Interesse hinsichtlich ihrer juristischen Auswirkungen. Hinzu tritt noch der für die Volkswirtschaft wenig brauchbare Begriff der funktionalen Privatisierung. Unter funktionaler Privatisierung versteht man in der Regel die Einschaltung Privater in die Aufgabenwahrnehmung. Insofern unterscheidet sich diese Begriffsvariante erheblich von dem im Wirtschaftsbereich vorherrschenden Verständnis der Vermögensprivatisierung. Es geht hier um Verwaltungsreform oder Verwaltungsabbau.9 Betrachtet man die rechtlichen Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Privatisierung ergeben, so lassen sie sich in drei Phasen einteilen: Probleme, die sich aus der Frage nach dem „Ob“ der Privatisierung ergeben, Probleme aus der Frage nach dem „Wie“ und schließlich die Probleme „Danach“.10 Bei der Frage nach dem „Ob“ der Privatisierung werden zwei Bereiche diskutiert. Zum einen läßt sich die Frage nach Privatisierungsschranken, d. h. nach den Grenzen von Privatisierungen stellen. Zum anderen ergibt sich die genau entgegengesetzte Frage, ob sich rechtliche Impulse zugunsten von Privatisierungen ausmachen lassen. Man spricht hier auch von „Privatisierungsdruck“11. Hinsichtlich der Privatisierungsschranken wird versucht, anhand der Staatsaufgabenlehre mit ihren Kategorien der ausschließlichen, obligatorischen oder notwendigen Staatsaufgaben einem Rückzug des Staates Grenzen zu ziehen.12 Ebenso werden das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip sowie ausdrückliche Vorschriften der Verfassung, insbesondere die Art. 83 ff. GG und die kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 GG13 herangezogen. Das Bundesverwaltungsgericht hat jüngst auch auf das Demokratieprinzip zurückgegriffen.14 Allerdings besteht weitgehend Einigkeit, daß die rechtlichen 9 Vgl. zu funktionalen Privatisierung Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe; di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 588 f.; Lee, Rechtsprobleme der Privatisierung, S. 20. 10 So Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 13, 58. 11 Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 258; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts. 12 Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 255; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 175 ff., insbes. 224; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, S. 395 ff. Zu den Kategorien der Staatsaufgaben sogleich unter D.I.2. 13 Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, S. 170 ff. sowie mit Bezug zum EU-Recht S. 68 ff. 14 BVerwGE 106, 64, 77 f.: „Der demokratisch legitmierte Staat darf sich seiner Verantwortung für derart originäre wie auch essentielle Staatsaufgaben nicht – auch nicht teilweise – entziehen. Denn die Einrichtung von Selbstverwaltungskörperschaften, denen die Erledigung von derartigen Aufgaben des gemeinen Wohls übertragen wird, bedeutet – ungeachtet der Intensität und Wirksamkeit notwendiger Staatsaufsicht – nicht nur ein Stück Rückzug des Staates aus der eigenen Verantwortung, sondern mit abnehmender Legitimation der Körperschaftsorgane auch eine Fremdbestimmung der Gemeinschaft in ihren ureigensten Angelegenheiten durch die Träger von Partikularinteressen und bewirkt damit letztlich einen unglei-
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Grenzen für das „Ob“ der Privatisierung sehr schwach sind und es entscheidend auf die Umstände des Einzelfalles, d. h. auf die in Ansehung der konkret zu privatisierenden Staatsaufgabe bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten ankommt.15 Bei der Frage nach den rechtlichen Impulsen zugunsten von Privatisierungen wird neben den ausdrücklichen Regelungen der Art. 87e und 87f GG diskutiert, inwieweit sich eine Privatisierungspflicht oder ein Vorrang privaten Engagements rechtlich herleiten läßt. Dabei wird zum einen auf das Europarecht verwiesen, das zwar in Art. 295 EG die EU auf Neutralität hinsichtlich der nationalen Eigentumsordnungen verpflichtet, jedoch mit den Vorschriften des Wettbewerbsrechts, über Beihilfen, öffentliche Unternehmen und dem Vergaberecht Regelungen enthält, die zumindest mittelbar Privatisierungen begünstigen.16 Aus dem deutschen Recht werden die Grundrechte, das sog. Subsidiaritätsprinzip, das jedoch nicht ausdrücklich in der Verfassung geregelt ist, und der Grundsatz des Steuer- und Abgabenstaates herangezogen, sowie auf Landesverfassungen von Thüringen und Rheinland-Pfalz verwiesen, in denen ausdrücklich die soziale und ökologische Marktwirtschaft als herrschende Wirtschaftsordnung festgeschrieben wird.17 So interessant und bemerkenswert all diese Ansätze im einzelnen sind, so ist doch fraglich, ob das Grundgesetz, das nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wirtschaftpolitisch neutral ist, zur Ableitung eines allgemeinen Vorranges der Privatwirtschaft herangezogen werden kann. Es scheint vielmehr, als wollte die Verfassung es den jeweils mehrheitsfähigen gesellschaftlichen und politischen Kräften überlassen die Wirtschaftsordnung in dieser Hinsicht auszugestalten. Ist die Entscheidung für oder gegen Privatisierung gefallen, so stellt sich für die Rechtswissenschaft die Frage nach dem „Wie“, d. h. nach den rechtlichen Modalitäten der Privatisierung. Hierbei sind die Grundrechte zu beachten, die Strukturprinzipien, insbesondere das Rechtsstaatsprinzip mit dem daraus abgeleiteten Gesetzesvorbehalt zur Legitimierung bestimmter Tätigkeiten, aber auch das Sozialchen Einfluß der Staatsbürger auf die Ausübung von Staatsgewalt. . . . Sie darf nicht dazu führen, daß die Ausübung von Staatsgewalt letztlich nicht mehr parlamentarisch, sondern von Interessengruppen verantwortet wird.“ Vgl. dazu ausführlich Britz, Die Mitwirkung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, S. 418 ff. 15 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 224. 16 Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 259 ff.; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts; Devroe, Privatizations and Community Law: Neutrality versus Policy, 267 ff.; Verhoeven, Privatisation and EC Law: Is the European Commission „Neutral“ with respect to public versus private ownership of companies, 861 ff. 17 Vgl. Berg, Die wirtschaftliche Betätigung des Staates als Verfasungsproblem; zu Art. 34 IV GG di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 590 ff.; Ehlers, Die Zulässigkeit einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand; Krölls, Grundrechtliche Schranken der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand; Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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staatsprinzip zur Gewährleistung bestimmter Mindeststandards sowie die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 II GG.18 Schließlich wird für die dritte Phase der Privatisierung die Frage nach dem „Danach“ thematisiert.19 Hier konzentriert sich die Debatte auf die Frage nach fortdauernder staatlicher Verantwortung. Die Aufgabenverlagerung „hin zum Privaten“ muß nicht notwendigerweise mit einem vollständigen Rückzug des Staates aus dem betroffenen Bereich einhergehen. Es können Beobachtung, Kontrolle, Information und Ausgleich durch den Staat weiterhin gefragt sein. Hinzu tritt die Frage der Verzahnung staatlicher und privater Aktivitäten. Man kann davon sprechen, daß in vielen Bereichen der Privatisierung die staatliche Aufgabenerfüllung zugunsten einer staatlichen Gewährleistung der Aufgabenerfüllung durch Private zurücktritt, die zu systematisieren und zu begründen bleibt. Mit diesem kursorischen Überblick über die Privatisierungsdebatte in der Rechtswissenschaft ist zweierlei deutlich geworden. Zum einen unterscheiden sich Gegenstand und Herangehensweise deutlich von den volkswirtschaftlichen Untersuchung zur Privatisierung. Zum anderen zeigt die gegenwärtige Privatisierungsdebatte, daß die Frage nach der Abschichtung staatlicher von privaten Aufgaben nach wie vor sehr aktuell ist. Wie weit diese Diskussion zurückreicht, ist bereits durch das Humboldtsche Zitat angeklungen. Ihren Ausgangspunkt in der Rechtswissenschaft fand sie in der Trennung von Staat und Gesellschaft.
2. Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zur Bestimmung staatlicher Tätigkeiten Die eingangs zitierten Aussagen Humboldts zu den Aufgaben des Staates repräsentieren das klassische Verständnis vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland. Die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft beruht damit ursprünglich auf dem traditionellen Bild der öffentlichen Hand jener Zeit, die dem Bürger als absolutistisch-monarchische Macht durch Eingriffe in dessen Freiheitssphäre gegenübertritt. Somit wurde gesellschaftliche Freiheit definiert als Freiheit von staatlichen Eingriffen.20 Diese Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft konnte in Deutschland wesentlich nachhaltiger Fuß fassen als etwa in Frankreich und Großbritannien. Der Grund hierfür liegt in der wesentlich späteren Durchsetzung des bürgerlich-liberalen Ge18 Vgl. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 267 ff.; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 247 ff. Weiterhin vorherige Fn. 19 Vgl. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 277 ff.; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 340 ff. Zur Verwaltungsverantwortung sogleich unter D.I.4. 20 Vgl. Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 437 f. m. w. N. insbesondere zur Geschichte des Dualismus Staat / Gesellschaft. Grundlegend Böckenförde, Staat und Gesellschaft. Kritisch Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 64 ff.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
sellschaftsmodells und dem damit verbundenen Ausschluß des Volkes von der gesellschaftlichen Mitgestaltung.21 Diese Situation führte „in Deutschland zu einer gesteigerten Form des Trennungsdenkens, die im Ausland keine Entsprechung hat. Sie fand ihren theoretischen Ausdruck vor allem in der Hegelschen Staatsphilosophie.“22 Der strengen und konsequenten Trennung von Staat und Gesellschaft steht als Antipode die Identität von Staat und Gesellschaft gegenüber. Diese Konzeption liegt totalitären Staatskonzeptionen zugrunde, in denen es überhaupt keine staatsfreien Räume geben sollte.23 Blickt man auf die tatsächliche Entwicklung des modernen Staates und hier insbesondere die starke Ausdehnung des Leistungsstaates im Verhältnis zum Eingriffsstaat, so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Staatsrechtslehre von dem ursprünglichen Trennungsmodell abrückte. Genauso verständlich ist es, daß aufgrund der Erfahrungen mit zwei totalitären Regimen in Deutschland, die auf der Einheit von Staat und Gesellschaft fundiert waren, auch die Variante der Identität nicht mehr für gangbar gehalten wurde. Insofern wurde ein Mittelweg empfohlen, der an die Stelle der Trennung, das Wort der Unterscheidung setzen will. Damit kommt zum Ausdruck, daß sich zahlreiche Überlagerungen der zuvor als getrennt angesehenen Bereiche entwickelt haben, ohne daß es dennoch zu einer Identität gekommen wäre. Eine derartige Unterscheidung müsse starke Verbindungen zwischen Staat und Gesellschaft enthalten. Nur diese könnten die Demokratie vor einem ähnlichen Schicksal wie die Weimarer Republik schützen und letztlich die Freiheit bewahren.24 Was kann nun aber von einer Trennung oder Unterscheidung für unsere Ausgangsfrage nach der Bestimmung angemessener Tätigkeitsbereiche des Staates gewonnen werden? Während für den bürgerlich-liberalen Rechtsstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese Unterscheidung noch als das Verteilungsprinzip von Freiheit auf seiten der Gesellschaft und rechtliche Bindung auf seiten des Staates galt25, veränderte sich diese Verteilung mit der Veränderung und Zunahme staatlicher Aufgaben. Hesse schreibt zur heutigen Situation: „Man kann unter der Flagge der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vieles segeln lassen“.26 Es er21 Vgl. Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 20 f.; Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaates, S. 613 ff. insbesondere auch zur abnehmenden staatlichen Steuerungskraft des Rechts verursacht durch die veränderte Rolle des Staates. In diesem Sinn auch Huber, Die entfesselte Verwaltung. 22 Vgl. Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 21. Vgl. zu Hegel Gröschner / Dierksmeier / Henkel / Wiehart, Rechts- und Staatsphilsophie, S. 233 ff.; Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 162 ff. 23 Vgl. Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 442. 24 Vgl. Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 440 f.; für diese Terminologie auch Gröschner, GG II, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 24. 25 Schmitt, Verfassungslehre, S. 126. 26 Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 439.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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scheint in der Tat heute kaum noch möglich, so konkrete Fragen wie die Wahl des Rechtsweges zwischen der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder die Rechtsbindung staatlicher Handlungen an einer derartig grobmaschigen Kategorisierung auszurichten. Im demokratischen und sozialen Staat der Gegenwart, in dem gesellschaftliches Leben ohne umfassende planende und vorsorgende Gestaltung durch den Staat nicht mehr möglich ist, in dem sich umgekehrt der Staat in gesellschaftlichem Zusammenwirken konstituiert und der durch eine Vielfalt wechselseitiger Abhängigkeiten und Einflußnahmen gekennzeichnet ist, kommt vielmehr alles auf die konkrete und differenzierte, gegen die Gefahren beider Extreme [Trennung und Identität] sichernde Ausgestaltung an, die eine Sache von Verfassung und Gesetz ist.27 Die Ausdehnung der Staatstätigkeit hat insofern zu einer Verwischung der Grenzlinien zwischen Staat und Gesellschaft geführt; diese Dichotomie erlaubt daher keine angemessene Erfassung der sozialen Wirklichkeit mehr.28 Mit Hesse kommt es bzgl. der Ausgestaltung von Verfassung und Gesetz vielmehr auf die Feststellung dessen an, was staatliche Aufgabe ist oder zu ihr gemacht werden kann.29
3. Staatsaufgabenlehre a) Georg Jellinek: exklusive und konkurrierende Staatsaufgaben Der Staatsrechtler Georg Jellinek nahm in seinem zum Klassiker gewordenen Buch Allgemeine Staatslehre unter der Bezeichnung „Die Lehre vom Zweck des Staates“ zur Frage der Staatsaufgaben Stellung. Staatsaufgaben waren für ihn dabei Tätigkeiten, die dem Staat zukommen.30 Dabei unterschied er zwei Arten von Staatsaufgaben. Während exklusive Staatsaufgaben solche Tätigkeiten seien, die ihm ausschließlich zukommen, trete der Staat bei den konkurrierenden Staatsaufgaben nur ordnend, unterstützend, födernd oder abwehrend zu individuellen und sozialen Lebensäußerungen hinzu.31 Als exklusive Staatsaufgaben betrachtet Jellinek Tätigkeiten der Machtbehauptung, Schutzgewährung und Rechtsbewahrung, der Herbeischaffung der ökonomischen Mittel für diese Zwecke sowie Bereiche, die der besseren Verwirklichung dieser Zwecke dienten, so etwa auch die Sorge für Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 439. So Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 21 und 24; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, S. 28 f.; ähnlich auch Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 442; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 33; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 33 f. Dagegen will di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 586, an der Unterscheidung Staat und Gesellschaft zur klaren Aufgabenabgrenzung zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Handeln festhalten. 29 Hesse, Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 439. 30 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 255 ff., insbes. 263. Vgl. dazu Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 1 – 7. 31 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 255. 27 28
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
die Wege der Post, Telegraphie und Eisenbahn.32 Allerdings war für Jellinek auch klar, daß Staatsaufgaben nur in Bezug auf einen konkreten Staat, nicht jedoch theoretisch-abstrakt quasi als natürlich gegeben oder vorrechtlich bestehend bestimmt werden können.33 Jellinek war der Ansicht, daß die Grenzlinie zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Tätigkeit mit Sicherheit gezogen werden könne.34 Als Grundaussage stellte er fest: „Nur soweit die freie individuelle oder genossenschaftliche Tat unvermögend ist, den vorgesetzten Zweck zu erreichen, kann und muß ihn der Staat übernehmen; soweit reine Individualinteressen vorliegen, bleibt ihre Erringung auch dem Individuum überlassen.“35 Insofern ist staatliche Tätigkeit gegenüber individuellem Engagement nur subsidiär. Zur Frage, wie individuelles Handeln unter der Ägide des Staates einzustufen sei, formulierte Jellinek: „Die spezifische Tätigkeit des staatlich angestellten Arztes, des Professors, des Lehrers, des Regierungsbaumeisters usw. ist und bleibt individuelle, vom Staate autorisierte Tat, sie ist niemals Inhalt staatlicher Organtätigkeit, weil der Staat die eigentümliche Art dieser Tätigkeiten zu bestimmen außerstande ist; er kann nur anordnen, daß sie nach bestimmter Richtung wirken und gewisse Effekte hervorrufen sollen, er kann das Quantum aber nicht das Quale der Leistung anbefehlen. . . . Wissenschaftliche Entdeckungen machen und Kunstwerke schaffen, liegt außerhalb des möglichen staatlichen Machtbereichs; aber Briefe befördern, Bahnzüge verkehren lassen, Versicherungsanstalten errichten usw., sind Funktionen, die durch solidarische Tat und durch äußere Mittel in zweckmäßiger Weise versehen werden können. Je mehr durch einheitliche, umfassende Organisation, d. h. durch Zentralisation, das in Frage stehende Kulturinteresse befriedigt werden kann, desto größer ist der Anspruch des Staates und an den Staat, es ausschließlich oder doch überwiegend zu versorgen.“36 Die Jellineksche Unterscheidung zwischen exklusiver und konkurrierender Staatsaufgabe wurde insbesondere von Hans Peters aufgegriffen und weiterentwikkelt.
b) Hans Peters: Staatsaufgaben und öffentliche Aufgaben Anknüpfend an den Wortlaut des Art. 30 GG, der u. a. „die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ dem Grundsatz nach den Ländern überträgt, hat Peters zur AbVgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 258. Vgl. di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 586; Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 1 – 23, in denen Herzog auf staatliche Aufgaben in der Menschheitsgeschichte eingeht. Zur Entwicklungsgeschichte der Staatsaufgaben vgl. Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben; Schultze-Fielitz, Staatsaufgabenentwicklung und Verfassung. 34 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 259. 35 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 259. 36 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 260 f. 32 33
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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grenzung staatlicher von privaten Tätigkeiten das Begriffspaar der öffentlichen Aufgabe und der Staatsaufgabe eingeführt. Peters forderte eine strenge Trennung der beiden Begriffe. Danach sind öffentliche Aufgaben als Oberbegriff solche Aufgaben, an deren Erfüllung die Öffentlichkeit maßgeblich interessiert ist, während als Staatsaufgaben die Tätigkeiten zu bezeichnen sind, die der Staat selbst durchführt. Dementsprechend ist die Staatsaufgabe eine der vorkommenden Unterarten der öffentlichen Aufgabe.37 Die Staatsaufgabe wird entweder durch unmittelbare staatliche Verwaltungsbehörden oder im Wege der mittelbaren Staatsverwaltung durch öffentliche Anstalten oder Körperschaften sowie durch Beleihung Privater mit Staatsaufgaben wahrgenommen. Hierher gehören nach Peters etwa Armee, Polizei und Steuererhebung und aus geschichtlichen Gründen Straßenbau und Telekommunikation. Im Gegensatz zur Staatsaufgabe könne die öffentliche Aufgabe vollkommen dem Privatsektor überlassen sein, der Staat könne die private Tätigkeit einer staatlichen Aufsicht unterstellen oder mit Rahmenregeln über Träger und Richtlinien für die Tätigkeiten Einfluß ausüben, ohne selbst tätig zu werden.38 Nach Peters würden Staatsaufgaben durch Gesetz eingeführt, ihre Ursachen seien häufig geschichtlicher Natur und nicht unbedingt ökonomisch erforderlich.39 Die Staatsaufgabe Peters entspricht damit der exklusiven Staatsaufgabe Jellineks, während die öffentliche Aufgabe nach Peters der konkurrierenden Staatsaufgabe Jellineks nachempfunden ist. Auch wenn ein prominenter Teil des Schrifttums dieser einfachen und klaren Unterscheidung Peters folgt40, hat sie sich nicht endgültig durchsetzen können. Neben der Tatsache, daß lediglich die Staatsaufgabe, nicht aber die öffentliche Aufgabe im Grundgesetz Erwähnung findet, liegt das vor allem an einer Unschärfe der Kategorisierung des Begriffs. Lediglich die Abgrenzung der Staatsaufgabe zu Staatszweck, Staatsziel und Staatsfunktion ist weitestgehend unstreitig.
c) Abgrenzung der Staatsaufgabe zu Staatsziel, Staatszweck und Staatsfunktion Als Staatsziele lassen sich Belange des Gemeinwohls beschreiben, die der Staat sich zu eigen macht und in deren Dienst er sich planmäßig stellt.41 Die Staatsziele Vgl. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 878 f. Vgl. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 879. 39 Vgl. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 892 f. 40 Beispielhaft Britz, Die Mitwirkung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, S. 418; Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, S. 603; Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 136 – 139; Sobota, Staatsaufgaben, S. 298 f.; mit Abwandlung in „Aufgabe mit Öffentlichkeitsbezug“ auch Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 50. 41 Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 115; vgl. auch Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 43 ff. 37 38
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sind weniger konkret als Staatsaufgaben, indem sie Wahl der Mittel, Verfahren und Organe dem Ermessen des Staates überlassen.42 Trotz dieses weiten Entscheidungsspielraumes des Gesetzgebers entfaltet die Staatszielbestimmung rechtliche Bindung. Es ist nicht ausreichend, daß der Gesetzgeber überhaupt und irgendwie tätig wird. Der Schutz, beispielsweise für das Staatsziel des Umweltschutzes nach Art. 20a GG, muß wirksam sein, und insbesondere muß der Gesetzgeber die Risiken für die geschützten Lebensgrundlagen nach dem Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis ermitteln, sorgfältige Prognosen über die den Schutzgütern drohenden Gefahren und die Mittel zu deren Abwehr anstellen und die Schutzmaßnahmen in ein angemessenes Verhältnis zu anderen Verfassungsprinzipien und Verfassungsrechtsgütern bringen.43 Daraus wird deutlich, daß die Staatsziele eine objektiv-rechtliche Ausrichtung haben. Sie richten sich in erster Linie an den Gesetzgeber und räumen keine subjektiv-öffentlichen Rechte ein.44 Wesentlich weiter als Staatsziel und auch als Staatsaufgabe ist hingegen der Staatszweck. Das Thema der Lehre vom Staatszweck ist die Frage der Rechtfertigung, der Legitimation des Staates. Es geht dabei um die Bahnen und Grenzen der Wirksamkeit des Staates.45 Die Staatsfunktionen schließlich beschreiben in formaler Hinsicht, auf welche Art und Weise der Staat unabhängig vom Inhalt tätig wird, also die Mittel staatlichen Handelns ohne spezifische Zuordnung zu einem Staatsziel oder einer Staatsaufgabe46. Staatsfunktionen sind Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung.47 Mit dieser groben Kategorisierung ist jedoch die dogmatische Bestimmung der Staatsaufgabe noch nicht sehr viel weiter vorangeschritten. Die folgende kurze – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit erstellte – Analyse von Rechtsprechung und Schrifttum zeigt, daß Peters Kategorisierung von öffentlichen und staatlichen Aufgaben nicht zur herrschenden Meinung geworden ist und insgesamt eine einheitliche Staatsaufgabenlehre fehlt.48 42 Vgl. Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 313 ff.; Wahl, Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, S. 30. 43 Vgl. Murswiek, Staatsziel Umweltschutz, S. 233; Steinberg, Verfassungsrechtlicher Umweltschutz durch Grundrechte und Staatszielbestimmung, S. 1992. Vgl. BVerfGE 79, 175, 202; 88, 203, 262 f. 44 Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge“, Hrsg. Bundesministerium des Inneren und Bundesministerium für Justiz, Bonn 1983, Tz. 160 ff. 45 Wahl, Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, S. 30; so auch Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 116; stellvertretend für die klassische Lehre vom Verwaltungszweck Jellinek, Allgemeine Staatslehre, § 8. 46 Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 145. 47 Vgl. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 145; Wahl, Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, S. 30. 48 So Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 135 ff.; Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 1; Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfas-
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d) Fehlen einer einheitlichen Staatsaufgabenlehre Zunächst sei ein Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geworfen. Das Gericht ist in seinen Entscheidungen der Einteilung Peters nicht gefolgt. So urteilte es in seiner 1. Fernsehentscheidung49: „Die Veranstaltung von Rundfunksendungen ist nach der deutschen Rechtsentwicklung eine öffentliche Aufgabe. Wenn sich der Staat mit dieser Aufgabe in irgendeiner Form befaßt, wird sie zu einer staatlichen Aufgabe, deren Erfüllung nach Art. 30 des Grundgesetzes Sache der Länder ist.“ Nach Peters würde eine öffentliche Aufgabe erst dann zur Staatsaufgabe, wenn sich ausschließlich der Staat mit ihrer Erfüllung beschäftigte, nicht aber schon allein dadurch, daß sich der Staat mit der Erfüllung der Aufgabe irgendwie beschäftigt.50 Auch in anderen Entscheidungen ist das Bundesverfassungsgericht wenig wortreich hinsichtlich einer dogmatischen Ausdifferenzierung der Begriffe. So bezeichnete es die Energieversorgung als öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz.51 Weiterhin äußerte sich das Gericht zur Trägerschaft der Energieversorgung, indem es die Durchführung der Energieversorgung als typische, die Daseinsvorsorge betreffende öffentliche Aufgabe der kommunalen Gebietskörperschaft bezeichnete52. Von „originären Staatsaufgaben“ sprach das Gericht im Zusammenhang mit dem Notariat als Tätigkeiten, „die nach der geltenden Rechtsordnung hoheitlich ausgestaltet sein müssen.“53 Das Bundesverwaltungsgericht benutzte die „originäre Staatsaufgabe“ im Zusammenhang mit der öffentlichen Wasserversorgung und bezeichnete diese als „nicht privatisierbare Staatsaufgabe“.54 Schließlich benutzt das Bundesverfassungsgericht auch den Terminus der „öffentlich-rechtlichen Aufgabe“55. Der BGH sungsstaat, Rn. 132; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 171 m. w. N.; Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 516; Saladin, Verantwortung als Staatsbegriff, S. 78; Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 6 f. 49 BVerfGE 12, 205 (243). 50 So auch Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 137, der insofern auf das positive Recht, insbesondere das Grundgesetz, abstellt und an die Einstufung als Staatsaufgabe die Rechtsfolge knüpft, daß spezifische staatsgerichtete Verfassungsgebote aufleben: das Erfordernis demokratischer Legitimation, die Kompetenzverteilungsregeln, das Rechtsschutzsystem, das Sonderrecht der Haftung, die Grundrechtsbindungen. 51 BVerfGE 66, 248 (258), danach gehört die Daseinsvorsorge zum Bereich der Energieversorgung; Vgl. auch ähnliche Formulierungen in BVerfGE 15, 235 (241); 38, 258 (270); 53, 366 (401). Vgl. Gröschner, GG II, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 54. 52 BVerfG in NJW 1990, S. 1783. 53 BVerfGE 73, 280, (294). Vgl. dazu kritisch Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 99. 54 BVerwGE 106, 64 (77 f.). 55 BVerfGE 31, 314 (329). Weitere Urteile und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur öffentlichen und staatlichen Aufgabe sind BVerfGE 8, 51 ff.; 10, 89 (102); 10, 302 (327); 11, 30 (39); 12, 113 (128); 14, 312 (317); 16, 147 ff.; 17, 371 ff. Eine Besprechung derselben findet sich bei Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe.
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knüpfte an die Qualifikation eines Bereiches als öffentliche Aufgabe die Rechtsfolge der Grundrechtsbindung56. In der Literatur lassen sich verschiedene Interpretationen und Einschätzungen der Bedeutung der Staatsaufgabenlehre identifizieren. So findet die Kategorisierung Peters prominente Anhänger.57 Dabei folgt Isensee den Kategorisierungen Jellineks und Peters, führt aber noch weitere Kategorien der Staatsaufgaben ein. Zum einen unterscheidet er obligatorische von fakultativen Staatsaufgaben. Obligatorische Staatsaufgaben sind dabei solche, die der Staat erfüllen muß, vergleichbar mit den vom Bundesverfassungsgericht als originär bezeichneten Staatsaufgaben. Im Gegensatz dazu sind fakultative Aufgaben solche, die der Staat freiwillig übernimmt.58 Zum anderen differenziert er zwischen finalen und instrumentalen Staatsaufgaben. Finale Staatsaufgaben verfolgten unmittelbar ein öffentliches Interesse, während instrumentale Aufgaben dem öffentlichen Interesse nur indirekt zu dienen bestimmt seien und sich auf das staatliche Instrumentarium der Gemeinwohlverwirklichung bezögen.59 Klaus Stern bemüht sich um eine verfassungsrechtlich begründete Begrenzung von Staatsaufgaben. Dabei unterscheidet er primäre von sekundären Staatsaufgaben. Primäre Staatsaufgaben sind danach die „essentiellen, dem Staat vorbehaltenen Aufgaben“, während sekundäre lediglich mögliche, vielleicht übliche, jedenfalls aber situationsbedingte Aufgaben sind, bei denen nicht von vornherein die Unentbehrlichkeit der Erledigung durch den Staat feststeht.60 Eine verfassungsrechtliche Begrenzung von Staatsaufgaben erscheint ihm ausschließlich bei den Sekundäraufgaben denkbar und sogar notwendig.61 Für die verfassungsrechtliche Begründung spielten die Grundrechte dabei die zentrale Rolle: „Grundrechte sind Aufruf nicht zu Verstaatlichung, sondern zu staatlicher Selbstbeschränkung, zu dezentraler Problemlösung und Verantwortlichkeit“62. Roman Herzog sieht als modernen Ansatz zu einer Staatsaufgabenlehre die gemeinsamen Überzeugungen der Kulturnationen. Danach bekennen sich alle modernen Staaten zu drei großen Aufgabenkomplexen, die allerdings je nach ideologiBGHZ 29, 76 (80 f.) = DVBl. 1962, S. 298 ff. m. Anm. Zeidler. Vgl. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 50; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, S. 42, 433. di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 587; Häberle, Verfassungsstaaliche Staatsaufgabenlehre, S. 603; Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 136 – 139; Sobota, Staatsaufgaben, S. 299; Wesener, Energieversorgung und Energieversorgungskonzepte, S. 102 f. 58 Vgl. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 152. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, verwendet für originär oder obligatorisch synonym den Begriff „notwendig“. 59 Vgl. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, Rn. 154. 60 Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 11. 61 Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 23. 62 Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 22. 56 57
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scher Vorprägung, gesellschaftlichem Entwicklungsstand und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf höchst unterschiedliche Weise interpretiert und dementsprechend auch sehr verschieden wahrgenommen würden. Dazu zählt er die Gefahrenabwehr nach außen durch Landesverteidigung, die Sicherung des inneren Friedens durch Gewaltmonopol, Gerichtswesen und Rechtsordnung sowie eine Gesellschaftsgestaltung und Sozialstaatlichkeit.63 Allerdings scheint Herzog mit seinem Verständnis der Staatsaufgabenlehre auf den Pfaden der Jellinekschen Staatszwecklehre zur Rechtfertigung des Staates zu wandeln, wenn er Staatsaufgaben als solche Aufgaben beschreibt, „um derentwillen der Staat überhaupt erst geschaffen werden mußte.“64 Klein sieht die Bedeutung der staatlichen Aufgabe des Art. 30 GG darin, daß nur solche Bereiche darunter fallen, deren Ausübung sich auf die Gewichtsverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten auswirkten.65 Die öffentliche Aufgabe als juristischen Begriff zu gebrauchen, bezeichnet er hingegen als fragwürdig und möchte vielmehr staatliche und öffentliche Aufgabe synonym verwenden.66 Aber nicht nur der Begriff der öffentlichen Aufgabe, sondern auch der Begriff der Staatsaufgabe wird bezüglich seiner Tauglichkeit zur Betätigungsabschichtung zwischen öffentlichem und privatem Bereich in Frage gestellt.67 Offenbar einig, unabhängig von der Differenzierung in öffentliche und staatliche Aufgabe, ist sich die Mehrheit des Schrifttums mit der Aussage, daß Staatsaufgaben nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf ein bestimmtes Gemeinwesen zu ermitteln sind.68 Damit verknüpft ist die Feststellung, daß der Aufgabenbereich des Staates offen sei und entsprechend staatliche Aufgaben solche sind, die der Staat nach der geltenden Verfassungsordnung zulässigerweise zu solchen macht.69 Damit ist die Abschichtung von staatlichen und öffentlichen Aufgaben auf ein Problem der Verfassungsauslegung reduziert.70 Anhand der dargelegten verschiedenen Meinungen und Unterschiede bzgl. der Kategorisierungen und Interpretationen der Staatsaufgaben ist hinlänglich deutlich Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 24 – 27. Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 29. 65 Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, S. 758. 66 Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, S. 758 f. Für eine synonyme Verwendung auch di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, S. 587. 67 Vgl. Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 24; Voßkuhle, Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, S. 57 f. m. w. N. 68 Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, Rn. 1; Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, S. 153. 69 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 137; Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, S. 758; Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, S. 153. Vgl. auch neuerdings Art. 87e II GG: „Der Bund nimmt die . . . Aufgaben . . . wahr, die ihm durch Bundesgesetz übertragen werden.“ Vgl. auch BVerfGE 61, 82 (101); 68, 193 (206). 70 Vgl. Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, S. 154. 63 64
10 Ruge
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geworden, daß es an einer gesicherten Staatsaufgabenlehre fehlt. In ähnlicher Weise ist auch der Topos der Daseinsvorsorge, der häufig zur Abschichtung privater von öffentlicher Betätigung angeführt wird, von den unterschiedlichsten Ansichten und Interpretationen geprägt.
4. Daseinsvorsorge a) Die Begründung und der ursprüngliche Inhalt des Begriffs Der Begriff der Daseinsvorsorge wurde erstmalig von Ernst Forsthoff in seiner Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ aus dem Jahr 1938 verwendet.71 Forsthoff entwickelte ihn zur Beschreibung einer neuen Kategorie des Verwaltungshandelns, die über die klassischen, von Otto Mayer geprägten Kategorien der Eingriffsverwaltung und Fiskalverwaltung hinausging. Zu dieser Erkenntnis gelangte er aufgrund der Beobachtung, daß staatliche Tätigkeit immer weniger vom liberal-rechtsstaatlichen Problem hoheitlicher Eingriffe in Grundrechte der Bürger geprägt waren, sondern in zunehmendem Maße von der Erbringung von Leistungen durch den Staat an die Bürger gekennzeichnet war.72 Als Beispiele führte er insbesondere auf kommunaler Ebene die Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität, die Bereitstellung der Verkehrsmittel jeder Art, die Post, Telephonie und Telegraphie, die hygienische Sicherung, die Vorsorge für Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit und vieles andere mehr an.73 Im Hinblick auf diese veränderte Situation formulierte er gleichermaßen prägnant wie provokant, daß „die Grundrechte der Geschichte angehören“ und die rechtsstaatlichen Gegenpole „individuelle Freiheit und staatlicher Zwang“ überholt seien.74 Hinsichtlich der Mängel der älteren Verwaltungsrechtswissenschaft führt Forsthoff aus: „Die Daseinsvorsorge, als Vorsorge für Lebensnotwendigkeiten, für die Daseinsmöglichkeit schlechthin, findet heute bei weitem nicht die dogmatische Beachtung, die ihr gebührt, insbesondere ist sie in den modernen Erörterungen um eine neue Grundlegung des Verwaltungsrechts kaum zur Geltung gekommen.“75 Die Gründe dafür benennt Forst71 Zum Begriff der „Daseinsfürsorge“ Karl Jaspers aus „Die geistige Situation der Zeit“ von 1931 und der Frage, inwieweit Forsthoff auf diesen Begriff als Vorbild für seinen Begriff der Daseinsvorsorge zurückgegriffen haben könnte vgl. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 20 – 26. 72 Mit der Ausdehnung der Leistungsverwaltung ging sowohl ein wachsender Staatssektor als auch eine verstärkte Einbindung Privater in die Leistungserfüllung des Staates einher. Unter den Stichworten „mittelbare Staatsverwaltung“, „Flucht ins Privatrecht“, „Beleihung“, „Verwaltungshelfer“ und „Verwaltungsprivatrecht“ werden Probleme der Betrauung Privater mit öffentlichen Aufgaben diskutiert, vgl. Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 162; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23. 73 Vgl. Forsthoff, Die Verwaltungs als Leistungsträger, S. 7. 74 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 1. 75 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 12.
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hoff ebenfalls: „Als in der zweiten Hälfte, in größerem Umfang erst zum Ende des vorigen Jahrhunderts die öffentliche Verwaltung die Daseinsvorsorge zu übernehmen begann, stand die Dogmatik des Verwaltungsrechts in ihren wesentlichen Zügen fest. Und zwar war das Verwaltungsrecht auf eine Verwaltung zugeschnitten, welche sich wesentlich in der Gewährleistung eines gesetzlich umschriebenen Ordnungszustandes erschöpfte. Jedenfalls stellte es für die von der Verwaltung dargebrachten positiven Leistungen keine Rechtsbegriffe und Rechtsformen zur Verfügung. Mehr noch: diese Verwaltungsleistungen ließen sich, wenn man von der öffentlichen Anstalt absieht ( . . . ), in dem Schema des Verwaltungsrechts nicht unterbringen. Denn das Verwaltungsrecht hatte im Grunde nur zwei Hauptgegenstände: die Anwendung obrigkeitlicher Gewalt gegenüber dem einzelnen und die Leistungspflichtigkeit (im weitesten Sinne) des einzelnen gegenüber der Verwaltung. Ihm lag die Generalunterscheidung von obrigkeitlicher Gewalt und privater Autonomie des einzelnen mit den ihr zugeordneten Regeln des Privatrechts zugrunde. Darin findet es seine Erklärung, daß die Verwaltung als Leistungsträger, sofern sie sich nicht der Anstalt des öffentlichen Rechts bediente, auf die Vorschriften des bürgerlichen Rechts zurückgriff.“76 Entsprechend sieht Forsthoff die Aufgabe der modernen Verwaltungsrechtslehre seiner Zeit darin, die Wissenschaft wieder der Realität anzunähern, indem das Phänomen der Verwaltung als Leistungsträger als verwaltungsrechtliche Kategorie etabliert werde. Als wesentliches Problem bezeichnete er dabei die Frage der „Teilhabe des einzelnen Volksgenossen an den Einrichtungen der Daseinsvorsorge“.77 Für die Eingrenzung der Reichweite der Daseinsvorsorge und damit verbunden der Teilhaberechte der Bürger stellte Forsthoff zwei Kriterien78 auf: Zum einen müsse es sich um zweiseitige Leistungsverhältnisse handeln. Damit schied er einseitige Leistungsverhältnisse wie staatliche Fürsorge für individuelle Notlagen und Leistungen hoheitlicher Art wie Polizei- und Gerichtstätigkeit aus. Zum anderen müsse eine Angewiesenheit des einzelnen auf den Bestand des Leistungsverhältnisses vorliegen. Zu diesen Kriterien bemerkt Forsthoff selbstkritisch: „Wie weit der Bereich der Daseinsvorsorge nach Maßgabe der angegebenen Gesichtspunkte geht, das zu beurteilen mag im einzelnen zweifelhaft sein. Sicher fallen darunter alle Versorgungsbetriebe, . . . , ferner die Verkehrsmittel innerhalb des Reichsgebietes . . . . Im übrigen kommt es darauf an, wie weit man die lebenswichtige Angewiesenheit des einzelnen auf die Inanspruchnahme der für die Allgemeinheit bestimmten Einrichtungen, seine Vorsorgebedürftigkeit, ausdehnen will.“79 Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, ist genau diese Erkenntnis Forsthoffs das hauptsächliche Problem des Begriffs Daseinsvorsorge bis heute geblieben. Zum Abschluß seiner Schrift schlägt Forsthoff schließlich vor, die Unklarheiten auf dem 76 77 78 79
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Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 20 f. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 20. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 41 f. Forsthoff, Die Verwaltungs als Leistungsträger, S. 42.
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Gebiet der Daseinsvorsorge durch ein allgemeines Gesetz über alle daseinswichtigen Leistungsverhältnisse zu beseitigen. Dieses Gesetz müßte sich auf einige Hauptpunkte wie etwa Leistungs- bzw. Lieferungspflichten, Rechtsformenklarheit und damit verbunden die Frage eines geordneten Rechtsschutzes sowie das Recht der Versorger auf Leistungsverweigerung unter bestimmten Bedingungen beschränken.80 Damit würde „eine rechtlich gesicherte Teilhabe an der Daseinsvorsorge . . . eine Art von Ersatz für die überholten Sicherungen bieten, welche die Grundrechte in sich beschlossen“.81 Insbesondere im Hinblick auf die massive Kritik an Forsthoffs Person und Teilen seiner Aussagen82, ist es wichtig, diese in ihren zeitlichen Zusammenhang zu setzen. Zum einen war die Entwicklung Deutschlands zu einem Industriestaat des beginnenden 20. Jahrhunderts wie in anderen europäischen Staaten mit der Herausbildung neuer Aufgaben für Staat und Verwaltung verbunden. Damit einher gingen soziale Veränderungen, die das geistige Leben der Zeit und entsprechend auch die Wissenschaften stark beeinflußten.83 Zum anderen macht sich in Forsthoffs Schriften der Umstand bemerkbar, daß durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland eine anti-liberale Zentralwirtschaft das Leitbild der Wirtschaftspolitik geworden war und gleichzeitig die Grundrechte und liberalen Freiheiten nicht nur in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, sondern auch politisch außer Kraft gesetzt wurden.84 Die Daseinsvorsorge „soll als soziologischer Begriff die Leistungen und Veranstaltungen der öffentlichen Hand bezeichnen, auf die der einzelne durch den Verlust des selbstbeherrschten Lebensraumes und die damit einhergehende soziale Bedürftigkeit i.w.S. angewiesen ist. Daseinsvorsorge sind danach diejenigen Veranstaltungen, welche zur Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses getroffen werForsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 49 f. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 46. 82 Beispielhaft Anders, Der Daseinsversicherer des Monopolkapitals und Gehilfe des Führers, 981 ff., dessen Beitrag in der Zeitschrift „Staat und Recht“ aus dem Staatsverlag der DDR allerdings vom typischen, sozialistisch-polemischen Ton staatsnaher bzw. staatlicher Publikationen der DDR getragen wird. 83 Im Einzelnen zu der Frage, auf welche gesellschaftstheoretischen, wirtschaftspolitischen, staats- und rechtstheoretischen sowie politischen Strömungen seiner Zeit Forsthoffs Begriff der Daseinsvorsorge beruht vgl. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 17 – 158. Dort insbesondere zum Phänomen der Massengesellschaft bei Karl Jaspers und José Ortega y Gassets, zur Appropriation bei Max Weber, zum von einigen Vertretern der sog. Kathedersozialisten aus dem Verein für Socialpolitik entwickelten Staatssozialismus, zu Lorenz von Steins Verwaltungslehre und zu Carl Schmitts Staatslehre. 84 Zur Frage, inwieweit sich anhand Forsthoffs Vita und wissenschaftlicher Veröffentlichungen sein Verhältnis zum Nationalsozialismus bestimmen läßt vgl. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 148 – 158. Jedenfalls steht für Scheidemann fest: „Die Definition des Begriffs Daseinsvorsorge ist ohne die politischen Voraussetzungen des Jahres 1938 nicht denkbar.“ ibid. S. 158. 80 81
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den.“85 Als zweite Funktion des Begriffs heißt es, daß er dazu dienen solle, „die Verwaltungsrechtslehre auf eine von ihr zu bewältigende Aufgabe hinzuweisen, sie anzuregen, sie wieder an die Verwaltungswirklichkeit heranzuführen, der Leistungsverwaltung einen Platz im öffentlichen Recht zu verschaffen und sie nicht unbeachtet der privatrechtlichen Formtypik zu überlassen.“86
b) Der Begriff im Wandel: Daseinsvorsorge als moderner Rechtsbegriff mit Tatbestand und Rechtsfolge? Der von Forsthoff ins Leben gerufene Begriff der Daseinsvorsorge hat im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen erfahren. Diese Entwicklung verwundert aus zwei Gründen nicht. Man bedenke einerseits, daß bereits Forsthoff es als schwierig empfand, die Grenzen und damit den Tatbestand und die Rechtsfolgen des Begriffs zu bestimmen.87 Andererseits fand sich der Begriff nach der Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg und des totalen Zusammenbruchs des wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Systems der Herausforderung ausgesetzt, in ein vollkommen andersartiges Rechtssystem integriert werden zu müssen, als dasjenige, in dessen Rahmen er entwickelt wurde. Die Einstufung der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, die von der überwiegenden Zahl der Autoren in Abrede gestellt wird88, muß sich an der Abgrenzbarkeit seines Tatbestandes und seiner Rechtsfolgen messen lassen. Insofern ist ein Blick auf die Konzeption des französischen „service public“ hilfreich, vor dessen Hintergrund sich bestimmte Mängel hinsichtlich der Qualifizierung der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff besonders deutlich zeigen.
aa) Ursprung, Tatbestand und Rechtsfolgen des französischen Konzepts des „service public“ im Überblick Das Konzept des „service public“ ist ein Phänomen des modernen französischen Wirtschaftsverwaltungsrechts. Seine konkreten Ursprünge lassen sich auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren. Damals vollzog sich über den Streit zwischen der „Puissance-Publique-Lehre“ und der „Service-Public“-Lehre wenige Jahrzehnte früher als in Deutschland die Weiterentwicklung des französischen Verwal85 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 26. Dazu vgl. Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, 516. 86 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 55 f. 87 Vgl. Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 12, 42. 88 Vgl. Börner, Irrwisch Daseinsvorsorge, S. 406 ff.; Fischerhof, „Daseinsvorsorge“ und wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, S. 41 ff.; Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 139, m. w. N.; Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 516, Fn. 26 und 517, Fn. 48 m. w. N.
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tungsrechts. Während die „Puissance-Publique“-Anhänger in der Ausübung hoheitlicher Gewalt durch staatliche Behörden im klassischen Über / Unterordnungsverhältnis den Sinn und die Rechtfertigung des Staates sahen, orientierten sich Vertreter der „Service-Public“-Lehre an der Erbringung von Dienstleistungen für den Bürger durch den Staat89. Mit der Ausweitung der Staatstätigkeit erfuhr auch das Konzept des „service public“ eine rasante Erweiterung, was die Bestimmung und Abgrenzung des Begriffs zunehmend erschwerte und schließlich zu einer Krise des „service public“ führte90. Zur Klärung vieler Probleme trugen zahlreiche Entscheidungen des Conseil d’Etat, Conseil Constitutionelle und des Tribunal des Conflits bei91. Trotz bis heute noch in vielen Einzelheiten bestehender Unklarheiten über Abgrenzung und Zuordnung von Bereichen zum „service public“, entwickelte sich ein vergleichsweise schlüssiges Konzept. Dazu trug sicherlich auch die Art und Weise der Errichtung der „services publics“ in Frankreich durch Verfassung, Gesetz oder Verwaltungsakt bei, teils auch durch faktische Anerkennung durch die Gerichte.92 Die Rechtsprechung hat dabei organische, funktionelle und materielle Elemente zur Einordnung von Tätigkeiten als „service public“ aufgenommen und mit der modernen Lehre definiert sie eine Aktivität dann als „service public“, wenn sie durch ein öffentliches Unternehmen oder unter dessen Verantwortung zur Erfüllung eines öffentlichen Interesses ausgeübt wird93. Die Einordnung bestimmter Tätigkeiten unter den Tatbestand des „service public“ löst Rechtsfolgen bzgl. des Rechtsweges und der Anwendbarkeit verschiedener Grundsätze aus. Während nach früherer Rechtsprechung für den Bereich des „service public“ immer der Verwaltungsrechtsweg und damit Amtshaftung eröffnet war, hat sich nunmehr mit dem Eindringen auch privater Unternehmen in die Wahrnehmung von „services publics“ eine Entscheidung über den Rechtsweg nach dem Zweck der Tätigkeit herausgebildet. Auch wenn ein „service public“ durch ein privates Unternehmen wahrgenommen wird, so wird seine Tätigkeit dem öffentlichen Recht zugeordnet, wenn der Zweck der Tätigkeit der Erfüllung der Bedürfnisse des Allgemeinwohls dient. Die bereits erwähnte Ausweitung des Konzepts führte dazu, daß neben die ursprünglichen services publics administratifs, die nur die nationale Verteidigung, Schule und Straßenwesen umfaßten, die „services publics à charactère industriel et commercial“ traten94. Für ihre Zuordnung zum 89 Vgl. Amselek, Le service public et la puissance publique; Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 213; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 129; Valette, Le service public à la française, S. 24 – 37. 90 Schnur, Die Krise des Begriffs des service public im französischen Verwaltungsrecht. 91 Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 130 f. 92 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214. 93 Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 129 f.; Valette, Le service public à la française, S. 35 – 53. 94 Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 131; Valette, Le service public à la française, S. 41 f.
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„service public“ war allein der Zweck entscheidend, über den wiederum der Gesetzgeber zu befinden hatte95. Die konkrete Ausführung der Tätigkeiten des als „service public“ identifizierten Bereichs unterliegt materiell-rechtlichen Anforderungen, die in Frankreich als Gesetze, Grundprinzipien oder Grundsätze des „service public“ bezeichnet werden96. Zunächst ist hier zu nennen der Grundsatz der Kontinuität der Dienstleistung, d. h. das regelmäßige Funktionieren ohne Unterbrechung. Dieser auch als Verfassungsprinzip anerkannte Grundsatz kann sich einschränkend auf andere verfassungsrechtlich garantierte Prinzipien wie das Streikrecht auswirken97. Weiterhin soll der Grundsatz der Adaptation gewährleisten, daß die Dienstleistungen an den technischen, wirtschaftlichen und juristischen Fortschritt angepaßt und damit in ihrer Qualität und Quantität auf der Höhe der Zeit gehalten werden98. Der Grundsatz der Gleichheit garantiert den diskriminierungsfreien Zugang aller Bürger zum „service public“. Teilweise wird vertreten, daß er auch die vor allem in der Energiewirtschaft anzutreffende Gleichpreisigkeit umfaßt, d. h. den Zugang zum „service public“ zu gleichen Preisen im ganzen Land 99. Der Grundsatz der Neutralität verbietet es, daß der „service public“ auf eine Art und Weise betrieben wird, die bei Benutzern oder Angehörigen des „service public“ nach politischen, religiösen oder sonstigen Überzeugungen unterscheidet100. Darüberhinaus sind in jüngerer Zeit noch die Grundsätze der Transparenz mit einem Recht auf Auskunft und Information sowie das Gebot der Vereinfachung, z. B. durch bessere Lesbarkeit von Formularen, hinzugekommen101. Während das französische Konzept des „service public“ auf EU-Ebene den Art. 86 EG (90 EGV) stark beeinflußte, wirken mittlerweile Rechtsprechung des EuGH und die Politik der Kommission auch auf das französische Konzept zu95 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindung, S. 63. 96 Vgl. Celestine / Felsner, Öffentliche Unternehmen, Privatisierung und service public in Frankreich, S. 106 f.; Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. S. 132; Valette, Le service public à la française, S. 85 – 104. 97 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 132; Valette, Le service public à la française, S. 86 – 91. 98 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Valette, Le service public à la française, S. 91 – 95. 99 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 132; Valette, Le service public à la française, S. 95 – 98. 100 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214; Valette, Le service public à la française, S. 98 – 101. 101 Vgl. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public“, S. 214.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
rück.102 Trotz dieser neueren Einflüsse bleibt der „service public“ in seinen Grundfesten unerschüttert. Diese zeichnen sich vor allem durch einen deutlich eingrenzbaren Tatbestand und eine Anzahl fester Rechtsfolgen aus. Im Gegensatz dazu erscheint der Tatbestand und damit die Reichweite der Daseinsvorsorge wesentlich unschärfer.103 bb) Merkmale des Tatbestands der Daseinsvorsorge Im Rahmen des nationalsozialistischen wirtschaftspolitisch zentralwirtschaftlich ausgerichteten Systems hatte Forsthoff noch folgende drei Bereiche unter Daseinsvorsorge eingeordnet: (1) Ein angemessenes Verhältnis von Lohn und Preis, dem ein Recht auf Arbeit zugrundeliegt, (2) Lenkung von Bedarf, Erzeugung und Umsatz, (3) Darbringung von Leistungen, auf die der Mensch lebensnotwendig angewiesen ist.104 Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und seiner Ideologien reduzierte Forsthoff in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts von 1950 die Bedeutung des Begriffs auf den letzten der drei genannten Punkte.105 Entsprechend wurde auch nur dieser Bereich von Schrifttum und Rechtsprechung zur Weiterentwicklung aufgegriffen. Forsthoff formulierte nun: „Alles, was von seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuß nützlicher Dienstleistungen zu versetzen, ist Daseinsvorsorge“106. Anhand dieser neuen Definition wird neben der Aufgabe der ersten beiden Bereiche gleich noch eine zweite von Forsthoff selbst vorgenommene Veränderung seines ursprünglichen Begriffs deutlich. Er gab in seinen Nachkriegsschriften die Unterscheidung zwischen lebensnotwendigen Bedürfnissen und solchen, auf die der Mensch nicht lebensnotwendig angewiesen ist, auf, und stieß damit im Schrifttum auf Zustimmung.107 Damit erweiterte er den Tatbestand des Begriffs über den 102 Vgl. Kovar / Simon, Service public et Communauté européenne, S. 3 – 98; Valette, Le service public à la française, S. 60 – 83. 103 Vgl. insgesamt Püttner, Daseinsvorsorge und service public im Vergleich, 45 ff. 104 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 7. 105 Es ist allerdings anzumerken, daß Forsthoff bereits in seiner Schrift von 1938 seine Untersuchung auf diesen dritten Bereich der Daseinsvorsorge konzentriert hatte. Vgl. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 7. 106 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, S. 370. 107 Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Aufl. 1950, S. 264; Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 12; zustimmend Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, S. 627; Badura, Das Verwaltungsmonopol, S. 188; Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, S. 17.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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von ihm als Vitalsphäre bezeichneten Bereich hinaus, der nur diejenigen Bedürfnisse erfaßt hatte, die mit der Fristung der nackten Existenz zusammenhingen. Im Gegensatz dazu wurde von der Rechtsprechung allerdings noch längere Zeit das Merkmal der Lebensnotwendigkeit als Abgrenzungskriterium herangezogen108. Aber nicht nur Forsthoff selbst nahm Veränderungen an seinem ursprünglichen Begriff vor. In zahlreichen Beiträgen des Schrifttums gab es verschiedene Versuche, sein Konzept zu interpretieren, zu präzisieren und zu erweitern. Im Handbuch des Staatsrecht von Isensee und Kirchof machte Rüfner die Unterscheidung von Daseinsvorsorge im weiteren und Daseinsvorsorge im engeren Sinne. Zum weiteren Verständnis zählte er die Gestaltung der normativen Rahmenbedingungen etwa durch Privatrecht, Arbeitsrecht und ausreichenden Rechtsschutz, den Bereich der Daseinsvorsorge im engeren Sinn, der alle Sach- und Dienstleistungen der öffentlichen Hand umfaßt sowie die Geldleistungen des Staates. Rüfner sieht ebenfalls Probleme bei der Abgrenzung der einzelnen Bereiche.109 Die Vorgehensweise Rüfners hinsichtlich der Eingrenzung des zentralen Bereichs der Daseinsvorsorge im engeren Sinne, auf den sich Schrifttum und Lehre konzentrieren, besticht durch ihre Unkompliziertheit. Ausgangspunkt ist eine ähnlich weite Definition wie bei Forsthoff. Er bezeichnet als Daseinsvorsorge die Versorgung des Bürgers mit Gütern und Dienstleistungen, die dem jeweiligen stand der Zivilisation entsprechen und scheidet die Befriedigung von Luxusbedürfnissen aus110. Auf der Grundlage dieser Definition grenzt Rüfner den Bereich der Daseinsvorsorge durch eine Auflistung aller möglichen Bereiche der Daseinsvorsorge ein. Allerdings bleibt streckenweise unklar, was genau ursächlich dafür ist, daß die jeweiligen Tätigkeiten in den staatlichen Verantwortungsbereich fallen: Daseinsvorsorge, Sozialstaatsprinzip oder eine Staatsaufgabenlehre. 111 Einen anderen Versuch zur Eingrenzung des Tatbestands der Daseinsvorsorge nahm Klein vor. Er legte das Gewicht auf die Frage einer staatlichen Garantiepflicht. Diese Garantiepflicht werde nur im Ausnahmefall aktuell, nämlich immer dort, wo eine angemessene Bedürfnisbefriedigung durch die Gesellschaft selbst nicht erfolge. Wo hingegen die gleichen Leistungen durch den Staat in Konkurrenz zur privaten Wirtschaft erbracht würden, liege keine Daseinsvorsorge vor. Auf eine Gewinnerzielungsabsicht komme es nicht an.112 In ähnlicher Weise will Rüfner eine Rechtspflicht des Staates zur Befriedigung von bestimmten Bedürfnissen nur dann sehen, wenn ein ausreichendes privates Angebot fehlt.113 Diese Sichtweise entspricht den oben dargestellten wirtschaftswissenschaftlichen Rechtfertigungen 108 Vgl. nur BGH NJW 1969, S. 2195 f. Kritisch dazu Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 516. 109 Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 6 – 27. 110 Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 3, 44. 111 Vgl. Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 29. 112 Vgl. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, S. 18 f. 113 Vgl. Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 29.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
für staatliche Eingriffe in den Markt im Falle des Fehlens eines funktionierenden Wettbewerbs, des sog. Marktversagens. Insbesondere aufgrund der Annahme des Marktversagens wird die Energieversorgung als Bereich der Daseinsvorsorge eingestuft.114 Weiterhin wurde vom Schrifttum die Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der Zweiseitigkeit des Leistungsverhältnisses als Tatbestandsmerkmal der Daseinsvorsorge gefordert115, das Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht als neues Abgrenzungskriterium diskutiert116 sowie zur Eingrenzung der Daseinsvorsorge auf den Zweck der Handlung abgestellt117. Zur Überwindung der Abgrenzungsschwierigkeiten des Tatbestands der Daseinsvorsorge schlug Gröttrup vor, die Unterscheidung zwischen Fiskalverwaltung und Eingriffsverwaltung im Hinblick auf eine Grundrechtsbindung der öffentlichen Hand vollkommen aufzugeben und damit die öffentliche Hand ausnahmslos öffentlich-rechtlichen Bindungen zu unterwerfen.118 Insgesamt bietet das Schrifttum hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale des Begriffs Daseinsvorsorge ein höchst uneinheitliches Bild und die Eingrenzung des Begriffs bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Ein ähnlich uneinheitliches Bild bietet sich in der Rechtsprechung, in der einmal das forsthoffsche Merkmal der Lebensnotwendigkeit des Leistungsverhältnisses betont wird119, ein andermal die Daseinsvorsorge mit dem Begriff des Verwaltungsprivatrechts gleichgesetzt wird120. Ausschlaggebend für die im Vergleich mit dem französischen „service public“ unterentwickelte Dogmatik hinsichtlich des Tatbestands der Daseinsvorsorge dürfte vor allem die Tatsache sein, daß im Gegensatz zur französischen Nationalversammlung („Konstitutionalisierung des service public“) das deutsche Parlament niemals bestimmte Wirtschaftszweige zu Bereichen der Daseinsvorsorge erklärt hat. Dies gilt sowohl für die einfachgesetzliche, als auch für die verfassungsgesetzliche Ebene. Der deutsche Gesetzgeber hat die Daseinsvorsorge tot geschwiegen.
cc) Rechtsfolgen Es überrascht daher nur wenig, daß neben dem Tatbestand auch die Rechtsfolgen des Begriffs Daseinsvorsorge wenig Konturen aufweisen. Als Rechtsfolgen ei114 Zu den verschiedenen Gründen des Marktversagens in der Stromversorgung Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 68 f. 115 Fischerhof, Öffentliche Versorgung mit Wasser, Gas, Elektrizität und öffentliche Verwaltung. Kritisch dazu Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, S. 20. 116 Vgl. Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung, S. 71 f. 117 Vgl. Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung, S. 72 f. 118 Vgl. Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung, S. 75 ff. 119 BGH NJW 1969, S. 2195 f. 120 Dazu Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 520, insbes. Nachweise Fn. 94.
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ner als Daseinsvorsorge eingestuften Tätigkeit werden im wesentlichen fünf Problembereiche diskutiert. Der wohl prominenteste unter ihnen ist die Frage der Grundrechtsbindung der Verwaltung, ein Problemkreis der eng mit dem Bereich des Verwaltungsprivatrechts verbunden ist121. Es stellt sich hier die Frage, inwieweit grundrechtliche Bindungen, insbesondere der Gleichheitssatz, auch für solche Tätigkeiten gelten, die der Staat in privater Form wahrnimmt und damit auf die klassisch-hoheitlichen Handlungsformen verzichtet. Hier hat beispielsweise der Bundesgerichtshof an die Einstufung einer kommunalen Tätigkeit als Daseinsvorsorge die Rechtsfolge geknüpft, daß es sich um öffentliche Verwaltung handele, die entsprechend nach dem öffentlichen Recht zu behandeln sei.122 Diese Art der Herleitung der Grundrechtsbindung aus der Daseinsvorsorge stieß in der Literatur auf Kritik.123 Als weitere Rechtsfolge des Begriffs Daseinsvorsorge wird die formalrechtliche Frage des einschlägigen Rechtswegs diskutiert.124 Hier entschied das Kammergericht Berlin in einem Fall über Herausgabe und Vertrieb von Steuerfiebeln durch die Steuerverwaltung, daß es sich um „fürsorgende Verwaltung“ im Sinne der Daseinsvorsorge handele und daher öffentliche Gewalt ausgeübt werde. Damit sei der Verwaltungsrechtsweg gegeben.125 Auch diese Rechtsprechung stieß auf ein geteiltes Echo im Schrifttum.126 Eng verbunden mit der Frage der Grundrechtsbindung und der Frage des Rechtsweges ist die Frage des Verwaltungsbegriffs. Im Anschluß an Forsthoff wurde mit dem Begriff der Daseinsvorsorge ein materieller Verwaltungsbegriff eingeführt, um den klassischen, formellen Verwaltungsbegriff abzulösen. Nach dem formellen Verwaltungsbegriff bestimmte sich die Frage nach der Einordnung von bestimmten Tätigkeiten als Verwaltungstätigkeit nach der gewählten Handlungsform. Handelte die Verwaltung mittels eines Verwaltungsaktes, wurde die Tätigkeit dem öffentlichen Recht zugewiesen, mit der Rechtsfolge der Eröffnung des VerwaltungsrechtsVgl. Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 514 m. w. N. BGH NJW 1969, S. 2195 f. Vgl. BGHZ 29, 76, 80; 33, 230, 233; 36, 91, 95 ff., hier zieht der BGH für die Abgrenzung der Daseinsvorsorge zur nach Privatrecht zu behandelnden Fiskalverwaltung und von Grundrechtsbindungen freien Tätigkeiten das Kriterium der mittelbaren oder unmittelbaren Erfüllung staatlicher Aufgaben heran. 123 Vgl. Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 517 f.; ähnlich Emmerich, Die Fiskalgeltung der Grundrechte, S. 332 ff.; a.A. Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, S. 627, Abschn. II.2.(3); Badura, Das Verwaltungsmonopol, S. 189; Evers, Urteilsanm. BGH JZ 1970, 178, 182. 124 Auch hier wird die enge Verbindung mit der Fragestellung des Verwaltungsprivatrechts deutlich. Badura spricht insofern von der Daseinsvorsorge als Wegbereiter des Verwaltungsprivatrechts, Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, S. 627. 125 Schneider, Urteilsanm. KG NJW 1957, S. 1076 f. 126 Vgl. Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, S. 631 m. w. N.; Schneider, Urteilsanm., a. a. O. 121 122
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
weges und der Grundrechtsbindung der Verwaltung. Handelte die Verwaltung mittels privatrechtlicher Verträge, lag kein Verwaltungshandeln vor, eine Grundrechtsbindung entfiel und der ordentliche Rechtsweg war zu beschreiten. Besonders deutlich wird der neue, materielle Verwaltungsbegriff bei Peter Badura. Er präzisiert ein bereits bei Forsthoff anklingendes Anliegen, nämlich die Aufnahme eines materiellen Verwaltungsbegriffs in die Verwaltungsrechtslehre. Die Verwaltungsrechtslehre müsse bei der Einordnung der Verwaltungstätigkeit nicht mehr nur auf die Handlungsformen der Tätigkeit i. S. d. überkommenen Eingriffsverwaltung blicken, sondern -ausgehend vom relativ neuen Phänomen der Leistungsverwaltung – auf den hinter der Tätigkeit erkennbaren Verwaltungszweck sehen. Sei dieser Verwaltungszweck die Daseinsvorsorge, dann müsse die Tätigkeit als Verwaltungstätigkeit im materiellen Sinn eingeordnet werden, unabhängig von der rechtlichen Form des Verwaltungshandelns.127 Allerdings wird auch diese Abgrenzung nicht kritiklos hingenommen. So vertrat Ossenbühl die Ansicht, daß nicht alle Leistungen der Daseinsvorsorge in ihrer Gesamtheit nach öffentlichem Recht zu behandeln seien, sondern nur in Teilen.128 Trotz dieser Probleme hat der materielle Verwaltungsbegriff in der Verwaltungsrechtslehre Gefolgschaft gefunden, wenn auch der formelle Begriff nicht eigentlich ersetzt, sondern eher ergänzt wurde.129 Als weitere Rechtsfolge der Daseinsvorsorge wurde die Frage der Ableitung von Leistungs- und Teilhabeansprüchen, d. h. subjektiv-öffentlichen Rechten, insbesondere im Kommunalrecht bzgl. der Nutzung kommunaler Einrichtungen, diskutiert.130 Forsthoff hatte den Aspekt eines Teilhaberechts der Bürger an den Leistungen der Daseinsvorsorge für ganz wesentlich erachtet.131 Allerdings verlagerte sich die Diskussion in der Nachkriegszeit auf die Frage, inwieweit Teilhabe- und Leistungsansprüche aus Grundrechten, insbesondere dem Gleichheitssatz i.V.m. der Selbstbindung der Verwaltung oder dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet werden 127 Vgl. Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, insbes. S. 627 u. 629 f. So ansprechend einfach diese Einteilung in der Theorie ist, so schwierig erweist sich ihre Anwendung in der Rechtspraxis. So erscheint Baduras Ansicht selbst bei der Anwendung dieser Einteilung auf die Wahl des einschlägigen Rechtsweges unschlüssig, wenn er einerseits zwar auf den Zweck, nicht auf die Form des Verwaltungshandelns abstellt, andererseits aber bei der Bewertung eines Kammergerichts-Urteils folgert, „daß allein darauf abzustellen ist, ob hier eine Anwendung des Sonderrechts der Verwaltung erfolgte oder ob die Verwaltung sich am allgemeinen Privatrechtsverkehr beteiligte“, ibid., S. 631. Mit der Frage nach der Anwendung des Sonderrechts der Verwaltung scheint letztlich mehr auf Fragen der Handlungsform als auf Fragen des Handlungszwecks abgestellt zu werden. 128 Vgl. Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 518. 129 Vgl. Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 10 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 1, Rn. 1 – 8. 130 Vgl. Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 52 f.; Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 236; grundlegend zum subjektiv-öffentlichen Recht Henke, Das subjektive öffentliche Recht; Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 109 ff.; BVerwGE 1, 159; OVG Münster, OVGE 24, 175, 179; OVG Lüneburg, OVGE 25, 345, 353 f. 131 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 20; Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 18.
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könnten. Die Herleitung derartiger Rechte unmittelbar aus dem Begriff der Daseinsvorsorge wurde kaum noch diskutiert.132 Im neueren Schrifttum wird als Methode zur rechtlichen Strukturierung der Leistungsverwaltung teilweise auf die Lehre von den Verwaltungsrechtsverhältnissen abgestellt.133 Allerdings ist auch dieser Ansatz höchst umstritten geblieben.134 Als weitere ebenso umstrittene mögliche Rechtsfolge des Begriffs Daseinsvorsorge wurde die Frage diskutiert, inwieweit sich aus der Daseinsvorsorge ein Kompetenztitel für die Kommunen zur Wahrnehmung von Aufgaben im Versorgungssektor ergeben könnte. Diese Frage entstand im Zusammenhang mit kommunalrechtlichen Vorschriften über die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden (Nachfolgevorschriften der §§ 67 ff. DGO, z. B. § 71 ThürKO). Dabei wurde in Rechtsprechung und Literatur teilweise die Daseinsvorsorge in den Kernbereich des kommunalen Selbstverwaltungsrechts verwiesen und so zumindest eine konkurrierende Betätigungskompetenz gegenüber der Privatwirtschaft abgeleitet135. Rüfner sieht eine Rechtspflicht des Staates für die Befriedigung der entsprechenden Bedürfnisse als Rechtsfolge aus der Qualifizierung eines Bereichs als Daseinsvorsorge. Allerdings müsse der Staat nur dann selbst tätig werden, wenn ein privates Angebot fehle.136 Unklar bleibt aber auch hier, ob Rüfner den Begriff Daseinsvorsorge als Auslöser für die Rechtspflicht sieht oder eher auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes abstellt. Als letzte Rechtsfolge wurden schließlich aus dem Begriff Daseinsvorsorge verschiedene Ausnahmen und Modifikationen des allgemeinen Rechts begründet. Diese reichen von den Ausnahmebereichen des Wettbewerbsrechts, über Besonderheiten bei der Anwendung des Konzernrechts auf Daseinsvorsorge-Unternehmen bis hin zur Durchbrechung gesellschaftsrechtlicher Grundsätze bei Unternehmen der Daseinsvorsorge.137
132 Vgl. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 235 f.; zu Teilhabe- und Leistungsansprüchen und deren Herleitung aus Grundrechten; vgl. Martens und Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 7 ff. und 43 ff. 133 Vgl. Krause, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung; zum Rechtsverhältnis vgl. Gröschner, Vom Nutzen des Verwaltungsrechtsverhältnisses; überblicksartig Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 18 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht § 8 Rn. 16 – 25. 134 Vgl. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 236 m. w. N. 135 Vgl. Britz, Örtliche Energieversorgung nach nationalem und europäischen Recht, § 2, insbes. S. 82, 94; BayVerfGHE 10, 113 = DÖV 1958, S. 216 ff.; BVerfG in NJW 1990, S. 1783; BVerfGE 38, 258 (270 f.); BVerfGE 66, 246 (258); BGHSt 17, 137 (142) und BVerfGE 21, 245 (251) stufen die Arbeitsvermittlung als „wesensmäßig staatliche Daseinsvorsorge“ ein; ablehnend Fischerhof, „Daseinsvorsorge“ und wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden; Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 134 ff. m. w. N. 136 Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 28 f. 137 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 101.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
dd) Jüngste Verwendung im Rahmen des Europarechts: Neue Konturen für einen alten Irrwisch? In jüngerer Zeit ist der Begriff der Daseinsvorsorge verstärkt im europäischen Zusammenhang benutzt worden. Noch 1994 hatte das Eurelectric Committee eine Fragebogenaktion gebilligt, mit der die unterschiedlichen Vorstellungen in den Mitgliedstaaten über einen „service public“ dokumentiert werden sollten. In dieser Übersicht ist bei Deutschland schlicht vermerkt, eine der Figur des französischen „service public“ vergleichbare dogmatische Rechtsfigur sei nicht vorhanden.138 Spätestens seit der Mitteilung der Kommisison vom 26. 9. 1996 zu den „Leistungen der Daseinsvorsorge“139, die jüngst durch die Mitteilung vom 20. 9. 2000 aktualisiert wurde140, hat sich auf europäischer Ebene in den deutschen Fassungen der Dokumente der Begriff Daseinsvorsorge für gemeinwohlorientierte Versorgung mit Grunddiensten im Bereich Telekommunikation, Postwesen, Verkehr, Elektrizität, Hörfunk und Fernsehen durchgesetzt. Dabei besteht regelmäßig ein enger Zusammenhang zu den sog. Universaldienstleistungen, die konkreten Pflichten der Versorger und Rechte der Verbraucher zum Gegenstand haben. Es erscheint durchaus denkbar, daß der Begriff der Daseinsvorsorge durch das EU-Recht und hier insbesondere durch die Universaldienstvorschriften neue Konturen erhalten und dadurch im deutschen Recht eine Renaissance erleben könnte.141
c) Kritik am Begriff der Daseinsvorsorge Die Kritik am Begriff der Daseinsvorsorge ist zahlreich und teilweise sehr heftig geäußert worden. Vor dem Hintergrund der Welle der Liberalisierungen und Privatisierungen in der Europäischen Union in den 80er und 90er Jahren läßt sich die Berechtigung einer Konstruktion der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff als eine wirtschaftspolitische Grundsatzfrage formulieren. Soll der Staat über die Daseinsvorsorge oder sollen Private über den freien Markt den Bürger mit grundlegenden Leistungen versorgen? Mit dieser Fragestellung machen die Kritiker der Daseinsvorsorge zugleich deutlich, daß sie sich gegen die von der Wirtschaftswissenschaft aufgestellten Kriterien für die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe im Falle der oben dargestellten natürlichen Monopole und öffentlichen Güter wenden. Nicht der Staat, sondern der Markt sei danach für die Versorgung mit knappen Gütern zuständig.142 Auch wenn dieses Argument sicherlich Beachtung finden sollte, so darf 138 139 140 141 142
Vgl. Le Nestour / Zinow, Rechtsfragen des „Service Public“, S. 129. ABl. C 281 vom 26. 9. 1996 = KOM (96) 443. KOM (2000) 580 endg. Vgl. zum Universaldienst oben D.I.4.b. Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 121 f.
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darüber jedoch nicht vergessen werden, daß die Wirtschaftswissenschaft mit ihrer Kategorisierung einen empirischen Beitrag zu den Fällen des Marktversagens geleistet hat. Diese lassen sich nicht mit einer simplen Forderung nach weniger Staat beiseite wischen. Kritisiert wurden insbesondere der neue materielle Verwaltungsbegriff143, die fehlende Präzision bei der Abgrenzung der wirtschaftlichen von der verwaltenden Tätigkeit, insbesondere im Bereich der gemischtwirtschaftlichen Unternehmen und der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand144, das Fehlen einer befriedigenden Umschreibung von Aufgaben, die ihrem Zweck nach ausschließlich der öffentlichen Verwaltung zuzuordnen sind145, die Unfähigkeit zur Integration des Phänomens, daß daseinsnotwendige Leistungen auch von privaten Unternehmen nach den Regeln des Wettbewerbs dargeboten werden146 und schließlich die Einordnung der Daseinsvorsorge als wirtschaftliche Betätigung im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung147. Als Schlußfolgerung aus dieser inhaltlichen Kritik an der Konturenlosigkeit des Begriffs wird der Charakter der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff grundsätzlich bestritten. So wird die Daseinsvorsorge überwiegend als „soziologischer Begriff“148 bezeichnet, Bodo Börner nannte die Daseinsvorsorge einen „Irrwisch“, sie wische durchs Recht und locke zum Sumpf149. Otto Bachof folgerte daher prägnant: „Auf Begriffen, die keine hinreichend bestimmbare rechtliche Aussagekraft besitzen und die eben deshalb keine Rechtsbegriffe sind, läßt sich ein Rechtssystem nicht errichten.“150 Vor dem Hintergrund des umrißartig dargestellten französischen Konzepts des „service public“ erscheint diese Einstufung des Begriffs Daseinsvorsorge und seiner Interpretation durch Rechtsprechung und Lehre zuzutreffen. Im Gegensatz zu dem – im Detail ebenfalls umstrittenen Begriff des „service public“ – sind Tatbestand und Rechtsfolge der Daseinsvorsorge nicht einmal in ihren Grundzügen klar. So ist auch die Rechtsprechung anders als in Frankreich wesentlich zurückhaltender mit der Anwendung der Daseinsvorsorge. Besonders schwer zu wiegen scheint das Schweigen des deutschen Verfassungs- und Gesetzgebers zur DaseinsvorVgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 116. Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 117; Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, S. 226 f.; Windisch, Privatisierung natürlicher Monopole, S. 32. 145 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 117; Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 118; Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 517. 146 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 341. 147 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 119 m. w. N. 148 Fischerhof, „Daseinsvorsorge“ und wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, S. 41; Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, S. 517; Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, Rn. 51. 149 Börner, Irrwisch Daseinsvorsorge, S. 408. 150 Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts, 228 f. 143 144
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
sorge.151 Die französischen sog. Gesetze oder Prinzipien des „service public“152 finden sich in Deutschland lediglich in Einzelregelungen.153 Es läßt sich abschließend feststellen, daß zwar mit der Diskussion um den Begriff Daseinsvorsorge im Zusammenhang staatlicher Aufgaben ein wesentlicher Beitrag zur Abschichtung privater von öffentlichen Betätigungsbereichen geleistet wurde und wird, jedoch bisher keine befriedigende Lösung des Problems erreicht werden konnte. Daher verwundert es nicht, wenn die Suche nach neuen Lösungsmöglichkeiten des Problems weitergeht und sich nicht in immer neuen Aufgüssen der Staatsaufgabenlehre- und Daseinsvorsorgediskussion erschöpfen will.
5. Verantwortungsbereiche als jüngste Kategorie zur Bestimmung staatlicher Betätigung Die bis hierhin dargestellten Begriffe und Begriffspaare stehen für die klassischen rechtsdogmatischen Herangehensweisen an das Problem der Abschichtung der öffentlichen von den privaten Tätigkeitsbereichen. Der älteste Versuch war die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, deren rechtsdogmatischer Ursprung bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Daran schloß sich seit den 1930er Jahren die Diskussion um die Daseinsvorsorge und schließlich wurde seit der Mitte des 20. Jahrhunderts um eine Staatsaufgabenlehre gefochten. Die zeitliche Abfolge dieser drei wichtigsten Strömungen bedeutet jedoch nicht, daß die jeweils ältere Herangehensweise gänzlich fallen gelassen wurde. Vielmehr erhielten sich die jeweils älteren Begrifflichkeiten parallel zu den später in Mode gekommenen beharrlich in der rechtsdogmatischen Diskussion. Dies wird sich vermutlich auch mit dem jüngsten Streich der Verwaltungsrechtsdogmatik zur Abschichtung öffentlicher von privaten Tätigkeitsbereichen nicht ändern. In dem Aufkommen des Verantwortungsbegriffs in den 1980er Jahren und dessen verstärkte Aufnahme durch die Lehre in den 1990er Jahren kann ein Versuch gesehen werden, die im Wesentlichen scheinbar unfruchtbaren älteren Begrifflichkeiten abzulösen.154 Maßgebliche Bedeutung gewinnt der Begriff der Verantwortung z. B. als Verwal151 Neuerdings findet sich im EisenbahnNeuOG, BGBl. I 1993, 2378, in Art. 4, ÖPNVRegionalisierungsG, § 1 I, eine ausdrückliche Qualifizierung der „Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV“ als Daseinsvorsorge. 152 Vgl. oben D.I.3.b.aa. 153 Ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Netzen der Strom- und Telekommunikationswirtschaft ergibt sich aus §§ 5, 6 EnWG und §§ 33 ff. TKG, Diskriminierungsverbote ergeben sich im Verwaltungsrecht aus Art. 3 GG i.V.m. der Verwaltungspraxis, Lapuerta, Netzzugang in Deutschland im internationalen Vergleich; Klimisch / Lange, Zugang zu Netzen und anderen wesentlichen Einrichtungen als Bestandteil der kartellrechtlichen Mißbrauchsaufsicht. Gewisse Mindeststandards ergeben sich aus dem Sozialstaatsprinzip und den Grundrechten, Gröschner, Art. 20 GG II (Sozialstaat), Rn. 54. 154 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff? S. 46 meint, die Kategorie der Verantwortung biete „einen Ausweg für die Aporie der Staatsaufgabenlehre“.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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tungsverantwortung im Zusammenhang mit der Privatisierung von ehemals staatlich wahrgenommenen Tätigkeiten und der damit einhergehenden Neugestaltung der Kooperation zwischen privaten und staatlichen Akteuren155, mit anderen Worten, der Abschichtung von Tätigkeitsbereichen. Grundlage dieser Tätigkeitsabschichtung anhand der Begriffe Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung ist der Verantwortungsbegriff. Im Folgenden werden Ursprung, Zweck und Funktion sowie Verwendung des Verantwortungsbegriffs in der Rechtswissenschaft herausgearbeitet. Den Vorzügen des Begriffs wird die deutliche Kritik gegenübergestellt und die Brauchbarkeit des Verantwortungsbegriffs für die Rechtswissenschaft bewertet.
a) Ursprung des Verantwortungsbegriffs in der Rechtswissenschaft Der Begriff Verantwortung trat erstmalig im Mittelhochdeutschen auf und stammt aus dem Rechtsleben. Verantworten hieß damals, Antwort auf eine Anklage geben, d. h. sich rechtfertigen. Für die Übertragung des Begriffs in die Ethik ist wohl das Christentum ursächlich. Die Verantwortung ist heute zunächst einmal ein Begriff des allgemeinen Sprachgebrauchs.156 Darüberhinaus stellt er weiterhin eine wichtige ethisch-philosophische Kategorie dar.157 Es liegt daher nahe, danach zu fragen, auf welche Weise der Verantwortungsbegriff wieder Eingang in die rechtsdogmatische Terminologie unserer Zeit gefunden hat. Dabei erscheinen die politischen und gesellschaftlichen Umstände der 1970er Jahre ausschlaggebend für die erste Rezeption des Begriffes gewesen zu sein. In dieser Zeit erfuhr das allgemeine Interesse am Umweltschutz in der Gesellschaft und der Politik ihren Höhepunkt. Damit verbunden war eine weit verbreitete Skepsis gegenüber technischem Fortschritt und dessen Heilsbringung für die Menschheit. Stellvertretend für diese Richtung des Denkens war sicherlich das Werk „Prinzip Verantwortung“ des Philosophen Hans Jonas. In dieser Zeit wurde die Umweltgesetzgebung des Bundes sowie grundlegende Prinzipien wie das Vorsorgeprinzip158 angestoßen. Allen diesen umweltschutzorientierten Maßnahmen war der Gedanke gemeinsam, daß das heutige Handeln nicht zu Lasten zukünftiger Generationen gehen dürfe, somit eine Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen bestünde.159 Entsprechend heißt es im Umweltgutachten 1978 zum Vor155 Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 277 ff.; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S 45 f.; Trute,Verzahnungen von öffentlichem und privatem Recht, S. 199. 156 Dazu Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 29 f. 157 Vgl. Bayertz, Verantwortung – Prinzip oder Problem?; Jonas, Prinzip Verantwortung, Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 19 ff. 158 Vgl. dazu Schmidt, Einführung in das Umweltrecht, S. 3 ff. 159 Vgl. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsrechtliches Rechtsprinzip, S. 238 ff.
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sorgeprinzip: „Umweltpolitik erschöpft sich nicht in der Abwehr drohender Gefahren und der Beseitigung eingetretender Schäden. Vorsorgende Umweltpolitik verlangt darüber hinaus, daß die Naturgrundlagen geschützt und schonend in Anspruch genommen werden“.160 In einem solchen gesellschaftlichen Klima verwundert es nicht, daß auch die rechtswissenschaftliche Dogmatik verstärkt auf einen Begriff wie „Verantwortung“ eingegangen ist. So sah sich die Staatsrechtslehre zum ersten Mal mit einer dogmatischen Verwendung des Verantwortungsbegriffs auf der Staatsrechtslehrertagung 1976 in Augsburg konfrontiert.161 Dort zog Schmidt-Aßmann erstmalig den Verantwortungsbegriff zur Abschichtung gerichtlicher von exekutiven Tätigkeitsbereichen heran, ohne jedoch tiefere rechtsdogmatische Ausführungen zu machen und freilich noch weit vor der Zeit der Privatisierungen, in deren Zusammenhang der Begriff später erneut verstärkt Anwendung fand. Wegweisend für die rechtsdogmatische Erschließung des Verantwortungsbegriffs für die Staatsrechtslehre waren schließlich die Werke Peter Saladins, Verantwortung als Staatsprinzip und Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Saladin konstruierte die Verantwortung als konstituierendes Prinzip des modernen Rechtsstaates und formte sie als „Schlüssel zu einer Staatstheorie der Gegenwart und Zukunft“162 aus. Murswiek ging der Frage nach, ob den Staat eine Verantwortung für den technischen Fortschritt, seine erwünschten und seine unerwünschten Folgen trifft, worauf sich eine solche Verantwortung gründet, wie weit sie reicht und warum man überhaupt von Verantwortung anstelle von Pflichten spricht.163 Schließlich erlebte der Verantwortungsbegriff erneut starkes Interesse im Zuge der Privatisierungen ehemals staatlicher Betriebe. Hier wurde er, wie ehedem die Begriffe Staat / Gesellschaft, Daseinsvorsorge und Staatsaufgabe, auf die Beschreibung und Analyse von Rollen staatlicher Akteure bei der Erledigung von im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben bezogen.164
b) Zweck und Funktion des Verantwortungsbegriffs in der Rechtswissenschaft Der Verantwortungsbegriff in der Rechtsdogmatik und in den Rechtstexten hat verschiedene Funktionen und Zwecke. Zunächst ist zu beobachten, daß der Begriff teils heuristisch, d. h. beschreibend verwendet wird, teils normativ, ausdrücklich oder konkludent mit bestimmten Zwecksetzungen unterlegt.165 Von der Rechtswis160 161 162 163 164 165
BT-Drs. 8 / 1938, Rn. 1936. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 231 f. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 40 ff. und 99 ff. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 23, 25. Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 13. So auch Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 46 ff.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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senschaft wird vereinzelt die Funktion des Begriffs als „interdisziplinärer Verbundbegriff“ oder „Brückenbegriff“ hervorgehoben.166 In Rechtswissenschaft und Rechtstexten gleichermaßen findet sich der Verantwortungsbegriff als Zurechnungsbegriff167 sowie als Kompetenzbegriff168. Schließlich wird der Verantwortungsbegriff als Schlüsselbegriff für das Verhältnis von privatem und öffentlichem Sektor169 herangezogen, hierbei insbesondere zum Zwecke der Ablösung der Figuren des Verwaltungshelfers und des Beliehenen170.
aa) Verantwortungsbegriff in heuristischer und normativer Verwendung Es ist zunächst festzustellen, daß der Begriff der Verantwortung neben verschiedenen Funktionen und Zwecken auch unterschiedliche Bedeutungsebenen hat. So steht einer heuristischen oder modalen Verwendung der normative Gebrauch des Verantwortungsbegriffs gegenüber.171 Das modale oder heuristische Verständnis des Begriffs kennzeichnet die Frage nach einem Ist-Zustand. Bezieht man diese Frage auf die Verwaltung, wie das beispielsweise mit dem Begriff der Verwaltungsverantwortung geschieht, so ist es die Frage nach der Art und Weise der Bewältigung eines Zustands bzw. einer Aufgabe durch den Staat, nach der Rolle des Staates und nach den Instrumenten, die der Staat in diesem Zusammenhang einsetzt.172 Im Gegensatz zur heuristischen Verwendung des Begriffs kennzeichnet die normative Bedeutungsebene die Frage nach einem Soll-Zustand. Es geht dabei um die Frage welche Verantwortung gewisse Handlungsträger in bestimmten Situationen „trifft“.173 Wiederum bezogen auf den Staat heißt dies, danach zu fragen, welche Rolle der Staat spielen soll, ob und welche Zuständigkeiten ihn zur Erhaltung und Bewirkung bestimmter Zustände treffen.174 166 Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 110 ff.; Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 13 f. 167 Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 31 ff.; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 37 ff. 168 Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 39 ff. 169 Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 277 ff.; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 45 f.; Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 13 ff. 170 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 51 ff. 171 Aßmann-Schmidt, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 154, Tz. 88; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 26; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 46 ff. 172 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 47; vgl. auch Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 26; Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 117. 173 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 47. 174 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 47 f.
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Beide Bedeutungsebenen sollten strikt aueinandergehalten werden. Der Verantwortungsbegriff mit seinen „angenehmen moralischen und ethischen Konnotationen“175 verleitet nämlich dazu, unbemerkt von einer zunächst bloß heuristischen Ebene in eine normative Fassung zu wechseln.176 Eine strikte Trennung hindert jedoch nicht, beide Bedeutungsebenen zu untersuchen. Allerdings muß darauf geachtet werden, daß bei der normativen Verwendung keine Begriffsjurisprudenz i.S.v. ausschließlich begrifflicher Herleitung von Zuständigkeiten und Zurechnungen betrieben wird, sondern daß zu derartigen Unternehmungen die normative Bedeutungsebene mit staatstheoretischen Überlegungen, d. h. handfesten rechtsdogmatischen Inhalten aus dem Verfassungsrecht angereichert wird.177 Erst dadurch kann der normative Aspekt der Verantwortung mit Inhalt gefüllt werden. bb) Verantwortungsbegriff als interdisziplinärer Verbundbegriff Bereits die Verwendung als heuristischer Begriff zeigt, daß die Staatsrechtslehre den Verantwortungsbegriff nicht ausschließlich als Rechtsbegriff verwenden will.178 Ganz besonders deutlich wird diese Abkehr vom Rechtsbegriff der Verantwortung in der Verwendung als „interdisziplinärer Verbundbegriff“ oder „Brückenbegriff“. So werden insbesondere die Begriffe Verwaltungsverantwortung und Verantwortungsteilung als „Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft“ bezeichnet.179 Der Verantwortungsbegriff sei in der Lage, verschiedene Fachdiskurse, insbesondere Rechts-, Sozial- und Verwaltungswissenschaften aufeinander zu beziehen und dabei dem jeweiligen Fachdiskurs als Katalysator zu dienen.180 cc) Verantwortungsbegriff als Zurechnungsbegriff Die klassische Verwendung des Begriffs in der Rechtswissenschaft ist die als Zurechnungsbegriff.181 Anknüpfungspunkt für die Zurechnung sind Handlungen, Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff; S. 13. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 48. Zur Kritik am Begriff sogleich unter d). 177 So auch Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 154, Tz. 88; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 49; Trute, Verzahnung von öffentlichem und privatem Recht, S. 198. 178 So ausdrücklich Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 26. 179 Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 114 ff. Neben dem Verantwortungsbegriff zählt Schuppert noch die Begriffe Steuerung, Kommunikation und Entscheidung zu den Schlüsselbegriffen, die Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft verklammern. 180 Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff; S. 13. 181 Vgl. dazu Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 31 f.; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 37 ff. 175 176
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Handlungsmöglichkeiten, Folgen von Handlungen aber auch Unterlassungen. Dies erweist sich insbesondere bei Vorhandensein mehrerer Zurechnungssubjekte als notwendig im Hinblick auf Fragen der Haftung, Handlungspflichten oder Leistungspflichten. In diesem Sinne ist die Verantwortung eine ex-post-Bewertung. Erst nach der Handlung wird gefragt, wem diese zuzurechnen ist. Beispiele dafür bieten sich aus allen Bereichen des Rechts, im Zivilrecht etwa das Deliktsrecht, im Polizeirecht die Frage der Zustands- oder Handlungsverantwortlichkeit, die Verantwortlichkeit in Fragen der Staatshaftung nach Art. 34 I GG oder die Nicht-Verantwortlichkeit nach dem Grundsatz der Indemnität des Art. 46 I S. 1 GG.
dd) Verantwortungsbegriff als Kompetenzbegriff Neben den Zurechnungsfällen kommt die Verantwortung im Zusammenhang mit der Ausübung von Kompetenzen zur Anwendung.182 Dabei geht es nicht nur um Zuständigkeiten, sondern insbesondere um deren Begrenzung. Es lassen sich hier drei unterschiedliche Bereiche ausmachen. Zum einen gibt es den Bereich der „eigenen Verantwortung“ oder „Eigenverantwortung“, die sich etwa in Art. 28 II GG im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung, sowie Art. 65 S. 2 GG im Rahmen der ministeriellen Ressortverantwortung findet. Mit der Eigenverantwortung ist ein Raum eigenen Entscheidens bezeichnet, in dem der Kompetenzträger nicht den Eingriffen anderer Stellen ausgesetzt ist. Man kann die Eigenverantwortung insofern auch als Verantwortungsfreiheit bezeichnen.183 Zum anderen gibt es den Bereich der „Eigenverantwortlichkeit“. Hier geht es darum, daß die Kompetenzträger ihre Verantwortung selbst wahrnehmen und diese nicht durch eine zu intensive Kooperation mit anderen öffentlichen Stellen, internationalen Stellen oder auch Privaten beeinträchtigen. Dadurch soll gewährleistet werden, daß die rechtsstaatlichen und demokratischen Elemente der Kompetenzzuweisung nicht leerlaufen. Dies wird insbesondere bei der Kooperation der Verwaltung mit Privaten deutlich. Hier muß durch geeignete Begleitmaßnahmen die weitere Ausrichtung auf das Gemeinwohl sichergestellt werden.184 Schließlich läßt sich noch eine besondere Pflichtenbindung Privater ausmachen, die jedoch eher eine Appellfunktion als eine rechtliche Bindungswirkung entfaltet.185
ee) Verantwortungsbegriff als Betätigungsabschichtung Schließlich besteht eine weitere Funktion des Verantwortungsbegriffs in seiner Verwendung zur Abschichtung von Betätigungsfeldern zwischen privaten und öf182 183 184 185
Vgl. dazu Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 39 ff. Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 39 f. Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 41. Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 41 ff.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
fentlichen Akteuren. Diese Funktion erfüllt damit die gleiche Funktion wie die Begriffsscheidung Staat / Gesellschaft, die Daseinsvorsorge und das Begriffspaar Öffentliche Aufgabe / Staatsaufgabe. Die Einführung des Begriffs in diesem Sinne erfolgte im Zusammenhang mit den Privatisierungsvorhaben in Deutschland. Seine Anhänger sind sich überwiegend darin einig, daß durch den Verantwortungsbegriff in seinen zahlreichen Kombinationen die als unfruchtbar angesehene Staatsaufgabenlehre zur Betätigungsabschichtung abgelöst werden sollte.186 Im Zentrum dieser „Staats-Verantwortungs-Lehre“187 steht der Begriff der Verwaltungsverantwortung. Dieser enthält die Verantwortungsteilung und die Verantwortungsstufung. Die Verantwortungsstufung oder abgestufte Verwaltungsverantwortung bezieht sich auf die Intensität und die Trägerschaft öffentlicher Aufgabenerfüllung, die sich in drei Grundtypen wiederspiegelt.188 Die größte „Leistungstiefe“ bietet die staatliche Erfüllungsverantwortung. Bei ihr trifft den Verwaltungsträger die volle Einstandspflicht für die Aufgabenerledigung, die auch nach einer etwaigen Teilprivatisierung durch Einschaltung Privater fortbesteht und durch entsprechende Vorkehrungen bis hin zu Rückholoptionen abzusichern ist.189 Die mittlere Stufe bildet die staatliche Gewährleistungsverantwortung. In diesem Bereich wird die Aufgabe nicht mehr aktiv von öffentlichen Trägern erfüllt, sondern durch Überwachung und Regulierung wahrgenommen. Schließlich bezieht sich die dritte Stufe der staatlichen Auffangverantwortung auf öffentliche Tätigkeiten, die Fehlentwicklungen oder Steuerungsversagen entgegenzuwirken bestimmt sind.190 Es ist dabei denkbar, daß diese drei Verantwortungsstufungen auch durch private Träger wahrgenommen werden. Dabei ist dies bei der Erfüllungsverantwortung nur ausnahmsweise und ergänzend der Fall, bei der Gewährleistungsverantwortung im Rahmen der staatlichen Kontrolle und Überwachung und im Bereich der Auffangverantwortung in großem und weitgehend uneingeschränkten Rahmen. Genau um diese Frage, die Arbeitsteilung und Kooperation von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren, geht es bei dem zweiten Unterbegriff der Verwaltungsverantwortung, der Verantwortungsteilung.191 Der im Rahmen dieser Arbeit zentrale Begriff der Gewährleistungsverantwortung soll weiter unten noch einmal ausführlicher dargestellt werden.192 Dabei gilt 186 Vgl. Gusy, Privatisierung als Herausforderung an Rechtspolitik und Rechtsdogmatik, S. 331 f.; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 46; Voßkuhle, Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, S. 57 f. In diesem Sinne wohl auch Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 77. 187 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 77. 188 Vgl. Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 115 f.; Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 433. 189 Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, S. 83. Ähnlich SchmidtAßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 155, Tz. 90. 190 Vgl. dazu Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, S. 85. 191 Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 117. 192 Siehe D.I.5.
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es, ihn so aufzubereiten, daß sich aus der anschließenden Darstellung des Stromsektors ableiten läßt, wie die Gewährleistungsverantwortung in diesem Sektor in Deutschland ausgestaltet ist. Dies läßt wiederum Rückschlüsse auf den Begriff der Gewährleistungsverantwortung zu. Doch zunächst soll auf ein weiteres Phänomen des Verantwortungsbegriffs hingewiesen werden, das gelegentlich als Vorteil dieser Begriffsbildung angesehen wird, nämlich seine flexible Kombinierbarkeit.
c) Spielarten des Verantwortungsbegriffs in Gesetz und Dogmatik Sowohl im positiven Recht als auch in der rechtswissenschaftlichen Debatte tritt der Verantwortungsbegriff in zahlreichen verschiedenen Zusammenhängen und Funktionen sowie begrifflichen Kombinationen auf. aa) Der Verantwortungsbegriff in Gesetz und Rechtsprechung Bereits vor dem Aufkommen der Verantwortungsdebatte in der Rechtswissenschaft fand sich der Verantwortungsbegriff in zahlreichen Gesetzestexten und Urteilen wieder. Nachdem bereits oben der Versuch unternommen wurde, einzelne Gesetzesvorschriften einer der Funktionen des Verantwortungsbegriffs zuzuordnen, soll hier nur noch einmal betont werden, daß dies sowohl im Zivilrecht als auch im öffentlichen Recht der Fall war. Hinsichtlich des Verfassungsrechts ist bereits auf Art. 28 II und 65 S. 2 GG verwiesen worden. Darüberhinaus findet er sich in der Präambel193 und der neuen Staatszielbestimmung Umweltschutz des Art. 20a GG sowie in verschiedenen Landesverfassungen.194 Auch in der Rechtsprechung findet sich der Begriff unabhängig vom Wortlaut einzelner Vorschriften. So hat etwa im Mühlheim-Kärlich Beschluß das Bundesverfassungsgericht die Erteilung einer staatlichen Genehmigung eines Kernkraftwerks als Übernahme einer „Mitverantwortung“ durch den Staat für die von der Anlage ausgehenden Gefährdungen bezeichnet.195 An anderer Stelle wird der Verantwortungsbegriff im Zusammenhang mit der öffentlichen bzw. staatlichen Aufgabe erwähnt. So heißt es im 1. Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts: „Zusammenfassend ist festzustellen, daß der Rundfunk in Deutschland zu einer öffentlichen Einrichtung geworden ist und in öffentlicher Verantwortung (Hervorhebung d. Verf.) steht. Wenn sich der Staat mit dem Rundfunk in irgendeiner Form befaßt, so nimmt er damit eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung wahr.“196 Allerdings hat sich ebensowenig eine richterliche Staats-Verantwortungs-Lehre wie eine Staatsaufgabenlehre entwickelt. 193 Dazu Wiegand, Das Prinzip Verantwortung und die Präambel des Grundgesetzes, S. 31 ff. 194 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinizip, S. 231 ff. 195 BVerfGE 53, 30 (58). 196 BVerfGE 12, 205 (246).
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bb) Kombinationsmöglichkeiten in der Rechtswissenschaft: Die Rückkehr der Begriffsjurisprudenz? Die Beliebtheit, derer sich der Begriff der Verantwortung bei zahlreichen Rechtswissenschaftlern erfreut, ist unter anderem auf seine flexible Verwendbarkeit durch die große Zahl von möglichen Begriffsverbindungen zurückzuführen.197 So läßt sich die Verantwortung in unterschiedlichen Zusammenhängen auf die verschiedensten Einzelaspekte beziehen, indem man ihn nach Belieben mit anderen Begriffen kombiniert. Es soll hier nur kurz eine Auflistung einer großen Zahl solcher Kombinationen erfolgen, ohne sie im Einzelnen zu ordnen oder zu erläutern. Dadurch wird die Wandlungsfähigkeit und Flexibilität des Begriffs verdeutlicht. So finden sich etwa bei Voßkuhle198 neben den bereits erwähnten Begriffen der Verwaltungsverantwortung, Verantwortungsstufung, Verantwortungsteilung, Erfüllungsverantwortung, Gewährleistungsverantwortung, Auffangverantwortung, Überwachungsverantwortung und Regulierungsverantwortung noch die Maßstabsverantwortung, Vorbereitungsverantwortung, Verfahrensverantwortung, Implementationsverantwortung, Kontrollverantwortung, Realisationsverantwortung und Folgenverantwortung. In einem Beitrag Schupperts199 finden sich die Beobachtungsverantwortung, fortbestehende Transferverantwortung, Kompensationsverantwortung, Infrastrukturverantwortung, Privatisierungsfolgenverantwortung, Aufgabenverantwortung und Konkretisierungsverantwortung. Bei Röhl200 finden sich noch die Gegenstandsverantwortung, Legitimationsverantwortung und Rahmenverantwortung. Schmidt-Aßmann201 nennt die Förderungsverantwortung, Finanzierungsverantwortung, Beratungsverantwortung, Organisationsverantwortung, Einstandsverantwortung und Koordinationsverantwortung. Schließlich finden sich noch die staatliche Letztverantwortung202 und die soziale Abfederungsverantwortung203, die Gesamtverantwortung204 sowie die Bürgerverantwortung205.
197 So Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, Einleitung, S. 7. vgl. Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 441, der schreibt: „Die Vielfalt der Verantwortungsstrukturen spiegelt dabei eine Vielfalt möglicher Legitimationsstrukturen wieder“, womit er auf das Problem der Legitimation des Verwaltungshandelns durch das Prinzip der Gesetzesbindung der Verwaltung anspielt. 198 Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor; so auch Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 116. 199 Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat. 200 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff? 201 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 155 f., Tz. 91. 202 Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, S. 955. 203 Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 442. 204 Trute, Verzahnungen von öffentlichem und privatem Recht, S. 201 f. 205 Sachs, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, S. 873 ff.
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Angesichts dieser begrifflichen Vielfalt erschiene es kaum verwunderlich, wenn sich so mancher Staatsrechtslehrer im „siebenten Begriffshimmel“ wähnte. Manch anderem mag dies freilich wie die Rückkehr der längst abgetanen Begriffsjurisprudenz anmuten. Nicht nur deswegen ist in jüngerer Zeit Kritik an der neuen Begriffsbildung laut geworden. d) Kritik am Verantwortungsbegriff aus der Rechtswissenschaft Zunächst einmal ergibt sich aus der vorangehenden Aufzählung der verschiedenen Spielarten des Verantwortungsbegriffs der Vorwurf der Überkomplexität.206 Entsprechend wird selbst von Anhängern des Verantwortungsbegriffs die Notwendigkeit einer Komplexreduktion anerkannt.207 Damit verbunden ist auch die Kritik an der Funktion des Verantwortungsbegriffs als „interdisziplinärer Verbundbegriff“. So meint Schmidt: „Theorienbildung, Spezialistendogmatik und die ungebremste Übernahme des Begriffsarsenals der modernen Sozialtheorie verstellen gelegentlich den Blick dafür, daß Ausdifferenzierungen vielfach nichts anderes sind als rein verbale Innovation.“ Statt „ungeprüfter Theorieimporte“ plädiert er gerade in den neu entdeckten schwierigen Grenzbereichen für die Rückbesinnung auf die disziplinierende und rationalisierende Kraft des Rechts.208 Scharfe Kritik wird an der Tatsache geübt, daß der Verantwortungsbegriff sowohl eine heuristische als auch eine normative Bedeutungsebene hat. Damit gebe es eine zwischen Normativität und Faktizität balancierende Unschärfe des Begriffes, der zunächst nur beschreibend, d. h. heuristisch gedacht, schnell in eine normative Fassung wechsele. Normativ aber werde aus der Verantwortung schnell ein Titel zur Herleitung von Kompetenzen und Eingriffsbefugnissen, weil die Zuschreibung von Verantwortung voraussetze, daß Kompetenzen in hinreichendem Umfang zur Verfügung stünden. Ein derartiger Schluß sei jedoch unzulässig, da sich derartige Zuständigkeiten und Befugnisse allein rechtsdogmatisch herleiten ließen.209 Weiterhin wird angezweifelt, daß der Staat seiner Verantwortung – akzeptiere man einmal den Begriff – auch tatsächlich nachkommen könne. Wenn der Privatisierung und der Übertragung öffentlicher Aufgaben auch die Erkenntnis zugrunde206 Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, S. 97 meint, der Schlüsselbegriff der Verwaltungsverantwortung sei schon so aufgeladen, daß eine Reform der Reformdebatte notwendig sei. 207 Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, S. 86. Zustimmend Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, S. 97. 208 Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, S. 107. 209 So Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 47 ff., der als Beispiele für einen fließenden Übergang zwischen heuristischer und normativer Bedeutungsebene die Begriffe Gewährleistungsverantwortung, Infrastrukturverantwortung und Privatisierungsfolgenverantwortung nennt.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
gelegen habe, daß sich der Staat mit seinem Versprechen der Erfüllungsverantwortung übernommen hätte, so sei auch die neue in Aussicht gestellte Gewährleistungsverantwortung daraufhin zu überprüfen, ob der Staat über hinreichend Wissen, Mittel und Fähigkeiten verfüge, ihr gerecht zu werden. Jedenfalls impliziere die Zuschreibung einer Verantwortung die Möglichkeit des Staates, dieser Verantwortung auch nachzukommen.210 Dies sei nicht immer zweifelsfrei der Fall. Schließlich wird angezweifelt, ob der Verantwortungsbegriff in der Rechtsdogmatik auf lange Sicht sinnvoll einzusetzen sei. Der Begriff vermenge zu viele Aspekte, die alle jeweils für sich beantwortet werden müßten. Der Verantwortungsbegriff sei daher rechtsdogmatisch betrachtet zu unbestimmt.211 Aufgrund dieser mannigfachen Kritik wird teils eine dogmatische Restrukturierung212 oder der völlige Verzicht auf die Verwendung des Begriffs213 gefordert.
e) Stellungnahme Auf das Vorbringen, der Verantwortungsbegriff sei auf lange Sicht nicht sinnvoll einzusetzen, kann wenig erwidert werden, außer daß diese Frage wohl erst in näherer Zukunft beantwortet werden kann. Die Zeit wird erweisen, ob der Verantwortungsbegriff sinnvoll weiterentwickelt und eingesetzt werden konnte. Die anderen vorgebrachten Kritikpunkte sind jedoch ernst zu nehmen. So ist der Vorwurf der Überkomplexität anhand der schier unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten des Verantwortungsbegriffs recht deutlich geworden. Diese Kombinierbarkeit des Begriffs bietet durchaus den Vorteil, zahlreiche Ausdifferenzierungen vorzunehmen, die etwa mit dem Begriffspaar der öffentlichen Aufgabe und der Staatsaufgabe nicht vorgenommen werden konnten. Andererseits besteht jedoch die Gefahr der Banalisierung des Begriffs, wenn man ihn in so vielfältiger Weise mit jedem möglichen anderen Begriff kombiniert. Er droht damit zum bloßen Anhängsel zu werden. Insofern ist es angebracht, bei der Neuschöpfung von Begriffskombinationen mit dem Verantwortungsbegriff Zurückhaltung walten zu lassen. Etwas humoristisch ausgedrückt, könnte man hier von der „Begriffsschöpfungsverantwortung der Staatsrechtslehre“ sprechen. Die vorliegende Arbeit trägt dem insofern Rechnung, als sie sich im Wesentlichen auf die beiden zentralen Begriffe der Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung beschränkt, die beide in gewissem Umfang in der Literatur Anerkennung und Verwendung gefunden haben. 210 Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 54. Zum Steuerungsverlust durch Aufgabenveränderung vgl. Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 437 ff. 211 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 55; Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, Rn. 6, Fn. 8. 212 Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 55. 213 Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, S. 97.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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Auch der Vorwurf, der Verantwortungsbegriff verwische die Grenzen zwischen heuristischer und normativer Bedeutungsebene, ist ernst zu nehmen. In der Tat besteht die Schwierigkeit, daß bei Verwendung des Begriffs diese beiden Ebenen nicht mehr getrennt werden.214 Erkennt man jedoch das Problem, so läßt sich in einer wissenschaftlichen Untersuchung durchaus eine Trennung dieser Ebenen vornehmen und im Laufe der Untersuchung durchhalten. Die vorliegende Arbeit zeigt dies insbesondere dadurch, daß sie den heuristischen Befund dem einfachgesetzlichen Recht und die normativen Aussagen dem Verfassungsrecht entnimmt.215 Weiterhin läßt sich dem Vorwurf der Grenzverwischung entgegenhalten, daß die Annahme einer normativen Bedeutungsebene des Verantwortungsbegriffs noch nicht dazu führt, daß aus diesem Begriff unmittelbar Rechtsfolgen abgeleitet werden. Folgt man dem staatsrechtlichen Positivismus216, so gilt, daß nicht aus neuen Begriffsschöpfungen, sondern allein aus der Rechtsordnung, und hier insbesondere der Verfassungsrechtsordnung, normative Vorgaben abgeleitet werden dürfen. Daraus folgt, daß auch nicht aus den Begriffen der Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung selbst Rechtsfolgen abzuleiten sind, sondern allein aus verfassungsrechtlichen Normen. Nimmt der Verfassungsgeber den Verantwortungsbegriff, den Gewährleistungsbegriff oder den Gewährleistungsverantwortungsbegriff in die Verfassung, so können hieraus unmittelbare Rechtsfolgen und Bindungen abgeleitet werden, ansonsten bleibt für den Begriff nur die Funktion der Strukturierung bestimmter Lebens- und Rechtsverhältnisse. Insofern ähnelt die Funktion des Begriffs der Funktion der Rechtsverhältnisdogmatik: auch hier lassen sich aus dem Begriff des Rechtsverhältnisses keine konkreten Rechte und Pflichten ableiten. Vielmehr lassen sich neben der Funktion des Umdenkens im Bereich staatlichen Handelns, durch die Ablösung obrigkeitsstaatlicher Über / Unterordnung durch republikanische Gleichordnung der Individuen mit staatlichem Handeln, zuförderst komplizierte Sachverhalte sauber in Beziehungen der verschiedenen Beteiligten zerlegen und analysieren.217 Welche konkrete Rechte und Pflichten in diesen Beziehungen bestehen, ergibt sich nicht aus der Figur des Rechtsverhältnisses an sich, sondern aus der konkreten Ausgestaltung der Beziehung der Beteiligten durch die Rechtsordnung. Insofern sind beide Begriffe Strukturbegriffe, die ausfüllungsbedürftig sind. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich die vorgebrachte Kritik am Verantwortungsbegriff weitgehend entkräften läßt, wenn die verschiedenen Kritikpunkte inhaltlich berücksichtigt werden. Entsprechend trennt die Arbeit im weiteren Verlauf streng heuristische und normative Ebene, beschränkt sich bei der Herleitung von normativen Aussagen des Gewährleistungsbegriffs auf das VerfasDazu unten E.I.6.e). Dazu unten E.III.3 und E.III.4. 216 Dazu oben C.II.3.d). 217 Vgl. zum Rechtsverhältnis Gröschner, Vom Nutzen des Verwaltungsrechtsverhältnisses, S. 301 ff.; Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 21 ff. jeweils m. w. N. 214 215
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
sungsrecht und konzentriert sich schließlich mit dem Gewährleistungsbegriff auf eine Kombination des Verantwortungsbegriffs, die bereits eine gewisse Anerkennung erreicht hat. 6. Gewährleistungsverantwortung des Staates Es hat sich gezeigt, daß der Verantwortungsbegriff ein tauglicher Grundbegriff zur Abschichtung öffentlicher von privater Tätigkeit sein kann. Im Folgenden wird der Verantwortungsbegriff in Kombination mit der Gewährleistung als Gewährleistungsverantwortung als Zentralbegriff des rechtsdogmatischen deutschen Teils der Arbeit etabliert. Denn: So zahlreich der Begriff Verwendung findet, so dürftig ist seine Behandlung durch die Rechtswissenschaft geblieben, insbesondere bzgl. einer konkreten inhaltlichen Ausfüllung bzgl. bestimmter Rechtsgebiete. Nach dem Kapitel über die begrifflichen Grundlagen soll dies anhand des Stromsektors geschehen. Nachdem der eine Teil des Begriffs mit der Analyse des Verantwortungsbegriffs bereits aufgearbeitet wurde, konzentriert sich nun im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Verantwortung zur Gewährleistung. Dabei wird im Rückgriff auf die Darstellungen zum Verantwortungsbegriff streng zwischen heuristischer und normativer Verwendung unterschieden. Hinsichtlich der normativen Verwendung wird gezeigt, wie staatliche Pflichten aus dem positiven Recht ableitbar sind und damit die normative Bedeutungsebene mit Inhalt ausfüllbar ist. Der Begriff der Gewährleistungsverantwortung wird beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit den Begriffen der Erfüllungsverantwortung, Infrastrukturverantwortung und Auffangverantwortung bzw. der Privatisierungsfoglenverantwortung genannt.218 Es ist daher notwendig, die zwischen den Begriffen bestehenden Zusammenhänge und Überschneidungen zu verdeutlichen.
a) Begrifflicher Zusammenhang: Erfüllungsverantwortung, Auffangverantwortung, Infrastrukturverantwortung Die Begriffe der Erfüllungsverantwortung und Gewährleistungsverantwortung wurden geprägt zur Beschreibung des vollständigen oder teilweisen Rückzuges des Staates219 aus einer Verwaltungsaufgabe.220 Dabei vollzog sich die Entwicklung 218 Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 425 f., spricht „vom viel zitierten Wechsel von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung“; Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 115 f. spricht von diesen als „Grundtypen der Verwaltungsverantwortung“. 219 Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 15, hält nicht so sehr einen Rückzug des Staates als vielmehr einen Formenwandel staatlicher Steuerung für gegeben. 220 Vgl. Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 425.
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von der Erfüllungsverantwortung des Staates zur Gewährleistungsverantwortung des Staates. Damit wird deutlich, daß zunächst ein Zustand existierte, der als staatliche Erfüllungsverantwortung bezeichnet wird. Die Erfüllungsverantwortung des Staates wird beschrieben als die Erfüllung von öffentlichen Aufgaben in eigener Regie des Staates, d. h. durch Träger unmittelbarer oder mittelbarer Staatsverwaltung oder durch von ihm beherrschte Dritte.221 Hierzu zählten und zählen noch insbesondere die Bereiche der polizeilichen Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung, lange Zeit auch die in jüngster Zeit privatisierten Bereiche der Post und Telekommunikation sowie der Eisenbahn. Letztere sind es denn auch, auf die sich die Rede vom Wechsel zu einer Gewährleistungsverantwortung des Staates in besonderem Maße bezieht. Die Erfüllungsverantwortung unterscheidet sich insofern von der Gewährleistungsverantwortung, als daß der Staat durch sein Verwaltungshandeln zur Erfüllung der rechtlich festgesetzten Aufgaben selbst tätig wird. Besteht eine Gewährleistungsverantwortung, setzt und ändert der Staat nur den rechtlichen Rahmen, zur Erfüllung der Aufgaben werden selbständige Dritte tätig. Als Beispiel kann hier die Privatrechtsordnung genannt werden. Die erwähnte Auffangverantwortung, auch als latente Erfüllungsverantwortung bezeichnet, beschreibt den Fall, in dem sich ein Wechsel von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung vollzogen hat, das gewünschte Ergebnis jedoch nicht eingetreten ist, d. h. die Aufgabe nicht befriedigend durch selbständige Dritte erfüllt werden konnte. Daher tritt der Staat zwecks einer Nachsteuerung wieder auf den Plan.222 Schließlich wird im Zusammenhang mit den veränderten Aufgaben des Staates häufig von einer Infrastrukturverantwortung gesprochen.223 Grundlegend ist hier die Schrift von Georg Hermes: Staatliche Infrastrukturverantwortung. Hermes sieht den Grund und die Funktion der Infrastrukturverantwortung in der Entstehung und Integration des Gemeinwesens, in der Herstellung staatlicher Einheit. Ohne funktionsfähige Netzinfrastrukturen könnten Menschen nicht zusammenkommen, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft könne nicht entstehen und fortexistieren. Deshalb seien Netzinfrastrukturen zwar nicht hinreichende, aber notwendige Existenzbedingungen moderner Staaten.224 Ebenso wie die Herstellung staatlicher Einheit mit der Netzinfrastruktur verbunden sei, hinge auch die Expansion der Zentralverwaltung und mithin die politisch-adminiVgl. Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 442. Vgl. Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 442. 223 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 323 ff.; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, S. 120 ff.; vgl. auch die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 12 / 5015, S. 16; Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 12 / 6280, S. 8. 224 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 324 ff. Diese Idee ist nicht neu, vgl. oben D.I.4.b)aa). Zur Kritik an der Hermesschen Herleitung der Infrastrukturverantwortung unten E.I.6.e). 221 222
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
strative Hierarchisierung mit der Netzinfrastruktur zusammen.225 Insbesondere hinsichtlich des ersten Punktes, der Herstellung staatlicher Einheit, sicherlich aber auch in Bezug auf eine wachsende Zentralisierung, hätten die Netzinfrastrukturen auch in der Europäischen Union eine große Bedeutung.226 Unter Infrastruktur versteht Hermes die Gesamtheit aller Mittel, die der Überwindung von Entfernungen dienen und dadurch die Integration eines Raumes bewirken. Sie ist notwendigerweise darauf angelegt, allen Interessierten zugänglich und deshalb flächendeckend ausgelegt zu sein.227 Wichtig sei dabei die Trennung von Infrastrukturnetzen und Infrastrukturdiensten. Bei der Infrastrukturverantwortung für Netze bestünde aufgrund der Existenz natürlicher Monopole und daraus resultierendem Marktversagen mit einer Vermutung für einen besonderen Regulierungsbedarf ein besonders intensiver staatlicher Einfluß. Hingegen ergäben sich auf dem Sektor der Infrastrukturdienste größere Spielräume für Strukturen, in denen private Initiative und Wettbewerb die Grundlage seien.228 Schließlich setzt Hermes die Infrastrukturverantwortung in Verhältnis zur Gewährleistungsverantwortung und zur Daseinsvorsorge. Gewährleistungsverantwortung bezeichnet Hermes als Oberbegriff verschiedener Abstufungen von Intensität und Modalitäten staatlichen Handelns, während Erfüllungsverantwortung die Wahrnehmung von Aufgaben durch staatliche Einrichtungen selbst sei. Insofern ist Infrastrukturverantwortung Hermes zufolge Gewährleistungsverantwortung, nicht aber Erfüllungsverantwortung.229 Wie für die Gewährleistungsverantwortung auch, statuiert Hermes für die Infrastrukturverantwortung eine normative Funktion des Begriffes. Er markiere die Grenzen für einen zu weitgehenden Rückzug des Staates.230 Hinsichtlich der Daseinsvorsorge hält Hermes eine genaue Abgrenzung zur Infrastrukturverantwortung für möglich. Beide unterschieden sich vor allem in ihrer Betrachtungsweise, einerseits die Daseinsvorsorge mit dem Kennzeichen der existenziellen Angewiesenheit231 und der Folge des fürsorgenden Sozialstaates, andererseits die Infrastrukturverantwortung zur Herstellung staatlicher Einheit und Existenz eines Gemeinwesens. Inhaltlich sei der Begriff der Infrastrukturverantwortung enger als der der Daseinsvorsorge, da er nicht alle Leistungen etwa des GeVgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 327. Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 328 f. mit dem Hinweis auf die transeuropäischen Netze, Art. 154 – 156 EG. 227 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 329. Kritisch Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 48. Differenzierter und komplexer als die Hermessche Definition Schatz, Zur Entwicklung des Begriffs Infrastruktur, S. 122 ff. 228 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 344, 348; zu natürlichen Monopolen und Marktversagen vgl. oben unter Volkswirtschaftliche Grundlagen B.III.2.a)cc). 229 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 338. 230 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 342. 231 Dabei läßt Hermes offensichtlich außer Acht, daß ein Großteil der Vertreter des Daseinsvorsorge-Gedankens das Merkmal der lebensnotwendigen Angewiesenheit bereits frühzeitig aufgegeben haben, vgl. oben D.I.3.b)bb). 225 226
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sundheits- oder des Bildungswesens umfasse, sondern nur die Einrichtungen und Leistungen, mit deren Hilfe Entfernungen überbrückt werden könnten.232 Trotz dieser Unterschiede begreift Hermes die Infrastrukturverantwortung als eine konkretisierende Fortentwicklung für einen wesentlichen Teilbereich dessen, was man bislang als Daseinsvorsorge zu erfassen suchte.233 Mit der Darstellung dessen, was unter Erfüllungsverantwortung, Auffangverantwortung und Infrastrukturverantwortung verstanden wird, sind die wesentlichen Bezugspunkte und Gegenpole zur Gewährleistungsverantwortung eingeführt worden. Dabei wurden bereits verschiedene Merkmale der Gewährleistungsverantwortung angesprochen. Im Folgenden wird nun untersucht, in welcher Form sich die Gewährleistungsverantwortung rechtsdogmatisch im Gesetz auffindet und welche Interpretation sie in der Literatur bisher erfahren hat. Dabei wird zwischen der heuristischen und der normativen Bedeutungsebene unterschieden.
b) Gewährleistungsverantwortung bei der Bahn Die Gewährleistungsverantwortung bei der Bahn ist aus der typischen Entwicklung des Rückzugs des Staates von seinen Aufgaben im Zuge der Privatisierung entstanden.234 Sie findet ihren Niederschlag in Art. 87e GG, der 1993 in Kraft trat und Grundlage für die Bahnreform war. Zuvor wurde die Bahn gemäß Art. 87 GG a.F. in Behördenform geführt, der Staat nahm entsprechend eine Erfüllungsverantwortung im oben genannten Sinne wahr. Durch die Bahnreform wurde festgelegt, daß die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form geführt werden und die Möglichkeit zum Verkauf von Minderheitsanteilen geschaffen (Art. 87e III GG). Nach dem Grundgesetz trifft den Gesetzgeber damit lediglich eine Pflicht zur formellen Privatisierung, die materielle Privatisierung ist eine bloße Option.235 Die Aktivitäten des Staates sind zunächst einmal auf Aufgaben der Eisenbahnverkehrsverwaltung beschränkt, der Betrieb der Eisenbahn selbst, d. h. der Netze und Dienste, ist grundsätzlich nicht mehr seine Aufgabe. Die Gewährleistungsverantwortung selbst ist in Art. 87e IV GG festgelegt.236 Dem Bund wird eine Gewährleistungsverantwortung dafür auferlegt, daß das Wohl der Allgemeinheit auch durch das Leistungsangebot nach privatwirtschaftlichen Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 340 f. Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 342. 234 Vgl. zum Ganzen etwa Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts; Wieland, GG III, Art. 87e (Eisenbahnen) m. w. N. 235 Vgl. Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts, S. 582; Wieland, GG III, Art. 87e, Rn. 13. Zu Begriff, Inhalt und Arten der Privatisierung in der Volkswirtschaftslehre siehe B.II.1, in der Rechtswissenschaft siehe D.I.1. 236 Ausdrücklich ist in Art. 87e IV GG nur die „Gewährleistung“ erwähnt, nicht aber die „Verantwortung“. Die Vorschrift begründet jedoch eine staatliche Pflicht i.S. einer Betätigungskompetenz. 232 233
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Grundsätzen gewahrt wird, d. h. daß vor allem die Verkehrsbedürfnisse befriedigt werden.237 Der ursprüngliche Entwurf der christlich-liberalen Bundesregierung enthielt keine derartige Regelung, diese ist erst auf Drängen des SPD-dominierten Bundesrates aufgenommen worden.238 Sie ist als Gegengewicht zur Ausgliederung der Eisenbahnen des Bundes aus der Leistungsverwaltung durch die Privatisierung nach Art. 87e III GG zu verstehen. Damit muß der Staat die Gewähr übernehmen, daß die privaten und öffentlichen Wirtschaftsunternehmen in ihrem an kaufmännischen Gesichtspunkten ausgerichtetem Handeln dem Wohl der Allgemeinheit Rechnung tragen. Dieses sind insbesondere die Verkehrsbedürfnisse, die sich durch Ausbau und Erhalt des Schienennetzes sowie durch Verkehrsangebote auf diesen Schienennetzen befriedigen lassen.239 Umstritten ist bezüglich der Gewährleistungsverantwortung des Staates nach Art. 87e IV GG insbesondere, ob es sich bei dieser Pflicht des Staates um eine vorübergehende240 oder dauerhafte241 handele sowie die Einstufung der Vorschrift als bloßer Programmsatz242 oder als Staatszielbestimmung 243. Jedenfalls stellt die in Art. 87e IV GG statuierte Gewährleistungsverantwortung den Versuch dar, durch eine Grundverantwortung des Staates einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den kaufmännisch-unternehmerischen Interessen einerseits und den sozialen Interessen andererseits herzustellen und so zu verhindern, daß durch die Privatisierung die Eisenbahnunternehmen in einen Zustand ungehemmter Aktivitäten und regelloser Freiheit überführt werden.244
c) Gewährleistungsverantwortung bei Post und Telekommunikation Ähnlich wie im Eisenbahnsektor ist auch die Entstehung der Gewährleistungsverantwortung in den Bereichen Post und Telekommunikation im Zusammenhang mit einem Rückzug des Staates von der Erfüllung ehemals staatlicher, als Daseinsvorsorge angesehener Aufgaben zu sehen. Hierbei spielten mehr noch als im Bereich der Eisenbahn europarechtliche Regelungen und politische Vorhaben eine beWieland, GG III, Art. 87e, Rn. 7. Vgl. Gesetzesentwurf der Bundesregierung, 25. 5. 1993, BT-Drs. 12 / 5015; Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, 30. 11. 1993, BT-Drs. 12 / 6280. 239 Wieland, GG III, Art. 87e, Rn. 15. 240 So Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts, S. 584. 241 So Wieland, GG III, Art. 87e, Rn. 15. 242 So wohl Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts, S. 584. 243 So für den Bereich von Post und Telekommunikation, Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 313 ff. 244 Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts, S. 582; Wieland, GG III, Art. 87e, Rn. 13. 237 238
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deutende Rolle.245 Ihren Niederschlag fand die Gewährleistungsverantwortung des Staates in den beiden Sektoren in Art. 87f I GG, der im Zuge der Postreform II im Jahr 1994 Eingang in das Grundgesetz fand.246 Im Westdeutschland der Nachkriegszeit wurde die Post nach Art. 87 I 1 GG a.F. in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau als Teil der Leistungsverwaltung geführt. Im Osten Deutschlands entstand mit der Gründung der DDR 1949 die „Deutsche Post“, die vom Ministerium für Post und Fernmeldewesen (MPF) geleitet wurde.247 Durch die Postreform I wurde 1989 die Deutsche Bundespost in drei öffentliche Unternehmen Postdienst, Postbank und Telekom aufgegliedert. Durch die Postreform II schließlich wurden die drei öffentlichen Unternehmen formell privatisiert, anders als bei der Eisenbahn jedoch im Rahmen eines rechtlichen Privatisierungsgebots, das sich nach Art. 87f II GG auch auf eine materielle, d. h. Aufgabenprivatisierung bezieht.248 Art. 87f II 1 GG schafft die Grundlage für eine privatwirtschaftliche und damit auch grundrechtsgeschützte Tätigkeit der Anbieter von Post- und Telekommunikationsleistungen. In diese freiheitlich ausgestaltete Grundkonstruktion werden über Art. 87f I GG staatliche Regulierungsmechanismen eingebaut, die den angestrebten freien Wettbewerb zum Wohle einer funktionierenden Grundversorgung einschränken.249 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat also nicht darauf vertraut, daß der Markt aus sich heraus dauerhaft flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen hervorbringen wird, sondern dem Bund eine entsprechende Gewährleistungsverantwortung auferlegt.250 Danach gewährleistet der Bund flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen. Dies bedeutet, daß die Dienstleistungen im Sinne einer Grundversorgung in angemessener Beschaffenheit und in ausreichenden Mengen bereitgestellt werden müssen, also auch dünn besiedelte und strukturschwache Gegenden zu zumutbaren Preisen bedient werden, selbst wenn diese Preise nicht gewinnbringend oder kostendeckend festgesetzt werden können. Die konkrete Ausgestaltung der staatlichen Pflichten erfolgt allerdings „nach Maßgabe eines Bundesgesetzes“, d. h. konkrete Rechte und Pflichten bzgl. der Ausgestaltung der Grundversorgung sind dem Art. 87 f. GG nicht zu entnehmen.251 Vgl. dazu Wieland, GG III, Art. 87f, Rn. 9. Auch hier findet sich ausdrücklich nur der Begriff Gewährleistung, nicht die Verantwortung. 247 Vgl. Kurtsiefer, Die Deregulierung der Mobilfunkmärkte Deutschlands, S. 11 m. w. N. 248 Vgl. Wieland, GG III, Art. 87f, Rn. 16; Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 310. Zu Begriff, Inhalt und Arten der Privatisierung in der Volkswirtschaftslehre siehe B.II.1, in der Rechtswissenschaft siehe E.I.1. 249 Vgl. Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 316. 250 Vgl. Wieland, GG III, Art. 87f, Rn. 8. 251 Vgl. zum Ganzen Luke, Gewährleistung und Finanzierung von Infrastrukturversorgung im Wettbewerb, S. 151 ff.; Wieland, GG III, Art. 87f, Rn. 14. 245 246
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Die Gewährleistungsverantwortung ist vom Gesetzgeber als Staatszielbestimmung ausgestaltet, die zwar keine konkreten subjektiv-öffentlichen Rechte verleiht, jedoch den Staat objektiv-rechtlich bindet.252 Aus dem Privatisierungsgebot einerseits und der Gewährleistungsverantwortung andererseits ergibt sich eine sozialstaatlich-marktwirtschaftliche Kollisionssituation253. Absicht des Verfassungsänderungsgesetzgebers war es, die Bereiche Post und Telekommunikation aus der staatlichen Regie in die Hände sich im freien Wettbewerb gegenüberstehender privater Anbieter zu entlassen, ohne dabei die soziale Verantwortung des Gemeinwesens für die ehedem aus der Daseinsvorsorge entstandene Aufgabe ganz aufzugeben. Jedoch verfolgt das Privatisierungsgebot gerade den Rückzug des Staates aus dem Bereich der Postdienstleistungen, während der Infrastrukturgewährleistungsauftrag die Verantwortung des Staates begründet, ein Ausufern marktwirtschaftlich bedingter Nachteile für eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen zu verhindern. Es kann daher nicht um die Entscheidung zwischen den Zielen im Sinne eines „entweder-oder“ gehen, sondern um die Effektuierung beider im Sinne eines „sowohl als auch“.254 Stern fordert insofern die Lösung dieses Konflikts bei der Konkretisierung durch den Gesetzgeber durch den Grundstz der praktischen Konkordanz.255
d) Gewährleistungsverantwortung in der Literatur Bei näherer Untersuchung der Beiträge der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre zum Verantwortungsbegriff, erweisen sich ausführliche Untersuchungen zum Begriff der Gewährleistungsverantwortung als Mangelware. Von den Autoren, die sich mit dem Verantwortungsbegriff im Verwaltungsrecht auseinandersetzen, geht nur ein Bruchteil auf Entstehung, Zusammenhang und Inhalt der Gewährleistungsverantwortung ein. So spielt der Begriff etwa in den Schriften Schmidt-Aßmanns, der den Begriff der Verwaltungsverantwortung geprägt hat, keine Rolle.256 Einige Autoren aus dem Bereich der Verantwortungsbegrifflichkeit erwähnen ähnliche Begriffe im Zusammenhang mit der Privatisierungsproblematik. So spricht etwa Trute257 von einem Wandel der staatlichen Erfüllungsverantwortung 252 So Luke, Gewährleistung und Finanzierung von Infrastruktur im Wettbewerb, S. 139 ff.; Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 312 m. w. N. Vgl. zur Staatszielbestimmung oben E.I.3.c). 253 Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 312. 254 Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 315. 255 Vgl. Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 315 ff. 256 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, ders., Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts. 257 Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff, S. 24 f.
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zu einem „Gewährleistungsauftrag des Bundes“. Bauer258 schreibt, „die staatliche Aufgabenerfüllung tritt zugunsten der staatlichen Gewährleistung der Aufgabenerfüllung durch Private zurück“, bei Badura259 ist von „Gewährleistungspflicht“ die Rede, Luke260 spricht darüberhinaus noch von Gewährleistungsaufgabe und Gewährleistungsauftrag. Der überwiegende Teil der Autoren261 aus dem Bereich der Verantwortungsbegrifflichkeit erwähnt den Begriff lediglich stichwortartig und ohne weitere Untersuchung. Die Kenntnis und Akzeptanz des Begriffs wird dabei vorausgesetzt. So schreibt etwa Schuppert262, es bestünde Konsens darüber, daß zumindest zwei Verantwortungstypen einander gegenübergestellt werden könnten, „nämlich die unmittelbare staatliche Erfüllungs- oder Vollzugsverantwortung . . . und die mittelbar wirkende staatliche Gewährleistungsverantwortung, mit deren Hilfe sichergestellt wird, daß die Aufgabenwahrnehmung durch Trabanten des Verwaltungssystems oder private Anbieter an den staatlichen Gemeinwohlauftrag rückgekoppelt bleibt.“ Lediglich bei einem kleinen Kreis von Autoren finden sich etwas ausführlichere Überlegungen zum Begriff der Gewährleistungsverantwortung, wennauch hier dieser Begriff nirgends im Mittelpunkt der Ausführungen steht.263 So beschreibt Hoffmann-Riem die Gewährleistungsverantwortung als Rahmenbereitstellung des Staates, innerhalb dessen die Gesellschaft ihre Angelegenheiten in möglichst gemeinwohlverträglicher Weise selbstverantwortlich erledigt. Der Staat übernehme Verantwortung in dem Sinne, daß mit Hilfe der rechtlich bereitgestellten Strukturen angemessene gesellschaftliche Problemlösungen erreicht werden. Als Beispiel nennt er die Privatrechtsordnung, gesteuert durch das BGB. Vergleichbares existiere auch im Verwaltungsrecht. Anstelle eigener Tätigkeiten konzentriere sich der Staat in vielen Fällen auf die Steuerung des Verhaltens Dritter – d. h. Privater oder von ihm gebildeter „Trabanten“ –, und zwar durch Rahmenset258 259
Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 277 f. Vgl. Badura, Wettbewerbsaufsicht und Infrastrukturgewährleistung durch Regulierung,
S. 36. 260 Luke, Gewährleistung und Finanzierung von Infrastrukturversorgung im Wettbewerb, S. 136 ff., 407. 261 Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 166; Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 425; Huber, Entsorgung als Staatsaufgabe und Betreiberpflicht, S. 150 ff.; Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat: Vorüberlegungen zu einem Konzept von Staatsentlastung durch Verantwortungsteilung, S. 81 f.; Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung, S. 116; Voßkuhle, Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, S. 68. 262 Schuppert, Vom produzierenden zum gewährleistenden Staat: Privatisierung als Veränderung staatlicher Handlungsformen, S. 551. 263 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung; Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung; Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?; Wieland, GG III, Art. 87e, f; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation.
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zung und strukturierende Vorgaben, so auch für die Ziele ihrer Tätigkeit. Er garantiere damit nicht die Erfüllung bestimmter Aufgaben in bestimmter Weise, aber steuert die Möglichkeit der Verfolgung und Erreichung gemeinwohlorientierter Ziele.264 In seinen Ausführungen zu der im Grundgesetz geregelten Gewährleistungsverantwortung des Staates in den Bereichen Bahn, Post und Telekommunikation weist Wieland insbesondere auf die tendenzielle Spannungslage zwischen der Gewährleistungsverantwortung des Bundes und der grundrechtlich verbürgten unternehmerischen Freiheit der Dienstleistungsunternehmen hin, die im Zuge der Privatisierungen entstünden.265 Schneider betrachtet die Entwicklung eines Kooperationsverwaltungsrechts als zentrale dogmatische Aufgabe der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Verarbeitung des gewährleistenden Regulierungsstaates. Hierbei sei der Ausgangspunkt der Überlegungen der Übergang von der primären Erfüllungsverantwortung des produzierenden Leistungsstaates zur strukturierenden und kontrollierenden Gewährleistungsverantwortung des steuernden Regulierungsstaates. Dieser Wandel sei notwendig mit einer teilweisen Verantwortungsübernahme durch den kooperierenden Privaten verbunden und führte damit zu einer Verantwortungsteilung.266 Andere Aspekte des Begriffs der Gewährleistungsverantwortung hebt Hermes hervor. So macht Hermes deutlich, daß zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ staatlicher Verantwortung unterschieden werden müsse. „Im Gegensatz zu manchen in der Staatsaufgabenlehre anzutreffenden Aussagen, ist mit der Annahme einer staatlichen Gewährleistungsverantwortung also noch nicht die Frage beantwortet, ob eine konkrete Aufgabe vom Staat oder von Privaten erledigt werden soll. Sie zielt lediglich darauf, daß der Staat auf einem bestimmten Gebiet überhaupt tätig wird – sei es regelnd oder leistend, durch Regulierungs- oder durch Leistungsverwaltung.“267 Ein weiterer interessanter Aspekt der Hermesschen Ausführungen ist die Annahme, daß die staatliche Gewährleistungsverantwortung einen Oberbegriff im Bereich staatlicher Steuerungsverantwortung darstelle, der verschiedene Abstufungen von der Erfüllungsverantwortung über die Auffangverantwortung zur Rahmenverantwortung umfasse.268 Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Vielmehr ist die Kategorie der Gewährleistungsverantwortung eine der Erfüllungsverantwortung entgegengesetzte. Es vollzieht sich gerade hier ein allgemeiner Wechsel von der Erfüllungsverantwortung hin zur Gewährleistungsverantwortung, von der Selbstbetätigung des Staates zu bloßen regelnden, informierenden und überwachenden Vgl. Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, S. 441. Vgl. Wieland, GG III, Art. 87e, Rn. 13; Art. 87f, Rn. 14. 266 Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, S. 119 und 123. 267 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 337 f. 268 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 338. 264 265
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Tätigkeiten. Hermes Lesart hieße, die Kategorie der Gewährleistungsverantwortung so aufzuweichen, daß im Grunde genommen alles staatliche Handeln Gewährleistungsverantwortung wäre. Dann wäre allerdings auch der Begriff an sich überflüssig. Schließlich nimmt Hermes zum Verhältnis zwischen Gewährleistungsverantwortung und Daseinsvorsorge Stellung. Während das Konzept der Daseinsvorsorge eine staatliche Tätigkeit voraussetze und folglich für den Fall, daß der Staat sich aus seiner Verantwortung zurückziehe, keine Aussagen treffen konnte, habe das Konzept der Gewährleistungsverantwortung vor allem nach dem notwendigen Minimum staatlichen Einflusses zu fragen.269 Gerade dieser Aspekt der Gewährleistungsverantwortung, bei Hermes gleichzeitig der Infrastrukturverantwortung, ist vor allem bei Röhl auf massive Kritik gestoßen, da hier normative und heuristische Bedeutungsebenen ineinander übergingen.270 e) Normative und heuristische Bedeutungsebene der Gewährleistungsverantwortung Wie bereits dargelegt, kritisiert Röhl am Grundbegriff der Verantwortung die zwischen Normativität und Faktizität balancierende Unschärfe271. Diese Kritik am Grundbegriff setzt sich an der kombinierten Begriffsvariante der Gewährleistungsverantwortung fort. So sei die Gewährleistungsverantwortung ein solcher Begriff, der zunächst nur beschreibend gedacht, schnell in eine normative Fassung wechsele und zu einem Titel werde, eine staatliche Mitverantwortung für die Deckung des lebenswichtigen Bedarfs der Bürger zu postulieren. Hieraus werde z. B. die Verpflichtung des Staates gefolgert, für eine gleichmäßige und dauerhafte Leistungserbringung zu sozial verträglichen Preisen in verschiedenen Gebieten wie Verkehrsinfrastruktur, Wasser- und Elektrizitätsversorgung und ähnlichem zu sorgen.272 Trotz der grundsätzlichen Beachtlichkeit dieses Einwandes muß konstatiert werden, daß Röhl hier mit einer Unterstellung arbeitet. So legt er Hartmut Bauer in die Feder, er leite aus der Gewährleistungsverantwortung eine Verpflichtung des Staates her.273 Dieser jedoch leitet eine derartige Verpflichtung gerade nicht unmittelbar aus dem Begriff der Gewährleistungsverantwortung her, sondern aus dem Sozialstaatsprinzip. Bauer schreibt: „Normativ verankert ist die staatliche Verantwortung für Verwaltungsaufgaben primär in den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien des sozialen und demokratischen Rechtsstaates sowie in der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte.“274 269 270 271 272 273 274
Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 342. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 48 ff. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 47. Vgl. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 48. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, S. 48, Fn. 77. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 269.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Jedoch läßt sich der Einwand Röhls mit Recht auf die von Hermes als Gewährleistungsverantwortung eingestufte Infrastrukturverantwortung beziehen. Zwar kritisiert Röhl diesen Begriff wegen der Unschärfe des Infrastrukturbegriffs275, läßt jedoch das eigentliche Problem hinsichtlich der Normativität unerwähnt. So leitet nämlich Hermes, anders als, wie zuvor erwähnt, Bauer, die normativen Inhalte der Infrastrukturverantwortung nicht aus positiviertem Verfassungsrecht ab, sondern aus als natürlich angenommenen Aufgaben des Staates. Hermes schreibt, die Infrastrukturverantwortung müsse verstanden werden, „als wesentliches Element der rechts-, sozial- oder umweltstaatlichen Aufgaben vorausliegenden Staatsaufgabe, die Voraussetzungen für die Bildung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Einheit zu gewährleisten.“276 Die Herstellung staatlicher Einheit ist nach Hermes der Hauptgrund für bzw. Hauptgegenstand der Infrastrukturverantwortung.277 Mit dieser These steht und fällt gleichzeitig die Etablierung der Hermesschen Infrastrukturverantwortung. Mit seiner Anknüpfung an nicht normierte, den rechts-, sozial- oder umweltstaatlichen Aufgaben vorausliegende Staatsaufgaben begibt sich Hermes in die Nähe von Vertretern der natürlichen Staatsaufgaben. Damit verläßt er allerdings den Methodenrahmen der jüngeren Staatsrechtslehre, die sich am positiven Verfassungsrecht orientiert.278 In diesem Rahmen wäre es lediglich zulässig, die von Hermes als den verfassungstextlichen Staatsaufgaben „vorausliegend“ bezeichnete Staatsaufgabe „Einheitsbildung“ aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Normen abzuleiten. Aus dem Gesagten ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: Zum einen ist es wichtig, die normative, Soll-Bedeutungsebene von der heuristischen Ist-Bedeutungsebene zu trennen. Entsprechend wird im Folgenden für beide Bereiche getrennt der Inhalt der Gewährleistungsverantwortung in den erwähnten Versorgungssektoren behandelt. Zum anderen ist es wichtig festzuhalten, daß sich in der Tat rechtsgültige normative Aussagen nicht unmittelbar aus dem Begriff der Gewährleistungsverantwortung herleiten lassen, sondern allein aus den von Bauer erwähnten Prinzipien und weiteren Vorschriften des Verfassungsrechts.279
Vgl. differenzierter Schatz, Zur Entwicklung des Begriffs Infrastruktur, S. 122 ff. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 352. 277 Vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 326. 278 Vgl. dazu oben C.II.3.e) und f). 279 In diesem Sinne auch Trute, Verzahnung von öffentlichem und privatem Recht, S. 198; so schon für die Daseinsvorsorge Badura, Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung, S. 631. 275 276
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aa) Normativer Befund In den Bereichen Bahn, Post und Telekommunikation macht die normative Ausfüllung der Gewährleistungsverantwortung keine Schwierigkeiten. Wie bereits dargestellt, sind explizit Verantwortungsbereiche für den Staat festgelegt, ohne die konkreten Modalitäten der Wahrnehmung dieser Verantwortung vorzugeben. Bei der Bahn findet sich in Art. 87e IV GG die Pflicht des Staates, in erster Linie des Bundes, zu gewährleisten, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen bei Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz Rechnung getragen wird. Diese Vorschrift kann als verfassungsrechtliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips und damit ebenfalls als Staatszielbestimmung angesehen werden. Betrachtet man sie als Staatszielbestimmung, entfaltet sie objektiv-rechtliche Bindungswirkungen. Wie weit diese Bindungen gehen, läßt sich aus der Vorschrift nicht genau ablesen, weitere Ausgestaltung ist einem Bundesgesetz vorbehalten.280 Jedenfalls soll die Existenz einer Grundversorgung mit Angeboten der Bahn sichergestellt werden. Ähnlich ist die normative Ausgestaltung im Bereich der Post und Telekommunikation. Nach Art. 87f I GG gewährleistet der Bund flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen. Auch dies kann als Staatszielbestimmung im Sinne einer objektiv-rechtlichen Pflicht zur Gewährleistung der Existenz einer Grundversorgung interpretiert werden.281 Die nähere Ausgestaltung, d. h. durch wen und in welchem Umfang die Grundversorgung vorgenommen wird, ist der Regelung durch ein einfaches Bundesgesetz vorbehalten.
bb) Heuristischer Befund Wirft man einen Blick auf die tatsächliche Ausgestaltung der normativen Vorgaben, so bietet sich für Post und Telekommunikation ein sehr ähnliches Bild, das sich erheblich von der Ausgestaltung im Bereich der Eisenbahn unterscheidet. Im Bereich der Bahn wird die Gewährleistungsverantwortung durch einzelne Vorschriften des Gesetzes zur Neuordnung des Eisenbahnwesens282 gestaltet, das als Artikelgesetz mehrere Einzelgesetze enthält. So enthält Art. 4 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes das Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs. Dort wird in § 1 I die Beförderung der Fahrgäste zu erschwinglichen Preisen ausdrücklich als Aufgabe der Daseins280 Vgl. Schmidt-Aßmann / Röhl, Grundpositionen des neuen Eisenbahnverfassungsrechts, S. 584, die vertreten, daß die Gewährleistungspflicht deutlich unterhalb dessen liegen müsse, was der aufgabenrechtliche Gehalt des alten Art. 87 I 1 GG verlangte. 281 So Wieland, GG III, Art. 87f, Rn. 14. 282 BGBl. I, 1993, S. 2378; vgl. auch BT-Drs. 12 / 4609.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
vorsorge bezeichnet. Art. 5 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes enthält das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG). Hier legt § 10 AEG die grundsätzliche Pflicht von öffentlichen Eisenbahnverkehrsunternehmen, die dem Personenverkehr dienen, fest, Personen und Reisegepäck zu befördern. In § 11 I S. 2 AEG wird die Stillegung von Eisenbahninfrastruktureinrichtungen von der Zustimmung der zuständigen Aufsichtsbehörde abhängig gemacht. Der Stillegung wird nur zugestimmt, wenn der Unternehmer darlegt, daß ihm der Betrieb nicht mehr zugemutet werden kann und Verhandlungen mit einem Dritten über die Übernahme des Betriebs erfolglos geblieben sind. Nach § 12 AEG sind alle Tarife der Eisenbahnverkehrsunternehmen genehmigungspflichtig, die Genehmigung kann durch die Genehmigungsbehörde versagt werden. Diese kann auch Änderungen verlangen. Nach § 13 AEG muß für jede öffentliche Eisenbahn Anschluß an jede öffentliche Eisenbahn mit Sitz in Deutschland unter billiger Regelung der Bedingungen und Kosten gestattet werden. Nach § 14 I 1 AEG haben Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Deutschland das Recht auf diskriminierungsfreie Benutzung der Eisenbahninfrastruktur von Eisenbahninfrastrukturunternehmen, die dem öffentlichen Verkehr dienen. Schließlich ermöglicht § 15 die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Leistungen nach Maßgabe der EG-Eisenbahnverordnung283. Neben diesen materiellen Regelungen enthält § 26 Ermächtigungen für die Verabschiedung von Rechtsverordnungen. Hierbei ist aufgrund des § 26 I Nr. 6 über den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur einer anderen Eisenbahn sowie § 26 I Nr. 7 über die Grundsätze zur Erhebung des Entgelts für die Benutzung der Eisenbahninfrastruktur die Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung284 erlassen worden. Damit ist die Gewährleistungsverantwortung im Rahmen der Eisenbahn durch staatliche Mitspracherechte im Bereich der Eisenbahninfrastruktur und der Tarife, durch Beförderungspflichten und Zugangsrechte zur Infrastruktur sowie durch die Möglichkeit der Auferlegung von gemeinwirtschaftlichen Leistungen ausgestaltet. Im Bereich der Post und der Telekommunikation wird die Gewährleistungsverantwortung in erster Linie durch das Konzept der Universaldienstleistungen konkretisiert. Das Postgesetz enthält in § 11 I 1 eine Definition: Universaldienstleistungen sind ein Mindestangebot an Postdienstleistungen nach § 4 Nr. 1, die flächendeckend in einer bestimmten Qualität und zu erschwinglichen Preisen erbracht werden.“285 § 11 II PostG enthält eine Verordnungs-Ermächtigung an die Bundesregierung, mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat Inhalt und Umfang des Universaldienstes festzulegen, mit der Verpflichtung, die Universaldienstleistungen der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung nachfragegerecht anzupassen. Dabei ist die Mindestqualität der Dienstleistungen festzulegen. Dies ist geschehen durch die Post-UniversaldienstleistungsVO (PUDLV)286. Dort wird 283 EWG-VO Nr. 1191 / 69 ABl. 1969 Nr. L 156 / 1, geändert durch EWG-VO Nr. 1893 / 91, ABl. 1991 Nr. L 169 / 1. 284 ElBV vom 17. 12. 1997 (BGBl. I S. 3153). 285 Vgl. dazu v. Danwitz, PostG-Kommentar, Art. 11.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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unter Umsetzung der EG-Richtlinie 97 / 67 / EG festgelegt, welche Postdienstleistungen Universaldienste sind, welche Qualitätsmerkmale sie erfüllen müssen sowie welche Entgelte als erschwinglich erhoben werden können. § 12 PostG enthält eine Konkretisierung der Auffangverantwortung: Kann eine Universaldienstleistung nicht oder nicht angemessen erbracht werden, ist jeder andere Lizenznehmer in dem relevanten Markt ab einem bestimmten Mindestumsatz verpflichtet, dazu beizutragen, daß der Universaldienst erbracht werden kann. Alle diese Vorschriften enthalten somit eine sehr detaillierte Konkretisierung der Gewährleistungsverantwortung aus Art. 87f I GG durch Festschreibung von Zugangsrechten zu einer Grundversorgung an Postdienstleistungen zu erschwinglichen Preisen.287 Im Bereich der Telekommunikation findet sich eine strukturell ähnliche einfachgesetzliche Ausgestaltung der Gewährleistungsverantwortung durch Universaldienstleistungen wie bei der Post. Das Telekommunikationsgesetz (TKG) enthält in § 17 I eine Definition des Universaldienstes: „Universaldienstleistungen sind ein Mindestangebot an Telekommunikationsdienstleistungen für die Öffentlichkeit, für die eine bestimmte Qualität festgelegt ist und zu denen alle Nutzer unabhängig von ihrem Wohn- und Geschäftsort zu einem erschwinglichen Preis Zugang haben müssen“. Dazu gehören insbesondere die Bereiche des Sprachtelefondienstes und des Betreibens von Übertragungswegen, die für die Erbringung für die Öffentlichkeit als Grundversorgung unabdingbar sind.288 § 17 II TKG enthält eine Verordnungs-Ermächtigung an die Bundesregierung, mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat Telekommunikationsdienstleistungen als Universaldienstleistungen zu bestimmen, mit der Verpflichtung die Bestimmungen der Universaldienstleistungen der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung nachfragegerecht anzupassen. Dabei sind Mindestqualität und Maßstäbe für die Bestimmung des Preises der Universaldienstleistungen festzulegen. Auch hier hat die Bundesregierung die Verordnungsermächtigung durch die Telekommunikations-Universaldienstleistungsverordnung289 ausgefüllt und damit ebenfalls EU-rechtliche Vorgaben umgesetzt.290 BGBl. I, 1999, 2418. An der konkreten Ausgestaltung der Universaldienstleistungen durch die Verordnung ist scharfe Kritik geübt worden. So meint etwa Herdegen, Die Regulierung des Postuniversaldienstes, S. 68, daß der Verordnung ein nicht von § 11 II PostG gedecktes Optimierungsverständnis zugrunde liege, das weit über die Ausgestaltung des Universaldienstes als Mindestversorgung hinausginge; vgl. auch v. Danwitz, PostG, Anh. § 11, Rn. 3 ff. 288 Vgl. dazu Schütz, TKG-Kommentar, Art. 17; Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation. 289 BGBl. I, 1997, S. 141 ff. 290 Vgl. dazu Schütz, TKG-Kommentar, Art. 17, Rn. 2 ff.; Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation, S. 147 – 188. 286 287
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Ähnlich dem § 12 PostG bestimmt § 18 TKG, daß bei Unterversorgung mit Universaldienstleistungen oder einer derartigen Gefahr jeder andere Lizenznehmer im betreffenden relevanten Markt mit bestimmten Mindestanteilen am Gesamtumsatz des Marktes oder einer marktbeherrschenden Stellung auf dem räumlich relevanten Markt, verpflichtet ist, dazu beizutragen, daß die Universaldienstleistungen erbracht werden können. Dies kann entweder durch Angebot des Dienstes oder durch Geldleistungen in Form der Universaldienstabgabe nach § 21 TKG geschehen. Damit ist auch im Bereich der Telekommunikation eine sehr detaillierte Konkretisierung der Gewährleistungsverantwortung aus Art. 87f I GG durch Festschreibung von Zugangsrechten zu einer Grundversorgung mit Telekommunikationsdiensten zu erschwinglichen Preisen festgeschrieben. Zur Überwachung der bestehenden Regelungen im Bereich der Gewährleistungsverantwortung, die man unter dem Begriff gemeinwirtschaftlich zusammenfassen kann, sind sektorenspezifische Behörden berufen. Während dies bei der Eisenbahn das Eisenbahnbundesamt ist, wurde in den Bereichen Post und Telekommunikation eine unabhängige Regulierungsbehörde eingerichtet.291 Insbesondere letztere hat jedoch nicht nur die gemeinwirtschaftlichen Regelungen zu überwachen, sondern ist gleichzeitig mit der Durchsetzung der wettbewerbsfördernden, marktöffnenden Regelungen betraut. Insofern setzt sich hier zwingend innerhalb einer Behörde die oben hinsichtlich der Verfassungsnormen Art. 87e und f GG benannte Kollisionslage zwischen gemeinwirtschaftlichen und wettbewerbsfördernden Zielen fort. Aus den vorangegangenen Ausführungen ist deutlich geworden, daß es, bei allen Unterschieden im einzelnen, zahlreiche Gemeinsamkeiten gibt. Aus diesen Gemeinsamkeiten lassen sich als Zwischenergebnis Schlußfolgerungen für eine Formulierung des Begriffs der Gewährleistungsverantwortung ziehen.
f) Ergebnis: Existenz einer Gewährleistungsverantwortung in den Bereichen Bahn, Post und Telekom Aus der Darstellung der drei Bereiche Bahn, Post und Telekommunikation ist deutlich geworden, daß die Gewährleistungsverantwortung im Bereich der Versorgungswirtschaft eng mit dem Phänomen des Rückzugs des Staates von der selbsttätigen Erfüllung von Verwaltungsaufgaben, der sog. Erfüllungsverantwortung verknüpft ist. Kennzeichnend für diesen Rückzug ist eine Spannungslage zwischen wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten. Ziel des staatlichen Rückzuges einerseits ist die Stärkung der Privatwirtschaft. Dabei besteht andererseits der politi291 Vgl. zum Unterschied zu einer gewöhnlichen Bundesbehörde Oertel, Die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde nach §§ 66 TKG.
I. Rechtsdogmatische Grundlagen
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sche und gesellschaftliche Wille, bestimmte Dienstleistungen auf jeden Fall anzubieten, unabhängig von den marktwirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmer. Diese Spannungslage ist bereits in zahlreichen Vorschriften des Grundgesetzes angelegt, etwa in der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art. 14 GG, oder dem Sozialstaatsprinzip, das unter Umständen in Konflikt mit den Freiheitsgrundrechten geraten kann. In den drei genannten Sektoren ist dieser Konflikt für die Versorgungswirtschaft erstmalig verfassungsrechtlich ausdrücklich geregelt. Einerseits wird dem Staat die objektiv-rechtliche Verpflichtung zur Privatisierung bzw. zur Ermöglichung privatwirtschaftlicher Betätigung in diesen Bereichen auferlegt. Andererseits wird er verpflichtet, eine Grundversorgung mit Netz- und Dienstinfrastrukturen zu gewährleisten. Diese muß und soll er zwar nicht selbst anbieten, jedoch mit den ihm zustehenden Mitteln garantieren, d. h. i.d.R. durch gesetzliche Regelungen auf die Bereitstellung hinwirken. Insofern läßt sich der Rückzug des Staates vielfach auch als bloßer Formenwandel seiner Aktivitäten bezeichnen. Die Aufnahme beider konfligierender Ziele zeigt, daß der Verfassungsgesetzgeber hier einen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen einerseits und den sozialen Interessen andererseits herzustellen suchte. Die verfassungsrechtlichen Regeln stellen hierfür den normativen Rahmen bereit, der durch den Gesetzgeber durch einfachgesetzliche Regeln ausgefüllt wurde. Durch diese Regelungen wird sowohl das privatwirtschaftliche Engagement in den Sektoren befördert als auch eine Grundversorgung garantiert. Es stellt sich hierbei die Frage, inwieweit auch Private eine Gewährleistungsverantwortung treffen kann292. Dies ist jedoch abzulehnen. In dem hier verstandenen Sinn kann eine Gewährleistungsverantwortung nur den Staat treffen, da allein dieser im Zweifel die letzten Machtmittel in der Hand hält, als Allgemeinwohl bezeichnete Interessen durchzusetzen. Hinzu kommt die Unmöglichkeit staatlicher Insolvenz, die ihn auch in Krisenzeiten zur Bereitstellung von Gütern befähigt sowie schließlich seine Verpflichtung gegenüber dem Volk, die die Privatwirtschaft nicht in diesem unmittelbaren Maße trifft. Insofern ist auch der unklaren Formulierung der Gewährleistungsverantwortung als Oberbegriff eine klare Absage zu erteilen. Die Gewährleistungsverantwortung trifft allein den Staat. In normativer Hinsicht ist in den Sektoren Bahn, Post und Telekommunikation eine Gewährleistungsverantwortung des Staates unmittelbar aus grundgesetzlichen Vorschriften ableitbar. Diese geben einen Rahmen für eine einfachgesetzliche Ausgestaltung vor, für die dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zusteht. Diesen hat der Gesetzgeber durch Bundesgesetze sowie durch Verordnungen ausgefüllt. Dabei betreffen die Regeln in allen drei Bereichen den Zugang sowohl der Verbraucher zu Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen als auch den Zugang zu den Infrastrukturen für Konkurrenten.
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In diesem Sinne wohl Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 123.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Es läßt sich demnach deutlich zwischen normativer und heuristischer Bedeutungsebene der Gewährleistungsverantwortung in den drei Sektoren trennen. Eine derartige Trennung erscheint im Bereich der Stromversorgung weniger deutlich. Zum einen besteht keine unmittelbare Regelung im Bundesverfassungsrecht, welches die auch im Stromsektor bestehende Spannungslage zwischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen ausdrücklich zum Gegenstand hat. Zum anderen vollzieht sich der in den Bereichen Bahn, Post und Telekom kursorisch beschriebene Rückzug des Staates weniger offensichtlich, da es im Stromsektor vor der Deregulierung keine zentralisierte Marktstruktur unter einheitlicher staatlicher Leitung gab. Im Folgenden wird der Rückzug des Staates im Stromsektor untersucht und im Hinblick auf die staatliche Gewährleistungsverantwortung im Gegensatz zur Erfüllungsverantwortung auf seine Vergleichbarkeit mit den bisherigen Ergebnissen überprüft. Ausgangspunkt ist dabei die Situation vor der allgemeinen Deregulierungspolitik und der Deregulierung des Stromsektors unter besonderer Berücksichtigung öffentlicher wirtschaftlicher Betätigung, insbesondere durch öffentliche Unternehmen.
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung 1. Zur Entwicklung der öffentlichen Unternehmen in Deutschland Öffentliche Unternehmen gehören in Deutschland bereits seit langer Zeit zum Wirtschaftsleben.293 Wie in anderen europäischen Ländern liegen die Wurzeln hierfür im Merkantilismus bzw. Kameralismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie waren der selbstverständliche Bestandteil eines ordnungspolitischen Konzeptes, dementsprechend der Staat, an den übergeordneten Zwecken des absolutistischen Regimes orientiert, kontrollierend und reglementierend in den ökonomischen Bereich eingreifen sollte und in dem es die Trennung von Staat und Wirtschaft noch nicht gab.294 Hiergegen richtete sich die Kritik des Wirtschaftsliberalismus insbesondere Adam Smiths, der auf die Selbststeuerung der Wirtschaft durch den Wettbewerb vertraute. Anders als in Großbritannien setzte sich dieser ausschließlich auf den Wettbewerb vertrauende Ansatz in Deutschland nicht vollends durch. Ursächlich hierfür waren neben anderen Faktoren die oben dargestellte historische Schule in der Wirtschaftswissenschaft.295 Dadurch blieben öffentliche Unternehmen wichtiger Bestandteil des Wirtschaftslebens, insbesondere auf gemeindlicher Ebene gestärkt durch den in Deutschland über Jahrhunderte bestehenden Partikula293 Vgl. zur Geschichte der Privatisierungen Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 13 ff. 294 Vgl. Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 419. 295 Dazu oben C.II.4.c).
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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rismus, der ein starkes Gegengewicht für jede Zentralisierungsanstrengung war. In Deutschland existierte damit ein Mittelweg zwischen stark ausgeprägtem Liberalismus wie in Großbritannien einerseits und einem konsequenten Staatsdirigismus wie etwa in Japan andererseits.296 Das Vertrauen in die selbststeuernden Kräfte des Marktes schwanden mehr und mehr durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der 1920er und 1930er Jahre zugunsten eines Staatsinterventionismus im Rahmen eines grundsätzlich kapitalistischen Systems. Die Kombinationsmöglichkeit beider Ideen – Liberalismus und Staatsinterventionismus – wurde in Deutschland während der beiden Weltkriege offenbar und hielt sich in der Nachkriegszeit. Allerdings kam es in Deutschland (West), anders als in Großbritannien und Frankreich, in der Nachkriegszeit nicht zu Nationalisierungen großer Teile der Wirtschaft. Die ordoliberale Schule, die die wirtschaftspolitische Grundlage für die Wirtschaftsordnung des westlichen Nachkriegsdeutschland legte, setzte sich für ein Wettbewerbssystem ein, akzeptierte jedoch trotzdem öffentliche Unternehmen im Rahmen eines allgemein marktwirtschaftlichen Systems.297 In den 1960er Jahren kam es in Deutschland zu den ersten großen Privatisierungsprojekten Europas, die aufgrund der breiten Aktienstreuung (1959: Preussag, 216000 Erwerber, 1961: VW 1,5 Mio Erwerber, 1965:VEBA 2,6 Mio Erwerber) weltweit Beachtung fanden und das Stichwort „Volksaktie“ prägten.298 Sie beschränkten sich allerdings auf eine Handvoll Unternehmen und fanden keine Fortsetzung in den 1970er Jahren. Erst in den 1980er Jahren begann sich neoliberales Gedankengut aus den USA auch in Deutschland durchzusetzen und sorgte für eine Politik, die privatwirtschaftliche Aktivitäten zum Ideal der Wirtschaftsordnung machten.299
2. Die Strukturen der Stromwirtschaft in Deutschland a) Wirtschaftliche Gründe für Regulierung Entsprechend den oben angestellten Überlegungen zu den Gründen staatlicher Regulierung300 lassen sich die Gegebenheiten des deutschen Stromsektors vor der Deregulierung mit technischen und wirtschaftlichen Besonderheiten begründen. Zwei Charakteristika der Stromwirtschaft werden ins Feld geführt, die staatliche Eingriffe insbesondere durch Ausschalten des Wettbewerbs, rechtfertigen. Zum einen ist dies die Leitungsgebundenheit der Stromversorgung, zum anderen die Nichtspeicherbarkeit von Strom.301 Die Leitungsgebundenheit bedeutet im Vgl. Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 419. Vgl. oben C.III.1. 298 Vgl. Knauss, Privatisierung in der B.R.D., S. 41 ff.; Tofaute, Der große Ausverkauf, S. 52 f. 299 Dazu sogleich E.III.1. 300 Vgl. oben B.III.2. 301 Vgl. zum Ganzen Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 68 f. 296 297
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Wesentlichen, daß Stromversorgung ohne den Bau, Unterhalt und die Nutzung von Stromleitung nicht möglich ist. Der Bau von Stromleitungen verschlinge hohe Fixkosten, die für sich bereits eine hohe Markzutrittsbarriere darstellten. Lange Amortisationszeiten erforderten daher Planungssicherheit, was für eine Monopolisierung spreche. Parallelleitungen vergrößerten das Problem, da sie, wenn sie nicht ausgelastet sind, zu einer Verteuerung des Strompreises führten. Insgesamt ist die Stromwirtschaft aufgrund der Eigenschaft der Netze ein natürliches Monopol, in dem Sinne, daß ein einziger Anbieter aufgrund steigender Skalenerträge und Verbundersparnisse preisgünstiger anbieten könne als mehrere Anbieter im Wettbewerb. Argumente für eine Monopolisierung der Stromwirtschaft folgen auch aus der Nichtspeicherbarkeit von Strom. Hier erfordert insbesondere das Erfordernis von Reservekapazitäten und die Notwendigkeit der Koordinierung von Einspeisung und Entnahme eine zentrale Stelle für Koordinierung der Stromnetze. Wenngleich die beiden Charakteristika unbestritten waren und sind, so war es die Forderung nach Monopolisierung nie. Bereits seit den 1860er Jahren wurde in Deutschland die Diskussion um die Monopolisierung der Gas- und Stromversorgung geführt.302 Bereits 1869 hatte Friedrich Hack in einem Aufsatz volkswirtschaftliche Argumente für die Monopolisierung der Gasversorgung vorgebracht.303 Die vorgebrachten Argumente übertrug 1883 Arthur Wilke auf die Elektrizität und verlangte auch hier eine Monopolisierung.304 Diese Forderung provozierte scharfe Kritik der liberalen Ökonomen. Hier war es insbesondere Franz Freiherr Myrbach von Rheinfeld, der 1886 in einer Veröffentlichung die naturgesetzliche Notwendigkeit, eines Staatsmonopols in der Stromversorgung radikal ablehnte.305 Schon in den 1880er Jahren, noch bevor in Deutschland das erste öffentliche Elektrizitätswerk in Betrieb ging, waren mit dieser Pionier-Debatte zwischen Wilke und Myrbach die wesentlichen Probleme herausgearbeitet und die entscheidenden Argumente ausgetauscht.306 b) Geschichtliche Entwicklung der Stromwirtschaft in Deutschland im Überblick Die Entwicklung der Stromwirtschaft in Deutschland bis zur Deregulierung läßt sich in sechs Phasen einteilen, in denen sich sukzessive eine Gemengelage des stromwirtschaftlichen Engagements der Privatwirtschaft, der Kommunen, der Länder und des Reichs bzw. Bundes sowie gemischtwirtschaftlicher Unternehmen entVgl. den Überblick bei Stier, Staat und Strom, S. 57 f. Hack, Das Monopol der Gasanstalten. 304 Wilke, Die volkswirthschaftliche Bedeutung der Electricität und das Elektromonopol. 305 v. Myrbach, Der gemeinwirtschaftliche Betrieb elektrischer Anlagen aus dem Gesichtspunkte des ökonomischen Vorteils. 306 Stier, Staat und Strom, S. 58. 302 303
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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wickelt hat. Diese Entwicklung vollzog sich bis zum Erlaß des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahre 1935 mehr oder weniger im rechtsfreien Raum oder besser, da ja die allgemeinen Gesetze wie das Gewerberecht und Arbeitsschutzrecht zu berücksichtigen waren, ohne hoheitliche sektorenspezifische Regulierungen.307 Die erste Phase (ca. 1884 – 1890) wurde geprägt durch die Pionierarbeit von Privatunternehmen, die mit den Gemeinden Konzessionsverträge abschlossen. Entsprechend war die Reichweite der einzelnen Kraftwerke auf städtische Gebiete oder Teile davon beschränkt, längere Übertragungsleitungen existierten nicht (sog. Inselbetrieb). Die Verbreitung der Elektrizität vollzog sich in der Spätphase der Industrialisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, etwa 60 Jahre nach der Verbreitung der Stadtgasversorgung. In Deutschland waren damit in der ersten Phase der Entwicklung vor allem die Namen Emil Rathenau und Werner von Siemens verbunden. Rathenau und Siemens leisteten wesentliche Pionierarbeit, inspiriert durch Edisons Erfindung der Glühbirne 1879 / 80, und gründeten 1882 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Electricität, die ab 1887 als Allgemeine Electricitäts Gesellschaft (AEG) firmierte. 1884 schloß deren Tochtergesellschaft Aktiengesellschaft Städtische Elektrizitätswerke, ab 1887 Aktiengesellschaft Berliner Elektrizitätswerke (BEWAG), mit der Stadt Berlin einen Vertrag über die Versorgung des innerstädtischen Bereichs mit Strom. Der Vertrag orientierte sich an den Verträgen der Gasversorgungsunternehmen308 und enthielt einerseits die Einräumung des Liefer- und Transportmonopols, andererseits als Gegenleistung die Auferlegung einer Versorgungspflicht sowie die Verpflichtung 6% des Umsatzes an die Stadt abzuführen. Außerdem wurde der Stadt die Genehmigungsbefugnis bei der Preisgestaltung eingeräumt. Diese Vereinbarung enthielt alle wesentlichen Punkte, die in den bis zur Deregulierung des Strommarktes üblichen Konzessionsverträgen enthalten waren: Ausschließlichkeitsklausel, Betriebsklausel, Kontrahierungspflicht und Wegebenutzungsklausel. Damit wurde dieser Vertrag zum Vorbild für alle späteren Konzessionsverträge der Stromwirtschaft (sog. Stammvertrag).309 1885 gingen die ersten beiden Kraftwerke des Deutschen Reiches im preußischen Berlin und im lothringischen Metz in Betrieb. Mit der BEWAG-Vorläuferin in Berlin existierte das erste Stromversorgungsunternehmen, das Dritte mit Strom belieferte. Es war ein rein privates Unternehmen. Die Kommunen selbst hielten sich mit eigenen Aktivitäten in den ersten Jahren der Entwicklung zurück. Einerseits scheuten sie das technisch-wirtschaftliche Risiko, an307 Vgl. zur historischen Entwicklung der Stromwirtschaft Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 23 ff., 31 ff.; Gröner, Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, S. 46 ff.; Müller / Stahl, Regulation of the Market for Electricity in the F.R.G.; S. 279 ff.; Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Das Recht der öffentlichen Energieversorgung, Bd. 1, Einl. EnWG I, S. 2 ff.; Wesener, Energieversorgung, S. 20 ff. 308 Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 8 f. 309 Vgl. Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 23; Wesener, Energieversorgung, S. 23.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
dererseits wollten sie keine Konkurrenz zu den bereits existierenden städtischen Gasanstalten schaffen.310 In der zweiten Phase (ca. 1890 – 1900) engagierten sich verstärkt die Kommunen selbst in der Energieversorgung, indem sie Privatunternehmen übernahmen oder neue Stromunternehmen gründeten. Diese Tendenz wurde so stark, daß 1910 über 75% aller städtischen Elektrizitätswerke in kommunaler Hand waren. Die Motivation hierfür lag in finanziellen, siedlungs- und wirtschaftspolitischen, stadtplanerischen und gemeinwirtschaftlichen Gründen.311 In der dritten Phase begann der Bau von Überlandleitungen zur Versorgung des ländlichen Raums und insbesondere der Landwirtschaft. Hier beteiligten sich sowohl private Unternehmen als auch die Landkreise sowie gemischtwirtschaftliche Unternehmen.312 Richtig erfolgreich wurden die Überlandleitungen jedoch erst mit dem Einstieg der Länder in der vierten Phase (ab 1912). Diese sorgten für die Errichtung großer Verbundnetze und erstmals für den Bau von Großkraftwerken, die nun in erster Linie mit den im Landeseigentum stehenden Primärenergiequellen Wasser, Steinund Braunkohle betrieben wurden.313 Aufgrund dieser dezentralen Entwicklung bot sich in den einzelnen Ländern ein sehr unterschiedliches Bild von der Verbreitung und Art der Stromversorgung.314 In dieser Phase des großflächigen Ausbaus der Energieversorgung fielen Versuche, ein Reichselektrizitätsmonopol zu errichten (1907 / 08, 1912 – 14). Diese Versuche scheiterten jedoch am Widerstand der Kommunen, Privatunternehmen, Länder und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen.315 Mit dem Ausbau der Verbundnetze entstand auch die Schwierigkeit konkurrierender Belieferung. Diesem Problem wirkten die Unternehmen durch den Abschluß sog. Demarkationsverträge entgegen, in denen die Ausschließlichkeitsrechte für die Belieferung bestimmter Gebiete gegenseitig anerkannt wurde. Damit trat im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Demarkationsvertrag als zweites wesentliches Strukturelement der Stromwirtschaft neben den älteren Konzessionsvertrag.316 In der fünften Phase (ab 1914) trat schließlich auch das Reich in den Kreis der Stromversorger ein. Dies wurde bedingt durch die Erfordernisse der Kriegswirtschaft, insbesondere durch die energieintensive Produktion von Kalkstickstoff und Ammoniak im mitteldeutschen Raum. Der Gedanke eines Reichsmonopols erhielt Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 24; Wesener, Energieversorgung, S. 24. Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 26. 312 Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 26 ff. 313 Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 25; Wesener, Energieversorgung, S. 29 f. 314 Wesener, Energieversorgung, S. 31; vgl. zu den unterschiedlichen Systemen in Baden, Württemberg und Preußen Stier, Staat und Strom, S. 73 ff. 315 Wesener, Energieversorgung, S. 28 f. 316 Wesener, Energieversorgung, S. 36 f. 310 311
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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damit neue Kraft und mündete schließlich in der Zwischenkriegszeit 1919 in die tatsächliche Verabschiedung des „Gesetzes betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft“317. Allerdings scheiterte die Umsetzung in Form der notwendigen Durchführungsverordnungen am entschiedenen Widerstand der EVU, Kommunen und Länder mit dem Ergebnis, daß durch das Energiewirtschaftsgesetz 1935 das wirkungslos gebliebene Verstaatlichungsgesetz endgültig aufgehoben wurde.318 Trotz oder wegen des Scheiterns dauerte die Diskussion um die Neustrukturierung der Energiewirtschaft weiter an. 1930 wurde der bereits 1924 von Reichsregierung und Reichstag in Auftrag gegebene Enquete-Bericht „Die deutsche Elektrizitätswirtschaft“ vorgelegt.319 Dieser hatte erheblichen Einfluß auf die Diskussion, die zur sechsten Phase der Entwicklung führte, die 1935 mit der Verabschiedung des Energiewirtschaftsgesetzes begann und im Wesentlichen bis zur Deregulierung des Marktes 1998 andauerte. Der Verabschiedung des Gesetzes vorangegangen war eine Debatte zwischen dem Reichswirtschaftsminister Schacht, der sich für eine Zentralisierung mit starken Befugnissen beim Wirtschaftsministerium einsetzte, und dem Reichsinnenminister Fricke, der sich mit der Unterstützung des Deutschen Gemeindetages für eine dezentrale, gemeindefreundliche Lösung unter der Kommunalaufsicht des Innenministeriums einsetzte. Dieser Streit gipfelte in der Vorlage zweier entgegengesetzter Gesetzesentwürfe und wurde im Wesentlichen zugunsten des Wirtschaftsministeriums gelöst. 1936 erging die Preisstop-Verordnung, 1938 die Tarifordnung für elektrische Energie, 1941 die Konzessionsabgaben-Anordnung und 1942 die Allgemeinen Versorgungsbedingungen für Elektrizität. 320 Mit diesen Regelungen wurde der Energieversorgung erstmals ein spezialgesetzlicher Rechtsrahmen gegeben. Das neue Gesetz schuf keine neuen Strukturen, sondern erkannte den status quo mit den bestehenden geschlossenen Versorgungsgebieten und den unterschiedlichen Eigentumsstrukturen der Unternehmen im Wesentlichen an.
c) Struktur der Stromwirtschaft im Nachkriegsdeutschland Wenngleich das Kriegsende aufgrund des totalen politischen, wirtschaftlichen und staatlichen Zusammenbruchs Deutschlands auch in rechtlicher Hinsicht allgemein als scharfe Zäsur angesehen wird, so gilt dies für das Energierecht in Westdeutschland im Wesentlichen nicht. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde das Energiewirtschaftsgesetz weiter angewendet und durch vom Wirtschaftsrat 1947 und 1949 erlassene Notgesetze ergänzt.321 Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes RGBl. 1920, S. 20. Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 33; Wesener, Energieversorgung, S. 34. 319 Enquete-Ausschuß, III. Unterausschuß für Gewerbe, Handel und Handwerk, S. 265, zitiert nach Wesener, Energieversorgung, S. 35, Fn. 5. 320 Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 48 ff. 321 Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 53. 317 318
13 Ruge
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
wurden durch Art. 123 I, 125, 74 Nr. 11 GG das EnWG und die erlassenen Durchführungsverordnungen als gültiges Bundesrecht angesehen und galten somit, abgesehen von Zuständigkeits- und Rechtswegbestimmungen unverändert fort. Anders stellte sich die Situation im Osten Deutschlands dar.
aa) Deutschland – Ost (SBZ / DDR) Die Energiewirtschaft der SBZ bzw. der DDR322 wurde grundlegend neu strukturiert, das EnWG und die darauf gegründeten Rechtsvorschriften traten außer Kraft. An Stelle einer Gemengelage von privater, öffentlicher und gemischtwirtschaftlicher Eigentumsstruktur trat Volkseigentum an den energiewirtschaftlichen Betrieben und es wurde eine planwirtschaftliche Bewirtschaftung und Leitung des Wirtschaftszweiges eingeführt. Die Unternehmen der Erzeugerseite wurden in einem Kombinat Braunkohle und einem Kombinat Kernenergie zusammengefaßt, die Übertragungsnetze wurden in einem Kombinat Verbundnetz zusammengeführt und die Verteilung des Stroms lief über 15 Bezirkskombinate, entsprechend der Zahl der Verwaltungsbezirke seit der Gebietsreform 1953. Verantwortlich für die Energiewirtschaft war das Ministerium für Kohle und Energie. Grundlegend für diese erste erfolgreiche Verstaatlichung der Energiewirtschaft in Deutschland war Art. 25 der DDR-Verfassung vom 7. 10. 1949323, nach dem „alle Bodenschätze, alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte sowie die zu ihrer Nutzbarmachung bestimmten Betriebe des Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung und der Energiewirtschaft . . . in Volkseigentum zu überführen“ waren. Die Strukturen der Energiewirtschaft wurden durch die Energiewirtschaftsverordnung (EnVO) 1949324 festgelegt. Hier wurden die Strukturen des Wirtschaftszweiges, die Art der planwirtschaftlichen Leitung und konkrete Fragen der Versorgungspflicht geregelt. Das Tarifsystem wurde durch die „PreisVO Nr. 281“325 von 1952 sowie die „Anordnung Nr. PR. 125“326 und die „Elektroenergie-Tarif-Bestimmung für die Bevölkerung (ETB)“327 von 1983 geregelt. Hervorzuheben ist dabei, daß die festgelegten Preise, anders als die Höchstpreise des Tarifsystems im Westen 322 Vgl. zum Ganzen Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 78 f.; Ehmer, Das Tarifwesen der Elektrizitätswirtschaft, S. 37 ff.; Grawe, Die Struktur der deutschen Elektrizitätswirtschaft vor und nach der nationalen Vereinigung, S. 1014 f.; Monopolkommission, Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Tz. 713 ff. 323 DDR-GBl. 1949, S. 5. 324 VO über die Neuordnung der Energiewirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone, Zentralverordnungblatt 1949, S. 472, später VO über die Energiewirtschaft in der DDR (Energieverordnung-EnVO), DDR-GBl. 1988 I, S. 89 ff. 325 VO über die Neuregelung der Preise für die Lieferung von Elektroenergie und Gas aus den öffentlichen Versorgungsnetzen, DDR-GBl. 1952, S. 1404 f. 326 Anordnung Nr. PR. 125 über die Industriepreise für Elektroenergie, DDR-GBl. I, 1983, S. 171 ff. 327 Vgl. dazu Ehmer, Das Tarifwesen der Elektrizitätswirtschaft, S. 39 m. w. N.
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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Deutschlands, Fixpreise waren und somit keine Veränderung nach unten oder oben zuließen. Die Preise sind seit 1953 bis zur Vereinigung 1990 unverändert geblieben, was -neben anderen effizienzbedingten Ursachen- zu einer hochdefizitären Stromversorgung führte.328 Die Energiewirtschaft der DDR war kurz vor der Wende insgesamt sehr marode, die Erzeugungsanlagen und Übertragungsnetze veraltet und verschlissen und die technischen Gegebenheiten entsprachen nicht dem modernen Stand der Technik. Hierdurch herrschte eine extreme Umweltbelastung, die die höchste Emissionsdichte in Europa darstellte.329 Nach der Wende bildeten sich neue Strukturen, die im Wesentlichen den westdeutschen Gegebenheiten nachgebildet waren. Die Verbundnetze wurden von drei großen westdeutschen Verbundnetzbetreibern gemeinschaftlich unter der Firma VEAG geführt. Die Regionalversorgung wurde von unterschiedlichen westdeutschen Versorgern übernommen und verpflichtet, 70% ihrer Energie von der VEAG zu beziehen. Außerdem entstanden zahlreiche neue Erzeugungsanlagen auf kommunaler Ebene. Seit der Wende sind durch massive Investitionen die Erzeugungs- und Übertragungsanlagen modernisiert und die Umweltbelastungen einschneidend verringert worden. Wettbewerb wurde durch die neuen Strukturen nicht eingeführt.
bb) Deutschland – West Anders als die radikalen Veränderungen im Osten, veränderten sich die Strukturen des Strommarktes im Westen Deutschlands im Wesentlichen nicht. Die seit Beginn der Stromwirtschaft existierenden geschlossenen Versorgungsgebiete blieben bestehen. Wesentliche Elemente dieser Struktur waren die Konzessions- und Demarkationsverträge. Die Konzessionsverträge zwischen Gemeinden und Versorgungsunternehmen legten ausschließliche Transport- und Lieferrechte sowie das Recht, die gemeindlichen Wege zum Leitungsbau zu benutzen, zugunsten der Stromversorger fest. Als Gegenleistung wurden die Versorger verpflichtet, einen Teil ihrer Abgaben an die Gemeinde abzuführen. Diese sog. Konzessionsabgaben sind ihrer Höhe nach seit 1941 begrenzt.330 Neben den Konzessionsabgaben enthielten die Konzessionsverträge in der Regel eine Betriebspflicht der Versorger und die Pflicht, alle Haushalte an die Versorgung anzuschließen und mit Strom zu versorgen. Durch die Konzessionsverträge wurden lokale Versorgungsmonopole geschaffen. Mit der Ausweitung der Verbundnetze entwickelte sich die Möglichkeit, überregional Strom zu liefern. Um den so möglich gewordenen Wettbewerb zu verhindern, schlossen vor allem die Regional- und Verbundversorger untereinander sog. Demarkationsverträge, in denen sich die Unternehmen Vgl. Ehmer, Das Tarifwesen der Elektrizitätswirtschaft, S. 40. Vgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 78. 330 KAE v. 4. 3. 1941 Reichsanzeiger Nr. 57 und Nr. 120, in der Fassung v. 7. 3. 1975 Bundesanzeiger Nr. 49, ersetzt durch Verordnung über Konzessionsabgaben für Strom und Gas – KAV v. 9. 1. 1992, BGBl. I, 1992, 12, 407. 328 329
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wechselseitig verpflichteten, Strom nicht in die jeweils anderen Versorgungsgebiete zu liefern. Dieses System der geschlossenen Versorgungsgebiete war bereits in der Nachkriegszeit umstritten, insbesondere, da es der ordoliberalen Vorstellung des Wettbewerbs entgegenlief, die im 1957 verabschiedeten Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)331 deutlich zum Ausdruck kam. Jedoch wurde der Streit zugunsten der geschlossenen Versorgungsgebiete entschieden, indem § 103 GWB ausdrücklich Bereichsausnahmen für die Elektrizitäts- und Gaswirtschaft vorsah, mit der Folge, daß Demarkations- und Konzessionsverträge nicht unter die §§ 1, 16 GWB fielen, die derartige Vereinbarungen im Grundsatz verbieten.332 Damit blieb auch die Organisation der Energieversorgung durch hauptsächlich drei Arten von EVU unangetastet. Die drei Arten entsprechen der Funktion der Leitungen, die die Unternehmen betreiben. Zum einen gibt es die Verbundunternehmen333, die als selbständige Unternehmen im überregionalen Energieaustausch zusammenarbeiten und dabei ihre Hoch- und Höchstspannungsnetze großräumig zu einem Netz zusammengeschaltet haben. Trotz der Zusammenschaltung bleiben die EVU jedoch selbständig und Eigentümer ihres jeweiligen Netzteils. Bis zur Deregulierung gab es in Deutschland 9 Verbundunternehmen, die sich 1948 in dem Wirtschaftsverband „Deutsche Verbundgesellschaft e.V.“ (DVG) zusammengeschlossen haben. Neben der Aufgabe des überregionalen Transports des Stroms und der damit verbundenen Koordinierungsleistung von Angebot und Nachfrage, sind die Verbundunternehmen auch Stromerzeuger, verkaufen ihren Strom an Regionalunternehmen und Stadtwerke sowie Endverbraucher. Bei der Stromerzeugung spielen sie in Deutschland die wichtigste Rolle mit einem Anteil von mehr als 50% im Jahr 1974 mit steigender Tendenz.334 Beteiligungen an diesen Unternehmen bestanden seitens des Bundes an VEBA und VIAG, sowie der jeweiligen Länder bei HEW, Badenwerk, Bayernwerk und BEWAG. Bei der RWE bestand zwar eine private Mehrheit, jedoch hielten die Kommunen Mehrstimmrechte nach § 12 AktG und konnten damit theoretisch erheblichen Einfluß ausüben. Insofern existierte hier ein Gemengelage von privaten, öffentlichen und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen.335 Die zweite Gruppe der EVU bilden die in den 1980er Jahren ca. 45 Regionalversorger, die überwiegend in der „Arbeitsgemeinschaft Regionaler Energieversorgungsunternehmen e.V.“ (ARE) zusammengeschlossen sind. Sie betreiben die BGBl. 1957 I 1081. Vgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 6; Wesener, Energieversorgung, S. 55. 333 Wesener, Energieversorgung, S. 60 ff. 334 Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 720 ff. und dies., Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Tz. 709 ff. 335 Vgl. zu den Beteiligungen Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 729 ff.; Wesener, Energieversorgung, S. 68 ff. 331 332
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meist landesweiten Mittelspannungsnetze, über die Strom an Stadtwerke oder Endverbraucher geliefert wird. Neben der Verteilerfunktion sind die Regionalunternehmen aber auch als Stromerzeuger tätig. In den 1980er Jahren war ihr Anteil an der Gesamtstromerzeugung in Deutschland ca. 10%. Sie befinden sich häufig in einer starken Abhängigkeit von den Verbundunternehmen, da diese in der Regel große Beteiligungen halten.336 Neben den Verbundunternehmen sind es ansonsten vor allem die Kommunen, die Anteile an den Regionalversorgern halten.337 Die dritte Gruppe schließlich sind die ca. 440 örtlichen EVU, i.d.R. die Stadtwerke, die zumeist als kommunale Eigenbetrieb oder in privatrechtlicher Form als AG oder GmbH mit der Gemeinde als Mehrheitseigner geführt werden.338 Ihre Hauptbetätigung in der Stromversorgung besteht in der Verteilung des Stroms über Niedrigspannungsnetze an die Endverbraucher. Überwiegend beziehen die örtlichen EVU den Strom von den Regionalversorgern, teilweise erzeugen die Stadtwerke auch selbst Strom. Ihr Anteil an der Gesamtstromerzeugung in Deutschland lag in den 1980er Jahren etwa bei 10%. Allerdings nahm die Eigenproduktion vor allem mit der umweltfreundlichen Kraft-Wärme-Kopplungs Technik in den 1980er Jahren zu. Diese Technik ermöglicht es, gleichzeitig Strom und Fernwärme zu liefern und damit einen wesentlich höheren Wirkungsgrad zu erreichen als ausschließlich Strom produzierende Anlagen. Diese Entwicklung setzte sich nach der Wende auch im Ostteil Deutschlands fort. Charakteristisch für die Tätigkeiten der Stadtwerke ist, daß sie neben der Stromversorgung weitere Tätigkeiten betreiben. Insbesondere wird der defizitäre Öffentliche Personennahverkehr in der Regel durch die Einnahmen aus dem lukrativen Stromgeschäft quersubventioniert. Man spricht bei den Kommunen bei derartiger Tätigkeit vom Querverbund339, bei anderen Unternehmen würde man wohl von horizontaler Integration sprechen. Neben diesen drei Arten der EVU existieren noch zahlreiche sog. KraftwerksEVU, die etwa wie STEAG, VEBA und Ruhr AG ausschließlich Strom produzieren, ohne über eigene Netze zu Verfügen. Schließlich gibt es zahlreiche private EVU, die i.d.R. kleinere Mengen von Energie erzeugen. Durch die starke Förderung alternativer Energien durch das Stromeinspeisungsgesetz von 1990 hat deren Anteil an der Gesamtstromerzeugung zugenommen.340 Die verschiedenen Beteiligungen der öffentlichen Hand an den unterschiedlichen Arten der EVU könnte den Schluß zulassen, daß die öffentliche Hand einen ganz wesentlichen Einfluß auf die Führung der Unternehmen ausübte. Allerdings scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Vielmehr haben sich durch die sehr unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Interessen der verschiedenen öffentlichen Körperschaften mit Beteiligungen (Bund, Länder, Gemeinden) diese zumeist 336 337 338 339 340
Vgl. Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 726 f. Wesener, Energieversorgung, S. 71 f. Vgl. dazu Wesener, Energieversorgung, S. 65 ff. Vgl. Der Querverbund in der Marktwirtschaft, Städtetag 1992, S. 809 ff. Vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 67 f.
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neutralisiert und damit wohl kein abgestimmtes Einwirken auf die Unternehmen zuwege gebracht.341 Dieser Überblick verdeutlicht die komplizierte Gemengelage zwischen privater, öffentlicher und gemischtwirtschaftlicher Unternehmensform und die darin bestehenden unterschiedlichen Interessenlagen von Bund, Ländern und Kommunen. Diese Struktur hat, wie oben deutlich geworden ist, Reformbestrebungen über ein Jahrhundert erfolgreich widerstanden. Diese Gemengelage aus verschiedenen Interessen der Beteiligten wird erheblich dadurch verkompliziert, daß die Unternehmen der verschiedenen Stufen (Verbund, Regional und örtlich) nicht auf einen Bereich der Stromwirtschaft (Erzeugung, Übertragung, Verteilung) beschränkt sind, sondern überwiegend in allen drei Bereichen tätig werden. Diese Struktur bezeichnet man als vertikale Integration der Unternehmenstätigkeiten. Auffällig ist auch die bereits seit dem entstehen der Verbundnetze in den 1910er Jahren einsetzende Tendenz zur Konzentration. Dieser Trend setzte sich auch im Nachkriegsdeutschland (West) fort. So verringerte sich die Anzahl der EVU von ca. 3000 im Jahre 1955 auf ca. 1000 im Jahr 1979.342
3. Das Rechtsregime im Stromsektor vor der Deregulierung (bis 1998) a) Zwei Kategorien rechtlicher Regeln im Stromsektor Wie bereits angedeutet, lassen sich die rechtlichen Regelungen im Bereich der Stromwirtschaft in zwei Bereiche einteilen: Zum einen in diejenigen Vorschriften, die den Wettbewerb auf dem Markt betreffen, zum anderen in diejenigen, die gemeinwirtschaftliche Ziele verfolgen. Für eine derartige Kategorisierung der bestehenden Regeln spricht vor allem die Möglichkeit, dadurch mehr Klarheit über konfligierende Interessen im Rahmen der Energie- bzw. Strompolitik zu erzielen. Zwar finden sich die Ziele der Preisgünstigkeit, Versorgungssicherheit und des Umweltschutzes als gemeinsame Ziele des Energierechts in § 1 EnWG 1998 und scheinen einander zu ergänzen und sich nicht zu widersprechen. Trotzdem sind gerade die im Folgenden als gemeinwirtschaftlich eingestuften Regelungen Ausnahmen oder Einschränkungen des Wettbewerbs und geraten damit zunächst einmal mit dem Ziel der Verwirklichung des Wettbewerbs, das sich in Einzelregelungen des EnWG und im GWB wiederfindet, in Konflikt. Es ist selbstverständlich Aufgabe einer Energiepolitik, diese bestehenden Konflikte zu lösen. Hilfreich hierbei ist jedoch nicht, von vornherein die Konflikte zu verschweigen, sondern vielmehr die Offenlegung dieser potenziellen Bruchstellen. Zu diesem Bestreben erscheint es zweckmäßig, die rechtlichen Regeln den 341 Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 733; Wesener, Energieversorgung, S. 73. 342 Wesener, Energieversorgung, S. 57 ff.
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beiden Kategorien wettbewerbsbezogen (wettbewerbsersetzend bzw. -fördernd) und gemeinwirtschaftlich zuzuordnen. Die Rechtslage seit 1935 ging von monopolistischen Marktstrukturen aus. Damit fielen die wesentlichen Marktmechanismen zur Selbststeuerung der Stromwirtschaft weg. Diese wurden durch staatliche Regelungen ersetzt. Man kann insofern von wettbewerbsersetzenden Regelungen sprechen.
b) Wettbewerbsersetzende Regelungen aa) Ausgangspunkt: Zielrichtung des EnWG 1935 Wenngleich durch Art. III Nr. 6 des Militärregierungsgesetzes Nr. 1 durch den Alliierten Kontrollrat angeordnet wurde, daß Gesetzeszwecke und Deutungen, die in Vorsprüchen oder anderen Erklärungen enthalten sind, bei der Auslegung (fortgeltenden) Rechts außer Betracht bleiben, so erhellt doch die Präambel des EnWG 1935 die Zielrichtung des Gesetzes.343 Die Präambel344 betonte die große Bedeutung der Energiewirtschaft für das wirtschaftliche und soziale Leben sowie die Notwendigkeit des öffentlichen Einflusses in allen Angelegenheiten der Energieversorgung unter Berücksichtigung der verschiedenen öffentlichen Gebietskörperschaften. Besonders deutlich kommt die Zielrichtung des Gesetzes in dem Appell an die Energieaufsichtsbehörden zum Ausdruck, im Interesse des Gemeinwohls volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern und einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern, um eine sichere und preiswerte Energieversorgung zu garantieren. Damit bezog das EnWG 1935 ordnungspolitisch klar Stellung gegen Wettbewerb und für Monopolstrukturen zum Zwecke des Verbraucherschutzes.345 Die durch den Ausschluß des Wettbewerbs verbannten Marktmechanismen suchte das Gesetz durch staatliche Regulierung der Betriebsaufnahme, der Investitionen, der Betriebsuntersagung im Falle der Schlechterfüllung der Versorgungstätigkeit, Enteignungsmaßnahmen und vor allem durch Preiskontrolle zu ersetzen.
bb) Staatliche Regulierung und Aufsichtsbefugnisse (1) Betriebsaufnahmegenehmigung § 5 EnWG 1935 In § 5 I EnWG 1935 wurde die erstmalige Aufnahme der Versorgungstätigkeit von einer staatlichen Erlaubnis abhängig gemacht.346 Nicht erfaßt wurde eine 343 Zur Frage, ob die Präambel typisch nationalsozialistisches Gedankengut enthält vgl. Wesener, Energieversorgung, S. 44 ff. m. w. N., der dies verneint. 344 RGBl. I, 1935, S. 1451; BGBl. III, 752 – 1. 345 So auch Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 9, Rn. 17.
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Ausweitung der Versorgungstätigkeit bereits bestehender Unternehmen. § 5 I EnWG 1935 enthielt keine Bedingungen, zu denen eine Betriebsaufnahmeerlaubnis zu erteilen war. Allerdings konnten unter Bezugnahme insbesondere auf die Präambel und den darin festgelegten Zweck des Gesetzes der sicheren und billigen Energieversorgung durch ergänzende Auslegung die Maßstäbe ermittelt werden. So konnte bei Mängeln bzgl. Kompetenz und Leistungsfähigkeit die Erlaubnis versagt werden. Unter Berücksichtigung der wettbewerbsfeindlichen Zielrichtung des EnWG 1935 konnte unter dem Aspekt der Verhinderung volkswirtschaftlich schädlicher Auswirkungen des Wettbewerbs auch die Aufnahme einer Versorgungstätigkeit, die in Konkurrenz zu einem bereits tätigen Unternehmen erfolgen sollte, untersagt werden. Damit bestand durch § 5 I EnWG 1935 ein starkes ordnungspolitisches Instrument der Aufsichtsbehörden, die bestehenden Strukturen aufrechtzuerhalten. Da eine Betriebsaufnahmeversagung einen erheblichen Eingriff in Grundrechte privater EVU darstellt (Art. 12 GG, gegebenenfalls i.V.m. Art. 19 III GG), war die Verfassungsmäßigkeit der Regelung und deren Auslegung durch die Gerichte umstritten, wurde jedoch unter Verweis auf die überragende Bedeutung einer sicheren und preiswerten Energieversorgung für die Gemeinschaft für verhältnismäßig gehalten. (2) Investitionskontrolle § 4 EnWG 1935 Im Gegensatz zur Betriebsaufnahmegenehmigung nach § 5 I EnWG 1935 setzte die Investitionskontrolle nach § 4 II, 2 II EnWG 1935 bereits eine Versorgungstätigkeit voraus.347 Danach waren Bau, Erneuerung, Erweiterung und Stillegung von Energieanlagen anzeigepflichtig (Abs. 1) und konnten von der zuständigen Landesbehörde aus Gründen des Gemeinwohls untersagt werden (Abs. 2). Damit konnten Aktivitäten auch innerhalb der geschlossenen Versorgungsgebiete verhinderte werden, die die sichere und billige Versorgung gefährdeten. Dies waren insbesondere Überkapazitäten, zu teure Anlagentypen aber auch die Stillegung von Anlagen. Schließlich konnten die Behörden Investitionen ablehnen, die zu Wettbewerb geführt hätten. Spätestens seit den 1980er Jahren war die Frage heftig umstritten, ob bei den behördlichen Entscheidungen nach §§ 4 und 5 EnWG 1935 über die Kriterien der Sicherheit und Billigkeit auch der Umweltschutz zu berücksichtigen ist. Nach der Gesetzeslage war dies den speziellen umweltrechtlichen Normen aus Bundesimmissionsschutzrecht, Atomrecht, Baurecht, Naturschutzrecht und Wasserrecht vorbehalten.
346 Zum Ganzen vgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 10 ff.; Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 69 ff. 347 Vgl. zum Ganzen Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 12 f.; Gröner, Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, S. 355 ff.
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(3) Betriebsuntersagung und Enteignung §§ 8,9 EnWG 1935 („Abmeierung“) Die Auslesefunktion des Wettbewerbs ersetzte der Gesetzgeber im Rahmen der monopolistischen Stromwirtschaft durch die Möglichkeit der Betriebsuntersagung und Übertragung auf andere Unternehmen nach § 8 und der Enteignung nach § 9 I EnWG 1935.348 Nach § 8 I konnte die zuständige Landesaufsichtsbehörde einem EVU, das außerstande war, seine Versorgungsaufgaben zu erfüllen, den Betrieb untersagen, wenn dies nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden konnte. Die Versorgungsaufgabe konnte einem anderen Unternehmen, vorrangig einer anderen öffentlichen Gebietskörperschaft, übertragen werden. Gegen Entschädigung konnten nach § 9 i.V.m. 11 EnWG 1935 die Energieanlagen enteignet werden. Diese Vorschriften wirkten nicht so sehr durch ihre praktische Anwendung, sondern vielmehr durch ihre abschreckende Wirkung im Vorfeld. (4) Wegenutzung § 12 EnWG Mit § 12 EnWG 1935 wurde die seit Beginn der Stromwirtschaft praktizierte Erhebung von Wegeentgelten durch die Gemeinden gesetzlich anerkannt. Die Vorschrift räumt dem Bundeswirtschaftsminister die Möglichkeit ein, allgemein Vorschriften oder Einzelanordnungen über deren Zulässigkeit und Bemessung zu erlassen. Dies hat der Reichswirtschaftsminister 1941 mit der Konzessionsabgabenanordnung (KAE) getan, die 1992 ersetzt wurde durch die Konzessionsabgabenverordnung (KAV) des Bundeswirtschaftsministers.349 Die KAV legt Höchstbeträge für die Wegebenutzung zwecks Strom- und Gasversorgung in Gemeindegebieten für Tarif- und Sondervertragskunden vor. (5) Wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahmen § 103 I GWB a.F. und Energiekartellaufsicht § 103 V (104a) Nach § 103 I Nr. 1 und 2 GWB wurden Demarkationsverträge und Konzessionsverträge vom Kartellverbot des § 1 GWB und dem Verbot der Reglementierung von Absatz- und Bezugsbedingungen nach § 18 GWB a.F. (16 GWB n.F.) freigestellt. Mit dieser Regelung sanktionierte der Kartellgesetzgeber 1957 das seit Beginn der Stromversorgung bestehende System der geschlossenen Versorgungsgebiete. Damit wurde es als Bereichsausnahme von der allgemeinen Kartellaufsicht freigestellt. Jedoch wurde nach § 103 V / 104a GWB a.F. eine spezifische Mißbrauchsaufsicht über Strom- und Gasunternehmen durchgeführt. Diese orientierte sich an Sinn und Zweck der Freistellung, d. h. am Zweck des EnWG 1935, der sicheren und billigen Energieversorgung. Entsprechend ging es dabei nicht um die 348 Vgl. zum Ganzen Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 13; Wesener, Energieversorgung, S. 193 ff. 349 BGBl. I, 1992, S. 12, 407 i.d.F. v. 22. 7. 1999, BGBl. I, 1999, Nr. 40, S. 1669.
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Durchsetzung von Wettbewerb, sondern insbesondere um Preisaufsicht nach dem Konzept des sog. Strukturvergleichs.350 Seit 1980 wurde die Laufzeit der Konzessionsverträge durch § 103a I S. 1 GWB a.F. auf 20 Jahre beschränkt, um einen gewissen Wettbewerb innerhalb der geschützten Gebiete zu etablieren, ab 1990 führte der Gesetzgeber ein Überlappungsverbot von Demarkationsverträgen mit Ausschließlichkeitsabreden in Konzessionsverträgen ein. Danach sah § 103a I S. 2 a.F. GWB vor, daß Demarkationsverträge unwirksam wurden, wenn sie nach Ablauf von Konzessionsverträgen eine Aufnahme der unmittelbaren Versorgung mit einem neuen Anbieter verhinderten. (6) Aussage des EnWG 1935 zur Eigentumsstruktur § 2 II EnWG 1935 Nachdem die tatsächliche Eigentumsstruktur der deutschen Stromwirtschaft bereits angesprochen wurde, sollte nicht unerwähnt bleiben, was der Energierechtsgesetzgeber zu dieser Frage vorsah. Da in Deutschland die Verstaatlichung durch die Nichtumsetzung des erwähnten Verstaatlichungsgesetzes von 1919 nicht vollzogen wurde und es anders als etwa in Frankreich, Großbritannien und Italien nach dem 2. Krieg nicht zur Verstaatlichung der gesamten Stromwirtschaft kam, fehlte auch ein entsprechendes Gesetz, das die Eigentumsstrukturen festlegt. Vielmehr ging das EnWG 1935 von den bereits existierenden Strukturen aus und erkannte diese an. Dies läßt sich an der ausdrücklichen Regelung des § 2 II EnWG 1935 ablesen, in der es heißt: „EVU im Sinne dieses Gesetzes sind ohne Rücksicht auf Rechtsformen und Eigentumsverhältnisse alle Unternehmen und Betriebe, die andere mit elektrischer Energie versorgen . . .“. Dieser Formulierung läßt sich entnehmen, daß der Gesetzgeber als EVU öffentliche, private und gemischtwirtschaftliche Unternehmen als EVU akzeptiert hatte.351 cc) Wettbewerbsfreundliche Ausnahme: Durchleitungstatbestand des § 103 V S. 2 Nr. 4 GWB Die dargestellten Vorschriften des EnWG 1935 und des GWB a.F. enthielten wettbewerbsersetzende staatliche Regelungen. Allerdings gab es nach § 103 V S. 2 Nr. 4 GWB auch in begrenztem Umfang wettbewerbsfördernde Regelungen, die im Rahmen einer speziellen kartellrechtlichen Aufsicht zur Anwendung kamen. Die Vorschrift sah die Möglichkeit einer Durchleitung vor, indem sie es als mißbräuchlich bezeichnete, wenn ein EVU ein anderes EVU im Absatz oder Bezug von elektrischer Energie oder Gas dadurch unbillig behinderte, daß es sich weigerte, mit diesem Unternehmen Verträge über die Einspeisung von Energie in sein Versorgungsnetz und eine damit verbundene Entnahme zu angemessenen Bedin350 Vgl. ausführlich Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 756 ff.; dies., Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Tz. 250 ff. Dazu sogleich. 351 Vgl. Evers, Das Recht der Energieversorgung, S. 65 ff.
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gungen abzuschließen. Bei der Beurteilung der Unbilligkeit waren die Marktverhältnisse, insbesondere die Versorgungsbedingungen für Abnehmer des zur Durchleitung verpflichteten EVU zu berücksichtigen. Praktische Bedeutung erlangte die Vorschrift allerdings nur ein einziges Mal in einem Fall, in dem im NachwendeOstdeutschland noch keine Gebietsschutzverträge bestanden.352
b) Gemeinwirtschaftliche Regelungen Neben den Regelungen, die der Staat an die Stelle der Marktmechanismen setzte, existierten verschieden Regelungen, die gemeinwirtschaftlichen Zielen dienten. Dazu gehörte insbesondere der Verbraucherschutz durch Preisgestaltung und Anschluß- und Versorgungspflichten, die Versorgungssicherheit durch Bevorratungsmaßnahmen und technische Regelungen sowie der Umweltschutz. aa) Preisgestaltung Preisgestaltung existierte als energierechtliche, wettbewerbsrechtliche und zivilrechtliche Preisaufsicht. Da der Energierechtsgesetzgeber von 1935 davon ausging, daß Wettbewerb in der Stromversorgung nicht funktionierte und damit auch der Preismechanismus nicht in volkswirtschaftlich wünschenswerter Weise funktionieren würde, sah das EnWG 1935 in § 7 I eine Rechtsgrundlage für den Erlaß allgemeiner Vorschriften und Einzelanordnungen der allgemeinen Tarifpreise der EVU als energierechtliche Preisgestaltung vor. Diese wurden erstmalig mit der Preisstop-Verordnung von 1936 und mit der Tarifordnung für elektrische Energie von 1938 (TOElt) angewandt.353 Die Preisstop-VO wurde erst 1982 durch die 2. Preisfreigabeverordnung354 aufgehoben. Die TOElt 1938 galt im Nachkriegswestdeutschland bis zum Erlaß der Bundestarifordnung Elektrizität (BTOElt) 1974 weiter, deren letzte Fassung aus dem Jahr 1989 stammt.355 Nach § 12 BTOElt sind alle Tarife genehmigungspflichtig, wobei der genehmigte Preis ein Höchstpreis ist, den das EVU freiwillig senken kann. Will es anschließend den Tarif wieder anheben, bedarf es nach § 12 V BTOElt einer erneuten Genehmigung. Nach § 12 II BTOElt wurde eine Tarifgenehmigung durch die zuständigen Landesbehörden nur erteilt, soweit das Unternehmen nachweist, daß entsprechende Preise in Anbetracht 352 BGHZ 128, 17; zum Ganzen Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 18 f. 353 RGBl. I, 1936,S. 955 und RGBl. I, 1938, S. 915. Vgl. insgesamt Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich, Tz. 752 ff.; dies., Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Tz. 721 ff. 354 BGBl. 1982 I, 933, vgl. Ehmer, Das Tarifwesen der Elektrizitätswirtschaft, S. 28. 355 BGBl. 1989 I, 2255. Vgl. zum Ganzen Ehmer, Das Tarifwesen der Elektrizitätswirtschaft, der auch auf die Vereinbarkeit der BTOElt mit dem Grundgesetz eingeht. Vgl. dazu BVerfG, Beschluß v. 15. 11. 1973, ET 1974, S. 61.
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der gesamten Kosten- und Erlöslage bei elektrizitätswirtschaftlich rationeller Betriebsführung erforderlich sind. Nach der Ermessensvorschrift des § 16 BTOElt war auf Antrag auch eine Befreiung von der Genehmigungspflicht denkbar, wurde jedoch vor der Deregulierung nicht praktiziert. Durch diese Art der energierechtlichen Preisgestaltung wurde eine ex-ante-Aufsicht356 eingerichtet, die unabhängig von unternehmerischem Mißbrauch eingreift. Im Gegensatz dazu stehen die kartellrechtliche und zivilrechtliche Mißbrauchsaufsicht, die eine ex-post-Aufsicht darstellen. Die kartellrechtliche Preisaufsicht richtete sich nach § 103 V S. 2 Nr. 2 a.F. GWB, die als Preisniveauaufsicht von besonderer praktischer Bedeutung war. Dabei galt das Konzept des sog. Strukturvergleichs. Nach diesem Konzept lag ein Preismißbrauch vor, wenn ein EVU spürbar ungünstigere Preise oder Geschäftsbedingungen forderte als ein gleichartiges Versorgungsunternehmen, es sei denn das EVU wies nach, daß der Unterschied auf abweichenden Umständen beruhte, die ihm nicht zurechenbar waren.357 Schließlich bestand die Möglichkeit über die zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 134, 138, 826 sowie 315 I, III BGB unbillige Energiepreise in Energielieferungsverträgen für nichtig zu erklären und sie durch „billige“, d. h. angemessene Preise ersetzen zu lassen.358 Es ist offensichtlich, daß insbesondere durch die energierechtliche Preisgestaltung der Staat ausschlaggebenden Einfluß auf den Energiesektor hatte. Dieser wurde durch die behördlichen Preisniveauaufsichtsbefugnisse sowie die richterliche Kontrolle im Rahmen des Zivilrechts noch verstärkt.
bb) Anschluß- und Versorgungspflicht Eine wichtige gemeinwirtschaftliche Regelung zivilrechtlichen Charakters stellte die in § 6 I EnWG 1935 geregelte Anschluß- und Versorgungspflicht dar. Danach war ein EVU, das ein bestimmtes Gebiet versorgt, verpflichtet, zu den allgemein geltenden Bedingungen und Tarifen jedermann an sein Versorgungsnetz anzuschließen und zu versorgen. Ausnahmen bestanden bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit und bei Eigenanlagenbetreibern nach § 6 II, III EnWG 1935. Damit hatte jeder im Versorgungsgebiet das einklagbare Recht, an das Versorgungsnetz angeschlossen zu werden.
356 Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 14 spricht von antizipiertem Verbraucherschutz. 357 Vgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 16 f. 358 Zur Frage, wie sich aus den drei Arten der Preiskontrolle aus dem Energierecht, dem Kartellrecht und dem Zivilrecht konkrete Maßstäbe für richterliche Entscheidungen entwikkeln lassen vgl. Braband, Strompreise zwischen Privatautonomie und staatlicher Kontrolle.
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cc) Versorgungssicherheit durch Bevorratung und technische Regelungen Zum Zwecke der Sicherstellung der Versorgungssicherheit sah das EnWG 1935 verschiedene Regelungen vor. Unter Versorgungssicherheit wird die Kontinuität der Stromversorgung verstanden. Das umfaßt sowohl die Aufrechterhaltung der Netzspannung, Ausgleich von Verbrauchsschwankungen und Kraftwerksausfällen sowie die Gewährleistung technischer Sicherheit als auch die Sicherung der Primärenergieversorgung.359 Zu diesem Zwecke ermächtigte § 13 II EnWG 1935 dazu, Vorschriften und Anordnungen über die technische Beschaffenheit, die Betriebssicherheit, die Installation von Energieanlagen und von Energieverbrauchsgeräten sowie deren Überwachung zu erlassen. § 14 EnWG 1935 ermächtigte dazu, Verordnungen über eine Verpflichtung der EVU zu erlassen, diejenigen Mengen an Mineralöl, Steinkohle oder sonstigen fossilen Brennstoffen sowie Gas aus Flüssiggas vorrätig zu halten, die eine Weiterversorgung mit Elektrizität für 30 Tage gewährleisten.360 Diesem Zweck dienten auch das Energiesicherungsgesetz von 1975361, das Erdölbevorratungsgesetz von 1978 und das sog. Verstromungsgesetz von 1980.362
dd) Umweltschutz Da das EnWG 1935 zu einer Zeit erlassen wurde, in der man sich der umweltschädigenden Auswirkungen der Industrie im allgemeinen noch nicht bewußt war, enthält es keine Regelungen zum Umweltschutz. Dies hat insbesondere im Hinblick auf die Auslegung der zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe im Rahmen der Aufsichtsbefugnisse der Behörden starke Kritik ausgelöst, da diese sich insofern nur an den Zielen der Versorgungssicherheit und Preiswürdigkeit orientierten und den Umweltschutz, jedenfalls bis zum Erlaß des Art. 20a GG (Staatsziel Umweltschutz) außer Acht ließen. Nichtsdestotrotz finden sich umweltschützende Regelungen, die die Energiewirtschaft betreffen. So sind etwa die allgemeinen Regeln des Bundesimmissionsschutzgesetzes, des Baurechts, des Wasserrechts und des Atomrechts anwendbar. Speziell auf die Förderung erneuerbarer Energiequellen ausgerichtet war das 1990 erlassene Stromeinspeisungsgesetz, mit dem eine Reduzierung klimaschädigender Emissionen erreicht werden sollte. Dieses Gesetz war von Anfang an rechtlich umstritten, konnte jedoch weVgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 71. BGBl. I, 1965, S. 1217. 361 Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Erdöl, Erdölerzeugnissen oder Erdgas v. 20. 12. 1974, BGBl. I, 1974, S. 3681 ff. 362 Gesetz über die weitere Sicherung des Einsatzes von Gemeinschaftskohle in der Elektrizitätswirtschaft Nr. 1 – 4, vgl. dazu Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Das Recht der öffentlichen Energieversorgung, VB. S. 32 ff. 359 360
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der vor dem Bundesverfassungsgericht363 noch vor dem EuGH364 zu Fall gebracht werden. 4. Fazit: Keine Erfüllungsverantwortung des Staates vor der Deregulierung Es stellt sich nun die Frage, wie die dargestellten Aspekte der Stromwirtschaft, nämlich das Engagement der öffentlichen Hand, die Marktstruktur, und vor allem der Einfluß auf den Wirtschaftsablauf durch wettbewerbsersetzende und gemeinwirtschaftliche Regelungen, im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit zu bewerten ist. Will man die Frage beantworten, ob die gemeinhin vertretene These, daß sich durch die Privatisierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre ein allgemeiner Wechsel von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung vollzogen habe, am Stromsektor überprüfen, so ist zunächst festzustellen, ob in diesem Wirtschaftszweig vor der Deregulierung überhaupt eine Erfüllungsverantwortung bestanden hat. Zweifelsohne war dies in der Stromwirtschaft der DDR der Fall. Wie in anderen westeuropäischen Ländern, wurde hier die Energieversorgung nach dem Krieg verstaatlicht und damit der Staat selbst zum ausschließlichen Akteur der Energieversorgung. Insofern könnte man von einer Erfüllungsverantwortung im oben beschriebenen Sinne sprechen. Allerdings endete diese mit der Wende 1989, also bereits zehn Jahre vor der Deregulierung des Stromsektors aufgrund makrohistorischer Umstände, die nicht unbedingt jenem Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik zuzuschreiben sind, welcher dem bezeichneten Wechsel von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung zugrunde liegt. Bei der Bewertung des westdeutschen Stromsektors haben die Ausführungen gezeigt, daß es zwar einen staatlichen Einfluß gab, der sich insbesondere in wettbewerbsausschließender, rechtlicher Regulierung der Märkte und staatlicher Preisgestaltung zeigte, jedoch läßt sich von einer staatlichen Erfüllungsverantwortung im Sinne der ausschließlichen oder auch nur hauptsächlichen Wahrnehmung der Energieversorgung durch den Staat nicht reden. Selbst die staatlichen Beteiligungen an den Verbund- und Regionalversorgern führten, wie gezeigt wurde, nicht zu einem konzertierten planvollen staatlichen Tätigwerden im Bereich der Stromwirtschaft. Folglich ist festzuhalten, daß von einer staatlichen Erfüllungsverantwortung im Energiesektor vor der Deregulierung nicht problemlos gesprochen werden kann. Vielmehr erscheint das Engagement der öffentlichen Hand bereits vor der Deregulierung Formen der Gewährleistungsverantwortung ähnlich gewesen zu sein, in dem sowohl private als 363 Koch / Schütte, Zur Verfassungsmäßigkeit des Stromeinspeisungsgesetzes; Ossenbühl, Zur Verfassungswidrigkeit der Vergütungsregelung des Stromeinspeisungsgesetzes; Pohlmann, Der Streit um das Stromeinspeisungsgesetz vor dem Grundgesetz; Theobald, Verfassungsmäßigkeit des Stromeinspeisungsgesetzes. 364 Ruge, Urteilsanm. EuGH-PreussenElektra, S. 247 f.; ausführlich Ruge, Das Beihilfemerkmal der staatlichen Zurechenbarkeit in der Rechtsprechung des EuGH am Beispiel des Stromeinspeisungsgesetzes, S. 560 ff.
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auch öffentliche Akteure innerhalb eines staatlich gesetzten Rahmens tätig waren. „Der Staat“ als Steuerungszentrale trat also in der Elektrizitätswirtschaft anders als in den Bereichen Bahn, Post und Telekom nicht in Erscheinung. Damit ist die These von der vor der Deregulierung bestehenden staatlichen Erfüllungsverantwortung dahingehend einzuschränken, daß der staatliche Einfluß maßgeblich dadurch geschwächt war, daß unter „Staat“ voneinander weitgehend unabhängige Akteure wie Bund, Land und Gemeinden sowie gemischtwirtschaftliche Unternehmen zu verstehen waren. Neben dieser deutlichen Einschränkung bleibt als zweiter Punkt die Tatsache, daß bereits vor der Deregulierung private Unternehmen im Stromsektor tätig waren. Diese beiden Einschränkungen lassen die These von einer bestehenden Erfüllungsverantwortung des Staates im Stromsektor wenig plausibel erscheinen.
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung 1. Das politische Umfeld: Politik der Privatisierung und Deregulierung in Deutschland Nachdem zu Beginn dieses Kapitels überblicksartig auf die Eigentumsstrukturen der Wirtschaft allgemein und in der Stromwirtschaft im besonderen eingegangen wurde, sowie die Strukturen der Stromwirtschaft im Nachkriegsdeutschland erläutert wurden, soll nun auf die Deregulierung dieses Sektors eingegangen werden. Ein Vergleich der Strukturen vor und nach der Deregulierung ermöglicht dann anschließend eine Analyse dessen, was generell als Wechsel von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung bezeichnet wird. Zu beginnen ist freilich mit der Frage, wie es überhaupt dazu kam, daß sich hinsichtlich öffentlichen Eigentums und vom Wettbewerb abgeschotteter Märkte ein Paradigmenwechsel hin zum Privateigentum und zu mehr Wettbewerb vollzogen hat. Neben diesen Ursachen der Privatisierungsdiskussion in Deutschland (a) ist weiterhin von Interesse, welche Gründe und Ziele diese Politik hatte (b) und wie diese auf politischer Ebene befördert wurden (c).
a) Ursachen der Diskussion in Deutschland Die Erklärung von Paradigmenwechseln in der Wirtschaftspolitik ist Teil der Politikwissenschaften, der Wirtschaftspolitik oder auch der Rechtspolitik. Es gibt in diesem Bereich Versuche, Modelle zu entwickeln, mit deren Hilfe sich derartige schwerwiegende Veränderungen, wie etwa der Wechsel von öffentlichem zu privatem Eigentum, von stark regulierten Märkten zu deregulierten Märkten oder auch von keynesianistischer zu monetaristischer Wirtschaftspolitik rückblickend erklären lassen. Von diesen rückblickenden Erklärungsversuchen erhofft man sich, Vorhersagen für die Zukunft machen zu können. Die Diskussion um derartige Erklä-
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rungsversuche ist eine sehr breite und kann daher hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Dennoch erscheint es angebracht, ein Erklärungsmodell kurz vorzustellen, da es sehr anschaulich und wenig kompliziert ist. Es handelt sich hier um das „Dinosaurier-Modell“ von Christopher Hood.365 Er vergleicht die Erklärungsversuche der Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik mit Erklärungsversuchen für das Aussterben der Dinosaurier: Es gibt verschiedene Theorien, von denen jede für sich plausibel ist, teilweise sind die Theorien kombinierbar, teilweise erscheinen Zustände nur von einer Theorie erklärt zu werden. Im Bereich der Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik sieht Hood vier Erklärungsansätze366: Veränderung würden ausgelöst durch die Kraft neuer Ideen, durch den Druck neuer Interessen, die ihre jeweiligen Ziele zu verwirklichen suchen, durch gesellschaftlich-technischen Wandel, der sich auf die Wirtschaftspolitik auswirkt und schließlich durch die selbstzerstörerische Kraft, die Politiken und Institutionen inhärent sei. Diese vier Erklärungsansätze bieten einen guten Erklärungsrahmen dafür, warum in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre die Politik der Privatisierung und Deregulierung aufkam. Hinsichtlich der Kraft neuer Ideen läßt sich konstatieren, daß vor allem in den USA seit Mitte der 1970er Jahre Kritik an der bis dahin herrschenden keynesianischen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik geübt wurde. Die Wirtschaftswissenschaft stellte die Rechtfertigung des bestehenden interventionistischen Wohlfahrtsstaates mit ausgeprägten Bereichen staatlicher Tätigkeit in Frage und forderte gleichzeitig einen Abbau der Staatsaufgaben und eine Stärkung des Marktes und der Marktmechansimen. Das zuvor als zentrale Rechtfertigung für staatliche Regulierung angesehene Marktversagen wurde nun konfrontiert mit der Theorie des Staatsversagens, das den Sinn staatlicher Regelung des Marktes in Frage stellte.367 Diese neoliberalen Konzepte, die in den USA unter Ronald Reagan in die Politik umgesetzt wurden, begannen sich auch in Deutschland durchzusetzen.368 Der Druck zu Veränderung, der von neuen Interessenlagen geprägt wurde, als zweiter Erklärungsansatz kann mit dem wachsenden Welthandel und der Internationalisierung des Wettbewerbs erklärt werden. Die Zunahme des internationalen Wettbewerbs, die wachsende Möglichkeit und Bedeutung internationaler Verpflichtungen ließ Veränderungen bspw. der Wettbewerbsbedingungen in anderen Ländern auch in der Bundesrepublik stärker spürbar werden. Sie verstärkten die Notwendigkeit, der nationalen Wirtschaft das Agieren im internationalen Kontext zu ermöglichen, und wirkten sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ebenso aus wie auf die nationale Gesetzgebung.369 Die veränderten Bedingungen ließen natürlich die Wirtschaftsteilnehmer in Deutschland auch ihre 365 366 367 368 369
Hood, Explaining Economic Policy Reversals. Hood, Explaining Economic Policy Reversals, S. 3 ff. Vgl. zu Markt- und Staatsversagen oben B.III.2.a) und b). Vgl. Benz, Privatisierung und Deregulierung, S. 339 f. Benz, Privatisierung und Deregulierung, S. 340.
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Chancen auf ausländischen Märkten wahrnehmen und so eine große Interessengruppe zugunsten von mehr Wettbewerb entstehen. Veränderte gesellschaftlich-technische Bedingungen als dritter Erklärungsansatz lassen sich in einzelnen Wirtschaftsbereichen besonders anschaulich machen. So hat etwa die rasante technische Entwicklung im Bereich der Telekommunikation Wettbewerb erst ermöglicht. Telephonieren über Mobilfunk und Kabelnetze brachen alte Strukturen auf und führten hier zu einem enormen Wachstums- und Wettbewerbsschub, was wiederum zahlreiche Firmen in diesem Bereich auf neue Absatzmärkte in einem weltweit liberalisierten Markt hoffen ließ. Schließlich läßt sich bezüglich des vierten Ansatzes der selbstzerstörerischen Kraft wirtschaftspolitischer Systeme anführen, daß die Überschuldung der öffentlichen Haushalte und die -unterstellte- Ineffizienz öffentlicher Unternehmen erheblich zu einem Wechsel der Wirtschaftspolitik beigetragen haben. Die veränderte Einschätzung der Phänomene der Privatwirtschaft und des Wettbewerbs schlug sich in Deutschland in verschiedenen Zielvorstellungen nieder.
b) Ziele und Gründe der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik In der Debatte über die Privatisierungspolitik kristallisierten sich verschiedene Hauptargumente und Ziele heraus, die sich in die folgenden fünf Kategorien einteilen lassen: Finanzpolitische, betriebswirtschaftliche, wirtschaftspolitische, ordnungspolitische und sozialpolitische Argumente370. Mit der Privatisierung öffentlicher Unternehmen verfolgt man in finanzpolitischer Hinsicht zwei Ziele: Zum einen soll durch den Verkauf von Staatseigentum eine Einnahmequelle geschaffen werden, mit welcher sich die Staatsverschuldung zurückführen läßt und Steuersenkungen durchgesetzt sowie gegebenenfalls neue Staatsausgaben finanziert werden können. Insbesondere im Bereich der Infrastrukturindustrien erhofft man sich Einnahmequellen für die notwendige Modernisierung der Infrastruktur. Der zweite Aspekt ist das Ziel, parlamentarische Kontrolle über den Umfang der Staatsausgaben dadurch zurückzugewinnen, daß die Finanzierung der Staatsausgaben wieder auf die Einnahmen aus parlamentarisch kontrollierten Steuern beschränkt wird. Diese Ziele sind im Einzelnen heftig umstritten.371
370 Dabei sind zahlreiche Argumente bereits aus Privatisierungsdebatten in den 1920er Jahren bekannt, vgl. C. Böhret, Aktionen gegen die kalte Sozialisierung 1926 – 1930, in: W. Fischer (Hrsg.), Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 3, 1966. 371 Vgl. zu den finanzpolitischen Zielen und ihren Gegenargumenten Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 430 ff.; Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 83 ff.
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Als betriebswirtschaftliches Ziel der Privatisierung wird eine höhere Effizienz angestrebt, da argumentiert wird, daß private den öffentlichen Unternehmen diesbezüglich überlegen sind.372 Allerdings wird hiergegen eingewendet, daß es keine eindeutige durch empirische Studien nachgewiesene Überlegenheit öffentlicher Eigentumsstrukturen gibt und daß bei vorgenommenen Vergleichen oftmals fehlerhafte Vergleichsannahmen zugrundegelegt würden.373 Wirtschaftspolitsch wird gegen die öffentlichen Unternehmen ins Feld geführt, daß sie funktionslos seien und die Bürokratie unangemessen in die Wirtschaft hinein verlängerten. Neben der Beseitigung dieser Bürokratisierung der Wirtschaft ist es das wirtschaftspolitische Ziel der Privatisierung, – unterstellte – Vorzugsstellungen öffentlicher Unternehmen zu beseitigen. Dazu zählten steuerliche Erleichterungen, die Möglichkeit, von wettbewerblicher Aufsicht befreit zu werden, der Staat als Kontrollinstanz in eigener Sache und Verbindung hoheitlicher und wirtschaftlicher Macht zuungunsten des Verbrauchers. Dieser Kritik werden wirtschaftspolitische Argumente entgegengehalten. So wird auf die wettbewerbsfördernde Auswirkung zusätzlicher Wettbewerber, sowie die Möglichkeit der Monopol- und Oligopolkontrolle durch öffentliche Unternehmen hingewiesen.374 Als ordnungspolitisches Argument wird angeführt, daß öffentliche Unternehmen grundsätzlich systemfremd seien und mit einem freien Wettbewerb nicht vereinbar. In einer liberalen Marktwirtschaft seien es Privateigentum und privatwirtschaftliche, durch Markt und Wettbewerb gesteuerte und kontrollierte unternehmerische Tätigkeit, die am besten wirtschaftliche Freiheit, ökonomische Effizienz und Anpassung an sich verändernde Markverhältnisse gewährleisteten. Auch diesem Argument steht erhebliche Kritik entgegen. Zum einen wird auf die marktbelebende und gemeinwirtschaftliche Funktion von öffentlichen Unternehmen verwiesen, zum anderen auf die Unabhängigkeit der Eigentumsstruktur vom Funktionieren des Marktmechanismus.375 Schließlich wird als Ziel von Privatisierungen eine breitere Vermögensbildung genannt. Unter dem Stichwort der „Volksaktie“ sollen insbesondere vermeintlich sichere Aktien einem breiten Spektrum von Privatanlegern zugänglich gemacht werden und damit ein neues Anlagemittel und Mittel zur Alterssicherung etabliert werden.376
Vgl. dazu oben B.II.2. Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 427 ff.; Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 105 ff. 374 Vgl. zu den finanzpolitischen Zielen und ihrer Kritik Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 423 ff.; Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 117 ff. 375 Zum Ganzen Ambrosius, Privatisierungen in historischer Perspektive, S. 418 ff.; Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 93 ff.; zur Unabhängigkeit der Eigentumsstruktur von der Effizienz eines Unternehmens siehe oben B.II.2.d). 376 Vgl. Loesch, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, S. 125. 372 373
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Auch wenn in der politischen Debatte Privatisierung und Deregulierung häufig zusammen genannt wurden, so haben doch die Ausführungen zu den volkswirtschaftlichen Grundlagen gezeigt, daß es hier einen deutlichen Unterschied zu machen gilt. So unterschieden sich denn auch die Argumente zugunsten der Deregulierung von denen zugunsten der Privatisierung. Von der Deregulierung im Sinne des Abbaus unnötiger Regulierungen und Marktzutrittsschranken erhofft man sich eine Vermehrung lohnender, nutzenstiftender wirtschaftlicher Transaktionen, die Eröffnung kostengünstigerer Wege der Bereitstellung von Waren und Diensten, die Freisetzung von Kreativität und als Wert an sich, mehr Freiheit. Der entscheidende Schritt hierfür sei mehr Wettbewerb.377 Wettbewerb sichere wirtschaftliche Effizienz zum Vorteil der Verbraucher und sei Motor von Investitionen und Innovationen, mache staatliche Planungsbürokratien überflüssig, verhindere das Entstehen wirtschaftlicher Machtpositionen und sichere dadurch staatsbürgerliche Freiheiten.378
c) Politische Umsetzung der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungsideen Die dargestellten Ideen und Argumente wirkten sich unmittelbar auf den politischen Prozeß aus und schlugen sich in den politischen Programmen der Zeit nieder. So läßt sich die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik am besten anhand der beschlossenen politischen Programme und Dokumente der Regierung und von ihr beauftragter Kommissionen nachzeichnen.
aa) Programme und Dokumente Bereits 1975 schlug der Sachverständigenrat der sozial-liberalen Koalition Privatisierung als Mittel zum Abbau staatlicher Haushaltsdefizite vor.379 Die aus der sozial-liberalen Regierungskrise 1982 als Sieger hervorgegangene christlich-liberale Regierung Kohl, machte ihre Haltung zur Privatisierung bereits in ihrer Regierungserklärung vom 13. 10. 1982 deutlich, in der als Ziel der Regierung beschrieben wurde: „Den Staat auf seine ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zurückführen; zugleich aber dafür zu sorgen, daß er diese zuverlässig erfüllen kann.“380 Im darauf folgenden Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 377 378
Vgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 11, Tz. 37 f. Bundesregierung, Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BT-Drs. 12 / 5620,
S. 42. Vgl. Leaman, Regulatory Reform and Privatization in Germany, S. 15. Kohl, Für eine Politik der Erneuerung. Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag v. 13. 10. 1982, hrsg. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, Oktober 1982, S. 36. 379 380
14*
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von Februar 1983 wurde dieses Ziel noch deutlicher formuliert: „Die Staatstätigkeit auf ihre eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren, öffentliche Dienstleistungen möglichst auf Private zu übertragen, wo diese sie besser erfüllen können, und öffentliche Vermögen dort zu privatisieren, wo dies ohne Beeinträchtigung staatlicher Belange möglich ist.“381 Am 26. 10. 1983 beschloß das Bundeskabinett die vom Finanzminister vorgetragenen „Grundzüge der künftigen Beteiligungspolitik“, die in die erste Privatisierung der Regierung Kohl mündete (VEBA).382 Erst im November 1984 wurde ein inoffizieller Katalog von privatisierbaren Bundesunternehmen bzw. Unternehmen mit Bundesbeteiligung vorgelegt, der in veränderter Form im März 1985 von der Bundesregierung beschlossen wurde und Eingang in das „Gesamtkonzept für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes“383 fand. Dieses Gesamtkonzept benannte als drei Aufgabengebiete: die Entbürokratisierung durch Vereinfachung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen des Bundes, aber auch bei Ländern und Gemeinden, die Einschränkung staatlicher unternehmerischer Betätigung sowie der verstärkte Einsatz privaten Kapitals bei Betätigung der öffentlichen Hand. Diesem Regierungsdokument folgte in der nächsten Legislaturperiode das „Gesamtkonzept 1990 für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes“, in dem eine konsequente Fortsetzung der Privatisierungspolitik angekündigt wurde. Zu den im Gesamtkonzept von 1983 genannten Zielen kamen zwei neue: Zum einen wurde die Privatisierung des volkseigenen Vermögens der DDR durch die noch von der 1990 frei gewählten DDR-Volkskammer errichtete Treuhand als wirtschaftsgeschichtlich einmalige Aufgabe angestrebt.384 Zum anderen fand sich erstmals im Rahmen der Privatisierungspolitik ein Hinweis auf Deregulierung von Märkten zur Rückführung staatlicher Eingriffe.385 Schließlich enthielt der „Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland“386 politische Zielsetzungen der Stärkung des Wettbewerbs, der Entlastung der Wirtschaft und Verbraucher von Überregulierung sowie die Fortsetzung der Privatisierungen. Hier wurden weitere Privatisierungen angekündigt, insbesondere die der Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost im Rahmen der Postreform II. Im ein Jahr später erschienenen Fortschrittsbericht legte die Bundesregierung neben der Privatisierung den Schwerpunkt auf die Deregulierung und die Entbürokratisierung.387
Bulletin der Bundesregierung, Nr. 117 v. 2. 2. 1983, S. 124 f. Vgl. Tofaute, Der große Ausverkauf, S. 55. 383 Bulletin der Bundesregierung, 28. 3. 1985, Nr. 34 / S. 281 ff. 384 Ein ausdrücklicher Privatisierungsauftrag findet sich im Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens vom 17. 6. 1990 („Treuhandgesetz“), DDR GBl. I, 1990 (Nr. 33), S. 300 ff. 385 Bulletin der Bundesregierung, 5. 12. 1990, Nr. 141 / S. 1489 ff., insbes. S. 1490. 386 BT-Drs. 12 / 5620 v. 3. 9. 1993. 387 BT-Drs. 12 / 8090 v. 23. 6. 1994. 381 382
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Neben den Regierungsprogrammen, die sich überwiegend auf die Privatisierung konzentrierten, erschienen Gutachten verschiedener regierungsunabhängiger Gremien. So veröffentlichte die kurz nach dem christlich-liberalen Regierungsantritt eingesetzte „Unabhängige Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung des Bundes“ 1987 ihre Zwischenbilanz und 1994 ihren Bericht und Empfehlungen „Unnötiger Aufwand durch Vorschriften?“. Der Bericht enthielt zahlreiche konkrete Vorschläge gesetzlicher Regelungen. Dies entsprach den in verschiedenen Programmen der Regierung angeklungenen Forderung nach Entbürokratisierung. An die Arbeit dieser Kommission schloß sich seit 1994 die Tätigkeit der „Unabhängigen Expertenkommission zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren“ an. Auf die Einführung und Stärkung von Wettbewerb durch Deregulierung konzentrierten sich die Monopolkommission in verschiedenen Hauptgutachten388 sowie die „Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen, Deregulierungskommission“, die Untersuchungen zahlreicher verschiedener Wirtschaftsbereiche im Hinblick auf Entbürokratisierung und Deregulierung durchführte.389
bb) Praktische Umsetzung der politischen Programme Die Privatisierungsvorhaben wurden weitestgehend in die Praxis umgesetzt. Somit erwies sich diese Politik aus Sicht ihrer Vertreter als außerordentlich erfolgreich. Bei der Umsetzung lassen sich zwei Phasen unterscheiden.390 Von der ersten Regierungserklärung 1982 zum Gesamtkonzept für die Privatisierungsund Beteiligungspolitik des Bundes 1985 dauerte die Vorbereitung der Privatisierung. Mit Ausnahme des Verkaufs von VEBA-Anteilen 1984, der wohl eher Signalwirkung haben sollte, gab es in dieser Vorbereitungsphase keine Veräußerungen von Bundesbeteiligungen. Der eigentliche Privatisierungsprozeß mit Veräußerung von Anteilen begann 1986. Zu den bekanntesten in den 1980er Jahren privatisierten Unternehmen gehörten VIAG, Volkswagen, Lufthansa, Salzgitter. In den 1990er Jahren wurde der Privatisierungskurs fortgesetzt. Die wohl spektakulärsten Anteilsveräußerungen waren die bei der Deutschen Telekom und der Deutschen Post.391 Ins Zentrum rückte ab 1990 die von der Treuhand durchgeführte Privatisierung der ca. 8000 „volkseigenen Betriebe“ und „volkseigenen Kombinate“ der DDR, die über 90% der unternehmerischen Tätigkeit in der DDR 388 Monopolkommission, Mehr Wettbewerb ist möglich; Wettbewerbspolitik vor neuen Herausforderungen, HG VIII, 1988 / 89; Wettbewerbspolitk oder Industriepolitik, HG IX, 1990 / 91; Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, HG X, 1992 / 93; Wettbewerb in Zeiten des Umbruchs, HG XI, 1994 / 95; Marktöffnung umfassend verwirklichen, HG XII, 1996 / 97. 389 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb. 390 Vgl. Knauss, Privatisierung in der B.R.D., S. 27 ff.; Tofaute, Der große Ausverkauf, S. 71 ff. 391 Vgl. Tofaute, Der große Ausverkauf, S. 99 ff. Vgl. zu den Bundesbeteiligungen die jährlich erscheinenden Beteiligungsberichte des Bundes.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
ausmachten. Diese waren bis 1994 soweit durchgeführt, daß die Treuhandanstalt aufgelöst und die verbliebenen Privatisierungsaufgaben auf Nachfolgeorganisationen übertragen werden konnten.392 Aber nicht nur der Bund setzte die Privatisierungspolitik um. Da es natürlich auch auf Landesebene zahlreiche Landesbeteiligungen an Unternehmen gab und gibt, ebenso Kommunen Eigentümer von Unternehmen sind, und der Bund auf diese Strukturen nur begrenzt Einfluß nehmen kann, hängen hier Privatisierungsmaßnahmen stark vom politischen Willen der Landes- und Kommunalregierungen ab.393 Auf Landesebene bestehen Beteiligungen traditionell an regionalen Kreditinstituten (Landesbanken), Wohnungswirtschaft, Versorgungsunternehmen (Strom, Gas), Verkehrsunternehmen, Lottogesellschaften, aber auch Industrieunternehmen (VW in Niedersachsen, Flughafen AG in Hessen). Hier sind Privatisierungen nur zögerlich vollzogen worden, was daran liegt, daß die Bundesländer ihre Beteiligungen häufig als Möglichkeit stärkerer Einflußnahme auf Beschäftigung und Investitionen sehen, also als Mittel der Strukturpolitik. Auf kommunaler Ebene bestehen öffentliche Unternehmen vor allem in den Bereichen der Versorgung mit Gas, Strom, Wasser, Wohnungsbau, Verkehr und Sparkassen, weniger aber der Industrie. Hier lassen sich zwar regelmäßig formelle Privatisierungen wahrnehmen, weniger jedoch materielle Privatisierungen dieser versorgungswirtschaftlichen Betriebe. Dennoch besteht eine Tendenz, Dienstleistungen wie Gebäudereinigung, Müllentsorgung stärker unter Einbeziehung Privater zu betreiben.394 Neben der Umsetzung der Privatisierungsprogramme wurde auch die sog. Entbürokratisierung oder Verfahrensvereinfachung vorangetrieben. Auf Vorschläge der beiden oben genannten Kommissionen hin, wurden zahlreiche Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzt oder vereinfacht. Die ersten beiden wichtigen Gesetzesprojekte waren die Änderungen des Gentechnikgesetzes 1993 und des Chemikaliengesetzes 1994.395 Für die neuen Länder von Bedeutung war das 1993 erlassene Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, dessen nur für Ostdeutschland geltendes Rechtsmitelbeschränkungsgesetz inzwischen teilweise aufgehoben wurde.396 392 Vgl. Czada, Vom Plan zum Markt, S. 307 ff.; Fahrenbach, Das Privatisierungsverfahren nach dem Treuhandgesetz, S. 268 ff.; Knauss, Privatisierung in der B.R.D., S. 59 ff.; Fortschrittsbericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BT-Drs. 12 / 8090, S. 13 f. 393 Vgl. Knauss, Privatisierung in der B.R.D., S. 52 ff.; siehe auch die Beteiligungsberichte der Länderfinanzminister. 394 Huber, Entsorgung als Staatsaufgabe und Betreiberpflicht. 395 Vgl. Fortschrittsbericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BT-Drs. 12 / 8090, S. 12. 396 Gesetz zur Beschränkung von Rechtsmitteln in der Verwaltungsgerichtsbarkeit v. 22. 4. 1993, BGBl. I, 1993, S. 466, geändert durch Gesetz v. 1. 11. 1996, BGBl. I, 1996, S. 1626; vgl. weiter Fortschrittsbericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BT-Drs. 12 / 8090, S. 12.
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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Im Rahmen der Marktöffnung oder Zugangserleichterung zum Markt durch Deregulierung wurden ebenfalls zahlreiche Vorhaben umgesetzt. Beispielhaft seien hier die 1994 erfolgte Deregulierung des – inzwischen aufgehobenen – Rabattgesetzes und die Änderung der Handwerksordnung 1994, sowie das Umwandlungsgesetz von 1994 genannt. Weitere spektakuläre Deregulierungen erfolgten 1997 durch das Postgesetz, 1996 durch das Telekommunikationsgesetz, 1993 durch das Allgemeine Eisenbahngesetz sowie 1998 durch die Streichung von Ausnahmetatbeständen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen für Strom und Gas (§§ 103, 103a GWB) durch das neue Energiewirtschaftsgesetz.
2. Die Deregulierungspolitik im Stromsektor Die Stromwirtschaft war bis zur Restrukturierung durch die Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes 1998 wie oben dargelegt ein aus Gebietsmonopolen zusammengesetztes System, in dem kein Wettbewerb in den Bereichen Erzeugung, Übertragung und Verteilung von Strom herrschte. Kritik an diesen alten Strukturen wurde immer wieder laut. Der großangelegte sog. Obernolte-Entwurf der Bundesregierung aus dem Jahr 1973 wurde nicht umgesetzt.397 Großes politisches Gewicht erhielten diese Stimmen im Rahmen der zuvor dargestellten allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungsdebatte der 1980er Jahre. Der Bericht der Deregulierungskommission von 1990 enthielt ein Kapitel über die Stromwirtschaft, in dem die oben dargestellten Gründe für eine Regulierung des Marktes unter Ausschluß von Wettbewerb in Frage gestellt wurde.398 Dieser Kritik schloß sich auch die Monopolkommission in verschiedenen Gutachten an399 sowie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung400 an. Neben dem Bestreiten des generellen Vorliegens natürlicher Monopole für den gesamten Strombereich, zu hoher Fixkosten und versunkener Kosten als Marktein- und austrittsbarrieren aufgrund der Leitungsgebundenheit und Nichtspeicherbarkeit von Strom, wurde insbesondere an der staatlichen Einflußnahme auf die Preisgestaltung Kritik geübt. Hier richtete sich das Augenmerk vornehmlich gegen zu hohe Strompreise und eine Verzerrung der Preisstruktur401, aber auch gegen Defizite im Bereich des Umweltschutzes und der Ressourcenschonung sowie der Energieaufsicht.402 Entsprechend der Kritik am Ausschluß des Wettbewerbs im Stromsektor 397 Vgl. Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Das Recht der öffentlichen Energieversorgung, Einl EnWG I, S. 16 ff. 398 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 66 ff., insbes. 69 ff. 399 Monopolkommission, Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Tz. 730 ff.; dies., Wettbewerbspolitik in Zeiten des Umbruchs, Tz. 115. 400 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1993 / 94, BT-Drs. 12 / 6170, Tz. 399 ff. 401 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 73 ff. 402 Hoffmann-Riem / Schneider, Wettbewerbs- und umweltorientierte Re-Regulierung im Großhandels-Strommarkt, S. 23 ff.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
unterbreitete die Deregulierungskommission verschiedene Vorschläge zur Deregulierung des Marktes.403 Dazu zählten das Aufbrechen der geschlossenen Versorgungsgebiete durch das Verbot der Demarkations-, Verbund- und Konzessionsverträge mittels Aufhebung der Ausnahmevorschrift des § 103 GWB, die Verpflichtung der Netzbetreiber zur Durchleitung von Strom insbesondere durch die organisatorische Trennung von Stromerzeugung und Stromtransport mittels Übernahme der Übertragungstätigkeit durch eine unabhängige staatliche oder staatlich kontrollierte private Betriebsgesellschaft, die Ausschreibung zeitlich begrenzter Lizenzen zur Stromversorgung von Tarifkunden durch ein einziges Unternehmen und schließlich die Überprüfung der Quersubventionierungen durch die Kommunen. Neben den genannten regierungsunabhängigen Kommissionen und Expertengremien wurde die Diskussion bald auch durch die Bundesregierung, die politischen Parteien und beteiligte Verbände öffentlich geführt. Bereits 1991 hatte sich die christlich / liberale Bundesregierung in ihrem Energiepolitischen Gesamtkonzept404 für mehr Deregulierung und Wettbewerb ausgesprochen. Dies stand im Gegensatz zu den SPD-Vorstellungen, welche die Bundestagsfraktion 1989 in dem Entwurf eines „Energiegesetzes“ dem Bundestag vorlegte. Zentrales Anliegen war die gleichberechtigte Aufnahme des Umweltschutzes als Ziel des Energierechts, die ausdrückliche Betrauung der Gemeinden mit der Energieversorgung im Rahmen ihrer Daseinsvorsorge und schließlich die Einführung einer gesetzlichen Genehmigungspflicht der Strom-, Gas- und Fernwärmepreise zur Vermeidung von Preismißbrauch durch die bestehenden geschlossenen Versorgungsgebiete.405 Die Einführung von Wettbewerb durch Deregulierung sah der Entwurf von 1989 jedoch noch nicht vor. Dies änderte sich allerdings im Gesetzesentwurf der SPDFraktion im Bundestag406. Darin strebte die SPD die Einführung von Wettbewerb im Stromsektor an. Der Entwurf sah die Einführung einer Durchleitungsverpflichtung vor, die in Form eines Zugangsrechts der Nutzer zu bestimmten Bedingungen ausdrücklich im Gesetz geregelt wurde, sog. Durchleitungstatbestand. In Anlehnung an ihren früheren Entwurf trat die SPD für eine Kommunalisierung der Energiewirtschaft ein, indem sie den Gemeinden mit der Erfüllung der öffentlichen Aufgabe Energieversorgung betrauen wollte. Diese sollten dann ein Wahlrecht haben, ob sie selbst tätig werden oder die Aufgabe an Dritte delegieren wollten. Dabei bestand eine Möglichkeit darin, einen einzigen Lieferanten zum Alleinabnehmer im Sinne des Art. 18 Strombinnenmarkt-RL zu machen.407 Neben diesen wettbewerbsfördernden Regelungen enthielt der Vorschlag sehr weitgehende gemeinwirtschaftliche Regeln, insbesondere Vorrangeinspeisung von Strom aus regeDeregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, S. 84 ff. BT-Drs. 12 / 1799. 405 Vgl. Gesetzesentwurf BT-Drs. 11 / 7322; Sohn / Henzel, Aktuelle Fragen des Energierechts, S. 448. 406 BT-Drs. 13 / 7425, Begründung S. 17 f., 4c. 407 Dies stimmte mit den Vorschlägen des Verbandes Kommunaler Unternehmen (VKU) überein. VKU, Nachrichten und Notizen Nr. 12, 4. 11. 1996. 403 404
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nerativen Energien und Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen sowie eine Bezugspflicht für die Verstromung ostdeutscher Braunkohle. Außerdem enthielt der Entwurf die Möglichkeit, ausländischen Stromunternehmen den Absatz in Deutschland zu verbieten, wenn deutsche Unternehmen auf deren Heimatmärkten nicht tätig werden können, sog. Reziprozitäts- oder Ungleichgewichtsklausel. Auch der Entwurf der Grünen-Fraktion im Bundestag408 sah die Einführung von Wettbewerb mit einer ausdrücklichen Durchleitungsverpflichtung vor. Ebenso wie der SPD-Entwurf waren bei dem Grünen-Entwurf die Gemeinden Träger der Energieversorgung. Auch im Hinblick auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen zugunsten umweltschonender Energiequellen gab es nur unerhebliche Unterschiede. Ein erheblicher Unterschied bestand allerdings in dem Vorschlag nach englischwalisischem Vorbild einen Pool für den Großhandel mit Strom einzuführen.409 Dieser sollte als Bundesanstalt des öffentlichen Rechts das ausschließliche Anund Verkaufsrecht für Strom erhalten. Wettbewerb sollte auf die Erzeugerseite beschränkt und die Netze als natürliche Monopole außerhalb des Wettbewerbs bleiben. Durch eine strikte Entflechtung der drei Bereiche Erzeugung, Übertragung und Verteilung ging der Entwurf wesentlich weiter als der Vorschlag der SPD. Der Entwurf der christlich-liberalen Bundesregierung410 war entsprechend ihrer allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik seit Beginn der 1980er Jahre ebenfalls auf die Einführung des Wettbewerbs gerichtet. Dabei unterschied er sich in wichtigen Punkten erheblich von den Vorschlägen der Oppositionsparteien. Die Bundesregierung hatte sich ebenfalls für ein Durchleitungsmodell entschieden. Allerdings wollte sie im Gegensatz zur Opposition auf die Einführung eines Durchleitungstatbestands verzichten und damit die Aushandlung der Durchleitungsbedingungen vollkommen den Beteiligten überlassen. Weiteres Mittel zur Förderung des Wettbewerbs war die Zulassung des Baus von Parallelleitungen. Eine Betrauung der Gemeinden mit der Aufgabe der Energieversorgung wurde durch den Gesetzesentwurf nicht vorgenommen. Im Hinblick auf die gemeinwirtschaftlichen Regelungen von SPD und Grünen bestand ebenfalls ein fundamentaler Unterschied. Vorrangige Einspeisung von KWK-Strom oder regenerativen Energien sowie von Braunkohle aus Ostdeutschland wurden nicht eingeführt bzw. wurden gemäß dem Stromeinspeisungsgesetz von 1990 unverändert gelassen. Der Entwurf enthielt auch keine Ungleichgewichtsklausel zugunsten deutscher Stromunternehmen. Allerdings wurde der Regierungsentwurf nochmals erheblich verändert und erst 1998 verabschiedet. In der endgültigen Fassung wurden doch noch ein BT-Drs. 13 / 5352 v. 25. 7. 1996. Vgl. dazu Bohne, Eine Strombörse mit Umweltinstrumenten für eine preis- und umweltgerechte Stromversorgung; Köster, Wettbewerbsorientierte Stromversorgung im PoolSystem; Koch, Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz als Grenze der Deregulierung und der umweltpolitischen Steuerung im Bereich der Elektrizitätswirtschaft?; Lewington / Weisheimer, Lehren aus der britischen Elektrizitätswirtschaftsreform. 410 Der erste Regierungs-Entwurf v. 16. 9. 1996. BR-Drs. 806 / 96, ist entgegen der Stellungnahme des Bundesrates v. 19. 12. 1996, BT-Drs. 13 / 7274 kaum verändert worden. 408 409
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ausdrücklicher Durchleitungstatbestand sowie eine Reziprozitätsklausel (in Art. 4 § 2 Neuregelungsgesetz 1998) aufgenommen.411 Einfluß auf die Reformdebatte in Deutschland hatte auch die Deregulierungspolitik der EU im Bereich der Energiewirtschaft, die ihren Anfang in dem von der Kommission 1988 verabschiedeten Dokument über den Energiebinnenmarkt nahm.412 Allerdings wäre es falsch davon zu sprechen, daß die Deregulierung in Deutschland durch das EU-Recht ausgelöst wurde. Vielmehr wirkte es verstärkend und befruchtend auf die nationale Debatte ein.413
3. Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektors: Gewährleistungsverantwortung in normativer Hinsicht Im Rahmen der rechtsdogmatischen Grundlagen war hinsichtlich der Gewährleistungsverantwortung zwischen einer normativen und einer heuristischen Bedeutungsebene des Begriffs unterschieden worden. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit für die Deregulierung des Strommarktes in normativer Hinsicht rechtliche Grenzen bestehen, d. h. in welchem Umfang hier von staatlicher Gewährleistungsverantwortung im normativen Sinne gesprochen werden kann. Von dieser normativen Frage nach den Pflichten oder einer in diesem Sinne normativ verstandenen Verantwortung des Staates ist die Frage nach der Berechtigung des Staates zur wirtschaftlichen Tätigkeit zu unterscheiden.
a) Berechtigung des Staates Es wird verschiedentlich argumentiert, der Staat habe keine Berechtigung, sich wirtschaftlich zu betätigen und demzufolge auch nicht das Recht, im Bereich des Energiesektors tätig zu werden.414 Dies ergebe sich aus verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten. Dazu zählten verschiedene Regelungen in Landesverfassungen und im Einigungsvertrag, die die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung 411 Vgl. zu diesen späten Änderungen Cronenberg, Das neue Energiewirtschaftsrecht, S. 85 ff.; Kühne / Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsrecht, S. 1905. 412 Vgl. dazu unten F.IV.1.b). 413 Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 412 spricht von einer „erodierenden Wirkung“ bzgl. der geschlossenen Versorgungsgebiete. 414 Vgl. zum Ganzen Berg, Die wirtschaftliche Betätigung des Staates als Verfassungsproblem; Ehlers, Die Zulässigkeit einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand; Häberle, „Wirtschaft“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen; Krölls, Grundrechtliche Schranken der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand; Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft; Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung.
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festschrieben. Daneben könne den Grundrechten ein Abwehranspruch der Privatwirtschaft gegen öffentliche Tätigkeit entnommen (Fiskalabwehranspruch) werden, aus verschiedenen Verfassungsvorschriften könne ein generelles Subsidiaritätsprinzip mit Verfassungsrang zugunsten der Privatwirtschaft abgeleitet werden, das Prinzip des Steuer- und Abgabenstaates solle staatliche Einnahmen auf Steuereinnahmen beschränken und verbiete somit Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit des Staates, das Republikprinzip gebiete staatliche Enthaltsamkeit zugunsten bürgerlicher Freiheitsrechte, das Demokratieprinzip mache wirtschaftliche Betätigung des Staates aufgrund des Legitimationsaufwandes unwirtschaftlich und verstoße damit gegen das Wirtschaftlichkeitsprinzip. All diese Argumente sind beachtliche Einwände gegen wirtschaftliches Tätigwerden und doch überzeugen sie nicht. Gegen das Argument der Wirtschaftsordnung, lassen sich aus der Verfassung Vorschriften nennen, die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates ermöglichen bzw. sogar vorschreiben. So gestattet etwa Art. 15 GG Vergesellschaftlichungen privater Unternehmen und Art. 87e,f GG wirtschaftliche Betätigung des Staates in den Bereichen Post, Telekommunikation und Eisenbahn. Auch das Bundesverfassungsgericht interpretiert das Grundgesetz in ständiger Rechtsprechung als wirtschaftspolitisch neutral und die vorherrschende Wirtschaftsordnung als eine mögliche, aber nicht die alleinige Wirtschaftsordnung.415 Den Grundrechten, insbesondere Art. 12 GG, kann man zwar eine konkurrenzfördernde Funktion nicht absprechen, dies beinhaltet jedoch nicht den Schutz vor Konkurrenz, auch nicht vor Konkurrenz durch öffentliche Unternehmen.416 Ein Verbot staatlicher Wirtschaftstätigkeit aus einem Subsidiaritätsprinzip abzuleiten erweist sich mangels ausdrücklicher Regelung im Grundgesetz als schwierig. Insbesondere überzeugt der Rückgriff auf einfachgesetzliches Haushaltsrecht (§ 65 BHO) wenig. Ebenso ist dem Prinzip des Steuerund Abgabenstaates entgegenzuhalten, daß sich aus der Verfassung nicht ergibt, daß der Staat auf diese einzige Einnahmequelle beschränkt werden müsse. Historisch existierten immer schon andere Einnahmequellen und der Begriff des „Abgabenstaates“ ist wohl in erster Linie eine deskriptive, sozialwissenschaftliche Kategorie, so daß er derartige Rechtsfolgen gar nicht zeitigen könnte. Schließlich setzt auch das EU-Recht in Art. 31 und 86 EG die Existenz öffentlicher Unternehmen voraus und verbietet mit Art. 295 EG Privatisierungsbemühungen auf EU-Ebene, so daß auch das EU-Recht nicht als Argument gegen staatliche Wirtschaftsbetätigung herangezogen werden kann. b) Verpflichtung des Staates: Staatliche Gewährleistungsverantwortung Dieser kurze Überblick hat verdeutlicht, daß keine rechtlichen Vorgaben bestehen, die eine wirtschaftliche Betätigung des Staates prinzipiell verbieten. Wäh415 BVerfGE 4, 7 (17 f.); 50, 290 (337 f.); in diesem Sinne auch 14, 263 (275); 21, 73 (78); 30, 292 (317). 416 Vgl. BVerfGE 34, 252 (256); 55, 261 (269); BVerwGE 39, 329 (336 f.).
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rend diese Fragestellung aktuell wird, wenn der Staat wirtschaftliche Betätigung aufnimmt, etwa durch Verstaatlichung oder einfach nur durch Erschließung neuer Betätigungsfelder, betrifft der zweite normative, hier vor allem interessierende Aspekt die staatliche Verpflichtung in der Situation eines staatlichen Rückzuges, z. B. durch Privatisierung. Dabei stellt sich die Frage nach bestimmten Pflichten des Staates, nach einer Verantwortung zur Gewährleistung bestimmter Zustände während oder trotz eines staatlichen Rückzuges. Diese Frage, grundsätzlich gestellt, lautet konkret auf die Energieversorgung bezogen: Trifft den Staat in normativer Hinsicht eine Gewährleistungsverantwortung zur Sicherstellung einer preiswerten, sicheren und umweltschonenden Stromversorgung („Ob“)? Wenn diese Pflicht prinzipiell besteht, läßt sie sich hinsichtlich einzelner Aspekte der Stromversorgung konkretisieren („Wie“)? Wie bereits oben festgestellt, lassen sich derartige normative Vorgaben für staatliches Handeln allein dem positiven Recht, hier der deutschen Verfassung oder auch dem EU-Recht entnehmen. Eine Ableitung aus vorverfassungsrechtlichen, übergeordneten oder originären Zwecken des Staates kommt nicht in Betracht.417 Insofern ist zu untersuchen, ob das deutsche Verfassungsrecht oder das EURecht Vorgaben für eine staatliche Gewährleistungsverantwortung zur Energieversorgung enthalten. In Betracht kommen als verfasssungsrechtliche Normen die Staatszielbestimmungen des Sozialstaats (Art. 20 GG) und des Umweltstaates (Art. 20a GG), die Menschenwürde (Art. 1 GG), die Grundrechte in ihren Funktionen als Teilhabe- und Leistungsrechte sowie als objektive Werteordnung, die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, die Verantwortung des Bundes für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sowie die Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft. Europarechtliche Vorgaben können sich hinsichtlich des Stroms ausschließlich aus dem Sekundärrecht ergeben, da es im primärrechtlichen EGVertrag keinen Titel für Energie gibt und der EGKS-Vertrag und der Euratom-Vertrag nur auf die Primärenergiequellen Kohle und Kernenergie bezogen sind. Als Sekundärrecht kommen die Erdölbevorratungs-RL, die Transit-RL, die Preistransparenz-RL und die Strombinnenmarkt-RL in Betracht.
aa) Staatszielbestimmung des Art. 20 I GG: Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip ist entstanden aus dem Geist der liberalen preußischen Reformgesetzgebung am Anfang des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die „soziale Frage“ des beginnenden Industriezeitalters. Seine theoretische Entwicklung geht maßgeblich auf Lorenz von Stein mit seiner 1850 erschienen „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich“ zurück.418 Die Aufnahme des Sozialstaatsprinzips in das Grundgesetz bedeutete nicht die Festlegung auf ein konkretes Sozialprogramm, 417 418
Vgl. oben E.I.6.e). Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht, S. 14 ff.; Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 1 – 5.
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sondern die Formulierung eines gemeinsamen Nenners der Sozialbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, nämlich die staatliche Verantwortung für den Schutz der sozial Schwachen und damit das Verbot eindeutig unsozialer Politik.419 Dabei enthält das Sozialstaatsprinzip starken Bezug zu den Freiheitsrechten. Die sog. sozialstaatliche Freiheit beruht auf staatlichen Pflichten zur Herstellung realer Freiheit, die der „soziale“ Staat des Grundgesetzes allein deshalb zu erfüllen hat, weil er die entsprechenden Freiheitsgrundrechte in seiner Verfassung garantiert.420 Es gibt mannigfache Politikbereiche, in denen es um die Herstellung sozialstaatlicher Freiheit in Bezug auf Art. 14 I, 13 I, 12 I, 7 I, 6 I, 5 III und 2 II GG geht; auf der Grundlage des Art. 2 I GG besteht die Politik der traditionellen Daseinsvorsorge und der modernen Infrastruktur.421 Aus dieser engen Beziehung zu den Freiheitsrechten ergibt sich eine Definition des Sozialstaatsprinzips, die diesen Aspekt trefflich zum Ausdruck bringt: Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, die allgemeinen Voraussetzungen zum Gebrauch der Freiheitsgrundrechte zu gewährleisten.422 Betrachtet man nun die Energieversorgung vor dem Hintergrund dieser Definition, so wird rasch deutlich, daß den Staat eine Verantwortung zur Gewährleistung einer funktionierenden Stromversorgung treffen muß. Alle Bereiche des menschlichen Lebens sind heute derart eng mit dem Verbrauch von Strom verbunden, daß dieser aus der heutigen Gesellschaft schlicht nicht mehr wegzudenken ist. Verkehr, Freizeit, Arbeit, Wirtschaft kommen ohne Strom nicht mehr aus. Der Zusammenbruch der Stromversorgung kann ganze Regionen wirtschaftlich ruinieren. Daß dieses Szenario kein bloßes Schattentheater ist, hat sich an den Zusammenbrüchen der Stromversorgung in Neuseeland und in Kalifornien gezeigt.423 In der Literatur und von der Rechtsprechung wird diese staatliche Verantwortung einhellig anerkannt. So formuliert etwa Wesener „Nach dem Sozialstaatsprinzip tragen der Staat und die Kommunen gemeinsam die (umfassende) Verantwortung für das Funktionieren einer sicheren Versorgung des Bürgers mit Energie.424 Das Bundesverfassungsgericht urteilte, daß die Energieversorgung eine Leistung sei, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedürfe.425 Damit ist die Frage nach dem „Ob“ einer Gewährleistungsverantwortung positiv Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 16 und 35. Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 19. 421 Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 29. 422 Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 20. 423 Neuseeland: Observer, 8. 3. 1998: „Darkness at the heart of privatisation“, „Last one out, please turn the lights back on“; Kalifornien: FAZ, 29. 12. 2000: „Auf dem kalifornischen Strommarkt herrscht das Chaos“; Handelsblatt, 16. 1. 2001: „Kalifornien sucht nach einem Ausweg aus seiner Energiekrise“; 19. / 20. 1. 2001: „Kaliforniens Gouverneur ruft den Energie-Notstand aus“; 22. 1. 2001: „Liberalisierung der US-Strommärkte am Ende“, „Kalifornische Lehre für die Europäer“; 23. 1. 2001: „Politischer Kurzschluß“, „Jetzt soll der Staat Strom kaufen und verteilen“; 24. 1. 2001: „Europa ist nicht Kalifornien“; Wirtschaftswoche, 25. 1. 2001: „Schlampiges Design“. 424 Wesener, Energieversorgung, S. 134. 425 BVerfGE 66, 248 (258). 419 420
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beantwortet, jedoch noch nicht im Hinblick auf das „Wie“. Eine prinzipielle Pflicht des Staates zum selbständigen Tätigwerden läßt sich nicht aus der Verfassung ableiten. Möglicherweise ergibt sich aber aus dem Sozialstaatsprinzip eine Verpflichtung, für konkrete Bedingungen der Stromversorgung wie etwa das Vorhandensein von Erzeugungsanlagen, Übertragungs- und Verteilungsnetzen, billigen Strompreisen, Anschluß aller an das Stromnetz etc. zu sorgen. Insofern ist das Sozialstaatsprinzip hinsichtlich seiner rechtlichen Bindungswirkung zu untersuchen. Die Einstufung des Sozialstaatsprinzips als Staatszielbestimmung führt, wie oben dargelegt426, dazu, daß sich aus dem Sozialstaatsprinzip keine subjektiven Rechte herleiten lassen. Zwar hat es unmittelbare rechtliche Geltung und bindet alle öffentliche Gewalt, insbesondere den Gesetzgeber. Hierbei steht dem Gesetzgeber jedoch im Rahmen dieses Gestaltungsauftrages ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Diesem Spielraum sind nur insoweit Grenzen gesetzt, als die ergriffenen Maßnahmen nicht offensichtlich unwirksam sein dürfen und der Gesetzgeber angemessene Abwägungen aller wichtigen Gesichtspunkte vornehmen muß.427 Damit wird deutlich, daß der einzelne aus dem Sozialstaatsprinzip keinen Anspruch etwa auf preiswerte Stromversorgung oder auf Anschluß an das bestehende Energieversorgungsnetz herleiten kann. Andererseits besteht jedoch eine objektivrechtliche Pflicht des Staates, die Existenz und Funktion der Energieversorgung sicherzustellen, sog. Versorgungssicherheit. Hierzu gehören selbstverständlich die Gewährleistung der Existenz funktionierender Kraftwerke und Leitungen im gesamten Bundesgebiet. Da keine Pflicht zum selbständigen Bau dieser Anlagen besteht, muß der Staat zumindest durch rechtliche Vorgaben sicherstellen, daß Private diese Tätigkeiten vornehmen. Insofern trifft den Staat auch die Pflicht zur Überwachung der bestehenden Stromversorgung. Aus der Pflicht zu Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte ergibt sich auch die Pflicht des Staates, die bestehende Stromversorgung im Hinblick auf potenzielle Stromzusammenbrüche zu untersuchen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um derartigen Ereignissen vorzubeugen. Dies kann etwa in der Verpflichtung zur Haltung von Strom- und Energiereserven geschehen. Weiterhin läßt sich aus dem Freiheitsbezug des Sozialstaatsprinzips schlußfolgern, daß der Staat hinsichtlich der Preisgestaltung die Verpflichtung hat, darauf zu achten, daß zu hohe Preise für den Verbrauch von Strom nicht dazu führen, daß bestimmte Verbrauchergruppen sich den Anschluß an das Stromnetz nicht mehr leisten können und insofern am effektiven Gebrauch ihrer Freiheitsrechte gehindert werden. In ähnlicher Weise dürfte sich eine Verpflichtung des Staates herleiten lassen, dafür Sorge zu tragen, daß Verbraucher nicht vorschnell vom Netz getrennt werden, etwa im Falle des Zahlungsverzuges von Rechnungen. Natürlich hat auch hier der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, insbesondere muß er die Grundfreiheiten der Versorgungsunternehmer in Rechnung stellen. AufVgl. oben E.I.3.c). Gröschner, Art. 20 I (Sozialstaat), Rn. 31. Vgl. dazu die Rechtsprechung des BVerfG E.I.3.c). 426 427
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grund der Wichtigkeit der Stromversorgung dürften jedoch bestimmte Vorkehrungen notwendig sein, die die normalen zivilrechtlichen Folgen des Zahlungsverzuges im Bereich der Stromlieferung abmildern. Damit ist deutlich geworden, daß in normativer Hinsicht den Staat eine Gewährleistungsverantwortung zur Stromversorgung trifft. Diese besagt, daß er zumindest die Sicherstellung der Versorgung durch Private gewährleisten muß.428 Aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich auch eine allgemeine Überwachungs- und Vorsorgeverantwortung des Staates, die dem Ziel der Versorgungssicherheit dient. Darüberhinaus muß der Staat im Rahmen der Ausgestaltung des gesetzlichen Rahmens der Stromlieferung dafür sorgen, daß weder durch Preise noch durch vorschnelles Abschalten von Stromanschlüssen die Verbraucher von der Stromversorgung getrennt werden. bb) Staatszielbestimmung des Art. 20a GG: Umweltstaatsprinzip Nach Art. 20a GG, der 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde, werden die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für künftige Generationen geschützt. Als natürliche Lebensgrundlagen sind von Art. 20a GG alle Umweltgüter geschützt, die Grundlage menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens sind. Dazu gehören alle Umweltgüter, ohne die das Leben nicht über längere Zeiträume fortbestehen könnte, darüberhinaus auch diejenigen natürlichen Güter, ohne die ein physiologisches Leben nicht möglich ist. Dazu gehören die „Umweltmedien“ Luft, Wasser, Boden, Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in ihren Lebensräumen, Bodenschätze, klimatische Bedingungen und Ozonschicht.429 Aus dieser Schutzrichtung des Umweltstaatsprinzips läßt sich sicherlich keine Verpflichtung des Staates zur Bereitstellung der Energieversorgung an sich herleiten. Stromerzeugung, -transport und -verbrauch belasten die Umwelt durch Emissionen, insbesondere das CO2 der fossilen Energieträger und das in die Flüsse eingeleitete warme Kühlwasser sowie die Strahlenabfälle der Kernreaktoren, und Landschaftsverbrauch des Leitungsbaus. Ein Verbot der Energieversorgung an sich läßt sich jedoch aus Art. 20a GG nicht herleiten, da er sich grundsätzlich in die gesellschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit einfügen muß und nicht darauf ausgerichtet ist, den erreichten technischen Zustand der Gesellschaft wieder auf ein vorelektrisches Niveau zurückzuschrauben. Insofern stellt sich jedoch wie beim Sozialstaatsprinzip die Frage, ob sich bei der Ausgestaltung der Energieversorgung staatliche Pflichten ableiten lassen. Wie auch das Sozialstaatsprinzip, so wird auch das Umweltstaatsprinzip als Staatszielbestimmung eingestuft und erhält somit eine ausschließlich objektivrechtliche Zielrichtung. Subjektive Rechte lassen sich nicht aus ihm ableiten. Auch 428 Im Ergebnis so auch Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, S. 269; Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, S. 312. 429 Murswiek, Staatsziel Umweltschutz, S. 225.
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hier ist die Konkretisierung des unbestimmt formulierten Zieles dem Gesetzgeber überlassen, dem wiederum ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt. Dies bezieht sich auch auf die Wahl der Mittel.430 Damit lassen sich für die Energieversorgung aus dem Gesichtspunkt des Umweltstaatsprinzips die Verpflichtung des Staates ableiten, Maßnahmen zu ergreifen, die die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen in der Lage sind. Hier ist etwa denkbar, daß der Staat durch Vorschriften auf einen hohen Wirkungsgrad der Kraftwerke hinwirkt. Denkbar ist aber auch, daß der Staat durch die Einführung von Wettbewerb mehr Energieeffizienz und damit das gleiche Ziel wie durch gesetzliche Auflagen zu erreichen sucht. Der Staat kann emissionsarme Stromerzeugung vorschreiben, erneuerbare Energien fördern, landschaftsschonende Vorschriften hinsichtlich des Leitungsbaus erlassen, umweltschützende Entsorgung431 vorschreiben etc. Welche Mittel der Staat letztlich ergreift, liegt in seinem Gestaltungsspielraum. Allerdings muß er zum einen sorgfältige Prognosen anstellen, die die drohenden Gefahren berücksichtigen sowie die anderen Verfassungsprinzipien in Rechnung stellen, zum anderen muß der Schutz wirksam sein.432 Im Ergebnis ist festzustellen, daß die staatliche Gewährleistungsverantwortung in normativer Hinsicht den Staat auf eine umweltschonende Energiepolitik verpflichtet, die die Reduktion klimaschädigender Erzeugung zum Gegenstand haben muß.
cc) Menschenwürde, Art. 1 GG Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung geurteilt, daß die Energieversorgung eine Leistung sei, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedürfe.433 Damit ist der Bezug der Energieversorgung zur Menschenwürde hergestellt. Folgt man dem Gericht, so gebietet die Menschenwürde des Art. 1 GG dem Staat die Sicherstellung der Energieversorgung. Da das Gericht explizit von einer Leistung spricht, ließe sich sogar der Schluß ziehen, daß dieser Leistung auch ein Anspruch gegenüberstehen müsse, demnach aus der Menschenwürde des Art. 1 GG ein subjektiver Anspruch gegen den Staat auf, zumindest aber ein Gebot an den Staat zur Versorgung mit Energie bestünde. Beides ist nicht unumstritten und insbesondere die zweite Auffassung stößt, abgesehen von der konkreten Lesart des Urteils im Sinne eines Leistungsanspruchs, auf fundamentale rechtsdogmatische Bedenken, betrifft sie doch einen traditionellen Streit um die Interpretation des Art. 1 GG. Im wesentlichen geht es dabei um zwei Fragen: (1) Wie definiert man den Inhalt der Menschenwürde? (2) Kommt 430 Murswiek, Staatsziel Umweltschutz, S. 223; Steinberg, Verfassungsrechtlicher Umweltschutz, S. 1991. 431 Huber, Entsorgung als Staatsaufgabe und Betreiberpflicht. 432 Vgl. das soeben zum Sozialstaat Gesagte. 433 BVerfGE 66, 248 (258).
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der Menschenwürde des Art. 1 GG überhaupt Grundrechtscharakter zu, mit den damit verbundenen subjektiven und objektiven Funktionen der Grundrechte? Zur Bestimmung des Inhaltes der Menschenwürde gibt es im wesentlichen drei Ansätze434: Die These der Nichtdefinition geht auf Theodor Heuss zurück und besagt, daß die Menschenwürde eine „nicht interpretierte These“ sei. Die Theorie der Negativdefinition versucht, den Inhalt der Menschenwürde durch ein Verbot bestimmter, konsensfähiger Verhaltensweisen zu bestimmen. Dies geschieht einerseits durch insbesondere vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Regelbeispiele wie Folter, Diskriminierung und Ächtung, deren Vorliegen als Verstoß gegen die Menschenwürde prinzipiell verboten ist. Andererseits besagt die berühmte „Objektformel“ Günter Dürigs, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns werden darf. Schließlich gibt es als dritten Ansatz das Bemühen, den Inhalt der Menschenwürde positiv zu bestimmen. Einerseits wird hier dem Menschen aufgrund christlicher oder philosophischer Überzeugungen eine dem Menschen aufgrund seiner menschlichen Natur innewohnende Würde zugerechnet, die der Mensch unabhängig von seinen Fähigkeiten oder tatsächlichen Verletzungen schlichtweg habe („Mitgifttheorie“). Andererseits betrachten die „Leistungstheorien“ Menschenwürde nicht als etwas, was der Mensch immer schon hat, sondern als etwas zu Erlangendes. Konstitutiv für die Menschenwürde ist danach einerseits das Vermögen der individuellen Selbstformierung, andererseits die Fähigkeit Kultur zu interpretieren und zu rezipieren (Entwurfsvermögen, Selbstverständnis). Dieser Ansatz gerät allerdings insofern in Erklärungsnot, als er für Menschen, die nicht die Fähigkeit besitzen, einen Lebensentwurf zu formen, eine Einschränkung vornehmen muß.435 Aber auch die beiden anderen Theorien erweisen sich als problematisch. So entzieht sich die These der Nichtdefinition quasi jeglicher Diskussion, und die Negativdefinition erweist sich in schwierigen, gerade nicht auf Konsens beschränkten Fällen als wenig hilfreich zur Erzielung konkreter Ergebnisse. Trotz der sehr prinzipiellen Unterschiede der drei Ansätze, lassen sich einige inhaltliche Gemeinsamkeiten durchaus feststellen.436 So schützt Art. 1 I GG vor willkürlicher Ungleichbehandlung, Diskriminierung und Demütigung. Darüberhinaus sind Individualität, Identität und Integrität der menschlichen Persönlichkeit zu respektieren, wozu auch das Verbot der Folter zählt. Schließlich ergibt sich, und das ist für die Fragestellung der Gewährleistungsverantwortung für die Stromversorgung von Bedeutung, aus dem Menschenwürdesatz die Garantie eines in Parallele zu den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen konkretisierbaren materiellen Existenzminimums.
Zum Ganzen Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 36 – 44. Gröschner, Menschenwürde, S. 42 f., Fn. 102 und 45 spricht von (potentieller) Fähigkeit. Warum jemandem, der kein Entwurfsvermögen besitzt, die Menschenwürde trotzdem zukommen soll, das läßt sich dann auch von dieser Theorie wieder nur durch Rückgriff auf philosophische oder religiöse Ansätze („Mitgifttheorie“) erklären. 436 Vgl. Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 44. 434 435
15 Ruge
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Eng verbunden mit dem Inhalt der Menschenwürde ist die Frage ihrer Einstufung als Grundrecht. Verneint man die Grundrechtsqualität, verneint man gleichzeitig die Möglichkeit, dem potentiellen Träger Abwehr- oder Leistungsansprüche einzuräumen. Die herrschende Ansicht in der Rechtswissenschaft lehnt dies ab, das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu noch nicht geäußert. Vieles spricht jedoch dafür, Art. 1 I GG nicht als Grundrecht, sondern als Grundprinzip anzusehen.437 Damit scheidet die Möglichkeit des Einzelnen aus, subjektive Rechte aus der Menschenwürde herzuleiten, er ist insofern auf den nicht weniger umfassenden Schutz der (anderen) Grundrechte verwiesen. Trotzdem ist der Art. 1 I GG kein bloßes ethisches Bekenntnis oder ein rein deskriptiver Satz.438 Vielmehr ist die Menschenwürde des Art. 1 I GG eine unmittelbar verbindliche Norm des objektiven Verfassungsrechts mit unmittelbarer Bindung für alle Träger staatlicher Gewalt.439 Dabei verpflichtet das Gebot, die Menschenwürde zu schützen (Art. 1 I 2 GG) den Staat zu positivem Handeln. In erster Linie kommt der Staat diesem Auftrag durch Schaffung einer Rechtsordnung nach, die Beeinträchtigungen der Menschenwürde verhindert. Aus diesem weiten Schutzverständnis können sich auch Ansprüche auf Gewährleistung menschenwürdiger Lebensverhältnisse ergeben.440 Konkret hat das Bundesverfassungsgericht Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip als Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung des Existenzminimums angesehen.441 Andere Landesobergerichte haben dies auf die menschenwürdige Unterbringung bedürftiger Personen übertragen.442 Es erscheint durchaus plausibel, die Stromversorgung mit dem Existenzminimum sowie der menschenwürdigen Unterkunft in Verbindung zu setzen. Der Zusammenhang zum Existenzminimum und zur menschenwürdigen Unterkunft liegt nahe, da ohne Strom weder Licht, Klingel, Telephon noch Herd funktionieren und daher erhebliche Zweifel angebracht sind, ob eine menschenwürdige Unterkunft ohne Stromversorgung in der heutigen Zeit überhaupt möglich ist. Aus alledem läßt sich, unter Berücksichtigung der eingangs zitierten Aussage des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit der Energieversorgung für eine menschenwürdige Existenz, feststellen, daß auch wenn sich aus der Menschenwürde kein subjektives Recht auf Energieversorgung herleiten läßt, eine staatliche Verantwortung zur Gewährleistung einer funktionierenden Energieversorgung nach Art. 1 I GG unzweifelhaft besteht. Darüberhinaus läßt sich parallel zum Existenzminimum und zur Unterbringung auch die Pflicht des Staates ableiten, dafür Sorge zu tragen, daß dem Einzelnen der Zugang zur Energieversorgung nicht durch zu hohe Stromkosten oder durch übereiltes Abschalten des Stromanschlusses verwehrt wird. Vgl. zu den Argumenten im Einzelnen Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 68 ff. A.A. Gröschner, Menschenwürde, S. 45, 48 hält den S. 1 für deskriptiv, den S. 2 für präskriptiv. 439 Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 67. 440 Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 78. 441 Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 94; BVerfGE 82, 60 (80, 85). 442 Vgl. dazu Dreier, Art. 1 I [Menschenwürde], Rn. 94 m. w. N. 437 438
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dd) Grundrechte als normative Vorgaben Nicht nur aus den Staatszielbestimmungen und dem konstitutiven Prinzip der Menschenwürde ergeben sich normative Vorgaben für die Stromversorgung. Auch aus den Grundrechten ist eine staatliche Gewährleistungsverantwortung ableitbar. Dafür erweist sich als bedeutsam, daß den Grundrechten in der heutigen Grundrechtsdogmatik verschiedene Funktionen443 oder Dimensionen444 zugeschrieben werden. Die ursprüngliche Funktion der Grundrechte bestand in der Bedeutung der Freiheit vom Staat als subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion. Daneben wurde versucht, unmittelbare subjektiv-rechtliche Leistungsrechte gegen den Staat aus den Grundrechten abzuleiten. Das Bundesverfassungsgericht ist dem jedoch nicht gefolgt.445 Hingegen sind die sog. derivativen Leistungs- oder Teilhaberechte, insbesondere aus dem Gleichheitssatz i.V.m. Verwaltungspraxis als Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zur Erbringung von Leistungen, die auch einem Dritten gewährt wurden, etwa Subventionen, Benutzung öffentlicher Einrichtungen etc., allgemein anerkannt und klageweise rechtlich durchsetzbar.446 Neben diesen subjektiv-rechtlichen Funktionen hat sich seit dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch eine objektiv-rechtliche Funktion entwickelt, die vom Gericht ursprünglich als objektive Wertordnung bezeichnet wurde und heute vermeintlich moderner etwa mit objektiv-rechtlichem Gehalt der Grundrechte beschrieben wird.447 Grundlegend ist dabei die Feststellung, daß die Grundrechte, wie die Staatszielbestimmungen und die Menschenwürde, unmittelbar geltendes objektives Recht sind und die staatliche Gewalt bei allen ihren Handlungen zur Beachtung der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter verpflichtet ist, unabhängig von subjektiver Geltendmachung.448 Insofern wird von den Grundrechten in ihrer objektiv-rechtlichen Funktion auch als negative Kompetenznormen gesprochen, da sie Grenzen staatlichen Handelns bilden.449 In ihrer Funktion als objektive Wertordnung lassen sich drei objektiv-rechtliche Gehalte unterscheiden.450 Zum einen bestehen Bindungen des Staates bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere über Art. 1 III GG, die sich vor allem durch die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung oder horizontalen Wirkung der Grundrechte manife443 Pieroth / Schlink, Grundrechte, S. 16 ff., Rn. 57 ff.; Storr, Staats- und Verfassungsrecht, S. 98 ff. 444 Dreier, Dimensionen der Grundrechte; Dreier, GG I, Vorb., Rn. 43 ff. 445 Das Gericht ließ es offen, ob sich aus den Grundrechten ein einklagbarer Anspruch auf Schaffung von Studienplätzen ablesen lasse, BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus. 446 Vgl. Dreier, GG I, Vorb. Rn. 54; Pieroth / Schlink, Grundrechte, S. 18, Rn. 61. 447 BverfGE 7, 198 (205). 448 Dreier, GG I, Vorb., Rn. 55. 449 Pieroth / Schlink, Grundrechte, S. 20, Rn. 73. Kritisch Dreier, GG I, Vorb., Rn. 49. 450 Vgl. zum Ganzen Dreier, GG I, Vorb., Rn. 57 ff.; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 76 ff.
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stierten. Seit dem Lüth-Urteil ist die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auch für die Zivilgerichte bei der Anwendung und Auslegung privatrechtlicher Normen deutlich geworden.451 Zweitens treffen den Staat von den Grundrechten abgeleitete Schutzpflichten. Der Staat muß sich „schützend und fördernd“ vor die Grundrechte stellen und insbesondere Übergriffe Privater durch das Ergreifen geeigneter Maßnahmen verhindern.452 Damit werden aus grundrechtlichen Schutzpflichten Staatsaufgaben ableitbar.453 Schließlich enthalten auch die zuvor als subjektiv-rechtliche, derivative Leistungs- und Teilhaberechte bezeichneten Gleichheitsrechte eine objektive Dimension. Die subjektiv-rechtliche und die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte sind von erheblicher Bedeutung für die staatliche Gewährleistungsverantwortung im Stromsektor. Hinsichtlich der subjektiv-rechtlichen Seite ist zunächst festzustellen, daß es keinen unmittelbar einklagbaren subjektiven Anspruch etwa auf Errichtung und Betrieb von Stromversorgungsanlagen gibt. Es besteht auch kein subjektiver Anspruch auf staatliche Gewährleistung einer Rechtslage, die ein derartiges System garantiert. Dies ergibt sich aus der Ablehnung unmittelbarer Leistungsansprüche aus den Grundrechten (siehe soeben). Allerdings können die derivativen Teilhabe- und Leistungsansprüche über Art. 3 GG Bedeutung erlangen. So besteht gegen Stromversorger, die im öffentlichen Eigentum stehen wie etwa zahlreiche Stadtwerke, ein Anspruch aus Art. 3 GG i.V.m. der Verwaltungspraxis (Selbstbindung der Verwaltung) auf Anschluß und Versorgung zu denselben Bedingungen wie andere Nutzer vergleichbarer Kategorie. Dies könnte sich etwa auf die Versorgungsbedingungen beziehen oder aber auch auf die Abschaltung des Stromanschlusses im Falle nicht beglichener Stromrechnungen. Ein Einzelfall der Toleranz kann zum Präzedenzfall bezüglich aller anderer Kunden werden. Für die normativen Vorgaben im Rahmen der Gewährleistungsverantwortung ist jedoch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte interessanter. Im Rahmen der Schutzpflicht-Dimension der Grundrechte läßt sich insbesondere aus Art. 2 I GG, der die allgemeine Handlungsfreiheit garantiert, eine staatliche Gewährleistungsverantwortung ableiten, da, wie bereits dargelegt, die Handlungsfreiheit ohne die Existenz der Stromversorgung massiv eingeschränkt würde. Ebenso denkbar ist eine Herleitung aus Art. 2 II 1 GG, wenn durch die fehlende Stromversorgung Leben und körperliche Unversehrtheit hinreichend konkret bedroht würde. Als eines der wenigen denkbaren Beispiel könnte man den Bereich der Krankenhäuser nennen, die bei ihrer Behandlung auf Strom angewiesen sind, was sich in der Existenz von Notstromaggregaten bei allen deutschen Krankenhäusern manifestiert. Daraus ergibt sich die Verpflichtung insbesondere des Gesetzgebers, geeignete Maßnahmen zur Sicherung der Stromversorgung zu treffen, sog. Versorgungssicherheit. Neben 451 BVerfGE 7, 198 (205); 62, 230 (242); 73, 261 (269); 81, 40 (52); 84, 192 (195); 85, 1 (13). 452 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 89 (132 ff.); 53, 30 (57); 88, 203 (251). 453 Dreier, GG I, Vorb., Rn. 63.
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dem „Ob“ der staatlichen Verantwortung stellt sich die Frage des „Wie“. Wie bereits bei anderen objektiv-rechtlichen staatlichen Bindungen festgestellt, steht dem Gesetzgeber hier ein „weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu“454. Eine Schutzpflichtverletzung liegt vor, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben“455. Insofern beispielhaft hat das Verfassungsgericht in seiner Mühlheim-Kärlich-Entscheidung aus Art. 2 II 1 GG zum Schutz von Leben und Gesundheit eine besondere Verfahrensgestaltung des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens verlangt, das die Grundrechtspositionen der Bürger berücksichtigt.456 Parallel hierzu läßt sich für die Stromversorgung verlangen, daß im Falle von Stromabschaltungen ein besonderes Verfahren geschaffen wird, daß die Grundrechtspositionen der Beteiligten angemessen berücksichtigt, insbesondere die große Bedeutung für Strom als Voraussetzung für allgemeine Handlungsfreiheit, und damit über normale zivilrechtliche Regeln im Falle von Verzug o.ä. zugunsten des Schuldners hinausgeht. Wie dieses Verfahren im Einzelnen auszusehen hat und welche Toleranz man dem säumigen Stromkunden gegenüber aufbringt, läßt sich durch die Schutzpflichten nicht bestimmen. Hier greift wiederum der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Ein zweiter möglicher Anwendungsbereich der Schutzpflichten aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte ist die Preisgestaltung nach Maßgabe der BTOElt. Danach werden die Stromtarife im Rahmen des § 12 von der zuständigen Behörde nach Gesichtspunkten der Billigkeit i. S. d. Angemessenheit genehmigt.457 Durch die objektiv-rechtliche Schutzpflicht des Staates sind die Genehmigungsbehörden dazu verpflichtet, im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Vorschrift darauf zu achten, daß die Grundrechtsträger nicht durch massiv überhöhte Tarife in einschneidender Weise von der Nutzung des Stroms abgehalten werden. Die Formulierung („massiv“ und „einschneidend“) deutet an, daß diese normative Vorgabe freilich nicht dazu führt, daß Strompreiserhöhungen ausgeschlossen werden. Die Behörde kann und muß selbstverständlich auch die Grundrechte der Energieversorger in ihre Entscheidung einfließen lassen und kann und muß dabei erhöhte Kosten und andere Gesichtspunkte in Rechnung stellen. Auch darf dies nicht dazu führen, daß etwa durch den Gesetzgeber beschlossene Erhöhung der Energiesteuern in einem verhältnismäßigen Umfang mit dem Zweck der Lenkung des Verbrauchsverhaltens (Stromsparen) verboten wird. Im Ergebnis steht fest, daß offensichtlich massiv überhöhte Tarifvorschläge der VersorgungsunterBVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (202); 85, 191 (212); 88, 203 (262). BVerfGE 79, 174 (202); 88, 203 (258 ff., insbes. 262 ff.). 456 BVerfGE 53, 30 (60 ff.). 457 Vgl. Braband, Strompreise zwischen Privatautonomie und staatlicher Kontrolle, Teil 2, § 4, B. 454 455
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nehmen, die dazu führen, daß die Grundrechtsträger einschneidend vom Stromverbrauch abgehalten werden, nicht genehmigt werden dürfen. Neben der objektiv-rechtlichen Dimension der Schutzpflicht, die sich insbesondere an Gesetzgeber und Verwaltung richtet, betrifft die objektiv-rechtliche Dimension der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in erster Linie die Gerichte. So ergibt sich im Rahmen der zivilrechtlichen Preisaufsicht über § 138 BGB („sittenwidrig“) und über § 315 I, III BGB („billiges Ermessen“) die Notwendigkeit, diese beiden unbestimmten Rechtsbegriffe auszulegen. Bei der Auslegung der Generalklausel § 138 BGB sind ganz im Sinne der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension die Grundrechtspositionen zu berücksichtigen. Es gilt dabei ebenso wie bei der behördlichen Preisaufsicht über die Genehmigung nach § 12 BTOElt, daß durch unangemessen hohe Preise die Grundrechtsträger nicht einschneidend vom Stromverbrauch abgehalten werden dürfen. Ebenso läßt sich hinsichtlich des unbestimmten Rechtsbegriffs des „billigen Ermessens“ i. S. d. § 315 III BGB bei der Ersetzung unbilliger Tarife durch den Richter argumentieren. Allerdings betraf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur Generalklauseln.458 So argumentieren denn auch zahlreiche Autoren für eine Beschränkung auf die Generalklauseln der §§ 134, 138, 242, 826 BGB. Einer Erweiterung auf unbestimmte Rechtsbegriffe ließe sich entgegnen, daß damit die der Privatrechtsordnung zugrundeliegende Privatautonomie bedroht würde.459 Allerdings geht auch ein bedeutender Teil der Zivilrechtslehre davon aus, daß bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Billigkeit“, der gleichzeitig als Generalklausel bezeichnet wird, vor allem verfassungsrechtliche Wertentscheidungen zu berücksichtigen sind.460 Gegen die Beschränkung auf Generalklauseln spricht vor allem Art. 1 III GG, der alle staatliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Staatsfunktionen bindet. Damit spricht ein gewichtiges Argument für eine Gleichbehandlung der Generalklauseln mit anderen Vorschriften, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. Entprechend sind über die Generalklausel des § 138 BGB und bei der Auslegung der „Billigkeit“ des § 315 III BGB die objektiv-rechtliche Dimension insbesondere des Art. 2 I GG berücksichtigen. Bedeutung erhält diese Frage insbesondere dann, wenn die Landesbehörden gemäß § 16 BTOElt von der Ausübung ihrer Genehmigungsbefugnis keinen Gebrauch mehr machen. Eine derartige Tendenz zeichnet sich ab. So hat etwa BadenWürttemberg bereits in weiten Teilen auf die Ausübung der Genehmigungsbefugnisse verzichtet und Bayern und Thüringen haben diesen Schritt ebenfalls angekündigt.461 In diesem Fall entfällt die über die staatliche Schutzpflicht festgestellte Bindungswirkung für die Tarifgenehmigung als Einfallstor für grundrechtliche 458 BVerfGE 7, 198 (205); 62, 230 (242); 73, 261 (269); 81, 40 (52); 84, 192 (195); 85, 1 (13). 459 Vgl. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1509 ff., 1546 m. w. N. 460 Vgl. nur Gottwald, Münchner Kommentar, Bd. 2, § 315, Rn. 2, 20, 33 m. w. N. 461 Vgl. Braband, Strompreise zwischen Privatautonomie und staatlicher Kontrolle, Teil 1, § 2, D.I.
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Grenzen, so daß es verstärkt auf die Preisgestaltung zwischen Privaten ankommt. Damit rückt die mittelbare Drittwirkung für die Tarifgestaltung in den Mittelpunkt staatlicher Bindungen. Im Ergebnis läßt sich feststellen, daß einerseits aus den Grundrechten die staatliche Gewährleistungsverantwortung zur sicheren Stromversorgung hergeleitet werden kann. Darüberhinaus ergeben sich insbesondere aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte auch weitergehende Pflichten, durch bestimmte Maßnahmen gewisse für die Grundrechtsträger und ihre Grundrechtspositionen ganz wesentliche Aspekte der Stromversorgung im Sinne der Grundrechtsinhalte zu gestalten. ee) Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, Art. 109 II GG Aus zwei weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben läßt sich staatliche Gewährleistungsverantwortung für die Stromversorgung herleiten. Zunächst ergibt sich aus Art. 109 II GG, der eine als echte Rechtspflicht ausgestattete Staatszielbestimmung enthält, im Rahmen der Finanzverfassung für ein ökonomisches Gleichgewicht zu sorgen. Dazu zählt die Verantwortung des modernen Industriestaates, für die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft und für wirtschaftliche Stabilität, gesellschaftliche Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit zu sorgen.462 Dabei ist es offensichtlich, welche bedeutende Rolle der Stromversorgung zukommt. In einer modernen Industriegesellschaft ist Produktion und Handel ohne Strom schlicht undenkbar. Insofern beschränkt sich aber auch die normative Aussagekraft dieser Vorschrift auf das „Ob“ der Stromversorgung, hinsichtlich des „Wie“ läßt sich höchstens die bereits aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Versorgungssicherheit ableiten.
ff) Kompetenzordnung: Gesetzgebungskompetenz Art. 74 I Nr. 11 und Verwaltungskompetenz Art. 83 ff. GG Eine weitere Möglichkeit, staatliche Verantwortungsbereiche normativ zu begründen, ergibt sich aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Zwar sind Aufgaben und Kompetenzen ihrer Natur nach grundsätzlich verschieden. Jedoch setzen Kompetenzen unbestreitbar Aufgaben voraus.463 Wie sich aus den Art. 30, 70 ff. GG ergibt, bildet die Gesetzgebungskompetenzordnung des Grundgesetzes primär die Grundlage für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Allerdings sind die Kompetenzkataloge nicht darauf beschränkt. Sie enthalten auch „Kompetenzen gegenüber den Bürgern“.464 Für bestimmte „inhaltliche 462 463 464
Heun, GG III, Art. 109, Rn. 20. Bull, Staatsaufgaben, S. 52. Bull, Staatsaufgaben, S. 152.
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Tendenzen“ des Kompetenzkataloges spricht die Tatsache, daß zahlreiche Einzelkompetenzen bereits mit bestimmter Zielrichtung formuliert sind. So schreibt etwa Art. 74 I Nr. 13 GG die Förderung der wissenschaftlichen Forschung vor, die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie soll nach Art. 74 I Nr. 11a GG so geregelt werden, daß sie friedlichen Zwecken dient etc. Allerdings ergeben sich derartige inhaltliche Tendenzen bei dem für die Stromversorgung einschlägigen Art. 74 I Nr. 11 GG gerade nicht. Insofern beschränkt sich die Kompetenzordnung in der Tat auf die bloße Regelungskompetenz im Bereich der Energiewirtschaft.
c) Ergebnis: Existenz staatlicher Gewährleistungsverantwortung für Stromversorgung in normativer Hinsicht Die Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektors haben gezeigt, daß sich die normative Bedeutungsebene des Begriffs der staatlichen Gewährleistungsverantwortung mit konkreten Inhalten füllen läßt. Dabei hat sich der Rückgriff auf außerhalb der Verfassung gelegene Vorschriften zur Begründung staatlicher Verpflichtungen als entbehrlich erwiesen. Es besteht somit keine Notwendigkeit, Vorgaben unmittelbar aus dem Begriff der Gewährleistungsverantwortung als solchem abzuleiten. Die ausschließlich aus grundgesetzlichen Vorschriften abgeleiteten konkreten Pflichten des Staates hinsichtlich des Stromsektors betreffen vor allem den als gemeinwirtschaftlich bezeichneten Bereich. Hier läßt sich etwa aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG die staatliche Pflicht ableiten, angemessene Vorkehrungen für eine funktionierende Stromversorgung zu treffen sowie auf irgendeine Weise, etwa durch Preisaufsicht, dafür Sorge zu tragen, daß Verbraucher nicht durch exzessive Preise vom Stromverbrauch ausgeschlossen werden. Weiterhin lassen sich aus dem Sozialstaatsprinzip Vorgaben zur Trennung von Haushalten vom Stromnetz entnehmen. Aus dem Umweltstaatsprinzip des Art. 20a GG läßt sich die staatliche Pflicht ableiten, effiziente und emissionsarme Stromerzeugung anzustreben. Dies ist sowohl durch konkrete Auflagen bzw. Vorschriften als auch auf andere Weise, etwa durch freiwillige Vereinbarungen oder durch die Einführung von Wettbewerb möglich. Aus Art. 1 I GG lassen sich die gleichen Vorgaben wie aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten. Auch die (anderen) Grundrechte enthalten normative Vorgaben. Insbesondere deren objektiv-rechtliche Dimension begründet Schutzpflichten des Staates. In Anlehnung an Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich etwa eine staatliche Verpflichtung zur Schaffung von Verfahren bzgl. der Abtrennung von Stromkunden vom Netz herleiten und auch eine Pflicht, zu verhindern, daß Grundrechtsträger aufgrund exzessiver Preise vom Stromverbrauch ausgeschlossen werden. Letztere Erwägung erlangt auch über die Figur der Drittwirkung der Grundrechte im Rahmen der zivilrechtlichen Preisaufsicht über die Generalklausel des § 138 BGB sowie die energierechtliche Preisaufsicht im Rahmen der BTOElt Bedeutung.
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Die genannten konkreten Pflichten des Staates sind fast ausnahmslos objektivrechtliche Pflichten. Subjektiv-rechtliche Pflichten spielen mit Aunsnahme von Art. 3 I GG im Rahmen der Gleichbehandlung etwa bei Versorgungsbedingungen sowie Art. 2 I GG im Ausnahmefall der Bedrohung von Leib und Leben durch fehlende Stromversorgung, eine nur untergeordnete Rolle. Die Bezeichnung der abgeleiteten Pflichten als konkrete Pflichten darf jedoch nicht über einen wichtigen Umstand hinwegtäuschen: Hinsichtlich der Ausgestaltung der ermittelten Pflichten kommt dem Gesetzgeber ein außerordentlich weiter Gestaltungs- und Ermessensspielraum zu. Insofern lassen sich die konkreten Pflichten auch als Pflichten zu Gewährleistung von Minimalbedingungen oder als Pflicht zur Grundversorgung bezeichnen. Hier kann es bereits ausreichen, wenn der Staat in irgendeiner Weise die konkreten Pflichten berücksichtigt; die Intensität der Preisaufsicht etwa oder der Umfang des Verfahrens bzgl. einer Trennung vom Netz läßt sich jedenfalls nicht aus den Verfassungsvorschriften ableiten. Diese Situation ist vergleichbar mit den zu den Bereichen Bahn, Post und Telekom gemachten Feststellungen, wenngleich sich dort die Aussagen unmittelbar aus sektorenspezifischen Vorschriften ergeben. Wie dort besteht aber auch im Strombereich, auch ohne spezifische Grundgesetz-Norm eine Spannungslage zwischen Wettbewerb und Grundrechten der Unternehmer einerseits und den gemeinwirtschaftlichen Interessen der Verbraucher andererseits. Die Gewährleistungsverantwortung im Stromsektor ist daher strukturell mit der Gewährleistungsverantwortung der genannten anderen Daseinsvorsorge-Bereiche gut vergleichbar.
4. Bestehendes Rechtsregime im Stromsektor Nachdem mit aus der Verfassung abgeleiteten Vorgaben für die rechtliche Ausgestaltung der Stromwirtschaft die normative Bedeutungsebene der staatlichen Gewährleistungsverantwortung ausgefüllt wurde, rückt nun die heuristische Bedeutungsebene in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei wird der „Ist-Zustand“ der rechtlichen Regelungen im Stromsektor untersucht. Es geht also um die Frage, wie der Staat die normativen Vorgaben in tatsächlicher Hinsicht ausgefüllt bzw. umgesetzt hat. Hierbei spielen auch EU-rechtliche Vorgaben eine nicht unerhebliche Rolle. a) EU-rechtlicher Zusammenhang Wie bereits dargetan ist das deutsche EnWG 1998 keine bloße Umsetzung EUrechtlicher Vorgaben. Dies wird zum einen deutlich, wenn man die lange Debatte über die Reform des Energiesektors in Deutschland betrachtet, die weit vor die vergleichbare Debatte auf EU-Ebene zurückreicht. Zum anderen wird die Unabhängigkeit des EnWG 1998 durch die wesentlich stärkere Deregulierung des deutschen Energiemarktes als nach dem EU-REcht erforderlich, unterstrichen. Gleich-
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wohl hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des EnWG 1935 verschiedene Regelungen der Strombinnenmarkt-RL berücksichtigen müssen. In welchen Vorschriften des EnWG 1998 und GWB 1998 sich die RL niedergeschlagen hat und welche Bereiche hätten unberührt bleiben sollen, wird hier überblicksartig dargestellt. Die Regelungen sind im Einzelnen bereits oben dargestellt worden (D.IV.4.).
aa) Wettbewerbsfördernde und wettbewerbsausschließende Regelungen (1) Betriebsaufnahmegenehmigung § 5 EnWG 1935 und Art. 5 I StromBM-RL Auch nach Art. 5 I RL kann der Bau von Energieanlagen ebenfalls wie nach § 4 EnWG 1935 von einer Genehmigung abhängig gemacht werden. Allerdings gehen die entsprechend der oben dargestellten Auslegung ermittelten Voraussetzungen für eine Verweigerung über die der RL hinaus. Hinzu kommt, daß Art. 4 und 5 II RL verlangen, daß „ausführliche“ Genehmigungskriterien zu veröffentlichen sind, d. h. die Voraussetzungen müssen präzise formuliert und veröffentlicht sein. Dies ist bei § 5 I EnWG 1935 wie oben dargestellt nicht der Fall. Entsprechend mußte diese Vorschrift dem EU-Recht angepaßt werden.465 (2) Investitionskontrolle § 4 EnWG und Art. 4 und 5 RL Für die Investitionskontrolle bereits bestehender Anlagen gilt hinsichtlich der ausführlichen Genehmigungskriterien das soeben zu § 5 EnWG 1935 Gesagte. Die Vorschrift war dem Art. 4 und 5 RL gemäß umzugestalten. Anders war dies mit den umwelt- und anlagenbezogenen Genehmigungsvorschriften des deutschen Rechts, die den Anforderungen der RL entsprachen.466 (3) Wegebenutzung und Demarkationsverträge Für das alte System der deutschen Energiewirtschaft von zentraler Bedeutung waren die Konzessionsverträge und Demarkationsverträge mit ihren Ausschließlichkeitsklauseln. Die RL enthält diesbezüglich keine Vorgaben. Einzig die Verpflichtung, den Bau von Direktleitungen zuzulassen, schränkte das System der geschlossenen Versorgungsgebiete zwingend ein und bedurfte der rechtlichen Umsetzung.467
465 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 336. 466 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 336. 467 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 334, 335.
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(4) Durchleitungsverpflichtung Aufgrund der Leitungsgebundenheit ist insbesondere die Durchleitung grundlegende Voraussetzung für die Einführung von Wettbewerb im Stromsektor. Eine Durchleitungsverpflichtung bestand nach der Rechtsprechung des BGH zu § 103 V 2 Nr. 4 GWB a.F. nur ausnahmsweise. Wie sich aus Art. 17 V RL ergibt, sollte dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt werden. Grundsätzlich muß also ein Anspruch auf Durchleitung bestehen, während die Verweigerung unter bestimmten Voraussetzungen die Ausnahme bildet. Dies mußte der deutsche Gesetzgeber berücksichtigen. Da jedoch die Öffnung des Stromsektors nach EU-Recht nur schrittweise und nur bis zu etwa einem Drittel erfolgen muß, ist auch die Durchleitungsverpflichtung nach der RL in ihrer Reichweite stark eingeschränkt.468 (5) Entflechtung und Transparenz Der Umsetzung ins deutsche Recht bedurften die Regeln über Entflechtung und Transparenz (Art. 13 f. RL), durch das das Marktverhalten vertikal integrierter Unternehmen, die zugleich über Produktions-, Übertragungs- und Verteilungssparten verfügen, kontrollierbar werden soll.469
bb) Gemeinwirtschaftliche Regelungen (1) Preisgestaltung und Umweltschutz Die Preisgestaltung, die sich gemäß § 7 II EnWG 1935 nach der BTOElt richtete, ist mit der RL vereinbar, da diese selbst in Art. 10 Preiskontrolle der Verteilerunternehmen ermöglicht. Hinsichtlich des Umweltschutzes sind in der RL verschiedene Möglichkeiten nationaler Regelungen vorgesehen, die umweltschonende Erzeugung fördern sollen. Hier besteht seit 1990 bereits das Stromeinspeisungsgesetz, das insofern mit Art. 8 III RL vereinbar ist. Im Bereich der Preisgestaltung und des Umweltschutzes waren daher keine Änderungen erforderlich.470 (2) Anschluß- und Versorgungspflicht, Versorgungssicherheit Auch die Anschluß- und Versorgungspflicht des § 6 EnWG 1935 sowie die Regelungen bzgl. der Versorgungssicherheit in §§ 14, 15 EnWG 1935 blieben unberührt und mußten nicht aufgrund der RL verändert werden. 468 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 334 f. 469 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 337. 470 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 336 f.
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(3) Quersubventionen der Stadtwerke Schließlich bleiben auch die Quersubventionen der Stadtwerke aus dem lukrativen Energiegeschäft zumeist in den verlustreichen ÖPNV unberührt. Das Verbot von Quersubventionen in Art. 14 III RL bezieht sich lediglich auf vertikale Quersubventionierungen innerhalb eines Stromunternehmens, nicht aber auf horizontale Quersubventionierungen zwischen verschiedenen Branchen.471 Mit dieser kurzen Übersicht ist deutlich geworden, daß die StrombinnenmarktRL zwar zu einigen Änderungen des EnWG zwang, jedoch ganz wesentliche Bestandteile des bis dahin geltenden Systems hätten beibehalten werden können. Zentrale Bedeutung kam der zu ändernden Regelungen der Durchleitungsverpflichtung zu. Diese wurde jedoch bereits seit Beginn der Deregulierungsdiskussion in Deutschland in allen Regierungsvorschlägen ausdrücklich oder implizit vorgesehen. Insofern läßt sich abschließend sagen, daß das EU-Recht zwar einigen Druck auf den deutschen Gesetzgeber ausgeübt hat, endlich die langanhaltende Debatte durch eine Gesetzesreform zu beenden. Jedoch blieb dem Gesetzgeber einerseits großer Spielraum im Hinblick auf die Erhaltung des bestehenden Systems, andererseits entsprachen die EU-Regeln im Wesentlichen den Reformvorstellungen der deutschen Regierung. Diese erließ am 29. 4. 1998 das Artikelgesetz „Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts“ (NeuregelungsG), das in Art. 1 eine Neufassung des EnWG 1935 enthielt.472 Auch hier lassen sich die Regelungen wiederum in wettbewerbsfördernde und gemeinwirtschaftliche Regelungen unterteilen. b) Wettbewerbsfördernde Regelungen aa) Zielrichtung des EnWG 1998 Die Zielrichtung des NeuregelungsG ist die Einführung von Wettbewerb im Energiesektor. Die hierzu notwendigen Veränderungen treffen in erster Linie das EnWG 1935 und die Bereichsausnahmen des GWB. Trotzdem enthält § 1 EnWG 1998 keine Zielsetzung Wettbewerb. Hier heißt es lediglich „Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preiswerte und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit“. Damit wurden die bereits in der Präambel des EnWG 1935 enthaltenen Ziele der Preiswürdigkeit und Versorgungssicherheit um das gleichberechtigte Ziel des Umweltschutzes erweitert. Allerdings waren die auszulegenden unbestimmten Rechtsbegriffe des EnWG 1935 seit der Einführung des Umweltstaatsprinzips in Art. 20a GG auch zu471 Vgl. Britz, Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie und Umsetzung ins deutsche Recht, S. 335 f. 472 Vgl. zum neuen Energierecht Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998; Kühne / Scholtka, Das neue Energiewirtschaftsrecht; Salje, Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts.
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vor schon in dieser Richtung zu interpretieren. Trotzdem der Wettbewerb in § 1 EnWG 1998 unerwähnt bleibt, erscheint dieses Ziel als Konkretisierungsmaßstab an verschiedenen Stellen, etwa bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit und Gestaltung einer Rechtsverordnung über Netzzugangsverträge und Kriterien für Durchleitungsentgelte. 473 Anders ist die Lage hinsichtlich des Umweltverträglichkeitsziels. Zwar ist dieses Ziel nun ausdrücklich in § 1 festgeschrieben und in § 2 IV mit der Bedeutung definiert, daß die Energieversorgung den Erfordernissen eines rationellen und sparsamen Umgangs mit Energie genügt, eine schonende und dauerhafte Nutzung von Ressourcen gewährleistet ist und die Umwelt möglichst wenig belastet wird, wobei der Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien besondere Bedeutung zukommt. Jedoch trifft das Gesetz selbst keine weiteren Vorkehrungen, um dieses Ziel zu verwirklichen. bb) Betriebsaufnahmegenehmigung § 3 EnWG 1998 An die Stelle der staatlichen Aufsicht über die erstmalige Betriebsaufnahme nach § 5 EnWG 1935 ist durch das NeuregeglungsG § 3 EnWG 1998 getreten. Insofern wurde die staatliche Aufsicht über die Betriebsaufnahme grundsätzlich beibehalten. Sie wurde allerdings erheblich eingeschränkt.474 So enthält § 3 I S. 2 EnWG 1998 eine Auflistung von Vorgängen, die von der Genehmigungspflicht ausgenommen sind. Hierzu zählen vor allem die Belieferung aus Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien und aus Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Außerdem enthält § 3 II EnWG 1998 eine wesentlich präzisere Regelung als § 5 EnWG 1935, indem er entsprechend den Anforderungen des Art. 4, 5 II RL Voraussetzungen benennt, unter denen nur versagt werden darf. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so wird ausdrücklich ein Rechtsanspruch auf Genehmigung eingeräumt. cc) Streichung der Investitionskontrolle des § 4 EnWG 1935 Eine weitere wesentliche Reduzierung der staatlichen Aufsicht erfolgte durch die ersatzlose Streichung der Investitionskontrolle des § 4 EnWG 1935. Unter der Annahme funktionierenden Wettbewerbs erscheinen staatliche Entscheidungen über Investitionen anstelle autonomer unternehmerischer Entscheidungen nicht mehr angemessen. Ausreichend soll insofern das allgemeine, Anlagen-, Bau-, Planungs- und Immissionsschutzrecht sein.475 Durch die Streichung der Investitionskontrolle und die Beibehaltung der Kontrolle erstmaliger Betriebsaufnahme erscheint es durchaus denkbar, daß dies zu einer wettbewerblichen Benachteiligung von Marktneulingen führen kann. Diese Überlegung ergibt sich aus dem VersaVgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 444 f. Vgl. zum Ganzen Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 22, Rn. 47; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 446 ff. 475 Kritisch Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 448. 473 474
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gungsgrund des § 3 II Nr. 2 EnWG 1998, wonach versagt wird, wenn die neue Versorgungstätigkeit zu ungünstigeren Versorgungsbedingungen für die betroffenen Abnehmer insgesamt führen würde oder sich für das verbleibende Gebiet des bisherigen Versorgers erhebliche Nachteile ergeben würden. Dies betrifft insofern nur Markneulinge, während die Ausdehnung der Versorgungstätigkeit eingesessener Versorger nicht der staatlichen Aufsicht unterliegt.476
dd) Streichung der Abmeierung nach §§ 8, 9 EnWG 1935 Ähnliche Kritik richtet sich gegen die ersatzlose Streichung der Abmeierungsvorschriften der §§ 8, 9 EnWG 1935. Durch diese Vorschrift drohte vor Einführung des Wettbewerbs den etablierten Versorgungsunternehmen die Betriebsuntersagung und damit bestand jedenfalls theoretisch die Chance neuer Anbieter, die Tätigkeit zu übernehmen. Da diese Untersagungs- und Enteignungsmöglichkeit nun entfallen ist, kommt den etablierten Versorgern ein Betätigungsrecht kraft Gesetzes zu. Für eine Untersagung bleibt den Behörden lediglich der allgemeine Untersagungstatbestand des § 35 GewO, der den energierechtlichen Spezifika keine Rechnung trägt.477 Allerdings erscheint auch hier die Streichung der Abmeierungsmöglichkeit unter der Annahme funktionierenden Wettbewerbs folgerichtig, da dann die Auslesefunktion des Wettbewerbs die zur Abmeierung führende Schlechterfüllung der Versorgungstätigkeit ersetzen sollte.
ee) Wegenutzung § 13, 14 EnWG 1998 Neu aufgenommen wurde die Verpflichtung der Gemeinden nach § 13 I 1 EnWG 1998, ihre öffentlichen Verkehrswege für Leitungsanlagen zur unmittelbaren Versorgung von Letztverbrauchern im Gemeindegebiet diskriminierungsfrei durch Vertrag zur Verfügung zu stellen. Nach § 13 I 3 können die Gemeinden jedoch den Abschluß entsprechender Verträge ablehnen, solange ein EVU die Zahlung von Konzessionsabgaben in Höhe der Höchstsätze nach § 14 II EnWG 1998 i.V.m. Konzessionsabgabenverordnung verweigert und eine Einigung über die Höhe der Abgaben noch nicht erzielt ist. Dies bedeutet, daß weiterhin die Gemeinden zur Vergabe der Wegerechte zuständig sind und auch diesen die Einnahmen aus den Konzessionsverträgen zustehen. Bedingt durch den Wegfall der Ausschließlichkeitsrechte können die Gemeinden Abgaben nur noch für die Wegenutzung verlangen, nicht jedoch wie zuvor für Ausschließlichkeitsrechte. Um auch bei zunehmender Durchleitung von Erzeugern, denen die Netze im Gemeindegebiet nicht gehören, die Einnahmen aus den Konzessionsabgaben zu sichern, sieht § 14 II EnWG 1998 i.V.m. dem 1999 eingefügten § 2 VI KAV vor, daß auch vom 476 477
So Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 446 f. Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 447.
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durchleitenden Unternehmen Konzessionsabgaben verlangt werden können. Die Neufassung des EnWG ändert nichts an der Gültigkeit der KAV, diese galt auch nach Außerkrafttreten des EnWG 1935 nach der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 80 GG weiter.478 Darüberhinaus enthält § 14 II EnWG 1998 eine sinngleiche Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß von Konzessionsabgabenverordnungen.
ff) Durchleitungsverpflichtung Aufgrund der Leitungsgebundenheit von Strom ist der Netzzugang bzw. die Durchleitung durch fremde Netze- neue Leitungen sind wegen der hohen Kosten meist keine Alternative – das Herzstück des Wettbewerbs in der Stromwirtschaft.479 Entsprechend dieser Erkenntnis wurde die vor der Deregulierung bestehende ausnahmsweise Durchleitung nach § 103 V S. 2 Nr. 4 GWB a.F. in einen Rechtsanspruch auf Durchleitung umgestaltet, die nur ausnahmsweise verweigert werden darf. Der Anspruch auf Durchleitung ist doppelt geregelt. Zum einen wird in § 6 EnWG 1998 ein energierechtlicher Durchleitungsanspruch begründet, zum anderen besteht dieser nach § 19 IV GWB n.F. als kartellrechtlicher Anspruch. Beide sind zivilrechtlich durchzusetzen.480 (1) Energierechtlicher Durchleitungsanspruch §§ 5, 6 I EnWG 1998 statuieren mit einem ausdrücklichen Durchleitungstatbestand die Pflicht aller Versorgungsnetzbetreiber, grundsätzlich auf Verhandlungsbasis Zugang zu ihren Netzen zu gewähren. Nach § 6 I 1 EnWG 1998 müssen Netzbetreiber ihre Netze anderen Unternehmen für Durchleitungen zu Bedingungen zur Verfügung stellen, die nicht ungünstiger sind, als sie unternehmensintern oder im Unternehmensverbund in Rechnung gestellt werden. Die Durchleitungspflicht entfällt, soweit der Netzbetreiber nachweist, daß ihm die Durchleitung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen unter Berücksichtigung der Ziele des § 1 nicht möglich oder nicht zumutbar ist.481 Insofern regelt § 6 I 1 EnWG 1998 eine Art Gleichbehandlungsgrundsatz. Die für einen derartigen Vergleich notwendigen internen Vergleichsdaten müssen jedoch nach der Gesetzeslage nicht veröffentlicht werden, was die Einhaltung des § 6 I 1 erschwert. Verlangt wird lediglich die Veröffentlichung von Richtwerten zur Spanne der jeweils letztjährigen Durchleitungsentgelte durch die Netzbetreiber. Zwar sieht § 6 II die Möglichkeit einer verordBVerfGE 9, 3 (12); 44, 216 (226); 78, 179 (198). Vgl. Büdenbender, Durchleitung elektrischer Energie nach der Energierechtsreform, S. 1 ff.; Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 22 ff. 480 Vgl. OLG Dresden, Urt. v. 8. 2. 2001, sowie Theobald / Zenke, Wettbewerb in Stromnetzen, S. 798 f. 481 Zu den Zugangsverweigerungsgründen nach § 6 I 2, III EnWG 1998 vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 455 ff.; zum Unterschied zu § 4 III EnWG vgl. ibid., S. 458, Fn. 97. 478 479
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
nungsrechtlichen Typisierung der Durchleitungsentgelte durch das Bundeswirtschaftsministerium mit Zustimmung des Bundesrates vor, jedoch wird diese nach dem politischen Willen der Regierung nicht wahrgenommen, sondern auf Selbstregulierung der beteiligten Wirtschaftsverbände BDI, VDEW und VIK gesetzt.482 Dieser Erwartung folgte die Verabschiedung der Verbändevereinbarung I vom 22. 5. 1998, sowie der Verbändevereinbarung II vom 13. 12. 1999483 über Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektrische Energie zwischen dem BDI, VIK und VDEW, die durch einen sicherheitstechnisch orientierten GridCode der Deutschen Verbundgesellschaft484 ergänzt wird. In der VV I und II wurden Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektrische Energie aufgestellt und die Einrichtung einer Clearingstelle im Streitfalle vereinbart. Dabei beschränkte sich die Verbändevereinbarung auf die Festlegung von Kriterien zur Berechnung der Entgelte, insbesondere die in Anlage 3 VV II festgelegten „Preisfindungsprinzipien“. Die VV II wurde im Gegensatz zur VV I um ein konkretes Transportentgelt ergänzt, das bei Energieaustausch zwischen zwei neu eingerichteten Handelszonen und bei ausländischen Stromimporten an der Grenze fällig wird (sog. T-Komponente).485 Anhand der aufgestellten Kriterien berechnen die EVU selbständig ihre Durchleitungsentgelte. Die Verbändevereinbarung ist eine Art der industriellen Selbstregulierung. Sie hat lediglich Empfehlungscharakter und ist somit für niemanden bindend.486 Allerdings weist der VDEW in einer Stellungnahme auf die faktische Bindungswirkung der Vereinbarung hin, da die deutsche Rechtsprechung bei Streitfällen zur Netznutzung nach allen Erfahrungen maßgeblich auf die Verbändevereinbarung abstellen werde, da es sich bei dieser um den aktuellen Stand der energiewirtschaftlichen Praxis handele, dem zudem durch die Unterschrift aller betroffenen Verbände zugestimmt wurde.487 Mit der Verbändevereinbarung liegt ein Instrument der Selbstregulierung der Wirtschaft vor. Die durch diesen staatlichen Regelungsverzicht erreichte Flexibilität hat jedoch auch erhebliche Nachteile.488 So führt sie durch die Beschränkung der Beteiligten auf drei Großverbände dazu, daß verbandsinterne Konfliktlagen intransparent und externe Einflußchancen erschwert werden. Dies gilt insbesondere für ausländische EVU. Darüberhinaus führt die rechtliche Unverbindlichkeit dazu, daß abweichende Bedingungen gerichtlich durchgesetzt werden können und damit Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 454, 459. VV I dokumentiert in RdE 1998, Energierechts-Praxis XXIff.; VV II unter http: // www.strom.de / verb_v_2.pdf; vgl. zur VVII Monopolkommission, Wettbewerbspolitik in Netzstrukturen, Tz. 90 ff. 484 Vgl. Schwarz / Glaunsinger, Wettbewerb und Sicherheit im deutschen Verbundnetz. 485 Vgl. Monopolkommission, Wettbewerb in Netzstrukturen, Tz. 94 ff., dort auch zur Kritik der EU-Kommission. Vgl. http: // www.strom.de / zf_sd_03.htm (15. 4. 2000). 486 Bundeskartellamt, Bericht, 1. Teil, A.II. 487 Vgl. Stellungnahme VDEW, http: // www.strom.de / zf_sd_03.htm (15. 4. 2000). 488 Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 463 ff. 482 483
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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eine erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf die Verläßlichkeit der Verbändevereinbarung geschaffen wird. Daneben wird kritisiert, daß durch das bloß technisch-wirtschaftliche Verständnis der Vereinbarung gesetzliche Wertungen nicht ausgefüllt werden können und insbesondere die enormen ordnungspolitischen Auswirkungen der Vereinbarung diesen Wertungen sogar entgegenstehen können. Schließlich wird die fehlende präventive Kontrolle der Transportentgelte bemängelt. Mit Sicherheit läßt sich feststellen, daß über die nach § 6 EnWG 1998 geschaffene Durchleitungsverpflichtung eine Ausweitung der gerichtlichen ex-post Kontrolle im Einzelfall vonstatten gehen wird.489 Insofern bewirkt die Energierechtsnovelle eine Verlagerung staatlicher Kontrolle auf die Dritte Gewalt.
(2) Kartellrechtlicher Durchleitungsanspruch Neben dem energierechtlichen Durchleitungstatbestand wurde in § 19 IV Nr. 4 GWB n.F. noch ein kartellrechtlicher geschaffen.490 Nach § 19 I GWB n.F. ist die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen verboten. § 19 II, III GWB n.F. regeln, wann eine marktbeherrschende Stellung vorliegt, in § 19 IV ist beispielhaft geregelt, wann ein Mißbrauch vorliegt. Dies ist nach § 19 IV Nr. 4 GWB n.F., der eine Positivierung der sog. essential facilities-Doktrin darstellt, insbesondere der Fall, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren. Dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, daß die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Mit dieser Neuregelung wird das nach § 103 V S. 2 Nr. 4 GWB a.F. geltende Regel-Ausnahme-Prinzip umgekehrt. Nunmehr ist die Durchleitung die Regel und die Verweigerung der Durchleitung die vom Netzbetreiber nachzuweisende Ausnahme.491 Konkurrenten können ihren Anspruch auf Durchleitung auf zwei Wegen durchsetzen. Zum einen kann die Kartellbehörde nach § 32, 19 IV Nr. 4 GWG n.F. eine Untersagungsverfügung erlassen, die dem Unternehmen die Verweigerung des Netzzugangs verbietet. Zum anderen kann der Konkurrent nach § 33 GWB einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend machen.492 Mit der Aufhebung der Bereichsausnahme und der damit bewirkten unmittelbaren Anwendung der allgemeinen kartellrechtlichen Normen wurde jedoch nicht nur eine Vereinfachung bewirkt. Vielmehr sind neue Abgrenzungsprobleme entstanden. So ist etwa die Abgrenzung zwischen § 1 und § 16 489 Vgl. Theobald / Zenke, Wettbewerb in Stromnetzen: Eine Rechtsprechungsübersicht, S. 797. 490 Vgl. zur Auslegung des § 19 IV Nr. 4 GWB n.F. Büdenbender, Durchleitung elektrischer Energie nach der Energierechtsreform, S. 8 ff. 491 Vgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 20. 492 Vgl. Tettinger, Energierecht-nurmehr ein Anhängsel zum Wettbewerbsrecht?, S. 42.
16 Ruge
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
von Bedeutung, da Vereinbarungen nach § 1 per legem verboten sind, während Vereinbarungen nach § 16 nach dem Ermessen der Kartellbehörde untersagt werden können.493 Aufgrund praktischer Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Durchleitungsansprüchen erarbeitete die im Oktober 2000 eingesetzte „Arbeitsgruppe zur Netznutzung Strom der Kartellbehörden des Bundes und der Länder“ einen Bericht, der im April 2001 vorgelegt wurde. Hierin sind in umfassender Weise die kartellrechtlichen Probleme der Durchleitung angesprochen und eine gemeinsame Auslegung der Vorschriften durch die Behörden beschrieben.494
gg) Stromhandel über Strombörsen Schließlich ist noch anzumerken, daß als Folge der Deregulierung des Marktes auch der Handel von Strom über die Börse als neue Tätigkeit der Stromwirtschaft entstanden ist.495 Dieser entwickelte sich vollkommen ohne sektorenspezifische rechtliche Vorgaben im Rahmen des allgemeinen Handels- und Börsenrechts. Am 14. 6. 2000 nahm die erste deutsche Strombörse, die Leipzig Power Exchange (LPX) in Leipzig den Betrieb auf, wenige Monate später gefolgt von der European Energy Exchange (EEX) in Frankfurt / M.496 Die Strombörse mit ihrem institutionalisierten Stromhandel stellt eine Ergänzung zum bilateralen Stromhandel dar. Durch standardisierte Verträge können Transaktionskosten gesenkt werden und mehr Transparenz durch die für den Börsenhandel notwendigen Informationen hergestellt sowie kurzfristiger Bedarf gegebenenfalls kostengünstig gedeckt werden. Der an der Strombörse bestehende Preis kann auch als Referenzpreis für den bilateralen Stromhandel angesehen werden. Gehandelt wird dabei sowohl auf dem Tages- oder Kassamarkt (Spotmarket) als auch auf dem Terminmarkt oder Terminkontraktmarkt (Forward und Future Markt) für zukünftige Aktionen.
c) Gemeinwirtschaftliche Regelungen Neben den wettbewerbsfördernden, rein wirtschaftlich orientierten Regelungen enthält das neue Energierecht auch gemeinwirtschaftliche, am Gemeinwohl orientierte, über rein wirtschaftliche Aspekte hinausgehende Regelungen. Hierzu zählen die Preisgestaltung, die Anschluß- und Versorgungspflicht, die Versorgungssicherheit und der Umweltschutz. Die getroffenen Regelungen sind durchweg als Konkretisierung der normativen Vorgaben der Gewährleistungsverantwortung anzuseVgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 25 f. Bundeskartellamt, Bericht. 495 Barth, Strombörse und Energierecht, S. 139 ff.; Informationen im Internet http: // strom.de / zf_boe_1.htm. 496 Informationen im Internet unter http: // www.lpx.de und http: // www.eex.de. 493 494
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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hen. Daran läßt sich mehr noch als hinsichtlich der wettbewerbsfördernden Maßnahmen erkennen, auf welche Weise, heuristisch betrachtet, der Staat seine Gewährleistungsverantwortung tatsächlich wahrnimmt. aa) Preisgestaltung Auch nach der Energierechtsreform 1998 besteht weiterhin eine spezielle, energierechtliche, eine kartellrechtliche und eine zivilrechtliche Preiskontrolle. Hinsichtlich der Rechtsvorschriften hat sich lediglich die kartellrechtliche Preisaufsicht geändert. Hinsichtlich der energierechtlichen Preisaufsicht könnten sich jedoch trotz unveränderter Rechtslage in der Aufsichtspraxis wesentliche Änderungen ergeben. Die ex-ante-Preiskontrolle nach der BTOElt besteht auch nach dem neuen Rechtsrahmen weiter. An die Stelle der Verordnungsermächtigung des § 7 I EnWG 1935 trat durch das NeuregelungsG 1998 § 11 I EnWG 1998. Jedoch gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 GG die BTOElt auch nach Außerkrafttreten des EnWG 1935 weiter.497 Entscheidend bleibt die in § 12 I 1 BTOElt geregelte Genehmigungspflicht von Tarifen, von der nach wie vor gemäß § 16 BTOElt Befreiungen möglich sind. In diesem Punkt könnte sich eine Veränderung abzeichnen, die im NeuregelungsG nicht angelegt ist, sich jedoch aus einer wettbewerbsfreundlichen Haltung der für die Preisaufsicht zuständigen Landesbehörden ergeben könnte. So hat etwa das Land Baden-Württemberg für die Stromtarife nach § 16 I 1 Nr. 3 BTOElt eine generelle Befreiung von der Genehmigungspflicht eingeführt, Bayern und Thüringen haben ein ähnliches Vorgehen angekündigt.498 Sollte sich dieser Trend in anderen Bundesländern fortsetzen, würde die ex-ante-Preisaufsicht nach dem EnWG ganz erheblich eingeschränkt werden und die staatliche Rolle auf dem Strommarkt erheblich an Bedeutung verlieren. Anders als die energierechtliche Preisaufsicht, hat sich hinsichtlich der kartellrechtlichen Preisaufsicht der rechtliche Rahmen verändert. So ist durch das NeuregelungsG die spezielle Preismißbrauchsaufsicht nach § 103 V S. 2 Nr. 2 GWB a.F. auf die Stromwirtschaft für unanwendbar erklärt und durch die 6. GWB-Novelle aufgehoben worden.499 Demnach gelten nunmehr für die Preisaufsicht in der Stromwirtschaft die allgemeinen Regeln des Wettbewerbs, insbesondere des § 19 IV Nr. 2, 3 GWB.500 Die Orientierung der alten energiekartellrechtlichen Preisaufsicht an den speziellen energierechtlichen Zielen der Preiswürdigkeit und Versorgungssicherheit ist entfallen. BVerfGE 9, 3 (12); 44, 216 (226); 78, 179 (198). Vgl. Braband, Strompreise zwischen Privatautonomie und staatlicher Kontrolle, Teil 1, § 2, D.I. 499 BGBl. 1998 I, 2546. 500 Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 485 f. 497 498
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
Schließlich haben sich auch die zivilrechtlichen Regelungen der Preiskontrolle (§§ 134, 138, 315, 826 BGB) an sich nicht geändert. Da es sich hier allerdings um Generalklauseln handelt, die an spezialgesetzlichen Sachverhalten anknüpfen, ist bei ihrer Auslegung auch der veränderten Rechtslage im Energierecht Rechnung zu tragen. Die zuvor herausgearbeiteten normativen Vorgaben der Verfassung sind bei der Auslegung der Vorschriften unverändert zu beachten.
bb) Anschluß- und Versorgungspflicht In § 10 I EnWG 1998 wird die bereits nach § 6 I EnWG 1935 bestehende Anschluß- und Versorgungspflicht fast unverändert übernommen.501 Während der alte § 6 an die „Versorgung eines bestimmten Gebietes“ anknüpfte, löst nach dem neuen § 10 I die „allgemeine Versorgung eines Gemeindegebietes“ die Verpflichtung zu Anschluß und Versorgung aus. Diese Vorschrift ist eine deutliche Einschränkung des Wettbewerbs, da dadurch die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit der EVU, mit wem Verträge abgeschlossen werden, beseitigt wird. Ausnahmen sind nur dann gegeben, wenn die Verpflichtung aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar ist. Diese Ausnahmeregelung bestand auch nach der alten Rechtslage, allerdings mit der Ergänzung, daß diese wirtschaftlichen Gründe auch in der Person des Anschlußnehmers liegen können (§ 6 II Nr. 1). Es ist denkbar, daß durch den Wegfall dieses Zusatzes Gründe auf Seiten des Anschlußnehmers nicht mehr als Rechtfertigung für die Weigerung des Anschlusses akzeptiert werden. Denkbar war früher etwa die Weigerung eines erneuten Anschlusses, nach Abschalten des Anschlusses aufgrund nicht bezahlter Rechnungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit ein ehemals monopolistisches Unternehmen, das durch einen Konkurrenten starken Kundenverlust erlitten hat, weiterhin alleine die Anschluß- und Versorgungspflicht zu tragen hat oder ob diese ab einer bestimmten Kundenzahl zumindest auch auf den Konkurrenten übergehen.502 Da in der Stromwirtschaft keine mit der Finanzierung der Universaldienste im Telekom- und Postsektor vergleichbaren Fondsmodelle existieren, die im Ergebnis zu einer gemeinschaftlichen Finanzierung der Universaldienstpflichten führen, ist diese Frage von erheblicher Bedeutung. Entscheidend für die Antwort dürfte dabei die Auslegung des Merkmals „allgemeine Versorgung eines Gemeindegebietes“ sein. Bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs sind die oben herausgearbeiteten normativen Vorgaben zu berücksichtigen. Entscheidend ist dabei die Wahrung der Versorgungssicherheit und die Versorgung aller mit Strom. Diese Interessen müssen in eine Entscheidung der Frage eingestellt werden, welchen Versorger in einem Gebiet die Anschluß- und Versorgungspflicht trifft.
501 502
Vgl. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 291 ff. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 296 f.
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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Neu ist die in § 10 I S. 3 EnWG 1998 aufgenommene Gleichpreisigkeit für verschiedene Gemeindegebiete. Diese war nach der alten Rechtslage höchst umstritten.503 Zwar gibt es auch hiervon Ausnahmen, die Barrieren sind jedoch sehr hoch.504 Insgesamt stellt auch diese Vorschrift eine starke Einschränkung des Wettbewerbs dar und enthält damit eine Konkretisierung der normativen Vorgaben, insbesondere der objektiv-rechtlichen Dimension der Gleichheitsgrundrechte.
cc) Versorgungssicherheit Wie in den §§ 13,14 EnWG 1935 enthält auch das neue EnWG in §§ 16, 17 Vorschriften über die Versorgungssicherheit. Dabei regelt § 16 Anforderungen im Hinblick auf die technische Sicherheit der Anlagen. § 16 III enthält eine Konkretisierung des europarechtlichen Prinzips der wechselseitigen Anerkennung, das der EuGH in der Cassis de Dijon -Entscheidung505 entwickelt hatte und das zentraler Bestandteil des Binnenmarktprogramms der Kommission506 aus dem Jahr 1985 war. Danach müssen Produkte, in diesem Fall Anlagen oder Bestandteile von Anlagen, die nach in einem anderen Mitgliedstaat der EU geltenden Regelungen rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht wurden, grundsätzlich als sicher im Sinne der Vorschrift angesehen werden. Damit soll auch der Wettbewerb im Energieanlagenbau gefördert werden. Die in § 17 EnWG 1998 geregelte Ermächtigungsgrundlage für den Verordnungserlaß bzgl. einer Bevorratungspflicht entspricht den Regelungen des alten § 14. Mit beiden Vorschriften füllt der Gesetzgeber normative Vorgaben hinischtlich der Versorgungssicherheit aus.
dd) Umweltschutz Wichtiger Bereich gemeinwirtschaftlicher Regelungen ist auch der Umweltschutz. Hier hat der Gesetzgeber in den Zweckkanon des Gesetzes in § 1 die Umweltverträglichkeit der Energieversorgung aufgenommen. Damit ist der Umweltschutz bei der Auslegung aller unbestimmten Rechtsbegriffe des Gesetzes gleichberechtigt neben den beiden anderen Zwecken der Versorgungssicherheit und der Preisgünstigkeit zu berücksichtigen. Nach § 2 IV EnWG 1998 bedeutet Umweltverträglichkeit, daß die Energieversorgung den Erfordernissen eines rationellen und sparsamen Umgangs mit Energie genügt, eine schonende und dauerhafte Nutzung von Ressourcen gewährleistet und die Umwelt möglichst wenig belastet wird. Dabei wird der Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien 503 504 505 506
Riechmann, Die Gleichpreisigkeit als preis- und kartellrechtliches Problem. Büdenbender, Schwerpunkte der Energierechtsreform 1998, S. 293 f. EuGH, Rs. 120 / 78, Slg. 1979, 649. KOM (85) 310 endg.
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
besondere Bedeutung beigemessen, was auch in der Zumutbarkeit des Netzzugangs Berücksichtigung findet (§ 6 III EnWG 1998). Diese Regelung ist eine einfachgesetzliche Umsetzung der normativen Vorgaben, die sich aus Art. 20a GG ergeben. Allerdings finden sich im EnWG 1998 kaum weitere Konkretisierungen hinsichtlich des Umweltschutzes. So finden sich denn umweltschutzbezogene Maßgaben in anderen Gesetzen. Insbesondere verweist § 2 V EnWG 1998 hinsichtlich der Förderung erneuerbarer Energien auf das bereits 1990 erlassene Stromeinspeisungsgesetz. Dieses wurde 2000 in Erneuerbare Energien Gesetz EEG umbenannt und in einigen umstrittenen Punkten abgeändert.507 Im Wesentlichen regelt das EEG eine Abnahme- und Vergütungspflicht zu Lasten der regionalen bzw. überregionalen EVU, die Betreibern von Anlagen derartiger Energien die Energie bevorzugt abnehmen und zu gesetzlich festgelegten Mindestpreisen vergüten müssen.508 Neu ist die Verteilung der dadurch entstehenden finanziellen Belastung auf alle bundesweiten Übertragungsnetzbetreiber nach § 11 EEG. Auch diese Maßnahmen zeigen, daß der Gesetzgeber es nicht für wahrscheinlich hält, daß sich umweltverträgliche Energieversorgung ohne massive staatliche Intervention einstellen wird. Die Umsetzung durch das EEG stellt insofern eine Konkretisierung des Umweltstaatsprinzips des Art. 20a GG dar. Hierzu tragen auch andere, nicht speziell auf den Energiesektor bezogene Gesetze bei wie etwa das BImSchG.
ee) Braunkohleverstromung in Ostdeutschland Schließlich ist noch auf die Übergangsregelung des Art. 4 § 3 NeuregelungsG 1998 hinzuweisen. Danach ist bei der Beurteilung, ob die Ablehnung des Netzzugangs zur Belieferung von Abnehmern in Ostdeutschland wettbewerbswidrig ist, die Notwendigkeit einer ausreichend hohen Verstromung von Braunkohle aus dieser Region zu berücksichtigen. Mit dieser Regelung soll gesichert werden, daß die Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht zu Nachteilen für die insbesondere in Ostdeutschland anzutreffende Braunkohleförderung und die damit verbundenen Arbeitsplätze führt. Die Vorschrift gilt vorerst bis Ende 2003, ist jedoch verlängerbar.
5. Ergebnis: Staatliche Gewährleistungsverantwortung im deutschen Stromsektor Die Untersuchung der veränderten Rolle des Staates im Stromsektor hat im wesentlichen drei Ergebnisse hervorgebracht. Zum einen konnten Ursprung und Inhalt des Begriffs der staatlichen Gewährleistungsverantwortung präzisiert werden. BGBl. 2000 I Nr. 13, 305; vgl. auch Britz, EEG. Vgl. Ruge, Das Beihilfemerkmal der staatlichen Zurechenbarkeit in der Rechtsprechung des EuGH am Beispiel des Stromeinspeisungsgesetzes, S. 563 f. 507 508
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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Zum anderen hat sich die allgemeine These vom Wandel der staatlichen Tätigkeit und Aufgaben von einer Erfüllungs- zu einer Gewährleistungsverantwortung zumindest hinsichtlich des Stromsektors als korrekturbedürftig erwiesen. Schließlich zeigte sich, daß die Einteilung rechtlicher Regelungen in wettbewerbsbezogene und in gemeinwirtschaftliche bei der Analyse des vorliegenden Gegenstandes hilfreich ist. Die Präzisierung des Begriffs der staatlichen Gewährleistungsverantwortung ergibt sich unter Berücksichtigung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen er entstanden ist. Dabei sind sowohl diejenigen Verfassungsnormen von Bedeutung, die ausdrücklich von Gewährleistungspflichten des Staates sprechen (Bahn, Post und Telekom) als auch diejenigen allgemeinen Verfassungsvorschriften, die für normative Aussagen im Bereich des Stromsektors herangezogen werden können. Durch eine Analyse der bestehenden einfachgesetzlichen Rechtslage im Stromsektor ließ sich verdeutlichen, auf welche Weise der Staat den normativen Vorgaben tatsächlich nachkommt. Insofern enthält der Begriff der Gewährleistungsverantwortung zwei Bedeutungsebenen, eine normative und eine heuristische. Dabei besagt die normative Bedeutungsebene jedoch nicht, daß aus dem Begriff der Gewährleistungsverantwortung im Bereich der Stromwirtschaft unmittelbare Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Diese ergeben sich vielmehr mangels spezieller Regelungen aus den allgemeinen verfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes. Dabei ist der Zusammenhang zu berücksichtigen, in dem der Begriff entstanden ist. Aufgrund der Deregulierungs- und Privatisierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre entstand die Frage nach bleibenden Pflichten des Staates bei gleichzeitigem Rückzug des Staates von eigener Tätigkeit bzw. einer Tendenz zu einem derartigen Rückzug. Der Begriff der staatlichen Gewährleistungsverantwortung besagt in diesem Zusammenhang in normativer Hinsicht, daß trotz einer Politik des Rückzugs staatlicher Aktivität eine staatliche Verpflichtung verbleibt, einen Rahmen bereitszustellen, der eine effektive Erfüllung der jeweiligen Aufgabe auch durch Private möglich macht. Dabei gilt es in erster Linie, in den Bereichen der Daseinsvorsorge eine Grundversorgung sicherzustellen. Typisch für diese normative Maßgabe der Gewährleistungsverantwortung ist eine Spannungslage oder ein Zielkonflikt zwischen dem Rückzug des Staates zugunsten unternehmerischer Freiheit einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit an einer Grundversorgung andererseits. Diese Aussagen über die Gewährleistungsverantwortung des Staates lassen sich sowohl aus den die drei genannten Wirtschaftssektoren prägenden Verfassungsnormen ableiten als auch für den Stromsektor aus den allgemeinen Verfassungsnormen. Die Untersuchung hat insofern gezeigt, daß die wesentlichen Grundlagen des Begriffs in den speizalgesetzlichen Normen zu Bahn, Post und Telekom mit den allgemeinen Aussagen der Verfassung für den Stromsektor deckungsgleich sind. Als zweites Ergebnis der Untersuchung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung ist die allgemeine These vom Wechsel staatlicher Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung hinsichtlich des Stromsektors einzuschränken. Die Unter-
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E. Gewährleistungsverantwortung nach Liberalisierung des Elektrizitätssektors
suchung hat gezeigt, daß es an der Feststellung, daß vor Beginn der Deregulierung eine staatliche Erfüllungsverantwortung bestanden hat, erhebliche Zweifel gibt, die einen derartigen Wandel, wie er für die Sektoren Bahn, Post und Telekommunikation festgestellt werden kann, im Bereich der Stromwirtschaft weniger deutlich ausfallen lassen. Dieses Ergebnis ließ sich durch eine Analyse der Beteiligungsverhältnisse der öffentlichen Hand im Stromsektor, möglicher Veränderungen des Verfassungsrechts im Stromsektor und Änderungen des einfachen Rechts im Stromsektor gewinnen. Zwar zeigt sich seit Beginn der Deregulierungspolitik im Stromsektor eine Tendenz zu mehr Privateigentum und weniger öffentlicher Beteiligung an Stromunternehmen. Nach wie vor sind jedoch öffentliche Beteiligungen an Stromunternehmen vorhanden und insbesondere auf Landes- und Kommunalebene in nächster Zukunft nicht abschaffbar. Begründet liegt dies trotz der angestrebten Deregulierungs- und Privatisierungspolitik im Fehlen eines bundesstaatlichen Monopols im Stromsektor wie dies in den Bereichen Bahn, Post und Telekom der Fall war. Durch die Fragmentisierung der Eigentumsstrukturen mußte hier ein angestrebter Wechsel weniger stringent und effektiv vonstatten gehen. Ein weiterer Aspekt betrifft die Situation vor Beginn der Deregulierungspolitik. Denn obgleich neben privaten Stromunternehmen die öffentliche Hand mehrheitlich in der Stromwirtschaft engagiert war, konnte sie dennoch nie einen gezielten Einfluß ausüben. Zu unterschiedlich waren die Interessenlagen der verschiedenen „öffentlichen Hände“ in Form des Bundesstaats, der Föderalstaaten und der Kommunen. Auch dies ist eine ganz erhebliche Abweichung von den Verhältnissen in den anderen genannten Sektoren. Betrachtet man neben den Beteiligungsverhältnissen nun noch das Verfassungsrecht, so läßt sich auch hier eine deutliche Abweichung von den Bereichen Bahn, Post und Telekommunikation feststellen. Während dort durch Änderungen des bestehenden Verfassungstextes die Rolle des Staates in den Wirtschaftsbereichen neu definiert wurde, mangelt es im Stromsektor an einer derartigen speziellen verfassungsrechtlichen Vorgabe. Da es im Verfassungstext anders als in den drei Bereichen nie eine spezialgesetzliche Vorschrift gegeben hat und auch keine neue eingeführt wurde, läßt sich feststellen, daß es verfassungsrechtlich überhaupt keine Veränderung gegeben hat. Schließlich ist als letzter Punkt der Analyse das einfache Recht untersucht worden. Hier hat sich gezeigt, daß es zwar Veränderungen staatlicher Aktivität gegeben hat, jedoch sind diese wesentlich weniger einschneidend ausgefallen als in den anderen drei Bereichen. So wurde etwa staatliche Aufsicht bzgl. neuer Investititonen und unzulänglichem Betrieb mit drohender Enteignung gestrichen. In der sehr wichtigen Frage der Preisaufsicht wurde jedoch lediglich die kartellrechtliche Preisaufsicht wesentlich eingeschränkt, zivil- und energierechtliche Preisaufsicht besteht weiter, wenngleich sich möglicherweise eine Tendenz dahingehend abzeichnet, daß die enrgierechtliche Preisaufsicht durch die Landesbehörden nicht mehr in Anspruch genommen wird. Entscheidend ist insgesamt jedoch die Feststellung, daß sowohl vor als auch nach der Reform des Energiesektors der Staat einen rechtlichen Rahmen gesetzt hat, in dem sowohl private
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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als auch öffentliche Akteure tätig wurden und werden. Daran hat sich nichts Wesentliches verändert. Im Ergebnis ist somit die allgemeine These vom Wandel der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung hinsichtlich des Stromsektors nur mit Einschränkungen haltbar. Als drittes und letztes Ergebnis der Untersuchung kann festgehalten werden, daß sich die Unterscheidung von wettbewerbsbezogenen und gemeinwirtschaftlichen Regelungen als hilfreich erwiesen hat. Die im Bereich der einfachgesetzlichen Regelungen vorgenommene Einteilung entspricht den im Verfassungsrecht enthaltenen Zielkonflikten, die für Fälle der Deregulierung von Märkten typisch sind. Die Einteilung ermöglicht damit eine Offenlegung von aktuellen und potentiellen Konfliktlagen, erleichtert ihre Zurordnung zu verfassungsrechtlichen Problemstellungen und sorgt für Transparenz im Hinblick auf Abwägung und Beurteilung von Interessenkonflikten.
F. Der „Regulatory State“ nach der Deregulierung des Elektrizitätssektors in Großbritannien I. Begriffliche Grundlagen 1. Der Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung vergleichbares Begriffspaar: „Providing and Regulatory State“ Untersucht man die Frage nach einem Paradigmenwechsel in den Wissenschaften bezüglich der Rolle des Staates im Wirtschaftsleben Großbritanniens, so stößt man auf eine dem deutschen Begriffspaar Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung zunächst einmal vergleichbare Formulierung durch das Begriffspaar „Providing and Regulatory State“. Es ist bereits oben angesprochen worden, welche Wissenschaften und Wissenschaftszweige mit welchen methodischen Besonderheiten sich in Großbritannien der Frage nach der Rolle des Staates gewidmet haben und heute widmen.1 Die dort gewonnenen Erkenntnisse sind auch bei der Erfassung und Bewertung der Begriffe „Providing and Regulatory State“ von Bedeutung. Sie können inhaltliche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem britischen Begriffspaar erklären, die insbesondere darauf zurückzuführen sein dürften, daß das Begriffspaar in Großbritannien in erster Linie von Wirtschaftswissenschaftlern und Politikwissenschaftlern geprägt wurde. Es entfällt die typisch juristische, normative Bedeutungsebene, die sich für die Gewährleistungsverantwortung nachweisen läßt.
2. „Providing State“, „Productive State“ und „Rowing State“ Für den Nachweis eines Paradigmenwechsels ist es notwendig, den bisherigen Zustand oder bisherige Vorstellungen und Modelle zu beschreiben, um die Neuerungen vor dem gezeichneten Hintergrund verdeutlichen zu können. In Bezug auf das neue Modell des „Regulatory State“ dienen hierfür die Begriffe des „Providing State“, „Productive State“ oder auch „Rowing State“.2 Die Betrachtung dieser Begriffe nimmt naturgemäß wenig Raum ein, da er wie die Erfüllungsverantwortung Vgl. oben C.III.2.b). Vgl. Loughlin / Scott, The Regulatory State, S. 205 ff.; Osborne / Gaebler, Reinventing Government, S. 25. 1 2
I. Begriffliche Grundlagen
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in der deutschen Wissenschaft lediglich zur Kontrastierung dient, während das eigentliche Interesse ja gerade dem neuen Zustand gilt, der als „Regulatory State“ bezeichnet wird. Kennzeichnend für den Zustand staatlicher Aktivität in der Wirtschaft, der als Providing State bezeichnet wird, war das Zusammenfallen der politischen Entscheidungen und der Durchführung dieser Entscheidungen in der täglichen wirtschaftlichen Geschäftsführung der betroffenen Bereiche. Das zuständige Ministerium traf danach die steuernden Entscheidungen und war gleichzeitig oberste Instanz des wirtschaftlichen Unternehmens, das die Dienstleistungen oder Güter herstellte. Damit trat der Staat selbst als Produzent im Wirtschaftsleben auf. Dies entsprach dem Modell des Wohlfahrtsstaates, der durch die beschriebene Einheit von Politik und Wirtschaftsführung von verhältnismäßig undurchsichtigen und informellen Strukturen geprägt wurde, was u. a. auf einen traditionellen Mangel an Verwaltungsverfahrensregeln und Verwaltungsrechtsschutz und ein sehr weites ministerielles Ermessen im britischen Verwaltungssystem zurückzuführen ist.3 Das Modell des „Regulatory State“ geht von einer Veränderung des Verhältnisses zwischen politischen Entscheidungen und wirtschaftlicher Tätigkeit in den Wirtschaftsbereichen aus, die zu einem Anwachsen von Verfahrensregeln und Rechtsschutzmöglichkeiten führt.
3. „Regulatory State“ a) Bedeutung Zwar lassen sich die Ursprünge des britischen „Regulatory State“ bis in die Zeit Königin Viktorias im 19. Jahrhundert zurückführen.4 Die Verwendung im heutigen Sinne als Kontrastprogramm zu einem Staat, der selbst wirtschaftlich aktiv ist, entwickelte sich in Großbritannien jedoch erst in den 1990er Jahren. Dabei griff man ganz erheblich auf US-amerikanische Begrifflichkeiten zurück. Hier wurde der Begriff „Regulatory State“ im Sinne von regierungsunabhängigen Fachbehörden zur Aufsicht über bestimmte Wirtschaftszweige bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts gebraucht.5 Die neue Entwicklung, die durch den Begriff „Regulatory State“ beschrieben werden soll, wird geprägt von zwei Phänomenen. Zum einen trennt sich der Staat in großem Umfang von eigener Wirtschaftstätigkeit und beschränkt sich auf die politisch notwendigen Entscheidungen sowie die Kontrolle deren ordnungsgemäßer Umsetzung. Zum anderen wird diese staatliche Aufsicht, die zuvor durch die Vgl. Loughlin / Scott, The Regulatory State, S. 205 f. Dazu Moran, Victorian Origins of the British Regulatory State. 5 Vgl. etwa Anderson, The Emergence of the Modern Regulatory State; Majone, The Rise of the Regulatory State in Europe, S. 78 f. 3 4
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
zuständigen Ministerien wahrgenommen wurde, auf von der Ministerialebene – theoretisch – unabhängige Fachbehörden übertragen. Die Konsequenz dieser Veränderungen ist das Entstehen einer völlig neuen Art staatlicher Lenkung.6 Der Staat hat sich aus der unmittelbaren Produktion von Gütern und Dienstleistungen zurückgezogen und dies i.d.R. Privatunternehmen überlassen. Seine Aufsichtsbefugnisse nehmen unabhängige Regulierungsbehörden wahr. Durch diese Trennung sind im Vergleich zum traditionellen Lenkungsmodell des Staates wesentlich mehr rechtliche Regeln erforderlich etwa Verfahrensregeln und Rechtsschutzmöglichkeiten, oder etwa das Lizenzsystem als Voraussetzung für die Aufnahme von Versorgungstätigkeiten. Diese Veränderungen führen zwar nicht zum Ausschluß staatlichen Einflusses, jedoch zu einer Veränderung der Form staatlicher Steuerung, die zunächst einmal weniger interventionistisch erscheint, als das Vorläufermodell des „Providing State“. McGowan / Wallace beschreiben den „Regulatory State“ zusammenfassend wie folgt: „it is one which attaches relatively more importance to process of regulation than to other means of policy-making. The regulatory state is a rule-making state, with an attachment to the rule of law and, normally, a predeliction for judicial or quasi-judicial solutions. It is tempting to conclude that it is therefore equivalent to a minimal or „night-watchman“ state, although we should recall not only that the scope of its watch can be quite large, but that other policy approaches may also be adopted.“7
Bei diesem Verständnis des „Regulatory State“ wird deutlich, daß es sich um einen deskriptiven Begriff handelt. Es fehlt vollkommen an einer normativen Bedeutungsebene, wie sie für das deutsche Pendant der Gewährleistungsverantwortung hergeleitet wurde. Im Verlauf der weiteren Untersuchungen wird deutlich werden, daß sich weder aus dem Begriff selbst noch aus Verfassungsgrundsätzen der ungeschriebenen britischen Verfassung normative Inhalte dieses Begriffs herleiten lassen, daß sogar eine derartige normative Herleitung der Wissenschaft in Großbritannien vollkommen fremd ist. b) Regulierung „UK Style“ Die abstrakten Schlußfolgerungen englischer Wissenschaftler aus dem US-amerikanischen System sind stark auf das seit Mitte der 1980er Jahre entstandenen System der Regulierung in Großbritannien fokussiert. Dieses wird in Großbritannien gerne als „Regulation UK Style“ betitelt.8 Die neuen Regulierungsstrukturen, die im Zuge der Privatisierungen und Deregulierungen entstanden sind, sind im Einzelnen höchst komplex und unterscheiden sich auch von Wirtschaftssektor zu Wirtschaftssektor. Dennoch lassen sich einige wesentliche Charakteristika des britiLoughlin / Scott, The Regulatory State, S. 206. McGowan / Wallace, Towards a European Regulatory State, S. 563. 8 Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 13 ff. Vgl. auch Baldwin / Cave, Understanding Regulation (British Utilities Regulation: The Basic Structure), S. 190 ff.; Helm, British Utilities Regulation. 6 7
I. Begriffliche Grundlagen
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schen Regulierungssystems herausarbeiten, die sich sehr gut den oben dargestellten Merkmalen des „Regulatory State“ zuordnen lassen. Dabei bietet sich die Versorgungswirtschaft („Public Utilities Industry“) als Beispiel an. Hierzu zählen insbesondere die Telekommunikations-, Gas-, Strom-, Wasser-, Bahn- und Luftverkehrsindustrie. Regulierungsinstanzen sind die Generaldirektoren der sektorenspezifischen und unabhängigen Regulierungsbehörden („Director General“), der jeweils zuständige Fachminister („Secretary of State“) sowie die Monopol- und Fusionskommission („Monopolies and Mergers Commission, MMC“).9 Die Regulierung der jeweiligen Sektoren wird durch die jeweiligen Privatisierungsgesetze für die verschiedenen Wirtschaftssektoren dem Generaldirektor übertragen, nicht etwa einer Behörde. Damit findet eine starke Konzentration der Regulierung auf eine Person statt, die in der britischen Debatte starke Kritik auf sich gezogen hat.10 Die übertragenen Rechte und Pflichten der Generaldirektoren unterscheiden sich in den jeweiligen Sektoren erheblich. Gemeinsam ist allen Bereichen zum einen die Verpflichtung des Generaldirektors, dafür zu sorgen, daß bestimmte Universaldienstleistungen angeboten werden und die tätigen Unternehmen diese auch tatsächlich erfüllen können. Zum anderen trifft den Generaldirektor die Verpflichtung, durch seine Tätigkeit den Wettbewerb zu fördern. Dazu gehören insbesondere die Preisgestaltung, Qualitätsstandards und Effizienzförderung.11 Die Einzelheiten der Regulierung, insbesondere die konkreten Rechte und Pflichten der Unternehmen, sind in den Lizenzen niedergelegt, die der zuständige Minister nach Absprache mit dem jeweiligen Generaldirektor des Wirtschaftssektors gewährt. Zentral für die wettbewerbsfördernde Regulierung ist die Preisgestaltung, die dem Generaldirektor obliegt. Dieser muß sich mit den Vertretern der jeweiligen Industrie einigen. Die Preisgestaltung richtet sich nach der sog. RPI-X-Formel (Retail Price Index), die so gestaltet wird, daß sie Anreize zu Neuinvestitionen und vorausschauendem und effizientem Planen bietet. Dabei ergibt sich der Preis, den die jeweiligen Unternehmen verlangen dürfen aus einem Einzelhandelspreis-Index, den die Firmen jährlich um einen Prozentsatz X senken müssen. Können die Unternehmen ihre Kosten weiter als die durch den Faktor X vorgeschriebene Kostensenkung reduzieren, machen sie Gewinne in Höhe der Differenz zwischen ihren Grenzkosten und den durch RPI-X vorgesehenen Preisen.12 Für den Fall, daß sich die Industrie mit dem jeweiligen Generaldirektor nicht auf eine RPI-X-Formel einigen kann, wird die Angelegenheit vor die Monopolies and Mergers Commission gebracht, die eine Untersuchung durchführt und feststellen kann, daß der status quo gegen das öffentliche Interesse 9 Vgl. zum Verhältnis der Organe untereinander MacKerron / Boira-Segarra, Regulation, S. 96 ff. 10 Prosser, Privatisation, Regulation and Public Services, S. 9 ff. 11 Vgl. Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 14. 12 Vgl. Baldwin / Cave, Understanding Regulation (Price-Capping Mechanisms), S. 225 ff. m. w. N.; Politt, A Survey of the Liberalization of Public Enterprises in the UK since 1979, S. 132 ff.
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
verstößt. Der Generaldirektor ist dann verpflichtet, angemessene Veränderungen vorzunehmen. Eine darüberhinaus gehende Bindungswirkung an Vorgaben der MMC besteht jedoch nicht. Schließlich ist noch auf den großen Einfluß des zuständigen Fachministers hinzuweisen. Er ernennt die Generaldirektoren und diese sind ihm gegenüber verantwortlich. In einigen Wirtschaftsbereichen hat der Minister erheblichen Einfluß auf die Lizenzgestaltung für Neueinsteiger (Telekommunikation), in anderen Bereichen kann er Lizenzänderungen verhindern (Strom).13
c) Traditionelle Regulierung in Großbritannien, das Modell „Regulation UK Style“ und die Wirklichkeit: Kritik Vergleicht man die Arten staatlicher Steuerung nach dem erwähnten traditionellen und dem gerade beschriebenen jüngsten Modell des „Regulatory State“, so erscheint zunächst die Veränderung in der Tat groß. Der Staat hat sich durch Privatisierung von seiner unmittelbaren wirtschaftlichen Tätigkeit gelöst, die Aufsichtsbefugnisse werden von unabhängigen Regulierungsbehörden wahrgenommen, die Beziehungen zwischen Regulierer und Regulierten sind auf verschiedene Weise explizit und transparent geregelt (Lizenzen, Verfahren bei Lizenzänderungen) und damit der traditionell große Ermessensspielraum ministerieller Verwaltung in Großbritannien stark eingeschränkt und sogar justitiabel. Allerdings sind hier erhebliche Einschränkungen zu machen. Wie bereits angedeutet, verbleiben ganz bedeutsame Einflußmöglichkeiten beim zuständigen Fachminister. Nicht nur die Ernennung des Chefs der Regulierungsbehörden und verschiedene gesetzlich festgelegte Einflußmöglichkeiten, sondern auch die tatsächliche Einmischung in das Tagesgeschäft der Regulierer in der Vergangenheit zeigen, daß das Modell des „Regulatory State“ die britische Verwaltungstradition von Ermessen, Informalität und mangelndem Rechtsschutz nur in begrenztem Umfang zu brechen vermag.14
4. Die Begriffe „Government“ und „State“ Abschließend sei noch auf ein begriffliches Phänomen der britischen Wissenschaften, die sich mit dem Staat beschäftigen, hingewiesen. Während man in der deutschen Debatte von „dem Staat“ als Synonym für die öffentliche Hand in der Form des Bundes, der Länder oder der Kommunen spricht, so wird in der britischen Debatte „the State“ häufig nicht als Pendant benutzt. Vielmehr ist es die Bezeichnung „Government“, die für die Steuerung von Politik und Wirtschaftsprozessen durch die öffentliche Hand benutzt wird. Insofern kommen dem Begriff „Government“ zwei Bedeutungsinhalte zu. Zum einen die mit dem deut13 14
Vgl. Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 14. Vgl. Loughlin / Scott, The Regulatory State, S. 218 f.
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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schen Begriff „Staat“ vergleichbare Bedeutung des allgemeinen Tätigwerdens der öffentlichen Hand, worunter jede Art der Steuerung fällt, auch durch Parlament und Gerichte. Zum anderen diejenige Bedeutung, die im deutschen mit „Regierung“ übersetzt würde, das heißt die Tätigkeit der Exekutive. Diese Unterscheidung wird etwa im Verfassungs- und Verwaltungsrechtsbuch von Bradley / Ewing deutlich, die Teil II ihres Buches mit „The Institutions of Government“ betiteln und darunter neben der Regierung auch Parlament, Krone, öffentliche Behörden, Armee und Gerichte fassen. Um eine abschließende Bewertung der Veränderung der staatlichen Rolle im Stromsektor von einem „Providing“ zu einem „Regulatory State“ treffen zu können, muß die rechtliche und wirtschaftliche Organisation des Stromsektors vor und nach den entscheidenden Veränderungen gegenübergestellt werden. Dabei gilt das Augenmerk zunächst der Aktivität des Staates in der Wirtschaft ganz allgemein in Form von öffentlichen Unternehmen.
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung 1. Entwicklung öffentlicher Unternehmen in Großbritannien Wie in Deutschland und dem restlichen Europa, so haben auch in Großbritannien öffentliche Unternehmen eine lange Tradition. Erst mit dem insbesondere durch Adam Smiths Theorien vorangebrachten Wirtschaftsliberalismus entwickelte sich die Wirtschaft überwiegend auf privater Basis. Hinsichtlich der Infrastrukturunternehmen wie Straßenbahnen, Post, Telekommunikation, Eisenbahn, Strom, Wasser und Gas, die alle Netzwerkindustrien sind, lassen sich fünf Phasen der Entwicklung der Eigentumsstrukturen unterscheiden:15 Fragmentisierung, Kommunalisierung, Rationalisierung, Nationalisierung und Privatisierung. In der ersten Phase, der Fragmentisierung zwischen den 1820er und 1860er Jahren entwickelten sich Eisenbahn-, Telegraphen-, Gas- und Wasserunternehmen in privater Form und weitgehend ohne bzw. unter sehr ineffektiver staatlicher Regulierung durch Parlamentsverträge. Das Fehlen staatlicher Regulierung und staatlicher Kontrolle in den Netzwerkindustrien führte bald zu Fusionen, Gebietsabsprachen und kommunalen privaten Monopolen auch mit der Folge der Verschlechterung der Versorgung. Unter anderem um Letzterem entgegenzuwirken aber auch zur Einnahmeerzielung zwecks Finanzierung anderer kommunaler Dienste, begannen sich die Kommunen stärker in diesen Wirtschaftsbereichen zu engagieren. Diese Phase der Kommunalisierung zwischen den 1860er Jahren und dem 1. Weltkrieg führte dazu, daß gegen 1907 ca. 80% der Wasserunternehmen, 60% der Strom- und Straßenbahnunternehmen und 40% der Gasunternehmen in kommuna15 Vgl. zum Ganzen Foreman-Peck / Millward, Public and Private Ownership of British Industry, S. 4 ff.; ähnlich Foster, Privatization, S. 15 ff.
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
lem Eigentum standen.16 Die Phase der Rationalisierung in der Zwischenkriegszeit wurde ausgelöst durch wirtschaftlichen Niedergang in Großbritannien und die Einsicht in die Ineffizienz der immer noch stark fragmentarischen Netzwerkindustrien. Gute Erfahrungen mit staatlicher Regulierung während des 1. Weltkrieges lösten in der Zwischenkriegszeit eine Phase aus, in der durch gesetzliche Regelungen zahlreiche Netzwerke landesweit ausgebaut und stärkerer staatlicher Kontrolle zugänglich gemacht wurden, ohne jedoch generell öffentliches Eigentum einzuführen.17 Letzteres geschah in der Phase der Nationalisierungen in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1985. Damit verfolgten insbesondere die Labour-Regierungen die Ziele des Wiederaufbaus der britischen Wirtschaft und der Einkommensverteilung innerhalb der Gesellschaft. Aber auch diese Phase wurde aufgrund verschiedener Mängel des Systems von neuen Formen der Eigentumsstruktur abgelöst. Seit den 1980er Jahren begann die Phase der Privatisierungen, die bis heute andauert.
2. Geschichtliche Entwicklung der Stromwirtschaft in Großbritannien im Überblick Die fünf vorgestellten Phasen lassen sich auf die Geschichte der britischen Stromwirtschaft18 übertragen: Während der Zeit der Fragmentisierung und Kommunalisierung konzentrierte sich die Nachfrage nach Strom wie in Deutschland auf Straßenbeleuchtung und Straßenbahnen. Entsprechend dieser Interessenlage entwickelte sich eine stark fragmentierte Eigentümer- und Netzstruktur zunächst privater, später auch kommunaler Betreiber. Diese Strukturen konnten die steigende Nachfrage nach Elektrizität und insbesondere die dadurch erforderlichen Koordinierungsaufgaben im Bereich Erzeugung, Übertragung und Versorgung nicht befriedigen. Nach langen Debatten und erheblichen Versorgungsschwierigkeiten während des ersten Weltkrieges, die zur vorübergehenden Koordinierung durch die öffentliche Hand führte, einigte man sich schließlich auf den Electricity Act 1926. Dieser schuf das Central Electricity Board (CEB) mit der Aufgabe, das erste landesweite Netz von Hochspannungsleitungen zu bauen und zu betreiben sowie kommunale und private Erzeuger zu koordinieren. Das CEB war ein öffentliches Unternehmen, nach dem Vorbild der BBC, jedoch mit stärkerer kommerzieller Ausrichtung19. Es war verantwortlich für Finanzierung und Betrieb sowie technische Sicherheit und Kontinuität der Versorgung. Ein System der „merit order“ konzentrierte die Abnahme des Stroms auf die effizientesten Kraftwerke. Das Hochspannungsnetz wurde 1933 fertiggestellt. Diese zweite Phase der Entwicklungsgeschichte führte Vgl. Foreman-Peck / Millward, Public and Private Ownership of British Industry, S. 5 f. Vgl. Foreman-Peck / Millward, Public and Private Ownership of British Industry, S. 6. 18 Vgl. zur Entwicklung des Stromsektors insgesamt Hannah, Electricity Before Nationalisation; Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 31 ff. 19 Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 33. 16 17
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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zu erheblichen Effizienzsteigerungen, ohne allerdings die Eigentümerstrukturen im Bereich der Erzeugung und Verteilung zu verändern. Deshalb kann man sie als Zeit der Rationalisierung bezeichnen20. Dieser Phase folgte nach dem 2. Weltkrieg die Nationalisierung. Die starke Fragmentisierung der Stromerzeugung wurde mehr und mehr als Hindernis für die Entwicklung einer schlagkräftigen Stromwirtschaft angesehen. Insbesondere die positiven Erfahrungen mit der staatlichen Koordinierung in der Kriegszeit sowie durch das CEB, aber auch die Erfahrungen mit Fehlschlägen anderer Regulierungsmodelle vor allem im Bereich der Eisenbahn21 überzeugten viele von der Notwendigkeit zur Nationalisierung22. Sie erfolgte durch den Electricity Act 1947. Alle 537 anerkannten Stromerzeuger wurden in nationales Eigentum überführt. Durch §§ 1, 2 Electricity Act 1957 wurde das CEB, das seit 1947 Central Electricity Authority (CEA) hieß, durch das Central Electricity Generation Board (CEGB) ersetzt. Seine Aufgabe war nach § 2 (5) Electricity Act 1957 die Erzeugung und Übertragung von Energie über die Hochspannungsnetze, während zwölf Area Boards in England und Wales sowie zwei in Schottland für die regionale Verteilung über Niedrigspannungsnetze und die Endversorgung verantwortlich waren. Darüberhinaus wurde durch § 3 Electricity Act 1957 ein Electricity Council eingerichtet, dessen Aufgabe in der Beratung der Regierung in Energiefragen bestand. Dieses Beratungsgremium setzte sich aus den Vorstandsvorsitzenden des CEGB, der Area Boards und sechs anderen ständigen Mitgliedern zusammen. Diese neu geschaffene Struktur der Stromwirtschaft bestand bis zur bisher letzten Phase, der Privatisierung des Stromsektors durch den Electricity Act 1989. 3. Das Rechtsregime im Stromsektor vor der Deregulierung 1989 Wie bereits hinsichtlich der europäischen und der deutschen Regelungen des Stromsektors bietet sich auch beim britischen Stromsektor eine Unterscheidung in wettbewerbsbezogene, das sind entweder wettbewerbsersetzende oder wettbewerbsfördernde Regelungen einerseits, und gemeinwirtschaftliche Regelungen andererseits an. Dies entspricht im Gegensatz zu Deutschland einer in Großbritannien weiter verbreiteten Einteilung in „economic“ oder „competitive“ und „social regulation“.23 Diese Unterscheidung entspricht den oben beschriebenen beiden Pflichten der Generaldirektoren, einerseits den Wettbewerb zu fördern, andererseits für die Bereitstellung von Universaldienstleistungen zu sorgen. Damit werden die einander oft entgegengesetzten Ziele der Regulierungsbehörden verdeutlicht. Insofern sorgt die Unterscheidung für erhöhte Transparenz in der öffentlichen Debatte, aber auch beim internen Entscheidungsprozeß innerhalb der Regulierungsbehörden. 20 Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 33; ForemanPeck / Millward, Public and Private Ownership of British Industry, S. 4 – 7. 21 Foster, Privatization, S. 88 – 95. 22 Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 36. 23 Vgl. Prosser, Law and the Regulators, S. 5 f. und 16 f.
17 Ruge
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
a) Wettbewerbsersetzende Regeln aa) Eigentumsstruktur Durch den Electricity Act 1947 wurde die gesamte Stromwirtschaft verstaatlicht. Die zum Zeitpunkt der Verstaatlichung bestehenden 537 Stromunternehmen wurden sämtlich in staatliches Eigentum überführt. Den 180 Eigentümern privater Stromunternehmen wurde eine Entschädigung von insgesamt 351 Mio. Pfund gezahlt, den 357 kommunalen Unternehmen eine Barauszahlung in Höhe von 5 Mio. Pfund gewährt, als Ausgleich für die Umgestaltung ihrer kommunalen Aktivitäten ohne die Stromversorgung. Erzeugung und Transport von Strom übernahm das BEA, später das CEGB, Verteilung und Endversorgung die Area Boards, deren Vorstände vom zuständigen Fachminister ernannt wurden und an dessen allgemeine Weisungen sie gebunden waren.
bb) Investitionsentscheidungen Nach der Verstaatlichung der Stromwirtschaft 1947 bestanden zunächst Pläne, die Stromunternehmen als von der Regierung unabhängige Unternehmungen zu führen. Diese Pläne wurden jedoch nicht verwirklicht. Vielmehr wurden durch verschiedene Gesetze den zuständigen Ministerien die entscheidenden Handlungsund Kontrollbefugnisse übertragen.24 So verpflichtete bereits der Ministry of Fuel and Power Act 1945 in § 1 (1) den zuständigen Minister, die Bewirtschaftung der Endversorgung, der Verteilung, der Nutzung und des Verbrauchs von Treibstoff und Strom zu fördern. Dies bedeutete, daß der Minister die Versorgungssicherheit, die verwendeten Energiequellen, die Ausgeglichenheit der Zahlungen und alle anderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und menschlichen Folgen der Energiepolitik zu überwachen hatte. Weitere speziellere Befugnisse waren in den verschiedenen Electricity Acts von 1947, 1957 und 1983 niedergelegt. So enthielt etwa § 8 Weisungsrechte des zuständigen Ministers gegenüber den Electricity Boards und dem Council. Die Gesetze verpflichteten das CEGB dazu, jede angemessene Nachfrage nach Strom zu befriedigen. Der zuständige Fachminister entschied über die Besetzung der Vorstände der CEGB und der Area Boards, gab dem Vorstand allgemeine Anweisungen und hatte das Letztentscheidungsrecht über Investitionen und Kreditaufnahme zu deren Finanzierung.25 Auch wenn die alltägliche Geschäftsführung nicht durch das Ministerium, sondern durch den Vorstand wahrgenommen wurde, blieb das Ministerium durch die genannten weitreichenden Befugnisse unmittelbar verantwortlich für die Energiewirtschaft.
24 25
Chesshire, UK Electricity Supply Under Public Ownership, S. 19 f. Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 38 f.
II. Der Stromsektor bis zur Deregulierung
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cc) Preisgestaltung Vor der Verstaatlichung bestanden in Großbritannien eine große Anzahl verschiedener Tarife, die von den vielen privaten und kommunalen Unternehmen erhoben wurden. Die Standardisierung und Vereinfachung dieser unübersichtlichen Preisgestaltung war eine durch den Electricity Act 1947 festgelegte gesetzliche Verpflichtung.26 Allerdings wurde auch die Preisgestaltung der verstaatlichten Stromwirtschaft im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenziert. Die Grundstruktur der Preisgestaltung bestand einerseits aus dem Großhandelspreis Bulk Supply Tariff (BST) des CEGB, andererseits aus den Einzelhandelspreisen der Area Boards. Im Rahmen des BST stellte die CEGB seine Kosten für Erzeugung, Übertragung und die Bereithaltung von Reservekapazitäten zusammen und berechnete diese den Area Boards als Abnehmern. Diese wiederum addierten ihre Kosten für ihre Versorgungsdienstleistungen, z. B. Stromzählerinstallation, -wartung und -ablesung, Störungsdienst, Abrechnung usw., zu den jeweiligen BST und verkauften zu einem entsprechend höheren Preis den Strom an die Haushalts-, Geschäfts- und Industriekunden.27 Bezüglich der Festsetzung dieser Preise, die durch das CEGB und die Area Boards erfolgte, war wie auch bei den Entscheidungen über Investitionen das zuständige Ministerium ausschlaggebend, so daß auch hier ein unmittelbarer staatlicher Einfluß bestand.
b) Gemeinwirtschaftliche Regeln („Social Regulation“) aa) Anschluß- und Versorgungspflicht Auch in Großbritannien ist eine der zentralen gemeinwirtschaftlichen Regelungen die Anschluß- und Versorgungspflicht („duty to supply“). Diese hat bereits eine lange Geschichte in der Strom-Gesetzgebung.28 So regelte der Electricity Act 1882 in § 19: „Where a supply of electricity is provided in any part of an area for private purposes, then except in so far as it is otherwise provided [. . .], every company or person within that part of the area shall, on application, be entitled to a supply on the same terms on which any other company or person in such part of the area is entitled under similar circumstances to a corresponding supply“.
Hierdurch wird die Anschluß- und Versorgungspflicht garantiert und diskriminierendes Verhalten bezüglich der Preise verboten. Der Electric Lighting (Clause) Act 1899 griff diese Idee auf und konkretisierte sie insofern, als der Unternehmer Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 52. Chesshire, UK Electricity Supply Under Public Ownership, S. 26. 28 Vgl. McAuslan / McEldowney, A Legal Framework for Privatised Electricity Supply, S. 178 – 182; Prosser, Law and the Regulators, S. 149. 26 27
17*
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
zur Versorgung in Reichweite seiner Hauptleitungen verpflichtet wurde. In § 27 (1) heißt es dazu: „The basic duty is to give and to continue to give a supply of energy to premises [ . . . ]“.
Der Electricity Act 1947 nahm in § 57 (2) die Vorschriften des Electric Lighting (Clause) Act 1899 einschließlich einer Anschluß- und Versorgungspflicht auf Verlangen auf. Der Energy Act 1983 übernahm in § 13 eine Anschluß- und Versorgungspflicht für öffentliche Versorger mit der Ausnahme bereits bestehender Privatversorgung. Zusätzlich verpflichtete § 16 den zuständigen Minister, eine regelmäßige Stromversorgung durch die Electricity Boards und andere Personen zu gewährleisten. bb) Verbraucherschutz und „Disconnections“ Das Verstaatlichungsgesetz von 1947 enthielt Regelungen, die Beratungs- oder Verbraucherräte einrichteten. 29 Deren Vorsitzende waren Mitglieder in den regionalen Electricity Area Boards. Um Verbraucherinteressen im Stromsektor auch auf nationaler Ebene zu fördern, wurde 1977 der Electricity Consumers’ Council (ECC) gegründet. Er bestand aus den 12 Vorsitzenden in den regionalen Area Boards und anderen vom zuständigen Minister ernannten Mitgliedern. Durch die §§ 21, 22 Energy Act 1983 wurde das ECC institutionalisiert. Zu seinen Hauptaufgaben zählten so grundlegende Tagesfragen wie Zahlungsrückstand von Kunden und die Problematik der Abschaltung von Stromanschlüssen („disconnections“). Darüberhinaus mischte sich der ECC auch in politisch sensiblere Debatten über Preisgestaltung, Finanzkontrolle, Sicherheitsstandards und neue Investitionen ein. cc) Versorgungssicherheit § 2 (5) Electricity Act 1957 und § 16 (1) Energy Act 1983 übertrugen dem CEGB und den Area Boards verschiedene Pflichten in Bezug auf Versorgungssicherheit.30 Dazu zählte in erster Linie die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines effizienten, koordinierten, ökonomischen und verläßlichen Versorgungssystems sowie der technischen Sicherheit zur Vermeidung von Personenschäden. Dem Erzeuger CEGB wurden verschiedene Maßgaben zur Versorgungssicherheit aufgegeben, die für die Vorhersagen, Systemplanung und Investitionen bestimmend waren. Um höhere Einfuhrunabhängigkeit hinsichtlich der Erdölwirtschaft zu erreichen, förderte die britische Regierung durch verschiedene Maßnahmen den Ausbau der nationalen Atomwirtschaft.31 Vgl. zum Ganzen Chesshire, UK Electricity Supply Under Public Ownership, S. 21 f. Vgl. zum Ganzen Chesshire, UK Electricity Supply Under Public Ownership, S. 19. 31 Vgl. McKerron, Nuclear Power Under Review, S. 138 ff.; Newberry / Green, Regulation, Public Ownership and Privatisation, S. 47 ff. 29 30
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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dd) Umweltschutz Als umweltschützende Maßnahmen wurden durch § 19 Energy Act 1983 die Electricity Boards verpflichtet, Programme zur Einführung von Kraft-WärmeKopplung („combined heat and electricity“) zu unterstützen und aufzulegen.
4. Fazit: Der britische Staat als „Providing State“ Betrachtet man abschließend die verschiedenen Regelungen im Stromsektor, so wird deutlich, daß der Staat seit der Nationalisierung bis zur Deregulierung 1989 die entscheidende Rolle im Energiesektor spielte. Dies wird eindrucksvoll durch die neu entstandene Eigentumsstruktur an der gesamten Stromwirtschaft deutlich, die zuvor gemischtwirtschaftlich und dezentral war und durch die Verstaatlichung vollkommen in Staatseigentum überging. Dies bedeutete den unmittelbaren Einfluß der zuständigen staatlichen Stellen auf Erzeugung, Transport und Verteilung sowie auf die Bedingungen, zu denen versorgt wurde. Hierbei ist vor allem die Preisgestaltung und die Entscheidungsbefugnis für Investitionen in Neu- und Ausbau von Anlagen zu nennen. In beiden Bereichen bestand nicht lediglich eine Aufsicht, sondern ein unmittelbares Mitspracherecht des zuständigen Ministers. So war die gesamte Stromwirtschaft der Leitung des zuständigen Ministers unterstellt. Anders als in der deutschen Stromwirtschaft wurde also der Staat unmittelbar in der Stromwirtschaft tätig. Diese Situation entspricht dem oben gekennzeichneten „Providing State“.
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung 1. Das politische Umfeld: Politik der Privatisierung und Deregulierung in Großbritannien Nachdem die Entwicklung der öffentlichen Unternehmen, die Struktur und das Rechtsregime der Stromwirtschaft in Großbritannien bis zur Deregulierung dargestellt wurden, wird dem die bestehende Situation gegenüber gestellt. Dabei wird deutlich, daß ein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Zunächst wird nach Ursachen der neuen Vorstellungen zur Rolle des Staates in der Wirtschaft gesucht (a). Daran schließt sich eine Darstellung der Ziele und Gründe der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik (b) sowie der tatsächlichen Umsetzung dieser Vorhaben (c).
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
a) Ursachen der Diskussion in Großbritannien Wie bereits in Bezug auf die Privatisierungs- und Deregulierungsdebatte in Deutschland festgestellt, lassen sich verschiedene Erklärungen als Auslöser für den Paradigmenwechsel im Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit des Staates finden. Das bereits oben gebrauchte „Dinosaurier“-Modell läßt sich ebenso auf Großbritannien anwenden. Die erste der vier möglichen Kategorien von Erklärungsversuchen für Paradigmenwechsel ist danach die Kraft neuer Ideen. Die bereits erwähnte wirtschaftspolitische und ideologische Debatte in den USA über das Versagen keynesianistischer Wirtschaftspolitik32 beeinflußte stark und geringfügig früher als in den anderen europäischen Staaten das intellektuelle Klima in Großbritannien. Seit der Mitte der 1970er Jahre erfaßte sie die Konservative Partei, die sich seit längerem in der Opposition befunden hatte und lange Zeit heillos zerstritten war. Über die Forderung nach Privatisierung öffentlicher Unternehmen und das damit verbundene Zurückdrängen des Staates zugunsten der Privatwirtschaft sowie das Zurückdrängen der durch die öffentlichen Unternehmen äußerst mächtigen Gewerkschaften, radikalisierte sich die Konservative Partei und es gelang ihr, sich dadurch ein schärferes Profil zu verschaffen. Auch wenn sich im Wahlprogramm 1979 der Konservativen kein Hinweis auf Privatisierungspläne fand, so war dieses Thema Teil der politischen Debatte und sicherlich mitverantwortlich für einen konservativen Wahlerfolg Margaret Thatchers im Jahr 1979, die in den 1980er Jahren begann, ihre Privatisierungspolitik zu gestalten.33 Die weiteren Erklärungsvarianten unterscheiden sich nur wenig von der Situation in Deutschland.34 Hinsichtlich des Auftretens neuer Interessenlagen waren auch in Großbritannien Zwänge und Chancen der sich ausbreitenden Weltwirtschaft zu spüren. Privatisierung und Deregulierung wurden als angemessene Antworten der Wirtschaftspolitik auf die neuen Herausforderungen angesehen. Gleiches galt für das Auftreten neuer Technologien wie etwa im Bereich der Telekommunikation, deren Entwicklung und Verbreitung durch Marktöffnung ganz wesentlich gefördert wurde. Schließlich gilt auch für die sog. selbstzerstörerische Kraft wirtschaftspolitischer Systeme das oben Gesagte. Die – unterstellte – Ineffizienz und -vermeintlich- auf öffentliches Eigentum zurückzuführende Überschuldung öffentlicher Haushalte trug wesentlich dazu bei, die wirtschaftspolitische Debatte über Privatisierung und Deregulierung als Mittel monetaristischer Wirtschaftspolitik zu befördern. Aus der durch diese unterschiedlichen Faktoren ausgelösten Debatte ergaben sich verschiedene Ziele und Begründungen für die allgemeine Politik der Privatisierung in Großbritannien. Siehe oben E.III.1.a). Vgl. zum Ganzen Steel / Heald, The New Agenda, S. 14 ff.; Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 40 ff. 34 Vgl. oben E.III.1.a) und b). 32 33
III. Der Stromsektor seit der Deregulierung
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b) Ziele und Gründe der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik Es lassen sich grob gesprochen zwei Gruppen von Zielen oder Argumenten unterscheiden, die mehr oder weniger Gegenstand der öffentlichen Debatte waren.35 Während die wirtschaftlichen Argumente im Mittelpunkt standen, wurden verschiedene politische Argumente nicht sehr offen diskutiert. Hierzu gehörte insbesondere das politische Ziel, den Einfluß der starken Gewerkschaften zurückzudrängen. Zwei wirtschaftliche Argumente standen im Zentrum der Ziele der Privatisierungspolitik in Großbritannien. Zum einen strebte man in finanzwirtschaftlicher Sicht durch Privatisierung die Senkung der Staatsverschuldung an. Zusätzliche Einnahmen aus dem Verkauf öffentlicher Unternehmen sollten hierzu beitragen. Außerdem erhoffte man sich, durch die Ausgliederung verlustreicher öffentlicher Unternehmen die Kosten für deren Finanzierung einzusparen und notwendiges Kapital für Neuinvestitionen in den betroffenen Bereichen einfacher auf dem Kapitalmarkt erlangen zu können.36 Andererseits herrschte in betriebswirtschaftlicher Hinsicht die Meinung vor, daß private Unternehmen wesentlich effizienter seien als öffentliche, was insbesondere auf einen Mangel an wirksamer wirtschaftlicher und finanzieller Kontrolle der öffentlichen Unternehmen zurückgeführt wurde.37 Die Einführung des Wettbewerbs spielte in den beinahe ersten zehn Jahren eine nur untergeordnete Rolle im Rahmen der neuen Politik.38 Im Vordergrund stand vielmehr in politisch-ideologischer Weise das Argument, daß Privatisierung durch Stärkung des Marktes und Zurückdrängen des Staates die individuelle Freiheit stärken würde.39 Ein weiteres populäres politisches Ziel der Privatisierung war die Vergrößerung der Zahl der Grundbesitzer und Aktieninhaber. Mit dem – unscharfen – Schlagwort der „property-owning democracy“ wurde für den Rückzug öffentlichen Eigentums zugunsten Privateigentums durch Privatisierung geworben.40 Es ist offensichtlich, daß durch eine derartige Zielsetzung ganz bestimmte Adressaten angesprochen wurden. Mit dieser Erkenntnis stößt man auf einen Bereich von Zielsetzungen der Privatisierung, die politisch motiviert, aber wenig deutlich, wenn überhaupt in der öffentlichen Debatte der frühen 1980er Jahre ausgesprochen wurden. So läßt sich der zuletzt genannte Punkt einleuchtend mit dem Ziel der 35 Vgl. zum Ganzen Foster, Privatization, S. 102 ff.; Politt, A Survey of the Liberalization of Public Enterprises in the UK since 1979, S. 120 ff.; Kritisch gegenüber den Zielen der Privatisierung Kay / Thompson, Privatisation: A Policy in Search of a Rationale. 36 Vgl. Heald, Privatization and Public Money, S. 21 ff.; Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 4 f.; Heald, Will the Privatization of Public Enterprises Solve the Problem of Control? 37 Vgl. Steel / Heald, The New Agenda, S. 15. Dazu auch oben B.II.2. 38 Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 5. 39 Steel / Heald, The New Agenda, S. 15; ausführlich Wiltshire, Privatization: The British Experience. 40 Vgl. Dobek, Privatization as a Political Priority, S. 29 f.
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Konservativen erklären, typische ihnen nahestehende Wählerschichten, traditionell in der Mittel- und Oberschicht zu finden, zu mobilisieren, um dadurch den lang ersehnten Wahlsieg zu erringen. Besonderes Gewicht hatte auch das politische Ziel des Zurückdrängens der Gewerkschaften, die insbesondere im öffentlichen Sektor einen außerordentlich starken Einfluß besaßen, nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Eigentums an allen wesentlichen Unternehmen der Versorgungswirtschaft wie Telephon, Strom, Gas und Wasser, was insbesondere der Waffe des Streiks im Arbeitskampf ganz besondere Wirkung verlieh, da durch Streiks in diesen Bereichen die gesamte Bevölkerung getroffen wurde.41
c) Politische Umsetzung der allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik Die Regierung konnte, zunächst unter Margaret Thatcher, später unter John Major, die benannten Ziele weitgehend umsetzen. So wurde etwa in der Hauptphase der Privatisierungen zwischen 1984 und 1989 insgesamt 37 Mrd. britische Pfund eingenommen. Gemessen an den gegenwärtigen Jahreseinnahmen des Finanzministeriums i.H.v. ca. 170 Mrd. Pfund ist dies allerdings ein nicht allzu großer Beitrag.42 Auch die „property-owning / share-owning democracy“ wurde erfolgreich angegangen. So wurde durch die Housing Acts 1980, 1984 und 1986 den Mietern kommunaler Wohnungen („Council Housing“) ein Recht auf Kauf zu günstigen Konditionen eingeräumt, was zu einer Ausweitung von Wohnungseigentum von bisher 55% auf über 66% führte.43 Die Einnahmen flossen zwar nicht dem Staatshaushalt, sondern den Kommunen zu, allerdings konnte der Staat dadurch seine Zuschüsse an die Kommunen senken und so letztlich noch seinen Haushalt entlasten.44 Hinsichtlich der Aktien wurde die Politik verfolgt, durch niedrige Ausgabepreise den Aktienkäufern rasch Gewinne zu ermöglichen. Daneben wurde durch Steuervergünstigungen der Erwerb von Aktien durch Angestellte des jeweiligen Unternehmens gefördert. Beides trug erheblich zum rasanten Anstieg der absoluten Zahl der Aktieninhaber von 3 Mio. 1979 auf 11 Mio. 1991 bei. Gleichzeitig sank jedoch die relative Zahl der Kleinanleger im Vergleich mit institutionellen Großanlegern mindestens ebenso rasant.45 Schließlich wurde auch das Ziel erreicht, den Einfluß der Gewerkschaften zurückzudrängen. Vor der Privatisierung im Jahre 1980 war der Organisationsgrad der Gewerkschaften in öffentlichen Unternehmen bei über 90%, in privaten Unter41 Vgl. Dobek, Privatization as a Political Priority, S. 36 ff.; Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 41 f.; Thomas, The Union Response to Denationalization. 42 Vgl. Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 41 f. 43 Vgl. Dobek, Privatization as a Political Priority, S. 30 ff. 44 Vgl. Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 41. 45 Vgl. Dobek, Privatization as a Political Priority, S. 32 ff.; Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 41.
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nehmen bei weniger als 40% für Angestellte und ca. 70% für Arbeiter. Durch die Überführung zahlreicher öffentlicher Unternehmen in Privateigentum und die damit verbundene Aufspaltung der gewerkschaftlichen Organisationen in viele verschiedene Firmen wurde der Einfluß der Gewerkschaften erheblich eingeschränkt. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder nahm insgesamt zwischen 1981 und 1991 um 3 Mio. ab.46 Die Umsetzung der Privatisierung durch die Veräußerung der öffentlichen Unternehmen als ganze oder von Anteilen an diesen Unternehmen läßt sich in drei Phasen einteilen. Die erste Phase verlief eher zögerlich und war wenig Aufsehen erregend. Zwischen 1979 und 1984 wurden verschiedene Firmen veräußert, die bereits vor der Privatisierung im Wettbewerb zu anderen Firmen, meist auf internationalen Märkten, standen. Beispielhaft seien genannt Britoil, British Petroleum und Cable and Wireless. Die Einnahmen aus diesen Verkäufen blieben insgesamt relativ gering bei ca. 2,2 Mrd. Pfund. Wenig Aufsehen erregten die Verkäufe deshalb, da sie sich in das Bild eines Regierungswechsels von Labour zu den Konservativen fügten, bei dem in schöner Regelmäßigkeit Verstaatlichungen bzw. Privatisierungen kleineren Ausmaßes stattfanden.47 Hingegen war die zweite Phase der Privatisierungen zwischen 1984 und 1986 wesentlich umfangreicher und umstrittener. Mit der Privatisierung von British Telecom 1984 und British Gas 1986 wurden erstmals öffentliche Versorgungsunternehmen privatisiert. Kennzeichnend für diese Sektoren waren sog. natürliche Monopole48. In dieser Phase der Privatisierung fand keine Restrukturierung der jeweiligen Märkte statt, die Unternehmen wurden als ganze verkauft, was die Entfaltung von Wettbewerb de facto unmöglich machte. Daran schloß sich ab 1986 die dritte Phase, die die heftigsten Kontroversen auslöste. Hierbei standen die als lebensnotwendig angesehenen Versorgungszweige der Wasserversorgung, der Eisenbahn, des Busfernverkehrs, der Kohle- und Stahlindustrie und der Stromversorgung sowie der Post auf der Privatisierungsliste. Während das nationale Busunternhmen National Express und British Steel 1988 und die Wasserindustrie 1991 privatisiert wurden, die British Coal 1994 und die Stromwirtschaft teilweise und nur nach und nach, zuletzt 1995 die National Grid Company als Übertragungsnetzbetreiberin, widerstand das Post Office 1993 der Privatisierung. Kennzeichnend für diese letzte Phase der Privatisierungen ist eine mit der Privatisierung einhergehende oder sogar der Privatisierung vorausgehende Restrukturierung der Wirtschaftssektoren, um die Entfaltung von Wettbewerb zu ermöglichen. Diese Vorgehensweise hatte sich aufgrund schlechter Erfahrungen mit der reinen Privatisierung ohne Neuordnung der Märkte in den Bereichen Telekom und Gas entwickelt.49
46 47 48 49
Vgl. Dobek, Privatization as a Political Priority, S. 36 ff. Vgl. Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 42 f. Vgl. dazu oben B.III.2.a.cc. Vgl. Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 43 ff.
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2. Deregulierungspolitik im Stromsektor Mit den Ausführungen zur allgemeinen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik in Großbritannien ist der Rahmen deutlich geworden, in dem sich die Deregulierung und Privatisierung des Stromsektors bewegte. Zu den allgemeinen Unterhaus-Wahlen 1987 traten die Konservativen mit dem Wahlversprechen an, den Stromsektor zu privatisieren, ohne jedoch etwas über die Form zu sagen, in der dies geschehen sollte.50 Ihre ersten konkreten Vorstellungen stellten sie im Regierungsentwurf White Paper: Privatising Electricity 198851 vor, der ganz wesentlich auf zwei privaten Studien des Centre for Policy Studies beruhte.52 Im Entwurf wurden sechs Grundsätze für die Privatisierung der Stromwirtschaft aufgestellt: (1) Entscheidungen über die Stromversorgung sollen auf den Bedürfnissen der Verbraucher beruhen, (2) Wettbewerb ist die beste Garantie zugunsten der Verbraucherinteressen, (3) Regulierung soll derart gestaltet sein, daß sie Wettbewerb fördert, auf die Preisgestaltung Einfluß haben kann und die Verbraucherinteressen in den Bereichen schützt, die weiterhin ein natürliches Monopol bleiben, (4) Die Versorgungssicherheit muß aufrechterhalten werden, (5) Kunden sollten neue Rechte erhalten, nicht bloß Absicherungen und (6) Alle in der Stromindustrie Beschäftigten sollen eine direkte Möglichkeit zur Mitgestaltung ihrer Zukunft, neue Karrieremöglichkeiten und die Freiheit zur Gestaltung ihrer Geschäftsangelegenheiten ohne staatliche Einflußnahme erhalten. Der Regierungsentwurf enthielt bereits die wesentlichen später umgesetzten Vorschläge wie die Restrukturierung des Stromsektors durch die Aufspaltung der staatlichen Strukturen und die Einrichtung eines Strom-Pools. Erhebliche Änderungen erfuhren im Verlauf des Reformprozesses die im Regierungsentwurf vorgesehenen Strukturen für Kernkraft sowie die ursprünglich geplante und äußerst komplizierte Form des Strom-Pools.53 Schließlich wurde am 27. 7. 1989 der Electricity Act 1989 in Kraft gesetzt. Dieser enthält Regelungen über die Neustrukturierung des Stromsektors, Grundlagen des Regulierungssystems durch ein System von Lizenzen und stattet den zuständigen Minister mit einem äußerst weiten Ermessensspielraum zur Umsetzung des Reformvorhabens aus. Darüberhinaus bereinigt der Electricity Act 1989 die bis dahin unübersichtliche rechtliche Lage, die sich aus der teilweisen Fortgeltung alter Electricity Acts und deren teilweiser Ergänzung durch neuere Gesetze ergab, indem alle älteren Electricity Acts aufgehoben wurden.
Vgl. Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 45. Cmnd. 322 (1988); vgl. auch HC 307-I, II. 52 Alex Henney, Privatise Power Restructuring the Electricity Supply Industry, London 1987 und Alex Sykes / Colin Robinson, Current Choices – Good and Bad Ways to Privatise Electricity, London 1987. Vgl. McAuslan / McEldowney, Electricity Act 1989, 29 – 5. 53 Vgl. Thomas, The Privatization of the Electricity Supply Industry, S. 56 ff. 50 51
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3. Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektors? Wie bereits bei der Betrachtung des Teils dieser Arbeit für den deutschen Staat, so läßt sich auch für den englischen Staat die Frage diskutieren, inwieweit bei der Privatisierung oder Deregulierung des Stromsektors verfassungs- oder europarechtliche Vorgaben bestehen, insbesondere in bezug auf Grenzen eines staatlichen Rückzuges oder Pflichten des Staates, für bestimmte Mindeststandards im Bereich der gemeinwirtschaftlichen Regelungen („social regulation“) zu sorgen. Ausgangspunkt solcher verfassungsrechtlichen Überlegungen muß die Doktrin der „Parliamentary Sovereignty / Supremacy54“ sein, welche die zentrale und grundlegende Verfassungsregel für das institutionelle Gefüge in Großbritannien ist. Die „Parliamentary Sovereignty“ ist immer noch ein höchst aktuelles Rechtsproblem, obgleich der ursprüngliche Konflikt bereits vor 200 Jahren gelöst wurde.55 Auslöser für die jüngsten Debatten um das Rechtsprinzip waren die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU sowie die – späte – Umsetzung der EMRK durch den „Human Rights Act 1998“. Beide Problemkreise haben die Sichtweise auf das Rechtsprinzip verändert. Zunächst soll das traditionelle Prinzip, wie es Dicey in seinem Klassiker „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ darstellte, unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung aufgezeigt werden.
a) Parliamentary Sovereignty oder Supremacy: Parlamentarische Allmacht aa) Ursprung des Prinzips Da Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat, die die Funktionen und Beziehungen der Verfassungseinrichtungen niederlegt, gibt es auch kein Parlamentsgesetz, das die Parlamentary Sovereignty begründet. Insofern muß auf das Common Law zurückgegriffen werden. Das für die Entstehung des Prinzips ausschlaggebende Ereignis war der Kampf um das Budgetrecht in England.56 Dieser Kampf zwischen Parlament und Krone erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1642 und 1689. Die Krone versuchte über ihre Königlichen Vorrechte (Royal Prerogatives57) Steuern ohne parlamentarische 54 Der zweite Ausdruck wird in jüngerer Zeit vermehrt gebraucht, um Verwechslung mit anderen Bedeutungen des Begriffs der Souveränität zu verwechseln. Bereits Dicey warnte vor der Vermischung rechtlicher und politischer Souveränität. Vgl. Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 58; Dicey, Law of the Constitution, S. 73. 55 Dazu sogleich. 56 Zum Ganzen Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis in Großbritannien, S. 62 ff. 57 Vgl. Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 271 ff.; Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 499 ff.
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Zustimmung zu erheben. Dagegen versuchte das Parlament, die königlichen Aktivitäten zu begrenzen und die vollkommene Kontrolle über den Haushalt zu erlangen. Ähnlich wie das Parlament, mußte auch die Rechtsprechung häufig Einmischungen der Krone erdulden. Es überrascht daher nur wenig, daß Parlament und Rechtsprechung einander bei ihren Bemühungen unterstützten. Während das Parlament die Unabhängigkeit der Rechtsprechung unterstützte, verteidigte die Rechtsprechung die Souveränität des Parlaments. Entsprechend gab Chief Justice Coke 1611 in der Entscheidung Case of Proclamation58 eine deutliche Aussage zugunsten parlamentarischer Souveränität, indem er feststellte, daß auch die Königlichen Vorrechte dem Recht unterstehen und daß allein das Parlament das Recht ändern kann, das der König zu verwalten hat. Schließlich wurde durch die der „Glorreichen Revolution“ von 1688 folgende Bill of Rights das königliche Recht, Steuern ohne Zustimmung des Parlaments zu erheben, endgültig abgeschafft und damit in einem zentralen Bereich das Prinzip der Parlamentary Sovereignty etabliert.
bb) Inhalt des Prinzips Im Wesentlichen gibt es drei unterschiedliche Ansichten zum Prinzip der parlamentarischen Souveränität. Nach der klassischen Ansicht von Dicey ist die Souveränität vollkommen unbeschränkt. Dem entgegengesetzt ist die Ansicht, daß die Souveränität auch die Möglichkeit ihrer eigenen Einschränkung umfassen muß. Vermittelnd ist schließlich die Sichtweise, daß Souveränität zwar eine Einschränkung verfahrensrechtlicher Aspekte bedeuten kann, jedoch nicht zu materiellen Einschränkungen parlamentarischer Aktivitäten führen kann. (1) Umfassende und unbeschränkbare Souveränität ohne konkurrierende legislative Autoritäten Nach der klassischen, von Dicey formulierten Sichtweise der parlamentarischen Souveränität, besteht das Prinzip aus zwei Aspekten, nämlich der Macht, in jeder erdenklichen Angelegenheit unbegrenzt Gesetze zu erlassen sowie der Abwesenheit einer konkurrierenden Autorität bzgl. der Gesetzgebung. Entsprechend dem ersten Punkt ist das Parlament ein allmächtiger Gesetzgeber. Dicey beschreibt dies mit einem Sprichwort seiner Zeit: „It is a fundamental principle with English lawyers that Parliament can do everything but make a woman a man, and a man a woman.“ Diese Allmacht umfaßt Gesetzgebung in öffentlichen Angelegenheiten, etwa die Verlängerung der Wahlperiode des Parlaments sowie Gesetzgebung in privaten Angelegenheiten wie bestimmte Privilegien, Haftungsfragen, Grundstücksfragen, Eisenbahnen, Eheschließungen usw.59 (1611) 12 Co Rep 74. Zitiert nach Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 55. Dicey, Law of the Constitution, S. 42 – 48. Überblicksartig Baum, Rights Brought Home, S. 282 f. sowie Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, S. 69 ff. 58 59
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Damit stellt sich die Frage, ob ein Parlament sein Nachfolgeparlament binden kann, d. h. in einer Weise Gesetze erlassen kann, die bestimmte Verfahren bei der Gesetzgebung vorschreiben, etwa indem einer der drei Teile des Parlaments in seiner Teilnahme am Gesetzgebungsprozeß eingeschränkt, oder ein Gesetz erlassen wird, das folgenden Parlamenten verbietet, Gesetze anderen Inhaltes zu erlassen oder es gar verbietet, überhaupt in bestimmten Angelegenheiten Gesetze zu erlassen. Dicey verneinte die Bindung von Folge-Parlamenten. Nach ihm impliziert das grundlegende Prinzip der Parliamentary Sovereignty, nach Kelsen eine Grundnorm, die unveränderlich und eine Vorbedingung des gesamten Systems ist, logischerweise, daß jedes neue Parlament vollkommen souverän ist. Da die Grundnorm nicht geändert werden kann, kann folglich auch kein Parlament seinen Nachfolger binden, auch nicht in bloßen Verfahrensangelegenheiten.60 Wenn ein Parlament dennoch beschließt, seinen Nachfolger zu binden, impliziert das Prinzip der Souveränität, daß das neue Parlament einfach anders entscheiden kann, sogar ohne ausdrücklich seine neue und andere Absicht ausdrücken zu müssen. Entsprechend der Lex-Posterior-Regel (rule of implied powers) ist das neuere Gesetz gültig, das ältere aufgehoben, die Gerichte müssen die neuere Regelung anwenden. Dies gelte sogar für die Übertragung von politischer Souveränität durch die Entlassung von Kolonien in rechtliche Unabhängigkeit durch ein Parlamentsgesetz. Da ein derartiges Gesetz ebenfalls durch späteres Gesetz aufgehoben werden könne, könne das britische Parlament jederzeit das jeweilige Unabhängigkeitsgesetz wieder aufheben und damit wären alle Gerichte in Großbritannien verpflichtet, die entsprechenden Länder unter Anwendung der neuen Rechtslage wieder als Kolonien zu behandeln. In der Entscheidung Madzimbamuto v. Lardner-Burke drückte Lord Reid das folgendermaßen aus: „It is often said that it would be unconstitutional for the UK Parliament to do certain things, meaning that the moral, political and other reasons against doing them are so strong that most people would regard it as highly improper if Parliament did these things. But that does not mean that it is beyond the power of Parliament to do such things. If Parliament chose to do any of them, the courts could not hold the Act of Parliament invalid.“61 Entsprechend lehnte Dicey auch die von Blackstone62 diskutierte Frage ab, ob es moralische Grenzen für die Parliamentary Sovereignty gibt: „there is no legal basis for the theory that judges, as exponents of morality, may overrule Acts of Parliament“.63 Nach dem Common Law dürfen Gerichte lediglich Parlamentsgesetze anwenden, die von beiden Häusern und der Krone verabschiedet wurden.64 Dicey, Law of the Constitution, S. 64 – 70. [1969] 1 AC 645, 723. 62 Blackstone, 1 Comm., S. 41. 63 Dicey, Law of the Constitution, S. 62. 64 Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 59 listen Handlungen des Parlaments auf, die nicht von den Gerichten angewendet werden müssen. Vgl. auch Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 46 f. 60 61
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Sie haben kein Recht, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, wie dies etwa das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz oder im Common Law System der US Supreme Court seit der Entscheidung Marbury v. Madison65 tun. Damit ist der zweite Aspekt des Rechtsprinzips der Souveränität deutlich geworden, nämlich daß es neben dem Parlament keine konkurrierende gesetzgebende Autorität geben darf. Weder die Krone, noch eines der beiden Häuser durch andere Handlungen als Gesetze, noch das Wahlvolk außerhalb der Wahlen und auch nicht die Rechtsprechung durch Präzedenzfälle können gesetzliche Autorität beanspruchen.66 Diese klassische Extremposition bzgl. der Interpretation der Parliamentary Sovereignty ist nicht kritiklos geblieben. So stellte etwa Winterton die Frage, warum nicht andere fundamentale Rechtsprinzipien wie etwa die unveräußerlichen Menschenrechte in ähnlicher Weise grundlegende und unveränderliche Grundnormen darstellen sollten, da sie ja auch grundlegender Teil der britischen Verfassung seien.67 Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Dauerhaftigkeit der Souveränität. Wenn Dicey formuliert „what Parliament does no authority upon earth can undo“68, warum soll es dem Parlament dann nicht möglich sein, eben diese Regel selbst zu ändern? Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit man tatsächlich von parlamentarischer Allmacht sprechen kann, wenn zwar das Parlament per Gesetz den Kolonialstatus wiederherstellen könnte und die britischen Gerichte diese Gesetze anwenden müssten, in Wirklichkeit jedoch keine der ehemaligen Kolonien diesem Gesetz folgen würde. Schließlich wird auch auf den Union Act 1707 hingewiesen, durch den die Existenz des englischen Parlaments zugunsten eines aus dem schottischen und englischen Parlament bestehenden beseitigt wurde.69 Allerdings dürfte sich dieses Argument gegen Souveränität spätestens mit der Schaffung eines neuen schottischen Parlaments im Jahr 1998 erledigt haben. (2) Einschränkung der Souveränität möglich Nach der entgegengesetzten Auffassung ließe sich demnach vertreten, daß das Parlament aufgrund seiner Uneingeschränktheit sich auch selbst neu definieren, Art und Weise zukünftiger Gesetzgebung festlegen und auch inhaltliche Beschränkungen für zukünftige Ausübung seiner Befugnisse einführen kann. Im Gegensatz zur klassischen Ansicht hat diese Sichtweise keine Tradition in der Rechtsprechung des Common Law gefunden. Dafür liefert Winterton zwei Gründe70: Zum einen bestünde durch den möglichen Ausschluß bestimmter Sachbereiche vom Tä65 66 67 68 69 70
1 Cranch 137 (1803). Dicey, Law of the Constitution, S. 50 – 61. Winterton, The British Grundnorm, S. 600 f. Dicey, Law of the Constitution, S. 42. Ausführlich Mitchell, Sovereignty of Parliament, S. 202 – 207. Winterton, The British Grundnorm, S. 612.
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tigkeitsbereich des Gesetzgebers die Gefahr eines legislativen Vakuums, das nur durch außerkonsititutionelle Mittel ausgefüllt werden könne. Daß die Gerichte eine solche nach gegenwärtigen Maßstäben revolutionäre Ausfüllfunktion übernehmen würden, hält er für unwahrscheinlich. Zweitens argumentiert er, daß selbst wenn die Gerichte diese Ansicht einnehmen würden, dies höchstens einen moralischen Druck auf künftige Parlamente ausüben würde. Schließlich läßt sich noch gegen diese aus der Kritik an der klassischen Sichtweise entstandene Ansicht einwenden, daß sie mit einem ähnlichen Problem nicht richtig umgehen kann wie die klassische Sichtweise. Während jene keinerlei Grenzen hat und alles darf, so sieht diese eine Begrenzung als möglich an. Dabei stellt sich jedoch auch die Frage nach der Begrenzung der Begrenzung: Darf das Parlament soweit Einschränkungen vornehmen, daß auch grundlegende demokratische Fragen dem parlamentarischen Aktionsradius entzogen werden? (3) Formelle, keine materielle Einschränkbarkeit der Souveränität In der Praxis hat sich eine Art vermittelnder Ansicht zwischen den beiden Gegenpositionen herausgebildet.71 Danach können Parlamentsgesetze zu formellen Fragen nachfolgende Parlamente binden. Diese Ansicht wird von zahlreichen Stimmen in der Literatur und von einigen Gerichten72 unterstützt. Darüberhinaus spiegelt sie wohl auch die Rechtswirklichkeit wieder. So hat etwa das Parlament durch den Royal Assent Act 1967 die Art und Weise festgelegt, in der die Krone Gesetzen zuzustimmen hat. Außerdem hat das Parlament durch die Parliament Acts 1911 und 1949 neu definiert, was unter Parlament zu verstehen ist. Durch die Gesetze wurde die Zeitspanne, um die das House of Lords Gesetze der Commons verzögern konnte, beschränkt, mit der Folge, daß nach einer nur kurzen Verzögerung jeder Gesetzesentwurf der Commons auch ohne Zustimmung der Lords Gesetz wird.73 Eine ähnliche Neudefinition kann man in der Verabschiedung des European Community Act 1972 sehen, durch die die EU-Einrichtungen als Teil des Gesetzgebers etabliert wurden.74 Für diese Ansicht spricht vor allem die Natur des Common Law selbst, das sich als ein sehr flexibles Rechtssystem versteht. Hielte man an dem strengen Kriterium der Uneinschränkbarkeit fest, würde sich die ungeschriebene Verfassung als Teil des Common Law durch ihre Inflexibilität vom restlichen Common Law abheben. Andererseits ist eine Einschränkung des klassischen Prinzips durch lediglich forWinterton, The British Grundnorm, S. 6106, Fn. 8 m. w. N. Winterton, The British Grundnrom, S. 606, Fn. 8. Unter den Gerichten des Commonwealth finden sich allerdings keine englischen Gerichte, jedoch eine Entscheidung des Privy Council. 73 Hood Phillips / Jackson, Constitutional Law, S. 90 wollen nicht von einer Neudefinition des Parlaments sprechen, sonder bevorzugen die Bezeichnung der „Delegierten Rechtssetzung“. 74 Winterton, The British Grundnorm, S. 606. 71 72
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male Regelungen ebenfalls nicht problemlos. So kann es sich im Einzelfall als schwierig erweisen, formelle von materiellen Themen zu unterscheiden und dazu führen, daß materielle Aspekte als formelle getarnt werden, um so Bindungswirkung für Folgeparlamente zu erreichen. cc) Bedeutung des Prinzips für energiewirtschaftliche Regelungen Es stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen das Prinzip der Parliamentary Sovereignty für eventuelle Pflichten des Gesetzgebers hinsichtlich gemeinwirtschaftlicher Regelungen im Energiesektor hat. Die Darstellung hat deutlich gemacht, daß lediglich nach der zweiten Ansicht, materielle Bindungen des Gesetzgebers bestehen können. Sowohl nach der klassischen als auch nach der vermittelnden Ansicht gibt es dem Souveränitätsprinzip zufolge keine Pflichten und damit Grenzen gesetzgeberischer Aktivität. Da die zweite Ansicht keine Rechtsgeltung vor den britischen Gerichten beanspruchen kann, muß nach dem bisher Gesagten festgehalten werden, daß das Prinzip der Parliamentary Sovereignty grundsätzlich Bindungen des Gesetzgebers an soziale oder gemeinwirtschaftliche Prinzipien oder Mindeststandards nicht kennt. Denkbar ist jedoch, daß andere nationale und internationale Rechtsprinzipien zu einem anderen Ergebnis führen. Dabei kommen nach britischem Recht die Constitutional Conventions, die Common-Law-Doktrin der Common Callings sowie britische Civil Liberties in Betracht.
b) Constitutional Conventions Nach Mitchell ist eine Begrenzung parlamentarischer Allmacht durch tatsächliche Überlegungen wie Constitutional Conventions denkbar.75 Wenn also eine Constitutional Convention für gemeinwirtschaftliche Regelungen, insbesondere die diskriminierungsfreie Anschluß- und Versorgungspflicht, bestünde, würde diese eine Begrenzung der Parliamentary Sovereignty darstellen. Conventions sind Teil der Verfassung, als solche jedoch keine rechtlich-verbindlichen Normen, sondern eher moralische oder ehtische Aussagen der Verfassung.76 Es war Diceys Hauptverdienst, derartige rechtliche und außerrechtliche Fragen in der verfassungsrechtlichen Diskussion zusammgebracht zu haben.77 Allerdings weist diese Art der Unterscheidung bereits auf die Natur möglicher Begrenzungen der Parliamentary Sovereignty durch Conventions hin. Da Conventions kein Recht Mitchell, Sovereignty of Parliament, S. 199 – 201. Vgl. zum Ganzen Meyn, Die „Consitutional Conventions“ in der britischen Verfassungsordnung, S. 133 ff.; Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, S. 52 ff. 77 Vgl. ausführlich Munro, Dicey on Constitutional Conventions, S. 648 f. 75 76
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sind, weder gesetzliches noch Common Law, sind sie nicht gerichtlich durchsetzbar. Während sie also starke mittelbare Kraft („persuasive force“) haben und damit rein tatsächlich durchaus die Souveränität einschränken mögen, binden sie rechtlich das Parlament überhaupt nicht. Es ist also zu untersuchen, ob die genannte Art gemeinwirtschaftlicher Regeln überhaupt Conventions darstellen können. Obwohl, anders als beim Gewohnheitsrecht, eine lange Praxis allein nicht ausreicht, um Rechtsbindung zu schaffen, ist eine lange Serie von „Präzedenzfällen“, die alle in dieselbe Richtung weisen, ein sehr guter Anhaltspunkt für eine Convention.78 Wie bereits oben dargestellt, bestehen seit Entstehung der Stromwirtschaft gemeinwirtschaftliche Regeln, insbesondere hat das Parlament immer wieder eine Anschluß- und Versorgungspflicht in die Electricity Acts aufgenommen. Dies kann als Anhaltspunkt für eine Convention angesehen werden, ist jedoch noch nicht ausreichend.79 Wie Hood Phillips schreibt, „every act by a public authority might become a „precedent“ in the sense of an example that may or may not be followed in subsequent similar cases, but it does not necessarily create a binding rule. For that it must be generally accepted as creating a rule by those in authority“.80 Jennings ergänzt diese Anforderung an Conventions um einen weiteren Punkt, indem er schreibt, „the creation of a Convention must be due to the reason of the thing because it accords with the prevailing political philosophy. It helps to make the democratic system operate; it enables the machinery of the State to run more smoothly; and if it were not there, friction would result“81. Es müssen also zwei Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine Constitutional Convention vorliegt: Eine allgemeine Anerkennung als verbindlich und ein allgemeingültiger Grund oder Zweck bezüglich des staatlichen institutionellen Gefüges.82 Beide dieser Bedingungen kann man hinsichtlich der gemeinwirtschaftlichen Regeln im Stromsektor als erfüllt ansehen aufgrund des stetigen Anwachsens des modernen Wohlfahrtsstaates und der totalen Abhängigkeit moderner Gesellschaften von der Stromversorgung. Hier gelten die gleichen Ausführungen, die bereits für Deutschland gemacht wurden. Insofern ist es denkbar, daß sich die Mitglieder des Parlaments durchaus gebunden fühlen, in der bisherigen Tradition gemeinwirtschaftlicher Regeln zu verbleiben. Jennings stellt treffend fest: „conventions are observed because of the political difficulties which arise if they are not [obeyed].“83 Loewenstein formuliert in Anknüpfung an Dicey: „Werden die Konventionalregeln mißachtet, tritt, auch ohne daß eine sanktionable VerfassungsverletHood Phillips, Constitutional Law, S. 120. Jennings, Law and the Constitution, S. 134; Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 25. 80 Hood Phillips, Constitutional Law, S. 120. 81 Jennings, Law and the Constitution, S. 126. 82 Hood Phillips, Constitutional Law, S. 120; Meyn, Die „Constitutional Conventions“ in der britischen Verfassungsordnung, S. 150 – 156. 83 Jennings, Law and the Constitution, S. 134. 78 79
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zung begangen werden müßte, Stillstand und Chaos ein.“84 Die Folge der Nichtbefolgung wäre, daß die öffentliche Meinung aller Wahrscheinlichkeit nach den „Delinquenten“ aus dem Amt zwingen würde.85 Soweit könnte man von dem Vorliegen einer Constitutional Convention bzgl. gemeinwirtschaftlicher Regeln ausgehen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Constitutional Conventions überhaupt materielle Fragen betreffen können oder ob sie lediglich auf Verfahrensfragen bzw. den politischen Prozeß86 beschränkt sind. Bereits Dicey versuchte Conventions in zwei Gruppen zu klassifizieren.87 Hood Phillips unterteilte drei Arten. Die ersten beiden stimmen mit Dicey überein. Danach ist die erste Gruppe bezogen auf die Ausübung der Königlichen Vorrechte und das Funktionieren des Ministerialsystems, während die zweite Gruppe das Verhältnis zwischen Lords und Commons sowie das Verfahren im Parlament betrifft. Die dritte Gruppe, die mittlerweile überwiegend gesetzlich geregelt ist, betrifft die Beziehungen Großbritanniens zu den unabhängigen Mitgliedern des Commonwealth.88 Die gemeinwirtschaftlichen Regeln lassen sich offensichtlich unter keine dieser drei Arten fassen, da sie materielle und keine bloß formellen Regelungen darstellen. Allerdings hält Hood Phillips selbst einleitend zu seinen drei Arten der Conventions es für „not practicable either to enumerate all the conventions applicable to the working of the British Constitution or define most of them with any great precision“.89 Die drei Arten sind danach also nicht abschließend. Darüberhinaus bedeutet die Tatsache, daß die Conventions als Regelungen des Verhältnisses von Parlament und Krone entstanden sind, noch nicht, daß sie auch darauf beschränkt bleiben müßten. Im Gegenteil ließe sich aus dem Grund, warum Conventions befolgt werden, nur folgerichtig annehmen, Conventions auch auf solche materiellen Angelegenheiten erstrecken zu können, die allgemeiner gesellschaftlicher Konsens sind. Letztlich ist dies jedoch eine Frage, die an dieser Stelle nicht entschieden werden kann90 und muß, da selbst bei Vorliegen einer Convention bzgl. gemeinwirtschaftlicher Regelungen im Stromsektor allenfalls ein moralischer Druck auf dem Parlament lasten würde, nicht jedoch eine rechtliche Verpflichtung.
Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 56. Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 26; Jennings, Law and the Constitution, S. 134. Dicey bestritt, daß die öffentliche Meinung hinsichtlich der Conventions irgendeine Rolle spielen sollte. Dafür wurde er von der Mehrheit des Schrifttums scharf kritisiert. Vgl. Munro, Dicey on Constitutional Conventions, S. 637 ff. 86 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 52 ff. 87 Dicey, Law of the Constitution, S. 422. 88 Hood Phillips, Constitutional Law, S. 123 – 128. 89 Hood Phillips, Constitutional Law, S. 123. 90 Das Schrifttum in Großbritannien diskutiert diese Frage nach dem gesichteten Material nicht. Insofern ist bei derartig weitreichenden Folgerungen ohnehin höchste Vorsicht geboten. 84 85
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c) Eine vergessene Geschichte: Common Law Prinzipien als gemeinwirtschaftliche Ansprüche? Vor einigen hundert Jahren, lange vor gesetzlich geregelten Anschluß- und Versorgungspflichten, existierte in Großbritannien eine Common-Law-Tradition, nach der Zugang zu bestimmten Einrichtungen, behaftet mit einem öffentlichen Interesse, zu angemessenen Preisen gewährt werden mußte. Gegenwärtig erfahren diese Common-Law-Prinzipien wieder verstärkte Aufmerksamkeit unter Forschern im Bereich der Universaldienste der Versorgungswirtschaft und im Verfassungsrecht.91 Um die Frage klären zu können, ob derartige subjektive Rechte aus dem Common Law möglicherweise Grenzen für die Parliamentary Sovereignty darstellen, sind Entstehung, Inhalt, Verbreitung und Aussterben dieser Prinzipien überblicksartig zu untersuchen. Es geht dabei um zwei Prinzipien, das Hale’s Principle und die Common-Calling-Doktrin. Beide Prinzipien fanden Eingang in zahlreiche Urteile und betreffen sehr ähnliche Aspekte des Zugangs zu quasi-monopolistischen Einrichtungen oder Einrichtungen öffentlichen Interesses. Der Rechtsforscher Hale schrieb im 17. Jahrhundert in seinem Werk De Portibus Maris über Seerecht. Er begründete darin ein Prinzip, nach dem der Zugang zu quasi-monopolistischen Einrichtungen jedermann zu angemessenen Preisen offenstehen müßte, selbst wenn die Einrichtung in Privateigentum stünde. Durch dieses Prinzip sollte die Öffentlichkeit vor überzogenen Preisen geschützt werden. Nach Hale war das Prinzip einschlägig, wenn die Einrichtung ein „business affected with a public interest“ darstellte.92 Hale’s Idee wurde von den britischen Gerichten aufgenommen. In Bolt v Stennett93 entschied das Gericht in einer tresspass-Sache über die Verweigerung des Zugangs zu einem privaten Entladekran an einem Hafen, daß es öffentlichen Zugang zu diesem Entladekran geben müsse und bezog sich dabei ausdrücklich auf Hales Formulierung des „business affected with public interest“.94 In Allnut v Inglis95 ging es um die Frage des Zugangs zu Warenlagern einer Frachtfirma, die sich geweigert hatte, den von der London Dock Company verlangten Preis zu bezahlen. Die London Dock Company besaß eine vom Parlament vergebene Lizenz mit dem Monopolrecht, bestimmte Weine zu empfangen.96 Die Richter wendeten einstimmig das Hale Prinzip des „business affected with public interest“ an und urteilten, daß mit der Zugangsverweigerung die London Dock Company ihre Common-Law-Pflicht verletzte, Güter gegen ein angemessenes Entgelt zu empfangen und zu lagern. 91 Craig, Constitutions, Property and Regulation; Prosser, Privatisation, Regulation and Public Services, S. 10; Taggart, Public Utilities and Public Law. 92 Vgl. Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 540; Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 216. 93 (1800) 8 Term Rep 606; 101 ER 1572. 94 Vgl. Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 218. 95 (1810) 12 East 527; 104 ER 206. 96 Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 539; Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 218 f.
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Ein sehr ähnliches Prinzip ist die Common-Calling-Doktrin. Erfaßt wurden Dienste, die der Öffentlichkeit zur Verfügung standen. Dies waren ursprünglich in der Regel private gemeine Transportmittel (common carrier), gemeine Kneipeninhaber (common innkeepers) und gemeine Müller (common millers). Diejenigen, die eines dieser Common Callings ausübten, traf die Pflicht dies zu einem angemessenen Preis zu tun, um möglichen Mißbrauch von Marktmacht zu verhindern.97 Interessanterweise wurden diese beiden Prinzipien von Commonwealth-Gerichten anderer Länder aufgenommen und fanden dort wesentlich länger Anwendung als in Großbritannien selbst. So wandte der US Supreme Court das Hales Prinzip aus den beiden erwähnten britischen Fällen unmittelbar in der umstrittenen Entscheidung Munn v. Illinois98 an. Danach fand es das Gericht gerechtfertigt, daß der Bundesstaat Illinois ein Gesetz zur Preisregulierung von Getreide in Warenlagern verabschiedet hatte, das das Eigentumsrecht der Warenhauseigentümer beeinträchtigte. Die Rechtfertigung des grundrechtlichen Eingriffs wurde gestützt auf das Hales Prinzip, da die betroffenen Warenlager rein tatsächlich ein Monopol besaßen und ihre Einrichtung als „business affected with public interest“ angesehen wurde.99 Auch in Kanada und Neuseeland wurde das Hales-Prinzip mehr oder weniger ausdrücklich angewendet. In Neuseeland zuletzt noch 1994 in der Entscheidung Mercury Energy Ltd. v. Electricity Corporation of New Zealand Ltd.100 Im Gegensatz dazu verschwanden die beiden Prinzipien aus dem britischen Common Law. Dafür gibt es zwei Gründe.101 Zum einen nahm Blackstone in seinem damals für das englische Recht maßgeblichen Werk Commentaries on the Laws of England von 1778 das Hales-Prinzip nicht auf, was dessen allgemeine Verbreitung und Anerkennung im Wesentlichen verhinderte. Zum anderen machte die Entstehung gesetzlicher Pflichten und darauf beruhender strenger Preiskontrolle öffentlicher Versorgungsunternehmen in Großbritannien im 19. Jahrhundert gerichtliche Kontrolle in diesem Bereich überflüssig. Die „Private Statutes“, die Privatunternehmern Quasi-Monopole gewährten, enthielten i.d.R. Preisregulierung und Regeln über den Zugang Dritter und der Entgelte. Damit trat ministerielle Aufsicht in diesem Bereich an die Stelle der gerichtlichen.102 Es stellt sich nun die Frage, ob die Wiederbelebung dieser Common Law Prinzipien rechtliche Pflichten des britischen Gesetzgebers bzgl. gemeinwirtschaftlicher Regeln begründen kann. Unter Berücksichtigung dessen, was oben zur Souveräni97 Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 540, dort auch zu der umfangreichen Rechtsprechung zur Common-Calling-Doktrin. 98 94 U.S. (4 Otto) 77, 24 L. Ed. 113 (1877). 99 Vgl. Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 543 – 551; Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 221 – 227, dort auch zum Fall Nebbia v. New Yorck, der 1934 die Anwendung des Hales Prinzips beendete. 100 [1994] 2 NZLR 385; für weitere Rechtsprechung vgl. Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 227 ff. 101 Vgl. Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 538. 102 Vgl. Craig, Constitutions, Property and Regulation, S. 541.
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tät gesagt wurde, ist die Antwort klar. Selbst wenn man diese alten Common-LawDoktrinen wiederbeleben würde, was vorgeschlagen wird,103 so ist deutlich geworden, daß die Prinzipien nur subjektive Rechte auf Zugang zu Einrichtungen zu einem angemessenen Preis umfaßten. Sie richteten sich nie als subjektiv-öffentliche Rechte gegen den Staat, sondern wurden zwischen privaten Parteien als Teil des Common Law durch die Gerichte angewendet. Wie oben gezeigt, können die Gerichte nach ganz herrschender Meinung jedoch gerade nicht Parlamentsentscheidungen aufgrund des Common Law aufheben oder gar anordnen. Insofern könnte eine Wiederbelebung der Prinzipien lediglich in einigen Ausnahmefällen, in denen die gesetzlichen Vorschriften nicht greifen, wieder Bedeutung erlangen. Keinesfalls könnten sie den Staat verpflichten, gemeinwirtschaftliche Regelungen im Stromsektor zu erlassen.
d) Grundrechte nach britischem Recht Analog zu den verschiedenen Dimensionen oder Funktionen der Grundrechte im deutschen Verfassungsrecht, ließe sich auch an eine Begrenzung der parlamentarischen Souveränität zugunsten gemeinwirtschaftlicher Regeln im Stromsektor durch britische Grundrechte denken, die als fundamental rights oder civil liberties bezeichnet werden. Anders als in Deutschland und anderen Staaten besitzt Großbritannien keine geschriebene Verfassung mit einem Katalog von Grundrechten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Grundrechte in Großbritannien nicht existieren. Die Rechte der Privatpersonen sind als allgemeine Prinzipien der Verfassung das Ergebnis der Urteile der Gerichte – sie sind folglich prinzipiell Teil des Common Law. Die so verstandenen Rechte sind nicht spezifisch gegen den Staat gerichtet, vielmehr handelt es sich um gegen jedermann gerichtete negatorische Rechte.104 Anders als i.d.R. in Staaten mit geschriebener Verfassung durch Verfasssungsgerichte, können in Großbritannien die Gerichte Parlamentsgesetze nicht anhand von Grundrechten auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen. Damit entfällt bereits nach der Einordnung der britischen Grundrechte als Teil des Common Law eine Begrenzung der parlamentarischen Allmacht.105 Darüberhinaus stellt sich die Frage, ob sich überhaupt positive Ansprüche oder objektiv-rechtliche Bindungen aus den britischen Grundrechten ableiten lassen, da sie traditionell negatorische Abwehrrechte gegen jedermann sind. Es gibt wenig Taggart, Public Utilities and Public Law, S. 259 – 264. Baum, Rights Brought Home, S. 284. 105 Kritisch dazu Scarman, English Law – The New Dimension, S. 15 ff.; v. Simson, Das Common Law als Verfassungsrecht, S. 75. Allerdings wird die Möglichkeit der Gerichte, absolut undemokratische Gesetze des Parlaments entgegen der Parlamentarischen Souveränität nicht anzuwenden, in jüngster Zeit vereinzelt diskutiert, wenngleich für wenig wahrscheinlich gehalten. Vgl. Woolf, Droit Public – English Style, S. 57 ff.; Laws, Law and Democracy, S. 72 ff. 103 104
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Diskussion und in der Tat auch nur wenig Hinweise darauf, daß sich ein positiver Aspekt der britischen Grundrechte entwickeln könnte. Derartige zögerliche Ansatzpunkte können in verschiedenen Gerichtsentscheidungen gefunden werden, so etwa in einer Entscheidung der Queen’s Bench Division, die jedoch vom Court of Appeal wieder aufgehoben wurde. Im Fall R. v. Cambridge District Health Authority ex parte B106 hatte ein Vater versucht, eine Entscheidung der Gesundheitsbehörde aufheben zu lassen, keine weitere Finanzhilfe für die Behandlung seiner 10-jährigen krebskranken Tochter zu gewähren. Die Behörde hatte sich bei ihrer Entscheidung auf Schätzungen der Erfolgswahrscheinlichkeit der neuen Therapie gestützt, die lediglich bei etwa 10% lag. Sie hatte es daher vorgezogen, die notwendigen hohen Mittel zugunsten anderer weniger hoffnungsloser Fälle einzusetzen. Richter Laws urteilte, daß in dem Fall das Grundrecht auf Leben betroffen sei und daß in Fällen, in denen bestehendes Ermessen einer Behörde ein solches Grundrecht beeinträchtigen könne, ein Eingriff durch die Ermessensentscheidung in dieses Grundrecht nur durch substantielle objektive Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden könne. Der Richter urteilte weiter: „Mr. Pitt (for the health authority) much pressed the submission that his clients had done no positive act to threaten anyone’s life; they had done nothing whatever to violate the applicant’s right to life; all they had done was to arrive at a decision about the use of public funds. But the fact is that without funding for Dr. G’s treatment, the applicant will soon certainly die. If the funding is made available, she might not. As things stand at present, the respondents are the only apparent source of the necessary funds. I do not consider that, in the relation to the putative infringement of a fundamental right, there is as regards the obligation of a public body a difference of principle between act and omission. In other areas of law, notably the criminal law, such a distinction may possess a high importance. But in a public law case like the present, the question is whether a distinct administratice decision is lawful. The decision-maker is answerable to the court whether the decision is in negative or affirmative form. The decision in this case has, to the knowledge of the decision-maker, materially affected for the worse the applicant’s chances of life. I hold that the applicant’s right to life is assaulted by it, and accordingly the decision can only be justified on substantial public interest grounds.“107
Interessant an diesen Ausführungen ist, daß im Endeffekt der Beschwerdeführer ein positives Recht auf Finanzleistungen aufgrund einer potentiellen Verletzung des Grundrechts auf Leben geltend macht. Eine Bestätigung wäre eine Neuheit im Bereich der britischen Grundrechte gewesen. Allerdings zeigt die sehr vorsichtige Formulierung des Richters, die den Fall nicht als Fall über staatliche Leistungen, sondern als pures Problem administrativer Ermessensentscheidung erscheinen lassen wollen, daß er mit seiner Entscheidung keinen neuen Trend einleiten will. Aber selbst wenn sich derartiges aus dem Urteil ableiten ließe, so dürfte es sich als praktisch unmöglich erweisen, daraus eine Verpflichtung des Staates auf den Erlaß ge106 107
[1995] 1 FLR, 1055. [1995] 1 FLR, 1061.
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meinwirtschaftlicher Regelungen abzuleiten, da eine vergleichbare Gefährdung des Grundrechts auf Leben bei wegfallender Stromversorgung nur äußerst schwierig zu konstruieren ist. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß britische Grundrechte aufgrund ihrer Natur als Common Law und mangels subjektiv- oder objektivrechtlicher Funktion keine Begrenzung parlamentarischer Souveränität zugunsten gemeinwirtschaftlicher Regeln in der Stromwirtschaft bewirken können. Im Ergebnis erweist sich damit das nationale Recht als unergiebig für die Begrenzung parlamentarischer Allmacht. Etwas anderes könnte sich jedoch aus internationalem Recht, insbesondere der EMRK und dem EU-Recht ergeben.
e) Menschenrechte nach der EMRK Möglicherweise ergeben sich parlamentarische Pflichten im Hinblick auf gemeinwirtschaftliche Regelungen im Stromsektor aus internationalem Recht, insbesondere der EMRK. Einerseits stellt sich hierbei die Frage, ob durch die EMRK die Parliamentary Sovereignty direkt oder indirekt begrenzt werden kann und andererseits, ob die EMRK überhaupt Rechte enthält, aus denen eine derartige Verpflichtung des Parlaments abgeleitet werden kann. aa) Die EMRK und britisches Verfassungsrecht Auf der Grundlage eines UN Kataloges wurde 1949 ein sehr weit reichender Konventionsentwurf erarbeitet. Großbritannien widersetzte sich dieser weitreichenden Fassung hauptsächlich aufgrund der weitverbreiteten Überzeugung, daß das britische Rechtssystem jedem anderen System überlegen sei.108 Der damalige Lord Chancellor formulierte diese Abneigung sehr prägnant: „We were not prepared to encourage our European friends to jeopardise our whole system of law, which we have laboriously built up over the centuries, in favour of some half-baked scheme to be administered by some unknown court.“109
Der daraufhin von der britischen Regierung vorgeschlagene, stark eingeschränkte Entwurf, wurde dennoch von den anderen europäischen Ratsmitgliedern anerkannt und verabschiedet. Großbritannien unterschrieb und ratifizierte die EMRK, verlieh ihr jedoch keine unmittelbare Wirkung in Großbritannien. Bis 1965 war es sogar den britischen Staatsbürgern verwehrt, Petitionen beim Gerichtshof für Menschenrechte einzureichen und bis heute, sogar nach Verabschiedung des Human Rights Act 1998 ist das britische Parlament nicht unmittelbar an Vgl. Lester, European Human Rights and the British Constitution, S. 35. Lord Chancellor Jowitt, in: Lester, European Human Rights and the British Constitution, S. 35. 108 109
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die EMRK gebunden. Vor Verabschiedung des Human Rights Act 1998, der dazu eine ausdrückliche Regelung enthält, wurde diese Sichtweise in der Entscheidung R. v. Home Secretary, ex parte Brind110 deutlich zum Ausdruck gebracht. Das House of Lords entschied, „that the European Conventions for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms was not part of English domestic law.“
Die Folge daraus war, daß kein britisches Gericht die EMRK durchsetzen konnte, was der Hauptunterschied zum EU-Recht war. Der einzige Weg, die EMRK doch zur Anwendung zu bringen, boten diejenigen Fälle, in denen Parlamentsgesetze mehrdeutig waren. Wie im Urteil Salomon v. Commissioners of Customs and Excise111 entschieden, können die Gerichte den Gesetzeswortlaut in solchen Fällen in Übereinstimmung mit der EMRK auslegen, unter der Annahme, daß das Parlament im Zweifel das Gesetz ebenfalls in Übereinstimmung mit der EMRK erlassen hätte. Der neue Human Rights Act 1998112 veränderte diese Lage nur teilweise. Nach einer langen Debatte113 wurde das Gesetz 1998 verabschiedet. Es enthält im Wesentlichen drei Neuerungen. In § 3 werden alle Gerichte verpflichtet, alle Parlamentsgesetze und untergesetzlichen Vorschriften soweit wie möglich so auszulegen, daß sie der EMRK entsprechen.114 Im Unterschied zur vorherigen Lage müssen jetzt die Gerichte die Konvention immer berücksichtigen, nicht nur in Zweifelsfällen, ohne daß dies jedoch den Gerichten das Recht einräumen würde, Parlamentsgesetze aufzuheben. Die zweite Neuerung besteht in der in § 6 niedergelegten Verpflichtung aller öffentlichen Hoheitsträger, im Einklang mit der EMRK zu handeln.115 Diese Bindung hat erhebliche Auswirkung auf die Befugnis der Gerichte, administratives Ermessen zu überprüfen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu berücksichtigen. Drittens sind die oberen Gerichte nach § 4 ermächtigt, eine gerichtliche Unvereinbarkeitserklärung („declaration of incompatibility“) zu geben.116 Damit kann zwar ein Parlamentsgesetz nicht aufgehoben werden, jedoch können die Gerichte durch eine derartige Erklärung eine öffentliche Debatte und eventuell einen Gesetzgebungsprozeß zur Änderung der betroffenen Norm auslösen. Wie die Unterabschnitte aller drei Regelungen ausdrücklich feststellen, sind weder Parlamentsgesetze der gerichtlichen Kontrolle unterworfen noch ist das Parla110 Brind [1991] 1 AC, 697. Vgl. zum Urteil und seiner Vorgeschichte Baum, Rights Brought Home, S. 291 f. 111 Salomon [1967] 2 QB, S. 118; Brind [1991] 1 AC, S. 697. 112 Vgl. dazu Baum, Rights Brought Home, S. 294 ff.; kritisch Morris, The Human Rights Act: Too Many Loose Ends?, S. 104 ff. 113 Zander, A Bill of Rights? präsentiert die wesentlichen Argumente für und wider. 114 Vgl. Baum, Rights Brought Home, S. 295 ff.; Morris, The Human Rights Act, S. 104 ff. 115 Vgl. Baum, Rights Brought Home, S. 299 ff.; Morris, The Human Rights Act, S. 112 ff. 116 Vgl. Baum, Rights Brought Home, S. 297 ff.; Morris, The Human Rights Act, S. 107 f.
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ment ein öffentlicher Hoheitsträger i. S. d. § 6, der als solcher unmittelbar an die EMRK gebunden wäre. Von den drei Neuerungen verdient insbesondere die zweite hinsichtlich der Bindung öffentlicher Hoheitsträger an gemeinwirtschaftliche Regelungen einige Aufmerksamkeit. Öffentliche Behörden i. S. d. § 6 sind Verwaltungsbehörden wie der Generaldirektor für Gas-und Strommärkte (DGGEM), das Office of Fair Trade (OFT) und die Monopolies and Mergers Commission (MMC). Dies bedeutet, daß der DGGEM bei der Erteilung der Lizenzen zur Aufnahme der stromwirtschaftlichen Tätigkeit, das OFT bei Entscheidungen über Wettbewerb und das MMC bei seinen Empfehlungen die EMRK berücksichtigen müssen. Darüberhinaus sind die öffentlichen Regionalversorger (PES) durch das Gerichtsurteil Sherlock and Morris117 in einer Angelegenheit über die Abschaltung eines Kunden als öffentliche Hoheitsträger eingestuft worden, so daß auch sie die EMRK insbesondere bei der Problematik der Abschaltungen berücksichtigen müssen. Bestehendes Ermessen dieser Hoheitsträger wird durch die Gerichte überprüft. Da die Gerichte ebenfalls ausdrücklich als derartige öffentliche Hoheitsträger bezeichnet werden, sind auch diese bei Entscheidungen etwa über die Abschaltung von Kunden vom Strom an die EMRK gebunden.118 Neben den genannten unmittelbaren Bindungen der öffentlichen Hoheitsträger, von denen das Parlament frei bleibt, bestehen aber offensichtlich indirekte Auswirkungen der EMRK auf Parlamentsgesetze. Dies kann am besten durch den Fall Malone v Commissioner of Police of the Metropolis119 illustriert werden. In diesem Fall rügte Malone polizeiliche Telephonabhörmaßnahmen als Verletzung der EMRK. Vor einem britischen Gericht wurde seine Klage abgewiesen, allerdings kritisierte der Richter das Fehlen rechtlicher Schutzmaßnahmen und verband dies mit der Warnung, daß dies mit der EMRK unvereinbar sei. Malone brachte seinen Fall anschließend vor den EGMR, der 1984 die nach wie vor hohe Zahl von Abhörmaßnahmen in Großbritannien kritisierte. Als Konsequenz verabschiedete das britische Parlament den Interception of Communication Act 1985. Die Schlußfolgerung erscheint plausibel, daß das Gesetz erlassen wurde, um eine Verletzungen der EMRK und entsprechender Urteile des EGMR zu verhindern. Dies zeigt, daß trotz fehlender rechtlicher Bindung des Parlaments indirekte, eher politische Bindungen bestehen. Zusammenfassend lassen sich hinsichtlich des Verhältnisses von EMRK zur britischen Verfassung drei Punkte festhalten. Öffentliche Hoheitsträger und Gerichte sind unmittelbar an die EMRK gebunden, das Parlament unterliegt indirekt politi117 QBD (NI), 29 / 11 / 96. Kritisch Mc Harg, In the Matter of Applications of Sherlock and Morris for Judicial Review, S. 125; Scott, The Juridification of Regulatory Relations In the UK Utilities Sector, S. 52. 118 Vgl. Morris, The Human Rights Act, S. 111 f., 123. 119 Malone [1979] 1 All ER. Zum Zusammenhang und Ablauf des Prozesses Foulkes, Annotation of the Interception of Communication Act 1985, c. 56.
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schen Bindungen durch die EMRK, und schließlich der entscheidende Punkt auf unsere Fragestellung, es läßt sich aus der EMRK derzeit keine Verpflichtung bezüglich gemeinwirtschaftlicher Vorschriften im Stromsektor ableiten. bb) Positive Rechte aus der EMRK? Da sich letzteres im Hinblick auf das Parlament durchaus noch ändern könnte120, soll hier kurz der Frage nachgegangen werden, ob sich überhaupt aus der EMRK positive Ansprüche herleiten lassen. Grundsätzlich sind die EMRKRechte als Abwehrrechte gegen den Staat konstruiert. Aus einer Übersicht typischer Fälle vor dem EGMR geht hervor, daß in keinem der Fälle positive Rechte garantiert wurden, d. h. Ansprüche des Bürgers auf staatliche Aktivitäten auch gesetzgeberischer Natur.121 Nichtsdestotrotz gab es vor dem EGMR einige seltene Fälle, in denen das Gericht auch eine positive Komponente der EMRK-Rechte, insbesondere bzgl. des Rechts auf Leben für möglich hielt. In der Entscheidung vom 19. 2. 1998 Guerra and others v. Italy122 heißt es: „Although the object of Art. 8 is essentially that of protecting the individual against arbitrary interference by the public authorities, it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking there may be positive obligations.“
In der Entscheidung vom 9. 6. 1998 L.C.B. v. UK123, die das Recht auf Leben betraf, heißt es: „the first sentence of Art. 2 (1)124 enjoins the State not only to refrain from the intentional and unlawful taking of life, but also to take approppriate steps to safeguard the lives of those within its jurisdiction.“
Dieser Standpunkt des Gerichts wurde erneut in der jüngeren Entscheidung zu Art. 2 (1) unter ausdrücklicher Berufung auf das L.C.B.-Urteil im Fall Osman v. UK vom 28. 10. 1998125 vertreten. Dort heißt es: „It is thus accepted [ . . . ] that Art. 2 of the Convention may also imply in certain welldefined circumstances a positive obligation on the authorities to take preventive operational measures to protect an individual whose life is at risk from criminal acts of another individual.“ 120 Bradley, The Sovereignty of Parliament-In Perpetuity, S. 98 ff.; Lester, European Human Rights and the British Constitution, S. 39 – 46. 121 Lester, European Human Rights and the British Constitution, S. 42 – 46. 122 ECHR Reports, No. 64, 1998-I, S. 210, 227, Tz. 58, veröffentl. unter http: // www.dhcour.coe.fr / . 123 ECHR Reports, No. 76, 1998-III, S. 1390, 1403,Tz. 36, veröffentl. unter http: // www.dhcour.coe.fr / . 124 „Everyone’s right to life shall be protected by law“. 125 ECHR Reports, No. 95, 1998-VIII, S. 3124, 3159. Tz. 115, veröffentl. unter http: // www.dhcour.coe.fr / ; kritisch Monti, Osman v. UK-Transforming English Negligence Law into French Administrative Law?, S. 757 ff.
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Weiter heißt es: „such an obligation must be interpreted in a way which does not impose an impossible or disproportionate burden on the authorities. Accordingly, not every claimed risk to life can entail for the authorities a Convention requirement to take operational measures to prevent that risk from materialising.“
Die Bedingungen, die eine derartige Pflicht auslösen benennt das Gericht wie folgt: „where there is an allegation that the authorities have violated their positive obligation to protect the right to life in the context of their above-mentioned duty to prevent and suppress offences against the person [. . .], it must be established to it’s [the court’s, der Verf.] satisfaction that the authorities knew or ought to have known at the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party and that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk.“126
Interessanterweise stellte der Gerichtshof in keinem der drei Fälle abschließend eine derartige staatliche Pflicht fest. Die Beweislast, die Kenntnis der Behörde sowie das Bestehen einer wirklichen und unmittelbaren Bedrohung des Lebens einer bestimmten Person nachzuweisen, stellt sich als sehr hohe Hürde dar. Wendet man das Gesagte auf eine mögliche Pflicht des Gesetzgebers an, gemeinwirtschaftliche Regeln zu erlassen, etwa in Form einer Anschluß- und Versorgungspflicht, dann erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß jemand diesen Nachweis je erbringen könnte. Damit läßt sich zusammenfassend feststellen, daß wenngleich sich grundsätzliche eine positive Dimension der EMRK-Rechte identifizieren lassen, diese nicht auf Pflichten des Gesetzgebers bzgl. gemeinwirtschaftlicher Regeln ausgedehnt werden können.
f) EU-Recht Schließlich bleibt als letzte mögliche Begrenzung der Parlamentssouveränität hinsichtlich der Einführung gemeinwirtschaftlicher Regelungen im Stromsektor das EU-Recht. Es war in der Vergangenheit höchst umstritten, wie EU-Recht und das Prinzip der Parliamentary Sovereignty miteinander in Einklang gebracht werden können. Klarer als dieser Streit ist allerdings die tatsächliche Lage. EU-Recht begründet in der Praxis selbstverständlich bestimmte gesetzgeberische Pflichten auch des britischen Parlaments. Im Folgenden wird dies aufgezeigt sowie darauf eingegangen, wie sich die Situation im Bereich gemeinwirtschaftlicher Regelungspflichten im Stromsektor darstellt.
126
ECHR Reports, No. 95, 1998-VIII, S. 3160, Tz. 116.
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aa) Parliamentary Sovereignty und britische EU-Mitgliedschaft Das Alltagsverhältnis zwischen Großbritannien und der EU ist wesentlich weniger aufgeregt als es manche rechtswissenschaftliche und politische Debatte in Großbritannien erwarten läßt. Die EU-Institutionen haben weite exekutive, legislative und steuerliche Befugnisse, die alle Bereiche britischer Politik und Bürger unmittelbar beeinflussen. Gleiches gilt für die ausgedehnten gerichtlichen Befugnisse des EuGH und sein unmittelbar geltendes Fallrecht. EU-Verordnungen und zahlreiche Vertragsbestimmungen haben unmittelbare Wirkung und genießen Anwendungsvorrang vor abweichendem nationalen Recht. Richtlinien müssen in britisches Recht umgesetzt werden und Nichtumsetzung kann zu Schadensersatzforderungen jeder Partei führen, die nachweisen kann, daß ihr ein individueller Schaden aufgrund der Nichtumsetzung der Richtlinie erwachsen ist.127 Die unmittelbare Geltung der EU-Regeln hat zur Folge, daß britische Gerichte die Befugnis haben, unmittelbar EU-Recht umzusetzen, sogar dann, wenn dieses geltenden britischen Gesetzen widerspricht. Diese Situation besteht seit der Verabschiedung des European Communities Act 1972, durch dessen Verabschiedung Großbritannien der EU beitrat. Die beiden Hauptprinzipien des Gesetzes, die das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU betreffen, sind in § 2 und § 3 des Gesetzes geregelt. Während § 2 (1)128 die unmittelbare Geltung des EU-Rechts festschreibt, regeln § 2 (4)129 und § 3 (1)130 den Anwendungsvorrang des EU-Rechts und der gerichtlichen Durchsetzung von EU-Recht und dessen Prinzipien. Inhalt und Umfang dieser beiden Prinzipien des Europarechts waren auch auf europäischer Ebene zunächst unklar und sind erst durch eine integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH im Laufe der Zeit entstanden. Dies geschah vor allem in drei Entscheidungen. In der Entscheidung Van Gend En Loos hatte der EuGH die Frage zu beantworten, ob Art. 25 EG (12 EGV) unmittelbar in dem Gebiet eines Mitgliedstaates anwendbar ist und damit, ob Bürger eines Mitgliedstaates sich auf diesen Artikel als individuell einklagbares Recht vor den nationalen Gerichten berufen können. Der EuGH entschied131: Vgl. etwa EuGH, Francovich, Slg. 1991, I-5357. „All such rights, powers, liabilities, obligations and restrictions from time to time created or arising by or under the Treaties, and all such remedies and procedures from time to time provided for by or under the Treaties in accordance with the Treaties are without further enactment to be given legal effect or used in the UK shall be recognised and available in law, and be enforced, allowed and followed accordingly: [ . . . ]“. 129 „[ . . . ] any enactment passed or to be passed [ . . . ] shall be construed and have effect subject to the foregoing provisions of this section; [ . . . ]“. 130 „For the purpose of all legal proceedings any questions as to the meaning or effect of any Treaties, or as to the validity, meaning or effect of any Community instrument, shall be treated as a question of law [ . . . ]“. 131 EuGH, N.V. Algemene Transport En Expeditie Onderneming Van Gend & Loos / Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26 / 62, Slg. 1963,1, 25. 127 128
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„Aus alledem ist zu schließen, daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt“.
In der zweiten Entscheidung, Costa v. ENEL, hatte der EuGH über die Einführung eines staatlichen Monopols in der Stromwirtschaft Italiens zu urteilen, das in der geplanten Form mit EU-Recht unvereinbar war. Der EuGH urteilte132: „Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließendem Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten staatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“
Anders ausgedrückt hieß dies, daß die allgemeine Lex-Posterior-Regel oder Implied-Repeal-Doktrin im Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten nicht anwendbar ist und damit EU-Recht immer dem nationalen Recht vorgeht. Wie mit Unstimmigkeiten umzugehen ist, entschied der EuGH in Simmenthal. Dort urteilte der Gerichtshof133: „Das staatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Norm Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte.“
Es ist offensichtlich, daß diese Entscheidung in krassem Widerspruch zu der geltenden Interpretation der Parliamentary Sovereignty steht. Zum einen scheint der Gesetzgeber von 1972 seine Nachfolger zum ersten Mal durch Gesetz inhaltlich gebunden zu haben, da diese nicht einfach dem EU-Recht widersprechende Gesetze erlassen dürfen. Zweitens dürfen nun die Gerichte dem EU-Recht widersprechende Gesetze für nicht anwendbar erklären und damit genau das Gegenteil von dem tun, was Dicey als rechtliche Tatsache angesehen hat, nämlich daß Gerichte nach dem Prinzip der Parliamentary Sovereignty kein Parlamentsgesetz außer Kraft setzen können. Aufgrund dieses augenscheinlichen Bruchs mit der klassischen Interpretation der Parliamentary Sovereignty, erstaunt es nicht, daß die britischen Gerichte so lange als möglich versuchten, die klassische Interpretation trotz 132 133
646.
EuGH, Flaminio Costa / ENEL, Rs. 6 / 64, Slg. 1964, 1251, 1270. EuGH, Staatliche Finanzverwaltung / SpA Simmenthal, Rs. 106 / 77, Slg. 1978, 629,
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der europarechtlichen Neuerungen zu retten. Zunächst bemühten sie die Grundsätze aus Brind134, d. h. ein mehrdeutiges Gesetz so auszulegen, daß es mit dem EU-Recht übereinstimmt. Danach wurde versucht, die klassische Interpretation in den Urteilen Macarthys135 und Garland136 dadurch zu retten, daß man argumentierte, daß das Parlament immer noch absolut souverän sei, da es immer ausdrücklich EU-Recht aufheben könne. Diese Rettungsversuche wurden in Frage gestellt als zum ersten Mal ein nationales Gesetz und eine nationale Verfahrensregel ganz offensichtlich im Widerspruch zu EU-Recht standen. Dieses Problem trat im Fall Factortame137 auf. In dem Fall ging es um spanische Fischereischiffe, die in Großbritannien registriert waren, um die Großbritannien nach EU-Recht vorbehaltenen Fischereiquoten auszunutzen. Dagegen zwang der Merchant Shipping Act 1988 Bürger anderer Nationalität durch Neudefinierung der Registrierungsbedingungen, britische Fischereigegenden zu verlassen. Der Divisional Court der Queen’s Bench Division beschloß, ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einzuleiten und gewährte für die Zwischenzeit einstweiligen Rechtsschutz, indem es den Merchant Shipping Act 1988 nicht anwendete. Die einstweilige Verfügung wurde vom Court of Appeal aufgehoben mit der Begründung, „that the court had no power to make an order declaring an Act of Parliament not to be the law until some uncertain future date and conferring on the applicants rights directly contrary to the sovereign will of Parliament.“138 Außerdem urteilte der Appeal Court hinsichtlich der Verfahrensfrage, daß es nach britischem Recht keine einstweilige Verfügung gegen die Krone gebe. Die Law Lords hielten in der Revision dieses Urteil zunächst aufrecht, leiteten jedoch ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ein, der erwartungsgemäß den einstweiligen Rechtsschutz entgegen der Meinung des Appeal Courts aufrecht erhielt. Daraufhin gewährte schließlich auch das House of Lords in seiner gerichtlichen Funktion einstweiligen Rechtsschutz gegen die Krone und stimmte der Nichtanwendung des Merchant Shipping Act 1988 zu.139 Diese Rechtsprechung war ein großer Schnitt in der Entwicklung der Souveränitäts-Doktrin, da zum ersten Mal in der Geschichte ein unzweideutiges Parlamentsgesetz durch Gerichte nicht angewendet wurde. Dennoch versuchen die Anhänger der klassischen Interpretation die neue Entwicklung durch die Konstruktion einer inkorporierten oder delegierten Rechtssetzung zu erklären und damit zu argumentieren, daß letztlich die Parliamentary Sovereignty immer noch bestünde, da das Parlament immer noch den gesamten European Communities Act 1972 aufheben könne. Diese Sichtweise ist allerdings fragwürdig. Die klassische Interpretation Brind [1991] 1 AC, 697. Vgl. oben E.III.3.e)aa.) Macarthys Ltd. v. Smith [1981] 1 QB 180. 136 Garland v. British Rail Engeneering Ltd. [1983] 2 AC 751, HL. 137 Reg. v. Transport Secretary, ex parte Factortame Ltd. (No. 1) [1990] 2 AC 85, HL; Reg. v. Transport Secretary, ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 AC 603, HL. 138 Factortame (No. 1), [1990] 2 AC 86. 139 Factortame (No. 2), [1991] 1 AC 605, HL. 134 135
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hat auf jeden Fall ihr Dogma der „legal fact“ (Dicey) in dem Moment verloren, in dem das Parlament 1972 seine Nachfolger gebunden hat und britische Gerichte berechtigt und willens sind, britische Gesetze nicht anzuwenden. Es ist daher wohl unbestreitbar, daß sich die ursprüngliche, auf Dicey zurückgehende Parliamentary Sovereignty durch das EU-Recht erheblich verändert hat. Für die vorliegende Untersuchung ist es ausreichend festzustellen, daß durch EU-Recht auch das britische Parlament gebunden werden kann und damit die Parliamentary Sovereignty begrenzt wurde. Aus dieser Feststellung heraus stellt sich die weitergehende Frage, ob und welche gemeinwirtschaftlichen Regelungen das EU-Recht im Bereich des Stromsektors enthält, die derartige Pflichten des Gesetzgebers begründen können.
bb) Gemeinwirtschaftliche Regelungen im EU-Recht und ihre nationale Umsetzung Anders als im Postsektor in der RL 97 / 67 / EG und in begrenzterem Maß auch im Telekom-Sektor durch die RL 96 / 19 / EG enthält die RL 96 / 92 / EG über den Strombinnenmarkt keine verbindlichen Vorgaben über gemeinwirtschaftliche Regelungen. Die Regelungen zum Umweltschutz, zur Versorgungssicherheit, zu Anschluß- und Versorgungspflichten enthalten allesamt Optionen für die Mitgliedstaaten, jedoch keine Verpflichtungen, derartige Regelungen einzuführen. Insofern bleibt das EU-Recht im Stromsektor hinter den Sektoren Post und Telekom zurück und es lassen sich nach bisherigem Stand keine Verpflichtungen aus dem EURecht für den britischen Gesetzgeber ableiten. Dies könnte sich ändern, wenn die Universaldienste auf EU-Ebene für den Stromsektor konkret und verpflichtend geregelt würden. Bis dahin bleibt die Einführung gemeinwirtschaftlicher Regelungen im Stromsektor ausschließlich Befugnis der Mitgliedstaaten.
g) Ergebnis: Keine verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben für gemeinwirtschaftliche Regelungen im Stromsektor Die Untersuchung hat gezeigt, daß nach britischem Verfassungsrecht keine Vorgaben bei der Deregulierung des Stromsektor in Bezug auf gemeinwirtschaftliche Regelungen bestehen. Damit ist das britische Parlament aufgrund des Prinzips der Parliamentary Sovereignty rechtlich vollkommen frei in seinen Entscheidungen. Weder britische Grundrechte, noch die Wiederbelebung von alten Common-LawPrinzipien können den Gesetzgeber in seiner Entscheidungsfreiheit einschränken. Allenfalls ließe sich ein moralischer Druck aus den Constitutional Conventions herleiten, jedoch ist hier zweifelhaft, ob diese Figur überhaupt auf materiellrechtliche Aspekte anwendbar ist und sie nicht auf formalrechtliche und institutionelle Fragen beschränkt bleiben muß. Auch internationales Recht enthält keine rechtli-
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chen Vorgaben hinsichtlich der Einführung gemeinwirtschaftlicher Regeln in Großbritannien. Die EMRK bindet durch ihre Umsetzung im Human Rights Act 1998 ausdrücklich den britischen Gesetzgeber nicht und somit müssen auch die Gerichte jedes britische Parlamentsgesetz weiterhin anwenden. Anders ist die Lage hinsichtlich des EU-Rechts. Hier besteht seit dem European Communities Act 1972 und den britischen Factortame-Entscheidungen eine rechtliche Bindung des Parlaments und die britischen Gerichte sind erstmals befugt, dem EU-Recht widersprechende nationale Gesetze nicht anzuwenden. Allerdings fehlt es im Bereich des Stromsektors an verbindlichen gemeinwirtschaftlichen Regeln, die das Parlament umzusetzen hätte. Somit wird bisher die einzige Möglichkeit, das britische Parlament auf den Erlaß gemeinwirtschaftlicher Regelungen zu verpflichten, nicht ausgeschöpft. Im Ergebnis bedeutet dies, daß es bei der Privatisierung und Deregulierung des britischen Stromsektors keine rechtlichen Vorgaben bzgl. gemeinwirtschaftlicher Regelungen zu beachten gab.
4. Bestehendes Rechtsregime im Stromsektor nach der Deregulierung Gesetzliche Grundlage der gegenwärtigen Strukturen der Elektrizitätswirtschaft in Großbritannien ist der Electricity Act 1989140. Das Gesetz spaltete die bis dahin zentralistisch-monopolistisch organisierte staatliche Stromgesellschaft (CEGB) in verschiedene funktionale Teile auf: die National Grid Company (NGC) übernahm den Betrieb der Hochspannungsleitungen zur Stromübertragung, für die Erzeugung wurden die beiden Erzeugerfirmen PowerGen und National Power sowie Nuclear Electric für die profitablen Atomkraftwerke gegründet141. Aus den 12 Regionalversorgern (Area Boards) des alten Strom-Regimes entstanden 12 Regional Electricity Companies (RECs), die für Verteilung und Endversorgung zuständig sind. Erzeugung und Vertrieb wurden dereguliert, d. h. dem Wettbewerb zugänglich gemacht, während Übertragung über die Hochspannungsnetze und Verteilung über die Niedrigspannungsnetze monopolistisch blieben. Die vollkommene Liberalisierung der Endversorgung im Bereich der Haushalte und Kleinabnehmer erfolgte erst 1998, zeitverzögert zur Deregulierung im Bereich der Großkunden (>1 MW) seit 1990 und der mittelgroßen Abnehmer (100 kW-1 MW) seit 1994142. Zur Überwa140 Vgl. Gilland, The Regulatory Regime of the Electricity Industry in England and Wales, S. 239 ff.; Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 45; OFGEM, NETA Consultation, Vol. 2, Appendix 8: „The Existing Legal and Regulatory Framework“. Dort werden das System der Lizenzen, das Pooling and Settlement Agreement, der Grid Code, das Master Connection and Use of System Agreement, das Master Registration Agreement beschrieben sowie weitere wichtige Vereinbarungen der Industrie benannt. 141 Die nicht-profitablen Atomkraftwerke blieben in staatlicher Hand. 142 Vgl. Prosser, Law and the Regulators, S. 171; Green / McDaniel, Competition in Electricity Supply: Will „1998“ Be Worth It?, S. 273 ff.; Villiers, The Competitive Electricity Market from 1998, S. 55 – 58.
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chung des anfangs nur ansatzweise wettbewerbstauglichen Strommarktes wurde eine sektorenspezifische Regulierungsbehörde geschaffen. Der Generaldirektor für Stromversorgung (DGES) wurde ermächtigt, sich eine Behörde einzurichten, was er mit dem Office for Electricity Regulation (OFFER) tat. Seine Aufgabe bestand nach § 3 Electricity Act 1989 in wettbewerbsfördernder („competitive“) und in gemeinwirtschaftlicher („social“) Regulierung von Übertragung, Verteilung und Endversorgung, während Erzeugung weitgehend von Regulierung ausgenommen wurde. Dabei war der wichtigste Bereich der wettbewerbsfördernden Regulierung die Preisgestaltung nach bestimmten Formeln143, die anders als in Deutschland Wettbewerbsanreize enthielten und damit nicht in erster Linie dem Verbraucherschutz, sondern der Wettbewerbsförderung dienten. Die physische Koordinierung der Erzeuger im Hinblick auf die Nachfrage nahm die NGC wahr, die dies mit der Schaffung des Strom-Pools durchführte. Im Juni 1999 wurden die Behörden OFFER und OFGAS (Office for Gas Supply), das unter der Leitung eines eigenen Generaldirektors stand, zusammengelegt. Die neue Behörde trägt den Namen Office of Gas and Electricity Markets (OFGEM). Interessant ist der gesetzestechnische Unterschied des britischen Electricity Act 1989 zu vergleichbaren deutschen Gesetzen. Das Gesetz selbst enthält nämlich nur wenig Informationen über die neu zu schaffende Struktur der Elektrizitätswirtschaft. Es enthält keine gesetzgeberischen Ziele und keinen Hinweis darauf, wie Strom überhaupt gehandelt werden soll, nicht einmal der Strom-Pool wird erwähnt. Ebenso bleibt die Regulierungsbehörde OFFER unerwähnt, allein in einem Anhang 2 zum Gesetz wird der Generaldirektor ermächtigt, das notwendige Personal zur Ausführung seiner Aufgaben einzustellen. Mit dieser für den deutschen Juristen undenkbaren Vorgehensweise folgt der Electricity Act 1989 dem Vorgänger aus dem Bereich Telekommunikation144. Dementsprechend ist eines der zentralen Anliegen des Gesetzes, die Position des Generaldirektors zu schaffen, diesem die sehr allgemein gehaltene Pflicht zu übertragen, das CEGB zu privatisieren und ihn dafür sowie für die Aufgabe der Regulierung mit der Befugnis auszustatten, Lizenzen zu vergeben und zu gestalten. Dieses System ist durch den weiten Spielraum, den der Generaldirektor hat, ein sehr flexibles System, erzeugt jedoch rechtsstaatliche Probleme bzgl. der Legitimierung und Verantwortlichkeit der Regulierungsbehörde und des Generaldirektors.145
143 Zur Preisgestaltung in der britischen Versorgungsindustrie und der zentralen „RPI-X“Formel vgl. Baldwin / Cave, Understanding Regulation, 1999, S. 203 ff. und 224 ff.; Beesley, Privatization, Regulation and Deregulation, S. 354 ff. und 393 ff.; Rees / Vickers, RPI-X Price-Cap Regulation, S. 358 ff.; Veljanovski, The Future of Industry Regulation in the UK, S. 27 – 39. 144 Prosser, Law and the Regulators, S. 152. 145 Vgl. McHarg, Accountability in the ESI, S. 34 – 42; P. M. Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 423 ff. untersucht, inwieweit es auch in Deutschland durch Privatisierung zu Steuerungsverlusten des Gesetzgebers zugunsten der Verwaltung kommt.
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a) Wettbewerbsfördernde Regelungen („Competitive Regulation“) aa) Eigentumsstrukturen §§ 65 ff. Electricity Act 1989 regeln die Neustrukturierung der Stromwirtschaft. Dabei wird durch das Gesetz dem zuständigen Minister die Befugnis übertragen, zu dem von ihm als angemessen erachteten Zeitpunkt, die Privatisierung und Neustrukturierung der Industrie vorzunehmen. § 65 des Gesetzes regelt die Privatisierung der alten Area Boards und § 66 die Privatisierung des CEGB, ohne jedoch konkrete Vorgaben für die neuen Strukturen zu machen. Nach § 84 (4) löst der zuständige Minister die alten Körperschaften auf, sobald sie keine Funktion mehr ausüben. Tatsächlich wurde bei der Neuordnung der Stromwirtschaft zuerst der Markt dereguliert und erst später Privatisierungen vorgenommen. Die Area Boards wurden ersetzt durch 12 Regional Electricity Companies (RECs), die zunächst alle in öffentlichem Eigentum standen und als Monopolisten für die Verteilung und Endversorgung zuständig waren. Nach der Neustrukturierung sind Privatunternehmen mit den RECs in Konkurrenz getreten sowie verschiedene ursprünglich öffentliche RECs privatisiert worden.146 Die Erzeugungsfunktion des CEGB übernahmen die Firmen PowerGen und NationalPower, die mittlerweile ebenfalls zahlreiche Konkurrenten haben und schließlich auch privatisiert wurden. Ähnlich ging es der National Grid Company (NGC), die die Übertragungsaufgabe über Hochspannungsnetze vom CEGB übernahm. Sie blieb zwar bis heute als Monopolist bestehen, jedoch mußten 1995 die 12 öffentlichen RECs ihre Anteile an NGC an der Börse verkaufen, wodurch die materielle Privatisierung vollzogen wurde.147 Allerdings behielt die britische Regierung sowohl an den zwei Erzeugerfirmen als auch an NGC je einen sog. Golden oder Special Share („Mehrstimmrechte“148) mit dem Nominalwert von 1 Pfund, mit dem sie über besondere Stimmrechte insbesondere Übernahmen durch ausländische Unternehmen verhindern konnte.149 Auf diese Weise wehrte die Regierung noch 1996 Übernahmeversuche eines US-amerikanischen Versorgungsunternehmens (Southern Company) erfolgreich ab. Die Golden Shares an den RECs liefen 1995 aus, was zahlreiche Übernahmen zur Folge hatte.150
146 Vgl. zum Ganzen Politt, A Survey of the Liberalization of Public Enterprises in the UK since 1979, S. 140 ff. 147 Thomas, The Development of Competition, S. 72 f. 148 Nach deutschem Recht existierte bis zur Streichung der Vorschrift 1998 eine derartige Möglichkeit ebenfalls über die sog. Mehrstimmrechte nach § 12 II S. 2 AktG a.F. zur „Wahrung überwiegender gesamtwirtschaftlicher Belange“, was jedoch nicht als Regelfall angewendet wurde. Vgl. Heider, Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, § 12, Rn. 1 – 4, 9, 37 ff. 149 Vgl. Knauss, Der special share, ein Instrument der britischen Privatisierungspolitik, S. 371 ff.; vgl. zur Vereinbarkeit mit EG-Recht Ruge, Goldene Aktien und EG-Recht, S. 421 ff. 150 Thomas, The Development of Competition, S. 67,70.
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bb) Das Lizenzsystem: Betriebsaufnahmegenehmigung und Betriebsbedingungen Im System der Lizenzen liegt der Schlüssel zum Regulierungssystem des Strommarktes in GB. Sie sind geregelt in den §§ 4 – 15 des Electricity Act 1989. Gemäß § 4 dieses Gesetzes bedarf die Erzeugung, Übertragung und Endversorgung sowie seit der jüngsten Reform gemäß §§ 28 ff. Utilities Act 2000 auch die Verteilung von Strom, einer vorher zu erteilenden Lizenz. Jede dieser Tätigkeiten ohne eine derartige Lizenz ist eine Straftat, es sei denn, es besteht eine Ausnahme nach §§ 4 (1) i.V.m. § 5 Electricity Act (1989)151. In den Lizenzen können die Regierung und der Generaldirektor von OFGEM die Bedingungen festlegen, unter denen ein Stromunternehmen tätig werden darf. Hinsichtlich der Preisgestaltung gibt es zwei wichtige Bedingungen, die in den Lizenzen aller Unternehmen enthalten sind. Zum einen wird jeder Lizenznehmer verpflichtet, sich der Preisgestaltung des Generaldirektors unterzuordnen. Bis zur Abschaffung des Strom-Pools verpflichten sich zudem alle Lizenznehmer, Mitglieder des Strom-Pools zu bleiben, mittlerweile wurden die Lizenzen dahingehend geändert, daß eine Pflicht zur Teilnahme am „Ausgleichsmechanismus“ des Balancing and Settlement Code (BSC) besteht.152
cc) Preisgestaltung („Pricing“): „Electricity-Pool“ und seine Abschaffung (1) Funktion, Organisation und Arbeitsweise des Pools Der Pool hatte im Wesentlichen drei Funktionen:153 Er bestimmte die „merit order“, d. h. die Rangfolge der Kraftwerke, von denen aufgrund ihres günstigen Angebots vorzugsweise Strom abgenommen wurde. Weiterhin bestimmte er die Preise für die bereitgestellte Energie und die damit verbundenen Dienstleistungen und er koordinierte die vorhandenen Kraftwerke und Reservekraftwerke, um eine kontinuierliche Versorgung sicherzustellen154. Die Bereiche Übertragung, Verteilung und Endversorgung unterliegen der Preiskontrolle von OFFER155. Der Bereich der Stromerzeugung ist den Befugnissen zur 151 Vgl. OFGEM, The Government’s Review of Energy Sources for Power Generation, OFGEM, Advice, Punkt 2.24, Punkt 3.13, Punkt 4.12. 152 Dazu sogleich unter cc) (3). 153 Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 45. 154 Köster, Wettbewerbsorientierte Stromversorgung im Pool-System, S. 55 f.; Newberry, Pool Reform and Competition, S. 127; Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 45. 155 Kritik an der Befugnis zur Preiskontrolle wurde frühzeitig geäußert vom Trade and Industrie Committe, HC 481-I, Punkt 53. Die Bereiche Hochspannungsübertragung, Verteilung und Endversorgung werden getrennt nach unterschiedlichen Formeln preislich reguliert. Dies trägt nicht gerade zur Transparenz des Systems bei. Vgl. Prosser, Law and the Regulators, S. 160.
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Preisgestaltung und Preiskontrolle durch OFFER entzogen. Der Grund dafür ist die allgemein vorherrschende Ansicht, daß dieser Bereich derjenige ist, in dem Wettbewerb am einfachsten einzuführen ist. Trotz dieser grundsätzlichen Freistellung von staatlicher Preiskontrolle gab es in der Praxis Preisdeckelungen („Price Caps“) für die beiden marktbeherrschenden Unternehmen. Mit abnehmender Marktmacht insbesondere durch Verkauf von Kraftwerken wurden diese Preisdeckelungen aufgegeben156. Die preisgestaltende Funktion des Pools diente in erster Linie der Dekkung von Kosten für Übertragung und Koordinierung von Kraftwerken. Die zweite wichtige Funktion bestand darin, durch Preisgestaltungen bestimmte Aktivitäten zu forcieren, um ein wettbewerbsfreundliches Klima zu schaffen („Anreizfunktion“). Diese beiden Zielsetzungen entsprachen den Aufgaben des Generaldirektors von OFFER nach § 3 Electricity Act 1989. Die Notwendigkeit des Pools als zentraler Koordinator und Preisgestalter im Bereich der Stromerzeugung wurde mit der physikalischen Natur von Elektrizität begründet, die von anderen gehandelten Gütern abweicht. Strom ist als solcher nicht speicherbar157. Diese Eigenschaft macht eine Koordinierung der erzeugten Energie mit den Kapazitäten der Netze und der aktuellen Nachfrage nach Strom notwendig. In Großbritannien hielt man es für praktischer, eine zentrale Koordinierungsstelle einzurichten, als die Versorgung vollkommen dem freien Handel und damit dezentralen Koordinierungsstellen zu überlassen, wie dies in Deutschland durch die acht Verbundunternehmen geschieht158. Wie bereits angesprochen, gab es keine gesetzlichen Regelungen über die Organisation des Pools. Lediglich hinsichtlich der Lizensierung finden die allgemeinen Vorschriften des Electricity Acts 1989 Anwendung. Insofern bedurfte auch die NGC als monopolistischer Netzbetreiber einer Lizenz der Regulierungsbehörde. In dieser Lizenz war festgelegt, daß die NGC die Kraftwerke mit ihrer Stromerzeugung koordinieren sollte. Darüberhinaus sollte die NGC ein Verhandlungssystem für Erzeugung und Vertrieb betreiben in Übereinstimmung mit einem „Pool and Settlement Agreement“, einer Vereinbarung, der die NGC selbst als Partei beitreten mußte159. Der Pool wurde durch Vereinbarung des „Pooling and Settlement Agreement“ (PSA) 1990 ins Leben gerufen. Diese Übereinkunft war ein multilateraler Vertrag, der alle seine Mitglieder zur Einhaltung aller seiner Vereinbarungen verpflichtete. Paragraph 7.1 der PSA lautet160:
Vgl. Prosser, Law and the Regulators, S. 160. Köster, Wettbewerbsorientierte Stromversorgung im Pool-System, S. 34 f. m. w. N. 158 Daß dies nicht notwendigerweise so geregelt werden mußte, erkannte aber auch das Trade and Industry Committee, HC 481-I, Punkt 53. 159 So die „Condition 7“ der „Transmission Licence“. Alle Lizenzen an Erzeuger, Übertragungsunternehmen und Vertriebsunternehmen sind im Internet veröffentlicht: http: // www. ofgem.gov.uk / public / pgarc.htm. Ausführlich zum System der Lizenzvergabe Sas, Regulation and the Privatised Electricity Supply Industry, S. 493 – 496. 160 Übersetzung des Verfassers. 156 157
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„Jedes Pool-Mitglied erkennt an und stimmt zu, daß es gegenüber jedem anderen PoolMitglied in vertraglicher Weise gebunden ist und daß es alle seine Verpflichtungen aus der Vereinbarung erfüllen wird“.
Die Tragweite dieser Bestimmung wird deutlich aus der Tatsache, daß neben der NGC alle lizensierten Erzeuger und Endversorger durch Klauseln in ihrer Lizenz verpflichtet werden, Pool-Mitglieder im Rahmen der PSA zu werden und die dort vereinbarten Bedingungen zu erfüllen161. Dies hatte zur Konsequenz, daß es praktisch keinen Strom gab, der am Pool und seinem Handelssystem vorbeifloß162. Der Pool wurde geleitet vom „Exekutivkommittee“, dessen Aufgabe die Organisation des Handels und aller anderen institutionellen und organisatorischen Angelegenheiten war163. Der Generaldirektor (DGES) und Chef von OFFER hatte das Recht, an allen Komittee-Sitzungen teilzunehmen und Stellungnahmen abzugeben. Darüberhinaus war sein Einfluß dort begrenzt164. Der Pool war ein Großhandelsmarkt für Elektrizität. Handel und Preisgestaltung funktionierte nach einem im Detail recht komplizierten System, das den Wettbewerb zwischen verschiedenen Erzeugern im Wege ihrer Angebote an den Pool stark förderte. Das Preissystem bestand aus unterschiedlichen Komponenten.165 Der Preis für die Grenzkosten des Systems (System Marginal Price, SMP) und die Kapazitätszahlungen (Capacity Payments) bildeten gemeinsam den Pool-Einkaufspreis (Pool Purchase Price, PPP), der vom Pool an die Erzeuger gezahlt wurde. Der Einkaufspreis (PPP) bildete zusammen mit einem Aufpreis (Uplift) den Pool-Verkaufspreis (Pool Selling Price, PSP), zu dem die Endversorger vom Pool Strom kauften. Die Preise entstanden folgendermaßen:166 Verkaufswillige Stromerzeuger teilten dem Pool und der Netzbetreiberin NGC einen Tag im voraus bis 10 Uhr morgens mit, wieviel Strom und zu welchem Preis welche ihrer Kraftwerke für den folgenden Tag liefern können. Dabei waren unterschiedliche Preise für jede halbe Stunde möglich, d. h. insgesamt 48 verschiedene Preisabstufungen. Zusätzlich zum Preis und der Menge lieferbarer Energie wurden noch andere Informationen, die wichtig für die Koordinierung von Kraftwerken sind, an NGC und den Pool weitergegeben. Dazu gehören vor allem gewisse Betriebseinschränkungen wie Mindesterzeugungsmengen und die Möglichkeit beTrade and Industry Committe, HC 481-V, 1994 – 95, Aspects of the ESI, S. 157. Sogar die weiter unten beschriebenen „Contracts for Differences“, die unmittelbare Verträge zwischen Abnehmer und Erzeuger ohne Preisgestaltung durch den Pool darstellen, können ohne den Pool und sein Preissystem nicht existieren, da es gerade das erklärte Ziel der CfDs ist, gegen die Preisschwankungen des Pools zu schützen und sie zur Berechnung der Verkaufspreise ihrerseits die Pool-Preise als Grundlage haben. 163 Section 14 PSA, S. 121 f. 164 Zu dieser begrenzten Stellung vgl. Trade and Industry Committe, HC 481-V, S. 158. 165 Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 45 f.; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 155 ff. 166 Vgl. Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 47 f. 161 162
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stimmter Kraftwerke, die Produktion in kurzer Zeit zu steigern oder zu senken, um Stromausfälle zu überbrücken. Die Netzbetreiberin NGC war verantwortlich für die Koordinierung der angebotenen erzeugten Energie mit der täglichen Nachfrage. Dabei erstellte NGC eine Vorhersage der Nachfrage und notwendiger Reserven, indem sie die Wettervorhersagen und typisches Verbrauchsverhalten halbstündlich berücksichtigte. Mit diesen Vorhersagen über die Nachfrage koordiniert NGC dann die Angebote der einzelnen Kraftwerke. Zum Zweck der Auswahl der Anbieter, von denen schließlich gekauft werden sollte, erstellte NGC eine Rangliste der Angebote nach Preisen sortiert. Von den Angeboten wurden die billigsten ausgewählt („merit order“). Um das billigste Erzeugungs-Angebot über den ganzen Tag zu erhalten, koordinierte ein Computer-Programm167 sämtliche halbstündigen Angebote der Erzeuger und suchte die jeweils günstigsten heraus, was auch die genannten Erzeugungsbeschränkungen einschloß. Von den Angeboten, die als die günstigsten ausgewählt wurden, bildete das teuerste Angebot den Grenzkostenpreis des Systems (SMP). Dieser wurde an alle Erzeuger gezahlt, die für die Produktion für den folgenden Tag ausgewählt wurden. Damit erzielten alle, die mit ihren Angeboten unterhalb des SMP liegen, Gewinne. Dies war ein Anreiz, niedrigere Angebote abzugeben und stellte eines der wettbewerbsfördernden Elemente des Pools dar. Zusätzlich zu dem SMP erhielten die Bieter, unabhängig davon, ob von ihnen Strom gekauft wurde oder sie nur als Reservekraftwerke vorgehalten wurden, die Kapazitätszahlungen (CP). Diese Zahlungen waren abhängig von der Kapazität eines Kraftwerks. Je größer der Unterschied zwischen Kapazität und Nachfrage war, desto kleiner die Kapazitätszahlung, je kleiner dieser Unterschied, desto größer die Kapazitätszahlung. Mit diesem System sollten alte Kraftwerke, bei denen der Unterschied zwischen Nachfrage und Kapazität tendenziell größer ist, zurückgedrängt werden, um Effizienz und Innovation zu fördern168. Die Kapazitätszahlungen bestanden aus zwei Elementen: „Loss of Load Probability“ (LOLP) und „Value of Lost Load“ (VOLL). LOLP war lediglich eine Bewertung der Wahrscheinlichkeit von Elektrizitätsverlusten durch Stromausfälle auf der Grundlage von Daten aus der Vergangenheit. VOLL hingegen war der Wert, den das Ausbleiben solcher Stromausfälle nach einer Einschätzung der Verwaltung hatte169. Zusammen ergaben SMP und CP den Preis, zu dem der Pool Elektrizität einkaufte (PPP). Der Verkaufspreis ergibt sich aus einer Addition des Einkaufspreises (PPP) mit einem Aufschlag, dem Uplift, und dem seit 1997 vom Aufschlag getrennten Preis für die Systembenutzung (Use of System Charges). Der Aufschlag umfaßte die Kosten, die für die Aufrechterhaltung der Übertragungsstabilität und der Sicherheit nötig sind („ancillary services“). Dazu gehören Generator Ordering and Loading (GOAL). MMC, Report National Power., S. 112. 169 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 135 – 137; Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry, S. 29. 167 168
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etwa der Reservebetrieb der Kraftwerke ohne Abnahme der angebotenen Elektrizität sowie Unterschiede zwischen Vorhersage der Nachfrage und der tatsächlichen Nachfrage auf der einen und Angebote der Erzeuger und tatsächliche Verfügbarkeit auf der anderen Seite („unscheduled availability“) 170. Kosten für die Systembenutzung sollten die Übertragungsverluste und Beschränkungen abdecken, die zuvor von allen Verbrauchern gleichmäßig gezahlt wurden, unabhängig von ihrem Wohnort171. Sie waren zum Schluß nicht mehr Teil des Pool-Verkaufspreises, sondern wurden bei den Entnahmestellen („Grid Supply Points“) in einer der 12 Vertriebs-Zonen auf den Verkaufspreis aufgeschlagen. Das führte zu geographisch unterschiedlichen Preisen, da aufgrund physikalischer Widerstände in Übertragungskabeln und anderer Ausrüstung Einschränkungen und Verluste von der geographischen Lage des Kraftwerks abhängen172. (2) Kritik am Strom-Pool Der Pool in seiner Eigenschaft als Handelsplattform für Elektrizität wurde scharf kritisiert.173 Die Kritik richtete sich im Wesentlichen gegen das System der Preisgestaltung durch den Pool. Die beiden Hauptkritikpunkte waren das System der Preisbildung und deren Manipulation sowie die hohe Volatilität der Preise. Preismanipulation und Bieter-Strategie Stromerzeuger mußten drei strategische Überlegungen anstellen: Zu welchem Preis sollte ein Kraftwerk Elektrizität verkaufen, in welchem Umfang sollte vertraglicher Verkauf am Pool vorbei vorgenommen werden und wie viele Kraftwerke sollen zu welcher Zeit verfügbar sein174. Zusammen bestimmten diese drei Faktoren den täglichen Rahmen für die Einkaufspreise und darüberhinaus die durchschnittlichen Langzeitkosten, um die herum die täglichen Preise fluktuierten. Naturgemäß bot sich anfangs den Duopolisten National Power und PowerGen die Möglichkeit, durch bestimmte Angebotsstrategien die Preise über den Pool zu manipulieren. Die beiden konnten den Einkaufspreis einfach durch hohe Angebote auf hohem Niveau halten, ohne von neuen Wettbewerbern preislich unter Druck gesetzt zu werden. Dieses Verhalten der beiden Erzeuger führte zu der erwähnten 170 Vgl. dazu OFGEM, NETA Consultation, Vol. 2, Appendix 6: „Ancillary Services under the Present Arrangements“. 171 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 129 f.; Turvey / Cory, Inefficiencies in Electricity Pricing, S. 283 – 292, 287. 172 Turvey / Cory, Inefficiencies in Electricity Pricing, S. 287 f.; OFFER, How Electricity Is Traded, veröffentl. http: // www.open.gov.uk / offer / trading.htm (30 / 02 / 99). 173 Vgl. Ruge, Die Abschaffung des Pool-Modells, S. 46; Ruge, Die neuen Handelsregeln für Strom, S. 1094. 174 Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry, S. 30; MMC, Report National Power, S. 121 f.
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vorübergehenden Preis-Deckelung und einer Verpflichtung, zwei Kraftwerke mit insgesamt 6000 MW Leistung an Wettbewerber zu verkaufen175. Auch wenn der gemeinsame Marktanteil der beiden ehemaligen Duopolisten im Winter 1998 / 99 nur noch bei knapp 50% und im Winter 1999 / 2000 bei knapp 35% lag, waren beide bis zuletzt in gewissem Umfang in der Lage, die Pool-Preise zu manipulieren, da sie den größten Teil derjenigen Kraftwerke besitzen, die in einer mittleren Preiskategorie liegen und so am meisten von der „merit order“ -Reihenfolge profitieren176. Allerdings ermöglichte die neuere und preiswerte Technologie der Combined Cycle and Gas Turbinen (CCGT), daß neue Wettbewerber zu vernünftigen Investitionskosten auf den Markt kamen. Damit wurde Marktmanipulation zumindest schwerer und die realistische Bedrohung durch neue Wettbewerber hielt die Preise auf relativ niedrigem Niveau.177 Eine andere Form der potenziellen Preismanipulation lag in den Informationen, die die Erzeuger an den Pool weitergaben, damit dieser die Kapazitätspreise und die Aufschläge berechnen konnte178. Es wurde kritisiert, daß der Zweck der Kapazitätszahlungen, nämlich als Langzeitzweck Innovation hinsichtlich der Kraftwerke zu fördern und als kurzzeitiger Zweck den Einsatz effizienter Kraftwerke zu fördern, nicht erreicht wurde. Durch das Nichtanbieten vorhandener Kapazitäten könnten Anbieter mit größeren Kapazitäten die Bewertung der Verlustwahrscheinlichkeit LOLP in die Höhe treiben, die bestimmend für die Kapazitätszahlungen waren179. Preisvolatilität und „Contracts for Differences“ Der zweite Hauptkritikpunkt gegenüber dem Pool-System war die starke Schwankung („volatility“) und die schlechte Vorhersagbarkeit der Pool-Preise. Insbesondere die Kapazitätszahlungen zwischen 1994 und 1997 wurden als exzessiv kritisiert180. Ein Mittel gegen diese Defizite und Instrument für mehr Preisstabilität für Kunden waren und sind die Differenzverträge oder Absicherungsverträge („Contracts for Differences“) und die Einrichtung von „Electricity Forward Agreements“. Insbesondere letzteres ist bislang nur schwach ausgebildet, soll jedoch durch die jüngste Reform gefördert werden.
175 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 147; Prosser, Law and the Regulators, S. 160, 167; Thomas, The Development of Competition, S. 73. 176 Prosser, Law and the Regulators, S. 167. 177 Kritisch Thomas, The Development of Competition, S. 74 ff. 178 Prosser, Law and the Regulators, S. 167. 179 Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry S. 127; diese Problematik wird auch im Beratungspapier von OFGEM, NETA Consultation, Punkt 3.2.4 und 3.2.5 und im Appendix 3 erkannt und dargestellt. 180 Prosser, Law and the Regulators, S. 127; Newberry, Pool Reform and Competition, S. 127.
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Die Differenzverträge sind Vereinbarungen zwischen Erzeuger und Endversorger darüber, einander auf einer speziellen Preisbasis für eine bestimmte Menge Elektrizität in einem bestimmten Zeitraum zu bezahlen181. Es gab unter dem PoolSystem verschiedene Arten dieses Vertrages, der häufigste war der beiderseitige („two-way“) Vertrag. Danach mußte der Erzeuger dem Vertreiber die Differenz zwischen dem Pool-Preis und einem vereinbarten „strike price“ (vereinbarter Preis pro Stromeinheit) zahlen, wenn der Pool-Preis über dem „strike price“ lag. Lag der Pool-Preis unter dem „strike price“ verpflichtete sich der Vertreiber die Differenz an den Erzeuger zu zahlen. Dies hatte zwei Auswirkungen: Zum einen hatten Erzeuger und Vertriebsunternehmen einen Fixpreis für Strom mit dem sie besser kalkulieren konnten. Zum anderen erhielt dadurch der Erzeuger einen Anreiz, so nahe wie möglich an den durchschnittlichen Pool-Preis zu bieten, um Ausgleichszahlungen zu vermeiden, worin ein Stabilitätselement zu sehen war.182 Die Electricity Forward Agreements sind eine spezielle Art des Future Marktes (Terminkontrakt-Handel). Er macht zweiseitige Verträge überflüssig, indem er zur Verringerung von Transaktionskosten feste Handelsregeln und Standardisierungen bereithält. Als einzige zu vereinbarende Variable bleibt der Preis. Hier können sich auch andere als Strom-Firmen am Handel beteiligen183. Weitere Kritikpunkte Wie bereits festgestellt, war das Hauptproblem des Pools der getroffene Preismechansimus. Diesbezüglich wurde eine gewisse Künstlichkeit der Pool-Preise kritisiert184. Diese wurde hauptsächlich der quasi-duopolistischen Stellung von PowerGen und National Power zu Beginn der Liberalisierung zugeschrieben, ein Problem, das mittlerweile durch sinkenden Marktanteil der beiden stark entschärft ist. Darüberhinaus war die Kritik aber grundlegender. Da nämlich Strom nicht frei über Verträge gehandelt wurde, war es nicht der Markt selbst, der über Angebot und Nachfrage die Preise bildete, sondern es war ein künstlich organisiertes System (der Pool), das die mangels Wettbewerbsfähigkeit des Marktes fehlenden Marktkräfte zu ersetzen versuchte. Diese Struktur war gedacht als eine vorübergehende, solange, bis sich ein tragfähiger Wettbewerb einstellen würde und damit in der Tat ein künstliches Gebilde185. Eng mit der Künstlichkeit des Preis-Mechanis181 MMC, Report National Power, S. 125; vgl. die Zusammenfassung von Köster, Wettbewerbsorientierte Stromversorgung im Pool-System, S. 59 f. 182 MMC, Report National Power, S. 125; Newberry, Pool Reform and Competition, S. 133 f.; Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry, S. 32 f. 183 MMC, Report National Power, S. 134; Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry S. 30. 184 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 127; Energy Committee, Consequences of Electricity Privatisation, HC 1992 1113-I, Punkt 103. 185 Littlechild, Office of Electricity Regulation, S. 108; Prosser, Law and the Regulators, S. 158.
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mus war auch das Problem der Einseitigkeit des Angebotsverfahrens verbunden. Die Preisgestaltung richtete sich ausschließlich nach den Angeboten der Erzeuger und beachtete in keiner Weise die Nachfrage-Seite, da die Stromkäufer den einheitlichen Pool-Preis zahlten, ohne sich einen bestimmten Anbieter mit dessen konkreten Konditionen aussuchen zu können. Damit ist der Markt nur ein halber Markt186 mit der Auswirkung, daß mögliche Preissenkungen pro Einheit nicht ausgeschöpft werden. Mit dieser Kritik verbunden ist die Forderung, der Pool solle sich auf die Koordinierung beschränken und sich von seiner preissetzenden Funktion lösen187. Weiterhin wurde die Beschränkung auf den Tageshandel kritisiert. Der Terminhandel werde vernachlässigt und damit eine Chance verspielt, die Preisstabilität zu erhöhen188. Ebenso würden zweiseitige Verträge vernachlässigt, die auch eine stabilisierende Wirkung hätten, Manipulationen verringern und den Eintritt neuer Wettbewerber erleichtern könnten189. Auch die Tatsache, daß alle Erzeuger einen einheitlichen Preis erhielten, der sich nach dem höchsten Angebot richtete, und nicht den von ihnen gebotenen Preis, stieß auf Kritik190. Schließlich hielt man dem Pool vor, daß er aufgrund seiner Struktur mit den vielen Beteiligten und den vereinbarten Abstimmungsmechanismen unfähig sei, sich schnell an Veränderungen der Lebenswirklichkeit anzupassen191. (3) Abschaffung des Strom-Pools Aufgrund der geäußerten Kritik aber auch aufgrund der veränderten Marktsituation, in der bis dahin im Bereich der Erzeugung tatsächlich mehr Wettbewerb herrschte, ersuchte das Ministerium für Wissenschaft, Energie und Industrie im Oktober 1997 OFFER zu überlegen, wie eine Überarbeitung der Handelsregeln für Strom durchgeführt werden könnte. Im Juli 1998 veröffentlichte OFFER Vorschläge zu neuen marktorientierten Handelsregeln192. Sie sahen das Entstehen von Futures und Forwards Märkten, die Einrichtung eines kurzfristigen Handelsplatzes, das Einrichten eines Gleichgewichtsmarktes zum physischen Ausgleich des Systems und die Etablierung eines zentral gesteuerten Ausgleichsmechanismus 186 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 149; der Pool hat dieses Problem gesehen, aber keinen Handlungsbedarf erkannt. Allerdings wurden verschiedene Probeprogramme eingeführt, um zweiseitige Bieterverfahren zu prüfen. Vgl. HC 481-I, Punkt 56 – 60. 187 HC 481-I, Punkt 53. 188 Newberry, Pool Reform and Competition, S. 119, 132. 189 Green / Newberry, Competition in the Electricity Industry, S. 33. 190 DTI, Weißbuch 1998, Punkt. 6.16 und 6.19; Newberry, Pool Reform and Competition, S. 152. 191 Littlechild in HC 481-IV; OFGEM, NETA Consultation, Punkt 3.2.8. 192 OFFER, RETA Proposals.
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mit Ausgleichszahlungen (Cash-Out-Preisen) vor. Im Oktober 1998 akzeptierte das Wirtschaftsministerium (DTI) diese Vorschläge in ihren Grundzügen und lenkte die Aufmerksamkeit auf einige spezifische Probleme der Reform193. So sollten alle Stromunternehmen an der Finanzierung der Versorgungssicherheit beteiligt werden und nicht als Trittbrettfahrer die Vorsorge anderer ausnutzen; es wurde auf die Notwendigkeit ausreichender Informationen über die Strompreise hingewiesen und auf mögliche Schwierigkeiten des Marktes, diese zur Verfügung zu stellen. Das DTI mahnte außerdem eine ausreichende Liquidität der Märkte an, forderte die stärkere Berücksichtigung erneuerbarer Energien und Kraft-Wärme-Kopplung und der bestehenden Aktionspläne zugunsten CO2-armer Energien. Im Anschluß daran präsentierte OFFER im November 1998 ein Rahmenprogramm darüber, wie der Reformprozeß zu organisieren und wie die erarbeiteten Vorschläge technisch umzusetzen seien. Dabei wurde eine neue Struktur für einen institutionalisierten Reformprozeß geschaffen, an der die Regierung, OFFER und alle anderen Betroffenen teilnehmen sollten. Im Januar 2000 wurde der Gesetzentwurf vorgestellt mit dem Ziel, den Reformprozeß bis April 2000 abgeschlossen zu haben194. Zur Entwicklung der Details wurde eine Steuerungsgruppe eingesetzt, zur Umsetzung der Vorschläge eine Programm-Management Gruppe. Beiden stand ein Programmdirektor (Brian Saunders) vor, der weitere Expertengruppen bildete und für den gesamten Reformprozeß sowie die Einhaltung des gesetzten Kostenrahmens verantwortlich war. Im Juli 1999 veröffentlichte das neue mittlerweile aus OFFER und OFGAS zur einheitlichen Energieregulierungsbehörde verschmolzene OFGEM ein weiteres Beratungspapier mit den neuen Stromhandelsregeln. Die neuen Handelsregeln fußten auf den Vorschlägen von OFFER vom Juli 1998 und waren mittlerweile sehr konkret195. Insgesamt wurden im Rahmen des Beratungsprozesses 95 schriftliche Stellungnahmen abgegeben, die vom Wirtschaftsministerium und OFGEM gemeinschaftlich im Oktober 1999 zusammen mit abschließender Kommentierung als neue Stromhandelsregeln im NETA-Abschlußbericht veröffentlicht wurden196. Für die Umsetzung der Reform benötigt der Wirtschaftsminister eine gesetzliche Grundlage, um die notwendigen Ergänzungen der Lizenzen für die Übertragungsgesellschaft und die Erzeuger und Verteilungsunternehmen vornehmen zu können. Wie in der Regierungserklärung vom 17. 11. 1999 (Queen’s Speech) angekündigt, sind entsprechende gesetzliche Grundlagen in der Utilities Bill 2000 vom 27. 1. 2000 enthalten. Demnach wurde der Electricity Act 1989 durch den Utilities Act 2000 um einen § 15a ergänzt, der der Regierung und OFGEM die Befugnis zur Lizenzänderung im Sinne der neuen Handelsregeln einräumt. Die Beratungen über den genauen DTI, Weißbuch 1998, Punkt 6.40. OFFER, RETA Framework; im Januar 2000 wurde bereits der Gesetzesentwurf (Utilities Bill) vorgestellt. 195 OFGEM, NETA Consultation. 196 DTI / OFGEM, NETA Conclusions. 193 194
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Inhalt der zu ändernden Lizenzen konnte unabhängig vom abgeschlossenen Gesetzgebungsprozeß weitergehen, da das Gesetz selbst die Neuerungen nicht enthält, sondern wie bereits bei der ursprünglichen Reform über eine Generalklausel dem Generaldirektor die Aufgabe der Reform durch Lizenzänderungen überträgt. OFGEM und das DTI veröffentlichten im Februar 2000 ein Beratungspapier zu den Änderungsvorschlägen an den Lizenzen197. In einem Papier an die Regierung nahm OFGEM im April 2000198 Stellung zu den Vorschlägen unter Bezugnahme auf ein Rechenschaftspapier vom Februar 2000199. Mitte März 2001 wurde in die Lizenz von NGC die Verpflichtung aufgenommen, den für die neuen Handelsregeln notwendigen BSC zu erarbeiten und das PSA des Pools zu verändern. Beides hatte NGC bereits getan und konnte einige Tage später den BSC vorstellen.200 Ende März 2001 veröffentlichte das DTI die Entwurfsfassung der Standard-Erzeugungs-, Übetrtragungs- Verteilungs- und Endversorgungslizenzen, die im Mai 2001 endgültig verabschiedet werden sollen.201 Damit sind dann alle wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen für das Funktionieren der neuen Handelsregeln in Kraft. Die neuen Handelsstrukturen Im OFGEM Beratungspapier vom Juli 1999 und DTI / OFGEM Abschlußbericht vom Oktober 1999 werden die neuen Handelsstrukturen detailliert dargestellt. Die Vorschläge des OFGEM Papiers vom Juli 1998 bleiben in ihrem grundlegenden Ansatz mit den dargestellten Charakteristika unverändert202. Seit dem Rahmendokument vom November 1998 richtete sich das Hauptaugenmerk des Reformprogrammes auf die Erstellung der Regeln für den Gleichgewichtsmarkt und des Ausgleichsmechanismus („Settlement Process“)203. Diese werden im Juli 1999-Papier detailliert dargestellt auch unter Bezugnahme auf die Systeme anderer Länder, die für die britische Regierung von Interesse erschienen204. Darüber hinaus geht OFGEM auf die zusätzlichen Schwerpunkte des DTI ein. Die neuen Handelsstrukturen bestehen aus drei Elementen: (a) dem Entstehen von Future und Forwards Märkten und einer Strombörse, (b) dem Gleichgewichtsmarkt und (c) dem Ausgleichsprozeß205. OFGEM / DTI, Proposed Licence Conditions. OFGEM, The Goverment’s Review of Energy Sources for Power Generation, OFGEM, Advice. 199 OFGEM, The Government’s Review of Energy Sources for Power Generation. 200 Veröffentlicht unter http: // www.ofgem.gov.uk / elarch / bsc_v1_1_.htm. 201 Veröffentlicht unter http: // www.dti.gov.uk / energy / licence_con.htm. 202 OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5. 203 OFGEM, NETA Consultation, Introduction, S. 5. 204 Diese Länder sind Norwegen, Schweden und Finnland mit dem gemeinsamen Handelssystem NordPool, Australien und Kalifornien. Vgl. OFGEM, NETA Consultation, Punkt 4. 205 Dem Gleichgewichtsmarkt und dem Ausgleichsprozeß ähnelt der in Anlage 2, Verbändevereinbarung II vom 13. 12. 1999 dargestellte Bilanzausgleich. 197 198
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Forwards- und Futures-Märkte und die Strombörse206 Anders als beim bisherigen Pool-System soll sich der Handel von Strom unter den neuen Handelsregeln weitgehend in Futures- und Forwards-Märkten und auf Spot-Märkten an einer Strombörse oder an sog. over-the-counter Märkten (OTC) vollziehen. Damit fällt die Pflicht, den Strom über einen künstlichen, einseitig funktionierenden Preisbildungsmechanismus wie den Pool zu handeln, weg. Es wird nunmehr auch die Angebotsseite mit in die Preisbildung einbezogen und der einheitliche Pool-Preis zugunsten individuell ausgehandelter Preise entfallen. Der Handel über diese Märkte erfolgt auf freiwilliger Basis. Über den Handel mittels zweiseitiger Verträge wird ein grobes physisches Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage hergestellt, das im Gleichgewichtsmarkt später fein austariert wird207. Die in diesen Finanzmärkten notwendige Liquidität wird durch das Auftreten von Händlern und anderen Vermittlern erzeugt, die für andere Interessenten Risiko-Management betreiben. Wichtig ist, daß die neuen Handelsregeln keinerlei konkrete Vorgaben für die Gründung dieser Märkte vorsehen. Vielmehr wird die Herausbildung dieser Märkte dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage überlassen, wobei man darauf vertraut, daß unabhängige Institutionen diese Märkte organisieren werden. Im Gegensatz zu diesem liberalen Ansatz war noch im Juli-1998-Papier von OFGEM die hoheitliche Einrichtung einer kurzfristigen computergestützten Strombörse geplant. Dieses Vorhaben wurde in den 1999er-Papieren aufgegeben, nachdem von privater Seite auch an einem solchen Markt Interesse geäußert wurde208. Diese Märkte sollen den Wünschen der Beteiligten am besten entsprechen. Hier besteht Bedarf an Stromkäufen über mehrere Jahre im Voraus, an Käufen unmittelbar vor dem Verbrauch des Stroms und an ständigem Kauf und Verkauf von Strom, um den gekauften Strom permanent mit dem Bedarf abzustimmen. Schließlich kann von den Stromkunden auch eine Kombination aus allen drei Optionen gewünscht werden209. NGC als Netzbetreiberin beteiligt sich ebenfalls am Kauf von bestimmten Gleichgewichtsdiensten im Voraus. Solche Dienste können etwa die vertragliche Bindung von Stromreserven und die Stützung der Netzspannung sein. OFGEM bezog sich in seinem Juli-1999-Papier auf die Sorge des DTI210, daß es nicht von Beginn an zu einer angemessenen Informationslage über die Preise kommen werde und daß dadurch der freie Handel auf diesen Märkten und mit ihm der Wettbewerb beeinträchtigt werde. OFGEM war allerdings der Meinung, daß der 206 Vgl. Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 46 f.; Ruge, Die neuen Handelsregeln für Strom, S. 1095; OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.1. 207 Zum Gleichgewichtsmarkt sogleich. 208 OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.1. 209 Diese verschiedenen Bedarfsarten identifiziert OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.1. 210 Vgl. DTI, Weißbuch 1998, Punkt 6.41, vgl. oben IV. 3.
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Markt für eine ausreichende Versorgung mit relevanten Preisinformationen sorgen wird, da diese wertvoll für alle Marktbeteiligten sind. Allerdings konzedierte OFGEM, daß Regulierungsmechanismen wie Preisindikatoren auf der Grundlage von Stromlieferungsverträgen eingerichtet werden könnten, für den unwahrscheinlichen Fall, daß der Markt nicht für die nötigen Informationen über die Preise sorgt. Zu diesem Zweck wurde OFGEM mit einer Art Ersatzbefugnis ausgestattet werden, die nötigen Vertrags- bzw. Preisinformationen von den Marktteilnehmern zu verlangen und zu veröffentlichen211. Gleichgewichtsmarkt212 Neben dem Stromhandel über die freien Finanzmärkte wurde ein zusätzlicher Gleichgewichtsmarkt durch neue Vereinbarungen eingerichtet. Dieser übernimmt die Koordinierungsfunktionen des Pools. Seine Aufgabe ist es, das Energiesystem im physischen Gleichgewicht zu halten, indem das Niveau von Angebot und Nachfrage des Stroms und die Übertragungsbeschränkungen ausgeglichen werden. Allerdings handelt es sich bei dem Gleichgewichtsmarkt weniger um einen tatsächlichen Markt, als vielmehr um einen Koordinierungsmechanismus, da nicht Anbieter und Käufer miteinander in Kontakt treten, sondern allein die Netzbetreiberin NGC, die Kauf- und Verkaufsangebote entgegennimmt. Die Teilnahme an diesem Markt ist für Stromverkäufer und Käufer freiwillig und sein Betrieb soll nach den Vorstellungen von OFGEM möglichst wenig mit den sonstigen freien Handelsmärkten in Konflikt geraten. Da es beim Gleichgewichtsmarkt nur um die aktuelle Austarierung des Systems geht, ist er nur einen kurzen Zeitraum über geöffnet. Geplant ist, daß er zunächst vier Stunden vor Beginn der jeweiligen halbstündigen Handelsspanne öffnet, und während ihr geöffnet bleibt, um kurzfristige Änderungen zu ermöglichen. Allerdings kann diese Zeit nach einiger Erfahrung mit dem neuen System auch wieder verkürzt werden. Die Teilnahme an dem Gleichgewichtsmarkt vollzieht sich durch Angebot und Nachfrage von Strom an NGC. Jeder Anbieter verkauft und kauft nur zu seinem Preis, anders als beim Pool wird es keinen einheitlichen Grenzkostenpreis des Systems geben. Hat NGC als Netzbetreiberin einmal ein Angebot angenommen, so sind die Beteiligten daran gebunden. Kann ein Anbieter von Strom die vertraglich vereinbarte Menge nicht liefern oder ein Käufer die vertraglich vereinbarte Menge nicht abnehmen, so werden sie zu Ausgleichszahlungen herangezogen213. Die 211 Vgl. Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 48; Ruge, Die neuen Handelsregeln für Strom, S. 1095; OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.1; OFGEM, NETA Conclusions, Punkt 11.4. 212 Vgl. Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 48; Ruge, Die neuen Handelsregeln für Strom, S. 1095; OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.2 und 6 sowie OFGEM, NETA Conclusions, Punkt 3. 213 Dazu sogleich.
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Netzbetreiberin NGC wählt die Kauf- und Verkaufsangebote nach dynamischen Kriterien und der Höhe des Preises aus. Dabei darf es nicht zu Diskriminierungen kommen. Um dies zu gewährleisten, werden Informationen über die Auswahlkriterien von Angeboten veröffentlicht. Um das Funktionieren des Gleichgewichtsmarktes zum Zweck des physischen Gleichgewichts zu erreichen, bedarf die Netzbetreiberin NGC angemessener Informationen über die beabsichtigte Produktion und Nachfrage von Strom der einzelnen Marktteilnehmer214. Zu diesem Zweck gibt es zunächst die Initial Physical Notifications (IPN), mit denen Informationen einen Tag im Voraus an NGC weitergegeben werden. Um die Austarierung durch den Gleichgewichtsmarkt zu gewährleisten, werden diese Eingangsinformationen zum Zeitpunkt der Eröffnung des Gleichgewichtsmarktes durch die Final Phyiscal Notifications (FPN) aktualisiert. NGC wird ihrerseits Informationen über Angebot / Nachfrage-Ungleichgewichte und mögliche Übertragungsbeschränkungen an die Marktteilnehmer zurückleiten. Auch wenn die Teilnahme am Gleichgewichtsmarkt freiwillig ist, so ist die Weitergabe der Informationen über IPN und FPN für fast alle Marktteilnehmer Pflicht, auch wenn sie nicht am Gleichgewichtsmarkt teilnehmen. Diese Pflicht dient der Funktion des Gleichgewichtsmarktes als Mechanismus zur Stabilisierung des Stromnetzes und ergibt sich aus den Lizenzen i.V.m. dem BSC.215 Allerdings gibt es de-minimis-Regeln für die Informationspflicht. Danach sind Verkäufer und Käufer von Strom mit einer Menge von unter 50 MW von der Informationspflicht ausgenommen216. Ausgleichsmechanismus: „Cash-Out“ Preise217 Das Balancing und Settlement Agreement (BSA) sieht einen detaillierten Ausgleichsprozeß vor, dessen Funktion die Berechnung und der finanzielle Ausgleich von Ungleichgewichten des Übertragungsystems ist. Er umfaßt Zahlungen für Energie, die nicht durch Verträge abgedeckt sind („electricity spilling“), den finanziellen Ausgleich von Unstimmigkeiten zwischen Angebot und Nachfrage im Gleichgewichtsmarkt und den Ersatz von Kosten, die dem Netzbetreiber NGC durch Verwaltung und Betrieb sowie alle Tätigkeiten zum Ausgleich des Systems entstehen. Dieser Ausgleichsprozeß übernimmt damit eine Vielzahl der Aufgaben des Pools. Während die Teilnahme an den anderen Marktelementen freiwillig ist, werden alle Lizenzinhaber obligatorisch in den Ausgleichsprozeß einbezogen. Et214 Vgl. dazu detailliert OFGEM, NETA Consultation, Appendix 5: “ NGC Paper on Operational Information“. 215 Etwa Erzeuger Lizenz Condition 13 (Entwurfsfassung des DTI). 216 OFGEM, NETA Conclusions, Punkt 11.4. 217 Vgl. Ruge, Abschaffung des Pool-Modells, S. 48; Ruge, Die neuen Handelsregeln für Strom, S. 1096; OFGEM, NETA, Consultation Document, Juli 1999, Punkt 5.3 und Punkt 7. Ein vorgerechnetes mathematisches Beispiel für die Funktion des Ausgleichsmechanismus findet sich bei OFGEM, NETA Consultation, Vol 2., Appendix 7.
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was anderes gilt nur für diejenigen Unternehmen, die von der Lizenzpflicht ausgenommen sind. Sie können sich entscheiden, ob sie teilnehmen oder nicht. Entscheiden sie sich gegen eine Teilnahme, werden sie vollkommen von den Ausgleichszahlungen, der Mitteilung von vertraglich vereinbarten Liefermengen und von der direkten Teilnahme am Gleichgewichtsmarkt ausgeschlossen218. Instrument des Ausgleichsprozesses sind die sog. Cash-Out Preise. Sie sollen alle Kosten widerspiegeln, die durch den Ausgleich von Ungleichgewichten des Systems entstehen. Wenn Stromerzeuger mehr Elektrizität liefern als dies vertraglich vereinbart ist, oder Verteilungsunternehmen weniger abnehmen als vertraglich vereinbart, entstehen Flexibilitätskosten zum Ausgleich dieser Unstimmigkeiten. Diese Kosten sollen von demjenigen getragen werden, der sie verursacht hat. Dadurch sollen Erzeuger und Abnehmer einen Anreiz zur Optimierung ihrer Angebote und Bedürfnisse erhalten, um die Rolle von zentralistischen Verwaltungsmechanismen, in diesem Fall den Ausgleichsmechanismus, zu reduzieren219. Die Cash-Out Preise richten sich nach der Berechnung der unstimmigen Liefermengen („Imbalance Volumes“). Da all jene Elektrizität, die durch Verträge abgedeckt ist, auch bezahlt wird, stellen die Fälle des „Electricity Spilling“ mit den beschriebenen Abweichungen von den vertraglich vereinbarten Liefermengen den Hauptfall der Ausgleichszahlungen dar. Der Cash-Out Preis richtet sich nach dem Unterschied zwischen den vertraglich vereinbarten Liefermengen und den tatsächlich geflossenen Strommengen. Informationen über die vertraglich vereinbarten Mengen sind durch die oben beschriebene Informationspflicht verfügbar, die tatsächlichen Liefermengen können an zu installierenden Stromzählern abgelesen werden. Um die auftretenden Übertragungsverluste auszugleichen, muß ein Übertragungsverlust-Faktor errechnet werden, mit dem die abgelesenen tatsächlichen Liefermengen auch mit den Mengen übereinstimmen, die beim Abnehmer ankommen220. Aus den im Gleichgewichtsmarkt eingegangenen Angeboten wird schließlich ein durchschnittlicher Cash-Out Preis errechnet, für den unwahrscheinlichen Fall, daß es aufgrund der Freiwilligkeit des Handels über den Gleichgewichtsmarkt keine Referenzpreise gibt, muß auf einen Ersatzpreis zurückgegriffen werden („Default Cash-Out Price“)221. Mit der Abschaffung des Pools hat sich erneut ein entscheidender Wandel des britischen Stromsektors hin zu mehr Wettbewerb vollzogen. Aber nicht nur die wettbewerbsfördernden Regelungen haben sich in jüngster Zeit verändert, sondern auch die gemeinwirtschaftlichen unterliegen einem gewissen Wandel.
OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.3.2. OFGEM, NETA Consultation, Punkt 5.3.1. 220 Übertragungsverluste erhöhen sich mit steigendem geographischen Abstand zwischen Erzeuger und Verbraucher. Vgl. OFGEM, NETA Consultation, Punkt 8.5. 221 OFGEM, NETA Consultation, Punkt 7.1. 218 219
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b) Gemeinwirtschaftliche Regelungen („Social Regulation“) Neben den wirtschaftsbezogenen bzw. wettbewerbsfördernden Regelungen enthält das Rechtsregime des britischen Stromsektors nach der Reform von 1989 und verstärkt durch die neuerliche Reform 2000 / 2001 zahlreiche gemeinwirtschaftliche Regelungen. Dies sind die Anschluß- und Versorgungspflicht, Umweltschutzund Verbraucherschutzregelungen.
aa) Anschluß- und Versorgungspflicht In Fortsetzung der Tradition vorheriger Electricity Acts legt § 16 (1) Electricity Act 1989 eine Anschluß- und Versorgungspflicht des örtlich zuständigen RECs fest.222 Ausnahmen hiervon sind nach § 17 möglich, wenn das Grundstück bereits durch einen Konkurrenten unter Nutzung der Leitungen des RECs versorgt wird, wenn das REC durch von ihm nicht zu vertretende Umstände daran gehindert ist, wenn das REC andernfalls unvermeidlich gegen staatliche Versorgungs- und Sicherheitsbestimmungen verstieße oder wenn dies von ihm vernünftigerweise nicht gefordert werden kann. Grundsätzlich besteht die Versorgungspflicht, nach § 18 auf der Grundlage von Tarifen, bei Abnahmen von über 10 MW kann das REC nach § 22 (1) b den Abschluß eines Sondervertragsverhältnisses verlangen. Auf der Grundlage des § 24 wurde als Anhang 6 des Electricity Act 1989 der Public Electricity Supply Code erlassen. Dieser regelt insbesondere die Eintreibung von Stromgebühren und die Unterbrechung der Stromversorgung bei Nichtzahlung der Rechnungen. bb) Umweltfreundliche Regelungen223 § 3 (3) Electricity Act 1989 enthält die grundlegende Verpflichtung des Generaldirektors zum Schutz der physischen Umwelt und Energieeffizienz, in Anhang 9 werden Umwelt- und Landschaftsschutzpflichten der Stromunternehmen konkretisiert. § 32 Electricity Act 1989 sieht die Förderung CO2-freier Energien vor (Non Fossil Fuel Obligation, NFFO). Er enthält eine Verordnungsermächtigung für den zuständigen Minister, die RECs zur Abnahme durch Verordnung festgelegte Mengen von CO2-freier Stromerzeugung abzunehmen. Ursprünglich wurde § 32 zur Förderung der Atomenergie angewandt, die aufgrund ihrer Unwirtschaftlichkeit nur teils privatisiert werden konnte. Die NFFO-Verordnungen224 verpflichteten die RECs zur Abnahme von Atomstrom. Erst durch die Begrenzung dieser Beihilfen Vgl. zum Ganzen Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 184 f. Vgl. ausführlich Baentsch, Umweltschutz im britischen Stromexperiment. 224 Vgl. zu den einzelnen Verordnungen Mitchell, Renewable Generation – A Success Story?, S. 171 – 177; Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 233, Fn. 539 mit Fundstellennachweis der Verordnungen. 222 223
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für Atomstrom bis 1998 durch die EU-Kommission wurde § 32 ab 1996 als Förderungsmöglichkeit erneuerbarer Energien uminterpretiert. Aufgrund des § 32 wurden durch die Regierung verschiedene Förderprogramme aufgelegt. Insbesondere die Labour-Regierung hat den Ausbau erneuerbarer Energien bei Regierungsübernahme 1997 angekündigt und vorangetrieben.225 Neben der Förderung erneuerbarer Energien wird das Umweltschutzziel der Energiepolitik durch Einsparmaßnahmen und Effizienzsteigerung vorangebracht, die sowohl durch Einführung von Wettbewerb als auch durch konkrete staatliche Maßnahmen angestrebt werden. Einerseits wurde durch die Modifizierung der Preisregulierung der Preismechanismus, der die Maximierung des Stromabsatzes und nicht die Einsparung von Strom förderte, abgeschwächt.226 Zum anderen wurden auf der Grundlage des § 41 Einsparziele im Rahmen der „standards of performance“ vom Generaldirektor vorgegeben.227 Durch den Utilities Act 2000 sowie darauf beruhende Lizenzveränderungen wurden die umweltschutzbezogenen Regelungen erheblich ausgebaut.228 So enthält § 14 Richtlinien für strombezogene Umweltmaßnahmen. Die Performance Standards werden in §§ 54 – 58 im Hinblick auf Einsparziele erheblich ausgeweitet und §§ 62 – 67 regeln u. a. Abnahmeverpflichtungen für Strom aus erneuerbaren Energien. Durch die Einführung einer getrennten Lizenzart für Verteileraktivitäten durch den Utilities Act werden durch verschiedene Vorschriften die bestehenden Umweltschutzvorgaben auch auf diese EVU übertragen (etwa § 70 Utilities Act 2000).
cc) Verbraucherschützende Regelungen In §§ 39, 40 Electricity Act 1989 wird dem Generaldirektor die Möglichkeit eingeräumt Servicestandards zu erlassen. Nach § 39 („Guaranteed Standards“) sind die RECs verpflichtet bei Nichterfüllung Ausgleichszahlungen an die Verbraucher zu leisten. Hierzu gehören etwa die Wiederaufnahme der Versorgung nach Unterbrechung, rechtzeitige Ankündigung von Unterbrechungen und Einhaltung von Terminabsprachen.229 Die „Overall Standards“ nach § 40 begründen lediglich eine allgemeine Pflicht ohne drohende Ausgleichszahlungen. Die Verbesserung der Leistungen durch diese Instrumente wird erheblich durch die aufgrund § 42 betriebene Informationspolitik des Generaldirektors zu diesen Servicestandards unterstützt. Im Zuge der jüngsten Reform wurden auch verschiedene Änderungen an den Lizenzbedingungen verbraucherschützender, gemeinwirtschaftlicher Art vorgenommen.230 225 226 227 228 229 230
Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 235. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 236 f. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 237 f. Vgl. Boyle, Opportunity and Uncertainty for Sustainable Energy, S. 14 ff. Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 220. Vgl. OFGEM, Social Action Plan 2000; OFGEM, Enhancing Social Obligations 2000.
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Die §§ 3 (4) und 3 (5) verpflichten den zuständigen Minister und den Generaldirektor zur Berücksichtigung der Interessen der Landbevölkerung sowie der Behinderten und Rentner. Konkretisiert wird diese Pflicht z. B. durch den aufgrund von § 24 Electricity Act 1989 ergangenen Public Electricity Supply Code, der etwa das kostenlose Anbringen behindertengerechter Stromzähler vorschreibt.231 Insbesondere wurden Programme zur Verringerung von Stromabschaltungen durchgeführt, die sehr erfolgreich waren.232 Durch § 2 und Anhang 2 wurde in den Versorgungsgebieten der RECs je ein Verbraucherkomittee (CC) eingerichtet, zu deren Aufgabe Untersuchungen und Beratungen mit den Beteiligten der Strombranche gehören. Im Gegensatz zum alten Electricity Consumer Council, das durch den Energy Act 1983 ins Gesetz aufgenommen wurde und einen landesweiten eigenständigen Überbau hatte, waren die 12 CCs dem Generaldirektor von OFFER untergeordnet. Auf Kritik an dieser Abhängigkeit hin wurde durch § 2 Utilities Act 2000 wieder eine unabhängige Verbraucherschutzorganisation etabliert, der Gas- und Strom Verbraucherschutzrat (GECC), dessen Aufgaben im Einzelnen in den §§ 17 – 27 Utilities Act festgelegt sind. Schließlich veröffentlichte das Ministerium für Umwelt, Verkehr und die Regionen ein Beratungspapier zur Brennstoffarmut in Großbritannien. Danach sind ca. 4 Mio. Haushalte arm an Brennstoffen. Brennstoffarmut liegt vor, wenn mehr als 10% des Haushaltseinkommens für eine befriedigende Beheizung verwendet werden müssen. Grund dafür ist eine Kombination aus niedrigem Einkommen und schlechter Energieeffizienz. Durch die Verbesserung beider Probleme soll die Brennstoffarmut in Großbritannien bis zum Jahr 2010 beseitigt werden.233
c) Rechtliche Umsetzung der Reform Interessant ist die rechtliche Umsetzung der jüngsten Reform 2000. Da die bisherigen Strukturen alles andere als übersichtlich und leicht durchschaubar sind, überrascht es nicht, wenn auch die Umsetzung der neuen Handelsregeln sehr komplex ist. Dabei beschränkt sich die rechtliche Umsetzung auf die Bereiche des Gleichgewichtsmarktes und des Ausgleichsmechanismus. Der Futures und Forwards Markt und die Strombörse werden von den rechtlichen Veränderungen nicht betroffen. Hier greift man auf die allgemeinen Regeln des Financial Services Act zurück. Zahlreiche rechtliche Instrumente und bindende Industriedokumente bedürfen der Überarbeitung und Ergänzung und zentrale Instrumente der neuen Handelsregeln müssen neu geschaffen werden.234 Konkret mußte der Balancing and 231 232 233 234
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Vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 222. Vgl. Prosser, Law and the Regulators, S. 173. DETR, The UK Fuel Poverty Strategy, Consultation Paper, Februar 2001. Vgl. OFGEM, NETA Consultation, Punkt 9.2.
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Settlement Code erstellt werden und vor allem die Lizenzbedingungen der Unternehmen an die neuen Regeln angepaßt werden. Das gegenwärtige Pooling and Settlement Arrangement (PSA) wurde so geändert, daß es für eine Übergangszeit neben dem neuen BSC existieren kann, bevor es endgültig ausläuft. Durch eine Bedingung in den neuen Lizenzen wurden die EVU zur fortbestehenden Mitgliedschaft im Pool bis zum Inkrafttreten des BSC verpflichtet. Ab diesem Zeitpunkt besteht die Pflicht, dem BSC beizutreten und dessen Bestimmungen zu folgen, insbesondere bei der Umsetzung aller Änderungen nach dem neuen § 15a Electricity Act 1989 mitzuarbeiten. 235 aa) Rechtsgrundlage für Lizenzänderungen Zentrales Instrument zur rechtlich bindenden Umsetzung der neuen Handelsregeln sind die Änderungen der Lizenzbedingungen aller beteiligten Unternehmen. Rechtsgrundlage für Änderungen von Lizenzen sind die §§ 11 – 15 Electricity Act (1989). Danach ist eine Änderung nur möglich gem. § 11 durch Übereinkunft zwischen Lizenznehmer und Lizenzgeber, ohne Zustimmung des Lizenznehmers gem. §§ 12 – 14 nur durch den sehr mühsamen Weg des Anrufens der Monopolies and Mergers Commission sowie für den Ausnahmefall der Existenz einer Monopolsituation gem. § 15 durch den zuständigen Minister. Keiner dieser drei Wege stellte ein befriedigendes und effektives Mittel zur Durchführung einer so weit reichenden Reform dar. Die Vorstellung, mit jedem einzelnen Lizenzinhaber Übereinstimmung hinsichtlich jedes einzelnen Punktes des Reformvorhabens erzielen zu müssen, verdeutlicht dies auf eindrucksvolle Weise. Entsprechend dieser Erkenntnis beschloß die Regierung einen neuen § 15a in den Electricity Act (1989) einzufügen. Mittlerweile ist dies durch § 68 Utilities Act 2000 nach Art eines deutschen Artikelgesetzes umgesetzt worden: „The Secretary of State may, in accordance with this section, modify: (a) the conditions of any licence granted under section 6; or (b) any standard conditions of licences of any type,
where he considers it necessary or expedient to do so for the purpose of implementing, or facilitating the effective operation of new arrangements relating to the trading of electricity.“ Damit wird nach typisch britischer Regulierungsart der Regierung ein äußerstes Maß an Ermessen bei der Umsetzung der Reform eingeräumt236. Das Gesetz selbst enthält überhaupt keine Vorgaben für die wirtschaftsbezogenen und gemeinwirtschaftlichen Neuregelungen. Allerdings wurden die neuen Handelsregeln während des Gesetzgebungsverfahrens auch vom Parlament diskutiert.237 Vgl. Standard Lizenzen der Erzeuger Condition 8 und 9 (Entwurf, siehe oben). Vgl. zum Steuerungsverlust des deutschen Gesetzgebers im Zuge der Veränderung der Staatsaufgaben Huber, Die entfesselte Verwaltung, S. 423 ff. 235 236
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bb) Notwendige Lizenzänderungen238 Die notwendigen Änderungen aller Lizenzen waren zahlreich. Da das Pooling and Settlement Arrangement durch den Balancing and Settlement Code ersetzt wird, gilt generell, daß alle Vorschriften bzgl. der Pool-Regeln durch Regeln bezüglich des BSC ersetzt werden müssen, wobei für eine Übergangszeit auch die Pool-Regeln noch weitergelten müssen und daher auch in den Lizenzen Übergangsbedingungen aufgenommen werden müssen. Die wichtigste Veränderung für das Handelssystem bezieht sich auf die Streichung der Verpflichtung NGCs, Kraftwerkskapazitäten auf den Bedarf abzustimmen und nach dem oben beschriebenen „merit order“-Prinzip anzunehmen. Alle lizenzpflichtigen Unternehmen werden wie schon beim PSA durch Lizenzbedingungen dazu verpflichtet, nicht gegen den BSC zu verstoßen (z. B. Erzeuger-Standardlizenz Condition 9.1). Wichtig für das Funktionieren des Gleichgewichtsmarktes und des Ausgleichsmechansimus ist auch die Verpflichtung zur Weitergabe aller relevanten Informationen (z. B. Erzeuger-Standardlizenz Condition 13 und BSC). Ähnlich wie beim Gas Act 1986 geht der Utilities Act 2000 von der Existenz standardisierter Lizenzbedingungen für den Strombereich für die Bereiche Erzeugung, Hochspannnungsübertragung, Verteilung und Endversorgung, wobei die Trennung von Verteilung und Endversorgung in jeweils eigenständige Lizenzen im Stromsektor neu ist.239 cc) Rechtliche Struktur des Balancing and Settlement Codes240 Der BSC enthält die Regeln für den Gleichgewichtsmarkt und den Ausgleichsmechanismus, einschließlich der Mitteilungspflicht hinsichtlich der Informationen über die vereinbarten und geplanten Liefermengen von Strom. Er enthält Vorschriften über die Registrierung von Stromzählern und deren Ablesung, die Regeln über die Berechnung von Ausgleichszahlungen, die Festlegung der Strukturen des BSC, einschließlich der Regeln über die Vergabe von Aufträgen an Dienstleister im Rahmen des BSC. Die Teilnahme am BSC wird begründet einerseits durch die hoheitlichen Lizenzbedingungen, andererseits durch die Unterzeichnung einer multilateralen vertraglichen Rahmenvereinbarung. Diese Rahmenvereinbarung enthält keine Detailregeln, sondern bindet die Teilnehmer an den BSC „in seiner 237 Zum britischen Gesetzgebungsverfahren vgl. Bradley / Ewing, Constitutional Law, S. 198 – 212. Vgl. auch Hassan, The Utilities Act 2000: Impact on the Electricity Industry, S. 231 ff. 238 Vgl. zum Ganzen OFGEM, NETA Consultation, Punkt 9.3. 239 Vgl. §§ 28, 44 – 50 Utilities Act 2000. 240 Vgl. zum Ganzen OFGEM, NETA Consultation, Punkt 9.4 sowie Punkt 10; DTI / OFGEM, NETA Conclusion, Appendix 4; die standardisierten Lizenzbedingungen wurden veröffentlicht von OFGEM, Utilities Bill, Consultation. BSC im Internet veröffentlicht unter http: // www.ofgem.gov.uk / elarch / bsc_v1_1_.htm.
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F. Der „Regulatory State“ in Großbritannien
jeweils geltenden Fassung“. Diese Formulierung erlaubt sehr flexible Änderungen des BSC, ohne die Notwendigkeit zur langwierigen vertraglichen Zustimmung aller Teilnehmer. Allerdings muß jede Änderung des BSC die Zustimmung OFGEMs erhalten. Zur Erleichterung der Einführung, Umsetzung, Veränderung und Weiterentwicklung des BSC wird eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung geschaffen. Diese wird Vertragspartner aller nötigen Verträge über Dienstleistungen zur Durchführung des BSC. Zusätzlich wird ein „BSC Panel“ eingerichtet, das für das Managment, die Änderungen und die Einhaltung des BSC verantwortlich zeichnet.
d) Notwendige Änderungen der bindenden Industrievereinbarungen241 Ähnlich der deutschen Selbstverpflichtungen der Industrie, jedoch mit stärkerer Bindungswirkung, gibt es zahlreiche Industrievereinbarungen zur Stromwirtschaft. Die wichtigsten drei neben dem PSA sind der Grid Code, das Master Connection and Use of System Agreement sowie das Master Registration Agreement242. Die notwendigen Anpassungen und Veränderungen der Industrievereinbarungen vollzieht sich größtenteils auch über die Lizenzbedingungen. So gibt es eine Bedingung in den Lizenzen aller Lizenzinhaber, welche die Verpflichtung enthält, die Umsetzung der neuen Handelsregeln insbesondere durch die Abänderungen der Industriedokumente zu unterstützen (z. B. Erzeuger-Standardlizenz Condition 12) All jene, die nicht lizenzpflichtig sind, können nur durch Übereinkünfte zur Zustimmung bewegt werden.
IV. Ergebnis: Der britische Staat als „Regulatory State“ im Stromsektor Der Vergleich der Strukturen des Energiesektor vor und nach der Neustrukturierung 1989 ermöglicht eine Einschätzung, inwieweit sich in diesem Wirtschaftsbereich tatsächlich ein Paradigmenwechsel von einem Providing zu einem Regulatory State vollzogen hat. Entscheidendes Bewertungskriterium ist dabei die Art des Tätigwerdens des Staates („Government“). Wie dargelegt übte der Staat in Großbritannien vor der Reform 1989 die energiewirtschaftliche Tätigkeit selbst aus und war damit zugleich politischer Entscheidungsträger, rechtliche und fachliche Aufsichtsbehörde sowie wirtschaftlicher Entscheidungsträger. Dieser Zustand ist als Providing oder Productive State zu bezeichnen. Vgl. zum Ganzen OFGEM, NETA Consultation, Punkt 9.5 und 9.6. Eine Übersicht über den Inhalt dieser Dokumente und eine Aufzählung weiterer Dokumente findet sich bei OFGEM, NETA Consultation, Punkt 9.5 und Appendix 8. 241 242
IV. Ergebnis
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Demgegenüber zog sich der Staat nach der Reform 1989 aus der wirtschaftlichen Tätigkeit zurück. Anfänglich noch gehaltene Mehrheitsanteile an Stromunternehmen wurden bis 1995 überwiegend veräußert. Ebenso ließ der Staat nach und nach die besonderen Stimmrechte („Golden Shares“) an privatisierten Stromunternehmen fallen. Darüberhinaus wurden in großem Umfang Aufsichts- und Kontrollbefugnisse auf eine vom politischen Entscheidungsträger getrennte Behörde, den Generaldirektor von OFFER bzw. OFGEM übertragen. Trotz zahlreicher verbliebener erheblicher Einflußmöglichkeiten stellt dies eine neue Form staatlicher Regulierung dar, die politische Entscheidungen von rechtlichen und fachlichen Aufsichtsentscheidungen und wirtschaftlichen Unternehmensentscheidungen organisatorisch trennt. Dieses System wird erheblich gestützt durch die Regulierung in Form von Lizenzen anstatt durch Gesetz (Act / Statute) oder Verordnung (Statutory Instrument). Dadurch werden wesentliche Entscheidungen auf die Fachaufsichtsbehörde delegiert, die die Lizenzen mit den betroffenen Unternehmen in relativer Unabhängigkeit von der politischen Ebene des Ministeriums aushandelt. Bezüglich möglicher normativer Vorgaben bei den Privatisierungen in Großbritannien ist zu konstatieren, daß ein bloßer Hinweis auf die fehlende geschriebene Verfassung und das Verfassungsprinzip der Parlamentssouveränität, die Rechtswirklichkeit nicht mehr treffend erfaßt.243 Vielmehr hat sich gezeigt, daß das EURecht das Verfassungsprinzip der Parlamentssouveränität derart verändert hat, daß auch für den britischen Gesetzgeber Rechtspflichten bestehen können, die er bei Verabschiedung von Gesetzen zu beachten hat. Allerdings fehlt es gerade im Strombereich an den in dieser Hinsicht besonders interessanten gemeinwirtschaftlichen Regelungen, so daß die potentielle normative Vorgabe aus dem EU-Recht leerläuft. Nach alledem ist die veränderte staatliche Tätigkeit im Stromsektor als Regulatory State zu bezeichnen. Damit wird ein Paradigmenwechsel in der Art und Weise staatlicher Aktivität in der Wirtschaft hinreichend zum Ausdruck gebracht.
243
So aber Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 277.
G. Gesamtergebnis Wurden bisher verschiedene Zwischenergebnisse zu den einzelnen Abschnitten der Untersuchung gefunden, so ermöglicht erst die Gesamtschau der verschiedene Teile, die Fragen der Untersuchung zu beantworten. Es lassen sich zusammenfassend 5 Thesen als Antwort auf die eingangs gestellten Fragen der Untersuchung festhalten. 1. Die Untersuchung hat gezeigt, daß zwischen der deutschen und der britischen Rechtswissenschaft bei der Behandlung des Themas staatliche Betätigung in der Wirtschaft ein grundlegender Unterschied besteht. Während in Deutschland die Rechtswissenschaft insbesondere in der Form der Staatsrechtslehre eigenständige Modelle zur Begreiflichmachung der Rolle des Staates in der Wirtschaft anläßlich der Privatisierungs- und Deregulierungspolitik entwickelte, findet sich in der britischen Rechtswissenschaft ein stark ausgeprägter Rückgriff auf wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse, ohne eigenständige Theorienbildung. Diese These ergibt sich aus einem Vergleich der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Hinblick auf ihre Behandlung des Staates. Von gemeinsamen Ursprüngen ausgehend, entwickelten sich die Wissenschaften zunächst noch parallel, später in Methode und Untersuchungsgegenstand deutlich getrennt und mit der Gemeinsamkeit, daß sich lediglich nur noch Teilbereiche der Disziplinen mit der Frage nach dem Staat beschäftigten. Im Laufe der Ausdifferenzierung der Wissenschaften kam es allerdings in Großbritannien und Deutschland zu unterschiedlichen Entwicklungen. In Deutschland befaßten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Bereich der Wirtschaftswissenschaft die Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und später die Wirtschaftspolitik mit den Fragen des Staates in der Wirtschaft, in Großbritannien war dies vor allem die sog. Political Economy. Im Gegensatz dazu stand einer hochentwickelten Staatsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland keine vergleichbare Unterdisziplin der Rechtswissenschaft in Großbritannien gegenüber. Vielmehr entwickelte sich in Großbritannien wesentlich früher als in Deutschland die Politikwissenschaft, die die bestehende Lücke schloß. Begünstigt wurde diese Unterentwicklung staatsrechtlicher Unterdisziplinen in Großbritannien sicherlich durch das Fehlen einer geschriebenen Verfassung, aus der man eigenständige Schlüsse für die Rechtswissenschaft hätte ziehen können. Diese Schlußfolgerung wird dadurch gestützt, daß auch in Deutschland die Entwicklung der Staatsrechtslehre ganz grundlegend mit der Entstehung gesamtdeutscher Verfassungstexte wie der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Reichsverfassung verknüpft waren. In jüngster Zeit führte dieser Mangel an staatsrechtlicher Tradition in Großbritannien im Zusam-
G. Gesamtergebnis
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menhang mit den erfolgten Privatisierungen und der Politik der Deregulierung zu verstärktem Theorieimport aus den Wirtschaftswissenschaften. Dies geschah insbesondere durch Rückgriff auf die US-amerikanische Theorie der Regulierung. Diese Eigenständigkeit der deutschen Staatsrechtslehre unabhängig von den Wirtschaftswissenschaften machte es erforderlich, besonderes Augenmerk auf die Behandlung des Staates in der Wirtschaft durch die Staatsrechtslehre zu richten. Dabei erwies sich der Begriff der staatlichen Gewährleistungsverantwortung als angemessener Versuch, auf die Politik der Deregulierung und Privatisierung in Deutschland zu reagieren. Im Vergleich dazu mußten die begrifflichen Bemühungen um den sog. Regulatory State eher gering ausfallen. 2. Die Begriffspaare staatliche Erfüllungsverantwortung und staatliche Gewährleistungsverantwortung sowie Providing / Regulatory State entsprechen einander, indem sie das gleiche Phänomen eines Wandels staatlicher Betätigung von der Selbstwahrnehmung hin zur bloßen Steuerung von Tätigkeiten durch rechtliche Rahmenregelungen zu beschreiben suchen. Dabei unterscheiden sich die Begriffe jedoch grundlegend dadurch, daß es dem englischen Begriffspaar an jeglichem normativen Inhalt fehlt, während das deutsche Begriffspaar in normativer Hinsicht mit verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgefüllt werden kann. Die Untersuchung hat gezeigt, daß der Regulatory State in Großbritannien eine ganz spezifische Bedeutung erhalten hat. Zusätzlich zu dem Phänomen des Wandels staatlicher Tätigkeit verbindet sich in Großbritannien mit dem Regultatory State die Vorstellung von einem Staat, in dem wesentliche fachliche Entscheidungen auf unabhängige Fachbehörden übertragen werden, die sowohl für die Durchsetzung der neuen wettbewerblichen als auch der bestehenden gemeinwirtschaftlichen Ziele zuständig sind. Diese neue Art der staatlichen Aufgabenwahrnehmung reduziert den in Großbritannien typischerweise sehr weiten Ermessensspielraum der Verwaltung und führt durch verstärkte Einführung von Verfahrensregeln zu mehr Transparenz und Formalität des Verwaltungsverfahrens. In dieser spezifischen Beschreibung des Wandels staatlicher Aufgabenerfüllung erschöpft sich der Inhalt des Begriffs. Normativer Inhalt besteht nicht und es ließen sich aus der britischen Verfassung aufgrund des Prinzips der Parlamentssouveränität auch keine normativen Aussagen ableiten. Dennoch hat die Untersuchung gezeigt, daß unter Verweis auf die Parlamentssouveränität nicht jedwede normative rechtliche Vorgabe ausgeschlossen werden kann. Das EU-Recht ist, mittlerweile auch nach wohl überwiegender Ansicht in Großbritannien, durchaus in der Lage, rechtliche Vorgaben für das britische Parlament zu begründen und somit den Grundsatz der Parlamentssouveränität einzuschränken. Jedoch wurde bisher in der britischen Rechtswissenschaft ein Zusammenhang zwischen dem Regulatory State, der Privatisierungspolitik und den normativen Vorgaben des EU-Rechts nicht hergestellt. Im Gegensatz dazu hat die Untersuchung gezeigt, daß der Begriff der staatlichen Gewährleistungsverantwortung in der deutschen Rechtswissenschaft zwei Bedeutungsebenen hat. Neben der ebenfalls vorhandenen heuristischen Bedeutungsebene
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G. Gesamtergebnis
besteht eine zweite, normative Bedeutungsebene. Die an diesen beiden Ebenen gelgentlich geübte Kritik der zwangsläufigen Verwischung beider Ebenen konnte entkräftet werden. Zwar weist die Kritik zu Recht auf die Notwendigkeit einer Trennung beider Begriffsebenen hin. Jedoch zeigte sich, daß diese Trennung durchaus möglich und stringent durchführbar ist. Dieser Nachweis konnte erbracht werden durch eine Analyse der Regelungen des Bahn-, Telekom- und Postsektors sowie im Detail des Stromsektors. Der normative Inhalt des Begriffs ließ sich durch verfassungsrechtliche, der heuristische durch einfachgesetzliche Aussagen mit Inhalt füllen. Dabei wurde hinsichtlich der normativen Ebene des Begriffs streng darauf geachtet, daß normative Aussagen ausschließlich aus der Verfassung und nicht aus dem Begriff selbst oder anderen, dem Verfassungstext in irgendeiner Weise vorausliegenden staatlichen Aufgaben hergeleiteten wurden, wie dies Georg Hermes mit dem Begriff der staatlichen Infrastrukturverantwortung getan hat. Dabei ergab sich, daß der Schwerpunkt der normativen Aussagen hinsichtlich der Bereiche Bahn, Post und Telekom sowie Strom gemeinwirtschaftlicher Art sind. Dies folgt aus den allgemeinen Verfassungsnormen insbesondere dem Sozialstaatsprinzip, der Menschenwürde und der objektiv-rechtlichen Dimension verschiedener Grundrechte, in den drei erstgenannten Bereichen zusätzlich noch aus speziellen Verfassungsnormen. Konkret kann man die staatliche Gewährleistungsverantwortung in diesen Bereichen der Versorgungswirtschaft in normativer Hinsicht etwa folgendermaßen formulieren: Den Staat trifft im Zuge der Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft die Pflicht, eine funktionierende Infrastruktur durch rechtliche Rahmensetzung aufrechtzuerhalten und dabei unter Berücksichtigung des Spannungsfeldes zwischen Marktkräften einerseits und gemeinwirtschaftlichen Bedürfnisssen andererseits dafür Sorge zu tragen, daß die eingeführten neuen Strukturen niemanden von der ununterbrochenen Inanspruchnahme der Grundleistungen des jeweiligen Bereichs abhalten. Trotz der festgestellten Gemeinsamkeiten in den vier genannten Bereichen der Versorgungswirtschaft bestehen in Bezug auf die Stromversorgung erhebliche Unterschiede bzgl. des Wandels staatlicher Tätigkeitsformen. Dies hat sich aus einer Analyse der rechtlichen Regelungen vor und nach der Deregulierung des Stromsektors ergeben. 3. Die allgemein geführte These hinsichtlich eines Wandels staatlicher Tätigkeitsformen von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung muß, bezogen auf den Stromsektor, eingeschränkt werden, da vor der Deregulierung dieses Wirtschaftsbereiches keine staatliche Erfüllungsverantwortung im Sinne einer nahezu ausschließlichen selbsttätigen Wahrnehmung der Aufgabe der Stromversorgung durch den Staat bestand. Anders verlief die Entwicklung in Großbritannien. Hier zeigte die Untersuchung des Stromsektors keine wesentlichen Abweichungen von den anderen versorgungswirtschaftlichen Bereichen. Insofern kann die Rede vom Wandel des Productive zum Regulatory State aufrechterhalten werden. Anders als in den Bereichen Bahn, Post und Telekom bestand vor der Deregulierung dieses Wirtschaftsbereiches in Deutschland keine staatliche Erfüllungsverant-
G. Gesamtergebnis
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wortung im Sinne einer nahezu ausschließlichen selbsttätigen Wahrnehmung der Aufgabe der Stromversorgung durch den Staat. Zwar betätigte sich die öffentliche Hand traditionell in der Stromwirtschaft. Dies tat sie jedoch nicht zentralistisch und planvoll in Erfüllung eines staatlichen Monopols, wie dies in Großbritannien der Fall war. Vielmehr wurde der Staat auf seinen verschiedenen Ebenen -Bund, Länder und Gemeinden- mit jeweils vollkommen unterschiedlichen Interessenlagen tätig und dies zusätzlich in „Konkurrenz“ zu privatwirtschaftlichen Akteuren. Dabei vollzogen sich die stromwirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb eines staatlich gesetzten Rahmens, der für staatliche und private Akteure gleichermaßen galt. Insofern ähnelte, ohne damit jedoch identisch zu sein, der Zustand der Stromwirtschaft vor der Deregulierung bezüglich bestimmter Charakteristika, insbesondere der rechtlichen Rahmensetzung dem, was als staatliche Gewährleistungsverantwortung bezeichnet worden ist. Beispielhaft sei die Abmeierung angeführt als staatliche Befugnis, bei Versagen von Stromversorgern einen leistungsfähigen Stromversorger an dessen Stelle zu setzen. Diese Form der Auffangverantwortung könnte sehr gut auch dem Bereich der Gewährleistungsverantwortung zugerechnet werden. In jedem Fall vollzog sich der Wandel staatlicher Tätigkeit hier wesentlich weniger deutlich als in den drei anderen genannten Bereichen Bahn, Post und Telekom. Diese Aussagen über eine veränderte Rolle des Staates in der Stromwirtschaft können nicht ohne weiteres auf die EU übertragen werden 4. Die Rolle der EU in der Stromwirtschaft hat sich ebenfalls wesentlich verändert. Die Veränderung unterscheidet sich von den beiden Nationalstaaten dahingehend, daß es erst im Zuge der Deregulierung zu einer Formulierung und Ausgestaltung einer EU-Energiepolitik kam. Zuvor war eine solche nicht existent. Durch die Beschränkung auf die Setzung eines Rechtsrahmens für die Stromwirtschaft durch Sekundärrecht ähnelt die EU-Strompolitik den Modellen der „staatlichen Gewährleistungsverantwortung“ und dem „Regulatory State“. Auch wenn das Primärrecht keine Kompetenz für eine EU-Strompolitik enthält, wurde diese im Zuge der Deregulierung verstärkt entworfen und ausgestaltet. Ein wesentlicher Unterschied besteht freilich darin, daß die EU nie selbst in der Stromwirtschaft tätig geworden ist und dies auf absehbare Zeit auch nicht wird. Von einer zuvor irgendwie bestehenden Erfüllungsverantwortung oder einer Funktion des „Productive State“ kann insofern keine Rede sein. Ihre Tätigkeit beschränkt sich hauptsächlich auf die Vorgabe von rechtlichen Rahmenbedingungen für die europäischen Nationalstaaten durch stromrechtliches Sekundärrecht. Zudem werden die allgemeinen Rechtsregeln des Primärrechts, insbesondere des Binnenmarktes, verstärkt zur Ausgestaltung der EU-Strompolitik herangezogen. Insofern wirkt die EU als Impulsgeber für die Nationalstaaten getreu ihrer natürlichen Funktion als ein einziges „Deregulierungsgroßprojekt“. 5. Im Zusammenhang mit der Dikussion um Privatisierung und Deregulierung ist es hilfreich, bei der Analyse des Rechts die Vorschriften in die beiden Katego-
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G. Gesamtergebnis
rien wettbewerbsbezogene und gemeinwirtschaftliche Regelungen einzuteilen. Dies läßt sich, wie am Beispiel der Stromwirtschaft gezeigt, beim deutschen, britischen und europäischen Recht konsequent durchhalten. Die Untersuchung, insbesondere im Rahmen der dogmatischen Diskussion der Gewährleistungsverantwortung bei Bahn, Post und Telekom, haben gezeigt, daß es im Zuge der Privatisierungs- und Deregulierungspolitik zu ganz typischen Spannungslagen zwischen dem Ziel der Marktverwirklichung einerseits und der Aufrechterhaltung sozialer Bedürfnisse andererseits kommt. Diese beiden widerstreitenden Zielrichtungen schlagen sich selbstverständlich auch im einfachen Recht nieder und können hier als wettbewerbsbezogene (wettbewerbsersetzende oder wettbewerbsfördernde) Regelungen und als gemeinwirtschaftliche Regelungen bezeichnet werden. Bei der Analyse der bestehenden Regelungen war die Einteilung der Regelungen in diese beiden Kategorien hilfreich. Insbesondere ist dadurch der Schwerpunkt der deutschen staatlichen Gewährleistungsverantwortung im Bereich der gemeinwirtschaftlichen Regelungen deutlich geworden, während dies auf EUEbene schwerpunktmäßig der wettbewerbsbezogene Bereich ist. In Großbritannien konnte auf Schwierigkeiten verwiesen werden, die sich daraus ergeben, daß diese beiden Ziele von derselben Behörde zu verwirklichen sind.
English Summary Taking into account the partial results from each of the chapter, it is possible to draw up five theses. As follows, these theses are set out and furnished with a summary of the relevant reasoning resulting from the chapters of this book. 1. Legal Science and their Treatment of the State in GB and Germany As could be shown, there is a fundamental difference between the German and British legal science as regards the treatment of the topic of state activities in the economy. Whereas in Germany the jurisprudence, in particular the public law section, developed independent models for explaining the role of the state in the economy in the scope of privatisation and deregulation, amongst British scholars there is a strong resort to economic models of explanation, without developing independent legal explanations. This thesis results from a comparison of the legal and economic science in Germany and Britain regarding its treatment of the state. Proceeding from common origins, sciences developed at first still parallel, later diverted into different methods and objects of investigation. A common feature was left: only subregions of the disciplines dealt with the questions concerning the state. In the course of the diversification of sciences in general however different developments took place in Great Britain and Germany. In Germany starting from the 2nd half of the 19th century, amongst the economic science it were the Nationalökonomie, Finanzwissenschaft and later on the Wirtschaftspolitik which dealt with the question of the State in the economy. In Great Britain from the economic view this was above all the so-called Political Economy. This rather comparable situation in the field of economics was contrasted by a very diferrent picture in the legal science. While in Germany a highly developed public and constitutional law theory (Staatsrechtslehre) existed at the end of the 19th century, in Great Britain no such subdiscipline of the jurisprudence was recognizable. This existing gap in British legal science was followed by a substantially earlier emergence of political science than in Germany. This underdevelopment regarding public law subdisciplines in Great Britain was favoured certainly by the absence of a written constitution, from which scholars could draw conclusions for the legal theories more or less independently from economics or politics. This assumption is supported by the fact that in Germany the development of the public law theory was very fundamentally linked to the emergence of all-German constitutions such as the constitution of the Norddeutscher Bund in 1866 (the Northern German Federation) and the Reichsverfas-
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English Summary
sung (Constitution of the German Empire) in 1871. Recently this lack of public law theory tradition in Great Britain led to intense import of theory from the economic science in the scope of the process of privatisations and deregulation. This happened in particular resorting to the US-American theory of the regulation. This independence of the economic science of the German Staatsrechtslehre made it necessary in this book to pay special attention to the treatment of State activities in the economy by the Staatsrechtslehre. The term of the Gewährleistungsverantwortung des Staates (responsibility of the State to guarantee) proved to be an appropriate attempt to react to the policy of the deregulation and privatisation in Germany. In comparison to that, the conceptual efforts toward the so-called Regulatory State necessarily turned out rather small. 2. Erfüllungs- / Gewährleistungsverantwortung and Providing / Regulatory State The pair of terms Erfüllungsverantwortung des Staates (responsibility of the State to fullfill) and Gewährleistungsverantwortung des Staates (responsibility of the State to guarantee) on the one hand and Providing and Regulatory State on the other hand correspond to each other. They do so by seeking to describe the same phenomenon of a change of state operation from a kind of self-action of the State to a mere control of third parties’ activities by setting up a legal framework. However, the terms differ fundamentally by the fact that the English pair of terms falls short of any normative content. In Germany by contrast, the pair of terms, in addition to a mere descriptive or heuristic level, can be filled in normative respect with constitutional standards. The research showed that the Regulatory State in Great Britain took a very specific shape. In addition to the phenomenon of the change of state activity the concept of Regulatory State is connected to a state, in which substantial technical decisions are transferred to independent authorities, which are competent both for the implementation of the new competitive rules as well as of the existing public service goals. This new perception of public performance reduces the typically wide scope of discretion of the British administration and, by intensified introduction of procedural rules, leads to more transparency and formality of the administrative proceedings. To this extent the term „Regulatory State“ is limited. Normative contents do not exist and due to the principle of the parliamentary sovereignty it proved impossible to derive normative statements from the British constitution. The investigation showed nevertheless that under reference to the parliamentary sovereignty not every normative legal standard can be excluded. The EU law is, even in accordance with the predominant opinion amongst British public law scholars, quite in the situation to justify legal standards for the British Parliament and thus to limit the principle of parliamentary sovereignty. However, so far in the British jurisprudence a connection between the Regulatory State, the privatisation policy and the normative standards of EU law has not been established.
English Summary
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In contrast to this, the investigation showed that the term of the Gewährleistungsverantwortung in the German jurisprudence has two levels of understanding. Besides the heuristic level existing also in Britain, there exists a second, normative level of understanding. This investigation weakened the ocasional criticism to these two levels consisting of an allegedly inevitable blurring of the shape of each level. It has to be conceded that the critics are right to point out the necessity of a clear separation of both levels of understanding. However, it became clear throughout the investigation that this separation is feasible and can be performed quite stringently. The evidence for this could be provided by an analysis of the rules governing the Railways, Postal and Telecom sector as well as in detail the electricity sector. The normative content of the term could be shaped by constitutional standards, while the heuristic could be shaped with statements from the positive non-constitutional law. Regarding the normative level of the term it was strictly guarded that normative statements were exclusively derived from the constitution and not from the term Gewährleistungsverantwortung itself or from public tasks, deduced from beyond the constituional text, as has been the case especially with the Infrastrukturverantwortung of Georg Hermes. It resulted from an analysis of the fields of Railways, Postal and Telecom as well as Electricity services that in Germany the emphasis of the normative statements regard public-service obligations (gemeinwirtschaftliche Regelungen). These result from the general rules of the German constitution (Grundgesetz) in particular the Sozialstaatsprinzip in Art. 20 (principle of social welfare state), the Menschenwürde in Art. 1 (human dignity) and the objective-legal dimension (objektiv-rechtliche Dimension) of different fundamental rights. These general constitutional provisions are complemented for the fields of Railways, Post and Telecoms by sector-specific rules in the constitution. This analysis enables me to concretely formulate a definition of staatliche Gewährleistungsverantwortung in these areas of the supply economy in normative regard as follows: In the course of deregulation and privatisation of the economy the state is faced with an obligation to maintain a functioning infrastructure by putting in place a legal framework, and thereby to ensure, with regard to the tension between market forces on the one hand and public-service needs on the other hand, that the implemented new structures keep nobody from the continuous access to the basic services of the respective area. Despite of the discovered congruences in the four public utilities sectors mentioned, the investigation furthermore shows substantial differences regarding the change of the role of the state in the economy with respect to the electricity supply. This results from an analysis of the legal regulations before and after the deregulation of the electricity sector. 3. Application of the Pairs of Terms to the Electricity Sector The often recited thesis in Germany regarding the change of form of state activity from the Erfüllungsverantwortung towards a Gewährleistungsverantwortung must be limited, as far as the electricity sector is concerned. Before the deregula-
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English Summary
tion of this economic sector no Erfüllungsverantwortung existed in a sense of an almost exclusively public performance of the task of the electricity supply. In contrast to that, in Britain all the utilities sectors developed similarly. Here the investigation of the electricity sector did not show any substantial deviations from the other utility sectors. To that extent the description of the changed public role from a Productive or Providing State to a Regulatory State can be maintained. Differently from the utility sectors of Railways, Post and Telecom before the deregulation of this economic sector in Germany, there has been no Gewährleistungsverantwortung in a sense of an almost exclusively public performance of the task of electricity supply. Though the public administration traditionally was active in the power industry, it did not do this in a centralistic and a well-planned manner framed by a state monopoly, as this was the case in Great Britain. Rather the public took action at its different levels – Bund, Länder and Gemeinden (Federal State, States and municipalities) which each followed often totally different interests and were additionally faced with rivals from private sector actors. The economic activities in the electricity sector were thereby carried out within a framework set by the state, which applied to public and private actors equally. To that extent, without being identical to it, the status of the power industry before the deregulation resembled that which was referred to as Gewährleistungsverantwortung regarding certain characteristics, in particular the setting of a legal framework. As an example, the now abolished Abmeierung can be refferred to, meaning the public power to replace power undertakings which fail to provide efficient power supply by a more able supply company. This form of Auffangverantwortung (safety net responsibility) could as well be judged as an aspect of the Gewährleistungsverantwortung. Summing up, in any case the change of state activity was substantially less clearly carried out in the electricity sector than in the three other mentioned utilities sectors Railways, Post and Telecom. These statements about a changed role of the public in the power industry cannot be transferred so easily to the EU. 4. Changed Role of EU The role of the EU in the power industry also changed substantially. The change differs from the two nation-states in such a way that only in the course of the deregulation a formulation and performance of an EU energy policy appeared. Before deregulation EU energy policy was non-existent. By the restriction to the setting of a legal framework for the power industry by secondary legislation, the EU electricity policy resembles the models of the Gewährleistungsverantwortung and the Regulatory State. Even though the primary EU law does not contain any competence for an EU electricity policy, in the course of energy deregulation such a policy was more and more developed and performed. A substantial difference certainly consists in the EU itself never having taken economic action in the power industry and also not
English Summary
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becoming active in the foreseeable future. Therefore it does obviously not make sense to speak of a kind of an Erfüllungsverantwortung or a function of the Productive State existing before deregulation. The EU energy activity is mainly limited to the setting of a legal framework for the EU member states by secondary legislation. In addition, the general legal rules of the primary EU law, in particular the rules on the internal market, are more intensely consulted for the arrangement of the EU electricity policy. To that extent the EU functions as a pulse generator for the member states in line with its natural function as a „large-scale deregulation project“. 5. Two Categories of Rules: Competition-Related and Social Regulation In connection with the discussion about privatisation and deregulation it proved helpful in analysing the body of law to make a distinction between two categories of rules: competition-related regulation (wettbewerbsbezogen) on the one hand and social regulation (gemeinwirtschaftlich) on the other. It proved that this approach can be consistently followed, as shown with the example of the power industry, with German, British and European rules. In the scope of this investigation it appeared, in particular in the course of the dogmatic discussion of the Gewährleistungsverantwortung in Railways, Post and Telecom, that in the scope of the privatisation and deregulation policy there usually emerge very typical tensions between the objective of the market realisation on the one hand and the maintenance of social needs on the other hand. These two conflicting objectives naturally affect also the non-constitutional law and can best be designated as competition-related (of a competition-replacing or competition-promoting nature) regulations and as social regulation. While analysing the existing body of rules the structuring of the rules into these two categories proved helpful. Thereby in particular the prominent role of social regulation within the concept of the German Gewährleistungsverantwortung became clear, whereas at the EU level the competition-related rules are so far predominant. In Great Britain it could be referred to difficulties which result from the fact that these two conflicting objectives are sometimes to be realised by one and the same authority.
21 Ruge
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Sachwortverzeichnis Anschluß- und Versorgungspflicht 204, 235, 244, 259, 305 Anwendungsvorrang des EU-Rechts 284 Art. 16 EG 82 Art. 31 EG 79 Art. 86 EG 80, 82 Art. 295 EG 78 Auffangverantwortung 172 Bahn 175, 183 Begriffsjurisprudenz 58, 168 Bereichsausnahme 201 Binnenmarkt 101, 106 Braunkohle 246 Capture 44 Civil Liberties 277 Colbertismus 50 Common Calling 275 Constitutional Conventions 272 Daseinsvorsorge 146, 183 Deregulierung 32, 46, 90, 215 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse 82 Disconnections 260 Durchleitung 202, 235, 239 Effizienz 29 Eigentumsneutralität 78 Eigentumsrechte 30 Electricity Act 288 Electricity-Pool 291 EMRK 279 Energiepolitik der EU 94, 99 Energiewirtschaftsgesetz 236 Entflechtung 121, 235 Erfüllungsverantwortung 172 EU 77, 283
Europa 77 Externe Effekte 36 Forsthoff, Ernst 146 Freiburger Schule 69 Fundamental Rights 277 Gemeinwirtschaftliche Regelungen 93, 116, 125, 203, 235, 242, 259, 287, 305 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 231 Gewährleistungsverantwortung 172, 218, 246 Goldene Aktien 290 Government 254 Großbritannien 250 Grundrechte 227, 277 Gute Policey 49 Hale’s Principle 275 Handelsmonopole 79 Historische Rechtsschule 58 Hobbes 59 Informationsdefizit 36 Infrastrukturverantwortung 85, 172, 182 Interdisziplinarität 72 Interkonnektor 118 Interoperabilität 118 Kameralismus 49 Kompetenzordnung 231 Lizenzen 291, 308 Marktversagen 35 Menschenwürde 224 Merkantilismus 49 Methodenstreit der Wirtschaftswissenschaft 66 Monopole 37 Moral Science 74
Sachwortverzeichnis Nationalökonomie 67 Netzzugang siehe Durchleitung und Common Calling 202 Neue Institutionenökonomik 72 Neue Politische Ökonomie 70 Normative Theorie der Regulierung 35 Öffentliche Aufgaben 140 Öffentliche Güter 39 Öffentliche Unternehmen 80, 188, 255 Ofgem 289 Ökonomische Analyse des Rechts 71 Ordoliberalismus 69 Parliamentary Sovereignty 267 Political Economy 74 Positivismus 54 Post und Telekommunikation 176 Preisgestaltung 125, 203, 235, 243, 259, 291 PreussenElektra-Entscheidung 113 Privatisierung 27, 134 Privatisierungspolitik 207, 261 Providing State 250, 261 Public Choice 31, 45 Quersubventionen 236 Re-Regulierung 47 Rechtspositivismus 56, 60 Rechtsvergleichung 22 Rechtswissenschaft 64 Regulatory State 250, 251, 310 Regulierung 32, 71, 189 Robert von Mohl 52
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Savigny 57 Service Public 149 Social Regulation 116, 259, 305 Sozialstaatsprinzip 220 Staat und Gesellschaft 137 Staatsaufgaben 139 Staatsrechtslehre 63 Staatsversagen 70 Staatswissenschaft 51 Stadtwerke 236 Strombörse 242, 301 Stromwirtschaft in Deutschland 190 Stromwirtschaft in Großbritannien 256 Teilhaberechte 127, 147, 277 Trennung vom Netz 222, 226, 228, 260, 305 Umweltschutz 103, 126, 205, 235, 245, 261, 305 Umweltstaatsprinzip 223 Universaldienst 84 Verantwortungsbegriff 160 Verbändevereinbarung 240 Verbraucherschutz 306 Verfassungsökonomie 70 Versorgungssicherheit 102, 126, 205, 235, 245, 260 Volksgeistlehre 58 Wettbewerb 101 Wettbewerbsersetzende Regelungen 258 Wettbewerbsfördernde Regelungen 234, 236, 290 Wirtschaftspositivismus 64 Wirtschaftswissenschaften 48
199, 116,