Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung [Reprint 2019 ed.] 9783111674353, 9783111289588


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German Pages 150 [156] Year 1907

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Die Forderung der Einheitsschule und ihre Bekämpfung in Vergangenheit und Gegenwart
2. Die sozialen Vorzüge der Einheitsschule
3. Die Einheitsschule vom Standpunkt der Erziehung und des Unterrichts
4. Praktische Erfahrungen mit der Einheitsschule im Ausland und Inland
5. Zukunftsaufgaben unseres deutschen Schulwesens
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Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung [Reprint 2019 ed.]
 9783111674353, 9783111289588

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Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung Von

Professor Dr. hugo JVlüller Oberlehrer am Ludwig - George - Gymnasium (n Darmstadt

Verlag von Alfred Copeimann (vormals Richer) Giessen 1907 □D

Verlag von Hlfred Cöpelmann (vormals

3*

Midier) in Giessen

Soeben erschienen:

Evangelische Jugendlebre Gin bülfsbucb zur religiösen lugendunterweisUng nach Luthers Kleinem Katechismus (L und 2. Rauptftöch)

von

Prof. D. Karl 6ger Direktor des Prediger semlnars zu frledberg l. Kessen.

VII u. 370 8.

Geb. J4. 4.80

Seb. tf. 5.50

Aus dem Vorworte: Was zur Herausgabe der vorliegenden Arbeit veranlaßte, war das mir nicht nur aus

den Kreisen der in den ersten Amisjahren stehenden früheren Mitglieder unseres Prediger­

seminars, sondern auch aus denen erfahrener Katecheten (des Pfarrer- und Lehrerstandes) ent­

gegentretende Bedürfnis nach einer Handreichung, die zu fortlaufender innerer Auseinander­ setzung mit den für die religionspädagogische Verarbeitung des Kleinen Katechismus

Luthers in Betracht kommenden Grundsätzen Anlaß und Anregung gibt...

angemessenen religionspädagogischen Benutzung

des

Daß aber in der

Katechismus, nicht im Verständnis

des

Katechismusstoffes selbst, die größten Schwierigkeiten für einen fruchtbaren, die Kinder packenden

und dauernd interessierenden Katechismusunterricht liegen — darüber dürfte unter denen, die mit der Praxis deS Katechismusunterrichts vertraut sind, Einstimmigkeit herrschen. Allerdings ist es mir bei dem von mir verfolgten Zweck nicht von ferne darauf an­ gekommen, die Zahl der Materialsammlungen zum Kleinen Katechismus um eine zu

vermehren, sondern lediglich darauf, den Ansatz und den Verlauf der unterrichtlichen Entwicklung — je nach den pädagogischen (eventuell auch theologischen) Schwierigkeiten bald

ausführlicher, bald weniger ausführlich, aber immer in gewissenhafter Heraushebung des Haupt­

zuges und der wichtigen Einzelmomente der Entwicklung — zu skizzieren...

Zur Prüfung

der Gründe des eignen Verfahrens zu veranlassen, auf Schwierigkeiten hinzuweisen,

die der

inneren Aneignung der Katechismusgedanken bei den Kindern hinderlich find, auf Gedanken und Stimmungen aufmerksam zu machen, die für die Kinder im Vordergrund stehen, während

sie vom theologisch geschulten und interessierten Erwachsenen leicht übersehen werden: das soll die Arbeit leisten und nichts anderes.

Und sie kann es in relativer Vollständigkeit leisten nur

am gegebenen Beispiel; nur auf dem Weg kann man auch hoffen, der unterrichtlichen Praxis

in weiterem Umfang zweckdienliche Anregungen zu geben.

Oie Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung Von

Professor Dr. hugo JMOller Oberlehrer am Ludwig - 6eorge - 6ymnartum in Darmstadt

Verlag von Hlfrcd Cöpelmann (vormals J. Ricker) Giessen 1907

Druck von C. G. Röder ®. m. b. H., Leipzig.

Vorwort. Die vorliegende Schrift verfolgt die Absicht, die Aufmerksam­

keit der gebildeten Kreise und vor allem der Lehrer der höheren

Schulen auf eine Frage hinzulenken, der man bisher keine genügende Beachtung geschenkt hat, und die doch durch eine rührige Agitation zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr für eine gedeihliche Weiter­ entwicklung unseres Schulwesens geworden ist.

Sie betrifft den

Gedanken der Einheitsschule oder allgemeinen Volksschule.

Aus­

gegangen von durchaus edlen sozial-ethischen Motiven, hat dieser

Gedanke namentlich bei der großen Mehrheit der Volksschullehrer Zustimmung und eifrige Unterstützung gefunden und ist schließlich

auch in den Kampf der politischen Parteien hineingezogen worden. So haben sich neben der sozialdemokratischen Partei besonders die Nationalsozialen der Forderung der Einheitsschule mit Entschieden­ heit angenommen, und in Presse und Volksversammlungen tritt

man unter kräftigen Ausfällen auf unsere sogenannten Standes­

schulen nachdrücklich für sie ein. Unter diesen Umständen erscheint eine sachliche Besprechung

der ganzen Frage als dringend wünschenswert.

So habe ich denn

im folgenden, meines Wissens zum erstenmal, den Versuch gemacht,

sic in systematischer und zusammenfassender Weise für das geblldete Publikum darzustellen, wobei ich zu einer entschiedenen Ablehnung der genannten Forderung gelange.

Allen denen, die meine Arbeit durch freundliche Mitteilungen gefördert haben, sei auch an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank

ausgesprochen.

Besonders gebührt dieser den Herren Lehrer und

IV Redakteur Ries in Frankfurt a. M. und Geh. Hofrat Professor Dr. Uhlig in Heidelberg, deren einschlägigen Schriften ich außer­ dem wertvolles Material entnehmen konnte. In der sehr umfangreichen Literatur über die behandelte Frage

glaube ich mich so weit umgesehen zu haben, um die für ihre Beur­ teilung wichtigen Gedanken und Tatsachen zu kennen.

Daß ich die

zahllosen Aufsätze, Vorträge und Verhandlungen, in denen immer von neuem die Einheitsschule gefordert worden ist, alle gelesen hätte, wird man um so weniger erwarten, als in diesen Erzeug­ nissen die Phrase

eine große Rolle spielt und die vorgebrachten

sachlichen Argumente immer wieder die gleichen sind. Daß in meiner Arbeit, die ich in ziemlich kurzer Zeit auszu­ führen genötigt war, sowohl in der gesamten Behandlung dieses

schwierigen Gegenstandes wie in Einzelheiten manches mangelhaft

geblieben ist, weiß niemand besser als ich.

Für den Nachweis von

Irrtümern werde ich dankbar sein; auch wird mir jede sachliche Kritik meiner Auffassung willkommen sein. Mein Hauptzweck war,

den Gedanken der Einheitsschule einmal nachdrücklich zur Diskussion der beteiligten Kreise zu stellen.

Möge die endgültige Entscheidung

in dieser wichtigen Frage in einer Weise getroffen werden, die unserem

deutschen Bildungswesen zum Segen gereicht!

Darmstadt, im April 1907.

Der Verfasser.

Anhatt. Borwort Einleitung

Seite III—IV 1—6

Die Schulreform von 1901. — Fortdauernde Mißgunst gegen die humanistischen Gymnasien. — Der württembergische Lehr plan von 1906. — Dauernde Gefährdung des klassischen Un­ terrichts. — Allgemeine Angriffe gegen die Gestaltung des höheren Schulwesens. — Unklare Reformideen. — Nervöse Erregbarkeit der Zeit. — Notwendigkeit ruhiger Prüfung. — Der Gedanke der einheitlichen Schulorganisation. — Die Zukunstsreformschule der Naturforscher und der Ingenieure. — Die allgemeine Volksschule. — Die Einheitsschule das Hauptproblem der nächsten Zukunft.

1.

Die Forderung der Einheitsschule und ihre Bekämpfung in Bergaugeuheit und Gegenwart

7—22

Amos Comenius 7. — Aufklärung und Neuhumanismus 8. — Pestalozzi 8. — Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung 9. — Be­ gründung der deutschen Volksschule 9. — Zeit der Reaktion 9. — Die Idee der allgemeinen Volksschule als Leitstern des Lehrerstandes 10. — Gegner dieser Idee im Lehrerstand 12. Die soziale Frage 12. — Volksbildungsbestrebungen 13. — Die Sozialpüdagogik 13. — Comenius-Gesellschaft 14. — Volks­ bildungsvereine 15. — Ethische Gesellschaften 15. — Allgemeine Tage für deutsche Erziehung 15. Die Lehrer der höheren Schulen 17. — Der Verein für Schulreform 18. — Görings „Neue deutsche Schule" 18. — Gleichstellung der höheren Schulen und lateinloser Unterbau 19. — Der Gymnasialverein 19. — Die Hamburger Schulsynode und der Verein der Hamburger Oberlehrer 20. — Die Mün­ chener Gymnasiallehrer und die allgemeine Elementarschule 21. — Die politischen Parteien 21.

2. Die sozialen Vorzüge der Einheitsschule Ideale Ziele der Einheitsschulbewegung 23. — Über­ treibung in der Schilderung der Klassengegensätze 25. — Über­

schätzung des Einflusses der Schule auf die Lebensanschauung 26.

23—45

VI Seite

Die Einheitsschule an sich kein Mittel der sozialen Versöhnung 27. — Der soziale Gesichtspunkt für die Schul­ organisation überhaupt nicht matzgebend 29. — Möglichkeit eines gemeinsamen Elementarunterrichts 30. — Die Simultanschule 31. — Vorschule oder gemeinsame Elementarschule? 31. — Bedenk­ liche Folgen einer Ausdehnung der allgemeinen Volksschule über fünf bis sechs Jahre 33. Die Einheitsschule keine Forderung der sozialen Gerechtigkeit 35. — Sie ist kein Heilmittel gegen die Über­

füllung der höheren Schulen mit schwachen Schülern 37. — Die Entscheidung meist nicht nach der Begabung getroffen 39 — Zwangsweise Auslese der Begabten als Radikalmittel 40. — Sozialistischer Charakter dieser Maßregel 40. — Unheilvolle Folgen einer solchen Auslese für das arbeitende Volk 41. — Unmöglichkeit einer solchen Auslese 42. — Zusammenhang der geistigen Entwicklung mit der wirtschaftlichen 43. — Notwen­ digkeit eitles stufenweise sich vollziehenden Aufsteigens in höhere soziale Schichten 44. — Der Bevölkerungsstrom nicht künstlich zu beschleunigen 44.

3. Die Einheitsschule vom Standpunkt der Erziehung und deS Unterrichts.............................................................................................46—80 Entscheidende Bedeutung der unterrichtlichen und erziehlichen Zwecke 46. — Notwendigkeit einer Vielheit von Schulen 46. — Alle Schulen auch Standesschulen 47. — Die Idee der nationalen Bildungseinheit 48. — Gleichheit des Geiste- unserer Erziehung und der wichtigsten Lehrstoffe 49.

Die dreijährige gemeinsame Elementarschule 49. — Ihre Nachteile in didaktischer Hinsicht 60. — Ungleich­ mäßig entwickelte Schülerschaft und Zwiespältigkeit des Zieles 52. — Nachteile für die höheren Schulen 55. — Erziehliche Vor­ züge der Einheitsschule 57. — Die unterrichtlichen Ausgaben maßgebend 61. — Eigenartige erzieherische Mittel des höheren Unterrichts 61. — Die Borschulfrage Sache freier Entscheidung 62. — Unmöglichkeit gemeinsamen Unterrichts für fünf bis sechs Jahre 63. Utopische Hoffnungen für die Hebung der Volks­ schule 63. — Ungerechte Vorwürfe gegen die höheren Stände 65.

— Das Gespenst der Armenschule 66. — Gefahren der Ein­ heitsschule für Ansehen und Fortentwicklung der Volksschule 67. — Die Retter der Volksschule 70. — Der wahre Weg zu ihrer Hebung 71. Berechtigtes Ansehen unseres höheren Schulwesens 72. — Verkehrtheit einer radikalen Umgestaltung 74. — Folgen

einer Verkürzung des wissenschaftlichen Unterrichts 74. — Un­ möglichkeit der Erreichung der Lehrziele 75. — Verminderung der bildenden Kraft des Unterrichts 75. — Wesen der wahren

vn Seite Bildung 76. — Feindseligkeit gegen den klassischen Unterricht 77. — Unvergängliche Bedeutung der Antike 78. — Verkümmerung deS klassischen Unterrichts als Folge der Einheitsschule 79.

4. Praktische Erfahrungen mit der Einheitsschule im Ausland und Julaud

81—112

Notwendigkeit vom Ausland zu lernen 81. — Neigung zu übertriebener Bewunderung des Auslandes 81. — Erfreulicher Zustand des höheren und niederen Schulwesens Deutschlands 82. — Die Einheitsschule im Ausland 82. Österreich und der Südosten Europas 82.

Vereinigte Staaten. Blinde Bewunderung des ame­ rikanischen Schulwesens 84. — Bemühungen zur Hebung der Volksbildung 86. — Einwanderung 86. — Große Zahl der Analphabeten 86. — Mängel des Volksschulunterrichts 87. — Allgemeine Volksschule 89. Die Schweiz. Mannigfaltigkeit der Schulverfassungen 90. — Das Volksschulwesen 90. — Die Stellung der Lehrer 91.— Zudrang zu den höheren Berufen 92. — Überbürdung der Schüler in den höheren Schulen 92. — Leistungen der Gym­ nasien 93. — Die schweizerische Schulorganisation kein Vorbild für Deutschland 94. Die skandinavischen Völker 95. — Wirkungen des lateinlosen Unterbaues 95. — Überfüllung der gelehrten Be­ rufe 96. — Überbürdung der Schüler 97. — Beschränkung des

klassischen Unterrichts 98. — Verkürzung des wissenschaftlichen Unterrichts zugunsten des elementaren 99. — Das norwegische Unterrichtsgesetz von 1896 99. — Vernichtung der klassischen Bildung 100. — Das dänische Schulgesetz von 1903 101. — Die

schwedische Schulreform von 1905 101. Die allgemeine Elementarschule in Deutschland 102. — Die Berliner Realschulen und ihre Verbindung mit der Volksschule 102. — Das Mannheimer System 105. — Die Münchener Volksschulen 106. — Klagen der höheren Lehran­ stalten über Überfüllung und mangelhafte Vorbildung 109. — Die Einheitsschule durch die Erfahrung nicht emp­ fohlen 112.

5.

113—142

Zukunftsaufgaben unseres deutschen Schulwesens Zusammenfassung der Ergebnisse der bisherigen Unter­ suchung 113. — Die Einheitsschule grundsätzlich abzu­ lehnen 116. Künftige Aufgaben unseres Schulwesens 116.



Hoffnung auf besonnene Weiterentwicklung 117. — Größere Be­ wegungsfreiheit für die Schulen 117. — Individuelle Ausge­ staltung der einzelnen Schulgaltungen 118. — Nützlichkeit privater Erziehungsanstalten 118. — Entwicklung der Eigenart

VIII der höheren Lehranstalten 119. — Verminderung der Zahl der Gymnasien 120. — Künftige Revision des GymnasiallehrplanS 121. — Förderung der laieinlosen Realschulen 124. — Errich­ tung von Mittelschulen 125. — Hebung der Volksschulen 127 — Umgestaltung der Lehrerbildung 128. — Universitätsstudium der Lehrer 129. — Nicht Einheitsschule, sondern ein­ heitliches Schulsystem 180. Gefährlichkeit einer schrankenlosen Eröffnung des Zugangs zu den höheren Berufen 131. — Forderungen der sozialen Gerechtigkeit 132. — Festhalten der notwendigen Anforde­ rungen an die Schüler 132. — Die höhere Schule als Mittel der sozialen Auslese 133. — Notwendige Rücksichtslosigkeit gegen unbefähigte Schüler 133. — Unheilvolle Wirkung der Überbür-

dungSklagen

135. — Übermäßige

Erleichterung

rungen ein soziales Verbrechen 136.



der Anforde­

Gesteigerte Fürsorge

für die Ausbildung hervorragend begabter Schüler der ärmeren Klassen 137. — Bereitstellung staatlicher Mittel für ihre Aus­ bildung 138. — Reform der Universitätsstipendien 139. — Er­ richtung von Alumnaten an höheren Schulen 140. — Prak­ tische Arbeit, nicht Jagd nach Phantomen! 141.

Einleitung. Mehr als sechs Jahre sind vergangen, seitdem der Erlaß des Kaisers zur Schulreform veröffentlicht wurde, der durch Aufftellung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der verschiedenen Gattungen der höheren Lehranstalten eine neue Grund­ lage für die Weiterentwicklung unseres Schulwesens zu schaffen bestimmt war. Aber noch immer stehen wir mitten im Sturm und Drang einer mächtigen, auf völlige Umgestaltung unserer ganzen öffentlichen Erziehung hinstrebenden Bewegung. Wer nach dem Abschluß der preußischen Schulreform im Vertrauen auf den neu­ verkündeten Königsfrieden eine Zeit ruhigen und neidlosen Wett­ bewerbs zwischen den verschiedenen Anstalten erwartete, der sollte sich durch mancherlei Anzeichen fottdauernder Feindseligkeit zwischen den streitenden Schwestern getäuscht sehen. Insbesondere mehrten sich die Äußerungen eines ungeminderten Übelwollens gegen die humanistischen Gymnasien. Der Umstand, daß die übermäßige Zahl dieser Anstalten keineswegs, wie viele erwartet hatten, sich ver­

mindert hat, daß also das rechtlich beseitigte Gymnasialmonopol tatsächlich für viele Orte unseres Vaterlandes doch noch besteht, veranlaßt immer neue Versuche, den Lehrplan der Gymnasien innerlich umzugestalten. Und vollends denkt bei dieser Lage der Dinge niemand daran, auch ihnen das in dem kaiserlichen Erlaß verbriefte Recht einer kräftigeren Betonung ihrer Eigenatt einzuräumen; vielmehr ist man in gegnerischen Kreisen gleich bereit, jeden Versuch des Gymnasiums, sich wieder energischer auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen, als den Ausfluß rückständiger Denkart anmaßender oder beschräntter Schulmeister mit Entrüstung zurückzuweisen. Unter der Einwirkung solcher unfreundlichen Stimmung muß sich der klassische Unterricht Müller, Die Gefahren der Einheitsschule.

1

2 sogar da, wo alle Monopole beseitigt sind und keinerlei äußere noch immer eine weitere Schmälerung seines Besitzstandes gefallen lassen. Wer sich seither noch über die Lage getäuscht hat, für den ist sie grell beleuchtet worden durch den neuen Württembergischen Lehr­ plan von 1906. Dort hat man in der an sich löblichen Absicht, der körperlichen Entwicklung und Gesundheit der Schüler besser Rechnung zu tragen, die Zahl der wöchentlichen Schulstunden und das Maß der täglichen Arbeitszeit herabgesetzt und einen verbind­ lichen Spielnachmittag eingeführt. Aber welche sachlichen Gründe nötigten eigentlich dazu, daß man dabei das Latein der Gymnasien von 81 auf 72, das Griechische von 40 auf 38 Wochenstunden herabsetzte? Und das in einem Land, in dem der klassische Unter­ richt in einer Jahrhunderte alten Tradition wie nirgends sonst eine Stütze findet, in dem er überdies erst 1891 in zeitgemäßer Weise beschränkt worden ist, und in dem das Realschulwesen mehr als anderwärts in Blüte steht! Die Württembergischen Realanstalten haben jetzt sechs bis sieben wöchentliche Stunden mehr als die Gymnasien. Sollte es wirklich so sehr wider die Hygiene gewesen sein, den Gymnasiasten ebensoviele Stunden zuzumuten wie den Realschülern und dadurch die ganze Schmälerung des klassischen Unterrichts zu vermeiden? Die ganze Widersinnigkeit dieser an­ geblichen Reform wird durch nichts deutlicher gekennzeichnet, als durch die Tatsache, daß man auch den vier sogenannten niederen Seminarien den neuen Lehrplan aufgenötigt hat. Diese Anstalten, die durch das Landexamen den Vorzug einer besonders auserlesenen Schülerschaft genießen, die als reine Internate und in ihrer klöster­ lichen Abgeschiedenheit ganz außergewöhnlich günstige Bedingungen für ein wissenschaftliches Arbeiten bieten, und die endlich ausge­ sprochenermaßen nur künftige Theologen und Philologen vorbilden, erfreuen sich in ganz einziger Weise aller Vorbedingungen, die sie zu bevorzugten Pflanzstätten klassischer Bildung machen und ihnen ihre überragende Bedeutung für unser ganzes deutsches Geistesleben auch in Zukunft sichern könnten. Aber das kommt alles gar nicht in Betracht — sie müssen dem modernen Moloch der Gleichheit geopfert werden, der sich zurzeit mit Vorliebe in das Gewand der Schulhygiene hüllt. Glaubt man aber in Stuttgart vielleicht, durch solche Nachgiebigkeit die Herren Professor Griesbach, Dr. Jäger Nötigung besteht,

3 und Genossen zufriedenstellen zu können? Das wäre eine arge Täuschung! Zwischen den Forderungen der extremen Schul­ hygieniker, welche die Schulzeit auf ein Minimum beschränken und die Hausaufgaben ganz abschaffen wollen, und den Bildungszielen, die den höheren Schulen durch die heutige Kultur aufgenötigt werden, gibt es kein Paktieren. Solange aber noch solche Dinge vorkommen können, werden die Freunde der humanistischen Bildung gut daran tun, an keine Friedensversicherungen zu glauben und ihr Pulver trocken zu halten. Und wenn das alte Gymnasium gegenüber allen Angriffen radikaler Reformer nach wie vor in der vordersten Fcuerlinie steht, so mögen doch die anderen Anstalten nicht glauben, daß sie vor solchen Umsturzgelüsten sicher wären. Wird uns doch gelegentlich von Leuten, deren Stimme gehört wird, versichert, daß alles im Jahr 1901 Geschehene gar keine wirkliche Schulreform sei, und daß weder das alte Gymnasium noch die Reformanstalt, weder das Realgymnasium noch die Oberrealschule geeignet seien, dem kommenden Geschlecht die rechte Bildung zu gewähren. Man kann in der Tat sagen, daß der Ansturm in Literatur und Presse gegen das gesamte bestehende System unserer öffentlichen Schulen noch nicht merklich nachgelassen hat. Viele Köpfe sind völlig beherrscht von dem Gedanken, daß an die Stelle der angeblich überlebten alten Gebilde etwas völlig Neues gesetzt werden müsse. Wie dieses Neue freilich aussehen soll, davon hat man meist nur höchst nebel­ hafte Vorstellungen, und soweit bestimmte Forderungen erhoben werden, laufen sie einander zum großen Teil diametral entgegen. Und wieviel Mangel an wirklicher Sachkenntnis, wieviel unverständige und ungerechte Kritik, wieviel Maßlosigkeit in den Forderungen tritt bei diesen Erörterungen zutage! Wie dieser Reformeifer zusammenhängt mit der ganzen inneren Unruhe und nervösen Erregbarkeit unserer Zeit, wie man überhaupt die Neigung hat, an allen älteren Errungenschaften der Kultur die Schattenseiten zu gewahren und eine tiefgehende Wandlung der gesamten Grundlagen unserer Gesittung zu erwarten, das hat erst jüngst wieder Wilhelm Münch in seiner Schrift „Eltern, Lehrer und Erzieher in der Gegenwart" tteffend darge­ stellt. Aber derselbe ausgezeichnete Pädagoge hat uns auch in der genannten Schrift wie in seiner ftüher erschienenen „Zukunfts1*

4 Pädagogik" in eindringlicher Weise zu Gemüt geführt, daß es grundverkehrt wäre, aus Widerwillen gegen den Schwall von hohlen Phrasen, von törichten Schlagwörtern und unklaren Phantastereien, die uns ans diesem Gebiet allenthalben entgegentreten, unser Ohr den Forderungen der Reformer von vornherein zu verschließen; daß vielmehr in allem Seltsamen und Maßlosen doch auch wertvolle Tendenzen und zukunftsreiche Ideen enthalten seien, und daß nur durch ruhiges, besonnenes Abwägen die Sache gefördert werden könne. Gewiß, daran darf es nicht fehlen. Indessen tut es doch vielleicht heute noch mehr not, an die Vertreter unserer bestehenden Einrichtungen die Mahnung zu richten, nicht infolge der beständigen Angriffe kleinmütig zu verzagen, sondern an ihre gute Sache und ihr gutes Recht zu glauben. Wir wollen das Neue, das uns an­ gepriesen wird, völlig unbefangen prüfen, aber wir tun es mit ruhigem Gewissen und mit kühlem Urteil, da wir ganz genau wissen, daß die vielverlästerten heutigen Schuleinrichtungen trotz aller ihrer Mängel doch die wohlüberlegte Schöpfung zahlreicher wahrhaft vaterlandsliebender, einsichtiger und hochgebildeter Männer sind, und daß sie unserem Volke unendlich viel Segen gebracht haben und noch täglich bringen. Wenn wir nun die zahllosen Reformvorschläge überblicken, so finden wir, daß sie trotz aller Verschiedenheit in den Einzelan­ schauungen doch in ihrer überwiegenden Mehrheit nach einer be­ stimmten Richtung hingehen, die von den Bahnen unseres heutigen Schulwesens entschieden abführt. Denn während man bisher in unserem Vaterland grundsätzlich die verschiedenen Schulgattungen nur nach ihren eigenartigen Zwecken gestaltet hat, erstreben die Reformer durchweg eine größere Annäherung der einzelnen Formen und ihre Verbindung zu einem einheitlichen Gesamtorganismus. Bekanntlich war diese Einheitsschulbcwegung bei uns in Deutsch­ land auf dem Gebiet des höheren Unterrichts vor zwanzig Jahren schon einmal sehr einflußreich, nahm dann aber nach der Dezember­ konferenz von 1890 stark ab und wurde durch die preußische Schul­ reform von 1901, die mit Entschiedenheit die entgegengesetzte Bahn einschlug, eine Zeitlang völlig zurückgedrängt. Indessen ließen sich sehr bald wieder einzelne Stimmen vernehmen, die der Dreiteilung des höheren Unterrichtswesens eine innere Berechtigung nicht zu-

5 gestehen und die von neuem die verschiedenen Formen zu einer Ein­ heitsschule verschmolzen sehen möchten, und zwar im wesentlichen auf der Grundlage der Oberrealschule, die durch Aufnahme eines obligatorischen Lateinunterrichts in den oberen Klassen und durch Einführung von wahlfreiem Griechisch allen Bedürfnissen angepaßt werden soll. Diese Bestrebungen auf Einrichtung einer neuen Ein­ heitsschule verdienen die ernsteste Beachtung, seitdem zwei der ein­ flußreichsten Berufsvereine ihnen ihre Unterstützung leihen: die Ge­ sellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte und der Verein

deutscher Ingenieure. Die erstgenannte Gesellschaft verfolgt schon seit einer Reihe von Jahren die Aufgabe, dem naturwissenschaftlichen Unterricht int Lehrplan unserer höheren Schulen die Stellung zu verschaffen, die der theoretischen und praktischen Bedeutung dieser Wissenschaft entspricht, und die zur Prüfung der Frage eingesetzte Unterrichtskommission hat der Naturforscherversammlung in Stutt­ gart 1906 den Plan einer Zukunstsreformschule vorgelegt, als deren Unterbau eine sechsllassige Realschule dienen und die sich oben in die verschiedenen Formen eines dreiklassigen Obergymnasiums teilen soll. Diesen Vorschlag hat dann auch der Unterrichtsausschuß des Vereins deutscher Ingenieure in seiner letzten Versammlung am 15. Oktober 1906 angenommen. Die von den beiden genannten Vereinen für jene Forderung eingeleitete Agitation bedeutet, wie jeder leicht erkennt, eine höchst gefährliche Erschütterung der ge­ samten Grundlagen der preußischen Schulreform von 1901. Allein die Tendenz zu einer einheitlichen Schulorganisation geht über das Gebiet des höheren Unterrichts weit hinaus und er­ streckt sich auch auf die Volksschule. Entsprechend der fortschreiten­ den Demokratisierung der Bildung und der zunehmenden Soziali­ sierung der Bildungsfürsorge, in der auch Paulsen in seiner letzten Schrift über „Das deutsche Bildungswesen" einen Grundzug der Schulcntwicklung der letzten Jahrzehnte erblickt, erstrebt man ein einheitliches nationales Schulsystem, in dem die verschiedenen Gat­ tungen der höheren Schulen wie die Äste aus dem Stamm eines mehrjährigen, für alle Kinder gemeinsamen Volksunterrichts hervor­ wachsen. Man verlangt also eine allgemeine Volksschule, die allen Volksgenossen ohne Unterschied von Rang, Stand und Verntögen in völlig einheitlicher Weise die Grundlagen deutschnationaler Kultur übermitteln soll.

6 Auch für diese Forderung wird eine rührige Agitation ent­ faltet. Abgesehen von ihrer Vertretung in Presse und Versamm­ lungen, wie zuletzt noch auf dem Allgemeinen deutschen Lehrer­ tag in Königsberg 1904, hat man auch schon längst angefangen, in parlamentarischen Körperschaften für sie zu wirken. Im preußi­ schen Abgeordnetenhaus war es lange Zeit hauptsächlich der Abge­ ordnete Rickert, der bei jeder Gelegenheit für sie eintrat. Gerade jetzt haben ebendort die freisinnigen Parteien einen Antrag auf Ab­ schaffung der Vorschulen eingebracht. In Hamburg wurde 1899 der Gedanke der fünfjährigen allgemeinen Volksschule von der Schul­ synode sogar schon zu einem Gesetzentwurf gestaltet, der allerdings von der obersten Schulbehörde nicht ausgeführt wurde. Im hessi­ schen Landtag kämpft der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. David seit zehn Jahren sehr eifrig und geschickt für die allgemeine Volks­ schule, und gerade eben liegen der zweiten Kammer wieder mehrere dahin zielende Anträge vor. Nach alledem kann niemand verkennen, daß es das Problem der Einheitsschule ist, von dem unseren jetzigen Schuleinrichtungen die Hauptgefahr droht. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, wird sich unser deutsches Schulwesen in absehbarer Zeit nochmals und noch ernstlicher als früher vor die schwerwiegende Entscheidung ge­ stellt sehen, ob Vielheit oder Einheit der maßgebende Grundsatz unserer Schulgestaltung sein soll. Eine entschiedene und grundsätz­ liche Stellungnahme zu dieser Frage wird nicht zu umgehen sein. Demnach ist eine allseitige und sorgfältige Prüfung der für und gegen die Einheitsschule geltend gemachten Gründe die wichtigste Aufgabe der nächsten Zukunft. Zu ihrer Lösung beizutragen, ist auch der Zweck der folgenden Blätter.

1. Pie Aorderung der Hinyettsschuke in Mergangenhett und Kegenwart. Den Freunden der Einheitsschule schwebt als Ideal der Schul­ gestaltung eine Einrichtung vor, bei der eine gemeinsame, vielleicht gar für alle Kinder obligatorische Volksschule für fünf bis sechs Schuljahre die Grundlage des gesamten Unterrichts bildet. Bis zum 11. oder 12. Lebensjahre soll also die Jugend aller Stände in denselben Schulen und den gleichen Gegenständen unterrichtet wer­ den. Erst von der Altersstufe unserer Quarta oder Untertertia ab soll sich die höhere Schule von der allgemeinen Volksschule ab­

zweigen, und zwar zunächst für mindestens drei bis vier Jahre wieder mit einem einheitlichen Lehrplan, etwa dem unserer Real­ schulen. Von Obersekunda an könnten dann die verschiedenen Zweige des wissenschaftlichen Unterrichts auseinanderlaufen, und so würde sich in diesem Schulsystem dann auch für den Unterricht in den klassischen Sprachen in den drei letzten Schuljahren noch ein be­ scheidenes Plätzchen finden. Da die Verwirklichung dieser Schulgestaltung in der Öffent­

lichkeit vielfach gerade von demokratischer oder sozialdemokratischer

Seite gefordert wird, so könnte man meinen, daß die ganze Forderung politischen Bestrebungen entspringe. Das ist nicht der Fall. Als den Vater des Gedankens der Einheitsschule können dessen Anhänger keinen Geringeren anführen, als den großen pädagogischen Reformer Amos Comenius (1592—1671). Dieser hat zuerst den Grund­ satz ausgesprochen, daß der gesamte Unterricht auf die Muttersprache aufgebaut und die gesamte Jugend in den ersten Schuljahren in der Volksschule vereinigt werden müsse. Zur Begründung dieser Forderung stellt er in seiner „Großen Unterrichtslehre" fol­ gende Sätze auf: „Erstens: Ich beabsichttge eine allgemeine Bildung

8 aller, welche als Menschen geboren sind, zu allem, was menschlich ist. Sie müssen daher zusammen gebildet werden, soweit sie zu­ sammen gebildet werden können, damit sich alle gegenseitig anregen, beleben, anstacheln. Zweitens will ich, daß alle zu allen Tugenden geblldet werden, auch zur Bescheidenheit, Eintracht und zu gegen­ seitiger Dienstfertigkeit. Daher dürfen sie nicht so früh voneinander getrennt werden, auch darf man einer gewissen Anzahl nicht Ge­ legenheit geben, vor den anderen wohlgefällig auf sich zu sehen und diese verächtlich zu betrachten. Drittens: Bei dem sechsjährigen Kinde bestimmen zu wollen, für welchen Beruf es geeignet sei, ob es sich zu wissenschaftlicher Tätigkeit schicke, scheint Übereilung zu sein; denn weder zeigen sich hier schon genügend die Kräfte des Geistes noch die Richtung des Seelenlebens, während später beides besser zutage tritt; wie man auch im Garten nicht erkennen kann, welche Pflanzen auszujäten, und welche stehen zu lassen sind, so­

lange sie noch ganz jung sind, sondern erst nachdem sie herange­ wachsen sind. Auch sind nicht ausschließlich die Kinder der Reichen, des Adels, der hohen Beamten zu ähnlichen Würden geboren, daß ihnen allein die lateinische Schule offen stehen soll, während die anderen ohne alle Hoffnung zurückgewiesen werden. Der Wind weht, wohin er will, und nicht immer beginnt er zur besttmmten Zeit zu wehen". Derartige Ideen, wie sie ähnlich auch von anderen im 17. Jahrhundert auftretenden pädagogischen Reformern geäußert wurden, übten auf die Praxis der Schule so viel Einfluß, daß all­ mählich in den einzelnen Territorien ein Volksschulunterricht durch­ geführt und der Anfang des Lateinlernens um einige Jahre ver­ schoben wurde. Im 18. Jahrhundert wirkten die Ideen der Auf­ klärung und der Humanität in der gleichen Richtung, und so sprachen, worauf man sich zugunsten der Einheitsschule mit besonderer Beftiedigung beruft, selbst die Begründer des neuhumanistischen Gym­ nasiums, Johann Mathias Gesner, Friedrich August Wolf, Johann Gottfried Herder und andere gelegentlich ähnliche Ge­ danken aus, indem sie einen erst mit dem 13. oder 14. Lebensjahr beginnenden gymnasialen Oberbau auf der Grundlage einer allge­ meinen Volksschule und einer an diese sich anschließenden Realschule ins Auge faßten. Durch die Tätigkeit Pestalozzis (1746—1827) leuchtete dann die alles beherrschende Idee jener Zeit, die Humanität, auch über

9

der Volksschule auf, und es wurde dem Voltsunterrichte die Auf­ gabe gestellt, eine harmonische Ausbildung und naturgemäße Ent­ wicklung aller Kräfte zur sittlichen Vollkommenheit zu bewirken. Die geschichtlichen Ereignisse brachten es mit sich, daß die Gedanken Pestalozzis gerade auf Preußen den größten Einfluß übten. Es war der Zusammenbruch des preußischen Staates, der dem Gedanken einer Wiedergeburt des Volkes von innen heraus in den Jahren der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung entscheidenden Einfluß auch auf die Gestaltung des öffentlichen Unterrichts verschaffte und somit auch die Volksschule in der Schätzung der maßgebenden Männer außerordentlich steigen ließ. Nach der Meinung Steins und Fichtes sollten die Volksschulen einen sittlichen, religiösen und vaterländischen Geist in der Nation hervorrufen, ihr wieder Mut, Selbstvertrauen, Bereitwilligkeit zu jedem Opfer für Unabhängigkeit vom Fremden und Nationalehre einflößen. In solchen Gedanken begegneten sich die preußischen Staatsmänner mit dem schweizerischen Pädagogen, so daß eine Zeitlang ein eifriger pädagogischer Verkehr zwischen Berlin und Jfferten unterhalten wurde. Allmählich wurden dann zahlreiche Lehrerseminare gegründet, und so entwickelte sich in Pestalozzis Geist in ruhiger und fruchtbarer Arbeit das deutsche Volksschulwesen des 19. Jahrhunderts, als dessen bedeutendster Vor­ kämpfer der Seminardirektor Adolf Diesterweg in Mörs, später in Berlin (1790—1866) einen ungeheuren Einfluß ausübte. Während aber die stille Arbeit in Seminaren und Volks­ schulen stetig ihren Weg ging, war aus den leitenden Kreisen der Geist des Freiherrn von Stein längst wieder geschwunden. Wenn schon Friedrich Wilhelm III. in seinen späteren Jahren dem regen Eifer auf dem Gebiete des Volksschulwesens nicht ohne kleinliche Besorgnis zuschaute, zog in den Jahren der Reaktion unter Fried­ rich Wilhelm IV. ein entschiedenes Mißtrauen gegen den Lehrerstand und die Volksschule in die preußische Schulverwaltung ein, bis man in den berüchtigten Stiehlschen Regulativen von 1854 den Versuch machte, den Lehrplan der preußischen Volksschule wieder auf Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion zu beschränken. Erst nach der Thronbesteigung Wilhelms I. knüpfte man wieder an die Ideen Pestalozzis an, und nachdem 1872 Dr. Falk Kultusminister geworden war, wurde schon im selben Jahre durch die noch heute geltenden Allgemeinen Bestimmungen über die Volksschule

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dieser ein Lehrziel gesteckt, das sie wieder zu einer wahrhaften Volksbildungsanstalt machte. In dem Drucke, der in der Zeit der Reaktion jahrzehntelang auf der Volksschule lastete, und der ihre Lehrer mit Notwendigkeit in eine oppositionelle Stellung drängte, muß man die psycho­ logische Erklärung suchen für die Zähigkeit, mit der sich dieselben an Ideale wie an Illusionen anklammerten, die der Volksschule eine schönere Zukunft zu verheißen schienen. Und so hielten die Lehrer vor allem die Idee der Einheitsschule als ein kostbares Vermächtnis aus der Zeit der Humanität fest, ganz unbekümmert darum, daß die tatsächliche Entwicklung des Schulwesens gerade den entgegen­ gesetzten Weg ging. „Durch Jahrzehnte hindurch", sagt Ries, „hat die Idee der allgemeinen Volksschule wie ein Stern der Hoffnung und der Verheißung über den deutschen Lehrern gestrahlt". Die Urkunde, die dieser Forderung ihr Recht zu verbriefen schien, erblickte man in dem bekannten preußischen Schulgesetzentwurf, den der Staatsrat Süvern 1819 ausgearbeitet hatte, der aber nie Gesetzeskraft erlangt hatte. Da hieß es: „Die Schule gliedert sich bis dahin, wo die Tätigkeit der Universität beginnt, in drei Stufen: Allgemeine Volksschule, allgemeine Stadtschule und Gymnasium. Diese drei sind als eine einzige Anstalt zur Nationaljugenderziehung zu betrachten und demgemäß in inneren organischen Zusammen­ hang zu bringen". Demgemäß verlangten die Begründer der Volksschulpädagogik, besonders Diesterweg, sein Schüler Wichard Lange und Dittes einmütig die allgemeine Volksschule. So sagte der erstgenannte in seinem „Programm für die Volks­ schule der Zukunft": „Die Schule ist eine Nationalschule, welche keine Trennung nach Ständen kennt". Und dem Vorgang dieser Männer folgte die ungeheure Mehrheit der liberal gesinnten Lehrer­ schaft. Auf zahlreichen großen und kleinen Lehrerversammlungen wurde in Vorträgen und Resolutionen immer von neuem wieder die Verwirklichung jener Idee gefordert. So sprach sich die 20. All­ gemeine deutsche Lehrerversammlung in Hamburg 1872 nach einem Vortrag von Wichard Lange für die deutsche National-Volksschule aus; so forderte der 9. Deutsche Lehrertag in Halle a. S. 1892 eine allgemeine Volksschule und Aufhebung sämtlicher Vor­ schulen. Und in einer Menge von Broschüren und Artikeln in Zeitschriften haben die Volksschulpädagogen für ihren Lieblings-

11 gebauten nachdrücklich und erfolgreich Propaganda zu machen ver­ standen. In den liberalen Lehrerkreisen wurde die Einheitsschule

förmlich zur Geltung eines Dogmas erhoben, dessen Bestreitung als unverzeihlicher Abfall von der Sache der Volkserziehung erschien. Freilich bekannten sich nicht nur pädagogische Größen wie Her­ bart, sondern auch gar manche von den führenden Männern der Volksschule als entschiedene Gegner jener Forderung, so Lüben, Meier, Berthelt; und den hochangesehenen Vorsitzenden der Allgemeinen deutschen Lehrerversammlung, Theodor Hoffmann, kostete diese Gegnerschaft Popularität und Vorsitz. Ebenso hat der seinerzeit hochgeschätzte hessische Volksschulpädagoge, Seminardirektor Wilhelm Curtmann in Friedberg, in seiner 1842 erschienenen und von Diesterweg wegen ihrer scharfen Beobachtung und tiefen Sachkennt­ nis aufs wärmste gepriesenen Schrift „Die Schule und das Leben" mit großer Entschiedenheit den Gedanken der Einheitsschule zurück­ gewiesen. Da lesen wir: „Wo es der äußeren Bedingungen wegen angeht, da trenne man zeitig die Schüler nach dem wahrscheinlichen Lebensberuse, doch nur im großen nach den Hauptrichtungen, man vergesse aber niemals die allgemeine menschliche Bildung über der Berufsbildung, jene ist sogar die wichtigere". Denn die Einteilung der Schulen sei nicht willkürlich ersonnen, sondern sei eine Scheidung nach dem Stand und der Lebensweise, und man brauche nicht so­ gleich die Entstehung eines neuen Kastengeistes zu besorgen, wenn die Stände schon in der Schule getrennt würden. Die Trennung bestehe faktisch doch und sei nur desto fühlbarer, je weniger sie geregelt werde. Die Volksschule als Elementarklasse der Realschule zu betrachten, sei einer von den vielen liberalen Irrtümern der hochstrebenden Schulmeister. „Die Nachwelt", ruft er aus, „wird sich über den Liberalismus wundern, welcher sich scheut, jedem Stand seine eigene Elementarschule zu geben". Diese Voraussage ist nun allerdings bis auf den heutigen Tag noch nicht in Erfüllung gegangen. Bis zur Stunde hält an­ scheinend die große Mehrheit der Volksschullehrer an dem Gedanken der allgemeinen Volksschule fest. So hat erst jüngst wieder der Allgemeine deutsche Lehrertag in Königsberg 1904 eine Resolution gefaßt, in der es heißt: „Das vornehmste Ziel für eine gedeihliche Weiterentwicklung unseres Volkes ist darin zu erblicken, daß es der auf blutiger Walstatt errungenen äußeren Einheit die

12 innere zugesellt. Eines der Mittel, die zu diesem Zwecke führen, ist die allgemeine Volksschule, in welcher die Kinder des ge­ samten Volkes mindestens vier Jahre lang gemeinsam unterrichtet werden". Freilich ist auch in Lehrerkreisen der Widerspruch gegen diese Forderung nicht verstummt. Vor allem hat diese in der „Frank­ furter Schulzeitung", die von dem weithin bekannten Lehrer Emil Ries geleitet wird, eine entschiedene Gegnerin. Auch hat Ries den Gedanken der Einheitsschule auf das schärfste in zwei besonderen Schriften bekämpft, die mit einer warmherzigen Be­ geisterung für den Beruf der Volksschule einen erfreulichen Wirk­ lichkeitssinn und eine seltene Klarheit und Selbständigkeit des Urteils verbinden. Wenn nun die Lehrer dennoch trotz dieses Widerspruchs, und trotz des Ausbleibens jedes praktischen Erfolges ihrer Agitation, in ihrer überwiegenden Mehrheit noch immer am Bekenntnis zur allgemeinen Volksschule festhalten, so findet dies seine Erklärung darin, daß das seit den 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts heraufgezogene soziale Zeitalter jener Idee neues Ansehen ver­ schafft hat. Die bald nach der Gründung des Deutschen Reiches hervortretende und rasch anwachsende sozialdemokratische Partei lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf die mit der gewaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verbundenen sozialen Schäden. Bald erschien die soziale Frage den weitesten Kreisen als die brennendste Sorge unserer Zeit, und Regierungen, städtische Verwaltungen, Körperschaften und Vereine aller Art so­ wie auch wohlmeinende Privatleute fingen an, in Maßregeln zur Beseitigung der sozialen Nöte miteinander zu wetteifern. Und in­ dem bei der praktischen Arbeit auf diesem Gebiet viele dazu ge­ langten, nach dem Vorgang Gustav Schmollers den tiefsten Grund bet sozialen Gefahr nicht in der Verschiedenheit des Besitzes, sondern in den Bildungsgegensätzen zu suchen, begann man die Volksbildungsfrage als einen wichtigen Bestandteil, wo nicht gar als den eigentlichen Kern der ganzen sozialen Frage anzusehen. Aus solchen Anschauungen erwuchs unser heutiges Volksbildungs­ wesen, das in Volksbibliotheken und Lesehallen, in Volksvorträgen und Museumsführungen, in volkstümlichen Konzerten und Theater­ aufführungen, in der Errichtung von Volkserholungsstätten und

13 schließlich in der Volkshochschule eine reiche Entwicklung gefunden hat. Aus diesen Bestrebungen heraus kam man auch immer von neuem wieder auf den Gedanken zurück, die schroffen wirtschaft­ lichen und sozialen Gegensätze unserer Zeit durch einen gemeinsamen Volksschulunterricht einer Versöhnung entgegenzuführen. Aus der allgemeinen sozialen Denkart unserer Zeit entsprang eine neue pädagogische Gedankenrichtung, die in den beiden letzten Jahrzehnten eine bedeutende Stärke erlangt hat, die sogenannte Sozialpädagogik. Während bisher auf diesem Gebiet die indi­ viduale Betrachtung vorherrschte, die Anschauung, daß es die Er­ ziehung in erster Linie mit dem Einzelnen als einem Wesen von ganz bestimmten Anlagen zu tun habe, betont man neuerdings mit Vorliebe, daß das Jndividualleben leiblich und geistig sozial bedingt ist, daß der Einzelne im wesentlichen so denkt, fühlt und handelt, wie die Gesamtheit, in die er hineingeboren ist und in der er auf­ erzogen wird. So stellt man den Satz auf, daß Erziehung ohne Gemeinschaft überhaupt nicht bestehe, und daß Erziehung auch einzig um der Gesamtheit willen einen Sinn habe. Die erste umfassende wissenschaftliche Begründung jener neuen pädagogischen Anschauung versuchte 1898 der bekannte Marburger Universitätsprofessor Paul Natorp in seiner vielgelesenen „So­ zialpädagogik", und zwar auf der Grundlage der kritischen Philo­ sophie und vermittelst der deduktiven Methode. Zwei Jahre später erschien eine zweite eingehende Darstellung dieser Gedanken in der „Sozialen Pädagogik" von Dr. Paul Bergemann, der hier den Versuch machte, die für die Erziehungslehre in Betracht kom­ menden Grundsätze als Ergebnisse der Erfahrungstatsachen auf induftivem Weg festzustellen. Trotz dieser Verschiedenheit der Grund­ lage und der Methode stimmen beide Pädagogen in den praktischen Forderungen großenteils überein, und es ist begreiflich, daß beide von ihrem Standpunkt aus auch zur Forderung der allgemeinen Volksschule kommen. Während Natorp nicht nur eine sechsjährige gemeinsame Volksschule für die gesamte Jugend verlangt, sondern auch noch in der an jene sich anschließenden sechsjährigen Mittelschule alle für praktische Berufe bestimmten Schüler vereinigt haben will, baut Bergemann seine nationalkulturelle Schule in drei Etagen auf, indem er sie in die Primär-, Sekundär- und Tertiärschule gliedert, von denen die Primärschule die ersten fünf Schuljahre umfaßt, für

14 alle Kinder vom siebenten bis zum zwölften Jahr bestimmt ist und so den Unterbau des ganzen Schulsystems bildet. Den größten Einfluß auf die Verbreitung derartiger Gedanken hat wohl ein anderer unserer angesehensten akademischen Lehrer der Pädagogik geübt, Professor Wilhelm Rein in Jena. Obgleich dieser nicht eigentlich der sozialpädagogischen Richtung angehört, sondern die Ansicht vertritt, daß die Pädagogik ihren Standpunkt zwischen oder über der Individual- und Sozialbetrachtung nehmen und beiden Seiten gerecht werden müsse, so ist er doch verschiedentlich mit Wärme für die allgemeine Volksschule eingetreten. Allerdings hat er seine Wünsche schrittweise auf ein bescheideneres Maß herabgesetzt. Während er 1895 im ersten Jahrgang von Naumanns „Hilfe­ verlangte, daß wenigstens ein fünfjähriger allgemeiner Kursus ein­ gerichtet werde, wollte er 1899 in dem Artikel „Allgemeine Volks­ schule" in seinem „Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik" die Zeit des gemeinsamen Volksschulunterrichts mindestens auf vier, womöglich auf fünf Jahre ausgedehnt haben, und neuerdings be­ gnügt er sich in seiner 1902 erschienenen „Pädagogik in syste­ matischer Darstellung" mit einem Organisationsentwurf, der für die vier ersten Schuljahre die allgemeine Volksschule vorsieht. Solche Ideen wurden seit einer Reihe von Jahren durch verschiedene Vereine auch in weitere Kreise getragen. So ver­ trat die 1891 in Berlin gestiftete Comenius-Gesellschaft, zu deren Begründern eine große Anzahl hervorragender Universitäts­ professoren und Schulmänner sowie viele andere geistig bedeutende Persönlichkeiten zählen, in ihren Schriften von Anfang an einen organischen Aufbau des gesamten Schulwesens sowie die allgemeine Volksschule. Denn eines der Haupthindernisse der Volkserziehung und der freien Entfaltung unserer nationalen Eigenart erblickten diese Männer in der in Deutschland herrschenden Zerklüftung der Stände und in dem Argwohn oder der Geringschätzung, mit der die einen die anderen zu betrachten pflegten. Eine der Ursachen dieses gegenseitigen Mißtrauens glaubten sie aber in der bestehenden Schulverfassung zu erkennen, die in hohem Grade Kaste mache. In ihren von dem Geh. Archivrat vr. Ludwig Keller in Charlottenburg geleiteten beiden Zeitschriften, den Monatsheften der ComeniusGesellschaft und den Comeniusblättern für Volkserziehung, tritt die Gesellschaft noch heute für diese Gedanken ein.

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Ebenso fand die allgemeine Volksschule eifrige Fürsprache in den Kreisen der Volksbildungsvereine. Die Gesellschaft für Ver­ breitung von Volksbildung verhandelte über diese Frage in ihrer 23. Hauptversammlung in Berlin im Jahr 1893. Dort hielt der damalige Vorsitzende Heinrich Rickert einen Vortrag, dessen Aus­ führungen er in folgenden Sätzen zusammenfaßte: „1. Die allge­ meine Volksschule bildet die gemeinsame Grundlage aller öffentlichen Unterrichtsanstalten. 2. Neben der Volksschule sind Klassen für den Elementarunterricht auf Kosten des Staates oder der Gemeinde weder selbständig zu errichten, noch mit anderen Lehranstalten zu verbinden". Auch der Korreferent, Professor Jürgen Bona Meyer in Bonn, sprach sich für die allgemeine Volksschule aus. Die fol­ gende Diskussion zeigte, daß die Generalversammlung sich einhellig auf den Boden der Leitsätze des Referenten stellte, ja daß einzelne Redner sogar über diese Forderungen weit hinausgingen. Auch in der Zeiffchrift der Gesellschaft ist der Gedanke der Einheitsschule wieder­ holt vertreten worden, und Rickert selbst hat ihn im preußischen Landtag jederzeit mit Nachdruck verfochten. Ebenso trat der General­ sekretär der genannten Gesellschaft, Lehrer Julius Tews in Berlin, schon 1895 in einem Vortrag über „Die gemeinsame Elementar­ schule" und neuerdings wieder in seinem 1906 erschienenen Buch „Die Schulkämpfe der Gegenwart" entschieden für jene Idee ein. Auch seitens der Gesellschaften für ethische Kultur fand der Gedanke der Einheitsschule Förderung; so sprachen sich in den von ihnen veranstalteten ethisch-sozialwissenschaftlichen Vor­ tragskursen unter anderen der Begründer der ethischen Bewegung in Deutschland, Oberstleutnant v. Egidy, und Professor vr. Staudinger für dieselbe aus. In jüngster Zeit erschien auch eine Gruppe radikaler Schul­ reformer im Kampfe für die Einheitsschule auf dem Plan. Es sind dies die Teutonisten, die sich um die Berliner Professoren Paul Förster und Ludwig Gurlitt scharen, und die in den von dem Schriftsteller Arthur Schulz in Friedrichshagen-Berlin her­ ausgegebenen „Blättern für deutsche Erziehung" ihr Organ besitzen. Die genannte Zeitschrift führt, wenn wir der Ankündigung glauben dürfen, den Beweis, daß „die angebliche Nachahmung alt­ klassischer Lebensideale auf unseren höheren Schulen ganz äußer­ lich und ein Hohn auf das wahre Wesen der Antike" ist, und sie

16 kämpft für ein auf Naturbeobachtung beruhendes Unterrichtsver­ fahren. Diese ohne Zweifel wohlmeinenden, aber nicht genügend sachkundigen oder urteilsfähigen Leute verkünden der Welt ihre Re­ formgedanken seit 1904 auf den alljährlich in der Pfingstwoche in Weimar abgehaltenen Allgemeinen Tagen für deutsche Erzie­

hung, die jedenfalls den Anspruch für sich erheben dürfen, in maß­ loser und unverständiger Kritik unserer Schulen und in unklaren und phantastischen Reformvorschlägen alles bisher Dagewesene zu überbieten. Die Ziele dieser Richtung möge man aus folgenden Hauptforderungen des von ihnen veröffentlichten Aufrufs zur Auf­ richtung einer wahrhaft deutschen und naturgemäßen Erziehung ent­ nehmen: Für die ersten Jahre ein Gesamtunterricht im Freien; Zeichenunterricht vor Schreibunterricht; Schreiben, Lesen und Rechnen wird um mehrere Jahre aufgeschoben und dann mühelos in einem halben Jahre erlernt; Erziehung zur Kraft, Gesundheit und Schön­ heit; Ausbildung der Sinne; Religionsunterricht in Anlehnung an den Unterricht im Freien; die deutsche Sprache Kernpunkt alles Unterrichts; frembe Sprachen erst nach erlangter Herrschaft über bie Muttersprache; Sprachen werden nur durch Sprechen gelehrt; der mathematische Unterricht zuerst in der Natur; Begründung einer besonderen Volkskunde; Ausbildung des Verständnisses für Dichtung, Musik, Malerei, Bildhauerei und Baukunst; Notwendigkeit des Ver­ kehrs zwischen Erzieher und Zögling; Begründung der Einheitsschule. Unser Urteil über die Gefährlichkeit dieser jüngsten Gruppe von Re­ formern kann auch durch den Umstand nicht geändert werden, daß ein H. St. Chamberlain sich zu ihr bekannt hat. Dieser begrüßte den dritten Weimarer Erziehungstag 1906 von Wien aus mit den Worten: „In der Überzeugung, daß die Sache, für die Sie kämpfen, überhaupt die wichtigste für die Zukunft des Deuffchtums und mit ihm der ganzen gesitteten Menschheit ist, bitte ich um die Erlaubnis,

mich durch diesen verehrungsvollen Gruß in aller Bescheidenheit, aber auch mit aller Bestimmtheit öffentlich zu den Ihrigen bekennen zu dürfen". Mehr fällt dem gegenüber die Warnung ins Gewicht,

die Paulsen vor diesem pädagogischen Anarchismus ausgesprochen hat, weil derselbe, in dieser Zeit neurasthenischer Schriststellerei sich selbst überschlagend, in tobsüchtiges Schreien verfalle und so ledig­ lich gesunix und notwendige Bestrebungen kompromittiere. „Die Freiheit hat keinen ärgeren Feind als den Anarchismus", sagt er

17 mit Recht. Dennoch macht dieser pädagogische Anarchismus Schule. Wenigstens erscheint seit Neujahr 1907 noch eine weitere neudeutsche Monatsschrift für Erziehung und Unterricht, die Alfred Baß in Leipzig unter dem Titel „Deutscher Frühling" herausgibt, und

die ebenfalls unter der Behauptung, daß unser deutsches Erziehungs­ wesen auf dem toten Gleise angekommen sei, und daß darob allgemeine Unzufriedenheit herrsche, für eine Neuordnung des ganzen Bildungs­ wesens vom Kindergarten bis zur Hochschule kämpfen will, damit ein neuer Frühling deutscher Bildung und deutschen Volkstums ins Land ziehe. Natürlich pflanzt auch diese Zeitschrift das Panier der Einheitsschule auf. Nach allem Gesagten wird man mit Recht fragen: Wo bleiben denn in der Diskussion über die Einheitsschule die Vertreter der höheren Lehranstalten? Daß die Lehrer der Volksschule in ihrer Mehrzahl sich für jenes Ideal begeistern, ist begreiflich; denn der Volksschule würde durch seine Verwirklichung in ihrer Organisation und ihren Lehrzielen anscheinend keine Beeinträchtigung erwachsen. Wohl aber würde der höhere Unterricht dadurch eine einschneidende Umwandlung erfahren; die ihm zugemessene Zeit würde um zwei bis drei Jahre gekürzt, und seine Ziele würden somit notwendiger­ weise in irgend welcher Hinsicht bedeutend herabgedrückt werden. Läßt sich also nicht erwarten, daß die Lehrer der höheren Schulen, die in erster Linie mit der geplanten Reform beglückt werden sollen, über deren Möglichkeit und Zweckmäßigkeit ebenfalls längst ernsllich nachgedacht und deutlich und unverhohlen ihre Meinung aus­ gesprochen haben? Leider ist darüber nicht viel zu berichten. In den Erörterungen über die Fragen des höheren Unterrichts ist diese Sache bisher immer nur nebenher berührt worden. Es tritt hierin wohl eine unerfreuliche Folge des so lange und heftig geführten Kampfts um das Gymnasialmonopol zutage, der die Nächstbeteiligten über dem Feldgeschrei: Hie Gymnasium! Hie Realschule! alle weitergehenden Probleme der Schulorganisation allzu lange übersehen ließ. In der Zeit des heftigsten Ansturms gegen das Vorrecht der humanisttschen Gymnasien, in den 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts, waren auch auf dem Gebiete des höheren Unterrichts die entschiedensten Reformer geneigt, in die Forderung einer natio­ nalen Einheitsschule einzusttmmen. Diese Bewegung, die ihren

Müller, Die Gefahren der Einheitsschule.

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18 Mittelpunkt hauptsächlich in dem von Dr. Friedrich Lange und Baurat Dr. Theodor Peters begründeten und geleiteten Verein

für Schulreform fand, ging ja ebenfalls von Anfang an darauf hinaus, durch Vertiefung der vaterländischen Bildung das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit unter den verschiedenen Ständen zu verstärken, dementsprechend die nationalen, allen Schulen gemeinsamen Bildungsstoffe höher zu bewerten und die Kluft zwischen Volksschulbildung und höherer Bildung möglichst zu über­ brücken. Ja man kann sagen, daß Lange selbst in seiner bekannten Denkschrift vom Februar 1889 ganz ähnliche Anschauungen aus­ gesprochen hat, wie dies die heutigen Vorkämpfer der Einheits­ schule tun. Er verlangte damals eine einheitliche Mittelschule von sechs Jahresstufen, an der durch rechtzeittge Einschiebung von fakultativem Unterricht in Latein und Griechisch oder in den Real­ fächern diejenigen Schüler, welche später in eine höhere Schule übergehen wollten, für den Unterricht dieser Anstalt vorbereitet würden. Auf diesem Weg hoffte Lange zweierlei zu erreichen: ein­ mal eine deutsche Kulturreform, durch die er, seiner Idee des reinen Deutschtums entsprechend, die deutsche Volksseele befreien wollte aus dem Banne der Ausländerei; sodann die soziale Gesundung Deutschlands, indem durch die einheitliche sechsklassige Mittelschule jeder Tüchtigkeit der Weg frei gemacht werde, um aus der untersten Schicht der Gesellschaft in die oberste durchzudringen. Auch die Vorschulen wollte er als Pflanzstätten verderblichen Mißtrauens zwischen Arbeiter und Gesellschaft beseitigt haben, und als letztes Ziel betrachtete er völlige Unentgeltlichkeit alles Unterrichts, auch des höheren und höchsten an den Universitäten, so daß nicht der Geldbeutel der Eltern, sondern nur die Talente der Kinder über Art und Länge des Bildungsweges zu entscheiden hätten. Ähnliche Anschauungen lagen auch dem Schulreformplan zu­ grunde, für den seinerzeit Dr. Hugo Göring in seiner Zeitschrift „S)te neue deutsche Schule" wirkte. Nach diesem Plan sollten alle Kinder zuerst die Kulturstufen des Ackerbaus und Handwerks

sowie des Handels selbst durchlaufen, ehe sie an die höheren Studien herantteten würden. Die neue deutsche Schule, als länd­ liches Internat gedacht, sollte sich in drei Stufen gliedern, deren unterste alle Knaben vom 7. bis zum 14. Jahr umfassen und ihnen die Vorbildung für Landwirtschaft und Handwerk geben sollte; und

19 erst nach Durchlaufen der zweijährigen Mittelstufe, der Vorschule für Handel und Technik, sollten die für höhere Berufe bestimmten Knaben in der dritten Stufe vom 16. bis zum 20. Lebensjahr für die wissenschaftlichen Studien vorgebildet werden. Auch die Vor­ schläge, die Güßfeld in seiner bekannten, 1890 erschienenen Schrift „Die Erziehung der deutschen Jugend" machte, berührten sich mit derartigen Gedanken. Von allen diesen Schulreformern der 80 er Jahre hat nur Lange praktische Erfolge erzielt und eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Das war aber nur dadurch möglich, daß sein Verein für Schulreform von vornherein entschlossen auf Verfolgung jener weitgehenden Reformgedanken verzichtete und sich auf die beiden Forderungen der Gleichberechtigung aller höheren Lehranstalten und der allgemeinen Durchführung eines dreiklassigen lateinlosen Unterbaues für die höheren Lehranstalten beschränkte. Von diesen Forderungen ist die eine seit 1901 in der Hauptsache durchgeführt worden, die andere hat durch die wachsende Verbreitung der Reformanstalten in den letzten Jahren in ziemlich bedeutendem Umfang Erfüllung gefunden. Von der Einrichtung einer gemein­ samen Volksschule aber ist in den Kreisen des Vereins für Schul­ reform einstweilen nicht mehr die Rede, wiewohl manche seiner Mitglieder eine platonische Liebe zu derselben nicht verleugnen und dieser Liebe gelegentlich auch einmal einen schüchternen Ausdruck verleihen in dem Vorschlag, die Sexta vom fremdsprachlichen Unterricht völlig frei zu halten; einem Vorschlag übrigens, den schon früher einzelne hervorragende Pädagogen, wie Otto Frick in Halle und Hermann Schiller in Gießen, gemacht haben, und der in der Sexta der hessischen Realschulen verwirklicht worden ist. Wenn es also unter den Lehrern der höheren Schulen keine Richtung gibt, die sich grundsätzlich und entschieden für die Ein­ führung der Einheitsschule erklärte, so ist es andererseits begreiflich, daß die unverhohlenste Gegnerschaft bisher in den Kreisen des Gymnasialvereins hervorgetreten ist, der 1890 zur Verteidi­ gung der klassischen Bildung ins Leben gerufen wurde. Nament­ lich veröffentlichte der hochverdiente Mitbegründer jenes Vereins, der Heidelberger Ghinnasialdirektor und Professor Gustav Uhlig, 1892 eine Schrift gegen die Einheitsschule, die sich allerdings zu2*

20 nächst gegen die Rcformanstalten wendete, aber auch den EinheitSschulgedanken an sich aufs nachdrücklichste bekämpfte. Das gleiche

tat in zahlreichen Schriften Paul Cauer, Provinzialschulrat und Professor in Münster, und ebenso hat jenen Gedanken schon 1891 der Straßburger Professor Theobald Ziegler in seinen „Fragen der Schulreform" und später unter anderen der jetzige Professor an der Akademie in Posen Rudolf Lehmann in seinem Buch „Erziehung und Erzieher" (1901) entschieden abgelehnt. In­ dessen beschäftigte sich keiner der Genannten eingehender mit der Forderung der allgemeinen Volksschule. Wohl aber sah sich 1902 der Verein der Oberlehrer an den höheren Staatsschulen Hamburgs hierzu veranlaßt. Dort besteht eine sogenannte Schulsynode, die sich aus den Vor­ stehern und den festangestellten Lehrern aller höheren und Volks­ schulen Hamburgs zusammensetzt, und die damals neben 170 aka­ demisch gebildeten Lehrern etwa 1600 Volksschullehrer zählte. Diese Körperschaft, die das Recht besitzt, in Schulangelegenheiten Anträge an die Oberschulbehörde zu stellen, hatte 1899 einen Unterrichtsgesetzentwurf angenommen, nach dem die Hamburger Staatsschulen nach dem Einheitsprinzip organisiert werden und auf dem gemeinsamen Unterbau fünfjähriger Volksschulen einerseits dreijährige Ergänzungsschulen, andererseits siebenjährige Gymnasien und Realanstalten umfassen sollten; über das Recht zum Eintritt in die höheren Lehranstalten sollte das Reifezeugnis der Volksschule entscheiden. Die von diesem Entwurf dem höheren Unterricht drohende Gefahr veranlaßte den genannten Oberlehrer-Verein, eine Gegenschrift ausarbeiten zu lassen, in der gegen den Plan nach­ drücklich Stellung genommen wurde. Das gleiche tat der Ham­ burger Gymnasialdirektor Wegehaupt in dem Programm des Wilhelms-Gymnasiums von 1902. Wenn aber im übrigen die akademisch gebildete Lehrerschaft zur Frage der Einheitsschule bisher geschwiegen hat, so darf man daraus keineswegs den Schluß ziehen, daß sie dieser Forderung gleichgültig gegenüberstehe oder ihrer Verwirklichung am Ende gar mit fteudiger Ermattung entgegensetze. Man schweigt, solange man noch nicht in unmittelbarer Gefahr ist, die Segnungen der Ein­ heitsschule am eignen Leib zu erfahren. Das ist nicht gerade lobenswert, aber menschlich begreiflich. Sollte irgendwo die Ge-

21 fahr einer solchen einschneidenden Umgestaltung des höheren Unter­

richts in greifbare Nähe rücken, so würden ohne Zweifel die Oberlehrer in ihrer überwiegenden Mehrheit mit der gleichen Ent­ schiedenheit gegen sie auftreten, wie dies ihre Hamburger Amts­ genossen getan haben. Mit dieser Annahme steht keineswegs die Tatsache im Wider­ spruch, daß an solchen Orten, an denen keine Vorschulen existieren, die Lehrer der höheren Anstalten sich mit dem gemeinsamen Ele­ mentarunterricht zufrieden geben, ja daß viele wohl auch von seinen Vorzügen ehrlich überzeugt sein mögen. Indessen fehlt es doch keineswegs an Anzeichen der gegenteiligen Überzeugung.

Besonders belehrend ist es, daß in allerjüngster Zeit, im Dezember vorigen Jahres, in München, der Hochburg der allgemeinen Ele­ mentarschule, die dortige Gymnasiallehrervereinigung allgemein die bisherigen Bedingungen der Aufnahme in die unterste Gymnasial­ klasse für unzureichend erklärt und eine Verschärfung der Aufnahme­ prüfung verlangt hat. Dieser Beschluß, auf den wir noch zurück­ kommen werden, bekundet ganz gewiß alles andere eher als die Über­ zeugung, daß die allgemeine Elementarschule die richtige Vorbil­ dungsanstalt für die höheren Schulen sei. Schließlich haben sich auch politische Parteien der Forderung der Einheitsschule bemächtigt. Schon int Erfurter Programm der sozialdemokratischen Partei von 1891 wird gefordert: „Obliga­ torischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffent­ lichen Volksschulen, sowie in den höheren Bildungsanstalten für die­ jenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden." Auch das national­ soziale Schulprogramm verlangt die allgemeine Volksschule, und Friedrich Naumann in seinem national-sozialen Kate­ chismus begründet die Forderung mit der Hoffnung, daß durch einen gemeinsamen Unterricht der Kinder aller Stände in den ersten Schuljahren die Trennung der verschiedenen Volkstcile gemindert werde. Überblicken wir zum Schluß nochmals die gesamte Literatur über unsere Frage, so werden wir nicht bestreiten können, daß die Forderung der Einheitsschule von einer starken Strömung in unserer

pädagogischen Welt getragen wird.



22



Indessen werden solche Probleme doch nicht durch die Beru­

fung auf Autoritäten gelöst, und selbst die Anschauungen der größten Denker können nicht den Anspruch erheben, als unbedingte Norm

für die menschlichen Einrichtungen angesehen zu werden.

Wenden

wir uns also nunmehr der Prüfung der Gründe zu, die für und

gegen die allgemeine Volksschule geltend gemacht werden.

2. Ale sozialen Morzüge der Einheitsschule. Wie schon bei Comenius der Gedanke der gemeinsamen Volks­ schule nicht aus praktischen pädagogischen Erwägungen, sondern aus allgemein ethischen Ideen entsprungen ist, so zieht er auch in der Gegenwart noch seine Hauptkraft aus der gesamten sozial-ethischen Denkart der Zeit. Jene Anschauung ist geboren aus dem ethischen Bestreben, die innere Einigkeit und Brüderlichkeit unter allen Volksgenossen zu fördern, und sie betrachtet die Gemeinsamkeit der Schulerziehung von vornherein als geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Um sich aber auch eine feste theoretische Grundlage zu schaffen, postuliert sie weiterhin diese Gemeinsamkeit als notwendige Folge­ rung aus dem Grundsatz der Wesensgleichheit aller Menschen und der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Somit ist die Begründung der geforderten Schulgestaltung nach diesen beiden Richtungen hin zu prüfen, und es ist zunächst zu untersuchen, ob sie wirklich als geeignetes oder gar notwendiges Mittel der sozialen Versöhnung anerkannt und deshalb allgemein durchgeführt werden muß; sodann, ob sie wirklich im Namen der sozialen Gerechtigkeit grundsätzlich postuliert werden kann. Was den ersten Punkt anlangt, so ist es ja sehr begreiflich, wenn man von einem gemeinsamen Unterricht aller Kinder segens­ reiche Folgen für die innere Einigkeit unseres Volkes erwartet. Es erscheint vielen als ein Weg zum sozialen Frieden, wenn der Sohn des reichen Mannes während des leicht empfänglichen Kindesalters einige Jahre hindurch neben dem Sohn des Armen auf derselben Schulbank sitzt und in seine kleinen Leiden und Freu­ den einen Einblick gewinnt. Dadurch hofft man den Klassen­ gegensätzen ihre Schärfe zu nehmen und Hoch und Niedrig zu

24 größerer Einheitlichkeit des Denkens und Brüderlichkeit der Ge­ sinnung zu erziehen. In der Tat ein hohes und schönes Ziel, zu dessen Erreichung jeder gern mithelfen wird! Denn wer möchte es nicht beklagen, daß zu der endlich errungenen äußeren Einheit unseres Volkes die innere Uneinigkeit einen unerfreulichen Gegensatz bildet, daß gerade zwischen den einzelnen Ständen Mangel an gegenseitigem Verständnis und Lieblosigkeit vielfach trennende Schranken errichtet haben? Allenthalben ertönen die Klagen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Volksgenossen in zwei durch den Gegensatz der Bildung getrennte feindliche Lager gespalten habe, die einander nicht mehr verstehen, sondern mit Geringschätzung oder Haß betrachten. Ein solcher Zustand aber, so sagt man, ist nicht nur tief unsittlich, sondern birgt auch eine ungeheure Gefahr in sich und ist geradezu die Vorstufe zum Untergang des Volkes. Eine Beseitigung dieses Schadens ist also dringend notwendig, und das Hauptmittel dafür ist eine völlige Umwandlung des heutigen Gesellschaftsgewissens. Ein neues Gesellschaftsgewissen kann sich aber nicht bei den Erwachsenen, sondern nur beim jungen Geschlecht entwickeln durch gemeinsame Erziehung. Das königliche JneinanderWeben der Gemüter, in dem Platon die hauptsächlichste Aufgabe der Politik erblickte, muß schon in der Schule beginnen. Heute dagegen werden die Kinder der Besitzenden und Besitzlosen schon in der Schule streng getrennt. Eine solche Einrichtung leistet aber dem Kastengeist auf der einen, der Erbitterung auf der anderen Seite allen Vorschub. Die Früchte dieser verkehrten Erziehung liegen vor aller Augen in der Mißgunst und der Gehässigkeit, mit der die Heranwachsende Jugend der Armen auf ihre vornehmen und reichen Volksgenossen als auf vermeintliche Nichtstuer blickt, wie in der Verachtung, mit der die Kinder der höheren Stände die Arbeiter, Handwerker und Dienstboten behandeln, und gegen die häufig auch die wohlmeinendsten Eltern und Lehrer nicht aufkommen. Wandel bringen könnte nur der gemeinsame Unterricht der Kinder aller Stände und die Pflege kameradschaftlichen Geistes über alle tren­ nenden Schranken hinweg. Der gemeinsame Unterricht erweckt schon in den kindlichen Herzen die wertvolle Erkenntnis, daß geistige und sittliche Vorzüge nicht an Rang, Stand oder Vermögen geknüpft sind. Er trägt dazu bei, die sozialen Abgründe zu überbrücken, und gewährt nicht nur dem jungen Geschlecht eine Gemeinsamkeit des

25 Denkens und Fühlens, die für das ganze Leben dauert, sondern er bringt auch die Eltern der Kinder einander innerlich näher.

Derartige Gedanken sind es, die von den Verteidigern der Ein­ heitsschule allenthalben in den Vordergrund gerückt und immer wieder in neuer Form wiederholt werden. Auch in parlamenta­ rischen Verhandlungen kann man vor allem diese sozialen Argu­ mente vernehmen, und es mag seine Wirkung nicht verfehlt haben, wenn z. B. der Abgeordnete Ulrich in der hessischen Kammer aus­ rief: „Wenn die Kinder der Reichen mit den Kindern des Volkes

in der Schule zusammensitzen, wenn das Kind des Armen in seiner Einfalt erzählt, wie es bei ihm zu Hause aussieht, und der Sohn des Reichen hört, wie dort das Brot, wie der Kaffee fehlt, wie sein Kamerad hungrig in die Schule gehen muß, wenn er das auf der Schulbank hört, wenn er mit dem Armen, falls er menschlich beanlagt ist, das Brot teilt und sagt: Schulkamerad, hier hast du von meinem Brot, ich habe mehr als ich brauche, dann erhält er einen Begriff von den sozialen Verhältnissen, den er nie wieder ver­ gessen wird." Es bedarf keiner besonderen Versicherung, daß wir die ethischen Ziele der ganzen Bewegung, die in solchen Ausführungen zutage treten, durchaus hochschätzen und mit allen geeignet erscheinenden Mitteln erstreben müssen. Ob aber die Einführung der Einheits­ schule ein solches Mittel ist, das ist eben die Frage, deren ruhiger und besonnener Prüfung man sich doch nicht entziehen darf. Ehe wir an die Untersuchung dieser Hauptfrage herantreten, dürfen wir zunächst im Vorübergehen dem Gedanken Ausdruck ver­ leihen, daß in den üblichen düsteren Schilderungen der Klassen­ gegensätze in unserem Vaterlande doch recht viel Übertreibung mit unterläuft. Mit der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens ent­ stehen notwendigerweise auch Interessengegensätze und Interessen­ kämpfe der einzelnen Stände. Das ist zunächst so wenig bedrohlich,

daß man sagen darf: je mehr die wirtschaftliche Kultur blüht, desto kräftiger ringen die einzelnen Stände miteinander, um sich einen

möglichst großen Anteil an den Kulturgütern zu verschaffen. Frei­ lich kann dieser wirtschaftliche Kampf eine solche Schärfe annehmen, daß er für den Bestand des Staates bedrohlich wird, und dies ist in allen modernen Industriestaaten zeitweilig der Fall gewesen. Dann ist allerdings eine Abhilfe nötig, aber diese erfolgt in der

26 Hauptsache auf wirtschaftlichem Boden durch eine neue Abgrenzung der Interessensphären der streitenden Klassen. Welche Entwicklung hat der englische Arbeiterstand durchgemacht seit dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts, wo die Massen in blinder Wut die Fabriken stürmten und die Maschinen zerstörten, zu der wirtschaft­ lichen Höhe, die er jetzt einnimmt! Kein Mensch denft heutzutage jenseits des Kanals an die Gefahr einer revolutionären Erhebung; man hat aber nichts davon gehört, daß diese erfteuliche Wandlung durch Einführung einer allgemeinen Volksschule erzielt worden wäre. Vielmehr ist sie durch Besserung der materiellen und sozialen Lage der Arbeiter herbeigeführt worden; und auch bei uns in Deutsch­ land haben die gleichen Mittel, vor allem unsere großartige soziale Gesetzgebung, die wirtschaftliche Bewegung in mhigere und fried­ lichere Bahnen gelenkt. Denn wenn es auch zur sozialdemokra­ tischen Parteitaftik gehört, die Klassengegensätze nach Kräften her­ vorzuheben und zu verschärfen, so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß auch die Arbeiterbewegung an sich sehr viel an Gehässigkeit verloren hat, wofür schon die in den letzten Jahren mächtig angewachsenen christlichen Arbeiterorganisattonen einen Be­ weis liefern. Somit können wir unmöglich zugeben, daß der Klasscnhaß bei uns eine solche Höhe erreicht habe, daß man, weil die eigentlich sozial-politischen Mittel versagt hätten, die Schule zur Hilfe auf­ bieten müßte. Denn dabei überschätzt man zunächst schon ganz im allgemeinen die sozial versöhnende Wirkung des Schulunterrichts ohne Zweifel ganz gewaltig. Die Schule hat zu keiner Zeit die Macht gehabt, die Welt- und Lebensanschauung ihrer Zöglinge dauernd und maßgebend zu bestimmen. Wo zeigt sich denn in unserem öffentlichen Leben der versöhnende Einfluß eines gemein­ samen Schulunterrichts? Haben denn nicht von den Führern unserer politischen, wirtschaftlichen, religiösen Parteien, die einander heut­ zutage so heftig bekämpfen, die meisten, selbst viele von den Sozial­ demokraten nicht ausgeschlossen, als Knaben auf derselben Schul­ bank gesessen, in demselben humanisttschen Gymnasium den gleichen Unterricht erhalten, die nämlichen lateinischen und griechischen Klas­ siker, die nämlichen deutschen Dichtwerke gelesen, und sind sie nicht alle in diesen Anstalten in eine im wesentlichen gleiche Geschichts­ auffassung und sittlich-religiöse Weltanschauung eingeführt worden

27 — und das nicht nur bis zum 10. oder 12., sondern bis zum 18. oder 20. Lebensjahre? Und doch diese heftigen Gegensätze! Ganz gewiß üben auf unsere Lebensanschauung und auf die ganze

Richtung unseres Handelns wirtschaftliche Interessen, Familie, Stan­ deszugehörigkeit, kirchliche, politische oder sonstige Lebensgemeinschaft einen außerordentlich viel stärkeren Einfluß aus als die Schule. Es muß zugestanden werden, daß die besonneneren unter den Verteidigern der Einheitsschule diese Einschränkung selber machen. Bergemann betont die Nachhaltigkeit des Einflusses der Umwelt auf die Kinder und mahnt daher die Erzieher an Bescheidenheit als eine ihrer vorzüglichsten Tugenden, und Rein hebt insbesondere hervor, daß die Schule die inneren Spaltungen nicht aufheben könne, daß auch die allgemeine Volksschule kein Universalmittel für den inneren Frieden sei, und daß sich ihre Wirkung nicht berechnen lasse. Aber jedenfalls, meint er, dürften die Schulen nicht dazu beitragen, die inneren Spaltungen zu verstärken. Recht schön und gut! Wer wollte nicht gern zugeben, daß sie alles tun sollen, was in ihrer Macht liegt, um die sozialen Gegensätze zu mildern und den inneren Frieden zu fördern? Und es wird an hohen und nie­ deren Schulen keinen einsichtigen Lehrer geben, der nicht in diesem Sinne zu wirken suchte. Hängt aber die Erfüllung dieser Aufgabe davon ab, daß man den öffentlichen Unterricht nach dem Grundsatz der Einheitsschule organisiert, und ist es deshalb gerechtfertigt, diesen Grundsatz zum Fundament unserer Schulorganisation zu machen? Damit kommen wir zu der im Eingang dieses Kapitels formu­ lierten Hauptfrage, und diese müssen wir nun sowohl aus inneren als aus äußeren Gründen entschieden verneinen. Die inneren Gründe liegen darin, daß die Einheitsschule nicht an und für sich als ein Mittel sozialer Versöhnung zu betrachten ist, daß sie viel­ mehr nur unter gewissen Umständen sozial versöhnend zu wirken vermag, nämlich da, wo im großen und ganzen in den Familien schon eine soziale Gesinnung herrscht; daß demnach die sozial ver­ söhnende Wirkung der Einheitsschule etwas durchaus von den jedes­ maligen Verhältnissen Abhängiges, Sekundäres ist, und daß sie also unmöglich zum leitenden Gesichtspunkt der Schulorganisation ge­ macht werden kann. Die äußeren Gründe sind darin zu erblicken, daß die Schule die soziale Versöhnung nur als ihre Nebenaufgabe ansehen kann, daß ihre nächste und hauptsächlichste Aufgabe in der

28 Überlieferung von Kenntnissen besteht, und daß sich schon daraus

ein leitender Gesichtspunkt für ihre Einrichtung ergibt, der es nicht möglich macht, daneben noch einen zweiten andersartigen Gesichts­ punkt als gleich entscheidend anzusehen. Denn wir geben allerdings bereitwillig zu, daß ein gemein­ samer Schulunterricht unter günstigen Umständen eine sehr schöne Sache sein kann. Er gibt den Kindern verschiedener Stände die Möglichkeit, einander menschlich näher zu treten und sich gegenseitig achten und lieben zu lernen. Er zeigt ihnen in dem für alle Ein­ drücke empfänglichen Kindesalter, daß bei vornehmen und geringen Leuten in gleicher Weise ein klares Urteil, eine redliche Denkart und ein gutes Herz vorhanden sein kann. Er gibt den vom Schicksal begünstigten Kindern Gelegenheit, das, was sie voraus haben, mit andern in kameradschaftlicher Weise zu teilen, und knüpft über die trennenden Schranken hinweg manche Bande der Zuneigung und der Anhänglichkeit. Er stiftet häufig zwischen Kindern ganz ver­ schiedener Stände Schulfreundschaften, die nicht selten lange über die gemeinsame Schulzeit hinaus dauern, jedenfalls aber das Ge­ fühl gegenseitiger Achtung und gegenseitigen Wohlwollens für immer zurücklassen. Er kann also gewiß einer inneren Entfremdung der verschiedenen Volksklassen in vielen Fällen entschieden entgegenwirken. Man sollte aber nicht übersehen, daß unter Umständen auch gerade der entgegengesetzte Erfolg eintreten kann, und daß dies in unseren heutigen Großstädten das Wahrscheinlichere ist. Denn hier stammen die Arbeiterkinder und die Kinder der höheren Stände tatsächlich aus Kreisen, zwischen denen nun einmal im Leben im allgemeinen keinerlei Verkehr stattfindet. Gerade in Zeiten sozialer

Spannung schließen sich die Erwachsenen bewußt und absichtlich besonders eng mit ihresgleichen, mit ihren Standesgenossen zu­ sammen. Und zwar nicht nur die sogenannten Vornehmen und Rei­ chen, von deren Standesdünkel man ja mit Vorliebe redet, unter denen aber in Wirklichkeit zahlreiche volksfreundlich gesinnte Männer unermüdlich tätig sind, die abgerissenen Fäden zwischen Hoch und Niedrig wieder anzuknüpfen, sondern am meisten gerade die An­ gehörigen der unteren Klassen, vor allem des eigentlichen Arbeiter­ standes. Die Leute aus dem Volk wollen in solchen Zeiten hef­ tiger Klassengegensätze unter sich sein und sehen auch bei ihren Kindern den Verkehr mit denen der Vornehmen meistens nicht ein-

29 mal gern. Unter diesen Umständen kann man nicht bezweifeln, daß die Standesunterschiede unseren heutigen Großstadtkindern bei ihrem Eintritt in die Schule häufig schon sehr deutlich zum Bewußtsein gekommen sind. Es ist dabei doch auch nicht außer acht zu lassen, daß die Gegensätze von Arm und Reich in dem modernen großstädttschen Leben sich vielfach sehr drückend und bitter fühlbar machen. Alle diese einer sozialen Versöhnung entgegenwirkenden Faktoren üben nun aber auch noch während der Schulzeit, und zwar häufig mit niederdrückender Wucht, ihren Einfluß aus. In vielen Fällen muß also notwendigerweise die Hoffnung, das Kind werde während der paar täglichen Schulstunden eine Brüderlichkeit der Gesinnung sich zu eigen machen, die es außerhalb der Schule nicht betätigt und wirksam sieht, bitter getäuscht werden. Häufig wird gerade die um­ gekehrte Wirkung sich einstellen; auf der einen Seite wird Hochmut und Dünkel, auf der anderen Seite entweder Mißgunst und Neid, oder Gedrücktheit und Mutlosigkeit bei vielen die Folge sein, wie dies Emil Ries mit folgenden Worten schildert: „Ärmlicher wird dem

armen Kinde seine Kleidung erscheinen, drückender die Not, sich seine Schulsachen zu beschaffen, härter sein Stück trockenes Brot. Und was dem reichen bislang wertlos schien, was es als etwas Selbstverständliches hinnahm, seine bessere Kleidung, sein reichliches Frühstück, seine größere Sicherheit und Gewandtheit im Benehmen, seine edlere und reichhalttgere Sprache, nicht verlieren werden alle diese Dinge an Wertschätzung im Lichte des Kontrastes, sondern gewinnen." Daß die Gemeinsamkeit des Unterrichts unter Umständen in dieser Weise ttennend und verbitternd wirken kann, ist gar nicht zu bestreiten. Daraus folgt aber die Richtigkeit unseres Satzes: daß sie

nicht überhaupt an sich ein Mittel des sozialen Friedens ist, son­ dern nur dann, wenn sie von einer sozialen Gesinnung in den be­ teiligten Kreisen getragen wird. Daraus ergibt sich weiter, daß sie nur eine sekundäre Bedeutung für die Förderung des sozialen Frie­ dens haben kann, und weiterhin, daß sie selbst vom rein sozialen Gesichtspuntt aus unmöglich grundsätzlich als die einzige Form des öffentlichen Unterrichts gefordert werden kann. Zu dem gleichen Resultat führt aber auch die oben erwähnte andere Erwägung, daß der soziale Gesichtspunkt schon aus dem äußeren Grund nicht der maßgebende sein kann, weil die Grundzüge

30 der Schulverfassung notwendigerweise nach der Hauptaufgabe der Schule, nach ihrem unterrichtlichen Zwecke, festgcstellt werden müssen. Wenn man jenes sozialethische Ideal der Einheitsschule, das aus der Idee der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit geboren ist, wirklich zum maßgebenden Grundsatz für die Schulorganisation machen wollte, so wäre es natürlich mit der gemeinsamen Elemen­ tarschule nicht getan, so müßte man vielmehr ohne Zweifel während der ganzen Schulzeit einen völlig einheitlichen Unterricht für die gesamte Jugend aller Volkskreise einführen. In jenem Ideal selbst liegt gewiß nicht die Berechtigung, die gemeinsame Erziehung auf die Elementarstufe zu beschränken. Im Gegenteil! Wenn die so­ zialen Gesichtspunkte maßgebend sein könnten, dann würden sie ganz gewiß in erster Linie eine Gemeinsamkeit des Unterrichts auf den höheren Altersstufen verlangen. Denn erst hier bilden sich die Grundlinien der Persönlichkeit, erst hier entfalten sich die Keime einer selbständigen Lebensanschauung, und soweit die Schule hierauf überhaupt einwirken kann, bietet sich ihr gewiß erst in den Ober­ klassen das beste Feld der Tätigkeit. Eine völlige Gemeinsamkeit der gesamten Jugenderziehung wäre aber nur auf der allerursprünglichsten Kulturstufe denkbar. Schon diese Erwägung genügt, um uns zu beweisen, daß die Schulen bei einem Kulturvolk nicht nach dem Gesichtspunkt der sozialen Ver­ söhnung organisiert werden können, sondern nur nach den verschieden­ artigen Anforderungen, welche die Mitarbeit an den vielgestaltigen Kulturaufgaben an die Vorbildung der Heranwachsenden Jugend stellt. Somit bliebe nur noch die Frage zu erwägen, ob es vielleicht gerechtfertigt wäre, wenigstens für die ersten Schuljahre die Rück­ sicht auf die verschiedenartigen Lehrziele gegenüber dem anderen Gesichtspunkt der sozialen Einheit zurücktreten zu lassen. Darüber läßt sich jedenfalls reden; denn gewiß braucht die Verschiedenheit der Lehrziele auf der Unterstufe längst nicht so maßgebend für die Unterrichtsgestaltung zu sein wie in den höheren Klassen. Aber auf der anderen Seite ist ebenso ohne weiteres klar, daß auch die sozial versöhnende Wirkung eines gemeinsamen Elementarunterrichts, an den sich nach einigen Jahren für den größeren Teil der Schul­ zeit nach Ständen gesonderte Schulen anschließen, naturgemäß nur sehr wenig tief gehen kann, und daß bei solcher Beschränkung auch die angeführten sozialen Vorzüge der Einheitsschule wesentlich an

31 Kraft verlieren. Deshalb ist auch die beliebte Berufung auf die in konfessioneller Hinsicht ausgleichende und versöhnende Wirkung der Simultanschule völlig unzutreffend. So wahr die Simultanschule religiöse Duldung bringe, sagt man, so gewiß werde die obligatorische Volksschule soziale Duldung bringen! Dabei übersieht man aber, daß die gerühmte Wirkung der Simultanschule, soweit sie wirklich eintritt, nur dadurch möglich ist, daß die Jugend während ihrer ganzen Schulzeit in derselben vereinigt ist. Welcher vernünftige Mensch würde aber von ihr noch Förderung der Toleranz erwarten, wenn die Kinder nur bis zum 10. oder 12. Lebensjahr in ihr blieben und dann noch für eine Reihe von Jahren in konfessionell getrennte Schulen geschickt würden? Was ist nun unter diesen Umständen von einer etwaigen Änderung der Organisation des Elementarunterrichts für die so­ ziale Versöhnung zu erwarten? Die nächstliegende Maßregel, die ohne tieferen Eingriff in die bestehenden Einrichtungen ausführbar ist, wäre die Abschaffung der Vorschulen der höheren Lehranstalten, deren Gründung von den Vorkämpfern der Einheitsschule natürlich nur als ein Ausfluß des Klassenegoismus hingestellt wird. Und so ertönt heute von allen Seiten das Feldgeschrei: Fort mit den Vorschulen! Nach unseren bisherigen Betrachtungen können wir unmöglich in diesen Ruf einstimmen. Denn wir haben gesehen, daß der ge­ meinsame Elementarunterricht allerdings gewisse erfreuliche Wirkungen auszuüben vermag, aber nur unter günstigen Umständen. Und wo solche vorliegen, da hat er sich ja auch ganz von selbst erhalten, so auf dem Land und in den kleinen Städten. Wo dagegen, wie in den größeren Städten, die Verhältnisse zu dem Bedürfnisse nach Vorschulen geführt haben, da würde durch deren Abschaffung an jenen Verhältnissen nicht das geringste geändert werden. Denn wie wohlwollend man auch einem gemeinsamen Unter­ richt in den drei ersten Schuljahren gegenüberstehen mag, das ist doch unbedingt sicher, daß er als Faktor für die Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse, als Mittel zur Herstellung des inneren Friedens unseres Volkes nicht im allergeringsten in Betracht kommt. Es ist eine ungeheure Täuschung, wenn man auf ein dreijähriges Zu­ sammensitzen der Abc-Schützen eine Welt von Hoffnungen baut, und man darf sich nicht beklagen, wenn Ries in seinen oben er-

32 wähnten Schriften die volle Schale seines Spottes über

solche

Phantastereien ausgießt. Wir besitzen heute im ganzen Deutschen Reiche etwa 300 Vor­ schulen mit 25000 Schülern. Diese Vorschulen verteilen sich aus­ schließlich über Preußen und andere norddeutsche Staaten sowie Hessen, sie fehlen vor allem in den süddeutschen Staaten; im Königreich Sachsen sind sie durch eine sehr weitgehende Differen­ zierung der übrigen Schulen überflüssig. Wenn die Freunde der Einheitsschule recht hätten, so müßte in Süddeutschland der soziale Segen des dreijährigen gemeinsamen Elementarunterrichtes doch irgendwie zutage treten. Kann aber jemand ernstlich behaupten, daß etwa in Baden die Klassengegensätze weniger schroff seien als in Hessen? Und wenn es jemand behaupten wollte, kann er die Schuld vernünftigerweise in den paar in Hessen bestehenden Vor­ schulen suchen? Hier üben doch zahlreiche sonstige Faktoren eine ganz andere Macht aus als diese paar Vorschulen. Manche Leute, und so auch Friedrich Lange, sind fteilich gleich bei der Hand mit der Behauptung, der freiere Verkehrston der Süddeutschen im Vergleich mit den Norddeutschen und die ruhigere Haltung der süddeutschen Sozialdemokratie unter Führung Vollmars sei eine Folge des Fehlens der Vorschulen. Das ist natürlich ein ganz voreiliger Schluß, und soweit diese Dinge überhaupt miteinander im Zusammenhang stehen, ist das Kausalverhältnis gerade um­ gekehrt. Nach alledem kommen wir den Vorschulen gegenüber zu folgen­ der Stellungnahme. Auf dem Lande oder in kleineren Städten, wo die Klassengegensätze weniger schroff sind und wo von jeher Hoch und Niedrig seine Kinder ohne Bedenken in dieselbe Elementarschule geschickt hat, ist dies zwar nicht eine Ursache, wohl aber ein erfreu­ liches Zeichen von gesunden sozialen Zuständen, und man soll daran ohne Not nichts ändern. Wesentlich anders liegen aber die Ver­ hältnisse in den großen Städten, zumal den Industriezentren. Hier hat die Trennung der Stände tatsächlich vielfach zu einem ausgesprochenen Klassenhaß geführt, und soweit die Vorliebe für Vorschulen in sozialen Faftoren bedingt ist, ist sie eine natür­ liche Folge dieser Spannung der Klassengegensätze. Wir haben gewiß Ursache alles zu tun, um diese zu mildern und mehr und mehr einen gerechten Ausgleich der streitenden Interessen herbei-

33 zuführen. Aber Torheit ist es, zu erwarten, daß die Aufhebung der städtischen Vorschulen irgendwie zur Erreichung dieses Zieles

beitragen würde. Wie die Dinge liegen, würde man durch eine solche Maßregel in sozialer Hinsicht nichts gewinnen und in rein pädagogischer Hinsicht mancherlei verlieren, und man kann daher den städtischen Verwaltungen, die ihre Vorschulen auf ihre Kosten unterhalten, nur zustimmen, wenn sie diese Frage nach nüchternen schulorganisatorischen Gesichtspunkten beurteilen und sich durch tönende Phrasen und gehässige Schlagwörter nicht irre machen lassen. Denn für ein Heilmittel gegen die sozialen Nöte der Zeit kann man den gemeinsamen dreijährigen Elementarunterricht wirklich nicht ausgeben. Im Grunde sehen dies die Vorkämpfer der Einheitsschule auch selber ein. Denn sie gestehen ja ausdrücklich zu, daß drei Jahre nicht ausreichten, um die ersehnten sozialen Früchte reifen zu lassen, und sie fordern daher einen gemeinsamen Unterricht während fünf bis sechs Jahren; ja manchem schwebt sogar als letztes Ziel eine völlige Gemeinsamkeit bis zum Abschluß der Bolksschuljahre vor. Gegen eine solche Ausdehnung des Elementarunterrichts auf Kosten des wissenschaftlichen müssen wir grundsätzlich Einspruch erheben gemäß unserer Anschauung, daß der entscheidende Gesichts­ punkt der Schulorganisation die Verschiedenheit der Bildungsziele sei, und daß der soziale Gesichtspunkt für dieselbe nur sekundäre Bedeutung besitze. Diese Anschauung ist aber die einzige, die sich mit der bestehenden Gesellschaftsordnung vereinigen läßt. Dagegen würden wir durch eine prinzipielle Entscheidung für die fünf- oder sechsjährige Einheitsschule den ersten Schritt auf dem Weg zu einer ganz neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung tun. Würde ja doch der Staat damit von vornherein in die Er­ ziehung der Jugend für alle höheren Berufe in der empfindlichsten Weise eingreifen, und zwar nicht aus sachlichen Gründen, sondern sozialen Anschauungen und Stimmungen zuliebe. Um einer all­ gemeinen Idee der sozialen Gleichheit willen würde er gegen die Angehörigen der höheren Stände einen starken Zwang ausüben; er würde ihnen die Anstalten versagen, die nach aller bisherigen pädagogischen Erfahrung zur Vorbereitung auf die höheren Berufe am geeignetsten sind, nur damit sie in der Erziehung ihrer Kinder vor den anderen nichts voraus haben sollen. Eine solche StellungMüller, Die Gefahren der Einheitsschule.

3

34 nähme wäre schon an sich im innersten Wesen sozialistisch und würde unserer ganzen Staats- und Gesellschaftsordnung selbst dann widersprechen, wenn der Staat sich darauf beschränken wollte, alle seine Schulen nach diesen sozialen Forderungen umzuwandeln, ohne doch ihren Besuch mit Gewalt zu erzwingen. Aber aller Voraus­ sicht nach würde er durch solches Vorgehen notwendigerweise zu der Einführung der Zwangsschule gedrängt werden. Denn da durch eine derartige Verkürzung des höheren Unterrichts die zweck­ mäßige Ausbildung der Jugend für die höheren Berufe in bedenk­ licher Weise gefährdet würde, so würde sich gegen eine so weitgehende Umgestaltung des Schulwesens ein ganz anderer Widerstand geltend machen, wie etwa jetzt in Bayern gegen die allgemeine Elementar­ schule. Mögen in München, Nürnberg, Würzburg, wie die Freunde der Einheitsschule mit Genugtuung verkünden, die vornehmsten Familien ihre Söhne in den ersten Jahren in die Volksschule schicken, und mag da der Sohn des Generals oder Staatsministers neben dem Arbeiterkind sitzen: das ist über jeden Zweifel erhaben, daß dieselben Familien sich nicht mehr ruhig fügen würden, wenn man sie bloß um der Idee der Gleichheit willen nötigen wollte, ihre Söhne noch drei weitere Jahre in die allgemeine Volksschule zu schicken. Ganz gewiß würde man sich zunächst ohne den Staat zu helfen suchen; städtische Verwaltungen und kirchliche Gemein­ schaften, Vereine und Privatleute würden auf eigene Hand Schulen gründen, die höheren Bildungsansprüchen zu genügen vermöchten; dadurch würde aber eine Trennung der Schüler nach Ständen in viel schrofferer Weise herbeigeführt werden, als dies jetzt der Fall ist; und so würde schließlich der Staat, wenn er seine sozialen Ziele wirklich festhalten wollte, sich genötigt sehen, die allgemeine Volksschule zu einer für die Kinder aller Staatsbürger obliga­ torischen zu erklären. Es scheint, daß diejenigen Verteidiger der Einheitsschule, welche auf dem Boden unserer heutigen Gesellschaftsordnung stehen, sich diese Konsequenzen ihrer Forderung nicht recht klar machen. Gelegentlich lehnen sie, wie z. B. Rein in seiner Päda­ gogik oder Tews in seinen „Schulkämpfen der Gegenwart", das Verlangen des Zwanges zur Benutzung der öffentlichen Schulen ab, da man hierdurch eine vollständige Revolution unseres wirtschaftlichen Lebens und damit des gesamten Erziehungs- und

35 Bildungswesens herbeiführen würde. Wie wir uns aber ohne solchen staatlichen Zwang die Durchführung der allgemeinen Volks­ schule denken sollen, das wird uns von niemand gezeigt. Somit können wir in der sozialdemokratischen Forderung der obligato­ rischen Volksschule nur die notwendige Folgerung aus dem Gedanken der allgemeinen Volksschule erblicken. Einen solchen Weg zu betreten müssen wir aber deshalb uns entschieden weigem, weil wir ja in der Gemeinsamkeit des Unterrichts an sich keineswegs eine sozial versöhnende Maßregel erblicken konnten, sondern vielmehr da, wo sie nur durch äußeren Zwang herbeigeführt werden kann, gerade eine Verschärfung der Klassen­ gegensätze von ihr erwarten zu müssen glaubten. Indessen die Hoffnung einer sozial versöhnenden Wirkung ist es ja nicht allein, was die Einheitsschule heute so vielen wohl­ meinenden Männern empfiehlt, sondern man geht tiefer und leitet sie als grundsätzliche Forderung aus der Tatsache der wesentlichen Gleichheit der menschlichen Naturanlagen sowie aus dem Grund­ satz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ab. Und indem man durch sie einen Zustand sozialer Gerechtigkeit herbei­ zuführen hofft, soll damit die Schule zugleich dem Wohl der Gesamtheit mehr als bisher dienen, indem man durch jene Ein­ richtung die Begabten und Tüchtigen aus allen Ständen für die höheren Schulen und damit auch für die leitenden Berufe aus­ lesen und Unfähigen den Zugang versperren zu können glaubt. Damit kommen wir zur Untersuchung der zweiten im Eingang dieses Kapitels aufgestellten Frage. Allein auch in ihr müssen wir den Freunden der Einheitsschule widersprechen. Wir stimmen allerdings zunächst dem Begründer der Sozial­ pädagogik bei, wenn er es als Grundidee der Nationalschule be­ zeichnet, daß an dem Segen der Schulung nicht bloß alle teilhaben, sondern in gewissem Sinne alle gleichen Teil haben sollen. Denn eben auf diesen gewissen Sinn kommt es an; und Natorp selbst will ihn keineswegs darin erblicken, daß die Bildung aller nach In­ halt und Umfang die gleiche sein müßte, sondern er betont, daß nichts den Grundgesetzen der Bildung mehr entgegen wäre als eine künstliche Beschränkung auf der einen und eine künstliche Hinauf­ treibung auf der anderen Seite. Vielmehr besagt nach seinen Aus­ führungen die Forderung der Gleichheit erstens, daß an sich ein jeder 3*

36 Anspruch auf gleiche Sorgfalt für seine Bildung habe, der schwächer Begabte sogar mehr als der von der Natur Bevorzugte; zweitens, daß durch die Art der Schulbildung das Bewußtsein der Gemein­

schaft der Bildung, der Einheit des letzten Bildungsziels für alle auf jede Weise geweckt und lebendig erhalten werden muß, daß jeder lernen muß, seinen Anteil an Bildung als ein anvertrautes Gut anzusehen, das er für das Wohl des Ganzen nutzbar zu machen verpflichtet ist. Diesen Anschauungen stimmen wir rückhaltlos bei; daß aber aus ihnen die Notwendigkeit eines mehrjährigen gemein­ samen Unterrichts zu folgern ist, bestreiten wir auf das entschiedenste. Vor allem ist es ganz verkehrt, wenn man aus solchen An­ schauungen die Forderung herleitet, der Staat müsse allen Kindern alle Bildungsanstalten in gleicher Weise und in gleicher Vollkom­ menheit zugänglich machen. Denn grundsätzlich tut er das ja schon. Wie alle anderen Einrichtungen, z. ®. auf dem Gebiet des Verkehrs­ wesens oder des Rechtslebens, so stellt er auch alle seine Schulen von den niedersten bis zu den höchsten allen seinen Bürgern ohne Unterschied und unter gleichen Bedingungen zur Verfügung. Was man aber erstrebt, ist etwas ganz anderes als diese rechtliche Gleich­ heit. Man verlangt, daß der Staat dafür sorge, daß auch tatsäch­ lich alle Bürger in gleicher Weise die Möglichkeit haben, ihre Kin­ der selbst in die höheren und höchsten Schulen zu schicken. Damit verlangt man aber, daß der Staat die Unterschiede, die sich aus der geschichtlich gewordenen Gesellschaftsordnung ergeben, grundsätz­ lich ausgleiche, verweist ihn also auf den Weg des Sozialismus. Wenn dies von sozialdemokratischer Seite geschieht, so ist das we­ nigstens folgerichtig; aber welchen Grund können unsere bürgerlichen Freunde der Einheitsschule dafür geltend machen, daß sie auf dem Gebiet des Bildungswesens dem Staat eine Pflicht auferlegen wollen, die er auf keinem Gebiet der öffentlichen Einrichtungen erfüllt und erfüllen kann? Auch die Gerichte, die Post, die Eisenbahnen, die Kanäle und Hafenanlagen, die staatlichen Banken, kurz alle öffent­ lichen Einrichtungen kann sich der Hochstehende, der Reiche, der Ge­ bildete ganz anders zunutze machen als der Mann aus dem nie­ deren Volke. Wie will man das ändern? Das sind notwendige Folgen aus dem Bau und der Gliederung des sozialen Körpers. Und genau so ist es mit den öffentlichen Schulen. Weder hat der Staat die Aufgabe, sie allen Kindern auch tatsächlich gleich erreich-

37 bar zu machen, noch hat er die Möglichkeit eine solche Aufgabe zu lösen, wenn man nicht alle Verhältnisse radikal umgestalten will. Und selbst dann wäre es höchstens auf dem Papier und dem Buch­ staben nach, aber nimmermehr in Wahrheit möglich, z. B. den Be­ wohnern der Gebirgsdörfer die gleichen Bildungsmöglichkeiten zu geben wie den Städtern. Es würden also selbst im radikalsten Zukunfsstaate die Vorteile einer in allen Konsequenzen durchgebildeten Einheitsschule im wesentlichen immer nur der städtischen, namentlich der Arbeiterbevölkerung zuteil werden. Demnach ist mit dem Grund­ satz einer unterschiedslosen Zugänglichkeit aller Schulen in der Praxis nichts anzufangen, und man muß sich auch auf diesem Gebiet dabei bescheiden, daß die Staatskunst nicht allen das gleiche, sondern nur jedem das seine zu geben bestimmt ist. Nachdem wir die prinzipielle Begründung der Forderung zu­ rückgewiesen haben, bleibt doch noch zu prüfen, ob nicht die Einheits­ schule deshalb wünschenswert ist, weil sie etwa in größerem Um­ fang als die seitherigen Schulen wirklich begabte Söhne der unteren Klassen in die höheren Stände zu bringen und andererseits un­ fähige Köpfe aus vornehmen oder wohlhabenden Familien von den Studien zurückzuhalten imstande wäre. Diese Frage bedarf sorg­ fältiger Erwägung; denn daß Staat und Gesellschaft ein dringendes Interesse haben, entschiedene Talente aus dem Volk aufsteigen zu lassen und untüchtige Elemente zurückzuhalten, ist sicher; und daß in dieser Hinsicht sehr vieles nicht so ist, wie es sein sollte, ist ebenso sicher. Von solchen Überzeugungen ausgehend fordert man, unser ganzes Bildungswesen solle zu einem einheitlichen Schulorganismus entwickelt werden, der sich nicht nach Rang und Vermögen zu glie­ dern habe, sondern nach den Zielen der nationalen Bildung. Diese verlange aber, daß die Besten aus allen Ständen zu Mitarbeitern herangebildet würden. Die allgemeine Volksschule verbreitere den Weg zur höheren Bildung und ermögliche den Kindern aus den niederen Volksschichten das Aufsteigen in höhere Ämter und Be­

rufe. Dagegen zerreiße die Errichtung von Vorschulen den orga­ nischen Zusammenhang zwischen der Volksschule und den höheren Lehranstalten und bringe eine ganz falsche Form der sozialen Aus­ lese zur Geltung. Denn nicht die Begabung, die Neigung für die geistige Arbeit entscheide dabei, sondern die soziale und materielle

38 Lage der Eltern. Die Einrichtung von Vorschulen erschwere dem begabten ärmeren Kinde das Aufsteigen und erleichtere dem Kinde besser situierter Eltern ohne Rücksicht auf seine Begabung den Ein­

tritt in die weiterführenden Bildungsanstalten. Mit derartigen Betrachtungen berührt man gewiß eine emp­ findliche Stelle unseres heutigen Schulwesens. Welcher Lehrer einer höheren Schule seufzte nicht unter der Last der Aufgabe, jahraus jahrein mit so manchen unfähigen und gleichgültigen Schülern im Unterricht sich abmühen zu müssen, in deren trägen Seelen sich auch nicht der geringste Funke von jenem heiligen Feuer des Wissens­ triebes entzünden will, und die man doch immer weiter mitschleppen muß als bedauernswerte Opfer des vielfach noch dazu recht unbe­ gründeten Standesdünkels ihrer Eltern! Und wie mancher wirklich zn wissenschaftlicher Tätigkeit befähigte und geneigte Knabe mag in den unteren Ständen vorhanden sein, der niemals zu einer Ausbil­ dung seiner geistigen Fähigkeiten gelangt, weil den Eltern die Mittel dafür fehlen! Es wird heutzutage keinen Lehrer geben, der nicht aus der Schar seiner Zöglinge mit Freuden ein paar vornehme oder reiche Dummköpfe hergeben würde gegen einige wirklich begabte und wißbegierige Söhne armer Leute. Wahrlich, davon darf man überzeugt sein, daß uns jedes Mittel willkommen ist, das hier Ab­ hilfe bringen kann! Ein solches Mittel vermögen wir aber in der allgemeinen

Volksschule nicht zu erblicken. Wenn man überall einen gemein­ samen Unterricht von mehreren Jahren einrichtete, würde man doch bei Beginn des höheren Unterrichts alle die unbegabten Sprößlinge der wohlhabenderen Familien vor sich erblicken, die zurzeit aus den Vorschulen kommen. Kein einziger würde fehlen. Wir haben zwar kein statistisches Material über die Münchener Schulen zu Hand, aber auch ohne solches glauben wir nach allem, was über die dor­ tigen Schulverhältnisse im allgemeinen bekannt ist, annehmen zu dürfen, daß von allen den Generals-, Ministers-, Geheimrats- und Kommerzienratssöhnen in den Elementarklassen der Münchener Volks­ schulen, auf die man mit solcher Befriedigung hinweist, kein einziger die Volksschule noch weiterhin besucht. Da wir aber unmöglich den gesamten Nachwuchs der höheren Stände Münchens als eine einzige geistige Elite ansehen können, so wird es wohl sein Bewenden dabei haben, daß auch beim Fehlen von Vorschulen zunächst ausschließlich

39 die soziale Stellung und pekuniäre Lage der Familie und nicht die Begabung darüber entscheidet, ob die Kinder in die höhere Schule geschickt werden oder nicht. Und wenn man den gemeinsamen Unter­ richt bis zum 11. oder 12. Lebensjahr ausdehnte, bliebe die Sache natürlich genau ebenso. Die unbegabten Schüler aus den oberen Ständen wären noch genau so zahlreich wie vorher; nur wären sie weit mangelhafter für die Zwecke des höheren Unterrichts vorge­ bildet als früher, und außerdem hätte sich durch ihr Beispiel eine Anzahl mittelmäßiger Köpfe aus den unteren Ständen verleiten lassen, ebenfalls in die höhere Schule überzutreten. Die Wirkung könnte also nur die sein, daß die Menge der mittelmäßigen Ele­ mente in den höheren Schulen noch bedeutend vermehrt würde, und daß deshalb ihre Leistungen noch mehr herabgedrückt würden. Das hieße doch wahrlich den Teufel mit Beelzebub austreiben. Die wirklich begabten Kinder armer Leute aber würden gar keinen Vor­ teil von jener Maßregel haben. Denn es ist einfach nicht wahr, daß diesen der Besuch der höheren Schulen dadurch verschlossen wäre, daß sie vorher die Volksschule anstatt der Vorschule besucht haben. Ein gut beanlagter Junge lernt auch in jeder einigermaßen guten Volksschule soviel, um in der Unterklasse der höheren Schule, wenn auch vielleicht mit Verlust eines Jahres, ohne Schwierigkeit mitzukommen, und falls sich anfangs Schwierigkeiten ergeben sollten, kann er bei allen Lehrern auf wohlwollende Unterstützung rechnen. Was den Schülern der Volksschulen in Wahrheit den Übertritt in die Unterklasse der höheren Lehranstalten verwehrt, ist einzig und

allein die wirtschaftliche Lage der Eltern, und dieses Hindernis wird durch Einführung einer allgemeinen, selbst einer obligatorischen Ele­ mentarschule nicht im allergeringsten bescittgt.

Deshalb ist es ohne jede praktische Bedeutung, wenn man, wie dies auch Natorp tut, die allgemeine Volksschule deshalb empfiehlt, weil man bei einem sechsjährigen Knaben über seine Begabung noch völlig im Unklaren sei. Denn ein sicheres Urteil über die Art der Begabung ist auch im neunten, ja selbst im zwölften Jahre noch nicht möglich, namentlich dann nicht, wenn man bis dahin noch gar keinen Versuch gemacht hat, ihn in ein wissenschaftliches Arbeiten einzuführen. Und außerdem wird die Entscheidung über den künf­ tigen Beruf meist gar nicht nach der Begabung des Jungen ge­ troffen, sondern der ausschlaggebende Faktor pflegt, wie Natorp

40 selbst sagt, lediglich das Geld oder die ehrgeizige Absicht der Eltern zu sein. Ja, glaubt denn jemand, daß das anders sein wird, wenn man die Entscheidung erst im 12. Lebensjahr trifft? Gewiß nicht! Auch nach Durchlaufm der allgemeinen Volksschule würden nicht etwa die Begabten den höheren Schulen anvertraut werden, sondern alle diejenigen, deren Eltern den Wunsch und zugleich auch die Mittel haben, ihren Söhnen die Ausbildung für eine höhere Lebens­ stellung zu gewähren. Gegen diese Schwierigkeit gäbe es nun freilich anscheinend ein Radikalmittel, und die Sozialdemokratie verfehlt nicht, uns dieses Mittel angelegentlich anzupreisen. Man könnte ja den vom Staate geübten Zwang noch weiter ausdehnen und der Unterrichtsver­ waltung oder ihren Organen eine unbedingte Entscheidung über das Talent des Einzelnen zusprechen, so daß es von dieser Ent­ scheidung abhängen würde, wer die höheren Lehranstalten besuchen dürste und wer nicht. Wie erwähnt, schreckte die Hamburger Schul­ synode, als sie im Jahre 1899 jenen Gesetzentwurf auf Einführung der fünfjährigen Einheitsschule annahm, auch vor dieser Konse­ quenz nicht zurück, indem sie forderte, daß die Lehrer der Volks­ schule nach dem 11. Lebensjahre die für das ganze Leben ent­ scheidende Auslese der begabten und zu den höheren Lehranstalten zuzulassenden Schüler zu treffen hätten. Anderwärts scheint man in Volksschullehrerkreisen in diesem Puntt einsichtiger zu sein. So bezeichnet Tews in seiner mehrfach erwähnten Schrift eine so radikale Lösung als auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschafts­ ordnung kaum möglich, vielleicht auch nicht erwünscht. Und es bedarf in der Tat keiner langen Überlegung, um zu erkennen, daß eine solche Diktatur über die Laufbahn der Einzelnen eine ihrem innersten Wesen nach sozialisttsche Maßregel wäre und eine ganze Reihe weiterer sozialistischer Maßregeln mit logischer Notwendigkeit nach sich ziehen würde. Die völlige Unentgeltlichkeit des Unterrichts und aller Lernmittel auch auf höheren Schulen wäre nur die aller­ nächste Folge. Ferner aber müßte der Staat dann auch für unent­ geltliche Verpflegung und Unterkunft der ärmeren Schüler auf den höheren Lehranstalten, und weiterhin auch für ihren ganzen Unterhalt während ihrer Studienzeit auf der Universität oder Technischen Hoch­ schule sorgen, ja er müßte sie schließlich sogar, möchten sie sich nun für eine Anstellung im Staatsdienst oder für eine private Tätigkeit

41 entscheiden, auch noch nach bestandenem Examen bis zur Erlangung eines eigenen Einkommens in standesgemäßer Weise versorgen. Auch hier erkennt man wieder ganz deutlich, daß die konsequente Durchführung des Gedankens der Einheitsschule eine radikale Um­ wandlung unserer Staats- und Gesellschaftsordnung zur Voraus­ setzung haben würde. Auf sozialdemokratischer Seite ist man sich über diesen Zusammenhang ohne Zweifel völlig klar; möchten doch auch die bürgerlichen Fürsprecher der Einheitsschule endlich einsehen, daß sie mit ihren Forderungen nur der Propaganda für sozial­ demokratische Zukunftspläne Vorspanndienste leisten! Nehmen wir aber einmal einen Augenblick an, daß mit der Durchführung des sozialistischen Zukunftsstaates auch alle die ge­ nannten Forderungen erfüllt worden seien: würden wir dies wirklich als einen Segen für das handarbeitende Volk ansehen können? Ein solches handarbeitendes Volk würde doch auch im Zukunfts­ staat noch vorhanden sein. Und seine Lage würde wahrlich in ganz anderer Weise trostlos sein, als sie das nach sozialdemokra­ tischer Behauptung heute ist. Unsere vielverlüstcrte bürgerliche Ge­ sellschaft steht auf dem Standpunkt, daß auch in den arbeitenden Ständen der Mann zufrieden und glücklich sein kann, und zwar nicht nur der unbegabte, geistig tiefstehende, sondern auch der be­ gabte, strebsame, geistigen Interessen zugängliche Mann. Und aus diesem Standpunkt ergibt sich das rastlose Streben eben dieser bürgerlichen Gesellschaft, auch für die unteren Klassen die Lebens­ verhältnisse mehr und mehr so zu gestalten, daß ihre Angehörigen nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geistiger Hinsicht ein wahrhaft menschenwürdiges Dasein führen können. Im Zukunfts­ staate wird diese Fürsorge nicht mehr am Platze sein, denn in ihm wird das arbeitende Volk nur noch aus geistig minderwertigen Menschen bestehen. Wahrlich, dann könnte man über den Eingang zu der Oberstufe der Volksschule kein passenderes Motto setzen als jenes trostlose Wort, das über Dantes Höllenpforte steht: Laßt alle Hoffnung hinter euch, die ihr hier eingeht! Wir können es völlig mitempfinden, wenn ein warmer Freund der Volksschule und des Volkes, wie Emil Ries, über solche Zukunftsaussichten in helle Entrüstung gerät. Seine Worte, die man gar nicht wider­ legen kann, seien hier angeführt: „Sollen denn die unteren Volks­ schichten in der Tat durch die Schule intellektuell ausgepowert

42 werden? Soll denn jeder Kopf, der irgend über das Mittelmaß hervorragt, den höheren Ständen zugeführt werden? Ist das denn wirklich sozial, ist das volksfreundlich gedacht? Nie und nimmer kann ich mich dazu bekennen, daß nur die Minderbegabten Arbeiter werden oder bleiben dürften. Auch die Arbeiter bedürfen der geistigen Vorbilder in ihrer näheren und nächsten Umgebung, denen sie nachstreben. Arm an materiellen Gütern, vielfach behindert in der freien Ausübung ihrer bürgerlichen und politischen Rechte ist jede untere Volksschicht, jede Arbeiterklasse in jedem Volk und Land. Will man zu dem allen auch noch die geistige, die intellektuelle Ar­ mut und Beschränktheit hinzufügen? und das im Namen des Fort­ schritts, des Arbeiterwohls, der sozialen Gesinnung und Versöh­

nung?" Indessen hat es mit der Verwirklichung solcher Gedanken menschlichem Ermessen nach keine Gefahr. Der Versuch einer im 11. oder 12. Lebensjahre zwangsweise vorgenommenen Auslese der Begabten würde an seiner inneren Widersinnigkeit ganz bestimmt scheitern. Denn bei zwölfjährigen Knaben läßt sich Maß und Richtung der Begabung in der Mehrzahl der Fälle noch nicht mit genügender Sicherheit feststellen. Es bleibt auch bei guten Leistungen vielfach ungewiß, "was davon nur auf Rechnung des Fleißes und einer guten häuslichen Gewöhnung, überhaupt des gesamten Lebens­ kreises, dem der Knabe entstammt, zu setzen ist, und was als Be­ weis wirklicher Begabung gelten kann. Umgekehrt kann auch bei geringen Leistungen eine entschiedene Begabung vorhanden sein, die erst in späteren Jahren zutage tritt. Denn erst nach Eintritt der Pubertät läßt sich in vielen Fällen Richtung und Stärke der Be­ gabung deutlich erkennen. Gerade heutzutage ist ja in unserer schönen Literatur der genial beanlagte Knabe, der von beschränkten Schulmeistern verkannt und mit wertlosem Schulkram arg gepeinigt wird, und der in der Schule am Ende notwendigerweise scheitern muß, eine beliebte Romanfigur. So vieles dabei auf törichter Übertreibung beruht, so ist es doch Tatsache, daß nicht nur künst­ lerisch veranlagte Naturen, sondern auch andere starke und eigen­ artige Talente nicht selten auf der Schule wenig leisten und erst nach der Schulzeit richtig erkannt werden. Eine in so frühem Alter getroffene endgültige Entscheidung über den künftigen Beruf würde also ohne Zweifel derartig verkehrte Ergebnisse haben, daß

43 man sich einen so willkürlichen und unerträglichen Eingriff in die Elternrechte, der zugleich die Interessen der Allgemeinheit nur schädigen könnte, ganz gewiß nicht lange gefallen lassen würde. Und nun sollte jene Auslese gar eine Aufgabe erfüllen, die nach der Natur der Dinge schlechthin unerfüllbar ist. Sie sollte dem ausgesprochenen Zweck dienen, der Jugend der unteren Stände den Zugang zu den höheren Schulen in gleicher Weise zu eröffnen wie den Söhnen der wirffchaftlich bevorzugten Klassen. Das ist deshalb unmöglich, weil unbeschadet zahlreicher Ausnahmen doch die wirffchaftlich höher stehenden Volksschichten naturgemäß auch geistig höher entwickelt sind, und weil also auch die Kinder der oberen Stände im Durchschnitt denen der niederen Klassen in ihrer geistigen Entwicklung voran sind. Das dürften die Anhänger der materia­ listischen Geschichtsauffassung eines Karl Marx am allerwenigsten ableugnen wollen. In Übereinstimmung mit dieser Anschauung hat man in mehreren Städten für die Volksschule die Einführung des sogenannten Mannheimer Systems, d. h. der Trennung der Klassen nach der Begabung der Schüler, mit der ganz zutreffenden

Begründung abgelehnt, daß dieser Schritt eine Trennung der Schüler nach den sozialen Verhältnissen der Eltern zur Folge haben müsse. Genau ebenso würde auch jene geplante Auslese der Schüler für die höhere Schule in sozialer Hinsicht, abgesehen von

mehr oder weniger zahlreichen Ausnahmen, alles beim alten lassen, wenn nämlich dabei wirklich streng verfahren würde; wenn sie aber mit Nachsicht gehandhabt würde, würde sie der Mittelmäßigkeit aus allen Ständen Tür und Tor öffnen. Voraussichtlich wäre das letztere der Fall, da naturgemäß die soziale Tendenz der ganzen Maßregel zu dem Bestreben führen würde, möglichst zahlreiche Schüler aus den unteren Ständen in die höheren Schulen zu bringen. Die taffächliche Folge könnte also nur die sein, daß unser wissenschaftlicher Unterricht noch in weit höherem Maße mit schwachen Schülern überflutet würde, als dies jetzt der Fall ist. Der Allge­ meinheit würde damit gewiß der allerschlimmste Dienst geleistet werden. Soll also auch in Zukunft der Stand der Eltern über den Bildungsgang der Kinder entscheiden? Der Regel nach muß dies allerdings der Fall sein, weil es auf den Grundgesetzen sozialen Lebens beruht. Wir stimmen in diesem Punkt völlig mit Eduard von Hartmann überein, der es in seinen „Sozialen Kern-

44 fragen" als eine weise Einrichtung der Natur bezeichnet, daß, von seltenen Ausnahmen abgesehen, auch die intellektuelle Bildung nur im Verlaufe von Geschlechtern in einer Familie heimisch werde, da nur dieses stufenweise sich vollziehende Aufsteigen der Familien die Bürgschaft für die Harmonie der Geisteskräfte sowie einige Gewähr für längere Dauer biete, und da es zugleich auch für die Gesamt­ heit der Kultur am dienlichsten sei. Daß ein ununterbrochenes Aufsteigen der Familien aus den unteren sozialen Schichten in die oberen stattfinde, und daß auf diese Weise den gebildeten und führenden Kreisen ständig frisches Blut zugeführt werde, darauf beruht allerdings die Gesundheit des Volkskörpers. Aber daran hat es ja auch in Deutschland in Ver­ gangenheit und Gegenwart nirgends gefehlt. Von den Zeiten des dreißigjährigen Krieges an kann man es verfolgen, wie die gebildeten städtischen Familien aus der Tiefe des Volkes aufstcigen, um nach einer mehrere Generationen währenden Blüte wieder in ihr zu versinken. Auch heute finden sich in den gebildeten Kreisen der bürgerlichen Bevölkerung nur verhältnismäßig wenige Familien,

die schon vor 100 oder gar 200 Jahren den gleichen sozialen Schichten angehört hätten. Allein so verkehrt es wäre, wenn man diesen Bevölkerungsstrom unterbinden wollte, so wäre es doch sicherlich mindestens ebenso unheilvoll für den Volkskörper, wollte man durch künstliche Mittel alles Blut nach dem Hirn oder dem Herzen hin­ treiben. Vielmehr ist es ein Zeichen gesunden Zustandes, wenn die einzelnen Bevölkerungsklassen sich für die nächste Generation zum größeren Teil wieder aus ihrem eigenen Nachwuchs zu er­ gänzen vermögen. Und es ist ein durchaus unzutreffendes und gehässiges Schlagwort, wenn man immer sagt, dabei entscheide der gefüllte Geldbeutel über den Bildungsgang und Beruf. Wer unsere höheren Schulen kennt, der weiß, daß es in der Hauptsache nicht die Söhne der reichen und vornehmen Leute sind, die ihre Bänke füllen, sondern die Söhne des gebildeten Mittelstandes, dessen Angehörige in ihrer Mehrzahl wirtschaftlich recht schwer zu kämpfen haben und in zahllosen Fällen nur unter Opfern und Entbehrungen imstande sind, ihren Kindern eine höhere Ausbildung zu verschaffen. Was bei ihnen den Ausschlag gibt, ist nicht der gefüllte Geldbeutel, sondern das Gefühl für den Wert der von der Familie erreichten sozialen und geistigen Stufe, und der Wunsch,

45 ihren Kindern diese Vorzüge zu erhalten. Dieses Streben ist aber nicht nur vom Standpunkt der einzelnen Familie berechtigt, sondern kommt auch den Bedürfnissen der Gesellschaft und des Staates

entgegen, wofern dieser nur mit Strenge darauf sieht, daß die wirklich Unbegabten und Untüchtigen ohne Rücksicht auf private Interessen zurückgehalten werden. Daß nun in dieser Hinsicht noch manche Forderungen unerfüllt bleiben, die man im Namen der sozialen Wohlfahrt und Gerechtigkeit erheben muß, ist unbestreitbar. Über das, was man hier auf dem Herzen haben kann, soll später nqch einiges gesagt werden. Einstweilen genügt es, gezeigt zu haben, daß die Einheitsschule nicht zu diesen Forderungen gehört. Denn ganz abgesehen davon, daß ihre konsequente Durchführung ohne einen Umsturz unserer ganzen Gesellschaftsordnung nicht möglich wäre, würde sie weder

zur Herstellung des sozialen Friedens beitragen, noch einen Zu­ stand höherer sozialer Gerechtigkeit herbeiführen.

3. Die Einheitsschule vom Standpunkt der Erziehung «nd des Unterrichts. Unsere bisherigen Betrachtungen haben uns gezeigt, daß die Entscheidung über die Verfassung der Schulen grundsätzlich nicht nach sozialen Gesichtspunkten getroffen werden kann, sondern nur nach den Zwecken der Erziehung und des Unterrichts. Daraus haben wir ferner die Folgerung gezogen, daß bei einem Kulturvolk nicht eine starre Einheit, sondern gerade eine Vielheit der Schul­ formen der allein mögliche Zustand sei. Doch bedarf dieser Satz noch einer eingehenderen Begründung. Daß die Vorbereitung für die mannigfachen Kulturaufgaben eine Vielheit von Schulorganismen verlangt, wird an sich von niemand geleugnet. Nicht einmal die heute so vielgestaltigen höheren Berufe, die eine akademische Bildung erfordern, können sich mit einer einzigen Vorbildungsanstalt zufrieden geben. Jahrzehnte hindurch haben wir eine solche Einheitsschule für die höheren Stände gehabt. Es war das humanistische Gymnasium. Aber

eben an ihm sehen wir, daß ein solcher Anspruch einer bestimmten Schulgattung in unserer Zeit nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Auf der Dezemberkonferenz von 1890 vermochte der Einheitsschul­ verein nochmals seinen Anschauungen zum Sieg zu verhelfen. Aber schon zehn Jahre später mußte man diese Bahnen verlassen

und sich grundsätzlich für eine Mehrheit von gleichwertigen Bildungs­ wegen für die höheren Studien entscheiden. Man darf sagen, daß die Schulmänner der verschiedensten Richtungen, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, diese Maßregel als den einzig möglichen Ausweg aus unleidlichen Schulwirren begrüßt haben. Wenn sich also die Überzeugung Bahn gebrochen hat, daß nicht einmal zur Vorbereitung für die verschiedenen wissenschaftlichen Studien eine

47 einzige Schule ausreicht, müßte es doch als ganz unsinnig er­ scheinen, wollte jemand, wenn auch nur im Grundsatz, die Forderung erheben, daß der Staat allen seinen Angehörigen die gleiche Bil­ dung gewähren müsse. Das sieht im Grund auch alle Welt ein. Und doch gehen so viele aus Lehrerkreisen stammende Schriften über die Einheitsschule mit derartigen Schlagwörtern hausieren, indem sie ihre Erörterungen unter Berufung auf die Gleichheit aller Menschen mit dem Satz beginnen, die Schule dürfe nur eine Nationalschule sein und keine Trennung nach Ständen kennen. Allgemeine Volksschule, nicht Standesschule! So lautet das Schlag­ wort, das einst vr. Ree in Hamburg aufgebracht hat, und das seitdem in den endlosen Debatten über diese Frage unzähligemal wiederholt worden ist. Freilich beeilt man sich, alsbald seine Forderungen auf Durchführung eines gemeinsamen Elementarunterrichts zu be­ schränken. Aber warum dann dieser Schwall von dröhnenden Phrasen, die doch nur die Wirkung haben können, die Tatsache, daß hier ein ernstes Problem vorliegt, zu verdunkeln? Dieses Problem besteht darin, daß neben der notwendigen Vielheit der Bildnngswege doch auch die ebenso notwendige nationale Bildungseinheit zu ihrem Recht kommen muß. Ganz selbstverständlich sind alle unsere Schulen wenigstens in ihren höheren Klassen auch Standcsschulen und müssen es sein. Denn alle wollen ihren Zöglingen nicht nur eine allgemein menschliche und nationale Bildung verleihen, sondern auch die Kenntnisse und Fertig­ keiten, die sie für ihren späteren Beruf oder für die von diesem erfor­ derten wissenschaftlichen Studien nötig haben. Und je höher sich die Kultur eines Volkes entwickelt, desto mehr wird der Grundsatz der Arbeitsteilung durchgeführt, desto zahlreichere und mannigfaltigere Berufe und Berufsstände bilden sich, und desto verschiedenartigere Bildungsanstalten müssen vorhanden sein, deren nächster Zweck nun doch einmal die Überlieferung der für die Mitarbeit an den Aufgaben der materiellen und geistigen Kultur nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten ist. Somit ist zunächst Differenzierung und nicht Uni­

formierung der Jugenderziehung ohne Zweifel der richtige Grundsatz. Gewiß ist diese Vielgestaltigkeit der Bildung an sich kein Nachteil, sondern ein unendlicher Vorzug, und nichts wäre verkehrter, als wenn man dem Idol einer völligen Einheit der Volksbildung zu­ liebe die einzelnen Bildungsformen schädigen wollte.

48 Aber freilich läßt sich ebensowenig verkennen, daß neben dem Grundsatz möglichster Vielgestaltigkeit des Schulwesens auch der

entgegengesetzte Gedanke der nationalen Bildungseinheit eine sorg­ fältige Berücksichtigung beanspruchen kann. Mit treffenden Worten spricht diesen Gedanken Rudolf Lehmann so aus: „Daß ein kraftvoll lebendiger, einheitlicher Volksgeist sich, wie in allen Be­ ziehungen des geistigen Lebens, so auch in der Gestaltung der nationalen Schule Ausdruck schaffen muß, daß andererseits kein festeres Band, keine dauerhaftere Stütze des Nationalbewußtseins denkbar ist, als die Gemeinsamkeit der Schulerziehung: dieser Ge­ danke ist es, van dem die Forderung der Einheitsschule eigentlich ausgeht, von dem sie gestützt und getragen wird." Sicherlich wäre es eine Gefahr für die innere Einheit der Nation, wenn die An­ gehörigen der verschiedenen Stände allzu einseitig ausgebildet wären, und wenn die einen in den Kulturgebieten und Anschauungen, in denen die anderen heimisch sind, völlig fremd blieben. Daraus ergibt sich die Forderung, daß die Gemeinsamkeit des Unterrichts so weit durchgeführt werden muß, als dies ohne Schädigung der einzelnen Bildungsformen möglich ist. Weiter kann man nicht gehen. Denn als die wichtigste und höchste Auf­ gabe erscheint doch immer die möglichst sorgfältige Ausgestaltung der einzelnen Kulturgebiete, und die Schule darf überzeugt sein, daß sie mit ihren Mitteln das Wohl des Ganzen am kräftigsten fördert, wenn sie möglichst vollkommen für die Bedürfnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen sorgt. Wollte sie nach irgend einer Richtung hin sich dieser ihrer Hauptaufgabe bloß wegen der Idee der Bildungsgleichheit entziehen, so würde eine Schwächung der geistigen Gesamtkraft der Nation die notwendige Folge sein. Dabei kommt aber weiter in Betracht, daß zur Durchführung einer gewissen Gemeinsamkeit des Unterrichts noch lange nicht nötig ist, daß man die verschiedenen Schulen in ihren Lehrstoffen und Lehraufgaben äußerlich gleich macht. In erster Linie beruht die Einheit des Unterrichts auf den allgemeinen Werturteilen, die dem gesamten Erziehungswerk zugrunde liegen. Eine solche innere Einheit wäre trotz der größten Mannigfaltigkeit der Schulformen ohne weiteres gewährleistet, wenn unser Volk in allen seinen Schichten wirklich von einer einheitlichen sittlich-religiösen Weltanschauung und vaterländischen Gesinnung durchdrungen wäre. Bedenken wir,

49 wie die Dinge in Wahrheit liegen, so wird es uns sofort klar, wo das Haupthindernis für das Gedeihen einer wahrhaft einheitlichen deutschen Geisteskultur zu suchen ist, und wir erkennen, wie wenig

doch im Grunde die äußere Organisation der Schulen hier zu ändern vermag. Trotzdem wird niemand leugnen wollen, daß eine gewisse Gleichheit der Bildungswege und Bildungsstoffe für ein inneres Verständnis der verschiedenen Bevölkerungsklassen wünschens­ wert, ja notwendig ist. Wollte man auf eine solche Gleichheit gar nicht bedacht sein, so würde die innere Entfremdung der Stände nur immer mehr zunehmen. Aber auch hierzu ist eine mechanische Gleichmacherei nicht nötig. Sind ja doch allen unseren Schulen, höheren wie niederen, abgesehen von den fremden Sprachen sämt­ liche Lehrstoffe, wenn auch natürlich nicht in gleicher Ausdehnung, gemeinsam, und steht doch namentlich bei allen grundsätzlich und in Wirklichkeit deutsche Sprache, Literatur und Gesittung im Mittel­ punkt ihrer gesamten Arbeit. Darin erkennen wir ja gerade mit Paulsen den bedeutsamsten Zug in der Entwicklung unseres Schul­ wesens während der letzten Jahrzehnte, daß sich zwischen Gelehrten­ bildung und Volksbildung eine gewaltige Annäherung vollzogen hat. Berücksichtigen wir dies alles, so kann uns die Besorgnis, daß in­ folge übermäßiger Differenzierung der Bildungsanstalten ein baby­ lonisches Bildungsgewirr entstehen und die geistige Einheit der Nation auseinanderfallen werde, gewiß nicht als begründet erscheinen. Ohne Zweifel berechtigen unsere Schuleinrichtungen Emil Ries völlig zu der Behauptung: „Die gleiche patriotische, ethische und menschliche Grundstimmung verträgt sich mit jeder Sonderbildung und soll und muß in jeder durchklingen." Danach kann man sehr wohl mit ausreichenden sachlichen Gründen die Ansicht verfechten, daß für die neben der notwendigen Vielgestaltigkeit der Schulen wünschenswerte innere Einheit des Unterrichts selbst dann genügend gesorgt ist, wenn jede Schul­ gattung von der elementarsten bis zur obersten Stufe ihren eigenen Zwecken entsprechend ausgestaltet wird. Nichtsdestoweniger müssen wir doch auch die Frage in Erwägung ziehen, ob es sich nicht vielleicht empfiehlt, jene Einheit durch einen völlig gemeinsamen Unterricht während einiger Schuljahre noch stärker zu fördern. Kann zunächst für die drei ersten Jahre, die vor der Trennung der verschiedenen höheren Lehranstalten liegen, eine Einheitsschule

MUIler, Die Äesahren der Einheitsschule.

4

50 durchgeführt werden, ohne daß die Zwecke des Unterrichts darunter

leiden? Wenn man die Vorkämpfer der Einheitsschule hört, ist dies so selbstverständlich, daß sie jedem Freund gesonderter Vorschulen ohne weiteres entweder egoistische Sonderzwecke oder ein bemit­ leidenswertes Maß von Beschränktheit zuschreiben. Denn auf der untersten Stufe sagt man, haben alle Kinder dasselbe zu lernen, nämlich Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen. Deshalb kann es nur eine einzige Elementarschule geben. Der Staat hat nicht das Recht, für gewisse Klassen der Bevölkerung besondere Vor­ schulen einzurichten, deren Lehrplan von dem der Volksschule ab­ weicht. Wenn der Unterricht der Vorschule besser ist, so hat der Staat die Pflicht, allen Kindern einen gleich vorzüglichen Unterricht zuteil werden zu lassen. Wenn er andererseits, wie viele Lehrer der Volksschule behaupten, durch einseitige Betonung der Elementar­ fächer und Vernachlässigung des Sach- und Gesinnungsunterrichts nur Treibhauskultur hervorbringt, so ist die Unterhaltung solcher Schulen ein schweres Unrecht gegen den Teil der Kinder, der später einmal für höhere Studien ausgebildet werden soll. Auf alle Fälle aber ist die Vorschule äußerlich im Vorteil durch Heine Klassen, bessere Ausstattung mit Lehrmitteln, sowie durch höher besoldete und deshalb durchschnittlich tüchttgere Lehrer, während die Volks­ schulen vielfach überfüllt und mit Lehrmitteln mangelhaft versehen sind. Deshalb fehlt jedes moralische Recht, auf staatliche oder kommunale Kosten Sonderanstalten zu errichten, die nur den oberen Klassen der Bevölkerung zugute kommen. Eine nähere Untersuchung wird uns beweisen, daß in Wahr­ heit keineswegs die allgemeine Elementarschule diejenige Anstalt ist, die von pädagogischen Gesichtspunkten aus allein berechtigt wäre. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Wir wollen dabei keinen beson­ deren Wert auf den von Ries mit Recht hervorgehobenen Umstand legen, daß jedenfalls das zur Empfehlung jener Forderung mit Vorliebe gebrauchte wunderbare Bild von dem „gemeinsamen Unter­ bau" auf die Klarheit des ganzen Gedankens kein sehr günsttges Licht wirst. Als ob nicht jeder ordentliche Bau seinen eigenen zweckentsprechenden Unterbau und seine eigenen Fundamente hätte! Gar nicht davon zu reden, daß dieser merkwürdige gemeinsame Unterbau sich sogar „nach oben gabeln" soll. Aber wir haben ja

51 gesehen, daß die Freunde der Einheitsschule auch klarere Bilder

gebrauchen, um das, was sie meinen, zu veranschaulichen. Me die Aste aus einem Baum, so sollen die übrigen Schulanstalten aus dem Stamme der allgemeinen Volksschule hervorwachsen und sich in immer kleinere Zweige gliedern. Ob freilich damit das Ver­ hältnis der höheren Lehranstalten zur Volksschule zutreffend bezeichnet sein mag? Indessen lassen wir diese Vergleiche, die doch nicht ent­ scheidend sein können, beiseite und prüfen die Frage nach sachlichen Gesichtspunkten. Und da müssen wir behaupten, daß man, wenn man zunächst von rein didaktischen Erwägungen ausgeht, ganz ohne Zweifel zur Forderung besonderer Vorschulen gelangt. Denn einmal werden bei allem planmäßigen Handeln die Mittel je nach den verschiedenen Zwecken abgemessen. Warum sollte das nur auf dem Gebiete des Schulwesens nicht der Fall sein? Der Zweck des höheren Unterrichts ist doch ein anderer als der des Volksschulunterrichts. Während dieser für das praktische Leben vorbereitet, wollen die höheren Schulen ihre Zöglinge von unten herauf allmählich zum wissenschaftlichen Arbeiten tüchtig machen. Ihr Hauptmittel zur Erreichung dieses Zweckes ist der Sprachunterricht, und deshalb brauchen sie Elementarschulen, die hauptsächlich auf Sicherheit und Gewandtheit im Gebrauch der Muttersprache hin­ arbeiten. Wenn also der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben höhere Schulen nötig hat, so ist er ganz gewiß berechtigt, auch ge­ eignete Vorschulen für diese Anstalten zu errichten. Von solchen Gesichtspunkten ging Curtmann aus, wenn er in seiner Schrift „Die Schule und das Leben" forderte, man solle die Schüler zeitig nach dem wahrscheinlichen Lebensberuf trennen und jedem Stand seine eigene Elementarschule geben. Denn „je gerader der Weg, desto kürzer". Die sechsjährigen Knaben sollen ja kein Latein lernen, meint er, sondern nur das Deutsche schneller und mit Rück­ sicht auf das künftige Latein. In Übereinstimmung damit stellt Ries den unanfechtbaren Satz auf: „Jede Unterrichts- und Er­ ziehungsanstalt hat das Recht, selber die vorbereitenden Arbeiten für ihre höheren Zwecke zu übernehmen, wenn sie glaubt, das besser tun zu können als andere. Das Recht auf sogenannte Unterklassen kann keiner Schulart bestritten werden." Zu dem gleichen Ergebnis führt auch der andere Gesichtspunft, daß die psychologischen Gesetze, die allem Unterrichten zugrunde 4*

52 liegen, in jeder Schule möglichst gleichmäßig entwickelte und vor­ gebildete Schüler als Vorbedingung des Erfolges voraussetzen. Die gemeinsame Elementarschule verstößt gegen diesen Grundsatz in zweifacher Hinsicht. Erstens sucht sie selbst eine Schülerschaft zu unterrichten, die zum mindesten in großen Städten geistig ganz

ungleichmäßig entwickelt ist.

Zweitens nötigt sie die höheren Lehr­

anstalten, ihren Unterricht in Sexta mit einer ganz verschieden vor­ gebildeten Schülerschaft zu beginnen. Was den ersten Einwand anlangt, so pflegen die Freunde der Einheitsschule mit Allgemeinheiten über ihn hinwegzugehen. Man führt den Satz Pestalozzis an, alle Menschen seien in ihrem Wesen

gleich,

und

variiert

diese

wohlbekannte

Melodie

in

den

ver­

schiedensten Tonarten. Da liest man: „Kind ist Kind, ob es int Arbeiterhause oder im Ritterschlosse aufwächst, Fassungskraft und

Wissensdurst werden annähernd gleich sein bei allen gleichbeanlagten Kindern gleichen Alters." Und die Vorschule kann ja gar keine fähigeren Schüler haben als die Volksschule; denn auch in jener findet ja gar keine Auslese nach der geistigen Befähigung statt, sondern nur nach dem Stand der Eltern. Nur schade, daß das wirkliche Leben dieses wie so manches andere heutige Modedogma schonungslos Lügen straft, indem es den unwLerleglichen Beweis führt, daß die Auslese nach dem Stande im großen und ganzen mit der Auslese nach der geistigen Entwicklung — wir sagen nicht Begabung — sich deckt. Emil Ries hat sich ein großes Verdienst erworben, indem er unbekümmert um alle modernen Phrasen und Schlagwörter und ohne Rücksicht auf die Anfeindungen, die ihm sein Vorgehen eintragen mußte, die Tatsache scharf hcrvorgehoben hat, daß es die Elementarschule in unseren heutigen Großstädten in Wahrheit int allgemeinen mit zwei geistig verschieden entwickelten und vorgebildeten Schülerschichten zu tun hat, die auch eine ver­ schiedene Beschulung verlangen. Freilich beruht der Unterschied nicht auf dem mehr oder weniger gefüllten Geldbeutel. Es ist eine gehässige Entstellung, wenn man den Gegnern der Einheitsschule die Behauptung andichtet, daß zwischen dem Umfang des Geldsackes und der Größe der geistigen Fähigkeiten ein proportionales Ver­ hältnis bestehe. Sondern darauf kommt es an, daß in jedem Knlturstaate eine Schicht von wirklich höher gebildeten Familien vorhanden ist, die in ihrer Mehrheit weder mit der Geld- noch mit

53 der Geburtsaristokratie im mindesten etwas zu tun hat, und daß die Kinder dieser Familien teils durch erbliche Beanlagung, teils durch den fördernden Einfluß einer gebildeten Umgebung beim Eintritt in das schulpflichtige Alter im Durchschnitt geistig entwickelter sind als ihre vom Schicksal weniger begünstigten Altersgenossen. Das ist eine

einfache Folgerung aus feststehenden biologischen Gesetzen. Auch liegen zahlreiche Tatsachen vor, die beweisen, daß cs in unseren heutigen Großstädten wirklich ernstliche Schwierigkeiten macht, in den Elemcntarklassen die Jugend aller Stände gemeinsam zu unter­ richten. Es liegt ja auch auf der Hand, daß dabei beide Seiten

geschädigt werden müssen, und am meisten die armen, von Haus aus vernachlässigten Kinder. Wenn auf der einen Seite die Kinder der gebildeten Stände, die über größere Sprachgewandtheit und eine größere Fülle von Anschauungen und Begriffen verfügen, in ihrer weiteren geistigen Entwicklung künstlich zurückgehalten werden, kann der Ele­ mentarunterricht andererseits nicht in der einfachen und anschau­ lichen Weise betrieben werden und nicht mit der Langsamkeit vor­ schreiten, die den Bedürfnissen der oft begriffs- und spracharmen Schüler der arbeitenden Klassen entspricht, wenn man dabei mit dem einen Auge beständig nach den Anforderungen der höheren Schulen hinschielt. Daher rühren dann alle die in der pädagogi­ schen Literatur der letzten Zeit so häufigen Klagen über die Stoffüberbürdung und Überanstrengung in den Unterklassen der Volks­ Daher alle die Versuche, den Anfangsunterricht einfacher und anschaulicher zu gestalten und mit dem Lesen und Schreiben langsamer vorzugehen. Daher gar die Forderung, daß diese Fächer im ersten Schuljahr ganz wegfallen müssen, eine Forderung, die auf den Weimarer „Tagen für deutsche Erziehung" solchen Beifall ge­ funden hat. Demgegenüber ist es eine unumstößliche Tatsache, daß normal beanlagte Knaben aus gebildeten Familien nicht nur das Lesen und Schreiben im ersten Schuljahr ohne alle Schwierigkeit erlernen, sondern in diesem Alter auch ganz aus eignem Antrieb den Wunsch nach Erlernung dieser grundlegenden Künste zu ver­ raten pflegen. Wollte man unsere Ausführungen für einseitig erklären, so würden wir diesen Einwand durch den Hinweis auf die Zustimmung des angesehensten und einflußreichsten Befürworters der Einheits­ schule entkräften. Niemand anders als Professor Rein in Jena schule.

54 erklärt die angeführten Gründe gegen den gemeinsamen Elementar­ unterricht ausdrücklich für stichhaltig. Aber, sagt er, die sozialpoli­ tische Betrachtung ist die übergeordnete. Deshalb muß man gerade die Ungleichheit ausgleichen, indem man als Vorstufe mehrjährige obligatorische Volkskindergärten einrichtet. Wenn diese recht geleitet werden, können sie die Unterschiede in der Hauptsache verschwinden

machen. Ein klassisches Beispiel dafür, wie bei unseren Freunden der Einheitsschule der Sozialpolitiker dem Pädagogen Gewalt antut! Den Ausgleich, den der wohlgeordnete und intensiv betriebene Schulunterricht selbst zu erreichen verzweifelt, den soll der Kinder­ garten mit seinen weit geringeren Mitteln erzielen! Kann man im

Ernst glauben, daß sich dessen Einfluß mächttger erweisen werde als der der Familie und der ganzen häuslichen Umgebung der Kinder? Und die Macht der Vererbung wird dabei stillschweigend

ganz außer acht gelassen! Nein, nicht die sozialpolitische Betrachtung ist die übergeordnete, sondern die pädagogische, die den Wert einer jeden Schuleinrichtung nur nach ihrer Wirkung auf Unterricht und Erziehung beurteilt. Und bei solcher Betrachtung ergibt sich die unumstößliche Tatsache, daß in rein didattischer Hinsicht die gemeinsame Elementarschule überhaupt, namentlich aber für unsere modernen Großstädte eine weniger vollkommene Einrichtung ist, als es gesonderte Elementarklassen sind. Natürlich wäre es ganz verkehrt, zu behaupten, daß die didak tischen Nachteile der gemeinsamen Elementarschule an allen Orten gleich groß wären oder sich auch nur allenthalben fühlbar machten.

Nicht nur in allen Dörfern und den meisten lleinen Städten un­ seres Vaterlandes, sondern auch in den größeren Städten Süd­ deutschlands und der Schweiz hat man ja die gemeinsame Elemen­ tarschule und scheint sich bei derselben im allgemeinen ganz wohl zu fühlen. Selbst für München hat dies der dortige Oberlehrer Gärtner vor kurzem zu zeigen versucht. Dieser gibt zu, daß die Kinder der höheren Stände im Durchschnitt besser vorgebildet seien und einen reicheren Vorstellungskreis sowie größere Reinheit der Sprache mitbrächten, meint aber, daß doch eine ganze Fülle gemein­ samer Anschauungen vorhanden sei, an die man anknüpfen könne, und daß die Mischung der Kinder aller Stände dem Unterricht nur

55 Vorteil bringe, indem die Anschauungsgebiete einander in willkom­ mener Weise ergänzten und bereicherten. Wer möchte leugnen, daß dies seine Vorzüge haben kann? Ob aber diese Vorzüge die vorher erwähnten Nachteile aufwiegen, das hängt doch durchaus von den besonderen Verhältnissen ab. Denn jene können naturgemäß nur da wirksam werden, wo der gemeinsame Unterricht in den gesamten sozialen Verhältnissen und der ganzen Art der Bevölkerung eine Stütze findet, wo also die Gegensätze des Besitzes und der Bildung nicht allzu schroff sind, und eben darum müssen die Schuleinrich­ tungen überall dem wirklichen Leben angepaßt sein. Und was die Angaben Gärtners anlangt, so werden wir noch Tatsachen kennen lernen, die uns gegen die behaupteten Vorzüge des gemeinsamen Elementarunterrichts in München doch recht skeptisch zu stimmen ge­ eignet sind. Ziehen wir nun aber gar die Verhältnisse im Gebiet des niedersächsischen Stammes in Betracht, so ist nicht zu übersehen, daß dort für die Elementarschulfrage schon allein der Unterschied der Sprache ganz bedeutend ins Gewicht fällt. Während dort die Kinder der gebildeten Familien schon in der Kinderstube ein reines Hochdeutsch lernen, verstehen die der unteren Stände großenteils nur ihr Platt und stehen dem Hochdeutschen fast wie einer fremden Sprache gegenüber. Und trotzdem will man auch Hamburg das Dogma von der alleinseligmachenden allgemeinen Elementarschule aufdrängen? Wir verstehen cs völlig, wenn gegenüber solchen Be­ strebungen der Verein Hamburger Oberlehrer in seiner Schrift „Gegen die Einheitsschule" die Vorschulen als nach wie vor erforderlich zur Vorbereitung für den höheren Unterricht bezeichnet. Damit kommen wir zu dem zweiten didaktischen Bedenken gegen die einheitliche Elementarschule, daß sie nämlich die höheren Lehr­ anstalten nötigt, ihren Unterricht mit ganz verschieden vorgebildeten Schülern zu beginnen. Dieses Bedenken verdient recht ernstliche Beachtung. Jedermann, der unsere höheren Schulen aus eigener Tätigkeit kennt und in der Lage gewesen ist, den nötigen Vergleich anstellen zu können, weiß, wie außerordentlich es den Unterricht in Sexta erleichtert, wenn da ein Stamm von Schülern vorhanden ist, der in einer Vorschule gleichmäßig für die Aufgaben des höheren Unterrichts vorgebildet ist. Der von Freunden der Einheitsschule geäußerte Zweifel, ob die Vorschule diese Aufgabe wirklich besser zu lösen vermag als die Volksschule, hat keinen vernünftigen Sinn.

56 Natürlich kann sie es, sowohl well sie mit gleichmäßiger entwickelten und vorgebildeten Schülern arbeitet, als auch weil sie ausdrücklich

den einzigen Zweck der Vorbereitung auf den höheren Unterricht verfolgt und deshalb, ohne durch Nebenabsichten gehindert zu wer­ den, die zweckentsprechendsten Mittel anwenden kann. Wenn sie in Einzelfällen ihre Aufgabe nicht befriedigend löst, so ist sie entweder verkehrt eingerichtet oder schlecht geleitet. Auf der anderen Seite ist sie aber deshalb noch lange nicht an sich besser als die Volksschule, so daß in der Einrichtung von Vorschulen eine ungerechtfertigte Be­ vorzugung der höheren Stände läge. Jede von beiden Schulformen ist eben für ihren besonderen Zweck die geeignetere. Die Vorschule kann und darf mit einer gewissen Einseitigkeit den sprachlich-tech­ nischen Unterricht betreiben, weil ihre Schüler eine reichere Vorstellungs- und Anschauungswelt mitbringen, und weil das, was sie im Sach- und Realienunterricht versäumt, später im Fachunterricht der höheren Schule reichlich nachgeholt wird. Bei der Volksschule wäre eine gleiche Einseitigkeit ein schweres Unrecht gegen die Mehrzahl ihrer Zöglinge. Wenn man also in einer Sexta mit Schülern ar­ beitet, die aus verschiedenen Volksschulen zusammengekommen sind, so hat man erstens eine weniger zweckmäßig und zweitens eine un­ gleichmäßig vorgebildete Schülerschaft. Welche Mühe macht es da in den ersten Monaten, eine feste und gleichmäßige Gewöhnung zu erzielen und die verschiedenartigen Elemente zu einer wirklichen Ein­ heit zusammenzuarbeiten! Ries erinnert seine Standesgenossen an die eignen bitteren Erfahrungen, die man jedesmal mache, wenn aus fünf bis sechs überfüllten Volksschulen eine neuerbaute gefüllt werde. „Trotz des gleichen Lehrplanes sind die zusammengeworfenen Schüler durchaus nicht gleichmäßig vorgebildet, und ebensowenig sind sie gleich in Sitten und Gewohnheiten. Das erste Jahr an einer solchen neuen Schule ist eine Qual für Lehrer wie Schüler. Und eine solche durchaus nutzlose Qual mutet man den höheren Schulen zu Jahr für Jahr!" Das mag etwas übertrieben sein, ist aber doch in der Hauptsache vollständig richtig. Und völlig berechtigt ist jedenfalls der Unwille, mit dem er seinen eignen Standesgenossen über die Gehässigkeit ihrer Angriffe auf die Vorschule seine Meinung sagt. Wer gibt denn eigentlich den Herren von der Volksschule das Recht, Einrichtungen, die die höheren Schulen zum Zweck einer möglichst vollkommenen Erreichung ihrer Bildungsziele treffen und

57 zu treffen befugt sind, als bloße Erfindungen des Klaffenegoismus in Bausch und Bogen zu verurteilen und zu verlästern? Von vorn­ herein fehlt bei der Debatte über solche Schulfragen jede Möglich­ keit einer Verständigung mit Gegnern, die nicht imstande sind, An­ dersdenkenden ein ehrliches sachliches Bildungsinteresse zuzutrauen, und die alles nur auf Selbstsucht, Standesdünkel und Unverstand zurückführen. Und doch sollte es leicht zu begreifen sein, daß man mit ganz ungleichartig und weniger zweckmäßig vorgebildeten Schü­ lern in einer Sexta weniger erreicht, daß somit die Grundlage, auf der sich alles Folgende aufbaut, weniger fest gelegt und der Erfolg des gesamten höheren Unterrichts entschieden beeinträchfigt wird. Wahrlich, dieser würde ein großes Opfer bringen und sich die Er­ reichung seiner eigenartigen Ziele in empfindlicher Weise erschweren, wenn er aus Rücksicht auf höhere Interessen der Allgemeinheit auf sein gutes Recht auf Vorschulen verzichten wollte! Als solche höheren Interessen vermögen wir nach dem, was wir früher gesagt haben, die angeblichen sozialpolitischen Vorzüge der Einheitsschule nicht gelten zu lassen. Wohl aber könnte man daran denken, gegen die angeführten didaktischen Bedenken höhere erziehe­ rische Rücksichten ins Feld zu führen. Denn die Schule soll ja nicht bloß Kenntnisse mitteilen, sondern auch erziehen; ja sie be­ trachtet dies als ihre höchste Aufgabe. Und mag auch die heute auf den Schild erhobene Sozialpädagogik die Aufgabe der Erzie­ hung einseitig erfassen, so werden doch darin alle übereinsfimmen, daß der Einzelne auch für die Allgemeinheit, in die er hineingeboren ist, erzogen werden, und daß die Erziehung deshalb auch die Zwecke der Gesellschaft und des Volkes im Auge behalten muß. Daß nun in erzieherischer Hinsicht die Gemeinsamkeit des Schul­ unterrichts ihre großen Vorzüge haben kann und unter günstigen Verhältnissen auch tatsächlich hat, das dürfte nicht in Abrede zu stellen sein. In dieser Hinsicht liegt die Sache ebenso wie bei den im vorigen Kapitel erörterten sozialen Vorzügen des gemeinsamen Unterrichts, die ja in seinen erzieherischen Vorzügen ihre Quelle haben. Wo die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze noch nicht so schroff sind, da kann man nicht mit Unrecht erwarten, daß das gesittete Wesen der Kinder aus gebildeten Kreisen auf die ärmeren Kinder wohltätig einwirken werde, und daß auf der anderen Seite auch jene bei vielen ihrer minder begünstigten Kameraden hinter

58 dürftiger Kleidung innere Vorzüge erkennen und schätzen lernen. In diesem Punkt können wir nicht so weit gehen, wie Ries, der diese wohltätigen erzieherischen Wirkungen des gemeinsamen Schul­ besuchs überhaupt nicht gelten lassen möchte. Er meint, es wider­ spreche allen Erfahrungen und aller Wahrscheinlichkeit, an einen

guten Einfluß der besser erzogenen Mnderheit auf die Masse der Kinder der niederen Stände zu glauben. Größer sei jedenfalls die Gefahr, daß die wohlerzogenen Kinder von den anderen allerlei Ungezogenheiten und Roheiten lernten. Gewiß, diese Gefahr ist immer vorhanden. Manches Kind aus gebildetem Haus wird im

Verkehr mit schlecht erzogenen Kameraden in Sprache und Sitten allerlei üble Gewohnheiten annehmen. Allein hier ist zunächst zu bedenken, daß die Familien, in denen wahre Bildung heimisch ist, ihre Kinder vor sittlichen Gefahren überhaupt nicht schützen können, sobald sie dieselben öffentlichen Schulen anverttauen. Auch in den höheren Schulen sitzt das wohlerzogene Kind neben dem Sprößling des ungebildeten Geldprotzen, von dem gewiß mindestens ebensoviel Untugenden zu lernen sind wie von den Kindern armer Leute. Was von diesen zu befürchten ist, das braucht man — immer gesunde soziale Verhältnisse vorausgesetzt — nicht allzuschwer zu nehmen. In der Hauptsache wird es sich da nur darum handeln, daß die mehr naturwüchsige Art des Volkes zu denken und zu reden auf das feinere und mitunter auch etwas zimperliche Benehmen der Kinder guter Familien ein wenig abfärbt. Das ist kein allzu großer Schade. Eine andere Frage wäre es, ob ein geradezu demoralisie­ render Einfluß der Kinder der unteren Stände auf ihre Schulge­ noffen zu befürchten ist. Diese Frage aber hat man kein Recht ohne weiteres zu bejahen. Die Voraussetzung ist dabei, daß alle wirklich sittlich verwahrlosten Kinder in besonderen Anstalten untergebracht werden. Das ist eine selbstverständliche Pflicht des Staates und der Gesellschaft auch gegen die unteren Stände. Im übrigen aber dürfte es schwer nachzuweisen sein, daß die Kinder der niederen Klassen int allgemeinen moralisch weniger wert seien als die der oberen. Beide haben ihre besonderen Vorzüge und ihre besonderen Fehler. Jene sind oft in ihrer Erziehung vernachlässigt,

diese umgekehrt oft verzogen. Wenn die vornehmeren Bübchen über manche Unschicklichkeit und Derbheit ihrer ärmeren Mitschüler die Nase rümpfen und vielleicht auch manche Roheit ihnen absehen, so

59 hat auf der anderen Seite ganz gewiß mancher anspruchsvolle, ver­ zogene, leichtsinnige Bengel vielfache Gelegenheit, an irgend einem armen Schlucker sich ein Beispiel der mannigfachen Tugenden abzu­ nehmen, die sich nun einmal in der harten Schule der Armut und Not am besten lernen lassen. Die Nachwirkungen solcher Erfahrungen

werden sich niemals abmessen lassen, aber man müßte an der Empfänglichkeit der menschlichen Natur für das Gute und damit überhaupt an der Möglichkeit der Erziehung verzweifeln, wenn man nicht glauben wollte, daß bei solcher Mischung von arm und reich manches Kind unauslöschliche Eindrücke in sich aufnehmen kann, die das ganze Leben lang dauern; und daß wirklich solche Erlebnisse aus der Kindheit uns durch das Leben begleiten und unsere An­ schauungsweise und unser Handeln dauernd beeinflussen, das kann jeder an sich selbst erfahren. Darauf beruht es denn, daß nicht wenige hervorragende Männer, die in ihrer Kindheit selbst die all­ gemeine Volksschule besucht haben, ihr zeitlebens eine warme Liebe bewahrt und gelegentlich in eindrucksvoller Weise das Wort geredet haben, wie dies z. B. von dem preußischen Kultusminister vr. Bosse bekannt ist. Selbst aus einer Großstadt wie München wird uns bezeugt, daß sich die Kinder in ihrer Freizeit keineswegs nach Stän­ den trennten, daß sie vielmehr einträchtig zusammen verkehrten, das Frühstück miteinander teilten und sich bei jeder Gelegenheit Hand­ reichung leisteten, daß Kinder wohlhabender Eltern ärmere bei jähr­ lichen Christbescherungen und anderen Gelegenheiten beschenkten, daß Schüler aus den verschiedensten Ständen Schulfreundschaften schlössen, die bis in ein späteres Lebensalter andauerten, und daß auch bei der Trennung der Wege nach der Elementarschule ein freundschaftlicher Abschied stattfinde. Daß in dieser Weise die ge­ meinsame Volksschule in den Kinderherzen das Gefühl der Nächsten­ liebe mächtig anzuregen, daß sie in vielen Fällen zwischen Armen und Reichen Achtung und Vertrauen zu erzeugen vermag, und daß auf solche Weise in gar manchen jungen Herzen Gemeinsinn und Menschenliebe kräftige Wurzeln zu fassen vermögen, wollen wir gern zugeben. Es wäre überhaupt kaum nötig, diese eigentümlichen Vorzüge, die das Gemeinschaftsleben einer allgemeinen Volksschule für die Erziehung haben kann, so eingehend darzulegen. In allen Dörfern und kleineren Städten gehen ja die Kinder von hoch und niedrig

60 mehrere Jahre lang zusammen in die Schule, und es gibt ohne Zweifel zahllose Männer der gebildeten Stände, die von innerlich wertvollen und nachhaltigen Eindrücken aus der Zeit dieses gemeinsamen Verkehrs zu berichten wissen. Aber auch hier wieder muß wie bei der Besprechung der allgemein sozialen Wirkungen des gemeinsamen Unterrichts aufs entschiedenste betont werden, daß ein günstiger Er­ folg ausschließlich von den gesamten sozialen und sittlichen Zu­ ständen der Bevölkerung abhängt. Derselbe Minister Bosse, der in seiner Selbstbiographie die gemeinsame Volksschule so warm rühmt, fügt doch alsbald den Ausdruck des Zweifels hinzu, ob diese Einrichtung für unsere modernen Großstädte passe; und es ist sehr bezeichnend, daß dieser Zusatz von den Freunden der Einheits­ schule überall weggelassen wird. Wo unter den verschiedenen Ständen das Gefühl der Zusammengehörigkeit überwiegt, wo also der gemeinsame Unterricht von der freien Zustimmung aller Be­ völkerungsklassen getragen wird, da vermag er segensreich zu wirken. In unseren heutigen Großstädten ist dies vielfach nicht der Fall. Wo auf der einen Seite ein übertriebener Reichtum und Luxus sich breit macht, auf der anderen Seite in größerem Umfang ein in materielle und sittliche Verwahrlosung versunkenes Proletariat vor­ handen ist, da muß das nötige Geineingefühl, ohne das der ge­ meinsame Schulbesuch unmöglich erzieherisch günstig wirken kann, vielfach auch schon beim jungen Geschlecht fehlen, namentlich da, wo die Sozialdemokratie mit Erfolg ihre verhetzende Tätigkeit aus­ übt. Unter solchen Umständen kann das tägliche Beisammensein der Kinder der verschiedenen Stände aus die Erziehung gerade schädlich einwirken, indem es auf der einen Seite Neid und Gehäs­ sigkeit, auf der anderen Seite Dünkel und Verachtung nur steigert. Geradezu qualvoll kann bei solchen Zuständen der gemeinsame Schulbesuch für die Kinder derjenigen Familien werden, in denen wahre geistige und sittliche Bildung heimisch ist. Ihnen kann durch die tägliche Berührung mit niedriger Gehässigkeit alle kindliche Harmlosigkeit und alles gutherzige Vertrauen zu den Nebenmenschen vor der Zeit geraubt werden; und das wäre die allerunheilvollste Wirkung der Einheitsschule. Denn sie würde gerade den hoffnungs­ reichsten und edelsten Teil des Heranwachsenden Geschlechtes aufs empfindlichste treffen. Deshalb soll man sich nur nicht mit dem Wahn täuschen, daß diese wirklich gebildeten Familien in unseren

61 heutigen Großstädten, in denen die Verhältnisse nun einmal für einen gemeinsamen Unterricht nicht angetan sind, sich die Einführung desselben ruhig gefallen lassen würden. Im selben Augenblick würden allenthalben Privatschulen aus dem Boden hervorschießen. Da könnte nur der von den Sozialdemokraten erstrebte staatliche Schulzwang helfen — d. h. äußerlich helfen; denn die schlimmen erzieherischen Wirkungen des gemeinsamen Schulbesuchs würden durch Anwendung von Zwang nur noch gesteigert werden. Aber glücklicherweise sind wir ja davor einstweilen sicher. Wenn also ein günstiger Einfluß der Einheitsschule auf die Erziehung ganz von den Verhältnissen abhängt, so kommt nun noch weiter in Betracht, daß auch in unseren höheren Schulen allent­ halben Reiche und Arme vereinigt sind, und daß es keine höhere Lehranstalt geben wird, in der nicht die Söhne der reichen Leute ebenfalls Gelegenheit hätten, im Verkehr mit wackeren Kameraden, die in dürftigen Verhältnissen leben, eine echt soziale Gesinnung zu betätigen. Aber ganz abgesehen davon kann unsere Schulerziehung dieses in der Mischung der armen und reichen Kinder gegebene Mittel unmöglich als unentbehrlich für die Erreichung ihrer Zwecke anerkennen. Denn es wäre doch Torheit, wenn man leugnen wollte, daß auch ohne solche Mischung den höheren Lehranstalten reichlich andere Mittel zu Gebot stehen, um selbst die höchsten Ziele, die der Erziehung des Heranwachsenden Geschlechtes gesteckt werden können, vollkommen zu erreichen. Und diese Erwägung ist unbedingt entscheidend; denn sie führt uns auf den zur Beurteilung der ganzen Frage allein richttgen Standpunkt. So wenig wie die sozialen, können die allgemein erziehlichen Gesichtspunkte für die Schulorganisatton maßgebend sein, sondern nur die unterrichtlichen. Wollte jemand das Gegenteil be­ haupten, so würde er mit dem Kopf allenthalben wider die Wände unserer tatsächlich bestehenden Schuleinrichtungen anrennen. Alle unsere Schulen sind zunächst Unterrichtsanstalten und können bei einem Kulturvolk nichts anderes sein. Sie sind also je nach den verschiedenen Unterrichtszielen organisiert und lösen ihre erzieherischen Aufgaben in engster Verbindung mit ihren besonderen Unterrichts­ aufgaben. Es muß einer jeden Schulgattung möglich sein und ist einer jeden möglich, mit ihren Mitteln bei ihren Zöglingen auf eine wahrhafte Bildung des Herzens und des Charafters hinzu­ arbeiten. Was insbesondere die höheren Schulen anbetrifft, so be-

62 sitzen sie ganz gewiß nicht nur im Religions- und Geschichtsunter­ richt und in der Lektüre unserer großen deutschen Dichter, sondern auch in der Behandlung unsterblicher Literaturwerke anderer Völker in alter und neuer Zeit die reichlichsten Mittel, um der Jugend alles Große, Edle und Schöne, was je der menschliche Geist erdacht und das menschliche Herz empfunden, in eindrucksvollster Weise nahe zu bringen und ihr die Überzeugung einzupflanzen, daß es nicht

der gefüllte Geldbeutel ist, auf dem Wert und Glück des Menschen beruht, sondern die ewigen geistigen und sittlichen Güter. Wer nicht einsieht, daß auf diesem Wege die höhere Schule auch ohn« gemeinsame Elementarschule alle die Tugenden fördern und pflegen kann, welche die moderne Sozialpädagogik erstrebt, und noch manche andere schönen Dinge dazu, der müßte doch an der Wirksamkeit eines jeden erziehenden Unterrichts überhaupt verzweifeln. In welchem Maße der reiche Same, der mit solchen Mitteln ausgestreut wird, aufgeht und Frucht trägt, das hängt von den Menschen und Ver­ hältnissen ab, genau so wie der erzieherische Erfolg der gemein­ samen Elementarschule. Und vor allem wollen wir nicht vergessen, daß in Hinsicht auf Herzens- und Charakterbildung der entschei­ dende Einfluß immer von der häuslichen Umgebung und der son­ stigen Umwelt der Schüler ausgeht, und daß die Wirkung der Schule auf diesem Gebiet im allgemeinen nur so weit reicht, als sie in den Einflüssen von Haus, Familie und Leben eine Stütze findet. Daß aber schließlich das wirkliche Leben den Beweis lieferte, daß die Männer der gebildeten Stände unseres Volkes, die doch zum großen Teil nie eine Volksschule besucht haben, an menschlicher, gemeinnütziger, nationaler Gesinnung hinter dem handarbeitenden Volk in Stadt und Land im Durchschnitt zurückstünden, das werden selbst die Freunde der Einheitsschule schwerlich behaupten wollen. Nach alledem vermögen wir uns nach sorgfältiger Abwägung der Vorzüge und der Nachteile gesonderter Vorschulen bei aller Sympathie für die idealen Ziele, die ihren Gegnern vorschweben, doch unmöglich zu dem Dogma von der allgemeinen Elementar­ schule zu bekehren. Im Gegenteil müssen wir daran festhalten, daß grundsätzlich, wie alle Lehranstalten, so auch die Elementar­ schulen nach den Lehrzielen zu organisieren sind, und daß also grundsätzlich gesonderte Vorschulen als die vollkommneren Bildungen angesehen werden müssen. Aber es liegt uns fern, nun etwa dar-

63 aus wieder ein starres Dogma machen zu wollen, was ja in Fragen der Schulorganisation überhaupt vom Übel ist. Und da

beim Elementarunterricht die Verschiedenheit der Lehrziele nicht so groß ist, um eine zwingende Notwendigkeit der Trennung zu be­ gründen, und andererseits die Gemeinsamkeit hier unleugbar ihre Vorzüge haben kann, so wird die Entscheidung in jedem Einzelfall von einer ruhigen und besonnenen Prüfung aller in Betracht kommenden Verhältnisse abhängen müssen. Das vielstimmige zornige Kriegsgeschrei gegen die Vorschulen aber wird auf diese Entscheidung nicht den geringsten Einfluß ausüben dürfen. Aus diesen Anschauungen ergibt sich nun die notwendige Fol­ gerung, daß wir die Forderung, den gemeinsamen Elementarunter­ richt sogar über fünf oder sechs Jahre auszudehnen und entsprechend den höheren Unterricht um zwei bis drei Jahre zu verkürzen, mit aller Entschiedenheit ablehncn. Denn wenn die Beeinträchtigung der verschiedenartigen unterrichtlichen Aufgaben durch den gemein­ samen dreijährigen Elementarunterricht noch erträglich ist, so würde sie bei einer Verlängerung desselben aus fünf bis sechs Jahre ohne allen Zweifel als unerträglich empfunden werden. Und zwar als unerträglich zunächst von den höheren Lehranstalten, sehr bald aber auch von der Volksschule. Hier bietet sich eine Gelegenheit, über die utopischen Hoffnungen, die man in Lehrerkreisen an die Einführung der allgemeinen Volks­ schule zu knüpfen pflegt, einige Worte zu sagen. Man erwartet von einem gemeinsamen Unterricht aller Kinder eine Hebung des Ansehens der Volksschule und ihres Lehrerstandes sowie eine ge­ steigerte Fürsorge für die Ausgestaltung und Ausstattung des Unterrichts und für die wirtschaftliche Lage der Lehrer. Unzähligemale hat man es nicht nur ausgesprochen, sondern auch in Lehrer­ versammlungen zur Resolution erhoben, daß die allgemeine Volks­ schule zu einem höheren Ansehen des Lehrerstandes und einer besseren Schätzung der Volksschule selbst beitrage, die Vorschule aber jener das lebendige Interesse und die warme Fürsorge der maßgebenden Kreise entziehe. Und als Haupttrumpf kommt dann zum Schluß immer die Behauptung, ihre Errichtung degradiere die Volksschule zur Armenschule. Es mag sein, daß sich viele Angehörige der höheren Stände mehr als jetzt für die Volksschule interessieren würden, wenn ihre

64 eigenen Kinder sie besuchten. Natürlich nur für die Elementarklassen! Aber von solchem allgemeinen und vagen Interesse wäre doch noch ein weiter Schritt zu der warmherzigen Fürsorge für die Volks­ schule, die man davon erwartet. Welche lockenden Bilder werden uns da von den Freunden der Einheitsschule vor die Augen ge­ zaubert! Der soziale Segen der Einrichtung soll sich nicht auf die Schüler beschränken, sondern sich auch auf die verehrten Eltern er­ strecken. Natürlich vor allem auf die Vornehmen und Reichen! Die sollen durch ihre Kinder mit sanfter Hand dazu geleitet werden, allen Hochmut und Kastengeist abzulegen. Sie sollen sich, wie Ries spottend sagt, durch ihre eignen Kinder die sozialen Mucken austreiben lassen. Denn es ist ja natürlich nur eine Folge ihres Hochmuts und Dünkels, wenn sie ihre Kinder lieber in besondere Vorschulen schicken wollen. Durch die allgemeine Volksschule werden sie nicht nur von diesem Standesdünkel geheilt, sondern er wird sogar im Handumdrehen in eine rege und liebevolle Teilnahme für jene Anstalt umgewandelt. Man möchte über die Naivetät, die sich in solchen Zukunfts­ bildern ausspricht, lächeln, wenn nicht gleich die Sozialdemokratie sich derselben bemächtigte und sie dazu verwendete, für ihre Partei­ zwecke Stimmung zu machen. So ruft z. B. der Abgeordnete Dr. David gelegentlich im hessischen Landtage aus: „Heute sagen sich die Herrschaften: ach die Schule ist gut genug für die Kinder vom Volke; ich schicke mein Söhnchen nach dem Gymnasium!" Derattige allgemeine, mit Temperament vorgebrachte Verdächtigungen werden ihre Wirkung auf irgendwelche größere Versammlung nie verfehlen. Und wie wenig können doch solche Behauptungen einer ruhigen Prüfung standhalten! Wer sich davon überzeugen will, möge die vortrefflichen Ausführungen von Ries nachlesen, denen wir rück­ haltlos zustimmen können. Allerdings hat die Volksschule Ursache, sich über mangelnde Schätzung seitens mancher Volkskreise und namentlich vieler Angehöriger der höheren Stände zu beklagen. Allerdings bleiben in Hinsicht auf Ausstattung der Volksschulen, auf Verkleinerung der Klassen, auf weiteren Ausbau des Unterrichts, auf die Ausbildung der Lehrer und auf ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung noch manche berechtigten Wünsche unerfüllt. Aber hier liegt die Schuld zum großen Teil in sehr realen finan-

65 ziellen Schwierigkeiten, und soweit sie aus mangelnder Schätzung herrührt, hängt diese in der Hauptsache mit der Eigentümlichkeit des Lehrerberufes und mit den dadurch wesentlich bestimmten ge­ sellschaftlichen Rekrutierungsgebieten des Lehrerstandes zusammen. Alle diese Momente zeigen sich selbst bei dem akademisch gebildeten

Lehrerstand in ähnlicher Weise wirksam. Und in Hinsicht auf die Volksschule trifft Ries den Nagel auf den Kopf, wenn er ein­ gehend darlegt, wie man sich nur von einer Vertiefung und Er­ weiterung ihrer eigenartigen Aufgabe und einer dadurch bedingten Erhöhung der Lehrerbildung, nimmermehr aber von der Aufnahme eines kleinen Prozentsatzes von Kindern besserer Familien in ihre Elemementarklassen eine Hebung ihres Ansehens versprechen kann. Wer dagegen meint, die höheren Stände würden besser für die Volksschule sorgen, wenn sie ihr die eigenen Kinder anvertrauten, der verwickelt sich in einen eigentümlichen Widerspruch. Ein solches lediglich egoistisches Interesse würde doch nur dazu führen können, daß man für die Unterklassen, für die sogenannte allgemeine Grund­ schule, aufs beste sorgte, um dann die Oberklassen, die eigentliche Volksschule, in der doch nun einmal die Trennung der Stände vollzogen sein muß, desto mehr zu vernachlässigen. Wahrlich, das könnte der Volksschule erfreuliche Aussichten eröffnen! Nicht ohne Grund stellt Ries solchen Unklarheiten den Satz gegenüber: „Re­ gierende Klassen, denen es einerlei ist, ob ihre eigenen Kinder in­ folge einer falschen Schulorganisation ein oder zwei Lebensjahre auf ihrem Bildungsgang verlieren, denen ist es erst recht einerlei, was aus den Kindern der anderen wird." Wenn man aber so tut, als ob zurzeit den höheren Ständen dieses Interesse überhaupt fehlte, so ist dies eine offenkundige Ver­ kehrung der Tatsachen, die durch den flüchtigsten Blick auf die Entwicklung unseres Volksschulwesens in den letzten 50 Jahren Lügen gestraft wird. Denn daß dieses im genannten Zeitraum in allen deuffchen Ländern bedeutende Fortschritte gemacht hat, kann doch wahrlich niemand verkennen. In eben den Jahrzehnten, in denen man in unseren größeren Städten Vorschulen und Mittel­ schulen gegründet hat, hat sich in denselben Städten die Volksschule in Hinsicht auf den Unterricht, auf Schulhäuser und Lehrmittel, auf die wirtschaftliche und die soziale Stellung der Lehrer mächttg gehoben und zu einem festgcgründeten, eigenartigen, achtklassigen Müller, Die Gefahren der Einheitsschule.

5

66 Schulorganismus entwickelt. Wir sehen ja doch die stattlichen, nach den neuesten hygienischen Grundsätzen musterhaft eingerichteten Volksschulhäuser täglich vor Augen, in denen unsere Städte geradezu einander zu überbieten suchen. Wenn uns aber irgendwo ein

altersgraues und den Anforderungen der Hygiene wenig entsprechen­ des Schulhaus aufstößt, so beherbergt es höchstwahrscheinlich eine höhere Schule oder Vorschule, für welche die maßgebenden Behörden den alten Kasten noch „für gut genug halten", dessen Benutzung sie den „Kindern des Volkes" vermutlich nicht mehr zumuten würden. So sieht jener vielgeschmähte Klassenegoismus der höheren Stände in unseren größeren Städten in Wahrheit aus! Und auch auf dem Lande finden wir überall neue stattliche Schulhäuser, die den unterrichtlichen und gesundheitlichen Anforderungen in jeder Hinsicht entsprechen. Wem verdanken denn die Kinder des Volkes das alles? Der Tätigkeit der Sozialdemokratie gewiß nicht und zumeist auch nicht den eigenen Vätern jener Kinder, sondern den zahlreichen wohlmeinenden und wahrhaft volksfteundlichen Männern in den staatlichen und städtischen Behörden, die, auch ohne ihre eigenen Kinder in die Volksschule zu schicken, doch wissen, was Pflicht und Gewissen von ihnen verlangen, und die jene Einrich­ tungen zum Wohl der Kinder des Volkes oft genug deren eigenen Vätern mit schwerer Mühe abringen müssen, wenn diese selbst dafür einige Opfer bringen sollen. Und trotz dieses offenkundigen Aufschwungs nimmt man die Miene an, als ob unsere deutsche Volksschule mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt gehalten habe und mehr und mehr in Ge­ fahr sei, zu verkümmern! Als ob nicht gerade die Zeit vor dem Entstehen aller unserer Vorschulen und Mittelschulen, die Zeit der berüchtigten Stiehlschen Regulative, insbesondere für die preußi­ sche Volksschule eine Zeit geistigen Druckes und äußeren Elendes gewesen wäre! Unsere Schwärmer für die Einheitsschule aber macht dies nicht irre, sondern sie beschwören unentwegt das Gespenst der längst verschwundenen Armenschule mit allen ihr anhaftenden Zügen von Unwissenheit, Elend und Hunger aus dem Grabe, um uns gruseln zu machen. Denn wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Welche Ähnlichkeit haben denn unsere heutigen Volksschulen mit den früheren Armenschulen? Verhalten sich überhaupt die Zöglinge der höheren Schulen zu

67 denen der Volksschule wie die Reichen zu den Armen? Wieviele Eltern ermöglichen ihren Kindern den Besuch der höheren Schulen nur unter schweren persönlichen Opfern, ja Entbehrungen! Und auf der anderen Seite schicken nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten sehr wohlhabende Leute ihre Kinder in die Volksschule. Freilich bringen es die modernen Verhältnisse mit sich, daß in gewissen Stadtteilen unserer Großstädte die Volksschulen über­ wiegend von Kindern armer Leute besucht werden. Aber gerade diese Schulen erfreuen sich der eifrigsten Fürsorge der städtischen Ver­ waltungen, die sich in unentgeltlicher Lieferung von Lernmitteln, Ge­ währung von warmem Frühstück, Badeeinrichtungen, Ferienkolonien und anderen Wohlfahrtseinrichtungen zeigt. Angesichts dieser Tat­ sachen und angesichts der gesamten großartigen sozialen Fürsorge unserer Zeit bekundet es einen wenig beneidenswerten Mut, wenn man behauptet, für Einrichtungen, die den Angehörigen der oberen Stände nicht unmittelbar zugut kämen, werde nichts getan, und man müsse dieselben vermittelst der allgemeinen Volksschule sozu­ sagen in eine soziale Zwangserziehung nehmen. Übrigens auch ein

durch und durch sozialistischer Gedanke, daß man die gebildeten Familien durch Entziehung des freien Verfügungsrechtes über den Unterricht ihrer Kinder zur Liebe zum Volk und zur Volksschule zwingen will! Andere Leute werden von solchem Zwang gerade die entgegengesetzte Wirkung erwarten. Nach alledem kann man die Befürchtung, daß die Errichtung von Vorschulen zu einer stiefmütterlichen Behandlung der Volks­ schulen führen müsse, wirklich nicht ernst nehmen. Verlassen wir also das Gebiet lufttger Phantasien und kehren wir auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Und da liegt völlig klar vor unserem Blick die Tatsache, die Ries mit treffsicherer Kritik aufgedeckt hat, daß die gemeinsame Volksschule mit darauffolgender Trennung der Schüler unter allen Umständen Erfolg und Ansehen des Volks­ schulunterrichts schädigen muß, daß aber diese Schädigung ins Un­ gemessene sich steigern würde, wenn der gemeinsame Unterricht über fünf bis sechs Jahre ausgedehnt würde. Denn jede Schule ist doch ein einheitlicher und eigenartiger Organismus mit besonderen Zwecken und besonderen Lebensgesetzen, die in allen ihren Teilen wirksam sein müssen. Welche Verkehrt­ heit, diesen Organismus in der Mitte gewaltsam knicken und zer5*

68 brechen zu wollen! In jeder Schule müssen die Unterklassen schon nach den Zielen des Ganzen eingerichtet sein, und wenn man natürlich auch solche Schüler, die nicht dem Endziel der Anstalt zustreben, nicht fernhalten kann, so muß doch der Unterricht so gestaltet sein, als ob alle den Oberklassen zustrebten. Das Gegen­ teil widerspricht allen vernünftigen pädagogischen Grundsätzen, die natürlich auch für die Volksschule als eine einheitliche Schulgattung gelten. Denn welche Wirkung muß es auf ihren Unterricht haben, wenn man den einheitlichen Bau in zwei ungleichartige Teile, die sogenannte allgemeine Grundschule und die Ergänzungsschule, aus­ einanderreißt? Die Grundschule arbeitet mit zwei verschiedenen Schülerschichten und will diese für zwei ganz verschiedene Ziele vorbilden. Den Schaden würden beide Teile haben, hauptsächlich aber die in der Mehrzahl befindlichen geistig weniger entwickelten Schüler. Denn notwendigerweise würde die ihnen nötige sorgfältige Pflege des Anschauungs- und Sachunterrichts leiden unter der anderen Aufgabe, die geistig entwickeltere Minderheit für die Aufnahme in die höheren Schulen vorzubereiten. Nun haben wir oben bereitwillig zugegeben, daß dieser Mißstand bei Beschränkung des gemeinsamen Unterrichts auf die drei Elementarklassen unter günstigen Verhält­ nissen nicht übermäßig fühlbar zu sein braucht; aber ein Mißstand ist es, grundsätzlich betrachtet, auf alle Fälle. Wie unerträglich würde er sich nun vollends geltend machen, wenn der gemeinsame Unterricht sich über fünf bis sechs Jahre erstreckte! Wenn man Menschen, denen ganz verschiedene Lebensaufgaben gestellt sind und die deshalb mit innerer Notwendigkeit auseinanderstreben, durch äußeren Zwang zusammenhält, so macht sich der Druck immer härter fühlbar, je länger er dauert. Man stelle sich vor, wir sollten gezwungen werden, unsere Gymnasiasten bis zur Altersstufe der Untertertia nach dem Lehrplan der Volksschule zu unterrichten! Würde nicht bei geweckten und geistig vorgeschrittenen Knaben, die schon in dem früheren Kindesalter durch Elternhaus und Lehrer eine Fülle von Vorstellungen und Anschauungen in sich aufnehmen und eine große sprachliche Fertigkeit erlangen, die weitere geistige Entwicklung jahrelang geradezu brach liegen, würden sie nicht systematisch von einer Betätigung und Übung ihrer Geisteskräfte

entwöhnt werden, und würde nicht dieser Zwang zur geistigen Untätigkeit gerade für die Besten ebenso qualvoll wie in seinen

69 weiteren Folgen gefährlich, ja vielleicht verhängnisvoll werden? Aber trotzdem würde die Hauptgefahr aller Wahrscheinlichkeit nach gerade den von Haus aus geistig mehr vernachlässigten ärmeren Kindern drohen. Denn jene unnatürliche Verbindung würde mit Not­ wendigkeit die Tendenz hervorrufen, den Unterricht mehr mit Stoff zu beladen, als dies deren Bedürfnissen entspricht, und so würden gerade die „Kinder des Volkes" nicht nur in ihrer Mehrheit ganz zwecklos mit überflüssigem Wissensstoff gequält werden, sondern auch massenhaft die Klassenziele nicht erreichen und während des besten Teiles ihrer Schuljahre von dem Gefühl niedergedrückt werden, vor eine Aufgabe gestellt zu sein, der ihre Kräfte nicht gewachsen sind. Der eine Teil unserer Jugend systematisch an Müßiggang gewöhnt, der andere systematisch überbürdet — wahr­ lich, recht erfreuliche Zukunstsaussichten! Aber was kümmert das die Fanatiker der Einheitsschule, wofern nur ihr alleinseligmachendes Dogma seine Herrschaft behält! Doch das ist nur ein Teil des Segens, der sich nach den Wünschen jener wohlmeinenden Schwärmer über die Volksschule ausgießen soll. Das beneidenswerteste Los ist ihren Oberklassen, der Ergänzungsschule, Vorbehalten. Denn ihr werden durch den ge­ meinsamen Unterbau in um so höherem Maß die besseren Elemente entzogen, über je mehr Jahre er ausgedehnt wird. Jeder höhere Aufbau, sagt Ries mit Recht, nimmt der Anstalt, auf die er auf­ gebaut ist, die besten Schüler weg. Wer darf es wagen, dieser Be­ hauptung zu widersprechen? Das ist ja gerade die treibende Kraft in der ganzen Einheitsschulbewegung, daß man den Intelligenzen in den unteren Ständen den Zutritt zu den höheren Schulen er­ leichtern will. Und daß schon die gemeinsame dreijährige Elemen­ tarschule die Wirkung hat, einen unverhältnismäßig hohen Prozent­ satz ihrer Schüler den höheren Lehranstalten zuzuführen, wird durch manche lehrreiche Erfahrungen, z. B. aus München, bestätigt, die im nächsten Kapitel besprochen werden sollen. Man beeilt sich, uns von dort aus die Versicherung zu geben, daß es mit der Flucht aus der Volksschule nicht so schlimm stehe, daß ihr Eigenleben da­ durch nicht geschädigt werde und die Leistungen ihrer Oberklasse durchaus gut seien. Wir wollen es glauben. Kann man sich aber einreden, daß dies auch dann noch so bleiben würde, wenn man die gemeinsame Grundschule über sechs Jahre ausdehnte? Wie würde

70 sich die Trennung der Schüler nach dem sechsten Schuljahre ge­ stalten? In drei weiteren Jahren könnten sie das Ziel der Realschule oder der Untersekunda unserer Vollanstalten erreichen und damit mancherlei wertvolle Berechtigungen erlangen; würden sie in der Volksschule bleiben, so müßten sie auch da noch zwei Jahre die Schule besuchen und erreichten damit äußerlich gar nichts. Und selbst wenn man alle unsere Berechtigungen abschaffen könnte, würden sie im ersten Fall für ihr Fortkommen in der Welt die größten Vorteile haben. Welche Schüler würden unter diesen Umständen in den Oberklassen der Volksschule bleiben? Wer nach Begabung und wirtschaftlicher Lage es nur irgend erreichen könnte, würde in die höheren Lehranstalten übertreten. Und zurückbleiben würden nur die geistig minderwertigsten Schüler — bei der von den So­ zialdemokraten erstrebten staatlichen Zwangsauslese die größten Dummköpfe aus allen Ständen, in Wirklichkeit aber wohl nur die­ jenigen, welche an materiellen und geistigen Gütern gleich arm wären. Das wäre dann eine richtige Armenschule in trostlosester Gestalt. Mit welch bitterem Gefühle müßten die bedauernswerten Insassen dieser Anstalt den Rest ihrer Schulzeit verbringen, um so trübseliger, je länger man ihnen vorher eine utopische Gleichheit vorgegaukelt hätte! Und welche Freude und welchen Stolz würde es dann in Zukunft gewähren, in den Oberklassen einer Volksschule zu unterrichten! Wahrlich, eine solche Volksschule der Zukunft wäre ja eine ideale Anstalt — unten ein Prachtbau für alles und alle, oben eine Armeleutshütte, wie Ries mit bitterem Spott sagt! Womit pflegen denn eigentlich die Vorkämpfer der Einheits­ schule ihre vernichtenden Anklagen gegen das bestehende Schulsystem allemal zu beginnen? Heißt es da nicht immer, die Volksschule sei heutzutage nicht das, was ihr Name besage, eine Schule für das gesamte Volk aller Stünde, sondern nur eine Schule für die handarbeitenden Klassen, kurz so was wie eine Armenschule? Ja, was ist sie denn jetzt unter den Händen unserer eifrigen Schulreformer geworden? Unten eine Allerweltsschule, oben eine richtige und echte Armenschule, kurz, ein Monstrum, eine Chimäre, etwas, was sich gar nicht definieren läßt, weil es einfach so was nicht geben kann. Und lesen wir nun wieder bei unseren reformbegierigen Freunden nach, so werden wir wirklich belehrt, man könne gar keine Definition beibringen, welche die ganze Volksschule umfasse, denn

71 sie sei gar keine einheitliche Anstalt, sie sei oben etwas ganz an­ deres als unten, und darum sei die Bezeichnung Volksschule zum mindesten unklar und müsse beseitigt werden. Wahrhaftig, jetzt ist der Name Volksschule wieder zu Ehren gebracht! Einer solchen Logik gegenüber muß man freilich die Waffen strecken. Und von einem solchen in sich gebrochenen, unten zwiespältigen und nach oben verkümmerten Schulmonstrum verspricht man sich eine Hebung des Ansehens der Volksschule und ihrer Lehrer? Auf welchem anderen Wege kann eine Schulgattung sich eine gesteigerte Wertschätzung erringen, als dadurch, daß sie als Ganzes mehr leistet, d. h. daß die Schüler, die sie regelrecht durchlaufen haben und nun ins Leben hinaustreten, ein tieferes und umfassenderes Wissen und ein sichereres Können aufweisen? Wie kann aber dazu auch nur die geringste Aussicht vorhanden sein bei einer Schule, bei der die in die oberen Klassen aufrückenden Schüler nicht, wie dies in allen anderen Lehranstalten der Fall ist, die besten, sondern gerade die schlechtesten sind, ja bei der wohl gar nur noch die Kümmer­ linge zurückbleiben? Als das schlimmste Übel aber, das die Ver­

kümmerung der Oberklassen der Volksschule im Gefolge haben müßte, bezeichnet Ries mit vollem Recht die völlige Unmöglichkeit, die Volksschule weiter zu entwickeln. Alle berechttgten Hoffnungen auf Ausgestaltung und womöglich Weiterführung ihres Unterrichts und auf wissenschaftliche Vertiefung der Lehrerbildung könnte die Volks­ schule für immer zu Grabe tragen, wenn jene sechsjährige Aller­ weltsschule zur Wirklichkeit würde. In solchen Oberklassen, wie sie dann blieben, käme man über ein ewiges Wiederholen und Besestigen der Elemente nicht hinaus. Die Volksschule müßte sich für immer wieder mit der Aschenbrödelstellung einer Elementarschule begnügen und für immer der stolzen Hoffnung entsagen, die eben die besten Männer unter ihren Lehrern erfüllt: daß sie sich mehr und mehr ausgestalten werde zu einer wahren Volksschule, d. h. zu einer Schule, in welcher der breiten Masse des dem praktischen Leben zustrebenden Volkes eine freie, echt menschliche Bildung über­ mittelt werde von einem der Größe seiner Aufgabe bewußten, wissen­ schaftlich gebildeten Lehrerstand. Zum Schluß wollen wir nicht versäumen zu bemerken, daß nach der von Natorp entworfenen Organisation des Schulwesens die geschilderten schlimmen Folgen der Einheitsschule für die Ober-

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klassen der Volksschule allerdings in Wegfall kommen würden. Denn nach seinem Plan wird die Bollsschule gar keine Obcrklassen haben, da nach dem Abschluß der sechsjährigen Einheitsschule die gesamte für die gewerblichen Berufe bestimmte Jugend für weitere sechs Jahre, also bis zum 18. Jahr, in eine Gewerbe- oder Real­ schule geschickt werden soll. Diese soll mit einem Grundstock all­ gemeinbildender, für alle gemeinsamer und obligatorischer Fächer eine möglichst reiche Fülle von Fachkursen verbinden, die je nach dem gewählten Beruf verschieden wären. Damit wäre der Ober­ stufe der Volksschule nun freilich radikal geholfen. Daß aber der vorgezeigte Weg in Wirklichkeit gangbar sei, wird außer den nächsten Gesinnungsgenossen Natorps schwerlich jemand glauben. Denn daß ein und dieselbe Schule vom 12. bis zum 18. Jahr die künftigen Kaufleute und kaufmännischen Angestellten, die Fabrikanten und Handwerker, die Techniker und Fabrikarbeiter, die Gutsbesitzer, Bauern und Tagelöhner vereinigen soll, und daß alle diese so un­ endlich verschiedenartigen Berufe in jener Schule eine völlig ge­ meinsame Allgemeinbildung erhalten sollen, erscheint uns als ein ganz unmöglicher Vorschlag, der die wirklichen Verhältnisse und die in jenen Ständen nun einmal ganz verschiedenen tatsächlichen Bildungsbedürfnisse vollständig ignoriert. Wir können also in jenem Entwurf nur eine reine Utopie erblicken, aber keinen organisatori­ schen Gedanken, der jemals den realen Verhältnissen zu genügen vermöchte. Ganz gewiß werden neben den Realschulen abschließende Volksschulklassen für die handarbeitenden Stände auch in Zukunft nötig bleiben. Wir verlassen damit das Gebiet des Volksschulunterrichts und wenden uns der Betrachtung der Folgen zu, die von der Einheits­ schule für den Unterricht der höheren Lehranstalten zu erwarten wären. Daß diese Folgen unheilvoll für unseren höheren Unter­ richt und unser deutsches Geistesleben sein müßten, ist leicht ein­ zusehen. Deutschlands höheres Schulwesen erfreut sich nicht nur in der ganzen Welt ohne Zweifel eines guten Rufes, sondern es hat auch, was wichtiger ist, am meisten dazu beigetragen, unser Voll aus dem Zustand äußerer Dürftigkeit und Ohnmacht zu der glän­ zenden Höhe materieller und geistiger Kultur emporzuheben, auf der es jetzt steht. Vor hundert Jahren, in der trübsten Zeit un-

73 seres Vaterlandes, wurden die humanistischen Gymnasien in Preußen organisiert zu dem ausgesprochenen Zwecke, das, was dem Staat an äußerer Macht fehlte, durch sorgfältigste Entwicklung aller gei­ stigen und sittlichen Kräfte der Nation zu ersetzen. Soweit man überhaupt aus dem erzielten Erfolg auf die Zweckmäßigkeit der an­ gewandten Mittel schließen kann, muß man urteilen, daß unser höheres Schulwesen in der Hauptsache sich bewährt und seine Probe glänzend bestanden hat. Denn in politischer Hinsicht hat kaum jemals ein anderer Staat so rasch und zielbewußt aus ge­ fährdeter Lage zu einer viel bewunderten und viel beneideten Groß­ machtstellung sich emporgeschwungen wie Preußen und mit ihm das Deutsche Reich. Betrachten wir unsere äußere Kultur, so zeigt sich uns in Industrie und Kunstgewerbe, in Technik und Handel eine Blüte, die im Ausland längst die Mißgunst der bisherigen Be­ herrscher des Weltmarktes erregt hat, und die im Innern die Lebens­ haltung aller Stände und nicht zum wenigsten der handarbei­ tenden Klassen im Lauf des letzten halben Jahrhunderts unendlich gehoben hat. Zugleich hat aber im vergangenen Jahrhundert auch die geistige Kultur eine gewaltige Entwicklung erfahren, und wenn man auf künstlerischem und religiös-sittlichem Gebiet zum mindesten von einem regen Leben sprechen kann, hat die deutsche Wissenschaft zu keiner Zeit noch so unübersehbar reich sich entfaltet wie im letzten Jahrhundert, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Naturwissen­ schaften sondern ebensosehr in den sprachlich-historischen Fächern. Dadurch ist Deutschland für ganz Europa das geworden, was Athen nach dem stolzen Wort der periklcischen Leichenrede für ganz Hellas war: die Schule geistiger Bildung. Und wenn uns von reformeifrigen Leuten neuerdings mitunter entgegengehalten wird, daß diese Schätzung deutscher Bildung im Ausland nachgelassen habe, ja daß wir in Gefahr seien, von anderen überflügelt zu werden, so können solche Ankündigungen so lange keinen besonderen Eindruck auf uns machen, als noch immer deutscher Fleiß auf allen Lebens­ gebieten im Wettkampf mit dem Ausland siegreich vordringt, und als wir überdies noch immer das vielfach recht zweifelhafte Glück genießen, die studierende Jugend aller möglichen zivilisierten und halbzivilisierten Nationen sich zu den Hörsälen unserer Universitäten und Technischen Hochschulen drängen zu sehen, deren Unterricht doch durchaus auf dem unserer höheren Lehranstalten sich aufbaut.

74 Unter solchen Umständen wäre es doch der Gipfel der Torheit, wenn man eine radikale Umgestaltung unseres höheren Schulwesens vornehmen wollte. Selbstverständlich muß auch auf diesem Gebiete im einzelnen fortwährend manches verbessert werden, und daß hier kein Stillstand herrscht, daß in mancher Hinsicht vielmehr des Guten eher zu viel als zu wenig geschehen ist, das beweist die Fülle von Lehrplänen und Lehraufgaben, von Prüfungsbestimmungen und sonstigen Verordnungen, die im letzten Menschenalter auf die höheren Schulen der verschiedenen deutschen Staaten niedergeströmt ist, und durch die in dem Unterrichtsbetrieb vielfach eine Unruhe und Un­ sicherheit hervorgerufen worden ist, die ihm nur hinderlich und schädlich sein kann. Vor allem aber ist man, und dies mit vollem Rechte, von der einseitigen Bevorzugung einzelner Lehrstoffe und Schulgattungen grundsätzlich zurückgekommen und hat in dem größten Teil Deutschlands die verschiedenen Formen der höheren Lehranstalten für gleichwertig und gleichberechtigt in der Vorbildung für alle höheren Berufe anerkannt; ja man hat gleichzeitig, um allen Bedürfnissen des modernen Lebens Rechnung zu tragen, in den Reformanstalten noch neue Schulformen geschaffen. Damit ist seit sechs Jahren ge­ wiß eine recht weitgehende und tiefeingreifende Umgestaltung unseres höheren Schulwesens vollzogen worden. Etwas ganz anderes aber wäre es, wenn man nach den Wünschen der Vorkämpfer der Einheitsschule für alle höheren Schulen gemeinsam den wissenschaftlichen Unterricht zugunsten des elementaren um zwei oder gar drei Jahre verkürzte. Damit würde aller höhere Unterricht ins Mark getroffen. Denn es würde ihm künftig ganz unmöglich sein, eben die Wirkung zu er­ reichen, in der sein eigentliches Ziel und unsere Stärke liegt: durch eine im frühen Knabenalter einsetzende, planmäßige und stetige Gewöhnung die für höhere Berufe bestimmten Schüler zu selbstän­ digem geistigen Arbeiten anzuleiten, durch selbsterarbeitetes, sicheres Wissen ihren inneren Menschen wahrhaft zu bilden und in ihnen damit zugleich Freude an geistiger Tätigkeit und Empfänglichkeit für den überragenden Wert idealer Güter zu wecken. Anstatt dessen würden künftig die großenteils geistig recht früh entwickelten Kinder der gebildeten Kreise in den wertvollsten Knabenjahren in unverantwottlicher Weise geistig vernachlässigt werden, um dann in sechs Jahren die Kenntnisse hasttg zu erraffen, die sie sich jetzt in stetigem

75 Fortschreiten in neun Jahren erwerben. Es wäre ganz ausge­ schlossen, auch nur rein äußerlich den gleichen Lehrstoff zu bewäl­ tigen und die gleichen Lehrziele zu erreichen wie in unseren jetzigen Schulen. Denn die starke Verkürzung der Unterrichtszeit würde keineswegs, wie man vielleicht behaupten könnte, ausgewogen durch eine größere geistige Reife und eine kräftigere innere Entwicklung der Schüler. Das Gegenteil wäre der Fall. Wenn man geweckte Knaben aus gebildeten Familien bis zum 12. Jahre nur mit dem Lehrstoff der Volksschule beschäftigen wollte, würde dadurch sowohl ihre Gedächtniskraft wie ihre intellektuelle Energie erschlaffen. Wir wollen dabei nicht auf die Frage eingehen, die neuerdings von den Freunden des alten Gymnasiums und denen der Reformschule mehrfach umstritten worden ist, ob das Gedächtnis mit dem Alter der Geschlechtsreife abnehme oder nicht. Darüber aber kann bei den Lehrern der höheren Schulen aller Richtungen keine Meinungs­ verschiedenheit herrschen, daß cs unverantwortlich wäre, die ohne Zweifel sehr starke Gedächtniskraft des früheren Knabenalters mehrere Jahre lang ganz ungenützt zu lassen und dadurch die Gedächtnis­ arbeit für die höheren Klassen ganz außerordentlich zu vermehren. Dazu würde noch der zweite hemmende Umstand kommen, daß die allgemeine Volksschule, wie oben gezeigt worden ist, den Zudrang der mittelmäßigen Köpfe zu den höheren Schulen noch bedeutend steigern müßte. Man würde also vor der Aufgabe stehen, mit durchschnittlich mittelmäßiger begabten und geistig weniger entwickelten und geschulten Knaben dasselbe Ziel wie jetzt in zwei Dritteln der Zeit erreichen zu sollen. Daß dies ein Ding der Unmöglichkeit wäre, bedarf keines Beweises. Wenn man aber daran denken wollte, die Schulzeit entsprechend zu verlängern, so wäre auch das ein sehr bedenklicher Ausweg. Ertönen doch ohnedies schon allenthalben die Klagen, daß heutzutage die Jünglinge noch in einem Alter zu einer streng geregelten und kontrollierten Pensen­ arbeit angehalten werden, in dem sie naturgemäß schon in einem freien, selbstgewählten Studiengang ihre geistigen Kräfte betätigen sollten! Aber die Unmöglichkeit, die gleichen äußeren Unterrichtsziele zu erreichen wie heute, wäre gar nicht der schlimmste Schaden, den die geforderte Verkürzung des höheren Unterrichts bringen müßte. Das Hauptübel wäre die Verflachung und Verkümmerung der

76 wahrhaften innerlichen Bildung unserer dereinst zu den leitenden Stellungen berufenen Jugend. Bei allen diesen radikalen Reform­ vorschlägen zeigt sich im Grunde doch eine ganz oberflächliche, grob materialistische Ausfassung von dem Wesen der Bildung wirksam. Die Bildung ist doch nicht eine Ware, die einer dem anderen fertig überliefert. Sondern die Bildung ist innere Entfaltung, Vertiefung und Veredelung unseres geistigen Wesens. Die Bildung ist niemals etwas Abgeschlossenes; keiner hat die Bildung, sondern wir alle sind in Bildung begriffen, und diese ist nichts anderes als das aus

unseren persönlichsten Kräften genährte organische Wachstum unserer geistig-sittlichen Anlagen, die bei jedem von uns wieder anders ge­ artet sind. Daher ist, streng genommen, der richtige Bildungsweg für jeden Einzelnen wieder ein anderer. Eine ausschließliche Einzel­ erziehung wäre natürlich nicht möglich und aus anderen Gründen auch nicht wünschenswert. Um so mehr wird aber der einsichtige Erzieher darauf bedacht sein, die Schulerziehung von Anfang an möglichst individuell zu gestalten und seinen Zöglingen nach Maß­ gabe ihrer Anlagen und der erlangten geistigen Reife so frühe wie möglich den Zugang zu weiteren Wissensgebieten, die für sie fruchtbar werden können, zu erschließen. Wer dagegen geistig vorgeschrittene Kinder in ihrer weiteren Entwicklung künstlich zurückhalten wollte, nur deshalb, damit die Arbeiterkinder leichter mit ihnen gleichen Schritt halten können, der würde an dem hoffnungsvollsten Teil unserer Jugend und damit an der Zukunft unseres Volkes in un­ verzeihlicher Weise sündigen. Es kommt also einer einsichtigen Erziehung gar nicht darauf an, daß die Schüler sich die verschiedenen Wissensgebiete mög­ lichst schnell aneignen. Errafftes Wissen, sagte Adolf Harnack auf der Junikonferenz 1900, bringt keine Freude. Man kann im Gegenteil, so paradox es manchem klingen mag, geradezu sagen: je längere Zeit der Bewältigung eines Wissensgebietes gewidmet wird, desto besser. Denn desto mehr leben sich die Schüler in ihm ein, desto tiefer senken sich die Wurzeln der geistigen Persönlichkeit in diese Gedankenkreise ein, und desto voll­ kommener ziehen sie aus ihnen die lebenspendenden Kräfte, von denen der innere Mensch sich nährt. Der wissenschaftliche Unterricht unserer höheren Schulen könnte also, wenn ihm drei Jahre des empfänglichsten Knabenalters entzogen würden, keineswegs mehr die

77 gleiche bildende Wirkung ausüben, selbst wenn äußerlich die gleichen Ziele erreicht würden. Es würde zu weit führen und ist auch für die Zwecke unserer Untersuchung überflüssig, zu erörtern, wieweit die einzelnen Fächer unseres höheren Unterrichts unter einer solchen Verkürzung seiner Zeitdauer leiden müßten. Nur auf einen besonders wichtigen Punkt sei zum Schluß noch hingewiesen. Die Hauptkosten der geplanten Reform würde nach der Meinung ihrer Wortführer natürlich der klassische Unterricht zu tragen haben. Kein Zweifel, daß der stille Herzenswunsch, ihm den Todesstoß zu versetzen, gar manchen von ihnen ganz wesentlich in seinem reformerischen Tatendrang bestärkt. In diesem Punkt zeigt sich recht deutlich, wie wenig doch die radikalen Vorkämpfer der Einheitsschule die Lebensmächte zu wür­ digen wissen, von denen sich das geistige Leben der Kulturmenschheit nährt und weiterhin nähren wird. Wie völlig falsch man auf jener Seite vielfach die Bedeutung und die Kraft des religiösen Lebens einschätzt, kann in diesem Zusammenhang nicht weiter be­ sprochen werden. Da verkennt man gänzlich die von Adolf Harnack kürzlich bei der Kaiserfeier der Berliner Universität wieder hervorgehobene Tatsache, daß bei uns Deutschen die christliche Religion in den Tiefen unseres inneren nationalen Lebens ver­ ankert und mit unserem höheren Dasein unauflöslich verbunden ist, und daß wir die Aufgabe haben, die religiösen Lebensäußerungen der Nation in inniger Verbindung mit allen geistigen und natio­ nalen Funktionen zu halten und zu fördern. Eine Tatsache übrigens, der auch Paulsen erst jüngst wieder allerlei Schwarmgeistern gegenüber den entschiedensten Ausdruck gegeben hat, indem er darauf hinwies, daß die Religion ein wichtiges, vielleicht doch das allerwichtigste Stück des geschichtlichen Lebensinhalts der Menschheit ausgemacht habe, daß das Christentum noch heute wie ein allgegen­ wärtiges Element alle Lebensäußerungen der abendländischen Welt durchdringe, und daß deshalb nicht nur der unvergleichliche Wert der Bibel, sondern auch die Rücksicht auf die geschichtliche Kontinuität den Unterricht in der christlichen Religion zu einer bleibenden und notwendigen Aufgabe der Schule mache. Aber eben für die Bedeutung der geschichtlichen Kontinuität auf religiösem sowohl wie auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet mangelt heute weiten Kreisen jedes Verständnis, und daraus

78 erklärt sich die ganz falsche Wertung des klassischen Altertums, die aus den Forderungen der meisten Verfechter der Einheitsschule spricht. Die landläufigen Urteile über die Antike, die man selbst von wissenschaftlich gebildeten Leuten zu hören gewohnt ist, verraten in der Tat einen bedauerlichen Mangel an Einsicht. Da wird ganz gewöhnlich die Anschauung ausgesprochen, daß die Antike für unsere moderne Kultur kein wesentliches Bildungselement mehr sein könne, weil sie durch die Erfolge dieser modernen Kultur weit überholt sei; daß sie weder in Religion, noch Wissenschaft, noch Kunst, noch Technik, noch Staatsleben, noch auf irgend einem anderen Gebiet für uns die Geltung einer Norm und eines Vorbildes beanspruchen könne; daß sie also als Unterrichtsgegenstand ein sonderbares Über­ bleibsel des Mittelalters sei, das sich auf unerklärliche Weise in der modernen Schule erhalten habe und möglichst bald und gründ­ lich beseitigt werden müsse. So denkt die große Menge. Was weiß sie auch davon, daß das klassische Altertum die gemeinsame geistige Heimat des ganzen gebildeten Abendlandes ist, weil in ihm die Wurzeln unserer gesamten wissenschaftlichen und künstlerischen, ja zum großen Teil unserer sittlich-religiösen Kultur liegen? Auch starke Wurzeln des Christentums, das während mehrerer Jahr­ hunderte in der Sprache des griechischen Volkes und in inniger Berührung mit den Gedanken griechischer Denker sich entwickelt hat, und das nach dieser Seite hin gewiß die Erfüllung jahrhunderte­ langer religiöser Sehnsucht der antiken Völker bildet. Aus diesen Gründen ist die Kenntnis der Antike die wichtigste Angelegenheit der abendländischen Menschheit. Nicht deshalb, weil ihre Anschau­ ungen und Leistungen für uns noch normative Bedeutung hätten; das behauptet natürlich kein vernünftiger Mensch. Sondern einmal deshalb, weil das, was die gesitteten Völker einheitlich verbindet, eben jene gemeinsame geistige Abstammung von der Antike ist, und weil die Einheit der Kulturmenschheit auseinanderfallen würde, wenn wirklich jemals die Kenntnis des Altertums ihnen verloren gehen könnte. Ferner aber und hauptsächlich deshalb, weil die Natur­ wissenschaft uns das Prinzip des Evolutionismus zum Bewußtsein gebracht und uns klar gemacht hat, daß wir ein Resultat unserer Vergangenheit sind, daß diese in uns fortlebt, und daß wir deshalb die Antike, in der die Anfänge unserer ganzen Kultur liegen, kennen lernen müssen, um uns selbst richtig zu erkennen und unser Geschick

79 vernünftig leiten zu können. Und weil aus solchen Gründen die Kenntnis der Antike die größte Angelegenheit der abendländischen Menschheit ist, deshalb ist der klassische Unterricht ein organisches Bildungselement der europäischen Völker, und zwar das allerwich­ tigste. Daraus folgt natürlich nicht, daß alle Gebildeten durch die Schule der klassischen Sprachen hindurchgehen müssen, wohl aber, daß unter ihnen eine genügend große Anzahl von Männern vor­ handen sein muß, welche die Antike durch eigene Studien kennen und somit auch der Gesamtheit eine lebendige Kenntnis des Alter­ tums zu vermitteln und zu verbürgen vermögen. Nach wie vor wird es also trotz aller Angriffe auf die Gymnasien dabei bleiben, daß es eine der wichtigsten Aufgaben der Schulorganisation ist, für Bildungsanstalten zu sorgen, in denen eine für solche Studien befähigte und gestimmte geistige Elite schon in den Schuljahren eine möglichst gründliche Kenntnis des klassischen Altertums er­ werben kann. Wir können hier derartige Betrachtungen nur kurz berühren, empfehlen aber allen, die sich für diese Fragen interessieren, die Lektüre des 1905 erschienenen vortrefflichen Buches des Petersburger Universitätsprofessors Th. Zielinski „Die Antike und wir", aus dem uns zum Schluß noch ein schönes Wort anzuführen er­ laubt sei: „Wenn die Eiche ihre Wurzeln tief ins Erdreich versenkt, auf dem sie wächst, so tut sie das nicht, weil sie zurück in die Erde wachsen will — sondern weil sie aus diesem Boden die Kraft schöpft, die es ihr ermöglicht, sich zum Himmel zu erheben und alle Sträucher und Gräser, die ihre Lebenskraft nur aus der Oberfläche erhalten, zu überwachsen. Die Antike soll nicht die Norm, sondern eine belebende Kraft der heutigen Kultur sein." Daß aber die Einheitsschule zu einer Verkümmerung des klassischen Unterrichts führen müßte, läßt sich mit unbedingter Sicherheit vorhersagen. Zunächst würde man trotz der starken Verkürzung der dem wissenschaftlichen Unterricht gewidmeten Jahre möglichst die früheren Lehrziele zu erreichen suchen. Die den höheren Lehranstalten gestellte Aufgabe der Vorbildung für die wissenschaftlichen Studien der Hochschulen würde mit Notwendigkeit zu diesem Bestreben drängen. Es würde natürlich erfolglos sein, würde aber trotzdem eine unerträgliche Überbürdung der Schüler

im Gefolge haben.

Die ganz unsinnige und zwecklose völlige Ent-

80 lastung der früheren Schuljahre von jeder tüchtigen Arbeit würde sich rächen in der Nötigung, die Kräfte der Schüler nach dem ver­ späteten Beginn des höheren Unterrichts bis aufs äußerste anzu­ spannen. Die Folge wäre ein Sturm der Entrüstung bei Schul­ hygienikern und Schulreformen: gegen den gesundheitsmörderischen Betrieb der höheren Schulen und das leidenschaftliche Verlangen nach Vereinfachung des Lehrstoffes. Und das Hauptangriffsobjekt wäre natürlich derjenige Unterricht, dessen Ergebnisse sich am wenigsten in Mark und Pfennig umrechnen lassen, der Unterricht

in den klassischen Sprachen. Dieser würde an der Einheitsschule mit unfehlbarer Sicherheit zugrunde gehen, und das warme und lebendige Interesse, das manche Sozialpädagogen, wie gerade Natorp, für die humanistische Bildung hegen, würde dieser Ent­ wicklung ganz gewiß nicht Halt zu gebieten vermögen. Man wird schon lange den Einwand auf der Zunge haben: Was beweisen alle diese rein theoretischen Erwägungen? In solchen Dingen muß doch die praktische Erfahrung das letzte Wort sprechen. Und hat man denn nicht die Einheitsschule in ganz ähnlicher Weise, wie sie jetzt von vielen in Deutschland verlangt wird, in mehreren außerdeutschen Ländern bereits eingeführt? Besteht sie ja in der Beschränkung auf die drei Elementarklassen selbst in einem großen Teil unseres Vaterlandes! Unser Urteil muß in letzter Linie doch von den Ergebnissen abhängen, die man dort in Wirklichkeit erzielt hat! Allerdings! Und indem wir uns deshalb jetzt der Betrachtung der Folgen zuwenden, welche die mehr oder weniger weitgehende Verwirklichung der Einheitsschule in anderen Ländern und in Deutschland gebracht hat, können wir im voraus bemerken, daß die praktischen Erfahrungen die Ergebnisse unserer theoretischen Erwägungen in den wichtigsten Punkten durchaus bestätigen.

4. Maktische Erfahrungen mit der Einheitsschule im Ausland und Inland. Um die Vorzüge einer einheitlichen Schulorganisation zu er­ weisen, beruft man sich mit Vorliebe auf die guten Erfahrungen, die man mit ihr im Auslande, namentlich bei unseren skandinavi­ schen Nachbarn gemacht habe, nicht ohne zugleich mit Mißbilligung unserer deutschen Schwerfälligkeit zu gedenken, die uns mehr und mehr in Gefahr bringe, von anderen Völkern auf dem Gebiet des Jugendunterrichts überholt zu werden. Nun wird gewiß kein Mensch bestreiten, daß wir im Schul­ wesen auch die im Ausland zutage tretenden Bestrebungen aufmerk­ sam verfolgen und von ihnen lernen sollen. Leider zeigt sich jedoch bei der Besprechung unserer Frage eine bedenkliche Neigung, alles, was von unseren Nachbarn anders gemacht wird als von uns, gleich auch für besser zu halten; eine Neigung, die mit der aller­ gefährlichsten Schwäche des deutschen Nationalcharakters, der über­ triebenen Bewunderung alles Ausländischen, so offensichtlich zusam­ menhängt, daß sie jeder Freund unseres Volkes schon allein deshalb bekämpfen sollte. Nichtsdestoweniger leisten manche Schulreformer, sobald sie ihre Lieblingsideen im Ausland irgendwie verwirklicht sehen, int kritiklosen oder tendenziösen Lob solcher Einrichtungen ganz Erstaunliches. Da wird nicht gefragt, ob denn die gehofften günstigen Wirkungen durch unbefangene und sachkundige Beobachter auch tatsächlich bestätigt, ob nicht vielleicht auf der anderen Seite schlimmere Schäden festgestellt sind, und ob Schuleinrichtungen, die im wilden Westen von Nordamerika oder in einem kleinen Schweizer Kanton eine einfache Notwendigkeit sind und auch den Bedürfnissen genügen mögen, sich zur Grundlage für das gesamte Erziehungs­ wesen eines großen und führenden Kulturvolkes eignen. Sondern

Müller, Die Gefahren der Einheitsschule.

6

82 jede Äußerung in Literatur, Presse oder parlamentarischen Verhand­

lungen, die der ersehnten Einheitsschule günstig lautet, wird unbe­ sehen zu ihrer Empfehlung verwendet. Ein Mann, wie Emil Ries, der die Dinge zu sehen versteht, wie sie wirklich sind, faßt gegenüber solcher unverständigen Verherr­ lichung fremder Einrichtungen das Resultat seiner Kenntnis des

ausländischen Volksschulwesens in dem Urteil zusammen, daß nicht ein einziger preußischer, hessischer oder sächsischer Lehrer seine Stel­ lung mit der eines Kollegen aus den klassischen Ländern der Ein­

heitsschule würde vertauschen wollen. Und in Hinsicht auf die höheren Schulen fällt einer unserer erfahrensten Schulmänner, der Geheimrat Uhlig in Heidelberg, der selbst über sieben Jahre an außerdeutschen Anstalten unterrichtet und in späteren Jahren von dem Erziehungswesen der meisten europäischen Kulturstaaten eine

unmittelbare Anschauung gewonnen hat, das Urteil, daß wir in der gesamten Organisation des höheren Unterrichts den anderen Kultur­ völkern überlegen seien, und daß wir im ganzen einen recht unvor­ teilhaften Tausch machen würden, wenn wir unsere Einrichtungen mit fremdländischen vertauschten.

Doch prüfen wir die vorliegenden

Tatsachen selber! Als die Länder, in denen das Ideal der allgemeinen Volks­ schule verwirklicht sei, preist man uns namentlich Österreich, die

Schweiz, Skandinavien und die Vereinigten- Staaten. In allen diesen Ländern gibt es keine besonderen Vorschulen für die höheren Lehranstalten. Wenn man indessen schon darin die be­ wußte Durchführung des Grundsatzes der Einheitsschule erblickt, so ist nicht recht ersichtlich, warum man nicht noch weiter greift. Genau so wie in Österreich fehlen die Vorschulen auch in Ungarn, Kroa­ tien und Slavonien, Bosnien, Bulgarien, Serbien, Ru­ mänien; in allen diesen Ländern erfolgt der Eintritt in die höheren Lehranstalten aus der vierten Volksschulklasse. Ähnlich ist es auch

in Rußland, und in der Türkei ist, wie man versichert, sogar

das Prinzip der Einheitsschule wirklich durchgeführt in einer dreiklassigen Elementar-, einer ebenfalls dreiklassigen Mittel- und einer vierklassigen höheren Schule. Nun begreifen wir ja recht wohl, daß

man Bedenken trägt, uns den Osten und Südosten von Europa als Vorbild in der Gestaltung des Bildungswesens hinzustellen. Aber nicht recht begreiflich ist es, daß man immer mit solchem Eifer

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auf Österreich hinweist.

Denn mit den Ergebnissen des öster­

reichischen Volksschulwesens kann man ganz gewiß auch keinen Staat machen. Es ist richtig, daß die achtklassigen Gymnasien und sieben«

klassigen Realschulen dieses Landes ihre Schüler alle nach dem vierten Schuljahr aus den Volksschulen erhalten. Über die Erfolge

des höheren Unterrichts zu sprechen liegt hier kein Grund vor; jedenfalls können sie den Vergleich mit dem, was bei uns erreicht wird, nicht aushalten. Worauf es hier ankommt, ist die unum­ stößliche Tatsache, daß die genannte Einrichtung der Volksschule jedenfalls nicht den Segen gebracht hat, den die Freunde der Ein­ heitsschule uns von ihr in Aussicht stellen. Es wird von niemand in Abrede gestellt, daß die österreichische Volksschule, die erst durch das

Gesetz von 1869 eine feste Grundlage erhalten hatte, schon seit lange wieder in unaufhaltsamem Verfall begriffen ist. Fast die Hälfte, in manchen Kronländern fast drei Viertel aller Volksschulen sind bloß einllassig; ein Drittel derselben hat nur halbtägigen Unterricht, und dieser breitet sich z. B. in den Alpenländern immer mehr aus; die Erfolge dieses Unterrichts aber veranschaulicht die Tatsache, daß nach dem Ergebnis der Volkszählung von 1900 etwa 4 Millionen der Bevölkerung weder lesen noch schreiben und etwa 750000 nur lesen konnten. Wurden doch z. B. im Schuljahre 1902/3 in den österreichischen Kronländern insgesamt etwa 240000 völlig gesunde Kinder im schulpflichtigen Alter dem Schulbesuch entzogen, von denen allerdings 200000 allein auf Galizien kamen. Es fällt uns natürlich nicht ein, der Einheitsschule die Schuld an diesen Zuständen aufzubürden. Mit Recht machen österreichische Schul­ männer für den Rückgang der Volksbildung den Kampf der poli­ tischen und nationalen Parteien verantwortlich, welche die Schule zu ihrem Zankapfel gemacht haben. Aber das sollten doch unsere Schwärmer für die sozialpolitische Mission der Schule aus den österreichischen Verhältnissen lernen, wie ohnmächtig ihr Einfluß ist, wenn einmal die im Volksleben schlummernden Interessengegensätze entfesselt sind. Noch wichtiger ist indessen die Erkenntnis, die sich uns bei unbefangener Würdigung der Schulverhältnisse jener östlichen Länder aufdrängt, daß diese sogenannte allgemeine Volksschule dort ganz gewiß nicht als ein Ergebnis umsichtiger pädagogischer Über­ legung anzusehen ist, sondern daß sie zunächst lediglich diejenige 6*

84 Form des Elementarunterrichts darstellt, die bei einfachen Kultur­ verhältnissen aus äußeren Gründen allein möglich ist, und daß sich diese Form dort bisher erhalten hat, sei es, weil sie den Bedürf­ nissen noch immer genügt, sei es einfach nur infolge des Beharrungs­ vermögens. Darüber zu urteilen ist uns natürlich nicht möglich; jedenfalls aber liegt in dem gemeinsamen Elementarunterricht jener Länder keine prinzipielle Entscheidung für die Einheitsschule, die auch von anderen Völkern mit andersartigen Kulturverhältnissen in Betracht gezogen zu werden verdiente, da man es ja dort mit der entgegengesetzten Form des Elementarunterrichts überhaupt niemals versucht hat. Vom Südosten Europas ist es ein weiter Weg zu den Ver­ einigten Staaten von Amerika, und doch ist es gerechtfertigt, wenn wir an dieser Stelle im Vorübergehen einen Blick auf das genannte Land werfen. Denn auch dessen Schuleinrichtungen sind durchaus unter dem Gesichtspunkt zu würdigen, daß man dort genötigt war, bei außergewöhnlich primitiven Zuständen und unter sehr schwierigen Verhältnissen möglichst rasch die für die Bedürf­ nisse des praktischen Lebens unentbehrlichsten Schuleinrichtungen zu schaffen. Bon Zeit zu Zeit reist aus dem alten Europa irgend ein Gelehrter oder Schulmann nach der neuen Welt jenseits des Ozeans, um das dortige Unterrichtswesen zu studieren, und kommt wohl auch von solchem naturgemäß an anregenden Eindrücken reichen Ausflug voll Bewunderung der amerikanischen Einrichtungen zurück. Man übersieht gar zu leicht, wie vieles von ihnen die notwendige Folge von Verhältnissen ist, die bei uns vollständig fehlen, und wie viele Schattenseiten den vorhandenen Vorzügen gegenüberstehen. Und die anderen, die keine eigene Anschauung jenes Landes be­ sitzen, lesen doch mit staunender Bewunderung in ihrer Zeitung von den Millionenschenkungen, die amerikanische Nabobs aus ihren viel­ fach sehr skrupellos erworbenen Riesenvermögen für Bildungszwecke zu machen lieben. So steht denn das nordamerikanische Schul­ wesen in unserer öffentlichen Meinung in hoher Gunst. In sehr ergötzlicher Weise entwirft Ries ein Lobschema, wie es in vielen pädagogischen Blättern zur Anwendung komme, wenn von der nordamerikanischen Volksschule die Rede sei. Diese gelte, so heißt es da immer, dem Amerikaner als das Heiligtum seiner Natton;

85 in ihren Räumen sitze der Sohn des Präsidenten der Republik neben dem Sohn seines Kutschers auf derselben Bank; ihr Unter­ richt und alle Lernmittel seien völlig frei, und in ihr würden Knaben und Mädchen für das praktische Leben trefflich ausgerüstet. Witzig bemerkt Ries, daß dieser Lobrede die Fortsetzung fehle, die ihr erst rechten Wert verleihen würde: „Infolgedessen sind in Amerika im privaten wie im öffentlichen Leben die Gegensätze zwischen hoch und niedrig, arm und reich außerordentlich abge­ schwächt. Kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter begegnet in allen Kreisen gebührender Verachtung. Der Lehrer, dessen Wirksamkeit diese segensreichen Folgen zu verdanken sind, ist ein hochgeachteter Mann und aller Sorgen ums tägliche Brot überhoben." Aber, fährt er treffend fort, die Wirllichkeit rede eine ganz andere Sprache, nämlich: „Nirgends steht das Geldprotzentum und die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter und aller unteren Volksschichten, sei es durch Private, sei es durch Trusts und Syndikate, in solcher Blüte wie in den Vereinigten Staaten. Von einem Lehrerstand im deutschen Sinn kann man überhaupt nicht reden; jeder einzelne steht lediglich in Vertragsverhältnissen, nach deren jeweiligem Ab­ lauf ihm niemand mehr etwas schuldig ist. Schulverwaltung und Schulaufsicht liegen in den Händen von Parteimännern, die eine geradezu schrankenlose Gewalt über ihre Untergebenen und nicht selten eine ebenso schrankenlose Unwissenheit besitzen. Von einer Pension für Lehrer oder deren Relikten ist gar keine Rede; so et­ was kennt man hierzulande nicht. Deshalb legen sich die Lehrer, die ihr Leben im Dienste der Schule verbringen wollen oder müssen, die ungeheuersten Opfer in Gestalt von Kassenbeiträgen auf, um int Alter mit den Ihrigen nicht völlig darben zu müssen. Die Sorge der Staaten und Kommunen für Bauten und für Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln geht vielfach sehr weit; nicht selten wird hier wirklich Luxus getrieben. Aber die Sorge für die Lehrer­ bildung läßt viel zu wünschen übrig. Man trifft deshalb im Dienste der Schule Gescheiterte aus allen Berufsarten an, die die Schularbeit als letzten Not- und Rettungsanker ergriffen haben." Wir haben diese Sätze wörtlich angeführt, weil sie die von den Freunden der Einheitsschule an diese geknüpften phantastischen Hoffnungen durch den Hinweis auf offenkundige Tatsachen in ihrer Nichtigkeit treffend kennzeichnen. Viele werden zwar geneigt sein,

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die hier geübte Kritik für einseitig und ungerecht zu erklären. Dem­ gegenüber muß aber bemerkt werden, daß gerade amerikanische Gewährsmänner von den dortigen Schulverhältnissen Schilderungen entwerfen, die jenes Urteil als im großen nnd ganzen zutreffend erscheinen lassen. Es ist ganz richtig, daß man in den wichtigsten Staaten der Union große Anstrengungen zur Hebung der Volksbildung macht, die sich nicht nur in der lebhaften Fürsorge für die Volksschulen äußert, sondern auch in der Veranstaltung von Abendschulen und unentgeltlichen Vorträgen sowie in der Begründung zahlreicher Bolksbibliotheken und Lesehallen. Aber ganz falsch wäre es, wenn man diese Bemühungen aus idealen Beweggründen herleiten wollte. Sie sind vielmehr ein Gebot bitterer Not für ein Land, dessen Bewohner im Verlauf des letzten Jahrhunderts aus allen Ländern zusammengeströmt sind und nun notdürftig zu Bürgern eines Staates zusammengeschweißt werden sollen. Sie sind ferner ebenso notwendig, um die großenteils ganz ungebildeten Einwandererscharen mit den Kenntnissen auszustatten, die für die Aufgaben des Erwerbs­ lebens unentbehrlich sind. Und auf den Erfolg im geschäftlichen Leben zielen schließlich alle Einrichtungen des Landes auch auf dem Gebiet des Bildungswesens ab. Welche starken Antriebe dieses gerade durch den Wunsch emp­ fangen hat, die Kinder der Einwanderer recht schnell zu ameri­ kanisieren, hat kürzlich Dr. E. Schultze in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft nachgewiesen. Die jährliche Einwanderung in die Union, deren Zahl sich seit 1881 immer zwischen 300000 und 600000 Menschen bewegt hatte, führte ihr seit 1901 durchschnittlich 766000 und im letzten Zählungsjahr 1905/6 sogar über eine Million neuer Bewohner zu. Unter diesen Einwanderern befindet sich nun ein bedeutender Prozentsatz von Analphabeten, namentlich seitdem jene hauptsächlich aus Italien, Österreich und Rußland kommen; im Jahr 1905/6 betrugen sie fast 25°/0 der Gesamtzahl. Daraus erwachsen aber einem Land mit demokratischem Wahlrecht um so größere Gefahren, als auch unter den eingeborenen Amerikanern noch Millionen von Analpha­ beten vorhanden sind. Was Schultze darüber mitteilt, ist so lehr­ reich, daß es hier wörtlich angeführt werden möge: „In Europa sind darüber ganz falsche Vorstellungen verbreitet. Man glaubt

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gewöhnlich, daß in einem Lande, in dem so viele Volksbildungs­ einrichtungen vorhanden sind, und in dem ein solcher Bildungs­ enthusiasmus zu herrschen scheint, wie in der Union, die dauernde Beharrung eines großen Teils der Bevölkerung im Analphabeten­ zustand unmöglich sei — oder, wenn wirklich eine nennenswerte Zahl von Analphabeten vorhanden sei, daß sie dann nur durch die starke Negerbevölkerung ihre Erklärung finden könne, die wohl der Bildung nicht so zugänglich sei wie die weiße. Tatsächlich liegen die Dinge jedoch so, daß die Zahl der Analphabeten in den Vereinigten Staaten eine ganz enorme ist: sie beträgt nicht weniger als 6303837 Köpfe. Auf die Gesamtbevölkerung von 76303837 Köpfe berechnet — beide Zahlen sind dem Zensus des Jahres 1900 entnommen — ergibt sich sonach ein Prozentsatz von acht Analphabeten auf je 100 Einwohner. Dabei stellen nicht etwa die Neger das Haupt­ kontingent — sondern die Weißen. Und unter diesen wiederum nicht die Eingewanderten — sondern die im Lande selbst Geborenen. Genau umgekehrt also, als man annehmen möchte." Es gab 1900 in der Union nicht weniger als 18 Staaten, in denen man über 100000 Analphabeten zählte, und darunter waren auch gerade die im Bildungswesen vorgeschrittensten Nordstaaten, wie New Jork und Pennsylvanien mit je 300000 Analphabeten sowie Massa­ chusetts. Wenn nun im Norden wenigstens die Hauptschuld an den großen Massen von Einwanderern liegt, sind im Innern und namentlich in den Südstaaten die meisten Analphabeten eingeborene Weiße. Woher rühren diese Zustände? Es gibt in der Union noch immer 16 Staaten, die keine Schulpflicht kennen, sondern nur Freischulen besitzen. Namentlich scheuen sich die Südstaaten die Schulpflicht einzuführen, aus Furcht, dadurch der zahlreichen Neger­ bevölkerung zu nützen. Aber auch in denjenigen Staaten, die eine obligatorische Volksschule besitzen, erstreckt sich die Schulpflicht keines­ wegs überall über das ganze Jahr; in manchen begnügt man sich mit 16, mit 12, ja in Kentucky mit 8 Wochen. Überall aber ist

Schulschwänzen an der Tagesordnung, und an eine strenge Durch­ führung der Schulpflichtgesetze wird nur in wenigen Städten gedacht. Man sieht, die vielgerühmte amerikanische Volksschule ist einst­ weilen nichts anderes als ein nur für die dringendsten Anforde­ rungen des praktischen Lebens berechneter Notbau, und sie vermag selbst diesen dringendsten Anforderungen nur sehr unvollkommen

88 gerecht zu werden. Auch alles, was über ihren inneren Betrieb mitgeteilt wird, ist nur geeignet, diesen Eindruck zu verstärken. Der Unterricht der Volksschule ist durchaus auf das praktische Leben zugeschnitten und erfolgt noch heute großenteils in ganz mecha­ nischer Weise im Anschluß an gedruckte Textbücher, die von den Schülern auswendig gelernt und vom Lehrer einfach abgefragt werden. In der Einführung von Schulbüchern ist man ganz von den reichen Verlegern abhängig, deren Einfluß auf die periodischen Wahlen so bedeutend ist, daß alle Versuche, sich von ihnen zu emanzipieren, bisher erfolglos geblieben sind. Die Schulzucht läßt viel zu wünschen übrig, wogegen mancherlei Auszeichnungen und Belohnungen zur Anstachelung des Ehrgeizes sehr beliebt sind. Die materielle und soziale Lage des Lehrerstandes ist sehr wenig be­ friedigend. Die Lehrerbildung steht noch in den Anfängen, die Volksschullehrer sind schlecht bezahlt, rekrutieren sich aus den är­ meren Schichten und genießen im ganzen bis jetzt ein geringes An­ sehen. In manchen Staaten ist das Lehrerzeugnis eine reine Posse. Fast der ganze Volksschulunterricht wird übrigens von Lehrerinnen erteilt, deren Zahl im Verhältnis zu der Zahl der Lehrer ständig zunimmt und zurzeit etwa 90°/, ausmacht. Die Frauen be­ herrschen also die Volksschule, und bisher hat man noch keinen Versuch gemacht, diesen Zustand, der den Amerikanern selbst als ein geradezu hoffnungsloses Problem erscheint, zu ändern. Schon diese eine Tatsache genügt, um zu zeigen, wie hoch die Volksschule, dieses „Heiligtum der Nation", dort wirklich im Werte steht. Die Männer ziehen es natürlich vor, sich dem Geschäftsleben zu widmen, in dem ihnen die Jagd nach dem Dollar viel lockendere Aussichten gewährt. Eine beständige Quelle der Korruption ist die Abhängig­ keit der Schule von den politischen Körperschaften und Machthabern. Die Schulaufsichtsräte werden vom Volk gewählt, und mit jeder neuen Wahl sind die Lehrer und namentlich die besser gestellten sogenannten Superintendenten in Gefahr, entlassen zu werden, um einem guten Freund oder Schützling irgend einer neu gewählten Parteigröße Platz zu inachen, wie dies tatsächlich nur zu oft vor­ kommt. Was schließlich die vielgepriesene Koedukation, die gemein­ same Schulerziehung beider Geschlechter, anlangt, so reden neuer­ dings selbst amerikanische Stimmen von einem völligen Zusammen­ bruch dieses Systems. Aus allen diesen Tatsachen ist jedenfalls

89 völlig klar zu erkennen, daß der Amerikaner zwar das Geld und den Stolz hat, um sich die äußere Einrichtung der Schulen etwas kosten zu lassen, daß ihm auch der praktische Nutzen des Schul­ unterrichts völlig klar ist, daß aber bei ihm das Verständnis für das Wesen wahrer Bildung und für den Wert geistiger Güter noch recht mangelhaft entwickelt ist, und noch viel mangelhafter die Fähig­ keit, der Pflege der idealen Aufgaben des Volkslebens das eigene Leben zu weihen. So urteilte Ernst Renan über das amerika­ nische Schulwesen recht ungünstig: „Die Völker solcher Länder, wie z. B. der Vereinigten Staaten, welche große Schulsysteme geschaffen haben ohne ernste, höhere Pädagogik, werden noch auf lange Zeit hin diesen groben Fehltritt büßen durch die Resultate ihrer geistigen Mittelmäßigkeit, Grobheit, Oberflächlichkeit und ihres Mangels an allgemeiner Bildung." Daß ein Volk, das sich bei der Regelung seines Bildungs­ wesens ganz einzigartigen Schwierigkeiten gegenübergestellt sieht, und das unter solchen Umständen selbst für die nächsten Bedürfnisse des Volksunterrichts bis jetzt nur mangelhaft zu sorgen vermag, erst recht nicht in der Gestaltung seines wissenschaftlichen Unterrichts für alte Kulturnationen vorbildlich sein kann, ist doch selbstverständ­ lich. Natürlich gibt es in der Union keine Vorschulen, sondern in den maßgebenden Staaten schließen sich an die achtjährige Volks­ schule vierjährige Gymnasien oder High Schools an. So besitzt man dort allerdings die „allgemeine Volksschule". Aber welche andere Organisation des öffentlichen Unterrichts wäre auch bei den Zuständen jenes Landes für den Anfang überhaupt möglich gewesen, und was können wir Deutsche aus alledem lernen? Mit berech­ tigtem Spott ruft Ries im Hinblick auf solche von der öffentlichen Meinung gepriesene angebliche Musterstaaten aus: „Weil sie in ihrer Rückständigkeit und Unbeholfenheit alle Schülermassen unter­ schiedslos jahrelang zusammenwerfen, haben sic natürlich die.all­ gemeine Volksschule', und das deckt ihrer Sünden Menge." Wir kehren von unserem transatlantischen Ausflug wieder in unseren Erdteil zurück. Von allen außerdeutschen Ländern scheint keines geeigneter, zugunsten der Einheitsschule angeführt zu werden, als die Schweiz, die uns durch Abstammung und Gesit­ tung des größeren Teiles ihrer Bewohner am nächsten steht, und die in ihrem Bildungswesen allezeit nur ein Annex von Deutsch-

90 land gewesen ist. Denn das schweizerische Schulwesen baut sich durchweg auf der Grundlage der allgemeinen Volksschule auf. Aber

auch in der Schweiz ist dieser gemeinsame Elementarunterricht in einfachen Verhältnissen von selbst erwachsen, nicht das Ergebnis einer grundsätzlichen Entschließung. Im einzelnen ist eine Be­ urteilung des schweizerischen Schulwesens sehr schwierig. Denn die Bundesverfassung bestimmt nur im allgemeinen die Einrichtung eines obligatorischen und unentgeltlichen Primarunterrichts, überläßt aber alles weitere den Kantonen. Infolgedessen gibt es in der Schweiz 25 besondere Schulverfassungen, die in ihrer Gesamtheit eine fast unübersehbare Musterkarte der verschiedensten Einrichtungen enthalten. Immerhin sind die Grundzüge überall dieselben. Die Grundlage des gesamten Unterrichts bildet die Primarschule, die einige Jahre hindurch, meist bis zum 6. Schuljahr, von allen Kindern besucht wird. Neben den oberen Klassen der Primar­ schulen gehen die Sekundarschulen her, an manchen Orten auch Bezirks- oder Realschulen genannt, in denen eine fremde Sprache gelehrt wird. Ebenso beginnen die für die höheren Berufe vor­ bereitenden Gymnasien, Industrieschulen und Handelsschulen meistens erst mit dem 12. Lebensjahr. Über den Stand des schweizerischen Volksschulwesens zu ur­ teilen ist bei der großen Verschiedenartigkeit der Gnrichtungen eine

mißliche Sache. Während man in Kantonen wie Zürich, Bern, Baselstadt, Aargau, Waadt einen völlig durchgeführten acht-, mit­ unter selbst neunjährigen Unterricht hat und in den Baseler Volks­ schulen sogar Französisch gelehrt wird, bringen es die Verhältnisse in den Hochgebirgsgegenden mit sich, daß man sich dort vielfach mit sechs vollständigen Schuljahren begnügt und sich nachher mit Repetier- oder Fortbildungsschulen hilft, denen nur eine ganz be­ schränkte Unterrichtszeit während einiger Wochen oder an bestimmten Tagen zur Verfügung steht. Daß das schweizerische Volksschulwesen trotzdem ein sehr erfreuliches Bild gewährt, und daß vor allem der obligatorische Schulunterricht nicht bloß auf dem Papier steht, sondern in allen Kantonen ohne Ausnahme wirklich durchgeführt ist, unterliegt keinem Zweifel. Daß aber die dortigen Schulen unseren deutschen etwa überlegen wären oder im Durchschnitt auch nur gleich kämen, wird man schwerlich behaupten wollen. Es ist ja auch ohne weiteres klar, daß diese Buntscheckigkeit der Schulformen

91 nicht reiner pädagogischer Einsicht ihr Dasein verdankt, sondern in der Hauptsache eine notwendige Folge der gegebenen äußeren Ver­ hältnisse, der eigenartigen staatlichen Verfassung und geographischen Gestaltung dieses Landes ist. Immerhin ist dieser enge Anschluß des eigentlichen Volksunterrichts an die lokalen Verhältnisse und Bedürfnisse keine üble Sache und in manchen Beziehungen einer völligen Uniformierung, wie sie in größeren Ländern mit der staat­ lichen Schulaufsicht notwendig verbunden ist, vielleicht vorzuziehen. Einen großen Vorzug wird man jedenfalls auch einerseits in der sorgfältigen Pflege des Fortbildungsunterrichts, andererseits in der allgemeinen Verbreitung der den norddeutschen Mittelschulen ent­ sprechenden Sekundarschulen erblicken dürfen, die dem eigentlichen Bürgerstande eine ausreichende Bildung gewähren. So ist es ganz glaublich, daß für die Bedürfnisse der breiteren Volkskreise dort aufs beste gesorgt ist, und daß sich diese bei den bestehenden Einrichtungen durchaus wohl fühlen. Weniger wohl fühlen sich vermutlich die schweizerischen Volks­ schullehrer. Obgleich die Söhne der reichen und vornehmen Leute sechs Jahre lang in der Volksschule sitzen, ist von einer liebevollen Fürsorge für die Lehrer wenig zu bemerken; ihre Besoldung ist ge­ ring und ihre Stellung wenig beneidenswert. Da die Lehrergehalte teils von den Gemeinden, teils vom Staate ausgebracht werden, ist es selbst in einem so bildungseifrigen Kanton wie Zürich bisher noch nicht gelungen, sie auf eine zeitgemäße Höhe zu bringen, während die an die Tätigkeit der Lehrer gestellten Anforderungen sehr weit gehen. Das Schlimmste ist die völlige Unsicherheit ihrer Stellung. Sie werden von den Gemeinden immer nur auf ein paar Jahre gewählt und sind ganz abhängig von den lokalen Schulräten, in denen Gevatter Schneider und Handschuhmacher das große Wort führen. Wenn ihre Vertragszeit abgelaufen ist, sind sie immer in Gefahr, nicht wiedergewählt zu werden und ohne Einkommen und ohne Pension auf der Straße zu liegen. Das sind die Segnungen, welche die schweizerische Einheitsschule bisher dem Lehrerstand ge­ bracht hat! Wie steht es nun mit den schlimmen Wirkungen, die wir von dem gemeinsamen Unterricht auf die Schüler erwarten zu müssen glaubten? Treten sie auch in der Schweiz hervor ? Ohne allen Zweifel! Freilich scheinen sie dort nicht nach der Seite des Volksschulbetriebes sich fühlbar zu machen, sondern aus-

92 schließlich den höheren Unterricht zu treffen. Daß infolge der Nebenaufgabe der Primarschule, auf den höheren Unterricht vorzu­ bereiten, die Kinder der unteren Stände unter Stoffübcrladung oder überhastetem Betrieb zu leiden hätten, hat unseres Wissens nie je­ mand behauptet. Denn da alle Schuleinrichtungen den lokalen Be­ dürfnissen angepaßt sind, so ist cs ganz natürlich, daß die Primar­ schulen in ihrem Unterricht auf die besonderen Anforderungen der höheren Lehranstalten keine Rücksicht nehmen, und das ist unter den gegebenen Verhältnissen nur zu loben. Daß aber der höhere Unterricht dadurch außerordentlich erschwert werden muß, das läßt sich von vornherein erwarten und durch mancherlei einwandfreie Zeugnisse belegen. Zunächst scheinen auch die Erfahrungen in der Schweiz dafür zu sprechen, daß die allgemeine Volksschule den Zudrang zu den höheren Berufen noch zu vermehren geeignet ist. Die höheren

Schulen sind für ein Land von 3 Millionen Einwohnern ziemlich zahlreich und erfreuen sich durchschnittlich auch eines recht guten Besuches. Und über die Überfüllung der gelehrten Berufe ertönen in der Schweiz seit Jahrzehnten dieselben Klagen wie bei uns. Nicht nur zur ärztlichen Praxis, sondern auch zum Pfarramt und zum Lehramt der höheren Schulen findet ein übermäßiger Zudrang statt. Und doch sollte man in der Schweiz nach den demokratischen Einrichtungen und Anschauungen des Landes eher das Gegenteil erwarten. Denn weder gewähren dort die gelehrten Berufe eine so günstige und gesicherte materielle Lage wie bei uns, noch erfreuen sie sich der gleichen hohen Schätzung gegenüber den Berufen des praktischen Lebens. Nur diese Gegenwirkungen sind es anscheinend, die in der Schweiz trotz der Einheitsschule einer Überfüllung der

gelehrten Studien einigen Einhalt tun. Deutlicher läßt sich erkennen, daß der höhere Unterricht unter der ungenügenden Vorbildung der Schüler, die er meist erst mit dem 12. Jahr aus der Primarschule erhält, und der Verminderung der ihm zugcwiesenen Jahre entschieden zu leiden hat. Dafür, daß man in Zürich über die unzureichende Vorbereitung der eintreten­ den Schüler tatsächlich zu klagen hat, bringt Uhlig Zeugnisse bei. Er selbst bekundet aus seiner mehrjährigen Lehrtättgkeit am Gym­ nasium in Aarau, daß die Schüler mit sehr ungleichmäßigen Kenntnissen aus den mit fakultativem altsprachlichen Unterricht

93 versehenen Bezirksschulen eintraten, und daß selbst noch nach der Errichtung eines Progymnasiums in Aarau der Unterricht in der untersten Gymnasialklasse eine außergewöhnliche Mühe verursachte. Ebenso bezeichnet der rühmlichst bekannte Straßburger Professor Theobald Ziegler, der fünf Jahre am Gymnasium in Winter­ thur unterrichtet hat, die Vorteile der dortigen Einrichtung als illusorisch, ihre Nachteile aber als tatsächlich groß. Und die Gefahr, die wir von einem so lang ausgedehnten Volksschulunterricht für die Kinder der gebildeten Familien befürchtet haben, die Gefahr geistig zu verbummeln, hat Ziegler in der Schweiz durch die Er­ fahrung bestätigt gefunden. Er sagt: „Weil den Jungen in den letzten zwei Jahren vor ihrem Eintritt in das Gymnasium nichts Ernstliches mehr zugemutet worden war, so waren gerade die auf­ gewecktesten unter ihnen flüchtig und oberflächlich geworden, sie nahmen es leicht mit der Arbeit und waren nur schwer an den Ernst des Lateinischlernens zu gewöhnen." Trotzdem halten die schweizerischen Gymnasien die Ziele unserer deutschen Anstalten fest. Aber da sie erst so spät anfangen, gehen sie notgedrungen über die bei uns übliche Gesamtschulzeit meist um ein halbes, mitunter um ein ganzes Jahr hinaus. Auch so können sie dem wissenschaftlichen Unterrichte meistens nur 6’/., bis 7 Jahre widmen. Weil sie aber dasselbe erreichen wollen wie wir in neun Jahren, hastet man von Anfang an rücksichtslos voran, und die Folge ist eine wirkliche Überbürdung. „Ich habe", sagt Ziegler, „niemals Schülern soviel zugemutet, zumuten müssen, als den vier­ zehn- und fünfzehnjährigen Jungen, mit denen ich in Winterthur das Griechische anzufangen hatte." Ebenso bekundet Uhlig von der aargauischen Kantonsschule in Aarau: „Dort habe ich, was man wirklich Überbürdung nennen kann, reichlich in einer Zweifel

ausschließenden Weise kennen gelernt, auch bei Schülern, die als gut begabt bezeichnet werden konnten, und ich habe oft genug in Deutschland daran zurückgedacht, was meine zähen schweizerischen Schüler an Arbeitslast ertrugen. Und zugleich ist mir völlig klar geworden, worin diese Überbürdung wurzelte. Sie hatte den Grund, daß, obgleich die Jahreskurse für das Lateinische und Griechische vermindert waren, man trotzdem wenigstens strebte, noch einiger­ maßen auf diesen Gebieten zu erreichen, was dem in Deutschland bei ausgiebigerer Zeit Erzielten ähnlich sah." Daß in Wahrheit

94 dasselbe erreicht werde wie in den deutschen Gymnasien, stellen die beiden genannten Beurteiler entschieden in Abrede. Wenn man allerdings die Lehrpläne der schweizerischen Gymnasien ansieht, staunt man über die Menge klassischer Schriftsteller, die da aufgezählt

werden. Aber es ist bei so beschränkter Zeit doch gar nicht anders möglich, als daß einerseits weniger gelesen wird als bei uns, wie dies Ziegler für Winterthur ausdrücklich feststellt, und daß nament­ lich die grammatischen Grundlagen nicht fest genug gelegt werden und man über ein tastendes Halbwissen vielfach nicht hinauskommt.

Daß man aber auch in der Schweiz in fachmännischen Kreisen sehr wohl weiß, daß der wissenschaftliche Unterricht zu einem er­ folgreichen Betrieb eigentlich eine größere Anzahl von Jahren nötig hat, beweisen zwei in solchen Dingen gewiß maßgebende Kantone, Bern und Baselstadt. In beiden zweigt sich das Gymnasium schon mit dem zehnten Jahr von der Primarschule ab und umfaßt dort 8*/2, hier 8 Jahre, stimmt also in der Gesamtdauer seines Unterrichts mit unseren deutschen Anstalten nahezu überein. Unsere Besprechung der schweizerischen Einrichtungen verfolgt keineswegs die Absicht, das dortige Schulwesen herabzusetzen. Wohl aber müssen wir die Organisation an sich als eine unvollkommene bezeichnen. Sie ist aus den eigentümlichen Verhältnissen des Lan­ des hervorgewachsen und findet jetzt in seinen demokratischen Ein­ richtungen und Anschauungen ihre Stütze. Daß die Schweizer aus so mangelhaften Schulgebilden so Gutes zu machen verstehen, daß sie mit ihrem demokratischen Bekenntnis zur allgemeinen Volksschule eine eifrige Pflege der wissenschaftlichen und namentlich auch der klassischen Bildung zu vereinigen wissen, daß infolgedessen die Schweiz am deutschen Geistesleben in Kunst und Wissenschaft einen sehr rühm­ lichen Anteil hat, das erfüllt uns gewiß mit Bewunderung vor der zähen Tüchtigkeit des allemannischen Stammes. Daß aber die schweizerischen Einrichtungen geeignet wären, uns zum Vorbild zu dienen, müssen wir entschieden bestreiten. Vor allem wird man in den größeren Verhältnissen unserer deutschen Staaten bei aller Schulorganisation insofern von vornherein weiter blicken müssen, als man die richtige Gestaltung des wissenschaftlichen Unterrichts als ebenso wichtig anerkennen wird wie die des eigentlichen Volks­ unterrichts. Wenn die Kantone Uri oder Nidwalden mit ihren rund 15000 Einwohnern ihr Schulwesen staatlich regeln, so ist es

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ganz natürlich, daß sie ihr Augenmerk ausschließlich auf die Be­ dürfnisse der Bauern und Bürger richten und zufrieden sind, wenn sie für diejenigen, die studieren wollen, im Anschluß an ihre Volks­ schulen die notdürftigsten Schuleinrichtungen geschaffen haben. Die größeren deutschen Bundesstaaten werden die Wichtigkeit des höheren Unterrichts für die Zwecke der Gesamtheit in ihrer Schulverfassung grundsätzlich ganz anders berücksichtigen müssen. Daran werden alle Reformbestrebungen auch in Zukunft voraussichtlich nichts ändern. Ob schließlich selbst die ernsten und arbeitswilligen Allemannen auf die Dauer die starken Anstrengungen ertragen werden, die ihre Einrichtung des höheren Unterrichts den Schülern zumutet, das muß die Zukunft lehren. Allzu vertrauensvoll werden wir in dieser Hinsicht nicht sein dürfen, wenn wir an das Beispiel der stamm­ verwandten skandinavischen Völker denken. Damit kommen wir zu denjenigen Ländern, die uns bisher das einzige Beispiel eines grundsätzlich und folgerichtig durchgeführten einheitlichen Schulsystems bieten. Denn bei unseren nordischen Vettern hat in der Tat der Ge­ danke der einheitlichen Schulorganisation seit einem halben Jahr­ hundert maßgebenden Einfluß auf den öffentlichen Unterricht erlangt und im Verlaufe zweier Menschenalter allmählich eine bewußte Ent­ scheidung für die Einheitsschule herbeigeführt. Bei allen drei skan­ dinavischen Völkern gewährt die allgemeine Volksschule die Vorbil­ dung für den höheren Unterricht und ist dieser selbst nach dem unseren Reformanstalten zugrunde liegenden Prinzip auf einer latein­ losen Unterstufe aufgebaut. Diese Organisation des höheren Unter­ richts wurde zuerst 1850 in Dänemark eingeführt, dann 1869 in Norwegen und zuletzt 1873 auch in Schweden, wo man übrigens schon 1849 den ersten Schritt auf dieser Bahn getan hatte. Man besitzt also dort schon längst im wesentlichen den von unseren Refor­ mern geforderten organischen Zusammenhang des ganzen Schul­ wesens, in der Art, daß an die gemeinsame Volksschule sich eine Art Bürgerschule oder Realschule anschließt und der eigentliche Gym­ nasialunterricht auf die Oberstufe beschränkt ist. Was lehren uns aber die Erfahrungen, die man in Skandi­ navien mit der Einheitsschule gemacht hat? Keine einzige von den segensreichen Wirkungen, die man ihr zuschreibt, ist tatsächlich eingetreten. Vielmehr zeigen sich alle die Mißstände, die angeblich

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von unserer fehlerhaften Schulgestaltung herrühren, dort noch in erhöhtem Maße. Wirklich erreicht hat man nichts als eine Ver­ kümmerung des wissenschaftlichen Unterrichts, die nur zu einer Ver­ flachung des geistigen Lebens jener Nationen führen kann. Die Freunde der Einheitsschule wollen uns einreden, diese werde die Entscheidung über den zukünftigen Bildungsgang um einige Jahre hinausschieben bis zu der Zeit, wo man Klarheit über die Begabung der Schüler erlangt habe, werde damit die Eltern vor der Gefahr schützen, ihre Jungen von vornherein einen ihren Anlagen nicht entsprechenden Bildungsweg einschlagen zu lassen, sie werde den Schülern den Übergang zu einem praktischen Beruf erleichtern und den übergroßen Andrang mittelmäßiger Köpfe zu den gelehrten

Studien verhindern. Die Tatsachen aber beweisen, daß sie gerade die umgekehrte Wirkung hat, daß sich nämlich dem Gymnasium und dem Universitätsstudium nicht nur alle die Schüler zuwenden, die auch bei uns von Anfang an diesen Weg eingeschlagen hätten, son­ dern aus sehr begreiflichen Gründen auch noch eine Anzahl anderer, die beim Bestehen getrennter Bildungsanstalten für prakttsche Be­ rufe besttmmt worden wären. _ Infolgedessen hat die Einheitsschule in Skandinavien gerade eine Überfüllung der akademischen Berufs­ arten gefördert, die allgemein zugestanden und von Uhlig aus den Frequenzzahlen der Universitäten Upsala, Lund, Stockholm, Kristtania und Kopenhagen ziffermäßig nachgewiesen worden ist. Daß dies Übel aber wirklich durch die Einheitsschule vermehrt worden sei, be­

zeichnete Professor Schjött an der Universität Kristiania als eine dort allgemein verbreitete Meinung, und dasselbe gaben 1891 auch der damalige Leiter des höheren Unterrichtswesens Norwegens Dr. Knudsen sowie die zur Reform des Schulwesens eingesetzte norwegische Unterrichtskommission unumwunden zu. Hier sei nur das Urteil angeführt, das der Professor der Geschichte Odhner in Lund bei den Verhandlungen des Universitätssenates über diese Fragen abgab: „Eine der hauptsächlichsten Ursachen für den Rück­ gang der Beamtenbildung bei uns liegt in der starken Überschwem­

mung mit schlecht begabten und für Studien ungeeigneten Aspi­ ranten. Solche hat es wohl zu allen Zeiten gegeben, aber als ver­ einzelte Ausnahmen. Doch in unserer Zeit hat sich ihre Zahl in bedenklicher Weise vermehrt. Dieses ist aber eine natürliche Folge von der Schulorganisation, die 1849 eingeführt wurde und nachher

97 weiter entwickelt worden ist. Sie geht darauf aus, in einer und derselben Schule alle die zu vereinigen, die eine höhere Bildung als die der Volksschule suchen, allen da eine gemeinsame bürgerliche Bildung zu geben, was für einen Beruf sie auch in der Zukunft wählen werden. Es hat sich jedoch ergeben, daß nicht für alle Bildungsbedürfnisse auf dieselbe Weise und nach derselben Methode gesorgt werden kann, daß verschiedene Zwecke auch verschiedene Un­ terrichtspläne fordern. Die verschiedenen Zwecke haben einander im Wege gestanden und haben alle durch die Zusammenkoppelung ge­ litten. Eine von den schädlichen Folgen ist die gewesen, daß eine Menge Zöglinge, die keineswegs für den Studienweg beanlagt sind, verlockt worden sind, ihre Studien durch die Schule hindurch fort­ zusetzen und dann ihr Brot im Dienste des Staates zu erwerben. Bei uns werden alle in dieselbe Form gegossen, wenigstens bis zu der Zeit, wo die Lateinlinie und die Reallinie sich trennen. Der für die Studien Ungeeignete hat denselben Unterricht wie der dafür Begabte genossen und wird dadurch, da keine eigentliche Abschließung innerhalb der Schule vorkommt, aufgefordert, den Kameraden so­ weit als möglich zu folgen." Ferner beweist das Beispiel unserer nordischen Vettern, daß schon die allgemeine Durchführung des lateinlosen Unterbaues in den unseren Tertten und Sekunden entsprechenden Klassen eine allgemein zugegebene Überbürdung der Schüler im Gefolge hatte.

Vor allem haben die 1885 veröffentlichten eingehenden Unter­ suchungen des bekannten Stockholmer Professors der Medizin Axel Key eine so weitgehende schädliche Wirkung des höheren Unter­ richts auf die schwedischen Schüler festgestellt, daß nach Uhligs Urteil selbst die extremsten Behauptungen über die Gesundheits­ unserer deutschen Schuleinrichtungen nicht an seine Angaben hinanreichen. Nun mögen dabei vielleicht noch andere Ursachen mitwirken; aber es ist doch klar, daß schon allein die starke Entlastung der Unterklassen, wie sie im lateinlosen Unterbau liegt, zu einer Mehrbelastung der mittleren und höheren Gymnasial­ klassen mit Notwendigkeit beitragen muß. Und daß dieser Zu­ sammenhang von einsichttgen Männern in Skandinavien llar erkannt wird, beweisen unter anderem die 1885 von den schwedischen Universitätssenaten und Fakultäten über die Gestaltung der Schulen erstatteten Gutachten. So bezeichnete das Urteil des akademischen

schädlichkeit

Müller, Die Gefahren der Einheitsschule.

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98 Senats von Lund eine Trennung der verschiedenen Bildungslinien als geeignetes Mittel, um die Überanstrengung der Schüler zu

vermeiden. Der schon oben genannte Professor Odhner aber nannte damals als anerkannte Mißstände der Einheitsschule: „Mangelnde Festtgkeit in den grundlegenden Sprachstudien, allzuviel Muße in dem früheren Stadium der Schule und Uberbürdung in dem späteren, wo eine Menge nützlicher Lehrgegenstände gehäuft und daher ge­ wisse Fächer trotz angestrengten Arbeitens zurückgesetzt werden." Nun ist es aber ganz selbstverständlich, daß eine solche Überbürdung der Jugend nie lange ertragen wird, sondern die Tendenz erzeugt, die Lehrstoffe der höheren Schulen zu verringern, und das natürlich auf Kosten derjenigen Unterrichtsfächer, die der öffentlichen

Meinung am wenigsten notwendig erscheinen. Und wirklich hat die allgemeine Einführung der höheren Einheitsschule mit lateinlosem Unterbau in den skandinavischen Ländern hauptsächlich die Folge gehabt, daß der Betrieb der klassischen Sprachen unaufhaltsam einer fortschreitenden Verkümmerung und schließlich dem Untergang ver­ fallen ist. In Dänemark wurde 1850 das Latein auf sechs, das Grie­ chische auf vier Klassen beschränkt, genau wie in unseren Reform­ anstalten. Aber schon 1871 führten die Klagen wegen der Über-

bürdung sowie die Ansprüche der modernen Unterrichtsfächer zu einer weiteren Beschränkung der alten Sprachen, wobei allerdings die Zahl der ihnen zugewiesenen Jahre zunächst nicht angetastet wurde. Ebenso widmete man in Schweden seit 1873 dem Latein nur noch sechs, dem Griechischen vier Jahre. Diese Beschränkung hatte nach Uhligs auf genauester Kenntnis der Verhältnisse beruhendem Urteil die Folge, daß die Beschäftigung mit den klassischen Sprachen nicht mehr die Früchte reifen ließ, die man ernten müßte, wenn der Unterricht lebensfähig bleiben sollte. So kam man in Stockholm zwar zur Lektüre des Lenophon und Homer, aber nicht zu der des Herodot, Thukydides, Demosthenes, Platon, Sophokles. Jeder Fachmann wird zugeben, daß eine Einrichtung des klassischen Unterrichts, bei der die Schüler nur gerade bis zu dem Punkt gelangen, wo er anfangen würde, ihnen seine unvergleichlichen idealen Schätze zu erschließen, unsinnig ist und ihn seines wahren bildenden Wertes beraubt. Kein Wunder, daß er, wenn es einmal so weit gekommen, keine innere Wider­ standskraft besitzt, und daß jetzt nicht nur seine Feinde immer von

99 neuem auf seine gänzliche Beseitigung drängen, sondern daß selbst seine Freunde in Gefahr sind, allen Mut zu verlieren und ihm

resigniert ein rasches und schmerzloses Ende zu wünschen. Das hat die weitere Entwicklung des standinavischcn Schul­ wesens bewiesen. Nachdem man dort einmal die einheitliche Schul­ organisation durchgeführt hatte, die ausnahmslos den wissenschaft­ lichen Unterricht aus einer gemeinsamen Volksschule und einer auf diese aufgebauten Realschule hervorwachsen ließ, gab es auf der Bahn der allgemeinen Nivellierung keinen Einhalt mehr. Bis vor zwanzig Jahren hatte man in Skandinavien dem wissenschaftlichen Unterricht doch immer noch die gleiche Gesamtdauer gelassen und die gemeinsame Volksschule noch nicht auf seine Kosten um zwei bis drei Jahre ausgedehnt. Seit 1890 haben aber zuerst die Nor­ weger mit dem ihnen eignen Radikalismus auch diesen Weg ein­ geschlagen. In Norwegen hatte man ursprünglich 1869 ebenfalls das Latein bis nach Untertertia, das Griechische allerdings gleich bis zur Obersekunda hinaufgeschoben. Zwanzig Jahre später aber eröffnete man im Storthing einen neuen Feldzug gegen die klassi­ schen Sprachen, infolgedessen 1890 eine Kommission für die Revision des höheren Unterrichts ernannt wurde. Auf Grund ihrer Be­ ratungen wurde dann 1896 ein neues Unterrichtsgesetz veröffentlicht, das allerdings die Einheitsschule in Reinkultur ins Leben rief, in­ folgedessen aber auch dem klassischen Unterricht den Todesstoß ver­ setzte und, nach dem Zeugnis eines norwegischen Schulmannes, wie ein Blitz aus heiterem Himmel fast über den ganzen norwegischen Lehrerstand kam, welcher sich niemals die Möglichkeit eines so radi­ kalen und verhängnisvollen Schrittes gedacht hatte. Nach diesem Gesetz baut sich das ganze Schulwesen auf die Volksschule organisch in der Art auf, daß der allgemeine Elementarunterricht ohne Fremd­ sprachen über fünf Jahre ausgedehnt und der höhere Unterricht, der sich in Mittelschule und Gymnasium gliedert, von neun auf sieben Jahre verkürzt ist. Die natürliche Folge war die Nötigung, den Betrieb der klassischen Sprachen auf ein Minimum zu beschränken, und da man in Norwegen ganze Arbeit liebt, schloß man das Griechische aus den Gymnasien gleich vollständig aus und ließ das Latein nur in den zwei Oberklassen ausnahmsweise bestehen, wobei mehrere Redner im Storthing kein Hehl daraus machten, daß man auch dies nur als einen Übergangszustand ansehe. So ist der 7*

100 klassische Unterricht in Norwegen seit zehn Jahren tatsächlich zu Grabe getragen.

Das ist der Erfolg der von vielen unserer Schulreformer und Volksschullehrer so gerühmten norwegischen Nationalschulcl Daß der

Untergang der klassischen Studien auf die Dauer die unheilvollsten Folgen für die weitere geistige und allgemeine kulturelle Entwicklung jenes Landes haben müßte, wenn es nicht in absehbarer Zeit gelingen sollte, wieder in andere Bahnen einzulenken, darüber sind sich sach­ verständige und unbefangene Beurteiler in Norwegen ebenso klar wie bei uns in Deutschland. Einstweilen hat man dort in humanistischen Kreisen das allerdings nicht sehr tröslliche Bewußtsein, den übrigen Kulturnationen ein warnendes Beispiel gegeben zu haben. So schrieb Professor Schjütt in Kristiania 1890: „Wir haben hinsicht­ lich der Einheitsschule in den letzten zwanzig Jahren eine Erfahrung gemacht, die keinen Zweifel zuläßt und die besagt, daß die höhere Schule daran zugrunde geht. Die bürgerliche Schule wird im Gymnasium fortgesetzt, d. h. das Gymnasium wird zu einer Fort­ setzung der Bürgerschule umgebildet. Dies liegt bei uns in der Schulordnung von 1869 wie im Keime. Der Keim aber entwickelt sich gegenwärtig, und die Kommission, die bei uns jetzt zusammen­ tritt, hat den Zweck, den höheren Schulunterricht zugunsten des bürgerlichen zu zerstören. Man wird die Sache leugnen, etwas pädagogischen Hokuspokus treiben, um sie zu verhüllen, wenn man aber von den Redensarten absieht und die Sache betrachtet, so steht es fest; und wenn Sie in Deutschland auf dieselbe Bahn einlenken, so werden Sie dieselben traurigen Erfahrungen machen, wie wir hier, um so trauriger, weil das Experiment nicht in corpore vili ge­ macht wird." Kann nach alledem die systemattsche Anpreisung der norwegi­ schen Nationalschule auf besonnene Männer den geringsten Eindruck machen? Sollen wir Deutschen, die wir doch noch eine ganz andere geistige Kultur aufs Spiel zu setzen haben als unsere nordischen Nachbarn, ihnen auf die abschüssige Bahn folgen, auf der wir ihr Bildungswesen unaufhaltsam dem Abgrund zugleiten sehen? Wahr­ lich, wer sich über die Wirkungen der Einheitsschule trügerischen Hoffnungen hingegeben hat, dem muß die Entwicklung des norwe­ gischen Schulwesens die Augen öffnen. Nur nebenbei soll hervorgehoben werden, daß auch der Segen,

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den die berühmte norwegische Nationalschulc für die innere Entwick­ lung des Volksschulunterrichts und die soziale Stellung der Lehrer gebracht hat, uns in sehr zweifelhaftem Licht erscheinen muß, wenn wir hören, daß der Unterricht bis zum zehnten Lebensjahr gar nicht von eigentlichen Lehrern, sondern jungen Schulgehilfen erteilt wird, daß von den Lehrern selbst 75 Prozent nur provisorisch angestellt sind, und daß die definitiv gewordenen Lehrer durchaus unter der Gewalt der lokalen Behörden stehen, die sie gewählt haben. Trotzdem sind neuerdings auch die beiden anderen nordischen Völker den Norwegern auf den unheilvollen Weg der Zurückdrängung des wissenschaftlichen Unterrichts gefolgt. Am engsten schloß man sich in Dänemark an das norwegische Vorbild an, ohne allerdings bis jetzt den Kassischen Unterricht radikal zu beseitigen. Dort schlug schon 1889 der Unterrichtsminister Scavenius einen Reformplan vor, nach dem das Griechische ganz aus dem Unterricht verschwinden sollte. Noch drang er damit nicht durch. Aber das glorreiche Beispiel Norwegens ließ anscheinend die Dänen nicht ruhen, und so gelang es 1903 dem Unterrichtsminister Christensen, das ersehnte Ziel zu erreichen. Durch ein neues Gesetz über die höheren Schulen wurde die gleiche einheitliche Organisation durchgeführt wie in Nor­ wegen. Auf einem bis zum 11. oder 12. Jahr dauernden gemein­ samen Volksschulunterricht baut sich eine vierklassige Mittelschule auf, in der Englisch und Deutsch gelehrt wird, und auf diese ein dreijähriges Gymnasium, das sich in einen llassisch- sprachlichen, einen neusprachlichen und einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig teilt. In dem llassisch-sprachlichen Zweig wird drei Jahre lang Latein und Griechisch gelehrt. So mögen sich denn die Dänen im Jahre 1910 die ersten Früchte ihres neugestalteten wissenschaftlichen Unterrichts besehen; wir beneiden sie um die­ selben nicht. In allerjüngster Zeit folgte auch Schweden dem verhängnis­ vollen Beispiel Norwegens. Schon 1890 faßte dort die zweite Kammer den Beschluß, den Beginn des Lateinischen bis zur Unter­ sekunda zu verschieben. Diese Absicht kam damals nicht zur Aus­ führung. Aber bereits 1902 entwarf ein von der Regierung ein­ berufenes Komitee zur Reorganisation des schwedischen Schulwesens einen neuen Plan, der inzwischen durch das Gesetz vom 18. Febr. 1905 tatsächlich eingeführt worden ist. Damit ist auch in Schweden

102 das Prinzip der Einheitsschule in seinen Konsequenzen verwirklicht worden. Allerdings verfuhr man in gewisser Hinsicht weniger extrem als in Norwegen und Dänemark. Man beschränkte den ge­ meinsamen Volksunterricht nach wie vor auf drei Jahre und erstreckte den höheren Unterricht wie bisher über neun Jahre. Allein von diesen entfallen fünf auf die gemeinsame Realschule, nur vier auf daS zweifach gegabelte eigentliche Gymnasium; und dem klassischen Unterricht hat man wie in Norwegen das Lebenslicht ausgeblasen, indem man das Griechische nur noch in den beiden obersten Klassen fakultativ zuläßt. Daß eine Schulgestaltung, die den demokratischen Instinkten so sehr entspricht, zunächst in weiten Kreisen in allen Tonarten gepriesen wird, ist ebenso selbstverständlich wie für die Beurteilung der Sache gleichgültig. Das endgültige Urteil über die in Skandinavien vollzogene Vernichtung des wissenschaftlichen Unter­ richts wird die Geschichte sprechen, und man braucht nicht im Zweifel zu sein, wie es ausfallen wird. Wenn wir uns nun unserem eigenen Vaterlande zuwenden, so ist bisher nur von einem einzigen Versuch zu berichten, den wissen­ schaftlichen Unterricht noch über die drei Elementarklassen hinaus zugunsten des Volksschulunterrichts zu verschieben. Dieser Ver­ such ist in Berlin gemacht worden und kann uns, wie wir gleich hinzufügen dürfen, nicht zu einer günstigeren Ansicht von der all­ gemeinen Volksschule bekehren. Dort wurden 1884 auf Grund eines Magistratsbeschlusses mit Genehmigung des Kultusministers Realschulen errichtet, die man mit den Volksschulen in engere Ver­ bindung zu bringen suchte, indem man die zwei untersten Klassen dem Volksschullehrplan anpaßte und das Französische erst in Quarta beginnen ließ, so daß es anstatt sechs nur vier Jahre betrieben wird. Dadurch wollte man den Bolksschülern noch mit dem 12. Jahr den Eintritt in die Realschulen ermöglichen. Dieser Zweck wurde auch erreicht, indem meist nach dem fünften oder sechsten Schuljahr ein beträchtlicher Teil der besseren Volksschüler in die Real­ schule übertritt. So füllten sich die Mittelklassen dieser Anstalt mit Schülern. Aber was war die Folge? Wie 1902 festgestellt wurde, haben die Berliner Realschulen den größten Prozentsatz von nichtver­ setzten Schülern unter allen höheren Lehranstalten dieser Stadt. So zählten 1898 ihre Quarten zusammen 1211 Schüler, aber nur 543 von diesen waren 1901 regelmäßig in die Untersekunden auf-

103 gerückt, also noch nicht ganz 45 Prozent. Dieses unbefriedigende Ergebnis stimmt ganz genau zu unseren oben angestellten theore­ tischen Erwägungen. Die allgemeine Volksschule, zumal in solcher zeitlichen Ausdehnung, vermehrt einerseits den Zudrang mittel­ mäßiger Köpfe zum höheren Unterricht und nötigt diesen anderer­ seits, die Kraft der Schüler auf der Mittelstufe aufs äußerste an­ zuspannen, um das vorher Versäumte nachzuholen. Wie könnte das Resultat auch anders sein, wenn man erst den fremdsprachlichen Unterricht zwei Jahre beiseite läßt, um auf die Schüler aus der Volksschule zu warten, und dann in vier Jahren ganz das gleiche Ziel erreichen muß, zu dem andere in sechs Jahren kommen! Und die Folgen für die Volksschulen? Weil man als ihre Fortsetzung die Realschulen organisiert hatte, kam man gar nicht dazu, ihre wahre Fortsetzung, nämlich ihre Oberklassen, kräftig zu entwickeln, faßte vielmehr immer zwei oder drei Jahrgänge zu einer Klasse zu­ sammen und machte dadurch eine gründliche Durcharbeitung und Erweiterung des für die Volksschule angemessenen Lehrstoffes un­ möglich. Wenn man nun noch dazunimmt, daß gerade in Berlin vor einigen Jahren die Klagen über die Stoffüberbürdung und Überanstrengung in den Unterklassen der Volksschule am aller­

lautesten ertönten, daß man dort sogar besondere Versetzungs­ prüfungen eingerichtet hatte, nur um der Vorbereitung für den höheren Unterricht besser genügen zu können, so kann man sich der Einsicht gar nicht verschließen, daß dieser erste ernstliche Versuch mit der Einführung der allgemeinen Volksschule gleich zu einer offen« sichtlichen Versündigung an den Bildungsbedürfnissen des arbeiten­ den Volkes gefühtt hat. Wie es so häufig geht, mußte dann die Regierung der Sache des Volkes gegenüber dessen angeblichen Freunden zu ihrem Recht verhelfen. Auf ihr Eingreifen hin ist der Lehrplan der Berliner Volksschulen neuerdings umgestaltet worden, wobei man auf direttes Verlangen der Regierung die Rücksicht auf den „organischen Zusammenhang mit der höheren Schule" wieder außer acht gelassen hat. Die Berliner Realschulen, deren es zurzeit 14 gibt, haben ihren der Volksschule angepaßten Lehrplan bisher beibehalten. Wenn man aber einen Blick in ihre Programme wirft, könnte man sich versucht fühlen, auf diese Art der Schulreform eine Satire zu schreiben. Die ganze Organisation dieser Schulen ging doch einzig

104 aus von dem Gedanken, den Volksschülern noch bis zum 11. oder

12. Lebensjahr die Möglichkeit zu gewähren, ohne wesentlichen Zeit­ verlust in die höhere Schule überzutreten. In Wirklichkeit aber gehen diese Anstalten augenscheinlich mit allen Mitteln daraus aus, diesen Übertritt aus der Volksschule in ihre Unterklassen zu er­ schweren. Sie nehmen die Volksschüler der Rege! nach erst nach vollendetem fünften Schuljahr in ihre unterste (6.) Klasse auf, nach dem sechsten in die 5., nach dem siebenten in die 4. Klasse; sie machen ferner den Eintritt von einer anscheinend recht streng ge­ handhabten Aufnahmeprüfung abhängig; und sie warnen endlich nachdrücklich vor der Anmeldung zur 4. oder 5. Klasse, da diese ständig überfüllt seien. Ja, was bieten sie denn da dem Volks­ schüler eigentlich noch für eine Erleichterung hinsichtlich des Über­ trittes? Er wird im allgemeinen ja doch in keine andere Klasse als die unterste zugelassen, und auch da nur mit Verlust zweier Jahre und nach Bestehen einer strengen Prüfung! Wozu war dann aber die ganze Änderung des Lehrplans nötig? Unter solchen Be­ dingungen können begabtere Schüler der Volksschule auch in jedem Gymnasium Aufnahme finden! Es ist also nur noch eine bloße Fiktion, daß diese Anstalten den Übergang aus der Volksschule in den höheren Unterricht erleichterten. Es liegt uns aber nichts ferner, als den genannten Realschulen daraus einen Vorwurf machen zu wollen; denn sie werden augenscheinlich durch die Pflicht der Selbsterhaltung zu jenen Erschwerungen genötigt. Ein Blick in ihre neuesten Programme lehrt, daß die Zahl der nichtversetzten oder aus den Mittelklassen wieder abgestoßenen Schüler trotzdem nach wie vor sehr hoch ist; um nur ein Beispiel herauszugreifen, belief sich allein die Zahl der Nichtvcrsetzten bei der vierten Real­ schule im Schuljahr 1904/5 auf über 26 Prozent der Gesamtzahl. Das Durchschnittsalter der Abiturienten dieser Anstalten beträgt fast 17 Jahre, obwohl sie die Schüler mit dem neunten Lebensjahr aufnehmen und nur sechs Klassen besitzen. Was ergibt sich nun aus diesen Tatsachen? Das Bedürfnis nach Anstalten, die den Verhältnissen des mittleren Bürgerstandes entsprachen, war in Berlin so dringend, daß diese Realschulen selbst ohne jede Erleichterung des Übertrittes aus den Volksschulen von vornherein auf einen über­ mäßigen Zudrang rechnen konnten. Indem man nun durch den Versuch einer organischen Verbindung mit dem Volksschulunterricht

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diesen Zudrang noch künstlich zu steigern unternahm, brachte man die neu gegründeten Anstalten in Gefahr, dermaßen mit ungeeig­ neten Elementen überschwemmt zu werden, daß ein erfolgreicher Unterricht unmöglich geworden wäre. Und so haben wir nun dort das ergötzliche Schauspiel, daß man den in der Theorie herge­ stellten Aufbau dieser Anstalten auf der Volksschule in der Praxis mit allen Mitteln wieder zu beseittgen genötigt ist, weil sie sonst einfach nicht bestehen könnten. Ob man wohl trotz alledem in Berlin von den Erfolgen einer solchen Schulreform sehr befriedigt

sein mag? Sollen wir nun noch nach der sozial versöhnenden Wirkung dieser in Berlin durchgeführten organischen Verbindung zwischen Volks­ schule und höherem Unterricht forschen? Wir dürfen uns die Mühe wohl ersparen. Unseres Wissens hat noch niemand behauptet, daß seit dem denkwürdigen Jahr 1884 in Berlin die Versöhnung der Klas­ sengegensätze größere Fottschritte gemacht habe als im übrigen Reich. Da müßte man auch schon die schrankenlose Herrschaft der Sozial­ demokratie für ein Symptom innerer Einigkeit ausgeben. Sehen wir aber jene vielmehr als einen Gradmesser für die innere Entftemdung der Stände an, so bekommen wir weder von Berlin noch von anderen wegen ihrer allgemeinen Elementarschulen gerühmten Städten und Gegenden unseres Vaterlandes den Eindruck eines be­ sonders erfteulichen sozialen Friedens; man müßte uns denn die Verbrüderung des Zenttums und der Sozialdemokratie in Süd­ deutschland bei den letzten Reichstagswahlen als edle Frucht der allgemeinen Elementarschule anpreisen wollen! In vielen Städten Preußens und Sachsens, wo die bösen Standesschulen blühen, scheint die Verhetzung der Stände trotzdem nicht in solchem Maß um sich gegriffen zu haben wie dort, während andererseits fteilich Hamburg mit seinen Vorschulen ebenfalls ganz im Bann der sozialdemokra­ tischen Partei steht. Aber was folgt aus allen diesen Tatsachen für jeden vernünftigen Menschen? Doch nichts anderes, als daß der innere Kampf der Stände durch die Organisation des Elemen­ tarunterrichts auch nicht im allergeringsten beeinflußt wird. Damit überlassen wir endgültig diese kindlichen Hoffnungen den Freunden der Einheitsschule und betrachten zum Schluß noch einige Erfah­ rungen, die man mit dem gemeinsamen dreijährigen Elementar­ unterricht in didaktischer Hinsicht gemacht hat.

106 Zunächst werfen wir einen Blick auf das Boltsschulwesen von Mannheim. Auch dieses liefert uns einen überzeugenden Beweis

dafür, daß ein einheitlicher Bolksschulunterricht bei den heutigen großstädtischen Berhältnissen nicht imstande ist, die Bedürfnisse aller Bevölkerungskreise genügend zu befriedigen. Man führte dort mit Rücksicht auf Handwerker und Gewerbetreibende seinerzeit einen neuen Lehrplan ein, der dem Rechen- und Realienunterricht etwas höhere Ziele steckte. Die Folge war eine ins Ungeheure anwachsende Zahl von nichtversetzten Schülern, so daß schließlich über 66 Prozent die Obcrklasse nicht absolvierten. Da verfiel man auf den Gedanken der Trennung der Schüler nach Fähigkeiten. Während die besseren Schüler in den Haupcklassen nach einem erweiterten Lehrplan unter­ richtet werden, begnügt man sich für die in den Förderklassen ver­ einigten schwachen mit einem beschränkteren Unterrichtsstoff, und die fähigsten werden in den Borbereitungsllassen für die höheren Schulen vorgebildet. Damit ist denn das Dogma der Einheitsschule gerettet — wenigstens scheinbar. Denn in Wahrheit ist diese jetzt durch getrennte Elementarschulen ersetzt. Nur wird die Scheidung der Schüler entgegen allen unseren sonstigen Einrichtungen durch staat­ lichen Zwang herbeigeführt. „Freilich", bemerkt dazu Ries mit treffendem Spott, „jetzt entscheidet ja nicht der Geldbeutel, sondern das Talent, jetzt wählt und richtet und sichtet nicht die blinde ur­ teilslose Schar der Eltern, sondern die weise Schar der Lehrer und die allweise Schulbehörde! Aber der Spott der Dinge bleibt nicht aus. Wenn nämlich die behördliche Sichtung fein säuberlich vor­ genommen ist, so hat man im großen und ganzen dieselbe Schei­ dung, die auch eingetreten wäre, wenn man die Verhältnisse, d. h. hier die Eltern, frei hätte wählen lassen! Und den bösen Verdacht, daß manches Kind just um der wohlhabenden Eltern willen in die höhere Abteilung versetzt, manches andere ärmere aber um seiner Armut willen in der niederen zurückgehaltcn worden wäre, haben Schule und Lehrer gratis." Es ist begreiflich genug, daß dieses System außerhalb Mannheims sehr wenig Beifall gefunden hat. Noch lehrreicher find die Erfahrungen, die man mit dem ge­ meinsamen Elementarunterricht in seiner Hochburg München ge­ macht hat. Zwar ist dieser nach der Ansicht radikaler Reformer nur „das unfertige Zerrbild einer allgemeinen Volksschule", aber selbst in dieser unvollkommenen Gestalt beweist er jedem, der sehen

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Will, klar genug, wie verderblich es ist, wenn die Volksschule in unseren Großstädten zwei Herren dienen will. In München fehlen die Vorschulen vollständig, und die höheren Lehranstalten erhalten demnach ihre Schüler fast durchweg aus der vierten, seltener aus der dritten Klasse der dortigen Volksschulen.

Die Folgen aber sind gleich schädlich nach beiden Seiten und lassen sich kurz bezeichnen als Entvölkerung der oberen Klassen der Volks­ schulen und Überschwemmung der Unterklassen der höheren Lehr­ anstalten mit ungeeigneten Elementen, die zum größeren Teil in den Mittelklassen schon wieder abfallen. Dieses Urteil beruht nicht etwa auf den unbewiesenen Behauptungen eines böswilligen Geg­ ners der dortigen Schulen, sondern auf den Angaben des sachkun­ digsten und einwandfreiesten Zeugen, des Münchener Stadtschulrats, Studienrats Dr. Kerschensteiner, eines in weiten Kreisen rühm­ lichst bekannten Pädagogen. Dieser stimmte in seiner Antrittsrede in der dortigen Lokal-Schulkommission am 24. Oktober 1895 kräftig in das Lob der Münchener Volksschulen ein, die, wie er äußerte, vielleicht einzig und allein von allen ähnlichen Jnstttuten der Groß­ städte Deutschlands gerade den Namen Volksschulen verdienten, da sie die Kinder aller Gesellschaftselemente aufnähmen, vom Fürsten bis zum Taglöhner. Daher ermahnte er die Bürger Münchens, sich mehr als bisher bewußt zu werden, welchen Schatz sie an diesen Schulen besäßen. Die Tatsachen aber, die er zur Begrün­ dung dieser Mahnung anführte, enthalten eine so starke Anllage gegen das dorttge Schulsystem, daß sie allein ausreichen könnten, um den unbefangenen Beurteiler, der nicht von Kind auf im Be­ kenntnis zur allgemeinen Elementarschule aufgewachsen ist, zu deren

überzeugtem Gegner zu machen. Jeder Handels- und Gewerbe­ treibende, meinte der Redner, müsse sich Kar machen, daß nur die Fortbildungsschulen ihm wieder lebenskräftige Elemente zuführen könnten und nicht die unteren Klassen der Realschulen und Gym­ nasien. „Greift diese Erkenntnis dank wohlgepflegter Fortbildungs­ schulen mehr und mehr um sich, dann werden sich wieder die oberen Klassen unserer Volksschulen stärker füllen, statt daß die unteren Klassen der Gymnasien und Realschulen zu wahren Kolossen an­ schwellen, um nach wenigen Jahren Hunderte von oft guten Ele­ menten wieder abzustoßen, die im Geleise der Volksschule äußerst brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden wären,

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nun aber häufig genug unbrauchbare Handlanger werden. Die Entvölkerung unserer oberen Klassen der Volksschulen ist geradezu eine krankhafte Erscheinung in unserem Volksschulwesen. Zahlen sind hier mehr als Worte: Die Münchener Volksschulen zählten in der vierten Klasse int Durchschnitt der letzten fünf Jahre ca. 3000 Knaben und in der siebenten (obersten) 1000, das heißt a/8 aller unserer Knaben wendet sich zunächst den Mittelschulen (---- höheren Schulen) zu. Nun nimmt jedes Gymnasium in München in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt 160 Kinder auf. (!) Die vierten Klassen (= Untertertien) zählen mit auffallender Übereinstimmung be­

reits nur mehr % der Aufgenommenen, und an das Endziel der Oberklassen gelangt nur */,. Noch ungünstiger steht cs an den Real­ schulen, an welchen bei einer mittleren Aufnahme von 230 Schülern pro Anstalt und Jahr(!) in der vierten Klasse (Untertertia) nur mehr 2/6 der Aufgenommenen und in der Oberllasse nur mehr 1/B bis V« zu finden ist" Da haben wir ja wiederum alle jene unheilvollen Folgen der Einheitsschule, die wir oben auf theoretischem Weg festgestellt haben, in Wirklichkeit greifbar vor unseren Augen! Aus „sozialen Grün­ den" hat man in München den höheren Unterricht auf die Volks­ schule aufgebaut und damit allerdings den Volksschülem den Zu­ gang zur höheren Schule erleichtert. Und das Ergebnis? Tau­ sende von Knaben sind durch eine mangelhafte Schulorganisation in eine ganz falsche Laufbahn gedrängt, in der sie nichts erreichen und aus der sie schließlich voll Enttäuschung und Mißmut mit einer verpfuschten Vorbildung sich mühsam auf die ihnen gewiesene Bahn zurückfinden, „während sie sonst", um mit dem genannten Mün­ chener Schulmann zu reden, „auf dem normalen Weg der Volks­ schule zum Teil ganz tüchtige Glieder der Gesellschaft geworden wären." Jetzt mögen sie darüber nachdenken, daß es für das Tag­ löhnerskind vielleicht besser gewesen wäre, wenn es niemals mit dem Fürstensohn auf derselben Schulbank gesessen hätte, wodurch es sich nur hat verleiten lassen, mit seinen unzureichenden Kräften dem bevorzugten Kameraden auf seine Wege zu folgen! Und der Gewinn für die Vollsschule ist die „Enwölkerung ihrer oberen Klassen". Daraus folgt aber naturgemäß eine Herab­ minderung ihrer unterrichllichen Resulate und die Unmöglichkeit, ihren Unterricht äußerlich und innerlich weiter zu entwickeln und

109 zu vervollkommnen sowie die Ausbildung der Lehrer wissenschaftlich zu vertiefen. Man wird diese Konsequenzen in Bayern nicht zu­ geben wollen; aber auch hier sprechen Tatsachen für unsere Ansicht. Oder ist es Zufall, daß bloß in Bayern die Schulpflicht noch heute nur sieben Jahre umfaßt, daß man selbst in München erst in be­ scheidenem Umfang für das achte Schuljahr einen Unterricht ein­ geführt hat, dessen Besuch freiwillig ist, daß die bayrischen Lehrer noch heute durch einen bloß zweijährigen Seminarbesuch für ihren Beruf ausgebildet werden, daß ihre Besoldung und Stellung nichts weniger als glänzend ist, daß man dort über die bedrohliche Flucht aus dem bayrischen Lehrerstande lebhafte Klagen hört, und daß ziemlich häufig bayrische Lehrer in den Schuldienst Preußens, Hes­ sens und anderer Staaten übertreten, just derselben Staaten, in denen angeblich durch die bösen Standesschulen „die Volksschule in Gefahr ist, zur Armenschule herabzusinken"? Soviel über die Segnungen, die aus der gepriesenen Einrichtung in Bayern der Volksschule und ihren Lehrern erwachsen sind. Endlich die höheren Schulen! Das muß ja eine Lust sein, in den unteren und mittleren Klassen der Münchener höheren Lehr­ anstalten zu unterrichten, in denen die Lehrer, wenn anders die von Kerschensteiner angegebenen Zahlen richtig sind, geradezu ihre Haupt­ tätigkeit der Aufgabe widmen müssen, nach und nach den größeren Teil ihrer Schüler wieder zum Tempel hinauszujagen! Wir möchten selber glauben, daß jene Zahlen, wie man behauptet hat, zu hoch gegriffen sind, weil bei so geringer Stabilität der Schülerverhält­ nisse ein erfolgreicher Unterricht kaum möglich erscheint. Aber mögen die Zahlen übertrieben sein, an der Tatsache der übermäßigen Überfüllung der höheren Schulen Münchens mit ungeeigneten Ele­ menten kann man gar nicht zweifeln. Zum Beweis dafür, daß dieser Mißstand noch heute herrscht und allgemein empfunden wird, berufen wir uns auf die Versammlung der Münchener Gymnasial­ lehrer-Bereinigung vom 13. Dezember 1906. Die Verhandlungen betrafen die Frage der Aufnahmeprüfung für die unterste Klasse des Gymnasiums. Der Referent ging aus von der „Notwendigkeit einer Revision des Schülermaterials der Gymnasien", die er durch den Hinweis auf die bestehende Überfüllung und ihre schlimmen Folgen zu begründen suchte und „als unumgängliche Bedingung einer segensreichen Zukunstskonkurrenz der gleichberechtigten Mittel-

110 schulen* bezeichnete. Beginnen müsse man mit einer Neuordnung der Bedingungen für die Aufnahme in die unterste Klaffe. Die bisherigen Vorschriften erklärte der Referent für unzureichend und wünschte klar umschriebene, für ganz Bayern einheitliche Bestimmungen. Die Bezugnahme auf den Lehrstoff einer bestimmten Bolksschulklaffe, insbesondere der dritten, bezeichnete er als unhaltbar, da sie bei der Verschiedenheit der Leistungen in den einzelnen Schulen und bei der eigenartigen modernen Entwicklung speziell der Münchener Volksschulen zu bedenklichen Schwierigkeiten führe. Für die Prüfung wurden bestimmte und recht strenge Forderungen erhoben. Der Referent wünschte z. B- für die schriftliche Prüfung im Deutschen eine dreifach geteilte Aufgabe (Diktat, Grammatik, Nacherzählung), die von der obersten Schulbehörde für ganz Bayern einheitlich ge­ stellt werden solle. Für alle Schüler, welche die Prüfung bestanden hätten, verlangte er ferner eine Probezeit von 8—10 Wochen zur richtigeren Beurteilung ihrer Leistungen. Außerdem regte er an, man solle von den Neueintretenden ein amtsärztliches Zeugnis darüber verlangen, daß den Schüler sein Gesundheitszustand zum Besuch der höheren Schule befähige. Die Diskussion zeigte, daß der Gedanke einer Verschärfung der Prüfung und einer Loslösung ihrer Anforderungen von dem Lehrplan einer bestimmten Bolksschulklaffe allgemein gebilligt wurde. Der Gedanke an Vorschulen wurde „hauptsächlich aus sozialen Gründen* abgelehnt. Lebhaften Beifall fand darum die Erklärung des mitanwesenden Studienrates Dr. Kerschensteiner, es könne mit Benutzung einer bestehenden Einrichtung an den Münchener Volksschulen dem gerechtfertigten Ver­ langen der höheren Schulen vor allem nach ausgiebigerer Übung in der deutschen Sprachlehre Rechnung getragen werden ohne Schä­ digung der besonderen Ziele der Volksschule.

Diese Verhandlungen lassen tief blicken. Drastischer kann man nicht beweisen, daß die allgemeine Volksschule in unsern heutigen Großstädten nicht imstande ist, eine ausreichende Vorbildung für den höheren Unterricht zu gewähren. Die unterrichtlichen Mißstände, die das Fehlen von Vorschulen mit sich bringt, schreien zum Himmel, wie jeder Satz der Verhandlungen erkennen läßt. Der Gedanke aber, die allein vernünftige Folgerung zu ziehen und geeignete Vorschulen zu errichten, wird a limine abgelehnt. Ohne jeden Versuch einer sachlichen Prüfung schiebt man ihn „aus sozialen

111 Gründen" beiseite. Anstatt dessen versucht man den Zugang zu den höheren Schulen mit einer dreifachen ehernen Mauer zu ver­ schließen: einer strengen Aufnahmeprüfung, für die ein Apparat in Bewegung gesetzt werden soll wie für ein Abiturientenexamen, einer ausgedehnten Probezeit und einer amtsärztlichen Bekundung körper­ licher Leistungsfähigkeit! Wahrhaftig, ein Notschrei der Verzweif­ lung, der unser Mitleid erregen samtig Woher rühren denn alle jene Übelstände, über die man in München so lebhaft Klage führt? Doch allein aus dem Fehlen der verlästerten „Standesschulen". Alles stürzt sich in die höheren Lehranstalten, weil die gehobenen Volksschulen, die bei uns so­ genannten Mittelschulen, fehlen, die den Handwerkern und Gewerbe­ treibenden eine ausreichende Bildung gewähren, und weil der Mangel an gesonderten Vorschulen der Überflutung der höheren

Schulen alle Schleusen öffnet. Man gründe Mittelschulen und Vorschulen, und die Dinge werden ganz von selbst ins rechte Ge­ leise kommen. Aber dazu kann man sich in München nicht entschließen. Und warum sollte man auch? Etwas boshaft, aber sehr richtig sagt Ries: „In welcher beneidenswerten Lage sind die städtischen Schulbehörden, die Magistrate und die großen Schulpatrone im Bayernlande! Sie brauchen nur die Hände in den Schoß zu legen und alles auf dem alten Fleck zu lassen — abgesehen davon, daß sie genügend neue Schulhäuser bauen und neue Lehrer anstellen — und sie ernten obendrein die Bewunderung der deutschen Lehrer­ schaft, dieweilen sie ja durch ihr Nichtstun die Idee der allgemeinen Volksschule so tapfer hochhalten! Gibt es etwas Billigeres, Be­ quemeres und zugleich Ehrenvolleres?" Hand aufs Herz! Empfängt irgend ein unbefangener Be­ trachter der geschilderten Münchener Schulverhältnisse von ihnen den Eindruck, daß hier die Schöpfungen einer überlegenen pädago­ gischen Einsicht vor uns stehen? Ganz gewiß nicht! Vielmehr er­ kennen wir deutlich, daß man dort die allgemeine Elementarschule einfach deshalb hat, weil man sie früher überall gehabt hat, und weil man sich in München trotz aller ihrer schlimmen Folgen noch nicht dazu hat enffchließen können, sie durch vollkommnere Gebilde zu ersetzen. Das stimmt völlig zu dem ganzen Wesen unserer bajuvarischen Brüder, deren große Vorzüge wir gewiß anerkennen, die es uns aber doch nicht übelnehmen dürfen, wenn wir bei der Wür-



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digung ihrer Schuleinrichtungen daran denken, daß der bayrische Stamm zu keiner Zeit gerade eine führende Rolle im deutschen

Geistesleben

gespielt hat, und daß diejenigen Stämme, die diesen

Anspruch wirklich erheben können, wie z. B. Sachsen, Thüringer, Schwaben, seit langer Zeit in chrem Bildungswesen den Grundsatz der Differenzierung in weitgehendem Maße zur Geltung gebracht

haben. Unser Überblick über die Einheitsschule im Ausland und Inland hat uns gezeigt, daß die erhofften Segnungen überall ausbleiben, daß aber die schweren unterrichtlichen Schäden allenthalben deutlich zutage treten und von niemand in Abrede gestellt werden. mit ist die Frage der Einheitsschule für uns endgültig erledigt.

Da­

5. Zukunftsaufgaben unseres deutschen Schulwesens. Mr fassen die Ergebnisse unserer

Untersuchung nochmals

kurz zusammen. Der Gedanke der allgemeinen Volksschule hat einen gewissen ethischen Wert, insofern sich in ihm das Gefühl der Zusammen­ gehörigkeit aller Volksgenossen ausspricht. Als Grundsatz für die praktische Ausgestaltung unseres Schulwesens ist er dagegen un­ brauchbar. Die Einheitsschule ist nicht das Ideal für unsere künftige Schulorganisation, sondern ein Trugbild. Es ändert an diesem Urteil nicht das geringste, daß ein so großer Geist wie Amos Comenius ihre Verwirllichung gefordert hat. Denn dieser ging bei allem, was er tat und lehrte, durchweg von religiösen und ethischen Ideen aus, eine Prophetennatur, ähn­ lich wie 2000 Jahre vor ihm der göttliche Platon, der dennoch in seinem Jdealstaat die größte aller Utopien geschaffen hat. Auch von diesen Prophetennaturen gilt die Wahrheit, daß ihr Reich nicht von dieser Welt ist, sondern sich in den Herzen der kommenden Geschlechter aufbaut und auf deren Gesinnung einen segensreichen und nachhaltigen Einfluß ausübt. Darauf beruht ihre Bedeutung, aber nicht auf dem Wert ihrer Gedanken für die äußere Gestaltung des menschlichen Lebens. Hier entscheidet der Staatsmann und nicht der Prophet. Ebensowenig kann es uns beirren, daß zahllose Schulmänner, von dem ethischen Wert jener Idee erfüllt, in ihr bis auf den heu­ tigen Tag einen ausführbaren schulorganisatorischen Gedanken er­ blicken. Dieser Irrtum ist in allen solchen Dingen menschlich nur allzu begreiflich. Auch durch die mehr oder weniger unvollständige Verwirk­ lichung der sogenannten allgemeinen Volksschule in deutMüller, Die Gefahren der Einheitsschule.

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114 scheu und außerdeutschen Ländem kann unsere Ansicht nicht er­ schüttert werden. Was man unter diesem Namen zusammenzufassen bditbt, sind die mannigfaltigsten Gebilde, die den verschiedenartigsten Umständen chr Bestehen verdanken und in den einzelnen Fällen eine ganz verschiedene Beurteilung erfordern. Die an den meisten Orten unseres Vaterlandes übliche Ge­ meinsamkeit während der drei ersten Schuljahre kommt in Wahrheit für eine grundsätzliche Entscheidung über die Frage der Einheitsschule gar nicht in Betracht. Sie entstammt nicht bewußten pädagogischen Erwägungen, sondern hat sich in einfachen Verhält­ nissen als diejenige Form des Elementarunterrichts, die aus äußeren Gründen hier allein möglich ist, ganz von selbst entwickelt. An kleinen Orten ist sie auch heute noch zunächst lediglich eine Sache äußerer Notwendigkeit; aber sie entspricht wohl auch bei einfach ge­ stalteten sozialen Verhältnissen noch heute im großen und ganzen den vorhandenen Bedürfnissen und ist deshalb dort noch immer berechtigt. In unseren heutigen größeren Städten dagegen reicht sie erfahrungsgemäß in steigendem Maße nicht mehr für den ersten Unterricht der gesamten Jugend aus und ist sie deshalb mehr und mehr durch den gesonderten Elementarunterricht verdrängt worden. Die Macht des Beharrens hat sie trotzdem bisher selbst in manchen Großstädten erhalten und sich im allgemeinen im Süden unseres Vaterlandes am stärksten erwiesen. Im Grund liegt die Sache in Österreich und der Schweiz,

wo der gemeinsame Elementarunterricht sich über vier bis sechs Jahre erstreckt, genau ebenso. Diese lange Dauer ist begründet teils in ursprünglicheren und einfacheren Kulturvcrhältnissen, teils in besonderen geographischen und politischen Schwierigkeiten, die einen so weit ausgedehnten gemeinsamen Volksschulunterricht zu­ nächst als ein einfaches Gebot der Not erscheinen lassen. Und völlig aus der Not geboren ist er in Nordamerika, wo die rapide Entwicklung aus den einfachsten Zuständen zur Höhe materieller Kultur ganz besondere Schwierigkeiten bereitete und dazu zwang, in größter Hast die für die äußerlichsten Zwecke des Schulunter­ richts unumgänglich nötigen Einrichtungen zu schaffen. In keinem der genannten Länder sind segensreiche Folgen erzieherischer oder sozialer Art, die von dem gemeinsamen Elemen­ tarunterricht hervorgebracht worden wären, nachweisbar, dagegen

115 tritt eine empfindliche Schädigung der unterrichtlichen Hauptaufgabe der Schule allenthalben völlig klar zutage. Wenn trotzdem nach­ ttäglich Einrichtungen, welche im wesentlichen der Zwang der Ver­ hältnisse hervorgebracht hat, als nachahmenswette Schöpfungen pädagogischer Einsicht hingestellt werden, so widerspricht das den Tatsachen, ettlärt sich aber sehr leicht aus den demokratischen und sozialen Tendenzen der Zeit. In ihnen findet die allge­ meine Volksschule selbst an denjenigen Orten, wo sie weder mehr als notwendig noch als ausreichend betrachtet werden kann, heut­ zutage ihre Hauptstütze. Diese demokratischen und sozialen Tendenzen haben dazu gefühtt, daß man jene unvollkommene Einrichtung als grundsätz­ liche und allgemeingültige Forderung für die gesamte Schulorganisation der Zukunft aufgestellt hat. Und in Ländern, die von parlamentarischen Mehrheiten regiert werden, liegt die Gefahr jederzeit sehr nahe, daß diese Forderung auch durchgesetzt wird. Wirklich gelungen ist dies bisher nur in den skandinavischen Ländern. Diese bieten also bis jetzt das einzige Beispiel einer grundsätzlichen Entscheidung für die Einheitsschule, auf das deren Freunde zu ihrer Empfehlung Hinweisen können. Wenn wir aber dieses Beispiel ins Auge fassen, so finden wir als einzige greifbare Wirkung der Einheitsschulorganisation eine völlige Zerrüttung des wissenschaftlichen Unterrichts, die das geistige Leben dieser Nationen einer ganz ungewissen Zukunft entgegenführt, und deren Folgen sich erst in Jahrzehnten werden übersehen lassen. Was haben wir Deutschen nun aus allen diesen Tat­ sachen zu lernen? Vor allen Dingen wäre es der größte Fehler, die in der Einheitsschule liegende Gefahr allzu leicht zu nehmen. Wir stehen hier vor einer folgenschweren Entscheidung, denn die Möglichkeit, daß auch wir uns schließlich auf falsche Bahnen drängen lassen könnten, ist ohne Zweifel vorhanden. Was die Sache so gefährlich macht, ist der Umstand, daß uns hier ein ideales Ziel vor Augen gestellt wird, dessen Berechtigung niemand anzweifeln kann, und daß uns zugleich zur Erreichung dieses Zieles ein Mittel angepttesen wird, das zwei herrschenden Neigungen unserer Zeit nur allzusehr entspricht. Jenes ideale Ziel ist die Herbeiführung eines Zustandes höherer sozialer Gerechügkeit und größerer innerer Einigkeit. Das hierfür 8*

116 empfohlene Mittel der Einheitsschule aber entspricht einmal der Neigung, allen Fortschritt auf dem Weg äußerer Orga­ nisation zu erstreben, und ferner der Neigung, alle Unter­ schiede möglichst zu nivellieren. Und so stimmen denn in wunderlichem Vereine der sozialdemokratischen Politiker, der national­ soziale Geistliche und der Sozialpädagoge auf dem UniversitätSkatheder in die Forderung der Einheitsschule ein. Wir haben gesehen, daß sie an sich nicht das richtige Mittel ist, um jene idealen Ziele zu erreichen. Wie kann man auch ethische Wirkungen von einer bloßen Änderung äußerer Formen erwarten? Die Gesinnung kann doch nur von innen heraus be­ einflußt und umgewandelt werden, und hierfür sind äußere Orga­ nisationen, wenn auch nicht ganz gleichgültig, so doch nicht ent­ scheidend. Nicht auf die Formen kommt dabei alles an, sondern auf den Geist, der sie erfüllt. Wer also für den inneren Frieden wirken will, der möge alles bekämpfen, was den wahrhaft idealen Mächten des Volkslebens in Religion, Sitte, Kunst und Wissenschast den Zugang zu den Herzen erschwert. Die Verfassung unserer Schulen soll er aber in Ruhe lassen. Denn durch einen Eingriff in diese, der von nicht in der Sache liegenden Gesichtspuntten aus­ geht, wird man das Ziel des sozialen Friedens nicht fördern und die Schulen nur an der Erfüllung ihrer wahren Auf­ gabe hindern. Diese Aufgabe ist der Unterricht und die im engsten Anschluß an diesen erfolgende Erziehung der Jugend für die Teilnahme am nationalen Leben und seinen verschiedenartigen Kulturgebieten. Mit der fortschreitenden Entwicklung eines Volkes muß sich die Mannigfaltigkeit der Schulen notwendig steigern, und eine große Nation mit alter und reich entfalteter Kultur muß grund­ sätzlich in ihrer gesamten Schulorganisation eine weitgehende Diffe­ renzierung der verschiedenen Schulgattungen durchführen. Des­ halb lehnen wir, grundsätzlich betrachtet, die Einheitsschule in jeder Form und in jeder Ausdehnung ab. Mit dieser Feststellung ist das Ziel unserer Untersuchung er­ reicht. Allein wir fühlen uns verpflichtet, uns mit diesem negativen Ergebnis nicht zu begnügen, sondern zu zeigen, wie auch bei einem vielgestaltigen Schulwesen doch zugleich die Forderungen der sozialcnGerechtigkeit kräftigen Ausdruck finden können.

117 Dabei sind wir uns zunächst freudig und dankbar der glücklichen Fügung bewußt, daß wir in Deutschland kein parlamentarisches Regiment besitzen, sondern daß auch in der Unterrichtsgestaltung die Regierungen das entscheidende Wort zu sprechen haben. Denn wenn irgendwo, so ist in den Fragen des geistigen Lebens die schrankenlose Macht parlamentarischer Mehrheiten vom Übel, weil bei diesen stets die Gefahr besteht, daß sie jene Fragen

nicht in ihrer Tiefe erfassen, sondern nach Tagesstimmungen und Tagcsmeinungen beurteilen. Somit haben wir Deutschen alles Recht, einstweilen der künftigen Entwicklung unseres Schul­ wesens vertrauensvoll entgegenzusehen. Wir dürfen erwarten, daß es sich auch weiterhin in der Bahn besonnener Reform bewegen und vor der Gefahr einer radikalen Umwälzung gesichert bleiben wird. Die Wünsche, die wir für diese besonnene Weiterent­ wicklung unseres öffentlichen Unterrichts hegen, laufen in allen Stücken dem entgegen, was man von einer Einführung der Einheitsschule erwarten müßte. Eine solche würde zunächst in einem bisher unbekannten Maße die Anwendung eines direkten staatlichen Zwanges auf die Einrichtung und den Betrieb der Schulen im Gefolge haben. Demgegenüber sind seit langer Zeit alle einsichtigen Kenner unseres Schulwesens in der Überzeugung einig, daß die

Nöte der vergangenen Jahrzehnte zum großen Teil gerade von einem zu starren Schulbureaukratismus und einer zu weitgehenden staatlichen Uniformierung der Schulen herstammten, und daß dem­ nach nicht das Verlangen nach strengerem Zwang, sondern nach größerer Freiheit die Losung für die Zukunft sein muß. Der Staat soll mit dem vollen Gefühl der unschätzbaren Wichtigkeit dieses Lebensgebietes seine schützende Hand über den Schulen halten; er soll aber in ihr inneres Leben möglichst wenig eingreifen und sich damit begnügen, durch seine Bestimmungen nur in den allgemeinsten Zügen für die notwendige Einheitlichkeit zu sorgen. Im übrigen soll er den individuellen Kräften und Neigungen ein möglichst freies Feld der Betätigung lassen, in der Erkenntnis, daß geistiges Leben niemals durch amtliche Verordnungen hervor­ gerufen und gelenkt werden kann, sondern daß es allein von der inneren Kraft freier Persönlichkeiten erzeugt und erhalten wird. Er soll also grundsätzlich so weit wie irgend möglich den einzelnen

118 Anstalten und den einzelnen Lehrern die Freiheit lassen, sich nach eignen Ideen auszuwirken, und er soll ebenso alle Ver­ suche begünstigen, die darauf abzielen, die Schüler der oberen Klassen wieder mehr zu freier und freudiger geistiger Tätigkeit anzuleiten, damit an die Stelle der mit matter Seele bloß für den Tag geleisteten Pensenarbeit allmählich wieder in höherem Maße eine innerliche Versenkung in einzelne selbstgewählte Studiengebiete trete. Die Versuche, die man zur Erreichung dieses Zweckes an einzelnen preußischen Anstalten mit einer gewissen Teilung der Primaner in zwei nach Begabung und Neigung ge­ trennte Linien gemacht hat, sind noch zu neu, um ein Urteil über den Erfolg zu erlauben. Sie verdienen gewiß Anerkennung, machen aber doch den Eindruck, als ob man dazu neige, das Problem etwas zu sehr von außen her anzufassen und zu viel von schema­ tischen Einrichtungen zu erwarten in einer Sache, wo alles auf die Erweckung persönlichen geistigen Lebens sowie auf weitherzige Beurtellung ankommt. Daß man jedoch eine befriedigende Lösung dieser Aufgabe in Zukunft mit allen Mitteln erstreben muß, ist sicher. Es ist hocherfreulich, daß unsere Schulverwaltungen mehr und mehr diesen Standpunkt einnchmen, und daß insbesondere die preußische Regierung jede Gelegenheit benutzt, um ihren festen Ent­ schluß zu bekunden, die Schüler der oberen Klassen je nach ihrer Art und ihrem Wesen freiere Wege gehen zu lassen, die verschieden gestaltet sein möchten nach der Eigenart der einzelnen Schule und des einzelnen Lehrerkollegiums. Die gleiche Grundanschauung führt dazu, daß wir eine mög­ lichst individuelle Ausgestaltung der verschiedenen Schul­ gattungen je nach ihren besonderen Bildungszielen und ihren eigenartigen Mitteln erstreben. Wir erblicken in dem Satz des Kaiserlichen Erlasses vom 26. November 1900, der die Möglichkeit einer kräftigeren Betonung der Eigenart der verschie­ denen Gattungen der höheren Lehranstalten hervorhebt, den bedeut­ samsten Gedanken der jüngsten Schulreform, und wir begrüßen es sehr, daß die preußische Regierung nach wie vor die Anschauung vertritt, daß von einer künstlichen Einheitlichkeit kein Heil für die Zukunft zu erwarten ist. Trotzdem ist es selbst bei freisinnigen Anschauungen im Rah­ men der staatlichen Schulorganisation nicht möglich, neue päda-

119 gogische Bestrebungen und Gedanken mit der wünschenswerten Raschheit in die Praxis einzuführen. Die staatlichen Schulen können sich nicht allzuweit von den als gangbar erprobten Wegen entfernen und bedürfen der Ergänzung durch private Er­ ziehungsanstalten, die zu allen Zeiten für den pädagogischen Fortschritt von großer Bedeutung gewesen sind. Während also in der Einheitsschule die Tendenz liegt, die privaten Anstalten zu unterdrücken, erblicken wir in ihnen gerade eine notwendige Er­ gänzung der Staatsschulen, die geeignet ist, diesen neue Anregungen zu gewähren und sie vor der Gefahr der Schablone zu schützen. Wir betrachten also eine freundliche Stellungnahme des Staates zu solcher privater Erziehungstätigkeit als selbstverständlich. Natür­ lich handelt es sich dabei nicht um bloße Geschäftsunternehmungen, sondern um solche Anstalten, in denen wertvolle und eigenartige pädagogische Gedanken nach Verkörperung ringen, wie etwa in den altbewährten Salzmannschen und Stoyschen Instituten in Schnepfenthal und Jena oder den Lietzschen Landerziehungs­ heimen oder der Nationalschule in Wertheim a. M. und der Kapffschen Erziehungsschule in Stuttgart. Was aber die staatlichen Anstalten anlangt, so muß es dabei bleiben, daß Volksschule und höhere Schulen ohne gegen­ seitige Rücksicht nur nach ihren besonderen Zielen auszu­ gestalten sind. Ob der höhere Unterricht Vorschulen nötig hat, das ist im Einzelfall nach den Verhältnissen zu entscheiden. Wo sie für wünschenswert erkannt werden, da ist der Staat durchaus berechtigt sie einzurichten. Wo dies aber von Gemeinden oder von privater Seite geschieht, da hat er keinen Grund, solchen Unternehmungen irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten, er wird sie vielmehr nament­ lich in größeren Städten im wohlverstandenen Interesse des wissen­ schaftlichen Unterrichts wohlwollend fördern. Was diesen selbst anlangt, so entsprechen die drei vorhan­ denen Gattungen des Gymnasiums, des Realgymnasiums und der Oberrealschule nebst den zugehörigen Nichtvollan­ stalten ohne Zweifel auf lange hinaus den bestehenden Bedürfnissen. Wenn es nun aber gilt, sie in ihrer Eigenart kräftiger zu entwickeln, so stellt sich diesem Streben zurzeit noch rin be­ deutendes Hindernis entgegen. Es besteht in der übergroßen Zahl der Gymnasien und der immer noch ganz unzureichenden

120 In dieser Hinsicht sind die weit­

Verbreitung der Realanstalten.

gehenden Erwartungen, die man an die Gleichstellung der höheren Schulen geknüpft hat, nicht in Erfüllung gegangen.

Gymnasien ist auch

in

Die Zahl der

den letzten Jahren nicht zurückgegangen,

sondern hat noch etwas zugenommen, allerdings weniger stark als

die der Realanstalten.

Es macht sich also ftellich die Tendenz einer

prozentualen Verminderung der Gymnasien bereits bemerkbar, und dieselbe wird künftig noch deutlicher hervortretcn, nachdem jetzt durch

Bundesratsbeschluß auch das Studium der Medizin den Oberreal­

schulen freigegeben und damit die Gleichberechtigung abgesehen von der

Theologie

völlig

durchgeführt

Gymnasialmonopol tatsächlich

Allein

ist.

doch

noch

ist

zurzeit

das

vorhanden, da

z. B. in Preußen noch immer zwei Drittel aller Städte nur ein

llassisches Gymnasium dieser Städte, sondern

besitzen, auch

so

daß

nicht nur die Bewohner

alle Offiziere

und Beamten, die in

solche versetzt zu werden erwarten müssen, genötigt sind, für ihre Kinder dem Gymnasium den

Verhältnisse

von

Vorzug

zu

geben.

Bis sich diese

selbst geändert haben, können viele Jahrzehnte

vergehen, und da es doch als eine recht trostlose Aussicht erscheinen

muß, daß man mit den inneren Reformen des höheren Unterricht-

noch so

lange warten

Schulverwaltungen

sich

sollte,

so glauben wir, daß die deutschen

über kurz oder lang entschließen

müssen,

dem Gedanken eines operativen Eingriffs, d. h. einer Umwandlung zahlreicher Gymnasien

namentlich an

anstalten trotz aller zu

zu treten.

kleineren

Orten

in

Real­

erwartenden Widerstände energisch näher

Als Grundsatz muß dabei gelten, daß für kleine Städte

mit einer einzigen höheren Lehranstalt die Realschule oder Ober­ realschule die normale Form ist.

Wir betrachten aber die Umwandlung zahlreicher Gym­ nasien

in Realanstalten deshalb als die dringendste Auf­

gabe der nächsten Zukunft, weil ohne eine solche die Natur­ wissenschaften nach wie vor in unserem höheren Schulwesen nicht

die Stellung

einnehmen,

die

ihrer theoretischen

Bedeutung enffpricht, und weil deshalb immer

und praktischen

von

neuem der

Versuch gemacht wird, den Lehrplan des Gymnasiums nach natur­ wissenschaftlichen Forderungen umzugestalten, wie z. B. durch die

von der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deuffcher Natur­ forscher und Ärzte geplante Zukunftsreformschule. In voller

121 Übereinstimmung mit Paulsen betrachten

wir diesen Vorschlag

einer Rückkehr in die Bahnen der Einheitsschule als ganz unan­ nehmbar, weil seine Ausführung uns direkt in die kaum überwun­ denen Schulwirren zurückschleudern würde. Diese Gefahr bleibt aber so lange in unmittelbarer Nähe, als die Zahl der Gymnasien nicht ganz wesentlich vermindert ist. So ist die Erfüllung dieser Forderung die unerläßliche Vorbedingung für jede wahrhafte Re­ form unsres höheren Schulwesens. Für ihre Durchführung macht Paulsen den Vorschlag, man möge die von der preußischen Regierung empfohlene Bewegungs­ freiheit auf der Oberstufe zur Errichtung einer mathematisch-natur­ wissenschaftlichen Abteilung benutzen und, wenn diese bei den Schülern Teilnahme finde, die Errichtung realer Parallelklassen ins Auge fassen, wodurch sich dann weiterhin in vielen Fällen die völlige Umwandlung in eine Realanstalt von selbst vollziehen würde. Dieser Weg mag geeignet sein, in manchen Fällen zum Ziel zu führen; ttotzdcm glauben wir, daß die Regierungen auf die Dauer gar nicht um die Notwendigkeit herumkommen, den gewünschten Um­ wandlungsprozeß auch mit kräftigeren und rascher wirkenden Mitteln zu fördern. Daß Neugründungen von Gymnasien zumal in lleineren Städten nicht mehr vorgenommen werden sollten, ist unter den angegebenen Verhältnissen eine ebenso selbstverständliche wie erfüll­ bare Forderung. Erst wenn die Gymnasien gegenüber den Realanstalten zu einer Minderzahl geworden sind, werden sie mit einer kräf­ tigeren Betonung ihrer Eigenart wirllich Ernst machen können. Zurzeit sind sie den Rcalanstalten gegenüber darin entschieden im Nachteil, und deshalb ist es nicht zu verwundern, daß gerade die Erfolge des Kassischen Unterrichts vielfach ein wenig erfreuliches Bild bieten. Für die künftige Gestaltung unseres Gymnasiallehrplaues haben wir mancherlei Wünsche, und wir scheuen uns nicht im geringsten dies auszusprechen, auch auf die Gefahr hin, daß wir radikalen Reformern damit erwünschte Gelegenheit geben, über ultta-humanistische Reakttonsgedanken zu zetern.*) Trotz solchen *) Erst nach Abschluß meiner Arbeit kommt mir das schöne Gespräch zweier Schulmänner über die Eigenart der Gymnasien zu Gesicht, das

122 Widerspruches kann die Notwendigkeit, den Gymnasiallehrplan in Zukunft einer sachgemäßen Revision vom gymnasialen Standpunkt aus zu unterziehen, für keinen Menschen, der logisch zu denken ver­ mag, zweifelhaft sein. Man hat den Unterricht in den alten Sprachen in den letzten 25 Jahren außerordentlich verkürzt, und zwar lediglich aus äußeren Gründen, um nämlich mehr Raum für die modernen Fächer zu schaffen. Das war notwendig, weil man das Gymnasium als einzige Borbereitungsanstalt für alle höheren Berufe festhalten wollte. Nachdem dieses Vorrecht gefallen ist und die den modernen Fächern dienenden Anstalten ganz gleiche Rechte erhalten haben, kann das Gymnasium den Anspruch erheben, daß eine künftige Rückwärtsrevision seines Lehrplans ins Auge gefaßt werde. Hervortreten kann es mit diesem Anspruch erst dann — das sei nochmals ausdrücklich betont — wenn das Zahlenver­ hältnis der gymnasialen und realen Anstalten sich in Zukunft voll­ ständig geändert haben und im großen und ganzen niemand mehr genötigt sein wird, toegcn Fehlens von Realanstalten seine Kinder gegen Neigung und Überzeugung in die Gymnasien zu schicken.

Sobald aber dieses Ziel in der Hauptsache einmal erreicht ist, muß die Frage, ob der heutige Lehrplan den Zwecken des altsprachlichen Unterrichts in rein gymnasialen Anstalten entspricht, notwendig einer ernsllichen Prüfung unterzogen werden. Ganz gewiß wird das Ergebnis dieser Untersuchung dahin lauten, daß sowohl der lateinische wie der griechische Unterricht zur Erreichung seiner Zwecke eine gewisse maßvolle Verstärkung seiner Stundenzahl beanspruchen könne. Denn dann erst werden diese Sprachen wieder im vollen Umfang die bildende Kraft betätigen können, die man ihnen zutraut. Man wird dann den grundlegenden sprachlichen Teil des Unter­ richts, der immer unerfreulicher und geistloser geworden ist, seitdem im letzten Heft des Jahrgangs 1906 der „Grenzboten" veröffentlicht ist. Es ist sehr erfteulich, daß der Bersaffer, Gymnasialdirektor Adolf Stamm in Anklam, den Mut hat, eS mit größter Entschiedenheit auszusprechen, daß dem

Gymnasium zurzeit nicht die gleiche Freiheit der Lebensbetätigung gewährt sei wie den Realanstalten, und daß für die Zukunft daS ganz einseitige Gymnasium mit acht Stunden Latein, acht Stunden Griechisch und vier Stunden Deutsch und Philosophie in Prima gefordert werden müsse. Wenn auch er für den klas­

sischen Unterricht die beste Hoffnung hegt, wofern nur die Gymnasialleute den Mut haben, ihre gute Sache zu verteidigen, darf ich diese völlige Übereinstimmung unserer Auffaffung als ein günstige- Omen für die Zukunft ansehen.

123 man, einer unverständigen öffentlichen Meinung nachgebend, ange­ fangen hat sich seiner zu schämen, wieder in einer Weise betreiben

können, die ein inneres Verständnis für das wunderbare Kunstwerk der antiken Sprachen erweckt. Sollte sich jemand versucht fühlen, bei diesen Worten wieder gegen mittelalterliche Anschauungen los­

zuziehen, so wird er vielleicht etwas friedlicher gestimmt werden, wenn er liest, was ein Nietzsche über verschwundene Vorbereitung zur Kunst im ersten Band von „Menschliches, Allzumensch­ liches" sagt: „An allem, was das Gymnasium trieb, war das Wertvollste die Übung im lateinischen Stil: diese war eben eine Kun st Übung, während alle anderen Beschäftigungen nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen, ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher Beredsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil. . . . Wer ehemals gut in einer modernen Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Übung (jetzt

muß man sich notgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken). Aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis." Mag man über die Richtigkeit dieser Ansicht denken, wie man will, jeden­ falls sind solche Worte aus solchem Mund geeignet, auch den mo­ dernen Philister zum Nachdenken anzuregen und in ihm die Erkenntnis aufdämmern zu lassen, daß die Dinge doch noch andere Seiten haben außer der einen, die wir von unserem momentanen Stand­ punkt aus zufällig gerade sehen. Sollte es so borniert sein, wenn man darauf denkt, diese Quelle künstlerischen Verständnisses unserer Jugend in Zukunft wieder reichlicher zu erschließen? Aber ganz abgesehen von dieser sprachlichen Seite des Unterrichts ist es auch dringend wünschenswert, die Schüler wieder mehr, als es heute möglich ist, in der antiken Literatur heimisch zu machen, vor allem in der Welt des antiken Dramas und in Platon. Und schließlich wird man erst dann die Ergebnisse des klassischen Unterrichts zu einem umfassenden Bild der antiken Kulturentwicklung vornehmlich

auf literarischem, künstlerischem und philosophisch-religiösem Gebiet erweitern können. Daß diese höchste Aufgabe des klassischen Unter­ richts zurzeit noch recht unvollkommen gelöst wird, das wird uns ja von niemand eifriger vorgehalten als von unseren Schulreformern. Sie werden es also, da sie ja die Notwendigkeit dieses Unterrichts

124 einstweilen nicht bestreiten, gewiß nur loben können, daß wir bei­ zeiten auf die zur Erreichung dieses Zieles notwendigen Mittel be­ dacht sind.

Mancher wird

über

solche Zukunftsmusik lächeln.

Warum

Ansprüche äußern, die nach unserem eigenen Zugeständnis einst­

weilen

doch

nicht erfüllt werden können?

gleichgültig ist,

Weil es

keineswegs

ob man eines Rechtsanspruchs, den man äußerer

Hindernisse wegen zurzeit nicht durchzusetzen vermag, sich

ist und ihn auftecht erhält oder nicht.

bewußt

Denn wenn man cs tut,

so zeigt man, daß man an sich und seine gute Sache glaubt,

und davon hängt am letzten Ende doch aller Erfolg in der

Welt ab.

Und so tut es auch dem Gymnasium vor allem not, daß

es trotz aller Feinde an sich selbst glaubt und den Mut hat, dies auch rückhaltlos zu zeigen.

Dann wird es auch vor der Gefahr

gesichert sein, durch solche aus bloßer Nachgiebigkeit stammenden und völlig zwecklosen Konzessionen, wie man sie im vergangenen

Jahr in Württemberg den

Gegnern gemacht hat, seine Position

noch weiter zu schwächen und sich die künftige Durchsetzung seiner Ansprüche ganz nutzlos zu erschweren.

Neben den für die gelehrten Beruft vorbereitenden neunllassigcn

höheren Lehranstalten verdienen die dem praktischen Leben dienenden Schulgattungen die kräftigste Förderung.

Denn nicht die Einheits­

schule ist diejenige Form, die den Zudrang zu den gelehrten Berufen

zu mindern und dem Erwerbsleben in Handel und Industrie tüch­

tige Elemente zuzuführen geeignet ist, sondern die lateinlose Real­ schule und mehr noch die Mittelschule.

Während die Einheitsschule naturgemäß viele Schüler

ohne

Rücksicht auf die Begabung auf den Weg wissenschaftlicher Studien

verlockt, sind die Besucher

der Realschulen in ihrer Mehrzahl

den praftischen Berufen gewonnen.

Noch immer ist die Zahl dieser

Anstalten in den meisten Gegenden Deutschlands entschieden zu klein,

namenllich in den größeren Städten.

Um den Sttom der Schüler

noch mehr als bisher von den neunklassigen Anstalten zu ihnen hinzulenken, sollte man sie auch in Hinsicht auf Schulgeldbefreiung,

Stipendien, Berechttgungcn möglichst günstig stellen.

Hier müssen

wir vor allem wieder die alte Forderung erheben, die seit Paul de

Lagarde

einsichtige Schulmänner immer von neuem vorgebracht

haben, die zuletzt Paul Caucr auf der Philologenversammlung

125

in Halle 1903 begründet hat, und die trotz alles Widerstandes so­ lange erneuert werden wird, bis sie endlich dnrchgesetzt ist. Solange überhaupt Schulen eine Einjährigenberechtigung gewähren, muß sie auch bei neunllassigen Anstalten ebenso wie bei den Realschulen trotz aller theoretischen und praktischen Bedenken an die Reifeprüfung geknüpft werden. Damit würde man einen ganz entscheidenden Schritt tun, um die große Masse der für wissenschaftliche Studien ungeeigneten Schüler von den Gymnasien ans die Realschulen und damit zu den praktischen Berufen hinüberzudrängen. Daß für kleine Städte die Realschule die den Bedürfnissen am meisten entsprechende Schulgattung ist, haben wir schon bemerkt. Indessen sollte man nicht nach dieser Richtung zu weit gehen und in jedem Landstädtchen eine Realschule oder Höhere Bürgerschule errichten, deren geringe Schülerzahl gar oft das Fehlen eines wirllichen Bedürfnisses be­ weist, und die unter solchen Umständen ohne ausreichenden Grund nur den Besitzstand der Volksschule schmälert. Daß nun gar die hier und da bestehenden zwerghasten Vorschulen solcher Anstalten mit ihrem Dutzend Schülern keine wahre Existenzberechtigung haben, darüber kann keine Meinungsverschiedenheit herrschen. In großen Städten dagegen bietet sich neben dieser Schulform auch noch den gehobenen Volksschulen, den sogenannten Mittel­ schulen ein ausreichendes Feld der Tätigkeit. Diese haben mehr und mehr Eingang gefunden, seitdem sie in Preußen durch die All­ gemeinen Bestimmungen von 1872 anerkannt worden sind, und sie haben sich, wo man sie eingeführt hat, allenthalben bewährt, da sie den Handwerkern und Gewerbetreibenden eine ihren Bedürfnissen entsprechende Borblldung gewähren und zugleich die höheren Lehr­ anstalten von solchen Elementen entlasten, die von Anfang an nicht dem Endziel der Anstalt zustreben würden. Daß der eigentliche Mittelstand zur Befriedigung seiner Blldungsbedürfnisse besonderer Anstalten bedarf, ist durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte überzeugend bewiesen worden. Denn einerseits ist es in absehbarer Zeit nicht möglich, die Volksschulen allgemein so zu heben, daß sie die Leistungen einer normalen Mittelschule zu erreichen vermöchten, andererseits ist diese Schulform für die große Mehrheit der Ange­ hörigen des Mittelstandes noch geeigneter als die Realschule. Während nämlich diese durch ihren Zusammenhang mit der Oberrealschule sich nach den Anforderungen des wissenschaftlichen Unterrichts zu richten

126 genötigt wird, hat die Mittelschule nur die Bedürfnisse des prak­ tischen, vor allen Dingen des gewerblichen Lebens im Auge und bietet ihren Schülern ohne jede Rücksicht auf gelehrte Bildung in fremden Sprachen, in Physik und Chemie, in Buchführung, kauf­ männischem Rechnen und anderen Fächern eben nur das Wissen, das für ihr Fovckommen im praktischen Leben notwendig erscheint. So hat denn namentlich in Norddeutschland das Mittelschulwesen gerade in den letzten zehn Jahren einen kräftigen Aufschwung ge­ nommen, und trotz aller Forderungen der Freunde der Einheits­ schule drängt auch auf diesem Gebiet die ganze Entwicklung nicht auf Abschaffung, sondern auf Vermehrung und Ausgestaltung dieser „Standesschulen" hin. Ohne Zweifel verdienen die Mittelschulen wegen ihrer großen Bedeutung für weite und wertvolle Volksschichten alle Begünstigung. Man darf den in ihren Kreisen laut gewordenen Wünschen auf Erteilung gewisser Berechtigungen gewiß zusttmmen, und solange überhaupt die fragwürdige Einrichtung der Einjährigenberechtigung besteht, finden wir selbst nichts dagegen einzuwenden, daß diese auch den vollständig ausgebildeten neunklassigen Mittelschulen unter gewissen Bedingungen verliehen wird. Daß es freilich für unser ganzes Schulwesen ein unendliches Glück wäre, wenn weder höhere noch mittlere Schulen mehr irgendwelches Recht hätten, ihren Zöglingen eine Erleichterung ihrer militärischen Dienstpflicht zu verschaffen, darüber sollte sich allmählich jedermann klar sein. Man macht gegen die Mittelschulen hauptsächlich den Einwand geltend, daß sie der eigentlichen Volksschule die besseren Elemente entzögen. Selbst wenn dies der Fall wäre, so wäre dies noch kein triftiger Grund gegen die Errichtung solcher Anstalten. Denn so­ bald der Erweis erbracht ist, daß eine gewisse mittlere Schicht des Bürgerstandes das Bedürfnis nach einer über den Volksschulunter­ richt hinausgehenden Bildung empfindet, ist es durch nichts gerecht­ fertigt, ihr die für sie passende Bildungsgelegenheit nur aus Rücksicht auf die anderen zu versagen. Dann müßte man folgerichttg auch die Abschaffung der höheren Lehranstalten verlangen, die der Volks­ schule erst recht die wertvollsten Schüler entziehen. Nun darf man aber behaupten, daß diese durch die Mittelschule überhaupt nur in sehr geringem Maße geschädigt wird. Denn beim Fehlen von Mittelschulen würde der bei weitem größte Teil ihrer Schüler sich nicht den Volksschulen, sondern den höheren Lehranstalten zuwenden,

127 wie das Beispiel von München unwiderleglich beweist. Und jene geringe Einbuße der Volksschule an besseren Schülern wird durch das allgemeine Steigen der wirtschaftlichen und geistigen Höhe unserer städtischen Bevölkerung reichlich ausgeglichen. So hat denn unseres Wissens noch niemand auch nur die Spur eines Beweises dafür beigebracht, daß seit Errichtung von Mittelschulen der Stand des Volksunterrichts in den betreffenden Städten gesunken sei, daß dieser gar irgendwo auf dem Weg zur Armenschule begriffen sei. Im Gegenteil befindet sich in denselben Städten, die seit zwanzig

und dreißig Jahren Mittelschulen besitzen, das Volksschulwesen überall in erfteulichster Entwicklung. Und so darf man hoffen, daß auch in Zukunft die Volks­ schule trotz alledem Lebenskraft genug betätigen wird, um sich eigen­ artig und kräftig auszugestalten. In dieser Hinsicht bleibt gewiß noch genug zu tun. Vor allem gilt es, die äußeren Hindernisse nach Möglichkeit zu beseitigen, die einem wahrhaft ersprießlichen Unterricht bisher noch im Wege stehen. Noch ist allenthalben die Schülerzahl der einzelnen Klassen übermäßig groß, noch sind viele Volksschulen mit Lehrmitteln unzureichend ausgestattet. Nach beiden Richtungen muß gewiß mit allen Mitteln eine Besserung angestrebt werden. Berechtigt ist ferner der Wunsch nach unentgeltlicher Lie­ ferung aller Lernmittel an die Schüler, zu dessen Anwalt sich bisher leider fast nur die sozialdemokratische Partei aufgeworfen hat. Und doch sollte man anerkennen, daß es jedenfalls ein wünschenswerter Zustand wäre, wenn die vom Staat eingeführte Pflicht zum Besuch seiner Volksschulen den Familien keinerlei finanzielle Opfer aufer­ legte; dann erst würde die Schule ausschließlich als Freundin und Wohltäterin des Volkes erscheinen und in vollem Maße segens­ reich wirken. Und schließlich müßte namentlich in den größeren Städten den zahlreichen Schülern der ärmeren Klassen, denen die häuslichen Verhältnisse die Erledigung irgendwelcher Schulaufgaben unmöglich machen oder doch sehr erschweren, überall die Ge­ legenheit geboten werden, in gesunder Lust und bei guter Beleuch­ tung ihre Arbeiten anzuferttgen und weiterhin auch in geeigneter Lektüre, in Spielen und Handarbeiten Anregung und Belehrung zu finden. Alle diese Wünsche vermögen bis jetzt gegenüber den finanziellen Schwierigkeiten nicht zum Wort zu gelangen; und doch müssen, sobald einmal die unbedingte Notwendigkeit der er-

128 wähnten Maßregeln erkannt ist, auch die erforderlichen Mittel zu beschaffen fein. Erst nach Beseitigung jener äußeren Hindernisse wird die Volksschule zu der inneren Reform ihres Unterrichts ge­ langen können, die von den besten Männern deS Lehrerstandes vor allem ersehnt wird. Es handelt sich dabei um nichts Geringeres als das Bestreben, den schablonenhaften Drill und die mechanische Gedächtnisarbeit, die m ihrem Unterricht allzusehr überwiegen, mehr und mehr zu ersetzen durch eine wahrhafte Entwicklung und Bil­ dung des Geistes von innen heraus. Es handelt sich ferner darum, den Unterricht inhaltlich zu bereichern und zu vertiefen und ihn, kurz gesagt, mehr als bisher mit wissenschaftlichem Geist zu erfüllen. Schon tritt die Einführung einer fremden Sprache in den Volksunterricht unserer großen Handelsstädte in den Bereich der Möglichkeit, wie sie in Hamburg und Basel bereits verwirllicht ist und wie man sie eben jetzt mit Beginn des neuen Schuljahres sogar in den oberen Bolksschulklassen der kleinen Stadt Friedberg in Hessen für befähigte Knaben und Mädchen einzurichten im Begriff ist. Und schon sprechen ernste und besonnene Pädagogen es aus, daß die Volksschule, um ihre Aufgabe in vollkommener Weise zu lösen, noch ein weiteres Schuljahr nötig habe, und daß alle Anzeichen auf die Verwirklichung dieses Wunsches hindeuteten. Wer würde sich nicht freuen, daß viele wackere Männer bemüht sind, der Volks­ schule in dieser Weise höhere Ziele zu stecken? Eine Erweitemng und Steigerung ihrer Leistungen wird sich natürlich nur schrittweise vollziehen; was aber nach dieser Richtung hin unternommen und erstrebt wird, verdient sicherlich die wohlwollendste Unterstützung. Aus diesem Zusammenhang heraus ist nun auch das Ver­ langen nach Umgestaltung der Lehrerbildung und Anschluß an die Universität zu beurteilen. Die Frage der Scminarreform ist seit langer Zeit im Fluß, da man dem hergebrachten Seminar­ unterricht wohl nicht ohne Grund einen öden Drill vorwirst und die berechtigte Forderung erhebt, daß den angehenden Lehrern das Wissen durch eine Geist und Urteil bildende, wissenschaftlichen An­ forderungen entsprechende Methode überliefert werde. Inhaltlich soll die Lehrerbildung, namentlich durch Aufnahme zweier Fremdsprachen, so erweitert werden, daß sie allen Aufgaben auf dem Gebiet des Volksschulwesens einschließlich der Mittelschulen gewachsen sei. Dar-

129 aus ergibt sich dann von selbst das Bestreben, den tüchtigsten Män­ nern des Lehrerstandes die Zulassung zur Universität zu verschaffen und die leitenden Stellungen auf dem Gebiet der Volksschule, die der Seminardirektoren, Seminarlehrer und Kreisschulinspektoren, in Zukunft solchen akademisch gebildeten Volksschullehrern vorzubehalten. Alle diese Wünsche enffprechen durchaus der Wichtigkeit, welche die Volksschule und die Volksbildung im 20. Jahrhundert besitzen, sowie der Bedeutung und der geistigen Höhe, zu der sich der Stand der Volksschullehrer erhoben hat. Und doch ist in dieser Hinsicht in den meisten deutschen Staaten noch recht wenig geschehen. Namentlich haben sich bisher erst drei Staaten dazu enffchließen können, den Lehrern die Pforten der Universität zu öffnen: das Königreich Sachsen, Sachsen-Weimar und Hessen. In diesen Ländern können die Lehrer unter bestimmten Voraussetzungen als Studie­ rende der Pädagogik die Universität besuchen und die pädagogische Prüfung ablegen, die ihnen den Zugang zu den höheren Stellen im Volksschulwcsen eröffnet. Die Wünsche dcr Bolksschullehrerschast gehen freilich noch weiter. Man verlangt bekanntlich die völlige Gleichstellung der Seminarcntlassungsprüfung mit der Reifeprüfung der höheren Lehranstalten und damit die schrankenlose Zulassung zur Universität und ihren Prüfungen. Davon kann natürlich keine Rede sein, schon aus dem naheliegenden Grund, weil bei der gegenwärtigen Rege­ lung der Gehalts- und Rangverhältnisse die vom Seminar kom­ menden Studenten sich durchweg auf andere Fächer werfen würden und für die Volksschule verloren wären. Zu diesem Zwecke sind aber doch sicher unsere Lehrerseminare nicht eingerichtet, und keine Schulverwaltung wird zu einer solchen Schädigung der Volksschule die Hand bieten. Eine allgemeine Zulassung der Seminarabitu­ rienten zur Universität würde also zur Voraussetzung haben, daß man die etwa 125000 deutschen Volksschullehrer mit den akade­ misch gebildeten Beamten int Gehalt völlig gleichstellte, daß man für sie außerdem auf dem Land überall die entsprechenden Amtswoh­ nungen baute und ihnen überhaupt die gleichen Aussichten für ihr Fortkommen gewährte wie den anderen Beamtenklaffen. Bedenkt

man dies, so erkennt man, daß es mit der Verwirklichung jener weitgehenden Wünsche keine Eile hat, weil die entgegenstehenden finanziellen Schwierigkeiten auf absehbare Zeit hin unüberwindlich Müller, Die lüefaüren der Einheitsschule.

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130 sind. In diesem Sinn kann man immerhin dem Urteil Paulsens bei­ pflichten, der die auch von der Königsberger Lehrerversammlung 1904 angenommene Forderung, daß alle Lehrer aller Schulen und Stufen ihre wissenschaftliche Ausbildung auf der Universität empfangen sollen, für utopisch erllärt. Freilich können wir die inneren Gründe gegen jene Bestrebungen der Lehrerschaft, die Paulsen in der Gestaltung des Universitätsunterrichts und in der Aufgabe der Volksschule erblickt, nicht als unbedingt durchschlagend ansehen. Allerdings hat er recht mit der Behauptung, die Volksschule brauche keine Wissenschastsspezialistcn. Aber erstens ist die Ausbildung wissenschaftlicher Forscher nur eine unter mehreren Aufgaben der Hochschule, und zweitens bestehen auch die heutigen akademisch gebildeten Stände nur zum allerge­ ringsten Teil aus Wissenschastsspezialistcn und brauchen solche für den größten Teil ihrer Aufgaben ebenfalls nicht. Wenn man sich also von dem Beruf des Volkslehrers der Zukunft, als des Mannes, der dem Volk ein Berater, ein Führer und ein Vorbild sein soll in der Schule und im Leben, eine so hohe Vorstellung macht, daß man die akademische Bildung für ihn als notwendig ansieht, so können wir dies dem Lchrerstand ruhig als ein schönes, wenn auch einstweilen unendlich fernes Ideal überlassen. Denn es lockt ihn nicht auf Irrwege, sondern treibt ihn vielmehr zu rastlosem Fort­ schreiten auf der Bahn, auf der in Wahrheit aller Fortschritt un­ seres Schulwesens liegt, und auf der es sich tatsächlich entschieden vorwärts bewegt. Ob aber jenes letzte Ziel des Volksunterrichts in Zukunft einmal erreicht werden kann, das vermag keiner von uns mit Sicherheit vorauszusagen. Durch eine derartige kräftige Weiterentwicklung der einzelnen Schulsormen kommen wir allerdings nimmermehr dem Phantom der Einheitsschule näher, wohl aber einem einheitlichen nationalen Schulsystem. Wo aber überhaupt frisches Leben herrscht, da be­ steht die allein mögliche Einheit nicht in äußerer Einförmigkeit, sondern in der rechten Harmonie der lebendigen und eigenartig sich entfaltenden Organismen. Und so ist auch im Schulwesen die Gnheit nicht in einer mechanischen Gleichmacherei zu suchen, sondern in der inneren Einheitlichkeit der aus den verschiedenen Kulturbe­ strebungen hervorwachsenden mannigfaltigen Schulformen. Das Ge­ fühl gemeinsamen Arbeitens für ein einziges großes Ziel muß alle Glieder des nationalen Schulsystems im Innersten durchdringen.

131 Wenn Paulsen urteilt, daß wir diesem Ziel im letzten Menschen­ alter ein beträchtliches Stück nähergekommen seien, so gründet sich solches Urteil nicht zum wenigsten auf die außerordentliche Vermin­ derung des Abstandes zwischen der akademischen und der seminari­ stischen Lehrerbildung. Aber noch bleibt auch hier genug zu tun. Vor allem müßte die Einheit des Schulwesens auch in denjenigen deutschen Staaten, in welchen es noch nicht der Fall ist, durch Einrichtung einer für alle Schulen gemeinsamen Oberschulbehördc ihren äußeren Ausdruck finden. Ferner müßte den angehenden Lehrern der höheren und niederen Schulen die Gemeinsamkeit aller Erziehungsarbeit nachdrücklicher als bisher zum Bewußtsein gebracht und die Gelegenheit und Anregung zum Besuch anderer Schulgat­ tungen reichlicher als bisher geboten werden. Auf diesem Weg würden sich dann ganz von selbst noch weitere Möglichkeiten ergeben, die wahrhafte innere Einheit der gesamten nationalen Erziehung zu pflegen, die Einheit im Geist und in der Gesinnung, auf die es allein ankommt. Einen Vorteil würde freilich, wie wir gesehen haben, die von den Reformern erstrebte äußere Einheit der Schulorganisation bringen. Sie würde den Zugang zu den höheren Berufen ganz außerordentlich erleichtern. Jedermann in Stadt und Land würde noch im zwölften Jahre von jeder Volksschule aus, im fünf­ zehnten von jeder Höheren Bürgerschule aus den Weg zu allen akademischen Berufen mit Bequemlichkeit erreichen können. Aber hier stehen wir eben vor der Frage, bei der sich die Geister scheiden. Sollen wir den Weg zu den Höhen des Lebens möglichst bequem gestalten und damit jede Mittelmäßigkeit auf diesen Weg locken? Oder sollen wir ihn so schwierig machen, daß er nur durch An­ strengung und durch Opfer zu erreichen ist, und daß nur die wirklich Tüchtigen sich versucht fühlen, ihn zu beschreiten? Man sieht so­ fort, das eine entspricht dem Interesse der Einzelnen, des Publikums, das andere dem Interesse der Gesamtheit, des Staates, und darin liegt die ganze Schwierigkeit unseres Problems beschlossen. Ganz gewiß dient es nicht zum Besten der Gesamtheit, wenn der Mittelmäßigkeit aus allen Volksschichten Tür und Tor zu den leitenden Berufen allzu bereitwillig geöffnet wird. Aber den Reichen und Vor­ nehmen sollen die höheren Schulen natürlich uneingeschränkt offenstehen, wird man einwenden. Allerdings muß dies der Fall sein, erwidern 9*

132 wir darauf, denn es ist eine Folge der gegebenen sozialen Verhältnisse, gegen die wir zunächst nichts machen können. Wenn aber dadurch eine größere oder geringere Anzahl untüchtiger Elemente aus den oberen Ständen in die höheren Schulen gelangt, so wird doch die Sache wahrhaftig nicht dadurch besser gemacht, daß wir „um der sozialen Gerechtigkeit willen" nun den Mittelmäßigkeiten aus allen Volkskreisen die höheren Schulen gleich schrankenlos zugänglich machen. Sondern die Abhilfe ist naturgemäß auf dem entgegen­ gesetzten Weg zu suchen. Wir dürfen den Unterricht der höheren Schulen nicht zum Kinderspiel werden lassen, sondern müssen ihn so schwierig gestalten, daß die wirklich unbegabten oder untüch­ tigen Elemente seinen Anforderungen nicht gewachsen sind und trotz Rang, Stand und Vermögen zurückgehalten und nötigenfalls ganz abgcstoßen werden. Das ist für einen vernünftigen Menschen, der nicht in den Wolken, sondern auf dem Boden der gegebenen Ver­ hältnisse wandelt, die einzig mögliche Betätigung sozialer Gerechtigkeit in den höheren Schulen. Es ist ganz natürlich, daß solche Forderungen höchst unpopu­ lär sind und gerade in einflußreichen Kreisen auf hartnäckigen Widerstand stoßen. Um so mehr muß die Schule mit aller Strenge darauf halten, daß das geschieht, was Pflicht und Gewissen von ihr fordern. Und Pflicht und Gewissen fordern von ihr eine genaue Aufrechterhaltung der von den amtlichen Bestimmungen festgesetzten Anforderungen. Denn der Staat hat den Zugang zu allen höheren Berufen von der Erfüllung bestimmter geistiger Arbeitsleistungen abhängig gemacht. Er hat also ausdrücklich an­ geordnet, daß die Selektion der Führer, ohne die keine menschliche Gemeinschaft möglich ist, nach Maßgabe der geistigen Fähigkeiten vorgenommen werde. Und noch hat niemand eine vollkommenere Art der Auslese vorzuschlagen gewußt. In den Zeiten niedrigster Kultur erfolgte sie jedenfalls in der Hauptsache nach roher Körper­ kraft und physischer Tapferkeit; später geschah sie jahrhunderte- und jahrtausendelang einfach durch die Zugehörigkeit zu dem im Be­ sitz aller Vorrechte befindlichen Adel; und seit der Aufhebung aller Privilegien und der Einführung einer allgemeinen Rechtsgleichheit würde ohne weiteres die allerbrutalste Form der Auslese, die nach dem Vermögen, an die Stelle treten, wenn es den staatlichen Ge­ walten nicht gelingen sollte, sie durch die eines freien und ge-

133 sitteten Volkes allein würdige Auslese nach der geistigen Fähigkeit und Strebsamkeit zu ersetzen. Dafür haben sich unsere modernen Kulturstaaten grundsätzlich alle entschieden, und das ist sozial gedacht. In Wirklichkeit aber fehlt gar viel daran,

daß jene Auslese von unseren Schulen überall mit der nötigen Gewissenhaftigkeit gehandhabt würde. Ein Gefühl des Mitleids, das einer ganz kurzsichtigen Kastenhumanität entspringt, ver­ führt in zahlreichen Fällen dazu, bei den Versetzungen etwas von der nötigen Strenge nachzulassen, und so rücken in unserem Vater­ land jahraus jahrein zahlreiche Schüler, die den vorgcschriebencn Anforderungen in Wahrheit nicht genügen, doch in die höhere Klasse auf. Hat über einer Klasse mehrere Jahre lang eine solche verkehrte Nachsicht gewaltet, so kann es der Fall sein, und es ist häufig genug der Fall, daß die Zahl der unfähigen oder kcnntnislosen Schüler in ihr eine solche Höhe erreicht, daß die Anforderungen auf das allerbescheidenste Maß herabgesetzt werden müssen. Die notwendige Folge ist, daß die begabten Schüler dieser Klasse auch ohne irgend welche ernste Anstrengung mitkommen und sich jedes solide Arbeiten gänzlich abgewöhnen. Sind die Dinge einmal soweit gediehen, so kann die Schule meist überhaupt nichts mehr gegen den geschilderten Schaden ausrichten. Denn dazu wäre ein rücksichtsloses Durch­ greifen nötig, das auch nicht davor zurückschrcckte, nötigenfalls einmal einen großen Teil jener Klasse von der Versetzung zurückzuhalten. Dazu gehört aber eine außergewöhnliche Energie, wie sie die we­ nigsten Menschen besitzen; und wenn ein Lehrer sie besitzt, ist es in vielen Fällen noch sehr fraglich, ob die höheren Instanzen ihn gegen die öffentliche Meinung zu stützen vermögen. So kommen denn mitunter Primen zustande, in denen bei dem Durchschnitt der Schüler nicht nur von gediegenen Kenntnissen, sondern auch nur von einer Gewöhnung an ernstes Arbeiten und einem regen Interesse für geistige Güter keine Rede ist, und bei denen sich die Schule im täglichen Unterricht und schließlich auch in der Reife­ prüfung mit der bloßen Fiktion jener Dinge zufrieden geben muß, weil niemand weiß, wie dem Übel noch abzuhelfen sein könnte. Welche Zahl von nicht genügend kenntnisreichen, arbeitsgewohnten oder befähigten Schülern van unseren höheren Schulen alljährlich zur Universität entlassen wird, davon könnten vor allem unsere

Hochschullehrer manches erzählen.

Um zu zeigen, wie man unter

134 ihnen über diese Dinge denkt, dürfen wir aus diesen Kreisen wenigstens einen Eideshelfer herbeirufen.

Der Gießener Professor der Theologie

Gustav Krüger bezeichnete vor kurzem in einem Aufsatz im „Huma­ nistischen Gymnasium" ein verstärktes Sichbesinnen des Gymna­ siums auf seine große Aufgabe als das, was man wünschen müsse. Dann fährt er fort: „Auch wird dabei vielleicht ein Punkt, den ich je länger je mehr als überaus wichtig empfinde, nicht genug ins Auge gefaßt. Das ist, kurz gesagt, die notwendige Rücksichts­ losigkeit gegen das unzulängliche Schülermaterial. Wer in der Lage ist, einen Sohn am Gymnasium zu haben, der dahin

gehört, der weiß davon ein Lied zu singen. Vollgepfropfte Klassen, bis zu 50 und mehr Schülern, und darunter oft ein Dutzend, deren gänzliche Unfähigkeit, den Aufgaben des Gymnasiums gerecht zu

werben, meist schon vor der Tertia mit gar nicht zu verkennender Deutlichkeit sichtbar ist. In der Tertia, wenn der Unterricht im Griechischen einsetzt, ist meist schon eine völlige Deroute eingetreten. Mit Hilfe von Extrastuuden quält sich der eine oder andere noch zu einem Genügend hindurch. Ist ihm oder ist der Aufgabe des Gymnasiums damit im mindesten gedient? Wächst sie nicht zu bedrohlicher Größe gerade jetzt heran? Wäre es nicht viel besser,

hart zu sein und den Gequälten von der Schwelle zurückzuweisen, über die in den Tempel zu treten ihm ja doch niemand mit gutem Gewissen gestatten kann? Wir haben doch die Gleichberechtigung überall da, wo sie nötig ist, und freuen uns ihrer. Und wären es nur die ,Genügenden', die man noch passieren läßt! Auch von jenem Dutzend wird leider Gottes mehr als zu viel noch ein Jahr oder mehr mitgeschleppt; es könnte ja den einen oder anderen noch eine Erleuchtung überkommen! Und die armen Eltern, die den Sohn von der Schule wcgnehmen müssen und mit denen man doch Mitleid haben muß! Die arme» Eltern? Froh sollen sie sein, wenn ihnen das jetzt passiert, wo der Sohn noch ftisch ist und leicht imstande, einen Beruf zu ergreifen, der seinen Fähigkeiten und seinen Interessen angemessen ist. Wenn sie wüßten, wie schwer es ist, einen Sohn nach Hause kommen zu sehen, der zum zweiten­ öder gar zum drittenmal durch das theologische Examen gefallen ist! Warum? Nicht weil er an sich dumm war oder schlecht, son­ dern weil er seinen Beruf verfehlt hat. Das einzige Hilfsmittel, das der Gymnasiallehrer in der Hand hat, wenn er den ohnehin ge-

135 fährdeten Lehrgang noch einigermaßen sicherstellen will, ist, daß er sich das ausreichend interessierte und begabte Schülermaterial schafft. Dies Mittel aber hat er, und darum soll er es nutzen, rücksichtslos vor allem gegen die so oft mit Blindheit geschlagenen Eltern. Mag dann der Geheimrat 3E. auf die Schule wettern, die seinen Sohn durchzuschleppen sich weigert, das darf den Lehrer nicht be­ irren." Sehr richtig! Aber, fügen wir hinzu, noch weniger darf es den Direktor in seiner Stellungnahme beirren, und am aller­ wenigsten darf es die Maßregeln der Schulbehörden beeinflussen, die gewiß ihren Blick immer auf das Wohl der Gesamtheit gerichtet halten sollen. Wer unsere Schulen aus eigener Erfahrung kennt, der weiß, daß in der geschilderten unberechtigten Rücksichtnahme auf die Wünsche der einzelnen der allerschlimmste Schaden unseres gesamten Schulwesens liegt, hinter dem alle anderen wirklichen oder angeblichen Mißstände an Bedeutung weit zurück­ bleiben. Fragen wir aber, wer eigentlich für diese vielfach geübte falsche Nachsicht verantwortlich gemacht werden muß, so erkennen wir als die Hauptunheilstifter die professionellen Schul­ reformer und namentlich die einseitigen Schulhygieniker, von denen die öffentliche Meinung durch das unentwegt beschworene Gespenst der Überbürdung so stark beunruhigt worden ist, daß die

Schule die notwendigen Anforderungen nicht immer aufrecht zu erhalten vermag. Die Tatsache, daß die Einrichtung unseres Unter­ richtes in den oberen Klassen eine gewisse Schulmüdigkeit hervor­ zurufen geeignet ist, rechtfertigt nicht die fortgesetzte Behauptung einer übermäßigen Inanspruchnahme der Zeit und der Kraft unserer Jugend durch die höheren Schulen, eine Behauptung, die früher einmal in weiterem Umfang zutreffend war, die aber für die jetzigen Verhältnisse seit geraumer Zeit posittv unrichtig ist. Und trotzdem operiert Professor Griesbach nach wie vor mit dem zweifelhaften Mittel von Fragebogen, die den übermäßigen Umfang der Schul­ arbeiten dartun sollen, und wartet uns mit dem Beispiel dieses oder jenes Tertianers oder Primaners auf, der einmal fünf oder sechs Stunden für Erledigung seiner Hausaufgaben gebraucht habe. Durch solche Darstellungen wird ein unendlicher Schaden gestiftet, indem beim großen Publikum der Eindruck hervorgerufen wird, als ob solche Fälle, die ganz selbstverständlich bei normalen Schülern

136 nur ganz ausnahmsweise vorkommen und meist durch besondere Umstände ihre Erklärung finden, auf unseren höheren Schulen die Regel seien, und inbeui unverständige Eltern nur immer mehr in ihrer Neigung bestärkt werden, die Schuld für die Mißerfolge ihrer Kinder der Schule aufzubürden, während sie doch in der Mehrheit der Fälle in Mangel an Begabung oder Strebsamkeit bei den Schülern begründet ist. Die Wirkung dieser fortgesetzten Agitation für Herabminderung der Schulzeit und der Hausaufgaben kann nur die sein, daß das Publikum noch unterstützt wird in seinem törichten Anspruch, daß alle Knaben, die in Sexta ausgenommen werden, ob befähigt oder unbefähigt, auch mit Bequemlichkeit den Anforderungen des Unterrichts gerecht werden und das Ziel der Anstalt erreichen müssen. Das ist auch eine Auffassung von der Aufgabe der Schule, aber ganz gewiß keine soziale! Soll denn über den künftigen Beruf der Jungen einfach der Umstand ent­ scheiden, daß ihre Eltern das nötige Geld besitzen, um sie in eine höhere Schule zu schicken? Soll ihnen wirklich damit das Reife­ zeugnis und der Zutritt zu allen führenden Stellungen garantiert sein? Gesetzt, daß künftig der Proletarier zu dem hochgestellten Mann spricht: „Steh mir Rede und Antwort! Wie kommt es, daß du es dir an der reichbesetzten Tafel des Lebens wohl sein läßt, während ich in Dürftigkeit lebe?" Dann wird, wenn es nach den Wünschen jener Leute geht, die Antwort nicht mehr lauten können: „Weil ich ein Maß geistiger Arbeit geleistet und geistiger Fähigkeiten bewiesen habe, das über deine Kräfte hinausgeht." Sondern der vornehme Mann wird achselzuckend sprechen: „Weil mein Vater Geld genug hatte, um für mich neun Jahre lang das Schulgeld für das Gymnasium zu bezahlen und mir diese Zeit hindurch meinen Unterhalt zu gewähren, während dein Vater ein armer Schlucker war." Gott möge unser Vaterland davor be­ wahren, daß jemals solche Denkart Einfluß auf die Gestaltung unseres Schulwesens erlangte! Damit wäre der Weg betreten, der zur sozialen Revolution führte. Deshalb weisen wir die Ratschläge jener falschen Propheten mit aller Entschiedenheit zurück in der Überzeugung, daß eine übermäßige Erleichterung der Anfor­ derungen des höheren Unterrichts ein soziales Ver­ brechen ist. Infolge der ewigen Überbürdungsklagen sind wir zurzeit

137 weit davon entfernt, solche echt soziale Gesinnung in unserem Schul­ wesen überall mit der nötigen Entschiedenheit zu betätigen. ES ist deshalb dringend zu wünschen, daß Direktoren und Schulregierungen es allezeit als eine wichtige Aufgabe erkennen, allzu rücksichtsvollen oder humanen Lehrern einer irregeleiteten öffentlichen Meinung gegenüber den Rücken zu stärken und sie durch alle ihre Maß­ nahmen unmißverständlich darauf hinzuweisen, daß der Staat den höheren Schulen die Verleihung der wichtigsten Vorrechte anver­ traut hat, und daß die Schule diese Vorrechte nach strenger Ge­ rechtigkeit zu vergeben hat, aber nicht befugt ist, sie aus bloßer Gutmütigkeit an Leute zu verschleudern, die den vorgeschriebenen Bedingungen nicht gerecht zu werden vermögen. Und den Schul­ hygienikern gegenüber soll man es offen und ehrlich aussprechen, daß in unseren höheren Schulen Überbürdung vorkommt und vor­ kommen muß, zwar nicht bei dem Durchschnitt der normal beanlagten Schüler, aber bei den unter den heutigen Verhältnissen sehr zahlreichen notorisch unbefähigtcn oder untüchtigen, die von ihren Vätern dorthin geschickt werden, weil ja darüber zunächst nur Stel­ lung und Einkommen entscheiden. Wehe uns, wenn in unseren höheren Schulen niemand mehr überbürdet würde! Dann wären sie wirklich zu Werkzeugen des Kastenegoismus herabgesunken. Und doch sind es ganz dieselben Leute, die darüber zetern, daß unsere höheren Schulen nur den Reichen und Vornehmen offen stünden, und die uns trotzdem bei der einzig möglichen Maßnahme zur Herstellung der sozialen Gerechtigkeit in den Arm fallen. Und vor solcher Logik soll man noch Respekt haben! Wir sind jedoch keineswegs der Meinung, daß wir unsere soziale Gesinnung nur in dieser negativen Maßregel der Abwehr untüchtiger Sprößlinge der wohlhabenderen Volkskreise von den höheren Be­ rufen betätigen sollen. Vielmehr muß sich damit eine gesteigerte Fürsorge für die Ausbildung hervorragend begabter Kinder armer Leute verbinden. Wir stehen nicht an, die For­ derung, daß der Staat für diesen Zweck mehr als bisher tun müsse, für völlig berechtigt zu erklären. Diese Anschauung hat nichts zu tun mit der von dem sozial­ demokratischen Parteiprogramm geforderten höheren Ausbildung aller befähigten Kinder auf Staatskosten. Wie wir eine Ver­ pflichtung des Staates zu einer solchen Maßregel nicht anerkennen,

138 würden wir auch von einer derartigen künstlichen Züchtung der Mittelmäßigkeit nur schlimme Folgen für die Gesamtheit erwarten. Mr denken mit Ries, daß man von den Halbtalenten nicht so viel Wesens machen sollte; die wirklich zu höheren Studien ge­ eigneten Kinder aber sind in den unteren Ständen, wie jeder

Kenner der Verhältnisse bezeugt, viel seltener, als man sich das vorzustellen geneigt ist. Und deshalb sind wir der Meinung, daß

man auf der einen Seite dem Streben nach oben weniger als bisher entgegenkommen sollte. Der Prozentsatz der Freistellen, die unsere höheren Schulen zu vergeben haben, ist so hoch, daß bei

einer falsch verstandenen Humanität in ihrer Verleihung sehr leicht unbefähigte Köpfe dazu verleitet werden können, den studierten Berufen zuzustreben. Viel wichtiger ist jedoch die andere Seite der Sache. Für diejenigen, die wirklich eine ausgesprochene Be­ gabung und einen inneren Drang zu höheren Studien haben, müßte in weit vollkommenerer Weise gesorgt werden, als dies zur­ zeit geschieht. Mit dem bloßen Erlaß des Schulgeldes ist soviel wie nichts getan. Die Hauptsache wäre natürlich, daß den unbemitteltenEltern solcher Schüler während der langenSchulzeit und während der Studienjahre auch die Sorge für den Unterhalt ihrer Söhne abgenommen würde. Es muß also die bestimmte Forderung erhoben werden, daß der Staat mit diesem bequemen und billigen System der Verleihung von Frei­ stellen bricht und sich entschließt, in seine Tasche zu greifen und sich die Ausbildung hervorragend befähigter Kinder armer Leute wirklich etwas kosten zu lassen. Die Berechtigung dieser Forderung leiten wir in erster Linie aus dem Interesse der Gesamtheit ab, wahren Talenten eine entsprechende höhere Ausbildung zu ermöglichen. Nächstdem ist es aber auch ein Gebot sozialer Gerechtigkeit gegen die unteren Stände. Diese Auffassung steht keineswegs im Widerspruch mit unserer ablehnenden Haltung gegen eine allgemeine Einheitsschule. Denn daß man die gesamte Jugend der ärmeren Klassen durch eine grundsätzlich bequeme Gestaltung des öffentlichen Unterrichts geflissent­ lich zum Streben nach höheren Lebensstellungen einlädt, das entspricht, wie wir zu zeigen versuchten, weder dem Wohl der Allgemeinheit noch dem der unteren Volksklassen. Überhaupt ist es ja, wenn wir die Sache richtig auffassen, für die armen Famllien selbst weit

139 mehr ein der Gesamtheit gebrachtes Opfer, wenn sie ihre Söhne den höheren Ständen zustreben lassen, als ein ihnen widerfahrenes Glück. Denn für sie selbst ist der gelehrte Sohn früher oder später verloren. In den meisten Fällen wird der Herr Doktor oder Assessor von seinen armen und ungebildeten Verwandten möglichst wenig mehr hören wollen, und selbst wenn er sich derselben nicht schämt, ist doch eine innere Entfremdung bei dem großen Abstand der Lebensinteressen ganz unvermeidlich. Kein Zweifel, daß eine Arbeiterfamilie viel mehr Aussicht hat, an ihren Kindern wirklich

Freude zu erleben, wenn diese in dem Lebenskreise der Eltern bleiben und in ihm durch Fleiß und Tüchtigkeit eine etwas höhere Stufe erreichen. Allein trotz alledem wird es auch nicht allzu selten Fälle geben, wo bei dem Sohn eine so starke Begabung und Neigung für eine höhere Ausbildung und bei den Eltern eine so opferwillige Liebe vorhanden ist, daß sich die Allgemeinheit der Pflicht einer ausreichenden Hilfe nicht entziehen darf. Das gleiche gilt erst recht für hervorragend begabte Kinder, deren Eltern ge­ storben sind oder ihrer Pflicht nicht in genügender Weise nach­

kommen. Daher billigen wir durchaus das Verlangen, daß in das Aus­ gabenbudget unserer deutschen Staaten regelmäßig eine entsprechende Summe ausgenommen werde, die dazu dient, hervorragend begabten Söhnen armer Eltern den Besuch der höheren Lehranstalten zu ermöglichen und während dieser Zeit den Unterhalt zu gewähren. Den Universitäten stehen zu dem gleichen Zweck schon bedeutende Stiftungen zur Verfügung. Aber auch die aus diesen gewährten Stipendien sind zurzeit auf der einen Seite zu zahlreich, auf der anderen zu knapp bemessen, so daß sie vielfach durch Vermehrung des gelehrten Proletariats geradezu schädlich gewirkt und doch den einer Förderung wahrhaft würdigen jungen Leuten keine ausreichende Hilfe geboten haben. Es ist erfreulich, daß sich die Hochschulen der auf diesem Gebiet zu lösenden Aufgaben völlig bewußt sind. Ohne Zweifel wird man aber, um die begonnene Reform des Stipendienwesens in beftiedigender Weise durchführen zu können, auch hierfür in Zukunft noch weitere staatliche Mittel flüssig machen müssen, zumal auch für die Technischen Hochschulen in gleicher Weise gesorgt werden müßte. Um die vom Staat unter seine Obhut genommenen begabten

140 Söhne armer Leute während ihrer Schulzeit in sachgemäßer Weise erziehen zu können, wird man nun auch der Errichtung von Alumnaten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken müssen als bisher. Daß den Nachteilen der Alumnatserziehung bei guter Leitung sehr große erzieherische Vorzüge gegenüberstehen, wird von keinem unbefangenen Kenner dieser Einrichtung geleugnet. Schon die große Anzahl tüchtiger und bedeutender Männer, die aus Alumnaten hervorgegangen sind, spricht für dieselben, und es war gewiß kein Zeichen pädagogischer Einsicht, daß man ihre Einrich­ tung im vergangenen Jahrhundert in einem großen Teil namentlich des protestantischen Deutschland so völlig vernachlässigt hat. Man muß es als einen empfindlichen Mangel unseres Schulwesens be­ zeichnen, daß in manchen deutschen Staaten überhaupt keine staat­ lichen höheren Schulen mit Alumnaten vorhanden sind. Denn zahlreiche Schüler, deren Eltern auf dem Lande wohnen, müssen ihre Schulzeit außerhalb des Elternhauses verbringen, und der Mehrzahl der privaten Pensionen sind Alumnate jedenfalls vorzu­ ziehen. Bor allem können Gymnasien an kleineren Orten nur durch Errichtung solcher Anstalten wirklich existenz­ berechtigt gemacht werden; und gewiß ist es dringend wünschens­ wert, daß uns eine größere Anzahl unserer altehrwürdigen Land­ gymnasien erhalten bleibt. Heute drängt die Masse der zum Verlassen des Elternhauses genötigten Schüler nach den Anstalten der großen Städte; und doch ist nichts weniger geeignet, jugend­ liche Gemüter zur Versenkung in die Welt geistiger Güter geneigt zu machen, als das moderne großstädtische Leben. Um die vielfach überfüllten städtischen Anstalten zu entlasten und die oft schwach besetzten Gymnasien der kleineren Orte in ihrem Kampf ums Dasein zu unterstützen, suchen die Behörden vielfach auswärtige Schüler diesen zuzuweisen. Allein mit gutem Gewissen wird man das erst dann tun können, wenn jene nicht mehr genötigt sind, in Privat­ pensionen Unterkunft zu suchen, in denen es gerade an Heineren Orten meistens an jeder erzieherischen Einwirkung auf die Schüler, ja vielfach an jeder ausreichenden Beaufsichtigung fehlt. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, welche unheilvollen Folgen dies in vielen Fällen nach sich zieht, und wie viele Zöglinge gerade jener länd­ lichen Anstalten durch mancherlei Ausschreitungen dauernden sittlichen Schaden leiden. Erst die Errichtung gut geleiteter Alumnate kann

141 diese Mißstände beseitigen und jenen Schulen die Bedeutung sichern, die sie für unser Erziehungswesen immer noch beanspruchen können. Am meisten interessiert an der Gründung von Alumnaten sind diejenigm unter den höher gebildeten Ständen, deren Angehörige größtenteils auf dem Land zu wohnen genötigt sind: die Geistlichen, die Lehrer, die Ärzte und Apotheker, die Forstbeamten, die Richter. Den Berufsvereinen der genannten Stände bietet sich hier ein lohnendes Feld der Tätigkeit, wenn sie in geeigneten Gymnasial­ städten auf eigene Hand Alumnate gründen, wie dies in mehreren preußischen Provinzen neuerdings mehrfach von ihnen unternommen worden ist. Bei guter Leitung werden solche Anstalten sehr bald finanziell selbständig sein, und jene Familien genießen den Vorteil, ihre Söhne gegen Zahlung eines mäßigen Pensionspreises unter sachkundiger und sorgfältiger Aufsicht zu wissen. Der Staat aber sollte nicht nur zu solchen Gründungen anregen und sie auf jede Weise begünstigen, sondern er sollte nötigenfalls auch selbst mit Errichtung von Alumnaten vorgehen. In ihnen würden dann auch die auf Staatskosten erzogenen unbemittelten Schüler zum großen Teil Aufnahme finden müssen; denn wenn man auch gewiß darauf bedacht wäre, sie so weit als möglich während ihrer Schulzeit in ihren Familien zu belassen, so würde dies doch in vielen Fällen naturgemäß nicht ausführbar sein. Es müßte also in den zu begründenden Alumnaten eine entsprechende Anzahl von Freistellen

für arme Schüler vorgesehen sein. Bei der Vergebung dieser Freistellen an befähigte Zöglinge der Volksschulen müßten naturgemäß die Lehrer beider Schul­ gattungen Zusammenwirken. Ohne Zweifel werden sich künftig noch mehr Anlässe bieten, gemeinsame Angelegenheiten des öffentlichen Unterrichts in gemeinsamer Beratung von Lehrern aller Schul­ formen zu regeln, und es steht nichts im Weg, durch feste, solchen Zwecken entsprechende Einrichtungen auch beim Bestehen völlig ge­ trennter Schulen doch die Einheitlichkeit der nationalen Erziehung aufs entschiedenste zum Ausdruck zu bringen. Wir sind bei der Darstellung der mannigfachen Zukunstsauf­ gaben unseres Schulwesens länger verweilt, als für den unmittel­ baren Zweck dieser Untersuchung notwendig erscheinen mag. Es kam uns aber darauf an, das Mißverständnis zu beseitigen, als ob wir Gegner der Einheitsschule in bequemer Selbstzufriedenheit alles



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beim alten lassen wollten. Ganz im Gegenteil! Wir sind uns bewußt, daß wir, auch ohne die gewohnten Bahnen unserer Schul­ gestaltung zu verlassen, eine Fülle ebenso schwieriger wie zukunfts­ reicher Aufgaben zu lösen haben. Und weil wir mit aller Kraft danach streben, die Organisation und den Betrieb unserer Schulen

innerhalb der Grundlinien, die durch unsere geschichtlich gewordenen staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse nun einmal gegeben sind, immer vollkommener zu gestalten, deshalb haben wir keine Zeit, nichtigen Phantomen nachzujagen. Möchten alle, denen die Fürsorge für die Erziehung der Jugend anvertraut ist, sich in solcher praktischen Arbeit zusammenfinden zum Heil unseres natio­ nalen Geisteslebens und zum Segen für unser deutsches Vaterland!

Verlag von Hlfred Cöpelmann (vormale J. Ricker) in Giessen

Beicbtbücblein des Magisters Johannes dolff (Lupi) 1453—1468

ersten Pfarrers an der 8t. peterektrche zu Frankfurt a. Neu herausgegeben

mit einer Einleitung, einer Übersetzung ins Neuhochdeutsche und mit erklärenden Noten versehen von

f. M. Battenberg Pfarrer an der St. Peterskirche zu Frankfurt a. M. Beigegeben ist eine Abbildung des neuentdeckten Grabsteins Lupis und der Gebotetafel, sowie ein Faksimile einer Seite des Originaldruckes Geh. M. 8.—

XI u. 263 S.

1907

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Gedächtnisrede von Prof. Dr, J. Collin in Gießen

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frice und Kant Ein Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie von

Dr. Cheodor Glsenhane Privatdozent der Philosophie a. d. Universität Heidelberg 1. Historischer Teil: Jakob Friedrich Fries alsErkenntniskritiker und sein Verhältnis zu Kant 1906 XX VH! u. 347 S. M. 8.-

n. Kritisch-Systematischer Teil: Grundlegung der Erkenntnistheorie als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Kant vom Standpunkte der Friesischen Problemstellung 1906___________________________________ XV u. 223 S._________________________________M. 5.-

Job. Salomo Semler in seiner Bedeutung für die Theologie

mit besonderer Berücksichtigung seines Streites mit G. E. Lessing von

Lic. Paul 6astrow 1905

Direktor der höheren Töchterschule in Bückeburg m u. 372 S.

M. 9.-

dar Lessing ein „frommer“ )Mann? Ein Vortrag von

lew

Lic. Paul Öastrow

M.-.50

Verlag von Hlfred CSpelmann (vormals J. Ri*er) in Giessen

Der ästhetische Genuss do«

Dr. Kart Gross Prof, der Philosophie a. b. Universität Gießen

Veh. M. 4.80

VHI u. 263 S.

Ved. M. 6.-

Reden und Hufsätze von

Hdolf Darnach 2.Aust.

«eh. M. 10-

2 Bänbe

®tb. SR. 12-

1906

Katbolizismue und Reformation Kritisches Referat über die wissenschaftlichen Leistungen der neueren kathol. Theologie auf dem Gebiete der Reformationsgeschichte von

Lic. Dr. «laltber Köhler 1905

Prof, der Theologie a. d. Universität Gießen

M. 1.80

Die Religion eines Gebildeten von

franste 6. Peabody Professor a. d. Harvard - Univerfity in Cambridge Geh. «. 1L0

Geb. M. 220

1905

Religion gegen 'Cbeologie und Kirche fiotruf eines «lelthindes von

Eduard platzhoff-Lejeune Cand. theol. Dr. phil. in Bern

1905

®t. 1.40

Hntilegomena Die Reste der außerkanonischen Evangelien und urchristiichen Überlieferungen herausgegeben und erklärt von

Professor

D. 6rwtn preuseben

in Darmstadt

2. umgearbeitete und erweiterte Auflage

Geh. M. 4.40

VHI u. 216 S.

1905

Geb. M. 5.20

Lessing und Semler Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte de- Rationalismus u. der kritischen Theologie von

Lic. Leopold Zfcbamack Privatde^ent für Kirchengeschichte a. d. Universität Berlin 1905

VN u. 388 S.

«. 10-

Verlag von Hlfrcd CSpelmann (vormale I. Ridter) in Giessen

Malter Kinkel a. o. Professor der Philosophie a. d. Univ. Stessen

Geschichte der Philosophie als Einleitung in das System der Philosophie I. Ceil: Von Chalca bis auf die Sophisten 0eh. M. 6.—

VIII u. 352 8. 1906

Set». JM. 7.—

. . . So kommt denn das neue Buch des Gießener Philosophen in der Tat einem Bedürfnis entgegen, zumal da eS überdies noch einen besonderen Zweck verfolgt: in daS System oder, wie daS Borwort besser sagt, in die Probleme der theoretischen und praktischen Philosophie einzuführen. Demgemäß bringt es fast nichts Biographisches und sieht von philologisch-historischen Ginzelfragen vollkommen ab , es will vielmehr zeigen, waS die einzelnen Denker für die Philosophie selbst und damit in letzter Linie für die moderne Kultur geleistet haben. (Prof. Dr. K. Vorländer im Literaturbl. der Frankfurter Zeitung 6.7. X. 1906.)

Job. fr. fierbart fein Leben und ferne Philosophie Set», st. 3.—

VIII u. 204 8. 1903

Set», st. 4 —

Kinkel ist, wie ausdrücklich betont werden muß, nicht Herbartianer, er übt fast in allen wichtigen Punkten an Herbart Kritik, was ihn aber nicht gehindert hat, seine Anschauungen und Grundsätze durchaus objektiv und unparteiisch darzustellen. Mir ist zurzeit kein besseres Buch über HerbartS Philosophie bekannt. (Literarischer Handweiser, 1906 Nr. 5.)

Vom Sein und von der Seele Gedanken eines Idealisten Leicht geb.

VI u. 143 8. 1906

st. 2.—

Ein Zeugnis feiner und gediegener Kultur! Schon in formaler Hinsicht: eine jeden Schein von Gelehrsamkeit verschmähende Sprache, reich an Bildern und pointierten Ge­ danken, die sich auch al» Aphorismen sehen lassen könnten. Nur der Kenner wird gewahr, wie­ viel Arbeit hinter der scheinbar mühelosen Prosa verborgen ist, welche selbst das Abstrakte in einem kleidsamen und plastischen, oft gradezu poetischen Gewände vorführt. Hier hätten wir wirklich einmal BerstandeSklarheit und Gemütstiefe als Verbündete und nicht als Gegner. (Monatshefte der ComcniuS - Gesellschaft, 1907 Heft 1.)

Vertag von Hlfred C5pelmann (vermale I. Richer) in Giessen

©esundbeit und 6rziebung Ginc Vorschule der 6be

von

Umv.-prof. Georg Sticker, Dr. med.

IV, 275 8. 1903

Zweite vermehrte Hufläge

Seb. |H. 5.—

Die Absicht des Verfassers ist, „jungen Leuten, die aus dem Elternhaus und der Schule in das freiere Leben treten, ärztliche Aufklärung über Dinge zu geben, auf welche viele von ihnen mit Unruhe oder Leichtsinn sehen, je nachdem ihre Erzieher beim Abschied davon zu sprechen sich scheuten oder vorher den unreifen Jüngling unvorsichtig daran teilnehmen liehen" ... Mit größtem Ernste wird den Eltern die hohe Verantwortung der körperlichen Fürsorge und geistigen Erziehung den Kindern gegenüber eingeschärft. DaS Buch sollte vielen Eltern wie vielen gebildeten jungen Männern in die Hand gelegt werden. (Konservative Monatsschrift.)

(Nervöse Kinder D. ßoema

gische und allgemeine

Hue dem holländischen übersetzt

6eb. JH. 1.60

Bemerkungen von

100 8. 1904

Seb. JH. 2.30

Auf Grund sorgfältigsten Studiums der einschlägigen Literatur behandelt der Verfasser „die Nervosität unserer Zeit", „die allgemeinste Krankheitserscheinung in der Welt der Gebildeten" inbezug auf die Kinder. Auf Schritt und Tritt begegnet man Erfahrungen, die man selbst gemacht, aber denen man ratlos gegenüberstand; Urteilen, die man wohl hörte, aber nicht begründet erhielt; Ratschlägen, deren Wert oder Unwert man nicht beurteilen konnte. Hier werden uns die „Ursachen" der Nervosität lichtvoll erklärt, ihre „Kennzeichen" deutlich vorgeführt, vor allem aber in dem Kapitel „Behandlung" wissenschaftlich begründete und durchführbare Ratschläge gegeben. Auch den letzten Abschnitt „Prophylaxe" lese man mit Aufmerksamkeit, da „Vorbeugen" das beste Mittel gegen diese „Krankheit" ist. Manche herkömmliche Vorstellung wird der Leser fahren lassen müssen. Manchmal wird man erschreckend vor erschütternden Tat­ sachen (Beispielen aus dem Leden) stehen. Immer aber wird man dem Verfasser dankbar sein für sein ernstes, offenes, belehrendes Wort. Daher sei allen, die mit Kindern zu tun haben, eigenen oder fremden, die Lektüre dieses anregenden Buches aufs angelegentlich sie empfohlen. (Die christliche Kleinkinderpflege.)

Daeckels „Melträtsel" und herdera «kltanfcbauung von

Dr. Hdolpb Hansen

Professor der Botanik an der Universität Giessen

40 Seiten

Soeben erschienen!

jn. 1.20

Zu dem noch immer nötigen Kampf um die „Welträtsel" gibt der Gießener Ordinarius für Botanik einen sehr lesenswerten Beitrag. Er zeigt auf der einen Seite die Dürftigkeit dessen, was Haeckel als die neue Philosophie des Monismus anpreist, auf der andern Seite, wie die positiven und fruchtbaren Elemente der Entwicklungslehre schon von Herder in seinen „Ideen" zum Aufbau einer großen einheitlichen Weltanschauung verwertet sind. (Pros. Dr. Friedrich Paulsen in der Deutschen Literaturzeitung, 1907 Nr. 13.)

(£. G. Röder G. m. b. H., Leipzig.