Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK: Ein Vergleich mit der Strafprozessordnung im Hinblick auf die Auswirkungen der Konventionsrechte auf die deutsche Strafrechtsprechung [1 ed.] 9783428521234, 9783428121236

Die Autorin behandelt die Konventionsgarantien des Art. 5 EMRK und deren Auswirkung auf die deutsche Strafrechtsprechung

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German Pages 180 [181] Year 2006

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Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK: Ein Vergleich mit der Strafprozessordnung im Hinblick auf die Auswirkungen der Konventionsrechte auf die deutsche Strafrechtsprechung [1 ed.]
 9783428521234, 9783428121236

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Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 82

Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK

Von Eva Unfried

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

EVA UNFRIED

Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Kristian Kühl H a n s v. M a n g o l d t , We r n h a r d M ö s c h e l Martin Nettesheim, Dennis Solomon Wo l f g a n g G r a f Vi t z t h u m , J o a c h i m Vog e l sämtlich in Tübingen

Band 82

Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK Ein Vergleich mit der Strafprozessordnung im Hinblick auf die Auswirkungen der Konventionsrechte auf die deutsche Strafrechtsprechung

Von Eva Unfried

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-12123-6 978-3-428-12123-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Abgeschlossen wurde sie im Mai 2004. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch die einschlägige Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt. Der Beschluss des BVerfG vom 14.10.2004 (NJW 2004, 3407) über die Berücksichtigung von Entscheidungen des EGMR durch deutsche Gerichte wurde nebst der dazu erschienenen Literatur in Teil 1 A. II. der Arbeit noch nachträglich eingearbeitet. Das Thema der Arbeit geht auf die Anregung meines Doktorvaters, Herrn Prof. Dr. Dr. Kristian Kühl, zurück, dem ich dafür, wie auch für die Betreuung und Begutachtung meiner Arbeit, herzlich danke. Mein Dank gilt insbesondere auch Herrn Prof. Dr. Martin Heger. Er war ein stets verlässlicher Ansprech- und Diskussionspartner, dessen freundschaftliche Unterstützung mitentscheidend für das Gelingen meiner Arbeit war. Außerdem sei ihm für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens gedankt. Herrn Prof. Dr. Joachim Renzikowski danke ich herzlich für die Überlassung seiner Kommentierung des Art. 5 EMRK vor deren Veröffentlichung im Internationalen Kommentar zur EMRK. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau Wiebke Rohde, meinem Mann Dr. Ralph Leonhardt, meinem Vater Dipl.-Kfm. Martin Unfried und Herrn Dr. Dimitrij Surmeli. Als fachfremde Korrektoren waren mir ihre Hinweise und Anregungen besonders wertvoll. Meine Eltern haben mich stetig und unbedingt unterstützt – sowohl moralisch als auch finanziell. Ihnen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet und widme ihnen deshalb meine Arbeit. Und schließlich 100100 bisous für Mathis und Ralph, ohne den ich die vorliegende Arbeit niemals begonnen hätte. Germering, im Juni 2006

Eva Unfried

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Teil 1 Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen der EMRK

22

A. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

B. Die Auswirkungen der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung auf die innerstaatliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Teil 2 Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

30

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen – Art. 5 I EMRK . . . . . . . . . . . . . .

31

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Teil 3 Die Auswirkungen der Garantien des Art. 5 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung A. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 64

B. Das Recht auf Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Inhaltsverzeichnis Einleitung; . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Teil 1 Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen der EMRK A. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Konventionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Straßburger Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bindung an das EGMR-Urteil im konkreten Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung von EGMR-Urteilen über den konkreten Einzelfall hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Auswirkungen der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung auf die innerstaatliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22 22 23 24 26 28

Teil 2 Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

30

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen – Art. 5 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Haftgründe gemäß Art. 5 I Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK – ein kurzer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 5 I lit. c) EMRK: Vorläufige Festnahme, Untersuchungshaft und Präventivhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vorführungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hinreichender Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Präventivhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 32 32

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Recht auf Information – Art. 5 II EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Notwendiger Inhalt und Umfang der Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Form der Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Zeitpunkt der Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 40 41 42 42

35 36 36 37 38 38

12

Inhaltsverzeichnis II. Die Verfahrensgarantien des Art. 5 III EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Anspruch auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter, Art. 5 III Satz 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Recht auf ein Urteil binnen angemessener Frist, Art. 5 III Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anforderungen an die nationalen Haftentscheidungen . . . . . . . b) „Relevante“ und „ausreichende“ Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fortbestehender hinreichender Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fortdauernde Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fortdauernde Verdunkelungsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Fortdauernde Wiederholungsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Höhe der zu erwartenden Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Bedeutung der Sache für die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . c) Sorgfältige Verfahrensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftentlassung gegen Kaution, Art. 5 III Satz 3 EMRK . . . . . . . . . . . . III. Das Recht auf gerichtliche Haftkontrolle – Art. 5 IV EMRK . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen für die Durchführung einer gerichtlichen Haftprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Recht auf Information, insbesondere auf Akteneinsicht . . . . . . . . . . b) Recht auf Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf Begründung der Haftentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unverzügliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Recht auf Entschädigung – Art. 5 V EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Umfang der Ersatzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 44 44 47 48 48 49 49 50 50 51 52 53 53 55 56 58 58 59 60 61 62 62 63

Teil 3 Die Auswirkungen der Garantien des Art. 5 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung A. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsprechung des EGMR zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsbereich des Beschleunigungsgebots in Haftsachen . . . . . . a) Der maßgebliche Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 64 66 66 67 67

Inhaltsverzeichnis

13

b) Art. 5 III Satz 2 EMRK und einstweilige Unterbringung . . . . . . . . .

69

c) Exkurs: Art. 5 III Satz 2 EMRK und Überhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

3. Die Ausgestaltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

a) Gesichtspunkte der Behördenorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

b) Umfang und Komplexität des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

c) Das Verhalten des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

II. Die deutsche Strafrechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz bei Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

1. Die Grundsätze der BVerfG-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

2. Die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß §§ 121, 122 StPO . . . . . .

78

a) Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

b) Überblick über die Rechtsprechung zu den besonderen Voraussetzungen der Haftverlängerung nach § 121 I StPO . . . . . . . . . . . . . . . .

81

aa) Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

bb) „Andere wichtige Gründe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

(1) Verzögerung durch die Justizbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

(2) Verzögerungen in der Sphäre des Beschuldigten . . . . . . . . .

85

c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 120 I StPO . . . . . . . . . .

87

a) Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

b) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes im Anwendungsbereich des § 120 I StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

c) Die Rechtsprechung zu § 120 I StPO in den einzelnen Verfahrensstadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

aa) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in den ersten sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

bb) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes während der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . .

96

cc) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes nach Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

dd) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen . . . . . . . .

99

ee) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bei Überhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

14

Inhaltsverzeichnis III. Art. 5 III Satz 2 EMRK und die deutsche Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . 1. Vergleich der deutschen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschiede im Geltungsbereich des Art. 5 III Satz 2 EMRK und der §§ 120, 121 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterschiede bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidungen, die auf Art. 5 III Satz 2 EMRK Bezug nehmen . . . . a) Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich des § 121 I StPO . . aa) Entscheidungen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 121 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidungen ab Inkrafttreten des § 121 StPO . . . . . . . . . . . . b) Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich des § 120 I StPO . . aa) Entscheidungen aus den ersten sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Untersuchungshaft während der strafrechtlichen Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 5 III Satz 2 EMRK als Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 5 III Satz 2 EMRK als Auslegungshilfe für § 121 StPO . . . . . c) Art. 5 III Satz 2 EMRK zur Herleitung und Begründung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gründe für die unterbliebene Auswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

B. Das Recht auf Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Urteile des EGMR in den Fällen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Akteneinsichtsrecht des „unverteidigten“ Beschuldigten . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

103 104 105 107 108 108 108 109 111 111 112 113 114 114 115 117 117 117 118

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Inhaltsverzeichnis III. Art. 5 IV EMRK und die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unterschiede zwischen der deutschen Strafrechtsprechung und der Judikatur des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidungen, die auf Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Rechtsprechung Bezug nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungen aus dem Zeitraum vor den EGMR-Urteilen Lietzow, Schöps und Garcia Alva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entscheidungen, die nach den EGMR-Urteilen Lietzow, Schöps und Garcia Alva ergingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auswirkungen des Art. 5 IV EMRK und der EGMR-Rechtsprechung auf die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht a) Ablehnung der Anwendbarkeit von EGMR-Entscheidungen . . . . . . b) Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Rechtsprechung zur Herleitung und Begründung des Grundsatzes der Waffengleichheit . . . . . . . . . . c) Inhaltliche Auseinandersetzung mit der Judikatur des EGMR . . . . . d) Stellungnahme und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gründe für die bisher unterbliebene Berücksichtigung des Art. 5 IV EMRK und der EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtssystematische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konsequenzen der Entscheidungen des EGMR zum Recht auf Information im Haftprüfungsverfahren: Auswirkungen des Art. 5 IV EMRK in Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konsequenzen für die Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren . . . . . . 2. Die Konsequenzen für die Akteneinsicht des inhaftierten Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen für den Inhalt des Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen für den Inhalt der mündlichen Information . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Einleitung Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ist für die Bundesrepublik Deutschland seit nunmehr über 50 Jahren in Kraft.1 Die ersten Jahrzehnte ihrer Geltung verbrachte die EMRK allerdings in einem ungestörten „Dornröschenschlaf“2: Sie wurde in Festreden zitiert, blieb aber ohne große Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung. Dies kann zum einen auf Übersetzungs- und Auslegungsprobleme zurückgeführt werden, die zur Unsicherheit der Gerichte und der Rechtswissenschaft im Umgang mit der Konvention beigetragen haben.3 Zum anderen wurde das Potential der einzelnen Konventionsgarantien von Anfang an unterschätzt. Bereits die Überprüfung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts auf Vereinbarkeit mit den Inhalten der EMRK vor der Ratifizierung der Konvention ergab, dass die Konvention nichts enthalte, was in Deutschland nicht bereits zumindest genauso gut garantiert sei.4 Aufgrund des Umstandes, dass die Konvention „nur“ Mindestgarantien enthält, wurde oftmals jede Diskussion der Konventionsrechte mit dem Hinweis auf die generelle Überlegenheit des nationalen Rechts von vornherein unterbunden.5 Dies hat sich jedoch als Fehleinschätzung erwiesen: Bis heute bedurfte es immer wieder der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)6 und damit des Hinweises, dass die Konvention doch einige Grundrechte enthält, die im

1 Zustimmungsgesetz vom 7.8.1952, BGBl. 1952 II S.685, in Verbindung mit der Bekanntmachung über das Inkrafttreten vom 15.12.1953, seit 3.9.1953 in Kraft. 2 Das Bild der „sleeping beauty“ stammt von Frowein in: Frowein/Ulsamer, S. 9; vgl. auch Ryssdall, EHRLR 1996, 18; Sommer, StraFo 2002, 309. 3 Vgl. Vogler, ZStW 89 (1977), 763; Ulsamer, Zeidler-FS, S. 1811 ff.; Hilf, S. 19 f.; Jung, GA 2003, 192. 4 Vgl. den Bericht des Ausschusses für das Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten vom 30.4.1952, BT-Drucks. 1/3338, S. 5; Jescheck, NJW 1954, 784; Herzog AöR 86 (1961), 194; Ulsamer, Zeidler-FS, S. 1811; Roxin, § 3 RN 7, vertritt diese Ansicht heute noch. 5 Stenger, S. 339, und Simon, S. 2, sprechen in diesem Zusammenhang von „Überheblichkeit“ und „Akzeptanzverweigerung“ deutscher Gerichte und anderer Staatsorgane gegenüber der Konventionsgarantien; Sommer, StraFo 2002, 309 konnte einen „distanzierten Umgang“ des BGH mit der EMRK und deren „rüde Ablehnung“ durch einige LG und OLG feststellen. 6 Vor dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls im Jahre 1998 konnte eine Konventionsverletzung auch durch die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) festgestellt werden.

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deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht eben nicht genauso gut garantiert sind. In den letzten Jahren wurde die EMRK von der deutschen Strafrechtswissenschaft „neu entdeckt“7 und hat mit dem Anstieg der Anzahl ihrer Mitgliedsstaaten auf mittlerweile 458 seit dem Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa zu Beginn der neunziger Jahre auch an Bedeutung hinzugewonnen. Der Geltungsbereich der Konvention erstreckt sich nunmehr auf ein Gebiet mit über 800 Millionen Einwohnern, das vom Atlantik bis zum Pazifik reicht.9 Dieser Bedeutungszuwachs wurde mit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK10 im Jahre 1998 gefestigt: Um der steigenden Anzahl von Beschwerden zu begegnen,11 wurde ein ständiger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen; die früher nebenamtliche Tätigkeit der Richter ist zu einer hauptamtlichen geworden; die fakultative Individualbeschwerde vor dem EGMR ist einer obligatorischen gewichen; aus der bloßen Möglichkeit einer Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ist nun eine zwingende Folge des Beitritts zur EMRK geworden.12 Nicht zuletzt durch diese rechtliche Verdichtung hat die EMRK mittels ihres „Motors“, dem EGMR, im Dialog mit den nationalen Rechtsordnungen und den jeweiligen Gerichtsbarkeiten dazu beigetragen, einen Rechtsstaat europäischer Prägung zu schaffen,13 der mittlerweile aus der Dis-

7 Zwar hatten Vogler, ZStW 89 (1977), 761 und Kühne, Strafprozesslehre 1978, § 2 RN 29 ff. bereits Ende der siebziger Jahre auf die Bedeutung der EMRK im strafprozessualen Gefüge der europäischen Staaten hingewiesen; zehn Jahre später befasste sich Kühl, ZStW 100 (1988), 406 ff., 601 ff. und Stenger (1991) mit dem Einfluss der EMRK auf das deutsche Strafverfahrensrecht; jedoch sind erst in den letzten Jahren zahlreiche deutschsprachige Darstellungen erschienen, die sich auch mit der Bedeutung der EMRK für das nationale Strafverfahrensrecht ausführlich beschäftigten, s. z. B. die Arbeiten von Simon (1998), Esser (2002), Kieschke (2003); zum 50. Jahrestag des Inkrafttretens der EMRK für die BRD sind ferner mehrere deutschsprachige Lehrbücher zur EMRK erschienen: s. die Werke von Grabenwarter und A. Peters (beide 2003), ferner der Handkommentar von Meyer-Ladewig (2003). 8 Stand: März 2004. 9 Vgl. Bratza, in: Leach, S. xii. 10 BGBl. 1995 II, S. 578. 11 Im Jahre 1993 waren es noch ca. 2.000 zugelassene Beschwerden; im Jahre 2000, waren es bereits deutlich über 10.000; vgl. Fuhrmann, S. 1; vgl. auch Wildhaber, Pressemitteilung vom 21.6.1999, EuGRZ 1999, 361; Anfang 2003 waren es bereits fast 30.000 anhängige Beschwerden, vgl. Siess-Scherz, EuGRZ 2003, 101. 12 Zum 11. Zusatzprotokoll: Merrills/Robertson, S. 21 ff. u. S. 297 ff.; Meyer-Ladewig, NJW 1995, 2813 ff.; Siess-Scherz, EuGRZ 2001, 100 ff. 13 Vgl. Frowein, Maihofer-FS, S. 152 f.; Weigend, StV 2001, 63 f.; Uerpmann, JZ 2001, 570; Grabenwarter, § 3 RN 10; Ambos, ZStW 115 (2003), 583 f.; s. auch EGMR, Loizidou ./. Türkei, Urteil vom 23.3.1995, Serie A 310, Ziff. 75: „. . . the Convention . . . [is] a constitutional instrument of European public order (ordre public)“; s. ferner: Grünbuch der EG-Kommission, Verfahrensgarantien im Strafverfahren innerhalb der EU, 19.2.2003, KOM(2003), 75 endgültig.

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kussion über ein europäisches Strafverfahrens- und Verfassungsrecht nicht mehr hinweggedacht werden kann.14 Die EMRK enthält einen Katalog von Grundrechten, deren Verletzung im Wege der Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK und der in der Praxis wesentlich häufigeren Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gerügt werden kann. Die Existenz eines internationalen Rechtsschutzes bedeutet jedoch nicht, dass die Anwendung der Konvention allein Sache des EGMR wäre. Vielmehr ist es vor allem die Aufgabe der nationalen Gerichte, auf die Einhaltung der Konventionsgrundrechte zu achten, denn nach Art. 13 EMRK muss jedem, der in seinen Rechten aus der Konvention verletzt worden ist, eine wirksame innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit offen stehen. Erst wenn die bestehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind, ist die Beschwerde vor dem EGMR möglich, Art. 35 EMRK. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die Untersuchung der Auswirkungen der Konventionsgarantien auf die deutsche Rechtsprechung, ist daher vor großer praktischer Bedeutung. Die einzelnen Konventionsgarantien beziehen sich in weiten Bereichen auf speziell strafverfahrensrechtliche Fragestellungen. Neben Art. 6 EMRK gewinnt vor allem Art. 5 EMRK als Schutz- und Abwehrrecht auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts besondere Bedeutung. Hauptaufgabe des Strafverfahrensrechts ist es, den staatlichen Strafanspruch festzustellen und den Straftäter einer gerechten Strafe zuzuführen.15 Die Strafverfolgungsbehörden bewegen sich dabei im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher Interessen: dem staatlichen Interesse an einer wirksamen Verbrechensbekämpfung und dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit. Zum Zwecke der wirksamen Verbrechensbekämpfung sind die Strafverfolgungsbehörden fortwährend gezwungen, Eingriffe in die Freiheit desjenigen vorzunehmen, der als möglicher Straftäter in Betracht gezogen wird.16 Ein gerechter Ausgleich dieses Spannungsverhältnisses lässt sich nur dadurch erreichen, dass den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsentziehungen der Freiheitsanspruch des Betroffenen ständig als Korrektiv entgegengehalten wird. Das bedeutet, dass der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn die Feststellung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht anders gesichert werden können als durch Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen.17 Absatz I von Art. 5 EMRK gibt – im Gegensatz zu Art. 2 I GG – in diesem Zusammenhang detailliert Auskunft über die Bedingungen der Freiheitsentziehung. Die Absätze II bis V von Art. 5 EMRK thematisieren die Rechte von bereits 14 15 16 17

s. dazu: Eisele, JA 2000, 427 ff.; Uerpmann, JZ 2001, 569 ff.; Esser, S. 45 ff. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; BVerfG StV 2000, 322, 323. Vgl. Woesner, NJW 1961, 1383; Ulsamer, Zeidler-FS, S. 1811. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; BVerfG StV 2000, 322, 323.

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Inhaftierten. Im Konflikt zwischen der effektiven Strafverfolgung und dem Freiheitsrecht des Einzelnen liefert Art. 5 EMRK und seine Auslegung durch die Straßburger Konventionsorgane somit genaue Leit- und Grenzlinien für die Durchführung des Strafverfahrens. Es ist deshalb naheliegend, die Untersuchung, ob und inwieweit sich die Konvention auf die deutsche Strafrechtsprechung ausgewirkt hat, auf die Freiheitsund Sicherheitsrechte des Art. 5 EMRK einzugrenzen. Die in den Absätzen II bis IV dieser Konventionsvorschrift geregelten Rechte des in Haft befindlichen Beschuldigten sind für seine Verteidigung gegen die Freiheitsentziehung von überragender Bedeutung. Wegen ihrer praktischen Relevanz liegt es auf der Hand, anhand dieser Rechte einen Vergleich zum nationalen Strafverfahrensrecht zu ziehen und die Auswirkungen dieser Konventionsrechte auf die deutsche Strafrechtsprechung zu untersuchen. Dazu wird ermittelt, ob und wie die deutsche Strafrechtsprechung in einzelnen Gerichtsentscheidungen auf das Konventionsrecht Bezug genommen hat. Die Analyse dieser Bezugnahmen mündet dann in die Diskussion der Auswirkungen des Art. 5 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung. Es bietet sich an, die Auswirkungen des Art. 5 EMRK auf die Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte anhand von bestimmten ausgewählten Fallgestaltungen zu untersuchen. Besonders anschaulich ist dies, wenn der EGMR in einer solchen Fallgestaltung zu dem Ergebnis kommt, dass die Auslegung und Anwendung einer StPO-Vorschrift durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte konventionswidrig ist. In Betracht kommt insofern das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren nach § 147 StPO und Art. 5 IV EMRK. Im Jahre 2001 wurde die Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang in drei Fällen verurteilt.18 Die Diskussion über die Auswirkungen dieser Entscheidungen für die weitere Praxis der deutschen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ist deshalb sehr aktuell. Als eine weitere Fallgruppe aus dem Bereich der Untersuchungshaft kommt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach Art. 5 III Satz 2 EMRK in Frage. Diese Garantie war zwar bisher Gegenstand von nur zwei Urteilen, welche die Bundesrepublik Deutschland betrafen;19 der EGMR stellte auch in keinem dieser Urteile eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen fest. Jedoch wurde der Anspruch auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 5 III Satz 2 EMRK im Vergleich zu den anderen Garantien des Art. 5 EMRK am häufigsten und bislang mit dem größten Erfolg vor Kommission und Gerichtshof geltend gemacht.20 Aufgrund dieser großen praktischen 18 EGMR, Fälle Lietzow, Schöps, Garcia Alva, Urteile vom 13.2.2001, StV 2001, 202 ff. = NJW 2002, 2013 ff. 19 EGMR, Fall Wemhoff, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968; Fall Erdem, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391.

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Bedeutung bietet es sich an, das Potential dieser Garantie für die deutsche Strafrechtsprechung genauer zu untersuchen.21 Hieraus resultiert der Gang der Untersuchung. In einem ersten Teil der vorliegenden Arbeit ist zu klären, „was“ sich „wie“ auf die deutsche Strafrechtsprechung auswirken kann. Die Beantwortung dieser Frage erfordert die Klärung der Begriffe „Auswirkung“ und „Konventionsrechte“. Anschließend wird in einem zweiten Teil der Inhalt der Konventionsrechte des Art. 5 EMRK, welche für die deutsche Strafrechtsprechung zur Untersuchungshaft Wirkungen entfalten können, unter Einbeziehung der aktuellen Rechtsprechung des EGMR vorgestellt. Schließlich werden in Teil 3 das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sowie das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren und deren Regelung im deutschen Strafverfahrensrecht den Konventionsgarantien des Art. 5 EMRK gegenübergestellt und verglichen. Dabei wird ermittelt, ob Differenzen oder Übereinstimmungen Anlass zur Beachtung oder Nichtbeachtung der jeweiligen Konventionsgarantie durch die deutsche Strafrechtsprechung geben können. Einzelne veröffentlichte Entscheidungen deutscher Strafgerichte, die Bezug auf Art. 5 EMRK genommen haben, werden dann untersucht und deren Argumentation hinsichtlich der Auswirkungen des Art. 5 EMRK auf das Entscheidungsergebnis überprüft.

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Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 118. Dies konnte von der Verf. durch statistische Auswertungen im Recherche-System des Europarats (HUDOC) bestätigt werden. Für den Zeitraum 1.1.2001 bis 31.12.2002 betrafen von 133 Urteilen in Fällen, in denen vom Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 EMRK geltend gemacht wurde, 77 Urteile u. a. auch Art. 5 III EMRK; Art. 5 IV EMRK war (neben anderen Konventionsgarantien) in 30 Fällen, Art. 5 I EMRK (neben anderen Konventionsgarantien) in 25 Fällen Beschwerdegegenstand; wohingegen Art. 5 II EMRK (neben anderen Konventionsgarantien) lediglich in 5 Fällen und Art. 5 V EMRK (neben anderen Konventionsgarantien) in 19 Fällen geltend gemacht wurde. 21 s. unten, Teil 3, A.

Teil 1

Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen der EMRK A. Rechtsquellen I. Die Konventionsgarantien Die rechtliche Wirkung der Konventionsgarantien hängt von der Rechtsstellung der Konvention in der innerstaatlichen Rechtsordnung ab. Der Konventionstext lässt dies ausdrücklich offen und macht dazu keine Vorgaben.1 In den einzelnen Mitgliedstaaten kommt der EMRK deshalb ein recht unterschiedlicher Rang zu, der sich nach dem jeweiligen nationalen Recht bestimmt.2 Als völkerrechtlicher Vertrag verpflichtet die EMRK die Bundesrepublik Deutschland zunächst nur im Außenverhältnis zu den übrigen Vertragsstaaten zur Gewährleistung der Konventionsrechte. Dieser völkerrechtlichen Verpflichtung ist die Bundesrepublik nachgekommen, indem die EMRK durch das Zustimmungsgesetz von 1952 gemäss Art. 59 Abs. II GG „mit Gesetzeskraft veröffentlicht“ und in das innerstaatliche Recht inkorporiert wurde.3 Der Konvention kommt deshalb der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu und ist damit von deutschen Behörden und Gerichten anzuwenden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung4 und der herrschenden Lehre.5 Die weitergehenden Auffassungen, die der Konvention Verfassungsrang zuerkannten,6 haben sich nicht durchgesetzt.

1 Vgl. EGMR, James ./.UK, Urteil vom 21.2.1986, Serie A 98, Ziff. 84; Swedish Engine Drivers Union ./. Schweden, Urteil vom 6.2.1976, Serie A 20, Ziff. 50; Hilf, S. 31; Grabenwarter, § 3 RN 1. 2 s. dazu Peters, S. 2 ff.; Grabenwarter, § 3 RN 1 ff. 3 Art. II Abs. 1 des Gesetzes vom 7.8.1952 (BGBl. II S. 6859). 4 Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3408; BVerfGE 74, 358, 370; 10, 271, 274; BGHSt 21, 81, 84. 5 Vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 408; Weigend, StV 2000, 386; Uerpmann, S. 71 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, RN 29; Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK, vor Art. 1 RN 3; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Einl. MRK, RN 19. 6 s. z. B. Echterhölter, JZ 1955, 689, 691; vgl. seit neuestem Ambos, ZStW 115 (2003), 588 f. m. w. N.

A. Rechtsquellen

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Die Gleichrangigkeit mit einfachen Bundesgesetzen hat zur Folge, dass die EMRK durch ein zeitlich späteres, der Konvention widersprechendes Bundesgesetz nach der Regel „lex posterior derogat legi anteriori“ außer Kraft gesetzt werden kann.7 Da dies dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit8 der deutschen Rechtsordnung nicht entspricht, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss aus dem Jahre 1987, dass zeitlich später erlassene Bundesgesetze im Lichte der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik so auszulegen und anzuwenden sind, dass diese mit ihnen in Einklang gebracht werden können.9 Damit ist die EMRK im Verhältnis zu späteren Strafverfahrensrechtsänderungsgesetzen „gesetzesfest“. Die Konventionsnormen können durch später in Kraft getretene Rechtsnormen nicht aufgehoben oder abgeschwächt werden. Im Ergebnis kommt dies den Meinungen im Schrifttum nahe, die zur Einschränkung der lex-posterior Regel einen Übergesetzesrang bzw. den Vorrang der Konvention als lex specialis oder kraft eines antizipierten Änderungsverzichts des Gesetzgebers annehmen.10 II. Die Straßburger Rechtsprechung11 Neben den in der EMRK garantierten Rechten ist auch die Rechtsprechung der Konventionsorgane als Rechtsquelle heranzuziehen, denn nach Art. 32 I EMRK ist der EGMR für die Anwendung und Auslegung der Konvention und ihrer Zusatzprotokolle zuständig. Vor dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls im Jahre 1998 kam der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) gemeinsam mit dem EGMR diese Aufgabe zu, Art. 19 a. F. EMRK. Deshalb können sowohl die Entscheidungen des EGMR, als auch die Entscheidungen der EKMR als Rechtsquelle herangezogen werden.

7 Vgl. Weigend, StV 2000, 397, Herzog, AöR 86, 237; Staebe, JA 1996, 79; Kleinknecht/Meyer, A 4 MRK Vorb. RN 3. 8 s. dazu BVerfGE 18, 121; 31, 58, 75 f; 75, 1, 17; BVerfG NJW 2004, 3307, 3308. 9 BVerfGE 74, 358, 370; s. auch BVerfG NJW 2004, 3307, 3308. 10 s. dazu Kühl, ZStW 100 (1988), 410; Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 274; Hilf, S. 40; Uerpmann, S. 81 ff.; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 II, RN 59; Stern, Bd. III/1, § 62 III. 6. b), S. 278. 11 Alle Urteile und Zulässigkeitsentscheidungen des EGMR sind in den Gerichtssprachen in der Datenbank HUDOC (Human Rights Documentation) unter http:// www.echr.coe.int/hu-doc.htm abrufbar, einschließlich derer, die (noch) nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht wurden. Zulässigkeitsentscheidungen der EKMR sind für den Zeitraum von 1955 bis 1985 teilweise und für den Zeitraum von 1986 bis 1998 vollständig in der Datenbank veröffentlicht; ferner befinden sich nur die veröffentlichten Berichte der EKMR aus dem Zeitraum von 1986 bis 1998 in der HUDOC. Soweit eine deutsche Übersetzung der Entscheidungen und Berichte vorhanden ist, wird diese in der vorliegenden Arbeit zitiert.

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Teil 1: Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen

1. Bindung an das EGMR-Urteil im konkreten Einzelfall Den Urteilen des EGMR kommt nur eingeschränkte Rechtskraft zu, denn gemäß Art. 46 I EMRK sind nur die am Verfahren beteiligten Parteien daran gebunden. Gegenstand des Urteils ist jeweils die Feststellung der Konventionswidrigkeit eines bestimmten staatlichen Verhaltens im konkreten Einzelfall.12 Die Feststellung der Konventionswidrigkeit besitzt jedoch keine kassatorische Wirkung für die Geltung innerstaatlicher Rechtsnormen und Rechtsakte.13 Es besteht lediglich die völkerrechtliche Pflicht des in Straßburg verurteilten Staates, einen konventionskonformen Zustand herzustellen und im Rahmen des nach nationalem Recht Möglichen Wiedergutmachung zu leisten, Art. 41 EMRK.14 Diese Bindungswirkung erstreckt sich auf alle nationalen staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, den Zustand, der ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehen würde, nach Möglichkeit wiederherzustellen und eine fortdauernde Konventionsverletzung – wie etwa im Falle der fortdauernden Inhaftierung des Beschwerdeführers unter Verletzung von Art. 5 EMRK – unverzüglich zu beenden.15 Die Verpflichtungen aus einem Urteil des EGMR sind von den staatlichen Behörden und Gerichten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich zu erfüllen.16 Ergibt sich aus dem Urteil, dass der Gerichtshof eine Rechtsvorschrift für konventionswidrig hält, und kann dem nicht durch konventionskonforme Auslegung abgeholfen werden, muss der Gesetzgeber tätig werden. Hat der EGMR festgestellt, dass eine Gerichtsentscheidung gegen die Konvention verstoßen hat, so besteht im deutschen Strafverfahrensrecht seit dem Jahre 199817 die Möglichkeit, gemäß § 359 Nr. 6 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Diese Möglichkeit kommt allerdings nur demjenigen zugute, der in eigener Person vor dem EGMR ein obsiegendes Urteil erstritten hat, in welchem die Konventionswidrigkeit eines deutschen Strafurteils festgestellt wurde.18 Eine 12 Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3409; BVerfG NJW 1986, 1425, 1427; Frowein/ Peukert, Art. 53 a. F., RN 2 und 4; Polakiewicz, S. 31 f.; Okresek, EuGRZ 2003, 168, 169. 13 Vgl. EGMR, Pakelli ./. Deutschland, Urteil vom 25.4.1983, EuGRZ 1983, 344, 348, Ziff. 45; Hauschildt ./. Dänemark, Urteil vom 24.5.1989, EuGRZ 1993, 122, 129 Ziff. 54; BVerfG NJW 2004, 3407, 3409 und EuGRZ 1985, 654; s. auch Frowein/Peukert, Art. 50 RN 3; Limbach, NJW 2001, 2915; Uerpmann, JZ 2001, 570; Meyer-Ladewig, Art. 42 RN 5. 14 Vgl. EGMR, Görgülü ./. Deutschland, Urteil vom 26.2.2004, NJW 2004, 3397, 3400, Ziff. 64; Haase ./. Deutschland, Urteil vom 8.4.2004, NJW 2004, 3401, 3406, Ziff. 115. 15 Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3409; NJW 1986, 1425, 1427; Polakiewicz, S. 63 ff.; Villiger, § 13 RN 233; Grabenwarter, § 16 RN 3. 16 BVerfG NJW 2004, 3407, 3410; vgl. auch BVerfG NJW 1986, 1425. 17 Gesetz vom 9.7.1998, BGBl. I S.1802. 18 BT-Drucks. 13/10333, S. 3 f., ebenso KK-Schmidt, § 359 RN 40.

A. Rechtsquellen

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vom Wortlaut des § 359 Nr. 6 StPO gedeckte Ausweitung der Wiederaufnahmemöglichkeit auf Fälle, in denen der Antragsteller die Feststellung der Konventionswidrigkeit zwar nicht selbst vor dem EGMR erstritten hat, seine Verurteilung jedoch auf Strafgesetzen beruht, deren Konventionswidrigkeit vom EGMR in einem anderen Fall festgestellt wurde,19 ist nicht vorgesehen.20 Erst recht soll keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme des Verfahrens eingeräumt werden, wenn das Urteil auf einer deutschen Rechtsnorm beruht, deren Konventionswidrigkeit dadurch feststeht, dass eine deren Regelungsgehalt entsprechende Rechtsnorm eines anderen Signatarstaates der EMRK vom EGMR für konventionswidrig erklärt wurde.21 Im Jahre 2004 hat sich das BVerfG in einer viel diskutierten22 Entscheidung intensiv mit der Bindungswirkung von EGMR-Urteilen befasst.23 Es hat darauf hingewiesen, dass sich Behörden und Gerichte nicht unter Berufung auf ein Urteil des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht, Art. 20 III GG, lösen können. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehöre aber auch – so das BVerfG – die Berücksichtigung des Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbare Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einem EGMR-Urteil als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Erforderlich sei vielmehr, dass die zur Entscheidung berufene Institution das Urteil des EGMR zur Kenntnis nimmt und in den Willensbildungsprozess einfließen läßt. Ferner müsse sie sich mit der Entscheidung erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, weshalb sie der Rechtsauffassung des EGMR gleichwohl nicht folgt.24 Gleichzeitig müssen die Auswirkungen des jeweiligen EGMR-Urteils auf die nationale Rechtsordnung berücksichtigt und in die nationale Rechtsordnung eingepasst werden; dies gelte insbesondere dann, wenn ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des staatlichen Rechts betroffen ist und die beteiligten Rechtspositionen und Interessen im Beschwerdeverfahren vor dem EGMR möglicherweise nicht vollständig abgebildet waren.25

19 So der Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in: BT-Drucks. 13/ 10333, S. 3; ebenso Weigend StV 2000, 338. 20 BT-Drucks. 13/10333, S. 3 f. 21 BT-Drucks. 13/10333, S. 3 f.; sowie KK-Schmidt, § 359 RN 40; kritisch Weigend, StV 2000, 388; Kieschke, S. 156 ff.; Ambos, ZStW 115 (2003), 591. 22 s. z. B. Ress in der FAZ vom 23.10.2004; Wildhaber in einem Spiegel-Gespräch, Der Spiegel Nr. 47 vom 15.11.2004 S. 50 f. 23 s. BVerfG NJW 2004, 3407. 24 BVerfG NJW 2004, 3407, 3410. 25 BVerfG NJW 2004, 3407, 3411; kritisch hierzu Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2004, 17.

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Teil 1: Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen

2. Berücksichtigung von EGMR-Urteilen über den konkreten Einzelfall hinaus Wie sich aus dem vorangegangenen Abschnitt ergibt, entfalten die Entscheidungen des EGMR über den konkreten Einzelfall hinaus keine rechtliche Bindungswirkung für die deutschen Gerichte.26 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie für die deutschen Gerichte irrelevant sind. Denn zum einen dient die Rechtsprechung des EGMR dazu, allgemeine Strukturen eines der EMRK entsprechenden Strafverfahrensrechts zu formen.27 Dazu genügt es nicht, die Urteilswirkungen auf den Einzelfall zu beschränken oder nur den gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangenen Urteilen Beachtung zu schenken. Ferner würde eine solche Praxis dem Zweck der Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung widersprechen, denn neben der Restitution im Einzelfall muss die Wiedergutmachung auch die Vermeidung künftiger gleichartiger Konventionsverletzungen umfassen.28 Auch dies ist nur möglich, wenn die Urteile über den konkreten Einzelfall hinaus beachtet werden. Konventionsverletzungen können beispielsweise dadurch verhindert werden, dass die für konventionswidrig erklärten Gesetze künftig entweder nicht mehr angewandt, konventionskonform ausgelegt oder abgeändert werden; den Vertragsstaaten kommt hier ein recht großer Handlungsspielraum zu.29 Es steht daher fest, dass die Straßburger Judikatur in tatsächlicher Hinsicht große Autorität genießt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG und BGH ist anerkannt, dass deutsche Gerichte und Behörden Inhalt und Entwicklungsstand der Konvention bei der Anwendung und Auslegung des GG und des einfachen Gesetzesrechts berücksichtigen müssen.30 Insoweit dienen die Judikate des EGMR als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des GG. In seiner Entscheidung aus dem Jahre 2004 hat das BVerfG dies nochmals betont: Die Urteile des Gerichtshofs gegen andere Vertragsparteien geben den nicht beteiligten Staaten 26 Vgl. Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 256; Klein, S. 43, 59 ff.; Uerpmann, S. 214 ff. Eine § 31 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des BVerfG gebunden sind, exisitiert im Konventionsrecht nicht. 27 Vgl. Kühne, StV 2001, 75; Esser, S. 45 ff.; Ambos, ZStW 115 (2003), 589 ff. 28 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 53 RN 6 f.; Weigend, StV 2000, 387; Polakiewicz, S. 149 ff.; Peters, S. 253. 29 Vgl. die Praxis des für die Durchführung der EGMR-Urteile zuständigen Ministerkomitees, z. B. Anhang zu den Resolutionen DH (78) 39 vom 13.10.1978, Tyrer ./. UK; DH (92) 62 vom 10.11.1992, Linguistique Belge ./. Belgien; s. auch EGMR, Vermeire ./. Belgien, Urteil vom 29.11.1991, EuGRZ 1992, 12, Ziff. 26; Polakiewicz, S. 62 ff.; 154 ff.; Okresek, EuGRZ 2003, 168, 170 f. 30 Vgl. BVerfGE NJW 2004, 3407, 3408; BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 119 ff.; BGH JZ 2000, 363, 365; BGH JZ 2001, 359, 361; sowie Limbach, NJW 2001, 2915; Weigend, StV 2000, 387, Sommer, StraFo 2002, 310; Grabenwarter, § 13 RN 6.

A. Rechtsquellen

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Anlass, ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren.31 Das BVerwG bezeichnet dies als normative Leitfunktion der EGMR-Rechtsprechung, an der sich die innerstaatlichen Gerichte bei der Rechtsanwendung vorrangig zu orientieren haben und nur im Ausnahmefall davon abweichen dürfen.32 Voraussetzung ist eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung auf Grundlage einer gefestigten EGMR-Rechtsprechung.33 Ein innerstaatliches Gericht, das von dieser Auslegung abweichen will, trägt die Argumentationslast dafür, dass sein abweichender Standpunkt die entscheidenden besseren Gründe für sich hat.34 Insofern ist die Bedeutung von EGMRUrteilen mit der Wirkung von Präjudizien im deutschen Recht vergleichbar.35 Diese besondere Autorität der Straßburger Judikate gründet auf dem besonderen Charakter der Konvention und der eng damit verbundenen Aufgabe des Gerichtshofs. In der Präambel und in Art. 1 EMRK wird betont, dass das vorrangige Ziel der EMRK darin besteht, den Rechtsunterworfenen im innerstaatlichen Rechtsraum aller Vertragsstaaten bestimmte Grundrechte gegenüber der jeweils eigenen Staatsgewalt in gleicher Weise zu gewährleisten. Die kollektive Garantie der verbürgten Rechte bliebe ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpfen würde. Dem länderübergreifend zuständigen Gerichtshof obliegt es, die einheitliche Auslegung und Anwendung der Konventionsgarantien in sämtlichen Vertragsstaaten zu sichern und damit für die Wirksamkeit und Effektivität der kollektiven Garantie zu sorgen.36 Die normative Leitfunktion der EGMR-Rechtsprechung hat daher zur Folge, dass Straßburger Grundsatzentscheidungen in den Vertragsstaaten als faktisch verbindlich gelten.

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BVerfG NJW 2004, 3407, 3409. s. BVerwG JZ 2000, 1052; unter Berufung auf Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 227 und 257 ff.; Polakiewicz. S. 285 ff.; Sommer, StraFo 2002, 310; vgl. auch OLG Hamm, StV 2002, 319. 33 Vgl. BVerwG JZ 2000, 1052; ebenso: Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 227, 257 ff.; ders., EuGRZ 1996, 350; Polakiewicz, 353 f. 34 Vgl. BVerwG JZ 2000, 1052 sowie jetzt auch BVerfG NJW 2004, 3407, 3410; Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 259. 35 Vgl. Ress, Mosler-FS, S. 719, 731; Böse, StraFo 1999, 294; Kühne, StV 2001, 75. 36 Vgl. Uerpmann, S. 233; Ryssdall, EHRLR 1996, 18, 19; Böse, StraFo 1999, 293; Ambos, ZStW 115 (2003), 589 f.; Jung, GA 2003, 193. 32

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Teil 1: Grundlagen für die Untersuchung der Auswirkungen

B. Die Auswirkungen der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung auf die innerstaatliche Rechtsprechung Unter „Auswirkung“ kann zunächst die Umsetzung der einzelnen Konventionsgarantien und der Straßburger Rechtsprechung durch einen gesetzgeberischen Akt in nationales Recht verstanden werden.37 Aber auch die Rechtsanwendung als ein Verfahren, mit dem innerstaatliche Gerichte und Behörden einer völkerrechtlichen Rechtsnorm im innerstaatlichen Bereich Geltung verschaffen, zählt dazu.38 Letztere Form der Auswirkung ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Bei der Anwendung der Konvention und der Straßburger Judikatur durch die deutschen Strafgerichte ist zunächst von Bedeutung, wie, d.h. mit welcher Technik, die Konventionsnorm in der einzelnen gerichtlichen Entscheidung angewandt wird. Da die EMRK in der deutschen Rechtsordnung Gesetzesrang genießt, kann Art. 5 EMRK unmittelbar als Rechtsnorm angewandt werden.39 Aber auch mittelbar als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts können Art. 5 EMRK und die einschlägige Straßburger Rechtsprechung innerstaatliche Wirkungen entfalten.40 Die mittelbare Anwendung ist in den unterschiedlichsten Formen denkbar. Während sich in manchen Entscheidungen ein bloßer, in Klammern gesetzter Hinweis auf die EMRK findet,41 kann es sein, dass der Richter in einer anderen Entscheidung ausführlich die Vereinbarkeit einer bestimmten Auslegung mit der EMRK prüft.42 Den Bezugnahmen auf die Konvention kann dann die Funktion zukommen, das aus dem nationalen Recht abgeleitete Entscheidungsergebnis mit einem Konventionszitat zu bekräftigen oder das Ergebnis der Auslegung einer Vorschrift des nationalen Rechts anhand der Konvention zu kontrollieren. Einzelne Konventionsgarantien können ferner zur Konkretisierung einer Norm des innerstaatlichen Rechts herangezogen werden.43 Dies kommt hauptsächlich dann in Betracht, wenn das innerstaatliche Recht nur eine Generalklausel oder gar keine ausdrückliche Bestimmung enthält, während die EMRK eine präzise Regelung trifft.44 Die unmittelbare und 37

s. dazu ausführlich Kühl, ZStW 100 (1988), 601 ff. Vgl. Uerpmann, S. 22. 39 s. dazu ausführlich Uerpmann, S. 42 ff., 69 ff; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., MRK Einl. RN 43. 40 BVerfGE 74, 358, 370; s. dazu ausführlich Kühl, ZStW 100 (1988), 430; Hilf, S. 22; Uerpmann, S. 48 ff., 109 ff. 41 Z. B. HansOLG Bremen, StraFo 2000, 107; s. auch unten Teil 3, A. III. 2. b) cc). 42 Z. B. OLG Hamm StV 2002, 318; s. auch unten Teil 3, B. III. 2. b). 43 Vgl. Uerpmann, S. 48 ff. 44 Z. B. Art. 5 III Satz 2 und Art. 6 I EMRK, die im Gegensatz zum deutschen Recht eine präzise Regelung des Beschleunigungsgebots enthalten; Art. 5 III Satz 2 38

B. Die Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsprechung

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mittelbare Anwendung der Konvention kommt vor allem für die deutschen Instanz- und Revisionsgerichte in Betracht. Das BVerfG kann die EMRK indes bei Verfassungsbeschwerden nicht als alleinigen Prüfungsmaßstab zugrunde legen;45 allerdings wird die Konvention vom BVerfG bei der Auslegung der Grundrechte des GG herangezogen.46 Durch die Unterscheidung der unmittelbaren und mittelbaren Anwendung der EMRK erschließt sich allerdings nicht die Qualität der Auswirkung. Hierfür bietet sich an, nach der Erheblichkeit der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung für das Ergebnis der gerichtlichen Entscheidung zu unterscheiden.47 Entscheidungsirrelevant ist eine Konventionsgarantie, wenn sie entweder in der Gerichtsentscheidung gar nicht erwähnt wird oder lediglich auf grundsätzlicher Ebene, als „internationale Verzierung“48 oder „abrundender Aperçu“49 zur Bekräftigung oder Kontrolle des aus dem nationalen Recht abgeleiteten Ergebnisses herangezogen wird.50 Entscheidungsrelevanz besteht hingegen dann, wenn mit Anwendung der Konvention und der Straßburger Rechtsprechung, gleichsam als condicio sine qua non, das Ergebnis der Gerichtsentscheidung anders ausgefallen wäre als ohne deren Anwendung. Aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln ergibt sich letztlich die Vorgehensweise im Rahmen der Analyse der Auswirkungen: Einzelne strafgerichtlichen Entscheidungen werden zunächst daraufhin überprüft, ob sie Art. 5 EMRK zitieren. Anschließend wird bestimmt, welche Funktion das Konventionszitat im konkreten Einzelfall hatte, d.h. ob Art. 5 EMRK unmittelbar als Rechtsnorm Anwendung fand oder ob die Garantie mittelbar zur Auslegung einer Vorschrift der StPO herangezogen wurde. Für die Bestimmung der Qualität der Auswirkung muss dann untersucht werden, inwieweit die Bezugnahme für das Entscheidungsergebnis inhaltlich relevant gewesen.

EMRK sieht zusätzlich konkrete Rechtsfolgen im Falle eines Verstoßes vor; vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 414; Sommer, StraFo 2002, 309. 45 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 10, 271, 274; s. dazu ausführlich Kühl, ZStW 100 (1988), 426 ff.; Uerpmann, S. 96 ff.; die Verfassungsbeschwerde kann lediglich auf die Verletzung eines Grundrechtes oder einer der in § 90 BVerfGG abschließend genannten Verfassungsbestimmungen gestützt werden. 46 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 83, 119, 128; Jarass/Pieroth, Einl. RN 9; Weigend, StV 2000, 384, 389. 47 Vgl. Stenger, S. 31 f. 48 Hilf, S. 22. 49 Sommer, StraFo 2002, 309. 50 Vgl. Uerpmann, S. 49 ff.; Sommer, StraFo 2002, 309; Grabenwarter, § 3 RN 15.

Teil 2

Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK Die in Art. 5 EMRK gewährleistete persönliche Freiheit schützt den einzelnen vor willkürlicher Freiheitsentziehung durch den Staat. Garantiert ist die Freiheit der physischen Fortbewegung von einem Ort zum anderen („la liberté d’aller et de venir“).1 Hingegen werden die allgemeine Handlungsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf angemessene Behandlung während der Inhaftierung von Art. 5 EMRK nicht erfasst. Hier erfüllen die Grundrechte des Art. 2, 3 und 8 EMRK wesentliche Schutzfunktionen;2 die Freizügigkeit wird durch Art. 2 II Satz 1 des 4. Protokolls gewährleistet.3 Das gleichfalls in Art. 5 EMRK garantierte Recht auf Sicherheit („security“/„sécurité“) hat keine selbstständige Bedeutung;4 vielmehr ist es als Ausfluss des Rechts auf physische Freiheit zu verstehen: Erst der Schutz vor willkürlicher Verhaftung gewährleistet auch die Sicherheit der Person.5 Als Freiheitsentziehungen sind Maßnahmen der staatlichen Gewalt zu verstehen, durch die jemand gegen seinen Willen an einem bestimmten Ort für eine gewisse Dauer festgehalten wird.6 Zu unterscheiden ist dabei, ob es sich um die bloße Regelung der Bewegungsfreiheit, die durch die EMRK nicht geschützt ist, um eine Freiheitsbeschränkung, die von Art. 2 des 4. Protokolls geregelt wird, oder um eine Freiheitsentziehung handelt.7 Als Beurteilungskriterien die1 s. EGMR, Engel u. a. ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, EuGRZ 1976, 224, Ziff. 58; vgl. auch Velu/Ergec, RN 301; Trechsel, EuGRZ 1980, 515; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 15. 2 Grabenwarter, § 21 RN 2; Meyer-Ladewig, Art. 5 RN 1; zu diesen Garantien ausführlich s. Frowein/Peukert, Art. 3 RN 10, Art. 8 RN 37. 3 s. EGMR, Engel u. a. ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1975, EuGRZ 1976, 224, Ziff. 58; Amuur ./. Frankreich, Urteil vom 25.6.1996, EuGRZ 1996 577, Ziff. 92; Lavents ./. Lettland, Urteil vom 28.11.2002, Nr. 58442/00, Ziff. 62; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 16. 4 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1980, 518; Van Dijk/van Hoof, S. 344 f. 5 Vgl. dazu Fawcett, S. 70: „Freiheit und Sicherheit sind die beiden Seiten derselben Münze: wenn die persönliche Freiheit auf die Freiheit der Bewegung verweist, so meint Sicherheit den Zustand dessen, der in dieser Freiheit rechtlich geschützt ist“ (Übersetzung nach Trechsel, EuGRZ 1980, 518); ständige Rspr. EGMR, Bozano ./. Italien, Urteil vom 18.12.1986, EuGRZ 1987, 101, 106; Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472, 474, Ziff. 86. 6 Vgl. EGMR, Engel u. a. ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1975, EuGRZ 1976, 224, Ziff. 62; Ashingdane ./. UK, Urteil vom 28.5.1985, EuGRZ 1986, 8, Ziff. 41.

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen

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nen die Art und Weise, die Dauer und die Auswirkungen der zu beurteilenden Maßnahme.8 Der Unterschied zwischen Freiheitsentziehung, Freiheitsbeschränkung und bloßer Regelung der Bewegungsfreiheit liegt daher nur in Ausmaß und Intensität, nicht in Natur oder Wesen einer hoheitlichen Maßnahme.9 Art. 5 I Satz 1 EMRK enthält die allgemeine Garantie der Freiheit und Sicherheit der Person, Satz 2 stellt die Voraussetzungen auf, unter denen die Entziehung der Freiheit zulässig ist. Art. 5 II bis IV EMRK enthalten schließlich besondere Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen; Art. 5 V EMRK begründet einen selbstständigen Entschädigungsanspruch, wenn der Betroffene unrechtmäßig in Haft gehalten worden war. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Problembereiche der Untersuchungshaft.

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen – Art. 5 I EMRK I. Allgemeine Voraussetzungen Neben den in Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK aufgezählten Voraussetzungen bedarf es für einen konventionskonformen Eingriff in die persönliche Freiheit zunächst, dass die Freiheit „rechtmäßig“ (Art. 5 I Satz 2 lit. a) bis f) EMRK jeweils am Anfang), und auf die „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ (Art. 5 I Satz 2, 1. Halbsatz EMRK) entzogen wurde. Bei dieser Formulierung handelt es sich um einen Rückverweis auf nationales Recht. Die Kontrolle, ob nationales Recht korrekt ausgelegt und angewendet wurde, liegt grundsätzlich nicht im Zuständigkeitsbereich des EGMR; vielmehr sind in erster Linie die nationalen Behörden und Gerichte dafür zuständig.10 Verweist jedoch die Konvention ausdrücklich auf nationales Recht, bedeutet ein Verstoß gegen nationales Recht auch ein Verstoß gegen die Konvention. In diesem Fall ist der Gerichtshof dann befugt, die Art und Weise, in der nationale Behörden das innerstaatliche Recht auslegen und anwenden, zu überprüfen. Allerdings beschränkt sich die Überprüfung darauf, dass das innerstaatliche Recht

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s. Peters, S. 92. EGMR, Ashingdane ./. UK, Urteil vom 28.5.1985, EuGRZ 1986, 8, Ziff. 41, Amuur ./. Frankreich, Urteil vom 25.6.1996, EuGRZ 1996, 577, Ziff. 42. 9 Vgl. EGMR, Guzzardi ./. Italien, EuGRZ 1983, 633, Ziff. 94; EGMR, Ashingdane ./. UK, EuGRZ 1986, 8, Ziff. 41. 10 Vgl. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom. 18.12.1986, EuGRZ 1979, 654, Ziff. 46; Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472, 474, Ziff. 87. 8

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

angesichts der Umstände des Falles nicht entgegen dem Zweck des Art. 5 EMRK willkürlich ausgelegt oder angewendet wurde.11 Eine Freiheitsentziehung ist daher nur dann konventionskonform, wenn sie drei Voraussetzungen erfüllt: Das innerstaatliche Recht muss eine gesetzliche Grundlage und ein gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren für die konkrete Freiheitsentziehung vorsehen.12 Ferner muss das nationale Verfahrensrecht im konkreten Fall richtig, d.h. nicht willkürlich durch die innerstaatlichen Behörden angewendet worden sein.13 Schließlich muss die Festnahme aufgrund eines in Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK aufgezählten Haftgrundes erfolgt sein.

II. Die Haftgründe gemäß Art. 5 I Satz 2 EMRK 1. Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK – ein kurzer Überblick Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK zählen einzelne Gründe, die eine Freiheitsentziehung zulassen, abschließend („exhaustive“)14 auf. Entsprechend dem Zweck des Art. 5 EMRK, Eingriffe in die persönliche Freiheit möglichst einzudämmen, sind diese Gründe restriktiv auszulegen.15 Die Rechtsordnungen der Konventionsstaaten dürfen keine zusätzlichen Ermächtigungen zum Freiheitsentzug vorsehen. Andererseits werden in Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK nur Mindestvoraussetzungen normiert, so dass das innerstaatliche Recht strengere Maßstäbe für Freiheitsentziehungen aufstellen kann; der höhere nationale Standard ist wiederum konventionsrelevant, da die Freiheit nur „rechtmäßig“ und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ entzogen werden darf.16

11 Vgl. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom. 18.12.1986, EuGRZ 1979, 654, Ziff. 46; EGMR Stasaitis ./. Litauen, Urteil vom 21.03.2002, Nr. 47679/99, Ziff. 58; zum Prüfungsmaßstab des EGMR vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 82 ff. 12 Zu den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage s. EGMR, Sunday Times ./. UK, Urteil vom 26.4.1979, EuGRZ 1979, 654; Rakevich ./. Russland, Urteil vom 28.10.2003, Nr. 58973/00, Ziff. 31; zu den Anforderungen an das innerstaatliche Verfahren s. EGMR, Amuur ./. Frankreich, Urteil 25.6.1996, EuGRZ 1996, 577, Ziff. 50 ff. m. Anm. Kokott; Erkalo ./. Niederlande, Urteil vom 22.9.1998, Reports 1998-VI, S. 2464, Ziff. 52 ff.; s. auch Esser, S. 203 ff.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 71 ff. mit ausführlicher Kasuistik. 13 s. dazu EGMR, Benham ./. UK, Urteil vom 10.6.1996, Reports 1996-III, S. 738, 752, Ziff. 40 f.; Loukanov ./. Bulgarien, Urteil vom 20.3.1997, Reports 1997-II, S. 529, 542, Ziff. 41 f.; s. auch Esser, S. 207 f.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 82 ff. 14 Vgl. EGMR, Engel u. a. ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, EuGRZ 1976, 224, Ziff. 57; Vasileva ./. Dänemark, Urteil vom 25.9.2003, Nr. 5279/99, Ziff. 33. 15 EGMR Winterwerp ./. Belgien, Urteil vom 24.10.1979, EuGRZ 1979, 653, Ziff. 37; Valiseva ./. Dänemark, Urteil vom 25.9.2003, Nr. 52792/99, Ziff. 33. 16 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 113.

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen

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Zu den Haftgründen nach Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK gehören nicht nur genuin strafprozessuale Gründe, sondern auch solche, die nach deutschem Recht dem Polizei- und Ordnungsrecht sowie dem Ausländerrecht zuzuordnen sind. Lit. a) regelt die Freiheitsentziehung nach einer rechtmäßigen Verurteilung durch ein zuständiges Gericht. Hauptanwendungsfall dieses Haftgrundes ist somit die Strafhaft. Ferner sind auch die Fälle der Sicherungsverwahrung17 nach § 66 StGB sowie sonstige Arten der durch Strafurteil als Zusatzstrafe oder Maßnahme der Besserung und Sicherung angeordneten Unterbringung18 gemäß §§ 61 ff. StGB erfasst. Rein präventive Maßnahmen oder solche zur Sicherung, wie beispielsweise die nachträgliche Sicherungsverwahrung in manchen Polizeigesetzen der deutschen Bundesländer,19 fallen hingegen nicht unter lit. a).20 Lit. b) regelt in einer ersten Alternative die Inhaftierung wegen „Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung“. Hierunter fällt beispielsweise das unentschuldigte Nichterscheinen eines Zeugen gemäß § 51 StPO und die grundlose Zeugnis- und Eidesverweigerung gemäß § 70 I StPO.21 Die zweite Alternative von lit. b) hat die Freiheitsentziehung „zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“ zum Gegenstand. Erfasst ist hier vor allem die Beuge- oder Erzwingungshaft nach §§ 70 II, 95 II StPO.22 EGMR und EKMR haben – ohne die beiden Alternativen des Art. 5 I lit. b) EMRK eindeutig zu unterscheiden – die Duldung einer Blutprobe23 sowie die Anordnung, sich nach vorläufiger Entlassung aus der Untersuchungshaft von einem bestimmten Aufenthaltsort nicht zu entfernen,24 unter Art. 5 I lit. b) EMRK subsumiert.25

17 s. dazu EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Urteil vom 27.5.1997; Reports 1997-III, S. 839, 862, Ziff. 78. 18 Vgl. EGMR, Siva Rocha ./. Portugal, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V S. 1913; Ziff. 7–10, 27; Johnson ./. UK, Urteil vom 24.10.1997, Reports 1997-VII, S. 2391, Ziff. 7–10, 17–19, 58. 19 Z. B. das baden-württembergische Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter (StrUBG) vom 20.2.2001, GBl. 2001, 188 (v. 14.3.2001). S. dazu IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 132 m. w. N. 20 Vgl. EGMR, Guzzardi ./. Italien, Urteil vom 6.11.1980, EuGRZ 1083, 633, Ziff. 100. 21 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK Art. 5 RN 3; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 144. 22 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK Art. 5 RN 3; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 148. 23 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1980, 524 unter Hinweis auf die unveröffentlichte Entscheidung der EKMR gegen Österreich vom 13.12.1979, Nr. 8278/78. 24 EKMR, Freda ./. Italien, Entscheidung vom 7.10.1980, Nr. 8916/80, DR 21, 250, Ziff. 4. 25 Weitere Beispiele bei Trechsel, EuGRZ 1980, 524; Frowein/Peukert Art. 5 RN 66.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

Lit. c) hat die vorläufige Festnahme, Untersuchungshaft und Präventivhaft zum Gegenstand. Auf diese Regelung wird unten in einem gesonderten Abschnitt26 ausführlich eingegangen. Lit. d) regelt in einer ersten Alternative die Inhaftnahme Minderjähriger „zum Zweck überwachter Erziehung“. Erfasst sind Maßnahmen der Fürsorge und des Jugendstrafrechts,27 im deutschen Recht beispielsweise §§ 1666, 1666a BGB, 34, 42, 43 SGB VIII, 5, 9, 12 Nr. 2 JGG.28 Die zweite Alternative hat die Inhaftnahme „zur Vorführung vor die zuständige Behörde“ zum Gegenstand, die nur bei Minderjährigen erfolgen darf, für die eine überwachte Erziehung im Sinne der ersten Alternative in Betracht kommt.29 Lit. e) regelt die Unterbringung von ansteckend Kranken, Geisteskranken, Alkohol- und Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern. Die Geisteskrankheit muss immer anhand eines Sachverständigengutachtens nachgewiesen werden.30 Art und Schwere der Krankheit müssen die Freiheitsentziehung rechtfertigen. Der EGMR hat beispielsweise schwere Persönlichkeitsstörungen31 und psychische Störungen nach Hirnverletzungen32 als Geisteskrankheit im Sinne von lit. e) angesehen; eine lediglich von der herkömmlichen gesellschaftlichen Normen abweichende Ansicht genügt jedoch nicht.33 Von lit. e) werden mithin Maßnahmen aufgrund §§ 81, 126a StPO sowie der Unterbringungsgesetze der Bundesländer erfasst.34 Lit. f) regelt schließlich die Voraussetzungen der Ausweisungs- und Auslieferungshaft. Erlaubt ist die Inhaftierung „zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.“ Hierbei handelt es sich um eine rein formelle Garantie; es genügt lediglich die spezifische Absicht, den Betroffenen daran zu hindern, in das Staatsgebiet eindringen, ferner die bloße Tatsache der Einleitung eines 26 27

Unten, Teil 1, A. II. 2. Vgl. EGMR, Bouamar ./. Belgien, Urteil vom 29.2.1988, Serie A 129, Ziff. 50,

52. 28 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK Art. 5 RN 5; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 185. 29 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 86; Grabenwarter, § 21, RN 11; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 187. 30 Vgl. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 536, Ziff. 63; X. ./. UK, Urteil vom 6.11.1980, EuGRZ 1982, 101, 102, Ziff. 40; Velu/ Ergec, RN 331. 31 s. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 536, Ziff. 64; Hutchinson Reid ./. UK, Urteil vom 20.2.2003, Nr. 50272/99, Ziff. 52. 32 s. EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Urteil vom 27.5.1997, Reports 1997-III, S. 839, Ziff. 6 ff. 33 s. EGMR, Chahal ./. UK, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, Ziff. 129; Rakevich ./. Russland, Urteil vom 28.10.2003, Nr. 58937/00, Ziff. 26. 34 Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK Art. 5 RN 6.

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen

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Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens mit der Absicht, die Ausweisung und Auslieferung zu sichern.35 Auf die materielle Rechtmäßigkeit der Ausweisung oder Auslieferung kommt es im Rahmen von lit. f) indes nicht an.36 Überschneidungen einzelner Haftgründe lassen sich nicht vermeiden; sie können nebeneinander vorliegen und schließen einander nicht aus.37 Allerdings muss bei konkurrierenden Voraussetzungen darauf geachtet werden, dass dadurch das Schutzniveau nicht abgesenkt wird. Deshalb bleiben für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung die jeweils strengsten Voraussetzungen maßgeblich.38 2. Art. 5 I lit. c) EMRK: Vorläufige Festnahme, Untersuchungshaft und Präventivhaft Gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK ist eine Festnahme oder Freiheitsentziehung nur zulässig „. . . zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern“.39

Diese Vorschrift regelt die verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Voraussetzungen der vorläufigen Festnahme und der Präventiv- oder Untersuchungshaft. In der strafrechtlichen Praxis wird der Eingriffsvorbehalt nach lit. c) sehr häufig angewandt. Dennoch spielt er in der Judikatur der Konventionsorgane keine entsprechend große Rolle, weil die Voraussetzungen, welche das nationale Recht der einzelnen Konventionsstaaten für die Zulässigkeit der Anordnung von Präventiv- und Untersuchungshaft vorsieht, zumeist über den Mindeststandard des Art. 5 I lit. c) EMRK hinaus reichen.40 Allerdings verdeutlicht dieser Eingriffsvorbehalt, dass die Anordnung von Untersuchungshaft aufgrund

35 Vgl. EGMR Chahal ./. UK, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, Ziff. 112; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 98; Velu/Ergec, RN 334. 36 Vgl. EGMR Chahal ./. UK, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, Ziff. 112; EKMR, Caprino ./. UK, Bericht vom 17.7.1980, DR 22, 5, Ziff. 65; Velu/Ergec, RN 334; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 99. 37 s. EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Urteil vom 27.5.1997; Reports 1997-III, Ziff. 76; Erkalo ./. Niederlande, Urteil vom 2.9.1998, Reports 1998-VI, S. 2464, 2477, Ziff. 50. 38 LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 37; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 115. 39 EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 v. 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 40 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1980, 524; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 71; Grabenwarter, § 21 RN 7; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 160.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

eines hinreichenden Tatverdachts der Unschuldsvermutung nach Art. 6 II EMRK nicht widerspricht.41 Neben dem Ziel, den Festgenommenen vor das zuständige Gericht vorzuführen, muss einer der in Art. 5 I lit. c) EMRK aufgeführten Haftgründe vorliegen, um die Freiheitsentziehung zu rechtfertigen. a) Der Vorführungszweck Die Freiheitsentziehung nach Art. 5 I lit. c) EMRK bezweckt die Vorführung der festgenommene Person vor das zuständige Gericht. Damit werden zwei Ziele verfolgt: Es soll zum einen verhindert werden, dass eine Person allein aufgrund einer Verwaltungsentscheidung für längere Zeit inhaftiert werden kann.42 Zum anderen dient die Inhaftierung dazu, eine strafrechtliche Untersuchung zu sichern, die mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe enden kann.43 Dieses Ziel folgt vor allem aus dem engen Zusammenhang des lit. c) mit Art. 5 III Satz 2 EMRK. Hiernach muss der Beschuldigte aus der Haft entlassen werden, wenn die Durchführung des Verfahrens auf andere Weise, beispielsweise durch Sicherheitsleistung, gesichert werden kann. Festnahme und Haft gemäß lit. c) stehen also stets in einem strafrechtlichen Kontext.44 Deshalb fällt auch die vorläufige Unterbringung tatverdächtiger geisteskranker Personen gemäß §§ 81, 126a StPO unter lit. c), denn auch hier erfolgte die Inhaftierung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde.45 b) Untersuchungshaft Der Wortlaut des Art. 5 I lit. c) EMRK sieht für die Anordnung von Untersuchungshaft zwei Haftgründe vor: hinreichender Tatverdacht und Fluchtgefahr. Dabei genügt der hinreichende Tatverdacht allein, um eine Freiheitsentziehung nach lit. c) zu rechtfertigen; Fluchtgefahr setzt indessen Tatverdacht voraus.46 Hinzu kommt jedoch eine nach nationalem Recht „rechtmäßige Festnahme oder 41

Näher dazu IntKomm-Vogler, Ar. 6 RN 427 ff. Vgl. EGMR, Irland ./. UK, Urteil vom 18.1.1978, EuGRZ 1979, 149, Ziff. 199; Murray ./. UK, Urteil vom 28.10.1994, EuGRZ 1996, 587, Ziff. 68. 43 Vgl. Grabenwarter, § 21 RN 7; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 158. 44 EGMR, Ciulla ./. Italien, Urteil vom 22.2.1989, Serie A 148, Ziff. 38; MeyerLadewig, Art. 5 RN 13. 45 Vgl. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 535, Ziff. 60, 65; s. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Art. 5 RN 4; Esser, S. 239 f., 245; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 158; a. A. jedoch Frowein/Peukert, Art. 5 RN 120. Inwieweit Art. 5 I lit. e) EMRK neben lit. c) anwendbar ist, hatte der EGMR im Fall Herczegfalvy nicht entschieden. 46 Guradze, Art. 5 Anm. 19; Trechsel, EuGRZ 1980, 524; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 68. 42

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen

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Freiheitsentziehung“. Sieht das innerstaatliche Recht eine höhere Schwelle vor, im deutschen Recht zum Beispiel den dringenden Tatverdacht, § 112 I StPO, gilt diese; bei niedrigerer Schwelle geht hingegen die EMRK vor.47 Den in lit. c) nicht ausdrücklich erwähnten Haftgründen der Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr kommt deshalb insoweit Bedeutung zu, als sie nach innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind. Außerdem hat der EGMR diese Haftgründe ausdrücklich anerkannt.48 aa) Hinreichender Tatverdacht Hinreichender Tatverdacht genügt bei Inhaftnahme, nicht jedoch bei der Fortdauer der Untersuchungshaft; hier müssen dann die Garantien des Art. 5 III EMRK beachtet werden.49 Hinreichender Tatverdacht setzt das Vorliegen von Tatsachen oder Informationen voraus, die vernünftigerweise und nachvollziehbar bei Berücksichtigung des jeweiligen Verfahrensstandes den Verdacht rechtfertigen, dass die betroffene Person die Tat begangen haben könnte und einen objektiven Beobachter hiervon überzeugen können.50 Dabei ist nicht erforderlich, dass der Sachverhalt bereits vollständig aufgeklärt ist. Während der Untersuchungshaft müssen dann aber weitere Ermittlungen mit dem Ziel vorangetrieben werden, weitere, den Tatverdacht erhärtende oder entkräftende Tatsachen beizubringen.51 Ein späterer Freispruch schadet der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft nicht. Erforderlich ist nur, dass der Tatverdacht ursprünglich aus nachvollziehbaren Gründen angenommen wurde.52 Dass der Verdacht auch unspezifiziert sein darf und sich nicht auf eine bestimmte straftatbestandsmäßige Handlung richten muss, entschied der EGMR vor allem im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung.53 Er hatte dabei die besondere Situation, in der sich ein Staat befindet, der Schutz vor Terroristen bieten muss, berücksichtigt und das terroristische Verbrechen als eine Sonderkategorie eingestuft, bei der an den Verdachtsgrad geringere Anforderungen 47 Vgl. EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Urteil vom 24.11.1994, Serie A 296-C, Ziff. 42; Villiger, RN 346; Peters S. 95 f. 48 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 14; Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9, Ziff. 13 f. 49 Vgl. EGMR Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9, Ziff. 4; DeJong u. a. ./. Niederlande, Urteil vom 22.5.1984, EuGRZ 1985, 700, Ziff. 44. 50 EGMR, Fox, Campbell, Hartley ./. UK, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 32; Berktay ./. Türkei, Urteil vom 1.3.2001, Nr. 22493/93, Ziff. 199. 51 EGMR, Brogan u. a. ./. UK, Urteil vom 29.11.1988 Serie A 145-B, Ziff. 53; O’Hara ./. UK, Urteil vom 16.10.2001, ECHR 2001-X, Ziff. 36; van Dijk/van Hoof, S. 357. 52 EGMR, Brogan u. a. ./. UK, Urteil vom 29.11.1988, Serie A 145-B, Ziff. 53. 53 s. dazu Trechsel, StV 1992, 187; Reindl, S. 61 ff.; kritisch dazu IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 170.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

gestellt werden dürfen, als bei herkömmlichen Verbrechen.54 Im Fall Murray gegen das Vereinigte Königreich wurden beispielsweise sehr schwache Verdachtsmomente akzeptiert, die auf eine zivilrechtliche Vorverurteilung, einschlägige Vorstrafen von Familienangehörigen sowie das Schweigen des Betroffenen gestützt wurden.55 Zudem erachtet der Gerichtshof für die Begründung des Verdachts geheime, nicht offen gelegte Erkenntnisse für ausreichend.56 bb) Fluchtgefahr Die Festnahme und Freiheitsentziehung nach lit. c) ist bereits bei hinreichendem Tatverdacht zulässig. Dem Haftgrund der Fluchtgefahr kommt deshalb lediglich eine ergänzende Funktion zu, insbesondere, wenn es um die Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer gemäß Art. 5 III Satz 2 EMRK geht.57 Für die Beurteilung, ob Fluchtgefahr besteht, stellt der EGMR auf die Umstände des Einzelfalls ab. Er berücksichtigt dabei die Persönlichkeit des Betroffenen, seinen Wohnsitz, seinen Beruf, seine familiären Bindungen und eventuelle Verbindungen zum Ausland.58 Eine hohe Straferwartung kann zwar ein Indiz für die Fluchtbereitschaft einer Person sein. Sie reicht aber allein nicht aus, um Fluchtgefahr anzunehmen,59 denn mit fortdauernder Untersuchungshaft verliert der Haftgrund der Fluchtgefahr regelmäßig an Gewicht.60 c) Präventivhaft Die zweite Alternative des Art. 5 I lit. c) EMRK lässt die Freiheitsentziehung zur Verhütung von Straftaten zu. Zu unterscheiden sind hierbei die Haftgründe der Wiederholungsgefahr und der Ausführungsgefahr.

54 Vgl. EGMR, Brogan ./. UK, Urteil vom 29.11.1988, Serie A 145-B Ziff. 48 (general approach); Trechsel, StV 1992, 188. 55 EGMR, Murray ./. UK, Urteil vom 28.10.1994, Serie A 300-A, Ziff. 60–63. 56 s. EGMR, Fox, Campbell, Hartley ./. UK, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 32; Murray ./. UK, Urteil vom 28.10.1994, Serie A 300-A, Ziff. 58; O’Hara ./. UK, Urteil vom 16.10.2001, ECHR 2001-X, Ziff. 35. Allerdings besteht hier ein Widerspruch zu den Anforderungen, die inzwischen an das Haftprüfungsverfahren nach Art. 5 IV EMRK gestellt werden, vgl. unten Teil 2, B. III. 2. 57 Reindl, S. 65 ff.; Esser, S. 233; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 172. 58 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 14; Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393, Ziff. 10. 59 Vgl. EGMR, Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 68; Jecius ./. Litauen, Urteil vom 31.7.2000, ECHR 2000-IX, Ziff. 94; Esser, S. 233 f. 60 Vgl. EMGR Gombert u. Gochgarian ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 39779/98, 39781/98, Ziff. 48; Zannouti ./. Frankreich, Urteil vom 31.7.2001, Nr. 42211/98, Ziff. 45.

A. Die Zulässigkeit von Freiheitsentziehungen

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Von lit. c) wird unstreitig der Haftgrund der Wiederholungsgefahr weiterer Straftaten bei einem bereits bestehenden Tatverdacht erfasst.61 Voraussetzung ist, dass konkrete Verdachtsmomente darauf schließen lassen, dass eine bestimmte rechtswidrige, nicht notwendig schuldhafte, mit Strafe bedrohte Handlung vorgenommen werden soll; ein abstrakter Verdacht verbrecherischer Absichten genügt nicht.62 Genauso wenig darf eine Festnahme aus generalpräventiven Gründen erfolgen.63 Unklar ist hingegen, ob die bloße Ausführungsgefahr der erstmaligen Begehung einer Straftat für eine präventive Inhaftierung nach lit. c) ausreicht.64 Diese Fragestellung betrifft vor allem die Zulässigkeit von präventiv-polizeilichen Maßnahmen, insbesondere der nachträglichen Sicherungsverwahrung65. Dagegen spricht, dass die Festnahme oder Haft nach lit. c) ausschließlich zum Zweck der Vorführung vor ein Gericht erlaubt ist. Die Haftgründe des lit. c) müssen deshalb grundsätzlich unter Berücksichtigung des strafprozessualen Haftzwecks interpretiert werden. Dies hat der EGMR im Fall Jecius gegen Litauen nochmals klargestellt. Das Gericht, welchem der Festgenommene vorgeführt wird, soll gemäß Art. 5 III Satz 2 EMRK über die Fortdauer der Haft entscheiden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob sich der Verdacht einer begangenen Straftat bestätigt hat.66 Eine Freiheitsentziehung ausschließlich zur Verhinderung der erstmaligen Begehung einer Straftat ist also von lit. c) nicht gedeckt.

61 LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 70; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 179; s. auch § 112a StPO. 62 LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 70; Grabenwarter, § 21 RN 9. 63 Vgl. EGMR, Guzzardi ./. Italien, Urteil vom 6.11.1980, EuGRZ 1983, 633, Ziff. 102. 64 Dafür: LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 70; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 82; Villiger, RN 348; van Dijk/van Hoof, S. 355; Grabenwarter, § 21 RN 9. Dagegen: Jacobs/White, S. 109; Kühne/Esser, StV 2002, 368; Esser, S. 231 f.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 180. 65 Namentlich das baden-württembergische Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter (StrUBG) vom 20.2.2001, GBl. 2001, 188 (v. 14.3. 2001). 66 EGMR, Jecius ./. Litauen, Urteil vom 31.7.2000, ECHR 2000-IX, Ziff. 50: „A person may be detained within the meaning of Article 5 § 1 (c) only in the context of criminal proceedings, for the purpose of bringing him before the competent legal authority on suspicion of his having committed an offence.“; vgl. auch EGMR, Lawless ./. Irland, Urteil vom 1.7.1961, Serie A 3 Ziff. 14; Ciulla ./. Italien, Urteil vom 22.2.1989, Serie A 148, Ziff. 38–41.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen Für festgenommene und inhaftierte Personen enthalten Art. 5 II bis IV EMRK Verfahrensgarantien, die unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung bestehen.67 Sie haben die Funktion, die materielle Freiheitsgarantie absichern, denn der Schutz des Einzelnen vor willkürlichen Freiheitsentziehungen durch die Staatsgewalt wird nicht nur durch die Garantie selbst, sondern zusätzlich dadurch gewährleistet, dass der Festgenomme Anspruch auf Information, auf ein beschleunigtes Verfahren während seiner Haft und auf gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung hat.68 Für das Recht auf Information nach Art. 5 II EMRK und das Recht auf richterliche Haftkontrolle nach Art. 5 IV EMRK ist es unerheblich, aus welchem der in Art. 5 I lit. a) bis f) EMRK genannten Gründe die Freiheit entzogen wurde.69 Art. 5 III EMRK regelt hingegen Rechte, die ausschließlich Personen zustehen, die aus einem der in Art. 5 I lit. c) EMRK genannten Gründen festgenommen oder inhaftiert worden sind. Art. 5 V EMRK gewährt einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn der Betroffene unter Verletzung der Bestimmungen in Art. 5 I bis IV EMRK in Haft gehalten wurde. I. Das Recht auf Information – Art. 5 II EMRK „Jeder festgenommenen Person muß unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.“70

Die zügige Versorgung der festgenommen Person mit Informationen über die Hintergründe ihrer Festnahme beseitigt die psychische Ungewissheit über die Freiheitsentziehung. Sie verschafft dem Festgenommenen die Möglichkeit, ein Haftprüfungsverfahren nach Art. 5 IV EMRK einzuleiten und effektiv, dem Prinzip der Waffengleichheit entsprechend, durchzuführen.71

67 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 101; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 222; vgl. auch EGMR, Kerr ./. UK, Zulässigkeitsentscheidung vom 7.12.1999, Nr. 40451/ 98, S. 7. 68 s. EGMR, Kurt ./. Türkei, Urteil vom 25.5.1998, Reports 1998-III, S. 1153, Ziff. 123; Irfan Bilgin ./. Türkei, Urteil vom 17.7.2001, ECHR 2001-VIII, Nr. 25659/ 94, Ziff. 149. 69 Vgl. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Urteil vom 21.2.1990, Serie A 170-A, Ziff. 28; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 221. 70 Art. 5 II EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 v. 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 71 Vgl. EGMR, X ./. UK, Urteil vom 5.11.1980, EuGRZ 1982, 101, 107, Ziff. 66; Conka ./. Belgien, Urteil vom 5.2.2002, ECHR 2002-I, Ziff. 50.

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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Die Informationspflicht nach Art. 5 II EMRK ist mit der Belehrungspflicht nach Art. 6 III lit. a) EMRK vergleichbar. Diese Vorschrift soll jedem Beschuldigten ermöglichen, seine Verteidigung während des gesamten Strafverfahrens vorzubereiten. Die im Rahmen von Art. 6 III lit. a) erteilte Information ist deshalb grundsätzlich detaillierter und spezifischer.72 1. Notwendiger Inhalt und Umfang der Unterrichtung Die Information muss immer die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Freiheitsentziehung sowie die für die Freiheitsentziehung zuständige Behörde beinhalten; die bloße Mitteilung der Rechtsgrundlage für die Festnahme genügt nicht.73 Der Umfang der Informationserteilung richtet sich grundsätzlich nach dem Haftgrund und dem Normzweck des Art. 5 II EMRK. Im Falle der Untersuchungshaft nach lit. c) müssen daher die tatbestandlichen Umstände einschließlich der Beweismittel mitgeteilt werden, damit der Festgenommene den Tatverdacht wirksam anfechten kann, denn dieser ist materielle Haftvoraussetzung.74 Die Mitteilungspflicht nach Art. 5 II EMRK erstreckt sich – im Gegensatz zu Art. 104 IV GG, § 114b StPO – nicht darauf, die Angehörigen oder eine andere Vertrauensperson von der Festnahme des Betroffenen zu unterrichten.75 Eine Pflicht, den Festgenommenen über sein Recht auf eine Haftprüfung nach Art. 5 IV EMRK aufzuklären, kann Art. 5 II EMRK indes nicht entnommen werden. Allerdings ist zu bedenken, dass sich die Schutzfunktion dieser Vorschrift nur entfalten kann, wenn der Betroffene seine Verfahrensrechte kennt. Eine Rechtsmittelbelehrung sollte deswegen zum notwendigen Inhalt der Information gehören.76 Eine Belehrung des Festgenommenen über sein Aussageverweigerungsrecht,77 wird nach Art. 5 II EMRK nicht verlangt. Allerdings ist eine solche Belehrung notwendige Bedingung für ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 I EMRK.78 72 Vgl. EKMR, Nielsen ./. Dänemark, Entscheidung vom 2.9.1959, Yb-ECHR 2, 412, 462; vgl. auch Velu/Ergec, RN 335; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 102; Jacobs/ White, S. 131; a. A. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 223. 73 Vgl. EGMR, X ./. UK, Urteil vom 5.11.1980, EuGRZ 1982, 101, 107, Ziff. 66; Fox, Campbell u. Hartely, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 40, 41; vgl. auch Kempf, Rieß-FS, S. 222; Esser, S. 257. 74 Vgl. EGMR, Fox, Campbell u. Hartely, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 40; Trechsel, EuGRZ 1980, 528; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 105; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 227. 75 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 224. 76 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 228. 77 Vgl. z. B. die „Miranda warnings“ aus dem Urteil des US-amerikanischen Supreme Court von 1966 im Fall Miranda ./. Arizona, 384 U.S. 463 (1966), s. dazu Frase, S. 36 f.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

2. Die Form der Unterrichtung Art. 5 II EMRK enthält keine Regelungen über die Form der Informationserteilung. Der Normzweck erfordert lediglich, dass die Kenntnisnahme des Festgenommenen sichergestellt werden muss. Dementsprechend stellen EGMR und EKMR keine hohe Anforderungen an die Formeinhaltung. Die Aufklärung über die Haftgründe kann mündlich durchgeführt werden und soll in einfacher, untechnischer und dem Betroffenen verständlicher Weise erfolgen;79 sofern erforderlich, müssen die Behörden deshalb für einen Dolmetscher sorgen.80 Eine Abschrift oder die Übersetzung des Haftbefehls kann der Betroffene aber nicht verlangen.81 Es reicht aus, wenn der Beschuldigte unter Berücksichtigung des konkreten Tatvorwurfs und der Umstände der Festnahme erkennen kann, weshalb seine Festnahme angeordnet wurde.82 Eine zufällige Kenntnisnahme genügt allerdings nicht.83 Im deutschen Recht muss dem Beschuldigten hingegen eine Abschrift des Haftbefehls ausgehändigt werden, § 114a II StPO. Nur die verwaltungsinternen Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) sehen in Nr. 181 II für einen Inhaftierten, welcher der deutschen Sprache nicht mächtig ist, die schriftliche Übersetzung des Haftbefehls vor. Allerdings kann sich der Anspruch auf eine Übersetzung aus dem Gedanken der Gleichbehandlung ergeben.84 Da das deutsche Recht nach § 114a II StPO eine schriftliche Information vorsieht, muss auch die Übersetzung für den sprachunkundigen Beschuldigten schriftlich erfolgen. 3. Der Zeitpunkt der Unterrichtung Die Informationen müssen „unverzüglich“85 nach der Festnahme erteilt werden, d.h. innerhalb möglichst kurzer Zeit, wobei aber die Umstände des Einzel78

Vgl. Peters, S. 97; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 229. EGMR, Fox, Campbell u. Hartely ./. UK, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 40; Kerr ./. UK, Zulässigkeitsentscheidung vom 7.12.1999, Nr. 40451/98, S. 7; Conka ./. Belgien, Urteil vom 5.2.2002, ECHR 2002-I, Ziff. 50. 80 Vgl. Velu/Ergec, RN 337; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 230. 81 EKMR, Delcourt ./. Belgien, Entscheidung vom 7.2.1967, Nr. 2689/65, CD 22, 48, 67; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 109; Meyer-Ladewig, Art. 5 RN 25. 82 Vgl. EGMR, Fox, Campbell u. Hartely ./. UK, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 40 f.; Tanli ./. Türkei, Urteil vom 10.4.2001, ECHR 2001-III, Ziff. 166; kritisch hierzu: van Dijk/van Hoof, S. 368; Kühne/Esser, StV 2002, 386; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 231 ff. 83 Vgl. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A 170-A, Ziff. 30. 84 Esser, S. 261 f. 85 Die englische Textversion verwendet in Art. 5 II und III EMRK dasselbe Wort („promptly“); die französische Version unterscheidet hingegen zwischen „dans le plus 79

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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falls maßgeblich sind.86 Wird der Festgenommene bei der Festnahme nicht informiert, etwa weil es dem festnehmenden Beamten aufgrund besonderer Umstände, wie beispielsweise bei Überwindung von Widerstand oder Festnahme in einer größeren Menschenmenge, nicht möglich war, muss er die Gründe unmittelbar im Anschluss daran, eventuell im Rahmen der ersten Vernehmung, erfahren.87 Es ist oftmals ohnehin besser, mit der Unterrichtung abzuwarten, bis der Festgenomme sich in sicheren Gewahrsam befindet, damit er die Bedeutung der Mitteilung erfassen kann.88 Eine einmal erteilte Information muss nicht wiederholt werden. Der Inhaftierte hat keinen Anspruch auf laufende Information, es sei denn, es ergehen Haftentscheidungen, welche die Fortdauer der Haft auf einen neuen Haftgrund stützen, denn neue Haftgründe erfordern eine neue Argumentation der Verteidigung.89 Im deutschen Strafverfahrensrecht verlangt § 114a StPO, dass dem Beschuldigten der Haftbefehl grundsätzlich bei der Festnahme bekannt zu geben ist. Ist dies aus bestimmten Gründen bei der Verhaftung nicht möglich, etwa weil die Bekanntgabe vor Ort unzweckmäßig ist,90 muss die Unterrichtung unverzüglich nachgeholt werden, wobei als äußerste Grenze die Frist für die richterliche Vorführung nach Art. 104 III Satz 1 GG, § 115 II StPO anzusetzen ist. Diese Regelungen gehen mithin über die konventionsrechtlichen Anforderungen hinaus. II. Die Verfahrensgarantien des Art. 5 III EMRK „Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von der Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden. Sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden“91 court délai“ in Absatz 2 und „aussitôt“ in Absatz 3. Dies deutet darauf hin, dass zwischen der Festnahme und der Unterrichtung gemäß Art. 5 II EMRK eine engere Zeitspanne bestehen muss als zwischen der Festnahme und der Vorführung vor den Richter nach Art. 5 III EMRK. 86 Vgl. EGMR, Fox, Campbell u. Hartely ./. UK, Urteil vom 30.8.1990, Serie A 182, Ziff. 40 ff. (keine Verletzung nach 7 Stunden); Murray ./. UK, Urteil vom 28.10.1994, EuGRZ 1996, 587, Ziff. 78 (keine Verletzung nach 3 Stunden); Egmez ./. Zypern, Urteil vom 21.12.2000, ECHR 2000-XII, Ziff. 85 f. (Informationserteilung am Abend der Festnahme ist ausreichend). 87 Vgl. EGMR, Fox, Campbell u. Hartely ./. UK, Ziff. 40 ff.; H.B. ./. Schweiz, Urteil vom 5.4.2001, Nr. 26899/95, Ziff. 47; Conka ./. Belgien, Urteil vom 5.2.2002, ECHR 2002-I, Ziff. 50. 88 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 234. 89 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1980, 528; Velu/Ergec, RN 335; Esser, S. 260. 90 s. KK-Boujong, § 114a RN 5.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

1. Der Anspruch auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter, Art. 5 III Satz 1 EMRK 92 Der Anspruch auf eine unverzügliche Vorführung vor einen Richter dient dazu, die gerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft von Amts wegen sicherzustellen. Die Vorführung bezweckt die unabhängige und unparteiische Kontrolle der Freiheitsentziehung nach Art. 5 I lit. c) EMRK und hat gleichzeitig die Funktion, den Festgenommenen persönlich anzuhören und ihm die Gründe seiner Festnahme mitzuteilen.93 Sie ist von Amts wegen durchzuführen; im Gegensatz zu Art. 5 IV EMRK ist kein Antrag des Betroffenen dafür erforderlich.94 Wurde der Betroffene nicht bereits aus der Haft entlassen, so muss er „unverzüglich“ („promptly“/„aussitôt“) vorgeführt werden. Der EGMR verlangt hierfür keine sofortige, sondern eine alsbaldige Vorführung,95 wobei er sich indes nicht auf einen bestimmten Zeitraum festlegt. Als konventionsmäßig hatte er eine Frist von 24 bis 48 Stunden,96 in besonderen Fällen von bis zu vier Tagen,97 angesehen.98 Im deutschen Strafverfahrensrecht ist die Frist für die Vorführung vor einen Richter genauer festgelegt. Gemäß Art. 104 III GG, §§ 115a I, 128 I StPO muss die Vorführung im Laufe des auf die Festnahme des folgenden Tages erfolgen. 2. Das Recht auf ein Urteil binnen angemessener Frist, Art. 5 III Satz 2 EMRK 99 Der Anspruch auf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist steht in engem Zusammenhang mit dem in Art. 6 I Satz 1 EMRK geregelten Anspruch 91 Art. 5 III EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 v. 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 92 Zitiert nach der deutschen Übersetzung. Im Original handelt es sich um Art. 5 III Satz 1, 1. Halbsatz. 93 Vgl. EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Urteil vom 4.12.1979, EuGRZ 1980, 202, 205, Ziff. 31. 94 EGMR, Aquilina ./. Malta, Urteil vom 29.4.1999, 2564/94, NJW 2001, 51, 53, Ziff. 49; Niedbala ./. Polen, Urteil vom 4.7.2000, 27915/95, Ziff. 50. 95 Vgl. EGMR, Irland ./. UK, Urteil vom 18.1.1978, Serie A 25, Ziff. 199; es steht somit etwas mehr Zeit zur Verfügung, als Art. 5 II EMRK für die Unterrichtung vorsieht, s. oben, Teil 2, A. III. 1. c). 96 Vgl. Villiger, RN 358; Grabenwarter, § 21 RN 15; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 246; vgl. auch Aquilina ./. Malta, Urteil vom 29.4.1999, NJW 2001, 51, 53, Ziff. 51. 97 EGMR, Tas ./. Türkei, Urteil vom 14.11.2000, 24396/94, Ziff. 86; vgl. auch Brogan u. a. ./. UK, Urteil vom 29.11.1988, Serie Nr. A 145-B, Ziff. 62 (4 Tage und 6 Stunden sind konventionswidrig). 98 Kritisch hierzu IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 247.

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auf Erledigung des gesamten Strafverfahrens in angemessener Frist. Ein Strafverfahren ist nach dieser Vorschrift auch dann zügig zu betreiben, wenn der Beschuldigte sich nicht oder nicht mehr in Untersuchungshaft befindet.100 Die nach Art. 6 I Satz 1 EMRK zu beurteilende Dauer eines Strafverfahrens umfasst notwendigerweise die nach Art. 5 III Satz 2 EMRK zu beurteilende Dauer der Untersuchungshaft; eine Verletzung des Art. 5 III Satz 2 EMRK kann mithin auch eine Verletzung des Art. 6 I Satz 1 EMRK bedeuten.101 Eine nach Art. 5 III Satz 2 EMRK angemessene Frist muss jedoch grundsätzlich kürzer sein, als die des Art. 6 I Satz 1 EMRK. An die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer sind viel strengere Anforderungen zu stellen, als für die Beurteilung der Verfahrensdauer insgesamt, denn durch den Vollzug von Untersuchungshaft ist der Beschuldigte sehr viel mehr in seinem Recht auf Freiheit beeinträchtigt, als durch die bloße Durchführung eines Strafverfahrens.102 Dementsprechend sehen Art. 5 III Satz 2 und Art. 6 I Satz 1 EMRK unterschiedliche Rechtsfolgen vor. Bei einer Verletzung des Art. 5 III Satz 2 EMRK muss der Inhaftierte entlassen werden, wobei das Wort „oder“ den nationalen Behörden nicht ermöglicht, zwischen einer zügig durchgeführten Haftsache und der Entlassung des Beschuldigten zu wählen.103 Eine Verletzung des Art. 6 I Satz 1 EMRK kann dagegen höchstens zu einem Verfahrenshindernis führen.104 Die Beurteilung, wann die Dauer der Untersuchungshaft nach Art. 5 III Satz 2 EMRK als unangemessen anzusehen ist und die damit verbundene Klärung des unbestimmten Rechtsbegriffs „angemessen“, galt lange Zeit als recht heikel, denn sie beruht auf zahlreichen, von den Umständen des Einzelfalls abhängigen Wertungen.105 Divergenzen bei der Beurteilung der Haftdauer durch die nationalen Behörden einerseits und die Konventionsorgane andererseits sind deshalb

99 Zitiert nach der deutschen Übersetzung. Im Original handelt es sich um Art. 5 III Satz 1, 2. Halbsatz. 100 EGMR, Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9 S. 40, Ziff. 5; Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393, Ziff. 4; Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968 Ziff. 5. 101 Vgl. EGMR, Barfuss ./. Tschechien, Urteil vom 31.7.2000, Nr. 35848/97, Ziff. 82, 83; Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 77. 102 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 251; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 118; Villiger, RN 360. 103 Vgl. EGMR Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968 Ziff. 5; vgl. auch Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393, Ziff. 4. 104 Vgl. EGMR, Mezger ./. Deutschland, Urteil vom 31.5.2001, StV 2001, 489, Ziff. 41 ff., 48; vgl. auch BGHSt 46, 159 ff.; im übrigen wird der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung Rechnung getragen, vgl. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393, Ziff. 40 f. 105 s. Trechsel, EuGRZ 1980, 514, 531; Esser, S. 289.

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vorprogrammiert, zumal selbst EGMR und EKMR in der Vergangenheit auch nicht immer zu der gleichen Bewertung gelangt sind.106 Die von der Kommission für die Beurteilung der Angemessenheit entwickelten Kriterien107 hat der EGMR in der Entscheidung im Fall Wemhoff gegen Deutschland abgelehnt und verzichtete damit auf eine abstrakte Festlegung einer angemessenen Haftdauer nach Wochen oder Monaten.108 Vielmehr wägt er im konkreten Einzelfall zwischen dem öffentlichen Interesse an der Fortdauer der Untersuchungshaft und dem Interesse des Einzelnen auf Wiederherstellung seiner Freiheit ab.109 Beurteilungsgrundlage für diese Abwägung sind sämtliche Haftentscheidungen der nationalen Justizbehörden sowie der Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers im konkreten Einzelfall. Beurteilungsmaßstäbe sind das öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung, das Recht auf Freiheit und die Unschuldsvermutung. Der EGMR prüft die Angemessenheit der Haftdauer in zwei Stufen.110 Er untersucht zunächst, ob die Haftgründe gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK auch nach Ablauf einer gewissen Zeit noch als „relevant/relevant/pertinents“ und „ausreichend“ („sufficient“/„suffisant“) angesehen werden können, die Untersuchungshaft zu rechtfertigen. In einem zweiten Schritt prüft er, ob die nationalen

106 Vgl. z. B. im Fall Wemhoff ./. Deutschland: EKMR, Bericht vom 1.4.1966, Nr. 2122/64, Serie B 5, Ziff. 69 (Angemessenheit verneint), hingegen EGMR, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 16 (Angemessenheit bejaht), Fall van der Tang ./. Spanien, EKMR, Bericht vom 28.6.1994, Nr. 19382/92, Serie A 321, Ziff. 94 (Angemessenheit verneint), hingegen EGMR, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 76 (Angemessenheit bejaht); s. auch IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 258. 107 EKMR in: EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, Serie A 8, Ziff. 31; sieben Kriterien: (1) Die tatsächliche Dauer der Untersuchungshaft, (2) das Verhältnis der Haftdauer zu der Art der Straftat, des Strafrahmens und der zu erwartenden Strafe, (3) materielle, moralische und andere persönliche Auswirkungen der Haft auf den Betroffenen, (4) das Verhalten des Beschuldigten, (5) die objektive Schwierigkeit der Ermittlungen, (6) die Art und Weise, in der die Ermittlungen geführt werden und (7) das Verhalten der Gerichtsinstanzen bei der Prüfung von Haftentlassungsanträgen und bei der Fallentscheidung. Im Einzelfall müssen diese Kriterien, deren Gewicht sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls richtet, gegeneinander abgewogen werden. Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. Bartsch, JuS 1970, 445, 449. 108 EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 10 ff.; vgl. auch Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969; Serie A Nr. 9 S. 40, Ziff. 4; W ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30. 109 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 12; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30; Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 74; Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Nr. 152 ff.; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 394 f., Ziff. 39; Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 64 f. 110 Vgl. Jacobs/White, S. 117.

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Behörden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt („special diligence“/ „diligence particulière“) betrieben haben.111 a) Die Anforderungen an die nationalen Haftentscheidungen Es obliegt in erster Linie den nationalen Justizbehörden, zu überprüfen, ob „relevante“ und „ausreichende“ Gründe vorliegen, welche die Untersuchungshaft noch angemessen erscheinen lassen.112 Deshalb zieht der Gerichtshof für die Beurteilung, ob im konkreten Fall die Haftfortdauer angemessen war, die nationalen Haftentscheidungen und deren Begründungen sowie den Tatsachenvortrag des Beschuldigten heran. Auf dieser Grundlage überprüft er, ob sämtliche Umstände, die für und gegen das Bestehen des Erfordernisses eines öffentlichen Interesses sprechen, welches einen Eingriff in das durch Art. 5 EMRK garantierten Recht auf persönliche Freiheit rechtfertigt, unter angemessener Berücksichtigung des Prinzips der Unschuldsvermutung in die Begründungen der nationalen Haftentscheidungen eingeflossen sind.113 Diese Gesichtspunkte sind dann in jeder Entscheidung, die von den nationalen Gerichten über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft getroffen wird, substantiiert darzustellen. Wie der EGMR im Fall Erdem gegen Deutschland betont hat, genügen stereotype Formulierungen und wortgleichen Wiederholungen diesen Anforderungen nicht.114 Die nationalen Justizbehörden trifft daher eine konkrete Darlegungspflicht hinsichtlich der für die Aufrechterhaltung der Haft sprechenden Gründe. Denn die Gründe, welche die nationale Behörde nicht in die Haftfortdauerentscheidung aufgenommen hat, werden vom Gerichtshof nicht zur Überprüfung der materiellen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Haft 111 Vgl. EGMR W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30; Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 74; Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Nr. 152 ff.; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 394 f., Ziff. 39; Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 64 f. 112 Vgl. EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30; Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 74; Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 110; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 394 f., Ziff. 39. 113 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 12; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30; Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 74; Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Nr. 152 ff.; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 394 f., Ziff. 39; Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 64 f. 114 EGMR, Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, Ziff. 20 ff; 41 f.; vgl. auch Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 43; Szeloch ./. Polen, Urteil vom 22.2.2001, Nr. 33079/96, Ziff. 91.

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herangezogen.115 Enthalten die Entscheidungsgründe nicht sämtliche Umstände, welche die nationalen Behörden als für die Haftfortdauer maßgeblich erachtet hatten, besteht für den betroffenen Vertragsstaat die Gefahr, im Verfahren vor dem EGMR verurteilt zu werden, selbst wenn die für die Inhaftierung maßgeblichen Gründe tatsächlich noch so „relevant“ und „ausreichend“ gewesen sein mögen.116 Ohne deren schriftliche Niederlegung in den Haftentscheidungen werden sie durch den EGMR keine Berücksichtigung finden. b) „Relevante“ und „ausreichende“ Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft Zu den Gründen, welche die Konventionsorgane als „relevant“ und „ausreichend“ für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ansieht, besteht inzwischen eine umfangreiche, überwiegend auf Einzelfälle bezogene Rechtsprechung des EGMR. Im Folgenden sollen deshalb nur einige Grundsätze zu den einzelnen die Haftfortdauer rechtfertigenden Gründen dargestellt werden. aa) Fortbestehender hinreichender Tatverdacht Für die Rechtmäßigkeit der Haftfortdauer ist das Fortbestehen eines hinreichenden Tatverdachts conditio sine qua non.117 Ein für die Anordnung der Haft ausreichender Tatverdacht reicht aber nach einiger Zeit als alleiniger Grund selbst bei schweren Straftaten für die Fortdauer der Haft nicht mehr aus.118 Vielmehr müssen weitere Gründe, wie etwa Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr, Störung der öffentlichen Ordnung oder die besondere Schwere der Tat hinzukommen, damit die Freiheitsentziehung weiterhin rechtmäßig ist.119 Je länger die Freiheitsentziehung dauert, desto gewichtiger müssen die Gründe für die Fortdauer der Untersuchungshaft sein.120 Die nationalen Behörden tragen die Beweislast für das Bestehen dieser Haftgründe.121 115 Vgl. EGMR, Ilowiecki ./. Polen, Urteil vom 4.10.2001, Nr. 27504/95, Ziff. 61; anders jedoch in Fällen offensichtlich bestehender und signifikanter Fluchtgefahr; der EGMR hat es in diesem Zusammenhang als wünschenswert erachtet, detailliertere Haftgründe zu erhalten, was jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verletzung von Art. 5 III EMRK geführt hatte; vgl. EGMR, Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 79. 116 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 260; Esser, S. 291; Kühne/Esser, StV 2002, 388 f. 117 EGMR, Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9, Ziff. 4; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, 394, Ziff. 39; Nikolov ./. Bulgarien, Urteil vom 30.1.2003, Nr. 38884/97, Ziff. 67. 118 EGMR, Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Nr. 21335/93, Reports 1996VI, S. 2383, 2399 ff., Ziff. 74, 78; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, 394, Ziff. 39; Hirstov ./. Bulgarien, Urteil vom 31.7.2003, Nr. 25436/97, Ziff. 101.

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bb) Fortdauernde Fluchtgefahr Die Fluchtgefahr kann zu Beginn der Haftzeit einen erheblichen Haftgrund darstellen; lange Freiheitsentziehungen können jedoch nicht dadurch gerechtfertigt werden.122 Für eine ausreichende Begründung der Fluchtgefahr dürfen nicht nur bloße Vermutungen angestellt werden; vielmehr müssen konkrete Fakten, nach Ablauf einer längeren Haftzeit sogar zwingende Gründe für sie sprechen,123 denn die Fluchtgefahr nimmt mit zunehmender Dauer der Haft ab.124 Deswegen genügt auch der pauschale Hinweis auf die Schwere der dem Inhaftierten vorgeworfenen Straftaten und die Höhe der zu erwartenden Strafe nicht als Begründung für eine fortdauernde Fluchtgefahr.125 Treten jedoch während des Ermittlungsverfahrens neue Anhaltspunkte für neue Straftaten auf, welche die Verhängung einer noch schwereren Strafe erwarten lassen, kann dies die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft im Hinblick auf die zu erwartende Strafe durchaus rechtfertigen. cc) Fortdauernde Verdunkelungsgefahr Die Verdunkelungsgefahr hängt maßgeblich von Art und Umfang der aufzuklärenden Strafsache sowie vom Verhalten des Betroffenen ab.126 Sie kann zu Beginn einer Voruntersuchung einen Haftgrund darstellen, um den Beschuldigten daran zu hindern, diese zu stören. Auf lange Sicht jedoch reichen diese 119 Vgl. EGMR, Letellier ./. Frankreich, Urteil vom 26.6.1991, Serie A 207, Ziff. 35; Assenov ./. Bulgarien, Urteil vom 28. 10.1998, Reports 1998-VIII, Ziff. 154; Stasaitis ./. Litauen, Urteil vom 21.3.2002, Nr. 47679/99, Ziff. 82. 120 EGMR, Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2000, Nr. 41852/98, Ziff. 37. 121 EGMR, Hristov ./. Bulgarien, Urteil vom 31.7.2003, Nr. 35436/97, Ziff. 106; Mihov ./. Bulgarien, Urteil vom 31.7.2003, Nr 35513/97, Ziff. 96; Al Akidi ./. Bulgarien, Urteil vom 31.7.2003, Nr. 35825/97, Ziff. 88. 122 Vgl. EGMR, Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2697, Ziff. 114; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, Ziff. 44. 123 Vgl. EGMR, Kudla ./. Polen, Urteil vom 5.7.2001, Ziff. 112-115, NJW 2001, 2696 f.; Bsp. für nicht ausreichende Begründung für Fluchtgefahr: Barfuss ./. Tschechien, Urteil vom 31.7.2000, Nr. 35848/97; Ziff. 69; Zannouti ./. Frankreich, Urteil vom 31.7.2000, Nr. 42211/98, Ziff. 45; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, Ziff. 44. 124 EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 385 f., Ziff. 33. 125 Vgl. EGMR, Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 63; Ilijkov ./. Bulgarien, Urteil vom 26.7.2001, Nr. 33977/96, Ziff. 80–81; Olstowski ./. Polen, Urteil vom 15.11.2001, Nr. 34053/96, Ziff. 78; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, Ziff. 33, EuGRZ 1993, 384. 126 EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 385 f. Ziff. 36; I.A. ./. Frankreich, Urteil vom 23.9.1998, ECHR 1998-VII, S. 2952, 2982, Ziff. 110.

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Gründe sogar bei komplizierten Untersuchungen nicht mehr aus, um eine Haftfortdauer zu rechtfertigen, denn normalerweise verringert sich das Risiko mit dem Zeitablauf in dem Maße, wie die Untersuchungshandlungen fortschreiten, Zeugenaussagen aufgenommen und Überprüfungen durchgeführt werden.127 Deshalb kann Verdunkelungsgefahr nach Abschluss der Ermittlungen oder gar nach dem Ergehen einer ersten gerichtlichen Sachentscheidung nicht mehr angenommen werden.128 dd) Fortdauernde Wiederholungsgefahr Wiederholungsgefahr kommt vor allem bei Serienstraftaten oder bei rückfallgefährdeten Tätern in Betracht. Für die Begründung der Wiederholungsgefahr sind konkrete Fakten von den Justizbehörden anzuführen. So kann auch hier die Schwere einer Beschuldigung als Rechtfertigung herangezogen werden, den Beschuldigten weiter in Haft zu halten, um die Begehung weiterer Straftaten zu verhindern.129 Es müssen sich jedoch aus den Umständen des Einzelfalls plausible Gründe ergeben, welche die behauptete Wiederholungsgefahr belegen. So kann beispielsweise aus der kontinuierlichen Begehung bestimmter, gleichartiger Straftaten, die mit erheblichen Schäden verbunden und durch skrupelloses Vorgehen gekennzeichnet waren, geschlossen werden, dass der Beschuldigten besonders gefährlich und rückfallgefährdet ist.130 Allerdings darf aus früheren Verurteilungen nicht automatisch auf das Bestehen einer Wiederholungsgefahr geschlossen werden, wenn die Straftaten weder in ihrer Art noch ihrem Schweregrad nach mit den Delikten vergleichbar sind, die dem Inhaftierten in dem nun gegen ihn geführten Strafverfahren zur Last gelegt werden.131 Eine lange Haftdauer lässt sich nicht allein mit Wiederholungsgefahr begründen.132 ee) Die Höhe der zu erwartenden Strafe Der Begründung vieler Mitgliedstaaten, die Haftfortdauer müsse aufgrund der Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe und der Schwere des Tatvorwurfs wei127 EGMR, Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 43; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, Ziff. 35. 128 EGMR, Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2000, Nr. 41852/98, Ziff. 38; Muller ./. Frankreich, Urteil vom 17.3.1997, Reports 1997-II, Ziff. 40. 129 EGMR, Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 40. 130 EGMR, Matznetter ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 10, Ziff. 9; Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 40. 131 EGMR, Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 64; Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 40; Muller ./. Frankreich, Urteil vom 17.3.1997, Reports 1997-II, Ziff. 44. 132 EGMR, Olstowski ./. Polen, Urteil vom 15.11. 2001, Nr. 34052/96, Ziff. 80.

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ter aufrecht erhalten werden, steht der Gerichtshof kritisch gegenüber. Die zu erwartende Strafe kann zwar neben dem hinreichenden Tatverdacht einen Grund für die Anordnung von Untersuchungshaft darstellen; als „relevanter“ und „ausreichender“ Grund für eine länger andauernde Inhaftierung kommt die zu erwartende Freiheitsstrafe und die Schwere des Tatvorwurfs allerdings nicht in Frage.133 Dies gilt insbesondere dann, wenn die Untersuchungshaft die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht oder gar überschreitet.134 Denn Untersuchungshaft kann nicht dazu dienen, eine etwaige Freiheitsstrafe vorwegzunehmen.135 Zu der Tatschwere und der Höhe der zu erwartenden Strafe müssen weitere „relevante“ und „ausreichende“ Gründe, wie etwa Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr, Störung der öffentlichen Ordnung oder Wiederholungsgefahr hinzukommen. ff) Die Bedeutung der Sache für die Öffentlichkeit Straftaten können aufgrund ihrer Schwere und der Art und Weise ihrer Begehung Reaktionen der Öffentlichkeit hervorrufen, die durch die Entlassung des Tatverdächtigen aus der Untersuchungshaft noch verstärkt werden können. Der EGMR hat deshalb anerkannt, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Einzelfall neben anderen Gesichtspunkten Grund für eine Haftanordnung sein kann.136 Die nationalen Justizbehörden müssen dazu konkrete Tatsachen darlegen, dass die Freilassung des Beschuldigten die öffentliche Sicherheit und Ordnung tatsächlich beeinträchtigen werde; die Inhaftierung kann dann nur für die Dauer der tatsächlichen Beeinträchtigung aufrechterhalten werden.137 Für sich allein kann die Bedeutung der Sache für die Öffentlichkeit allerdings nicht als Rechtfertigungsgrund für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft herangezogen werden.138

133 EGMR Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003; Nr. 38654/97, Ziff. 68; Jecius ./. Litauen, Urteil vom 31.7.2000, ECHR 2000-IX S. 259–260, Ziff. 94; Ilijkov ./. Bulgarien, 26.7.2001, Nr. 33977/96, Ziff. 81; EKMR, W. ./. Schweiz, EuGRZ 1993, 427, 428, Ziff. 145. 134 EGMR Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003; Nr. 38654/97, Ziff. 69; Jecius ./. Litauen, Urteil vom 31.7.2000, ECHR 2000-IX S. 259–260, Ziff. 94. 135 EGMR, Letellier ./. Frankreich, Urteil vom 26.6.1997, Serie A 207, Ziff. 51; Kemmache ./. Frankreich, Urteil vom 27.11.1991, Serie A 218, Ziff. 52. 136 EGMR, Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 61 f.; Kemmache ./. Frankreich, Urteil vom 27.11.1991, Serie A 218, Ziff. 52. 137 EGMR, I.A. ./. Frankreich, Urteil vom 23.9.1998, Reports 1998-VII, Ziff. 102; Letellier ./. Frankreich, Urteil vom 26.6.1991, Serie A 207, Ziff. 51. 138 EGMR, Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 62.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

c) Sorgfältige Verfahrensweise Liegen „relevante“ und „ausreichende“ Gründe für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft vor, prüft der Gerichtshof in einem zweiten Schritt, ob die nationalen Behörden das Verfahren mit besonderer Sorgfalt („special diligence“/„diligence particulière“) betrieben haben.139 Sie müssen darauf achten, dass Strafverfahren gegen Tatverdächtige, die sich in Haft befinden, vorrangig und beschleunigt bearbeitet werden. Allerdings darf die beschleunigte Bearbeitung von Haftsachen nicht zu Qualitätseinbußen führen; auch hier besteht die Pflicht zur sorgfältigen und vollständigen Sachaufklärung.140 Für die besonders sorgfältige Verfahrensführung kommt es auf die Komplexität des Verfahrens, beispielsweise auf die Zahl der zu vernehmenden Zeugen oder der Tatverdächtigen, die Schwere des Tatvorwurfs oder den Umfang der Beweiserhebungen an.141 Auch die Organisation der nationalen Ermittlungsbehörden und Gerichte ist für die Beurteilung, ob das Verfahren besonders sorgfältig geführt wurde, maßgeblich.142 Von Bedeutung ist ferner, inwieweit das Verhalten des Beschuldigten zu einer zügigen Behandlung seiner Strafsache beigetragen hat. Zwar muss sich der Betroffene an der Aufklärung des Falles nicht aktiv beteiligen; allerdings muss er die Folgen seines unkooperativen Verhaltens in Kauf nehmen.143 Auf die Kriterien, die für oder gegen eine besonders sorgfältige und beschleunigte Verfahrensführung sprechen, wird im Rahmen der Untersuchung der Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung144 noch ausführlich eingegangen.

139 EGMR, van der Tang, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 55; Barfuss ./. Tschechien, Urteil vom 31.7.2000, Nr. 35848/97, Ziff. 66. Oftmals ging der Gerichtshof trotz des Fehlens „relevanter“ und „ausreichender“ Gründe auf das Erfordernis der sorgfältigen Verfahrensführung ein, vgl. Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, 395, Ziff. 46 f.; Kalashnikov ./. Rußland, Urteil vom 15.7.2002, Nr. 47095/99, Ziff. 119 f. 140 EGMR, Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 80–83; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, Ziff. 30 u. 39, EuGRZ 1993, 384; Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, Serie A 244, Ziff. 71. 141 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968; DVBl. 1968, 968, Ziff. 17; van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 72; Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2001, Nr. 41852/98, Ziff. 40; Szeloch ./. Polen, Urteil vom 22.2.2001, Nr. 33079/96, Ziff. 93. 142 Vgl. EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 42; Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77. 143 Vgl. EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 42; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 130; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 267. 144 s. Teil 3 A. I. der vorliegenden Arbeit.

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3. Haftentlassung gegen Kaution, Art. 5 III Satz 3 EMRK145 Entsprechend dem Zweck des Art. 5 III EMRK, die Freiheitsentziehung nur solange wie unbedingt erforderlich andauern zu lassen, muss die zuständige Behörde ständig die Möglichkeit in Erwägung ziehen, die strafrechtlichen Ermittlungen und die Anwesenheit des Betroffenen auf andere Weise als durch Untersuchungshaft zu sichern. Dabei kommt ihr ein gewisser Ermessensspielraum zu. Soweit jedoch die Haftgründe, insbesondere die Fluchtgefahr, durch eine Sicherheitsleistung ausgeräumt werden können, ist dieses Ermessen auf Null reduziert, so dass der Beschuldigte aus der Haft entlassen werden muss.146 Regelungen im nationalen Recht, die bei bestimmten Straftaten die Freilassung gegen Sicherheit ausschließen, sind deshalb konventionswidrig.147 Art und Höhe der Sicherheitsleistung richten sich nach dem Sicherungszweck der Untersuchungshaft, nicht aber nach dem Schaden, der durch die Straftat entstanden ist, denn die Sicherheitsleistung hat nicht die Funktion, erlittenes Unrecht zu sanktionieren, sondern das Erscheinen des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu sichern.148 Daraus folgt, dass die Sicherheit nicht zwingend finanzieller Art sein muss. Auch andere Maßnahmen, wie beispielsweise Meldeauflagen oder Aufenthaltsregelungen149, kommen in Betracht.150 Bei der Festsetzung der im Einzelfall zu leistenden Sicherheit sind die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen.151 III. Das Recht auf gerichtliche Haftkontrolle – Art. 5 IV EMRK „Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, daß ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“152

Art. 5 IV EMRK garantiert festgenommenen oder inhaftierten Personen das Recht auf eine effektive gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung und spiegelt daher die angelsächsische Habeas-Corpus-Dok145 Zitiert nach der deutschen Übersetzung. Im Original handelt es sich um Art. 5 III Satz 2. 146 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 15; Letellier ./. Frankreich, Urteil vom 26.6.1991, Serie A 207, Ziff. 46. 147 Vgl. EGMR, S.B.C. ./. UK, Urteil vom 19.6.2001, Nr. 39360/98, Ziff. 22. 148 Vgl. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 276.1968, Serie A 8, Ziff. 14. 149 Namentlich nach § 116 StPO. 150 Vgl. EKMR, Schmidt ./. Österreich, Entscheidung vom 9.7.1985, DR 44, 195, 198; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 118; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 272. 151 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 132; Villiger, RN 365. 152 EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 vom 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II).

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

trin wieder.153 Die Konventionsvorschrift verbürgt dieses Recht in dreifacher Weise: Zunächst wird dem Inhaftierten der Rechtsweg garantiert, die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der in Frage stehenden Freiheitsentziehung überhaupt gerichtlich überprüfen zu können.154 Wenn dieser Rechtsweg besteht, dann sind an dessen Ausgestaltung bestimmte konventionsrechtlich garantierte Anforderungen zu stellen.155 Schließlich muss die gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Freiheitsentziehung in angemessener Frist („speedly“/„à bref délai“) erfolgt sein.156 Wird die Freiheitsentziehung als unrechtmäßig erachtet, sieht Art. 5 IV EMRK die Freilassung des Inhaftierten als Rechtsfolge vor. Für die Regelung der Einzelheiten der gerichtlichen Haftkontrolle hat der nationale Gesetzgeber zwar einen großen Gestaltungsspielraum, insbesondere hinsichtlich Form und Frist der gerichtlichen Überprüfung. Jedoch dürfen keine unverhältnismäßig hohen Hürden errichtet werden;157 vielmehr muss das nationale Recht in seiner Gesamtheit effektiven Rechtsschutz gegen die Freiheitsentziehung gewährleisten.158 Dementsprechend genügt die rein theoretische Möglichkeit der Haftkontrolle159 oder eine nur nachträgliche richterliche Kontrolle nach Beendigung der Freiheitsentziehung nicht.160 Insofern stellt Art. 5 IV EMRK ein Unterfall der allgemeinen verfahrensrechtlichen Garantie eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs gegen die Verletzung von materiellen Konventionsvorschriften nach Art. 13 EMRK dar.161

153 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 133, Einf. RN 9; van Dijk/van Hoof, S. 381; Villiger, RN 266. 154 EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003 EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 69, m. w. N. 155 EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 69, m. w. N. 156 Vgl. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Urteil vom 21.2.1990, Serie A 170A, Ziff. 35; Musial ./. Polen, Urteil vom 25.3.1999, ECHR 1999-II, Ziff. 43. 157 So z. B. in EGMR, Shishkov ./. Bulgarien, Urteil vom 91.12003, Nr. 38822/97, Ziff. 83 ff. 158 EGMR, Shishkov ./. Bulgarien, Urteil vom 91.12003, Nr. 38822/97, Ziff. 85; vgl. auch LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 124. 159 Vgl. EGMR, Sabeur Ben Ali ./. Malta, Urteil vom 26.6.2000, 35892/97, Ziff. 38; Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 13.3.2003, EuGRZ 2003, 472, 473, Ziff. 69. f.; s. auch Kühne, JZ 2003, 670, 671. 160 Vgl. EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 13.3.2003, EuGRZ 2003,472, 473, Ziff. 75. 161 IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 278.

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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1. Voraussetzungen für die Durchführung einer gerichtlichen Haftprüfung Dem Inhaftierten steht das Recht, gemäß Art. 5 IV EMRK die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung überprüfen zu können, ab dem Zeitpunkt seiner Festnahme zu und besteht – unabhängig von der Dauer der Freiheitsentziehung –162 so lange, bis er seine uneingeschränkte Freiheit wiedererlangt hat.163 Der Anspruch auf Überprüfung entsteht immer dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Inhaftnahme verfügt hat.164 Beruht die Haft auf einer gerichtlichen Entscheidung, dann ist eine weitere gerichtliche Haftkontrolle grundsätzlich ausgeschlossen, da bereits darin die von Art. 5 IV EMRK geforderte gerichtliche Überprüfung der Freiheitsentziehung besteht.165 Allerdings gilt für Fälle, in denen der Freiheitsentzug auf Gründe gestützt wird, die nachträglich wegfallen können, eine Ausnahme. Dazu bedarf es zunächst einer genauen Unterscheidung zwischen der gerichtlichen Anordnung der Untersuchungshaft und der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe gemäß Art. 5 I lit. a) EMRK. Die Untersuchungshaft bedarf schon ihrer Natur nach einer regelmäßigen Überprüfung, spätestens aber dann, wenn neue Beweismittel oder Tatsachen auftreten, die zur Infragestellung des Tatverdachts oder des Haftgrundes geeignet sind.166 Bei der Vollstreckung eines Strafurteils findet hingegen keine gerichtliche Haftkontrolle statt, da der formelle Haftgrund der Verurteilung nachträglich nicht mehr wegfallen und eine spätere Infragestellung der Strafhaft nicht möglich ist.167 Hat das Gericht indes eine unbegrenzte Freiheitsstrafe verhängt, deren Dauer in das Ermessen der Strafvollstreckungsbehörden gestellt ist, muss eine entsprechende gerichtliche Kontrolle nach Art. 5 IV EMRK durchgeführt werden.168 Entspre162 Vgl. EGMR, Conka ./. Belgien, Urteil vom 5.2.2002, ECHR 2002-I, Ziff. 55; Al-Nashif ./. Bulgarien, Urteil vom 20.6.2002, Nr. 50963/99, Ziff. 92; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 133. 163 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 280; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 134. 164 EGMR, De Wilde, Ooms uns Versyp ./. Belgien, Urteil vom 18.6.1971, Serie A 12, Ziff. 76; Engel ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, EuGRZ 1976, 221, 230, Ziff. 77. 165 Vgl. EGMR, De Wilde, Ooms uns Versyp ./. Belgien, Urteil vom 18.6.1971, Serie A 12, Ziff. 76; Engel ./. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, EuGRZ 1976, 221, 230, Ziff. 77. 166 Vgl. EGMR, Bezicheri ./. Italien, Urteil vom 25.10.1989, Serie A 164, Ziff. 20 f.; Shishkov ./. Bulgarien, Urteil vom 9.1.2003, Nr. 38822/97, Ziff. 88; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 138. 167 EGMR, De Wilde ./. Belgien, Urteil vom 10.3.1972, Serie A 12, Ziff. 76; EKMR, Caprino ./. Großbritannien, Bericht vom 17.7.1980, DR 22, 5, Ziff. 66; a. A. Trechsel, EuGRZ 1980, 514, 529. 168 s. vor allem die englische Praxis der „detention at her Majesty’s Pleasure“: EGMR Singh ./. UK, Urteil vom 21.2.1996, Reports 1996-I, S. 280, 298 f.; T. ./. UK, Urteil vom 16.12.1999, Nr. 24724/94, Ziff. 118; vgl. ferner: von Bülow ./. UK, Urteil vom 7.10.2003, Nr. 75362/01, Ziff. 23.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

chendes gilt bei der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB.169 Eine wiederholte Haftüberprüfung ist gleichfalls bei der Unterbringung psychisch Kranker in Anbetracht der möglichen Besserung des Zustandes des Betroffenen notwendig.170 Der Anspruch auf Haftprüfung beinhaltet eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständige Kontrolle der verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen des Freiheitsentzugs, die Art. 5 I EMRK und das nationale Recht vorschreiben.171 Um die effektive Durchsetzung des Anspruchs auf Haftprüfung zu garantieren, muss das Gericht über die hinreichende Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis verfügen. Art. 5 IV EMRK erfordert nicht, dass dem Inhaftierten ein Rechtsmittel zur Haftkontrolle über mehr als eine Instanz gewährt wird; sieht indes das nationale Recht einen Instanzenzug vor, müssen dem Inhaftierten grundsätzlich die gleichen Garantien wie in der ersten Instanz zugebilligt werden.172 2. Verfahren Der Wortlaut des Art. 5 IV EMRK gibt keine Auskunft darüber, wie das Verfahren zu gestalten ist, in dem über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entschieden wird. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass die Entscheidung durch ein Gericht („court“/„tribunal“) möglichst rasch („speedly“/„à bref délai“) durchgeführt werden muss. Deshalb entwickelte die Straßburger Judikatur ausgehend von dem in Art. 5 IV EMRK formulierten Haftprüfungsrecht im Laufe der Jahre ein allgemeines Haftprüfungsverfahrensrecht.173 Dabei spielen die Grundsätze des Art. 6 EMRK, insbesondere die Garantie eines fairen, rechtstaatlichen Verfahrens in Absatz 1, eine entscheidende Rolle.174 Zwar gelten diese nur für Verfahren, in denen über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden wird. Der Begriff der Anklage wird jedoch weit im Sinne jeder formalen oder materiellen Beschuldigung verstanden,175 so dass die 169

Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 283 f. Vgl. EGMR, X. ./. Großbritannien, Urteil vom 5.11.1981, EuGRZ 1982, 101, 104 f., Ziff. 52; Megyeri ./. Deutschland, Urteil vom 12.5.1992, EuGRZ 1992, 347, 349, Ziff. 22. 171 Ständige Rspr., vgl. nur EGMR, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Urteil vom 24.6.1982, EuGRZ 1984, 10, Ziff. 49; Lietzow ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014, Ziff. 44, Hutchinson Reid ./. UK, Urteil vom 20.2.2003, Nr. 50272/ 99, Ziff. 64; s. auch Velu/Ergec, RN 349; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 148. 172 Vgl. EGMR Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 84; Lanz ./. Österreich, Urteil vom 31.1.2002, ÖJZ 2002, 433, 434, Ziff. 42. 173 Esser, S. 338. 174 Vgl. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom 24.10.1979, EuGRZ 1979, 650, 656, Ziff. 60; Imbrioscia ./. Schweiz, Urteil vom 24.11.1993, Serie A Nr. 275, S. 13, Ziff. 36. 170

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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Grundsätze des Art. 6 I EMRK auch im Verfahren der gerichtlichen Überprüfung der Untersuchungshaft gelten. Dies ist insbesondere aufgrund der tiefgreifenden Auswirkungen des Freiheitsentzugs und des damit verbundenen Eingriffs in fundamentale Rechte des Betroffenen notwendig.176 Maßgeblich ist, dass das Verfahren dem Inhaftierten diejenigen Garantien gewährt, die der Freiheitsentziehung, um die es geht, angepasst sind.177 Es kommt dabei nicht so sehr auf die systematische Einordnung der jeweiligen Freiheitsentziehung an, sondern auf deren Art und Zweck.178 Wenn beispielsweise über die Unterbringung eines psychisch Kranken zu entscheiden ist, so können im Vergleich zur Überprüfung der Untersuchungshaft höhere Anforderungen an die Wahrung der Beteiligungsrechte des Betroffenen gestellt werden, während die Beachtung des Beschleunigungsgebots nachrangig sein kann. Der Gerichtshof hat allerdings in ständiger Rechtsprechung betont, dass ein Mindestbestand verfahrensrechtlicher Befugnisse – die Garantien des Rechtswegs und des rechtlichen Gehörs179 – in jedem Verfahren der gerichtlichen Überprüfung der Inhaftierung gewährleistet sein muss.180 Dies setzt voraus, dass dieses Verfahren kontradiktorisch ausgestaltet ist, die Grundsätze der Fairness, insbesondere der Waffengleichheit („equality of arms“/„égalité des armes“) zwischen der Ermittlungsbehörde und dem inhaftierten Beschuldigten gewährleistet,181 was einer Gleichbehandlung („equal treatment“) der Verfahrensbeteiligten entspricht.182 Diese Voraussetzungen gelten selbst dann, wenn die an dem Verfahren beteiligte Staatsanwaltschaft zu einer unparteiischen Haltung 175 Vgl. Walischewski, S. 87 f.; Esser, S. 51 ff.; Meyer-Ladewig, Art. 6 RN 14; Ambos, ZStW 115 (2003), 595 f. 176 EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom 24.10.1979, EuGRZ 1979, 650, Ziff. 60; Imbrioscia ./. Schweiz, Urteil vom 24.11.1993, Serie A Nr. 275, S. 13, Ziff. 36; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014, Ziff. 44. 177 EGMR, Wloch ./. Polen, Urteil vom 19.10.2000, Nr. 27785/95, ECHR 2000-XI, Ziff. 125; Megyeri ./. BRD, Urteil vom 25.4.1992, Ziff. 22, EuGRZ 1992, 347 = NJW 1992, 2945; Wassink ./. Niederlande, Urteil vom 27.9.1990, Serie A Nr. 185, Ziff. 30. 178 EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom, Serie A Nr. 46, Ziff. 52; Bouamar ./. Belgien, Urteil vom 29.2.1988, Serie A 129, Ziff. 60. 179 Das Recht auf Gehör umfasst das Recht auf Information, Äußerung und auf Berücksichtigung der Stellungnahme des Betroffenen durch das Gericht, vgl. BVerfGE 19, 32, 36 f.; 49, 325, 328; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 103 RN 69. 180 Vgl. EGMR Winterwerp ./. Niederlande, Urteil vom 24.20.1979, EuGRZ 1979, 650, Ziff. 60; Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472, 473, Ziff. 69. 181 EGMR, De Wilde, Ooms, Versyp ./. Belgien, Urteil vom 18.6.1971, Serie A 12, Ziff. 78; Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283 f., Ziff. 29; Kampanis ./. Griechenland, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 318-B, Ziff. 47; Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25.3.1999, EuGRZ 1999, 321, Ziff. 58; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2015, 2017; Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2018, 2019, Ziff. 39.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

verpflichtet ist, jedoch zugleich eine Empfehlung zur Anordnung der Haftfortdauer oder Freilassung des Beschuldigten abgeben muss.183 a) Recht auf Information, insbesondere auf Akteneinsicht Um seine Freiheitsentziehung in einem gerichtlichen Haftprüfungsverfahren effektiv in Frage stellen zu können, muss der Inhaftierte zunächst darüber informiert werden, auf welche Gründe die Strafverfolgungsbehörden seine Freiheitsentziehung stützt.184 Die Angaben im schriftlichen Haftbefehl sind dazu nicht ausreichend, insbesondere wenn sich die Strafverfolgungsbehörden auf bestimmte Dokumente der Verfahrensakte stützen, die dem Inhaftierten oder seinem Verteidiger im Ermittlungsverfahren nicht zugänglich gemacht wurden.185 Zu dem Mindestbestand an Verfahrensrechten im Haftprüfungsverfahren gehört deshalb, dass der Inhaftierte oder sein Verteidiger von Anbeginn der Freiheitsentziehung, unabhängig vom Abschluss der Ermittlungen neben den mündlichen und schriftlichen Informationen, die im Rahmen von Art. 5 II EMRK gewährt werden, auch regelmäßig Akteneinsicht erhält.186 Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Beschuldigte aufgrund von Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen wurde. b) Recht auf Äußerung Für eine Haftprüfung, die es dem Inhaftierten erlaubt, effektiv seine Freiheitsentziehung gerichtlich kontrollieren zu lassen, muss ihm die Gelegenheit geboten werden, alle Gründe vorzubringen, die nach seiner Ansicht die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs in Frage stellen.187 Idealerweise geschieht dies im 182 Vgl. EGMR, Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 84; Esser S. 348. 183 Vgl. EGMR, Kampanis ./. Griechenland, Urteil vom 13.7.1995, Serie A Nr. 318B, Ziff. 55–59; Esser S. 346. 184 Vgl. EGMR Winterwerp ./. Belgien, Urteil vom 24.10. 1979, EuGRZ 1979, 656 f.; Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283 f., Ziff. 29; Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25.3.1999, EuGRZ 1999, 320 ff., Ziff. 58; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014, Ziff. 44. 185 EGMR, Wloch ./. Polen, Urteil vom 19.10.2000, Nr. 27785/95, ECHR 2000-XI, Ziff. 130, 131; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014 f., Ziff. 46; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2015, 2017, Ziff. 50; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2018, 2019, Ziff. 41. 186 Vgl. EGMR Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283, 284, Ziff. 29 m. Anm. Zieger, StV 1993, 320; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 24479/94, Ziff. 18; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, 23541/94, Ziff. 18 m. Anm. Kempf, StV 2001, 206; s. dazu ausführlich unten, Teil 3, B. I.

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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Rahmen eines mündlichen Verfahrens vor Gericht,188 insbesondere wenn es auf den unmittelbaren Eindruck von der inhaftierten Person ankommt.189 Allerdings hat der Gerichtshof in Einzelfällen auch ein schriftliches Verfahren für ausreichend erachtet.190 Wird bei der gerichtlichen Haftkontrolle eine mündliche Verhandlung durchgeführt, muss die Anwesenheit des Inhaftierten über die gesamte Dauer der Verhandlung gewährleistet sein.191 Hat der Inhaftierte einen Rechtsbeistand, so genügt dessen persönliche Teilnahme an der Verhandlung.192 Ferner sind die Stellungnahmen der Anklagebehörde zur Aufrechterhaltung der Haft dem Inhaftierten oder seinem Verteidiger mitzuteilen, bevor über eine weitere Inhaftierung entschieden wird. Dem Beschuldigten soll auf diese Weise die Möglichkeit gegeben werden, zur der Argumentation der Anklagebehörde in mündlicher oder schriftlicher Form Stellung zu nehmen.193 Im deutschen Recht wird das Recht auf Anhörung durch Art. 103 I GG garantiert und durch §§ 33, 33a, 118, 118a StPO konkretisiert. Im Falle der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbringung wird nach § 118 I StPO auf Antrag oder von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Dazu wird der Inhaftierte persönlich vorgeführt, § 118a II Satz 1 StPO. Falls dies nicht möglich ist, muss ihm ein Verteidiger bestellt werden, § 118a II Satz 2 StPO. c) Recht auf Begründung der Haftentscheidung Art. 5 IV EMRK verpflichtet das Gericht, welches die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüft, sich mit den vom Beschuldigten gegen die Inhaf187 EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Urteil vom 21.10.1985, EuGRZ 1988, 523, 526, Ziff. 51; Bouamar ./. Belgien, Urteil vom 29.2.1988, Serie A 129, Ziff. 60; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 289. 188 Vgl. EGMR, Grauzinis ./. Litauen, Urteil vom 10.10.2000, Nr. 37975/97, Ziff. 31; Wloch ./. Polen, Urteil vom 19.10.2000, Nr. 27785/95, ECHR 2000-XI, Ziff. 125 f., Kawka ./. Polen, Urteil vom 9.1.2001, Nr. 25874/94, Ziff. 57. 189 Vgl. EGMR, Winterwerp ./. Belgien, Urteil vom 24.10.1971, EuGRZ 1979, 656, Ziff. 60; Bouamar ./. Belgien, Urteil vom 29.2.1988, Serie A 129, Ziff. 60; Singh ./. UK, Urteil vom 21.2.1996, Reports 1996-I Nr. 4, S. 280, 300, Ziff. 67 f.; s. ausführlich dazu IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 290. 190 Vgl. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, Serie A 8, Ziff. 24; Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Urteil vom 21.10.1985, EuGRZ 1988, 523, 526, Ziff. 51. 191 EGMR, Wloch ./. Polen, Urteil vom 19.10.2000, , Nr. 27785/95, ECHR 2000XI, Ziff. 129. 192 EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 473, Ziff. 69; Kawka ./. Polen, Urteil vom 9.1.12001, Nr. 25874/94, Ziff. 60. 193 EGMR, Niedbala ./. Polen, Urteil vom 4.7.2000, Ziff. 66 f.; Trzaska ./. Polen, Urteil vom 11.7.2000, Ziff. 78; Kawka ./. Polen, Urteil vom 9.1.12001, Nr. 25874/94, Ziff. 60.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

tierung vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen und deren Bewertung in den Entscheidungsgründen mitzuteilen.194 Es muss zwar nicht auf jedes vom Betroffenen vorgebrachte Argument eingehen. Die Garantie des Art. 5 IV EMRK liefe jedoch ins Leere, wenn das Gericht konkrete Tatsachen („concrete facts“) als unerheblich behandelt oder außer Acht lassen könnte, die, vom Inhaftierten vorgetragen, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung begründen können. Deshalb besteht für den Inhaftierten auch ein Anspruch auf Verbescheidung;195 die bloße Freilassung des Beschwerdeführers nach Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens hat der EGMR nicht als „adaequate judicial response“ auf den Haftprüfungsantrag bewertet.196 3. Unverzügliche Entscheidung Die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung muss „innerhalb kurzer Frist“ („speedly“/„à bref délai“) durchgeführt werden. Insofern ist in Art. 5 IV EMRK eine weitere besondere Ausprägung des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes nach Art. 6 I EMRK verankert, die angesichts des hohen Stellenwerts der Freiheit und der insbesondere im Falle der Untersuchungshaft berührten Unschuldsvermutung eine besonders zügige Entscheidung des Gerichts erfordert.197 Die Frist nach Art. 5 IV EMRK ist deshalb kürzer zu bemessen als der Zeitraum nach Art. 6 I EMRK. Der maßgebliche Zeitraum beginnt mit der Antragstellung und endet mit dem Erlass der Sachentscheidung durch das zuständige Gericht.198 Für die Beurteilung, ob über den Haftprüfungsantrag in der gebotenen Kürze entschieden worden ist, sind die Umstände des Einzelfalls maßgeblich; eine absolute zeitlichen Grenze wurde von den Straßburger Organen nicht festgelegt.199 Ein Verstoß gegen Art. 5 IV EMRK liegt insbesondere dann vor, wenn das Gericht die Haftprüfung unsorgfältig durchgeführt hat, beispielsweise, wenn ein ärztliches Gut194 Vgl. EGMR, Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25.3.1999, NJW 2000, 2883, 2885, Ziff. 61; Jecius ./. Litauen, Urteil vom 31.7.2000, ECHR 2000 IX, Ziff. 101; Stasaitis ./. Litauen, Urteil vom 21.3.2002, Nr. 47679/99, Ziff. 91. 195 IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 299. 196 EGMR Grauslys ./. Litauen, Urteil vom 10.10.2000, Ziff. 54; zu den Problemen, die mit der vom EGMR geforderten intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der Haftanordnung s. Kühne/Esser, StV 2002, 383, 392; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 300. 197 Vgl. EGMR Jablonski ./. Polen, Urteil vom 21. 12.2000, Nr. 33492/96, Ziff. 93; Ilowiecki ./. Polen, Urteil vom 4.10.2001, Nr. 27504/95, Ziff. 76; Kühne/Esser, StV 2002, 393, 392 f. 198 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 150; Meyer-Ladewig, Art. 5 RN 44; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 304. 199 Vgl. EGMR Jablonski ./. Polen, Urteil vom 21. 12.2000, Nr. 33492/96, Ziff. 92; Ilowiecki ./. Polen, Urteil vom 4.10.2001, Nr. 27504/95, Ziff. 75.

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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achten untätig abgewartet wurde.200 Hohe Arbeitsbelastung stellt keinen Grund dar, der ein lange dauerndes Haftprüfungsverfahren rechtfertigt, denn es obliegt jedem Mitgliedstaat, sein Justizsystem konventionsgemäß zu organisieren.201 IV. Das Recht auf Entschädigung – Art. 5 V EMRK „Jeder, der entgegen den Bestimmungen dieses Artikels von Festnahme oder Haft betroffen worden ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.“ 202

Art. 5 V EMRK begründet einen selbstständigen Entschädigungsanspruch für Privatpersonen, wenn diese unrechtmäßig in Haft gehalten worden waren. Auch wenn freiheitsentziehende Maßnahmen recht häufig Gegenstand von Beschwerden vor den Straßbuger Organen sind, spielt Art. 5 V EMRK dort keine große Rolle. Es kommt nämlich recht selten vor, dass nationale Gerichte trotz der Feststellung, dass die öffentliche Hand die in Art. 5 EMRK gewährleistete Freiheit rechtswidrig beeinträchtigt hat, eine angemessene Entschädigung versagen.203 Wird eine Verletzung des Art. 5 EMRK erst im Beschwerdeverfahren vor dem EGMR festgestellt, so wendet dieser Art. 41 EMRK an.204 Denn diese Vorschrift setzt eine Verletzung des materiellen Konventionsrechts voraus, während Art. 5 EMRK einen selbstständigen Entschädigungsanspruch, der wie alle anderen Konventionsgarantien in erster Linie vor nationalen Gerichten eingeklagt und dann in einem eventuellen Beschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK vor dem EGMR geltend gemacht werden kann. Bei dem Anspruch nach Art. 5 V EMRK handelt es sich um einen Folgenentschädigungsanspruch.205 Er unterscheidet sich deshalb von dem Entschädigungsanspruch nach §§ 1, 2 StrEG, bei dem es sich um einen Aufopferungsanspruch handelt, weil dem Betroffenen hier ein unveranlasstes Sonderopfer zugemutet wurde.206 Dieser Anspruch wird von Art. 5 V EMRK auch aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen nicht verdrängt.207 Gleiches gilt für den Schadensersatzanspruch aufgrund einer Amtspflichtverletzung gemäß § 839 200 EGMR, Baranowski ./. Polen, Urteil vom 28.3.2000, ECHR 2000-III, Ziff. 72, 73; Ilowiecki ./. Polen, Urteil vom 4.10.2001, Nr. 27504/95, Ziff. 80. 201 Vgl. EGMR G.B. ./. Schweiz, Urteil vom 30.11.2000, Nr. 27426/95, Ziff. 38; Hutchinson Reid ./. UK, Urteil vom 20.3.2003, Nr. 59272/99, Nr. Ziff. 77. 202 Art. 5 V EMRK in der Fassung des Protokolls Nr. 11 vom 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 203 Frowein/Peukert, Art. 5 RN 156; Trechsel, EuGRZ 1980. 514, 531; IntKommRenzikowski, Art. 5 RN 313. 204 Vgl. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 7.5.1974, EuGRZ 1974, 28, Ziff. 30; S.B.C. ./. UK, Urteil vom 19.6.2001, Nr. 39360/98, Ziff. 26 ff. 205 s. dazu IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 314. 206 Vgl. BGHZ 72, 302, 305; BGHZ 122, 268, 282; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 314. 207 Vgl. BGHZ 122, 268, 282; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 319.

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Teil 2: Struktur und Systematik des Art. 5 EMRK

i.V. m. Art. 34 GG. Im Gegensatz zu Art. 5 V EMRK verlangt dieser eine schuldhafte Pflichtverletzung.208 1. Verfahrensfragen Über das Verfahren, in dem ein Anspruch auf Entschädigung nach Art. 5 V EMRK geltend gemacht werden kann, gibt die Vorschrift selbst keine Auskunft; vielmehr bleibt dies dem nationalen Recht überlassen.209 In der Bundesrepublik Deutschland muss nach § 40 II Satz 1 VwGO der Rechtsweg vor die Zivilgerichte gewählt werden.210 Für die Geltendmachung des Anspruchs nach Art. 5 V EMRK vor dem EGMR gelten die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Art. 34 ff. EMRK.211 Insbesondere muss – anders als bei der Entschädigung nach Art. 41 EMRK – der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft sein.212 2. Materielle Voraussetzungen Art. 5 V EMRK setzt die Verletzung der Garantien des Art. 5 I bis IV EMRK durch staatliche Organe voraus.213 Da in Art. 5 I EMRK auf nationales Recht verwiesen wird, genügt auch ein Verstoß gegen innerstaatliche Vorschriften. Kein Anspruch auf Entschädigung nach Art. 5 V EMRK besteht, wenn die Freiheitsentziehung als solche konventionsgemäß war, selbst wenn die Entscheidung, die der Freiheitsentziehung zugrunde lag, später aufgrund einer abweichenden tatsächlichen oder rechtlichen Würdigung aufgehoben wurde, beispielsweise wenn der in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte freigesprochen wurde.214 Im deutschen Recht richtet sich die Entschädigung dann nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz (StrEG).

208

Vgl. BGHZ 45, 58, 71 ff.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Art. 5 RN 14. Vgl. BGHZ 45, 58, 70 f. 210 Vgl. OLG München, NStZ-RR 1996, 125; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 138; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 316. 211 s. dazu Peters, S. 232 ff.; Grabenwarter, § 9 RN 1 ff., § 13 RN 1 ff. 212 LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 139. 213 Vgl. EGMR, Bouchet ./. Frankreich, Urteil vom 30.3.2001, Nr. 33591/96, Ziff. 50; N.C. ./. Italien, Urteil vom 18.12.2002, Nr. 24952/94, Ziff. 49; vgl. auch BGHZ 45, 58, 65 f. 214 Vgl. EGMR, Benham ./. UK, Urteil vom 10.6.1996, Nr. 19380/92, Reports 1996-III, S. 738, 754, Ziff. 46; N.C. ./. Italien, Urteil vom 11.1.2001, Nr. 24952/94, Ziff. 54, BGHZ 57, 33, 40 ff.; vgl. auch Frowein/Peukert, Art. 5 RN 160; IntKomRenzikowski, Art. 5 RN 319. 209

B. Die Rechte der festgenommenen und inhaftierten Personen

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3. Der Umfang der Ersatzpflicht Durch die Entschädigung soll der Verletzte so gestellt werden, als wäre der rechtswidrige Eingriff in seine Freiheit nicht geschehen. Der Anspruch umfasst daher sowohl materielle, als auch immaterielle Schäden,215 wie beispielsweise die psychische Belastung durch die Freiheitsentziehung, und richtet sich nicht nur auf eine angemessene Entschädigung, sondern auf vollen Schadenersatz.216 Dazu gehören insbesondere die notwendigen Kosten der Rechtsverfolgung und der Verdienstausfall. Den innerstaatlichen Behörden kommt bei der Bemessung des Schadensersatzes ein großer Beurteilungsspielraum zu, der vom Gerichtshof nur auf Willkür überprüft wird.217

215 Vgl. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 7.5.1974, EuGRZ 1974, 27, 31, Ziff. 41; Waite ./. UK, Urteil vom 10.12.2002, Nr. 53236/99, Ziff. 87; BGHZ 122, 268, 279 ff.; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 161; Villiger, RN 374. 216 Vgl. BGHZ 45, 58, 68 ff.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 323. 217 Frowein/Peukert, Art. 5 RN 161; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 317; Villiger RN 374.

Teil 3

Die Auswirkungen der Garantien des Art. 5 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung A. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen Art. 5 III Satz 21 EMRK sieht vor, dass eine Person, die nach Art. 5 I lit. c) EMRK von Festnahme und Freiheitsentziehung betroffen ist, einen „. . . Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens“ 2

hat. Diese Garantie ist als Positivierung des Grundsatzes der Beschleunigung von Strafverfahren, in welchen Untersuchungshaft vollzogen wird, anzusehen. Ganz allgemein ergibt der Anspruch auf ein beschleunigtes Verfahren bereits aus Art. 6 I Satz 1 EMRK.3 Aus Art. 5 III Satz 2 EMRK leitet der EGMR indes das Recht eines inhaftierten Beschuldigten auf eine besonders zügige Durchführung der Ermittlungen ab. Dies bedeutet, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte Strafverfahren gegen einen inhaftierten Beschuldigten mit besonderer, über den Standard des Art. 6 I Satz 1 EMRK hinausgehender Sorgfalt betreiben und Verzögerungen vermeiden müssen.4 Art. 5 III Satz 2 EMRK bezweckt, die vorläufige Entlassung einer inhaftierten Person sicherzustellen, wenn die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung nicht mehr angemessen erscheint. Jede auf der Grundlage des Art. 5 I lit. c) EMRK festgenommene oder inhaftierte Person hat dann einen Rechtsanspruch auf Entlassung während des Verfahrens, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Haft gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK und 1 Zitiert nach der deutschen Übersetzung. Im Original handelt es sich um Art. 5 III Satz 1, 2. Halbsatz. 2 EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 v. 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 3 s. dazu auch oben Teil 2, A. III. 2. 4 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 17; Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9, Ziff. 5; Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77; van der Tang ./. Niederlande, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 68 ff.; Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2001, Nr. 41852/98, Ziff. 40 ff.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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nach nationalem Recht erfüllt sind oder nicht.5 Dadurch entsteht für die nationalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ein gewisser Druck, zielstrebig, konzentriert, sachgemäß und unter Vermeidung erheblicher Verfahrensverzögerungen zu ermitteln, da ansonsten die Freilassung des Beschuldigten und damit auch die Erschwerung der Ermittlungen oder gar die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu scheitern droht. Der Beschleunigungsgrundsatz dient deshalb in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten vor willkürlicher Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung. Jedoch liegt es auch im öffentlichen Interesse, dass die gegen eine Person erhobenen Beschuldigungen in der den Schwierigkeiten der Beweisführung angemessenen Zeit geklärt werden.6 Im deutschen Recht gilt Art. 5 III Satz 2 EMRK, neben Art. 2 II Satz 2, Art. 104 GG, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der allgemeinen Fürsorgepflicht, als Grundlage für die Herleitung des Beschleunigungsgrundsatzes.7 In Zusammenhang mit dem Strafverfahren wird der Grundsatz der Beschleunigung hauptsächlich im Rahmen der §§ 121, 122 StPO diskutiert. Die Untersuchungshaft darf danach nur dann über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus aufrechterhalten werden, wenn die Ermittlungen zügig und ohne gravierende Verzögerungen von den Strafverfolgungsbehörden betrieben wurden. Diese Entscheidung obliegt allein dem OLG. Allerdings ist die Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes nicht auf eine Haftdauer ab sechs Monaten beschränkt. Vielmehr muss ihm im Rahmen von § 120 StPO bereits in den ersten sechs Monaten der Haft und nach Ergehen eines ersten, noch nicht rechtskräftigen Urteils, Beachtung geschenkt werden.8 Die Überprüfung, ob die Vollzugsdauer der Untersuchungshaft noch angemessen und dem Beschleunigungsgebot genüge getan ist, erfolgt im deutschen Strafverfahrensrecht anlässlich des Haftprüfungsverfahrens nach § 117 I StPO, des besonderen Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG gemäß §§ 121, 122 StPO, sowie der Haftbeschwerde nach § 304 I StPO. Sie wird auch im Rahmen von Entscheidungen über die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 207 IV StPO und bei der Urteilsfällung von Amts wegen gemäß § 268b StPO vorgenommen.

5

Vgl. Frowein/Peukert, Art. 5 RN 122; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art 5 RN 102. Vgl. BGHSt 26, 228, 232. 7 Vgl. BVerfGE 20, 45, 49 = NJW 1966, 1259; BVerfGE 46, 194, 195; BVerfG StV 1995, 199; BGHSt 26, 1, 4 = NJW 1975, 63; KG StraFo 2000, 137. 8 Vgl. dazu HansOLG Hamburg JR 1983, 259 m. Anm. Rieß; OLG Düsseldorf StV 1996, 552; OLG Hamburg, StV 1993, 375; KG StV 1991, 473, 474; eingehend dazu: Schlothauer/Weider, RN 835 ff., 902 ff. 6

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

I. Die Rechtsprechung des EGMR zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen 1. Allgemeine Grundsätze Eine abstrakte Bemessung der Haftdauer, verbunden mit einer absoluten, nach Monaten oder Jahren bemessenen Höchstgrenze, lehnt der EGMR ab; er hält vielmehr eine Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer nach den Besonderheiten des Einzelfalls für angebracht.9 Die mit der Klärung des unbestimmten Rechtbegriffs der „Angemessenheit“ verbundenen Schwierigkeiten sind durch die mittlerweile sehr reichhaltige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 III Satz 2 EMRK ausgeräumt. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang folgende wichtige, allgemein gültige Grundsätze entwickelt, die er in neueren Entscheidungen seinen Erwägungen zum jeweiligen Einzelfall nahezu wortgleich voranstellt: „Die Fortdauer der Inhaftierung ist in einem bestimmten Fall nur dann gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines echten öffentlichen Interesses vorhanden sind, das ungeachtet der Unschuldsvermutung gegenüber der Regel der Achtung der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 der Konvention überwiegt. Es ist in erster Linie Aufgabe der nationalen Behörden, dafür Sorge zu tragen, daß in einem bestimmten Fall die Dauer der Untersuchungshaft eines Beschuldigten nicht die angemessene Grenze überschreitet. Hierzu müssen sie alle Umstände, die ein wirkliches Erfordernis von öffentlichem Interesse aufzeigen oder ausschließen, das angesichts der Unschuldsvermutung eine Ausnahme von der Regel der Achtung der persönlichen Freiheit rechtfertigt, prüfen und in ihren Entscheidungen über Entlassungsgesuche berücksichtigen. Der Gerichtshof hat in erster Linie auf der Grundlage der Begründungen in diesen Entscheidungen sowie der von dem Betroffenen in seinem Rechtsbehelfen angegebenen, nicht frei erfundenen Umständen zu entscheiden, ob möglicherweise eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 der Konvention vorliegt. Die Tatsache, daß weiterhin plausible Gründe für den Verdacht vorliegen, daß eine festgenommene Person eine Straftat begangen hat, ist eine conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Haftfortdauer, jedoch genügt sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr. Der Gerichtshof hat folglich festzustellen, ob die anderen von den Justizbehörden angeführten Gründe weiterhin die Freiheitsentziehung rechtfertigen. Wenn sie sich als ,erheblich‘ und ,ausreichend‘ erweisen, prüft er darüber hinaus, ob die zuständigen nationalen Behörden den Fortgang des Verfahrens ,besonders gefördert‘ haben.“10 9 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1969, DVBl. 1968, 968, Ziff. 10 ff.; Stögmüller ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9 S. 40, Ziff. 4; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30. 10 EGMR, Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 394 f., Ziff. 39, nichtamtliche Übersetzung des Bundesjustizministeriums, Berlin; s. auch EGMR, Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 67; Kemmache ./. Frankreich, Urteil vom 24.11.1994, Serie A 296-C, Ziff. 45; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384 f., Ziff. 30; Scott ./. Spanien, Urteil vom

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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Diese Grundsätze zeigen, dass der EGMR dem Art. 5 III Satz 2 EMRK eine Bedeutung verliehen hat, die weit über den Beschleunigungsgrundsatz hinaus reicht. Unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Unschuldsvermutung hat er diese Konventionsnorm zu einem Instrument zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft schlechthin ausgebaut, die, wie er im Fall Shishkov gegen Bulgarien betont, nicht von der Länge der Freiheitsentziehung abhängt.11 Vielmehr ist die Untersuchungshaft immer dann zu beenden, wenn ihre Aufrechterhaltung unangemessen wird oder ihr Zweck durch weniger belastende Maßnahmen, wie etwa die Leistung einer Sicherheit oder durch Meldeauflagen, erreicht werden kann.12 2. Der Geltungsbereich des Beschleunigungsgebots in Haftsachen a) Der maßgebliche Zeitraum Die nach Art. 5 III Satz 2 EMRK maßgebliche Zeitspanne beginnt mit der Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 I lit. c) EMRK, also regelmäßig mit der Festnahme. Sie endet am Tag der Haftentlassung des Beschuldigten.13 Wird er nur bedingt aus der Haft entlassen und wird diese Entscheidung später widerrufen, so ist trotzdem der Beginn der ersten Verhaftung maßgebend; sämtliche Haftperioden, die sich auf das Strafverfahren beziehen, sind für die Beurteilung der Angemessenheit mit zu berücksichtigen.14 Die Entlassung aus der Haft bedeutet jedoch nicht, dass das Strafverfahren dann nicht mehr zügig zu betreiben ist; vielmehr ist nun anhand von Art. 6 I EMRK zu beurteilen, inwieweit die Justizbehörden das Verfahren angemessen gefördert haben.15 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 74; Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Nr. 152 ff.; Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 110; Goral ./. Polen, Urteil vom 30.10.2003, Nr. 38654/97, Ziff. 64 f. 11 EGMR, Sishkov ./. Bulgarien, Urteil vom 9.1.2003, Nr. 38822/97, Ziff. 66: „Article 5 § 3 of the Convention . . . cannot be seen as authorising pre-trial detention unconditionally provided that it lasts no longer than a certain minimum period. Justification for any period of detention, no matter how short, must be convincingly demonstrated by the authorities.“ 12 So in Fortführung von EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 12 sowie im Fall Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, Serie A 8, Ziff. 4, neuere Entscheidungen des EGMR im Fall Deboub ./. Frankreich, Urteil vom 9.11. 1999, Nr. 37786/91 Ziff. 42; Jablonski ./. Polen, Urteil vom 21.12.2000, Nr. 33492/96, Ziff. 83; Ilowiecki ./. Polen, Urteil vom 4.10.2001, Nr. 27504/95, Ziff. 63; vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 253. 13 EGMR, van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 58; Yagci u. a. ./. Türkei, Serie A 317-B, Ziff. 23 u. 49. 14 EGMR, Neumeister ./. Österreich, Urteil vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393 Ziff. 6; Ringeisen ./. Österreich, Urteil vom 16.7.1971, Serie A 13, Ziff. 100 f. 15 Dies hat der EGMR in den Urteilen Neumeister ./. Österreich, Entscheidung vom 27.6.1968, EuGRZ 1975, 393, Ziff. 4 und Wemhoff ./. Deutschland, Entscheidung

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Als weiterer Zeitpunkt für die Begrenzung des Geltungsbereichs von Art. 5 III Satz 2 EMRK ist die Verkündung der erstinstanzlichen Entscheidung des Strafgerichts über die Begründetheit der Anklage im Sinne von Art. 6 I EMRK maßgeblich, wobei es nicht auf die Rechtskraft dieser Entscheidung ankommt.16 Der Auffassung der Kommission, die Anwendbarkeit des Art. 5 III Satz 2 EMRK ende mit Beginn der Hauptverhandlung,17 hat der EGMR eine Absage erteilt.18 Die Freiheitsentziehung während des auf die Verurteilung folgenden Zeitraums, beispielsweise während der Einlegung von Rechtsmitteln, unterliegt lediglich den weniger strengen Anforderungen des Art 6 I EMRK. Hebt das Rechtsmittelgericht das erstinstanzliche Urteil auf, gilt für die weiter andauernde Haft wiederum Art. 5 III Satz 2 EMRK.19 Die Fixierung auf den Zeitpunkt der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils unabhängig von dessen Rechtskraft ist die Konsequenz der vom EGMR vorgenommenen Abgrenzung zwischen Art. 5 I lit. a) EMRK und Art. 5 I lit. c) EMRK. Wie er in der Entscheidung im Fall Wemhoff gegen Deutschland betont, unterliegen nur diejenigen Freiheitsentziehungen, die auf Art. 5 I lit. c) EMRK beruhen, den strengen Anforderungen des Art. 5 III EMRK, wohingegen Freiheitsentziehungen nach Art. 5 I lit. a) EMRK lediglich den weniger strengen Anforderungen des Art. 6 EMRK unterliegen. Entscheidend für die Abgrenzung ist, wann eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK und somit auch der Anwendungsbereich des Art. 5 III EMRK endet und wann eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 I lit. a) EMRK beginnt. Dazu ist zu bestimmen, wann genau der Zeitraum „nach Verurteilung“ beginnt. Der EGMR legt diesen Zeitpunkt auf die erstinstanzliche, noch nicht rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Diese Auslegung stützt er mit der Überlegung, dass eine Person, die erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und sich während des Rechtsmittelverfahrens in Haft befindet, nicht als jemand anzusehen ist, der vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 5 klargestellt, in dem er die Argumentation der beteiligten Regierungen zurückwies, Art. 5 III Satz 2 biete ein Wahlrecht zwischen Aburteilung innerhalb angemessener First oder Haftentlassung während des Verfahrens. 16 EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 9; B ./. Österreich, Urteil vom 28.2.1990; Serie A 175; Ziff. 36 ff.; Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 104; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 121; Kühne/Esser, StV 2002, 388; a. A. Trechsel, EuGRZ 1980, 514, 523, der auf die aus der Rechtskraft des Urteils folgende Vollstreckbarkeit abstellt; ebenso Reindl, S. 45 ff. 17 EKMR in: EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 6. 18 EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, Ziff. 7 ff. 19 EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 535, 536, Ziff. 65; Labita ./. Italien, ECHR 2000-IV, Ziff. 147; Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 104.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK inhaftiert ist, um einem Richter oder einer entsprechend autorisierten Person vorgeführt zu werden, weil er der Begehung einer Straftat hinreichend verdächtig ist.20 Einen Widerspruch seiner Judikatur mit der Unschuldsvermutung sieht der EGMR hier offenbar nicht;21 vielmehr hat er seine Interpretation in neueren Entscheidungen bestätigt.22 Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR endet die Frist des Art. 5 III Satz 2 EMRK daher auch dann mit dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils, wenn in dieser Entscheidung zugleich die Haftfortdauer angeordnet wird und der Beschuldigte während des Rechtsmittelverfahrens entsprechend der Terminologie der nationalen Rechtsordnung weiterhin in Untersuchungshaft – und nicht in Strafhaft – bleibt. b) Art. 5 III Satz 2 EMRK und einstweilige Unterbringung Schwierigkeiten bei der Bestimmung der für Art. 5 III Satz 2 EMRK maßgeblichen Zeitspanne treten oftmals dann auf, wenn der Beschuldigte sich zeitweilig nicht in Untersuchungshaft befindet, sondern zum Zwecke einer psychiatrischen Begutachtung untergebracht23 wurde oder wenn ein schuldunfähiger Tatverdächtigter einstweilig untergebracht24 wurde. Die Kommission ordnet die Freiheitsentziehung zu diesem Zweck Art. 5 I lit. e) EMRK zu und berücksichtigt die Unterbringung bei der Prüfung der Haftdauer daher nicht.25 Diese sehr formalistische Betrachtung wird jedoch dem Regelungszweck des Art. 5 III EMRK nicht gerecht. Während der psychiatrischen Untersuchung wird die Inhaftierung zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde nach Art. 5 lit. c) EMRK nicht unterbrochen, sondern dauert an.26 Aber auch, wenn die Schuldunfähigkeit tatsächlich feststeht und der Tatverdächtige einstweilig untergebracht wird, dient die Freiheitsentziehung nach wie vor zur Vorführung 20 EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 970, Ziff. 9; vgl. auch B. ./. Österreich, Urteil vom 28.3.1990, Serie A 175, Ziff. 39. 21 So jedoch Trechsel, EuGRZ 1980, 514, 523; Reindl, S. 47 f.; Bartsch, JuS 1970, 449 f. 22 Der EGMR ging beispielsweise im Fall B. ./. Österreich im Jahre 1990 nochmals ausführlich auf diese Thematik ein und bestätigte die Auslegung des Art. 5 III Satz 2 EMRK ausdrücklich; vgl. das Urteil in diesem Fall vom 28.3.1990, Serie A 175, Ziff. 35–40. Diese Auslegung wurde in den neueren Entscheidungen vom Gerichtshof erneut bestätigt; vgl. EGMR, Demirel ./. Türkei; Urteil vom 28.1.2003, Nr. 39924/98, Ziff. 56; Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Ziff. 147; Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 104. 23 Namentlich § 81 StPO. 24 Namentlich § 126a StPO. 25 EKMR, Entscheidung vom 31.5.1965, Nr. 2219/64, CD 16, 53, 56; Entscheidung vom 31.5.1967, 2279/64, CD 23, 112, 123. 26 Vgl. IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 256; s. auch OLG Celle, NStZ 1991, 248.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

vor die zuständige Gerichtsbehörde. Im Fall Herczegfalvy gegen Österreich hat der EGMR deshalb die einstweilige Unterbringung des schuldunfähigen Beschwerdeführers unter Art. 5 I lit. c) EMRK subsumiert und bei der Bestimmung des für Art. 5 III Satz 2 EMRK maßgeblichen Zeitraums berücksichtigt.27 c) Exkurs: Art. 5 III Satz 2 EMRK und Überhaft Befindet sich der Betroffene in anderer Sache bereits in Straf- oder Untersuchungshaft, kann ein weiterer Haftbefehl nach deutschem Strafverfahrensrecht nicht vollzogen werden, da mehrere Haftbefehle in verschiedenen Strafsachen nicht gleichzeitig vollstreckt werden können.28 Für das Strafverfahren, in dem der Haftbefehl nicht vollzogen werden kann, wird dann Überhaft vermerkt. Fraglich ist nun, ob für die Beurteilung der Dauer der Überhaft die strengen Maßstäbe des Art. 5 III Satz 2 EMRK gelten oder ob Art. 6 I EMRK dieser Beurteilung zugrunde zu legen ist. Die Rechtsprechung des EGMR dazu ist wenig ergiebig. Im Fall Ringeisen gegen Österreich bestand eine der Überhaft vergleichbare Konstellation. Der Beschwerdeführer war aufgrund eines richterlichen Haftbefehls inhaftiert. Sodann erging eine zweite Haftanordnung in einer anderen Strafsache. Nachdem in dieser Sache ein Urteil ergangen war, wurde die Inhaftierung in beiden (!) Verfahren aufrecht erhalten. Zwischen diesen beiden von den Justizbehörden getrennt geführten Verfahren bestand indes ein so enger Sachzusammenhang („interconnecting link“/„interdépendance“), der den EGMR dazu bewog, die in beiden Verfahren angeordnete und parallel vollzogene Untersuchungshaft als einen einheitlichen Vorgang zu betrachten und die Einhaltung des besonderen Beschleunigungsgebots nach Art. 5 III Satz 2 EMRK im Hinblick auf die gesamte Dauer der Untersuchungshaft in beiden Verfahren gemeinsam zu überprüfen. Die Entscheidung darüber, ob das besondere Beschleunigungsgebot nach Art. 5 III Satz 2 EMRK auch im Falle von Haftbefehlen, die nur aufgrund von Untersuchungshaft oder Strafhaft in anderer Sache nicht vollzogen werden, anwendbar ist, war deshalb nicht erforderlich.29 Andere veröffentlichte Entscheidungen der Straßburger Organe diesbezüglich lassen sich nicht finden. M. E. gilt das besondere Beschleunigungsgebot des Art. 5 III Satz 2 EMRK auch für die Überhaft, unabhängig davon, ob sich der Beschuldigte in anderer Sache in Strafhaft oder Untersuchungshaft befindet. Die Existenz eines weiteren Haftbefehls stellt für den Beschuldigten in beiden Fällen eine erhebliche Belas27 Vgl. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 535, 536, Ziff. 62 ff.; s. dazu ausführlich Esser, S. 239 ff. 28 Schlothauer/Weider, RN 686; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 112 RN 12; KKBoujong, § 112 RN 16. 29 EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Urteil vom 16.7.1971, Serie A 13, Ziff. 109.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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tung dar. Im Falle der Strafhaft befindet sich der Betroffene zwar nicht nach Art. 5 I lit. c) EMRK, sondern auf Grundlage von Art. 5 I lit. a) EMRK in Haft, so dass die strengen Maßstäbe des Art. 5 III Satz 2 EMRK an sich nicht angelegt werden können. Auch wird die Strafhaft nicht automatisch zur Untersuchungshaft, sondern es bleibt bei Strafhaft, es sei denn, sie wurde ausdrücklich gemäß § 455a StPO unterbochen.30 Der Überhaftvermerk führt jedoch dazu, dass die Ausgestaltung des Strafvollzugs den Zwecken der Untersuchungshaft, d.h. der Freiheitsentziehung „zur Vorführung vor die zuständige gerichtliche Behörde“ im Sinne von Art. 5 I c) EMRK, angepasst werden muss. Zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens, in dem Überhaft vermerkt ist, entfallen nach deutschem Recht in aller Regel sämtliche Vollzugslockerungen; die Verlegung des Beschuldigten in den offenen Vollzug ist unmöglich; da auch der Entlassungszeitpunkt nicht feststeht, kommen Entlassungsvorbereitungen ebenfalls nicht in Betracht.31 Darüber hinaus unterliegt der Strafgefangene nach § 122 StVollzG zusätzlich denjenigen Beschränkungen seiner Freiheit, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert.32 Bei Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr können daher Hafturlaub und Freigang ausgeschlossen werden. Die Zügigkeit des Verfahrens, in dem Überhaft vermerkt ist, muss sich deshalb an den strengen Maßstäben des Art. 5 III Satz 2 EMRK messen lassen. Gleiches gilt für den Fall der in anderer Sache vollzogenen Untersuchungshaft. Zwar wird die Untersuchungshaft in dem fraglichen Verfahren nicht vollzogen, so dass hier genau genommen eine Freiheitsentziehung nicht vorliegt und der Schutzbereich des Art. 5 I EMRK nicht berührt ist. Konsequenterweise müsste dann für das in Frage stehende Verfahren der weniger strenge Art. 6 I EMRK zur Anwendung kommen. Dies würde aber dazu führen, dass in dem Verfahren, in dem der Haftbefehl aufgrund Untersuchungshaft in anderer Sache nicht vollzogen wird, nicht mit der in Haftsachen nach Art. 5 III Satz 2 EMRK erforderlichen besonderen Beschleunigung bearbeitet werden müsste. Nach Wegfall des zunächst in der anderen Sache vollstreckten Haftbefehls könnte es dann zur Vollstreckung des als Überhaft notierten Haftbefehls kommen, was bei besonders beschleunigter, dem Maßstab des Art. 5 III Satz 2 EMRK entsprechender Verfahrensbearbeitung in dieser Sache möglicherweise vermeidbar gewesen wäre. Verzögerungen, die nach Art. 6 I EMRK noch tolerabel sind, jedoch nicht nach Art. 5 III Satz 2 EMRK, würden sich dann insofern auswirken, als dass die Freiheitsentziehung in demjenigen Verfahren, in dem Überhaft notiert war, insgesamt länger andauern würde, als wenn keine Überhaft notiert gewesen wäre. Dieses Ergebnis entspricht aber nicht dem Zweck des Art. 5 III

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AK-StVollzG-Volckard, vor § 122 RN 1. AK-StVollzG-Volckard, § 122 RN 2; Schlothauer/Weider RN 688. 32 Vgl. OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Bremen StraFo 2000, 107, 108, jeweils m. w. N. 31

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Satz 2 EMRK, die Freiheit des Einzelnen im Falle der Untersuchungshaft nicht länger einzuschränken als die Ermittlungen es unbedingt erfordern. 3. Die Ausgestaltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen durch den EGMR Auch wenn die Gründe, die nach Art. 5 I lit. c) EMRK für die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung vom EGMR als „relevant“ und „ausreichend“ erachtet worden sind,33 kann ein Verstoß gegen das in Haftsachen besonders geltende Beschleunigungsgebot zur Entlassung des Betroffenen führen. Dies ist dann der Fall, wenn die nationalen Behörden die Ermittlungen ohne „besondere Sorgfalt“ („special diligence“/„diligence particulière“) geführt haben. Maßgeblich ist, inwieweit auf eine besonders zügige Verfahrensführung hingewirkt, d.h. den Beschleunigungsgrundsatz beachtet wurde und dadurch die Untersuchungshaft auf eine für den Einzelfall angemessene Dauer beschränkt wurde.34 Die geforderte besondere Schnelligkeit, mit der Haftsachen durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte zu bearbeiten sind, darf indes nicht dazu führen, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt wahrnehmen sowie den Sachverhalt nicht vollständig ermitteln und damit die Grundsätze einer ordentlichen Verfahrensführung mißachten.35 Die nationalen Justizbehörden sind daher gehalten, zwischen dem Beschleunigungsgebot und der Verfahrensqualität abzuwägen. Zur Überprüfung der in Haftsachen angebrachten besonderen Sorgfalt der Verfahrensführung untersucht der Gerichtshof, ob die Aktivitäten der Behörden der zielstrebigen Fortsetzung und Beendigung des Strafverfahrens dienten und ob sich „Lücken“ in der behördlichen Tätigkeit nachweisen lassen.36 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass während jeder Untersuchungshaft die Behörden gewisse Routinearbeiten wie das Aktenstudium und die Vorbereitung von Vernehmungen ausführen, die nicht belegt werden können.37 Liegen jedoch zwischen 33

s. dazu ausführlich oben Teil 2, A. 3. b) cc). Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968; DVBl. 1968, 968, 971, Ziff. 17; Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77; van der Tang ./. Niederlande, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 68 ff.; Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2001, Nr. 41852/98, Ziff. 40 ff. 35 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, 971, Ziff. 17; Tomasi ./. Frankreich, Urteil vom 27.8.1992, EuGRZ 1994, 101, 103, Ziff. 102; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, 395, Ziff. 46. 36 Vgl. die sieben Perioden der Untätigkeit im Fall Toth ./. Österreich, EGMR-Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 76; vgl. ferner EGMR, Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991 Serie A 225, Ziff. 45. 37 Vgl. EKMR, Toth ./. Österreich, Bericht vom 3.7.1990, Nr. 11894/85, Serie B 214, Ziff. 109; Villiger, RN 363; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 268. 34

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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einzelnen Verfahrenshandlungen oder Verfahrensabschnitten, beispielsweise zwischen Festnahme, Ermittlungsabschluss, Anklageerhebung und Prozesseröffnung, mehrere Monate ohne Anzeichen für behördliche Tätigkeiten, so entsteht seitens der Regierung des Vertragsstaates vor dem EGMR eine entsprechende Darlegungs- und Erklärungslast für die Ursachen dieser „Lücken“ in der Verfahrensführung.38 Erscheint die fragliche Haftdauer indessen nicht schon prima facie als überlang, muss umgekehrt der Beschwerdeführer die Tatsachen darlegen und beweisen, die für eine verzögerte und unsorgfältige Verfahrensführung sprechen.39 Wird der Betroffene freigesprochen, so beweist dies für sich genommen nicht, dass die Dauer der Untersuchungshaft unangemessen lang war. Für die Beurteilung der zügigen und sorgfältigen Verfahrensführung ist vielmehr die Sicht ex ante aus der jeweiligen Verfahrenslage maßgeblich.40 Erforderlich ist aber, dass der Betroffene dann sofort aus der Haft entlassen werden muss. Gewisse Verzögerungen, die sich aus Entlassungsformalitäten ergeben, werden vom Gerichtshof toleriert, solange sie sich auf ein Minimum beschränken;41 elf Stunden sind jedoch zu lang.42 Für die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt und ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebots zu bejahen ist, erachtet der EGMR die Organisation der Ermittlungsbehörden und Gerichte, den Umfang und Komplexität des Verfahrens und das Verhalten des Beschuldigten für entscheidend. a) Gesichtspunkte der Behördenorganisation Die Nichteinhaltung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen kann verschiedene Ursachen haben. Zunächst können Verzögerungen auf der mangelhaften Organisation der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte beruhen. Diese Versäumnisse müssen den staatlichen Stellen zugerechnet werden können, damit ihnen mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden kann.43 Verzögerungsgründe wie Personalmangel, Arbeitsüberlastung, eine unsachgemäße Geschäftsverteilung und Gerichtsorganisation oder das Fehlen von Sachmitteln müssen sich die nationalen Justizbehörden zurechnen lassen.44 Beispielsweise werden vom Gerichtshof Verzögerungen, die durch häufige Aktenversendungen verursacht wor38 Vgl. EGMR, Barfuss ./. Tschechien, Urteil vom 31.7.2000, Nr. 35848/97, Ziff. 72; Kühne/Esser, StV 2002, 389, FN 92; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 268. 39 IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 268; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 130. 40 IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 269; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 115. 41 Vgl. EGMR, Giulia Manzoni ./. Italien, Urteil vom 1.7.1997, Reports 1997-III, S. 1184, 1191, Ziff. 25; LR-Gollwitzer, 24. Aufl., Art. 5 RN 115. 42 EGMR, Quinn ./. Frankreich, Urteil vom 22.3.1995, Serie A 311, Ziff. 42; vgl. auch Labita ./. Italien, Urteil vom 6.4.2000, ECHR 2000-IV, Ziff. 171 f. 43 Vgl. Esser, S. 301 f.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

den sind, nicht akzeptiert, denn sie lassen sich durch Anfertigung von Kopien ohne weiteres vermeiden.45 Genauso wenig können Schwierigkeiten, die mit grenzüberschreitenden Ermittlungsverfahren einhergehen, wie etwa die lange Dauer des Rechtshilfeverfahrens und die Übersetzung fremdsprachiger Urkunden, eine mehrjährige Untersuchungshaftdauer rechtfertigen.46 Der EGMR hat jedoch anerkannt, dass die Abtrennung einzelner Tatvorwürfe und die Entlastung der die Untersuchung leitenden Beamten auf die Anwendung von besonderer Sorgfalt der nationalen Justizbehörden und damit auf eine Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen hinweist.47 Die aus einer Verbindung mehrerer Verfahren resultierende Verlängerung der Untersuchungshaft muss allerdings nicht automatisch einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz darstellen, sondern kann durchaus auch Ausdruck einer besonders sorgfältigen und zügigen Verfahrensführung sein, vorausgesetzt, die Verbindung erfolgte im Interesse einer ordentlichen Verfahrensführung und konnte nicht als unvernünftig angesehen werden.48 Selbst wenn Beweise für die führende Rolle eines Mitbeschuldigten vorliegen und der Tatvorwurf gegen den inhaftierten Beschuldigten einen selbstständigen, mit den restlichen Untersuchungen nicht zusammenhängenden Vorfall betrifft, verlangt der Gerichtshof nicht die Abtrennung des Verfahrens gegen den Beschuldigten.49 Für die Beurteilung der Verfahrensführung kommt es im Falle einer zulässigerweise erfolgten Verbindung nicht mehr darauf an, ob das ursprünglich separate Verfahren gegen den inhaftierten Beschuldigten für sich genommen keine Schwierigkeiten aufweist und zügiger hätte abgeschlossen werden können. Dieses Verfahren ist nach seiner Verbindung als Teil eines komplexen Verfahrens anzusehen, so dass die Einhaltung des Beschleunigungsgebots lediglich im Lichte des Verbunds beurteilt werden kann.50 b) Umfang und Komplexität des Verfahrens Art und Umfang der strafrechtlichen Ermittlungen, die große Anzahl von Mitbeschuldigten und zu vernehmenden Zeugen, das Erfordernis zahlreicher Sachverständigengutachten, der Umfang der Beweiserhebung, die Beteiligung 44 Vgl. EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 42; Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77. 45 EGMR, Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77; Assenov ./. Bulgarien, Urteil vom 28.10.1998, ECHR 1998-VIII, S. 3264, 3301, Ziff. 157. 46 EGMR, Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 83. 47 EGMR, Matznetter ./. Österreich, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 10, Ziff. 12. 48 EGMR, van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 74; Muller ./. Frankreich, Urteil vom 17.3.1997, Reports 1997-II, Ziff. 48. 49 EGMR, van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 74. 50 EGMR, van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 75.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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ausländischer Strafverfolgungsbehörden bei den Ermittlungen oder die Sensibilität des Sachverhalts können zu Verzögerungen der gesamten Untersuchungen führen. Solche Verzögerungsgründe wurden vom EGMR oftmals bei der Beurteilung der Schnelligkeit und Sorgfältigkeit der Verfahrensführung berücksichtigt und als Umstände, die den weiteren Untersuchungshaftvollzug rechtfertigen, anerkannt.51 Allerdings müssen die vielfältigen Ermittlungsmaßnahmen erforderlich sein und zügig, ohne wesentliche Verzögerungen durchgeführt werden, was geeignete organisatorische Maßnahmen voraussetzt. Auf die Dauer können noch ausstehende Ermittlungsmaßnahmen die Aufrechterhaltung der Haft jedoch nicht rechtfertigen, weil sich das Risiko der Einflussnahme und Störung aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Beweissicherung verringert hat.52 c) Das Verhalten des Beschuldigten Als weiterer Umstand, der bei Beurteilung der Verfahrensführung und der Beachtung des dabei zu beachtenden Beschleunigungsgebots zu berücksichtigen ist, kommt auch das Verhalten des Beschuldigten in Betracht. Er muss zwar nicht aktiv zu seiner Verurteilung beitragen und mit den Ermittlungsbehörden kooperieren; er ist vielmehr berechtigt, seine Aussage während des gesamten Verfahrens zu verweigern und Schritte einzuleiten, zum Beispiel Gesuche und Rechtsmittel, um seine Freilassung zu erreichen.53 Er muss allerdings die Folgen seines Verhaltens in Kauf nehmen, soweit sich dieses auf den Gang der Untersuchungen auswirkt.54 Dies bedeutet, dass der Beschuldigte die Wahl zwischen einer vertieften Vorbereitung des Prozesses und einem zügigen Verfahren hat. Für die getroffene Wahl hat er dann in gewissem Maße die Verantwortung zu übernehmen.55 Die Beurteilung, wann sich der Beschuldigte sein Verhalten zurechnen lassen muss, beruht auf den Umständen des Einzelfalls. Dazu folgende Beispiele aus

51 Vgl. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968; DVBl. 1968, 968, 971, Ziff. 17; Letellier ./. Frankreich, Urteil vom 26.6.1997, Serie A 207, Ziff. 35; van der Tang ./. Spanien, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 321, Ziff. 55; Scott ./. Spanien, Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI, Ziff. 78; Vaccaro ./. Italien, Urteil vom 16.11.2001, Nr. 41852/98, Ziff. 40; Szeloch ./. Polen, Urteil vom 22.2.2001, Nr. 33079/96, Ziff. 93. 52 EGMR, Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 225, Ziff. 43. 53 Vgl. EGMR, Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 67; Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991 Serie A 225, Ziff. 43; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 42; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, Ziff. 36 u. 46, EuGRZ 2001, 391. 54 EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 42. 55 Frowein/Peukert, Art. 5 RN 130.

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der Judikatur des EGMR: Ändert der Beschuldigte elf Mal seine Version des Tatgeschehens, was jedes Mal die Behörden zu neuen Ermittlungsmaßnahmen veranlasst, muss er sich dieses Verhalten zurechnen lassen und die dadurch hervorgerufene Verlängerung seiner Inhaftierung in Kauf nehmen.56 Ferner soll der Beschuldigte für den schlechten Zustand der in seiner Obhut gewesenen Beweismittel verantwortlich sein, der bei gleichzeitiger Aussageverweigerung die Sachverhaltsaufklärung erschwert und dadurch die Untersuchungshaft verlängert hat.57 Andererseits muss er sich die durch die Einlegung von Rechtsbehelfen wie Haftbeschwerden, Befangenheitsanträgen, Anträgen auf Verweisung des Falles oder Aufsichtsbeschwerden, verursachte Verzögerungen meistens nicht zurechnen lassen.58 4. Zusammenfassung Die Angemessenheit der Haftdauer kann nicht anhand abstrakter Kriterien festgelegt werden; maßgeblich sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls. Die für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Zeitspanne beginnt mit der Festnahme des Beschuldigten und endet entweder mit dessen Freilassung oder spätestens mit dessen erstinstanzlicher Verurteilung, unabhängig von deren Rechtskraft. Die Haftdauer ist nur angemessen, wenn das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Haft das Recht auf Freiheit des Beschuldigten überwiegt. Dabei sind mit zunehmender Fortdauer der Haft immer höhere Anforderungen an die Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu stellen. Der fortbestehende hinreichende Tatverdacht ist für die Haftfortdauer eine conditio sine qua non. Nach einer gewissen Zeit müssen relevante und ausreichende Gründe wie Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr oder die Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinzukommen; die Höhe der zu erwartenden Strafe stellt nach längerer Haft aber keinen relevanten und ausreichenden Grund dar. Für eine längere Haftdauer reichen diese Haftgründe aber in der Regel nicht aus; zum Entscheidungszeitpunkt müssen immer konkrete Fakten über das Vorliegen eines bestimmten Haftgrundes in der gerichtlichen Haftentscheidung dargelegt werden. Ferner müssen die nationalen Strafverfolgungsbehörden das Verfahren im Falle der Untersuchungshaft besonders sorgfältig geführt und unnötige Verzögerungen vermieden haben. Bei komplexen und umfangreichen 56

EGMR, Clooth ./. Belgien, Urteil vom 12.12.1991 Serie A 225, Ziff. 12–13, 43. EGMR, W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, EuGRZ 1993, 384, 386 f., Ziff. 41–42. 58 Vgl. EGMR, Stögmüller, Urteil vom 10.11.1969, Serie A 9, Ziff. 16; Toth ./. Österreich, Urteil vom 12.12.1991, Serie A 224, Ziff. 77; Richet ./. Frankreich, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 34947/97, Ziff. 67; Erdem ./. Deutschland, Urteil vom 5.7.2001, EuGRZ 2001, 391, Ziff. 36 u. 46. 57

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Verfahren kann folglich trotz sorgfältiger Verfahrensführung eine länger andauernde Inhaftierung noch angemessen sein, solange den Justizbehörden keine mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden kann. Anders ist dies jedoch, wenn es die zuständige Behörde versäumt hat, Mängel in der Organisation, im Personalbereich oder in der Geschäftsverteilung zu beseitigen oder bei umfangreichen Verfahren die notwendigen Vorkehrungen für einen reibungslosen Verfahrensablauf zu treffen. Hingegen muss der Beschuldigte bei bestimmten Verhaltensweisen die dadurch verursachte Verlängerung seiner Untersuchungshaft in Kauf nehmen. II. Die deutsche Strafrechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz bei Untersuchungshaft 1. Die Grundsätze der BVerfG-Rechtsprechung Auch das deutsche Strafverfahrensrecht kennt – mit Ausnahme von § 122a StPO, der im Falle des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr die Untersuchungshaft auf höchstens ein Jahr begrenzt – keine festen zeitlichen Obergrenzen für die angemessene Dauer der Untersuchungshaft.59 Das BVerfG hat jedoch in ständiger Rechtsprechung60 seit den sechziger Jahren Grundsätze zur Begrenzung der Untersuchungshaftdauer aufgestellt, die bis heute gültig sind: Art. 2 II Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt.61 Der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten ist den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten.62 Dies bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten, für den die Unschuldsvermutung streitet, vergrößert sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft.63 Der Beschleunigungsgrundsatz verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeiführen. Mit zunehmender Haftdauer sind daher an die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes steigende Anforderungen zu stellen. Kommt es aufgrund vermeidbarer 59

Kühne, Strafprozessrecht, RN 441; Schlothauer/Weider, RN 824; Burhoff, StraFo 2000, 109, 114; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 1. 60 BVerfGE 19, 342, 347 f. = NJW 1966, 243; 20, 45, 49 f = NJW 1966, 1259; 36, 264, 275 = NJW 1974, 307, 308 = JZ 1974, 582, 583; 46, 194, 195; 53, 152 = NJW 1980, 1448; BVerfG StV 1998, 558; StraFo 1999, 172, 173; StV 2000, 322, 323; NStZ-RR 2002, 24, 25; BVerfG StV 2004, 49. 61 BVerfGE 46, 194, 195; BVerfG StV 2000, 322, 323. 62 BVerfGE 20, 45, 49; 36, 264, 275; BVerfG StV 2000, 322, 323. 63 BVerfG StV 2000, 322, 323; NStZ-RR 2002, 24, 25.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so steht diese der Haftfortdauer entgegen. Auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen.64

Dieser verfassungsrechtlichen Lage trägt der Gesetzgeber vor allem in § 121 StPO ausdrücklich Rechnung, indem er den Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt und nur in beschränktem Umfang Ausnahmen gestattet. Damit werden zugleich die Strafverfolgungsorgane angehalten, die Ermittlungen und das weitere Verfahren zu beschleunigen. Die Vorschrift konkretisiert auf diese Weise insbesondere den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gilt seit ihrer Einführung durch das Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG aus dem Jahre 196465 als „nationale Ausgestaltung“ des in Haftsachen geltenden, besonderen Beschleunigungsgebots nach Art. 5 III Satz 2 EMRK.66 Ferner trägt § 120 I Satz 1 StPO den verfassungsrechtlichen Grundsätzen Rechnung, indem er bestimmt, dass ein Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen ist, wenn die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.67 Bei dieser Abwägung ist auch die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes von Bedeutung. 2. Die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß §§ 121, 122 StPO Der Anwendungsbereich der §§ 121, 122 StPO beginnt, sobald die Untersuchungshaft wegen derselben Tat68 sechs Monate vollzogen wurde, ohne dass ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt. Die Sechsmonatsfrist beginnt zu dem Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergriffen wurde oder mit Erlaß des Haftbefehls nach vorläufiger Festnahme.69 Entgegen der Rechtsprechung des EGMR70 wird also die Festnahmezeit vor Haftbefehlserlass nicht eingerechnet. Für die Fristberech64

BVerfG StV 2000, 322, 323; NStZ-RR 2002, 24, 25; NStZ 2004, 49, 50. StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. I 1067, in Kraft getreten am 1.4.1965. 66 Vgl. LR-Wendisch, 24. Aufl. 1985, § 121 RN 1; vgl. auch BT-Drucks. 4/178, S. 25. 67 Vgl. BVerfG NJW 1980, 1448, 1449 = BVerfGE 53, 152. 68 Zu der hier nicht näher erläuterten Problematik des Tatbegriffs in § 121 StPO: LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 14 ff. m. w. N.; s. auch Starke, StV 1988, 223, 226. 69 OLG Braunschweig NJW 1966, 116; KMR-Wankel, § 121 RN 3; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 121 RN 4. 70 EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, Ziff. 6–9, DVBl. 1968, 968; W. ./. Schweiz, Urteil vom 26.1.1993, Ziff. 7 u. 29, EuGRZ 1993, 384; vgl. auch Schlothauer/Weider, RN 855. 65

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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nung werden nur die Zeiten berücksichtigt, in denen die Untersuchungshaft tatsächlich vollzogen wurde; Unterbrechungen, wie beispielsweise die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gemäß § 116 StPO oder die Verbüßung von Strafhaft mit Überhaftnotierung werden nicht mit eingerechnet.71 Berücksichtigt wird hingegen die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO, wenn sie durch Untersuchungshaft ersetzt werden musste, weil die zunächst angenommenen Voraussetzungen für die Unterbringung zweifelhaft geworden sind und wenn sich die Untersuchungshaft unmittelbar an die Unterbringung anschließt.72 Der Anwendungsbereich der §§ 121, 122 StPO endet, sobald ein Urteil in der ersten Instanz ergangen ist. Es ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, ob die mit dem Urteil verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde,73 das Urteil aufgrund eines eingelegten Rechtsmittels durch die übergeordnete Instanz wieder aufgehoben und zurückverwiesen74 oder durch ein dem § 121 I StPO nicht entsprechendes Urteil, beispielsweise ein auf Geldstrafe lautendes, ersetzt wurde.75 a) Die gesetzliche Regelung Wurde die Untersuchungshaft bereits sechs Monate vollzogen, so treten zu den allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO die besonderen Haftfortdauervoraussetzungen gemäß § 121 I StPO hinzu. Der Vollzug der Untersuchungshaft darf nach dieser Vorschrift über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Liegen diese besonderen Voraussetzungen nicht vor, hebt das zuständige OLG den Haftbefehl nach Ablauf von sechs Monaten auf, § 121 II StPO. Die Aufhebung des Haftbefehls hat selbst dann zu erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufhebung nach §§ 120 I, 112 ff. StPO nicht erfüllt sind, d.h. ungeachtet eines fortbestehenden Tatverdachts, einer weiter zu befürchtenden Flucht-, Verdunke71 Vgl. OLG Zweibrücken MDR 1978, 245; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 5; SK-Paeffgen, § 121 RN 4; KK-Boujong, § 121 RN 6. 72 H.M., vgl. OLG Düsseldorf MDR 1994, 192; OLG Nürnberg StV 1997, 537; KK-Boujong, § 121 RN 7; str. ist, ob dies auch gilt, wenn der Beschuldigte zwischenzeitlich auf freiem Fuß gesetzt wurde oder gegen ihn eine Freiheitsstrafe vollstreckt worden war; ausführlich dazu Starke, StV 1988, 223 ff.; mit guten Gründen dagegen: SK-Paeffgen, § 121 RN 5; LR-Hilger, 25. Aufl., RN 12. 73 Vgl. OLG Düsseldorf MDR 1992, 1173; KK-Boujong, § 121 RN 5. 74 Vgl. OLG Oldenburg NJW 1965, 1819; OLG Karlsruhe Justiz 1986, 144; KKBoujong, § 121 RN 5; anders jedoch die ständige Rechtsprechung des EGMR, vgl. z. B. Kudla ./. Polen, Urteil vom 26.10.2000, NJW 2001, 2696, Ziff. 104. 75 Vgl. OLG Hamm NJW 1965, 1818; OLG Karlsruhe Justiz 1986, 144; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 9; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 24.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

lungs- oder Wiederholungsgefahr und unabhängig von der zu erwartenden Sanktion oder der Bedeutung der Sache.76 Denn § 121 I StPO stellt eine Ausformung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar, der die Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe begrenzt und der die Beachtung des Umstandes erfordert, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird.77 § 121 I StPO bewirkt deshalb, dass dem Tatverdacht, den Haftgründen, der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nach sechsmonatigem Vollzug der Untersuchungshaft gegenüber der Beachtung des Beschleunigungsgebots geringere Bedeutung beigemessen werden. Trotz der explizit in §§ 121, 122 StPO konkretisierten Verfassungsgrundsätze, welche die Haftdauer auf ein angemessenes Maß beschränken sollen, kommt es in der Bundesrepublik Deutschland zu einer durchschnittlichen Länge der Untersuchungshaft von 280 bis 290 Tagen;78 oftmals sind oberlandesgerichtliche oder verfassungsgerichtliche Korrekturen der Verfahrensführung im Einzelfall notwendig. So geschieht es vor allem bei umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren, dass sich der Beschuldigte länger als sechs Monate in Untersuchungshaft befindet, ohne abgeurteilt worden zu sein. Gelingt es den Ermittlungsbehörden, auch solche umfangreichen und schwierigen Verfahren ohne ungerechtfertigte Verzögerungen zur Anklage zu bringen, kann es den Strafgerichten – meist wegen Überlastung – misslingen, das Hauptverfahren ohne Verzögerung zu eröffnen oder einen Termin für die Hauptverhandlung zu fixieren. In der Praxis besteht deshalb seit längerem die Forderung, die Sechsmonatsfrist des § 121 StPO zumindest im Bereich der schweren und organisierten Kriminalität auf neun Monate zu verlängern,79 oder eine Fristüberschreitung zu tolerieren, wenn vor Ablauf der Frist der Beginn der Hauptverhandlung alsbald nach Fristende terminiert wird.80 Letzteres entspricht im Grunde der strafgerichtlichen Praxis, wobei jedoch recht unterschiedliche Toleranzschwellen bestehen.81 76 BVerfGE 20, 45, 49; 36, 264, 275; BVerfG StV 1998, 558; OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 1996, 268; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 1; Kleinknecht/Janischowski, RN 237, Schlothauer/Weider, RN 830; Rieß, StraFo 1999, 397, 398; Dünnebier, NStZ 1982, 344. 77 BVerfG NStZ-RR 2002, 24, 25; StV 2000, 322, 323 m. w. N. 78 Für die Zeit von 1992 bis 1997 nach Dölling/Feltes, StV 2000, 174. 79 Vgl. Bertram, NStZ 1996, 528, 530; vgl. auch „Der Spiegel“, Nr. 28 v. 7.7.2003, S. 46 ff.; vgl. auch schon Schmidt, NJW 1968, 2209. 80 So der Vorschlag des BRats in einer Stellungnahme zum StVÄG 1984, LR-Wendisch, 24. Aufl., § 121 vor RN 1. 81 Vgl. z. B. ThürOLG StV 2002, 555, das die Anberaumung der Hauptverhandlung 5 Monate nach Anklageerhebung toleriert hat, sowie das KG in StraFo 2000, 137, das dafür einen Zeitraum von 4 Monaten für vertretbar erachtet hat; hingegen hat das OLG Düsseldorf in StV 1992, 21, eine Verzögerung von 2 Monaten bis zum Beginn der Hauptverhandlung nicht mehr hingenommen.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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b) Überblick über die Rechtsprechung zu den besonderen Voraussetzungen der Haftverlängerung nach § 121 I StPO Bei den besonderen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus handelt es sich um Ausnahmetatbestände, die entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben eng auszulegen sind.82 Das Vorliegen eines Verlängerungsgrundes berechtigt noch nicht zu einem weiteren Haftvollzug über sechs Monate hinaus. Vielmehr ist nach dem Gesetz zusätzlich erforderlich, dass die Gründe, die ein Urteil noch nicht zugelassen haben, auch die Aufrechterhaltung der Haft rechtfertigen, d.h. sie müssen so gewichtig sein, dass sie den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Dies ist der Fall, wenn diese Umstände, die ein Urteil verhindert haben, unabwendbar waren oder es noch sind.83 Der Grundsatz der Beschleunigung hat bei der Frage nach der Unabwendbarkeit erhebliche Bedeutung, denn er steht ihr einengend gegenüber.84 Unabwendbar sind Verzögerungen in Haftsachen daher nur dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und die gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, damit das dem Beschuldigten auferlegte Sonderopfer in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit gehalten wird.85 Es muss also den Umständen, die ein Verfahren verzögern können, entgegengewirkt werden. Der deutsche Gesetzgeber hat der strafrechtlichen Praxis einen weiten Spielraum bei der Beurteilung, wann die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft als nicht mehr angemessen betrachtet werden kann, eingeräumt und damit einer Einzelfallbeurteilung anheim gestellt.86 Die Entscheidungen der deutschen Oberlandesgerichte haben sich deshalb zu einer umfangreichen Kasuistik entwickelt. Im Folgenden soll ein Überblick darüber gewährt werden. aa) Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen Die Ermittlungen erweisen sich als besonders schwierig und umfangreich, wenn sie sich vom normalen Durchschnitt üblicher Ermittlungsverfahrens abheben.87 Dabei können sich die Schwierigkeiten aus den verschiedensten Gründen 82

BVerfG StraFo 1999, 172, 173; OLG Schleswig StV 1985, 115, jeweils m. w. N. AK-StPO-Krause, § 121 RN 15; KK-Boujong, § 121 RN 20; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 30; Burhoff, Handbuch, RN 937. 84 BVerfGE 20, 144, 148; OLG Hamburg StV 1985, 198. 85 BVerfGE 21, 222; BVerfG StV 1992, 121; 1992, 522; 1994, 589; NStZ 1994, 93; BGHSt 38, 43; StV 1991, 475. 86 Dazu Seebode, StV 1989, 118 120; LR-Hilger, 25. Aufl., vor § 112 RN 17 f. 87 SK-Paeffgen, § 121 RN 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 121. 83

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

ergeben; denkbar sind insbesondere die tatsächlichen oder rechtlichen Besonderheiten der Tat.88 Als Beispiele können die Vielzahl und Komplexität der Taten, die den Ermittlungen zugrunde liegen, oder die Anzahl der Mitbeschuldigten oder zu vernehmenden Zeugen, die Klärung schwieriger Vorfragen aus anderen Rechtsgebieten, die für die Schuldfrage von Bedeutung sind, und Erschwernisse im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Beweismitteln, beispielsweise bei Straftaten mit Bezug zum Ausland oder bei Einholung zeitaufwändiger Sachverständigengutachten, genannt werden.89 Dabei dürfen sich die strafrechtlichen Ermittlungen nur auf solche Taten beziehen, hinsichtlich derer die Untersuchungshaft angeordnet worden ist.90 Deshalb läßt sich die besondere Schwierigkeit nicht dadurch begründen, dass andere Straftaten, die nicht Gegenstand des dem Verfahren zugrunde liegenden Haftbefehls waren, mit aufgeklärt wurden.91 Auch darf es nicht nur um Ermittlungen gehen, deren Ergebnisse nur noch am Rande mit dem eigentlichen Verfahrensgegenstand zu tun haben.92 Die Haftverlängerung ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Schwierigkeiten, die dem rechtzeitigen Abschluss des Verfahrens entgegenstanden, unabwendbar waren. Um gegen die Schwierigkeit und den besonderen Umfang der Ermittlungen gewappnet zu sein und dem Beschleunigungsgebot genüge zu tun, müssen die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte vorausschauend geplant, alle erforderlichen organisatorischen und personellen Maßnahmen getroffen und damit alle Beschleunigungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben. Dies gilt sowohl für die Personalausstattung und Geschäftsverteilung, als auch für die Verfahrensgestaltung.93 Haftsachen sind mit Vorrang vor anderen Sachen zu bearbeiten.94 Anklagereife Tatkomplexe sind abzutrennen und vorweg im Rahmen einer Teilanklage zu erledigen.95 Bei mehreren Beschuldigten ist ständig zu prüfen, ob es möglich und sachgerecht ist, das Verfahren gegen einzelne Beschuldigte zur Beschleunigung abzutrennen.96 Die mehrfache Aktenanlage ist zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in Erwägung zu ziehen.97 88 BVerfG StV 1992, 123 = NJW 1992, 1749; OLG Nürnberg StraFo 2000, 138; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 28. 89 Vgl. dazu ausführlich Schlothauer/Weider, RN 879 ff.; KK-Boujong, § 121 RN 14; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 27, jeweils m. w. N. zur Rspr. 90 Vgl. BVerfG NStZ 1992, 341; OLG Frankfurt/Main StV 1995, 424; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2002, 217. 91 BVerfG NStZ 2002, 100; OLG Brandenburg StV 2000, 37; OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 1996, 268. 92 OLG Brandenburg StV 2000, 37. 93 BVerfGE 21, 222; BGHSt 38, 43 ff.; OLG Frankfurt/Main NJW 1996, 1487. 94 OLG Hamm StV 2001, 303 f.; OLG Frankfurt/Main StV 1995, 423, 424 f.; OLG Düsseldorf StV 1990, 168. 95 OLG Hamm, StV 2000, 90; OLG Frankfurt/Main StV 1995, 423; vgl. dazu auch BVerfG StV 1994, 589. 96 OLG Köln StV 1993, 33.

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bb) „Andere wichtige Gründe“ Die Untersuchungshaft darf auch dann weiter vollzogen werden, wenn die Ermittlungen nicht besonders schwierig oder umfangreich waren, ein Urteil jedoch aus einem anderen wichtigen Grund noch nicht ergehen konnte und dieser die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Dafür kommen nur Gründe von solchem Gewicht in Betracht, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, das Beschleunigungsinteresse und den Freiheitsanspruch des Beschuldigten hinter den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zurücktreten zu lassen.98 Für die Annahme eines wichtigen Grundes sind nur Umstände relevant, die in Struktur und Bedeutung den besonderen Schwierigkeiten bzw. dem besonderen Umfang der Ermittlungen entsprechen und ihre Ursache im Untersuchungsgegenstand selbst haben.99 Dies trifft nur auf verfahrensbezogene Umstände zu; außerhalb des Verfahrens liegende Umstände wie zum Beispiel die Bedeutung der Sache in der Öffentlichkeit, sind irrelevant.100 Als andere wichtige Gründe, die ein Urteil bisher verhindert haben, sind regelmäßig Umstände anzusehen, die den Strafverfolgungsorganen nicht zurechenbar sind, mithin objektive, unvermeidbare Sachzwänge wie unvorhersehbare, plötzlich auftretende, nicht schnellstens lösbare Probleme und schicksalhafte Ereignisse oder dem Beschuldigten zuzuschreibende Sachzwänge.101 Die Frage, ob überhaupt ein wichtiger, die Fortdauer der Haft rechtfertigender Grund im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, beschäftigt die Oberlandesgerichte in der Praxis wohl am häufigsten. Dementsprechend ist die Rechtsprechung dazu recht schwer überschaubar und überwiegend einzelfallbezogen. (1) Verzögerungen durch die Justizbehörden Verzögerungen können ihren Ursprung in der Sphäre der Justizbehörden haben. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 121 I StPO, der dieser Sphäre entstammt, liegt nicht vor, wenn eine unzureichende Sach- und Personalausstattung langfristig oder absehbar, und damit beeinflussbar war,102 beispielsweise 97

OLG Bremen StV 1993, 377. Vgl. BVerfGE 36, 264, 274; OLG Düsseldorf StV 1990, 503. 99 Vgl. LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 228; AK-StPO-Krause, § 121 RN 17. 100 OLG Hamm StV 2002, 151; vgl. auch Paeffgen, NJW 1990, 541 f. unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des § 121 StPO; Rieß, StraFo 1999, 397, 400; a. A. jedoch KK-Boujong, § 121 RN 15; Kleinknecht/Janischowski, RN 252: „(die wichtigen Gründe) können sogar vom Prozeßstoff unabhängig sein.“ 101 BVerfGE 36, 274; BVerfG StV 1991, 565, NJW 1994, 2081; SK-Paeffgen, § 121 RN 15; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 28 ff. 102 Vgl. Schlothauer/Weider, RN 885, m. w. N. 98

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die Überbelastung des Staatsanwalts,103 die ungenügende Personallage im richterlichen Bereich,104 sowie die Überlastung des Spruchkörpers wegen langfristiger Erkrankung eines Richters oder dessen Abordnung in ein anderes Bundesland.105, 106 Die Verzögerung ist in diesen Fällen den Strafverfolgungsorganen oder Gerichten zuzurechnen; der Inhaftierte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil den Justizbehörden die personellen oder sachlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären.107 Hingegen sind Umstände, die den Justizbehörden nicht zurechenbar sind, als wichtige Gründe i. S. v. § 121 I StPO anzusehen. Zum Beispiel gilt eine kurzfristige, nicht voraussehbare Überbelastung infolge krankheitsbedingten Ausfalles unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter als wichtiger Grund für eine Haftfortdauer über sechs Monate hinaus.108 Ferner besteht in der Nichtausschöpfung der vorhandenen Gerichtsausstattung oder anderer Beschleunigungsmöglichkeiten durch organisatorische Maßnahmen oder schlichte Untätigkeit der Justizbehörden kein wichtiger Grund für die Rechtfertigung der Haftfortdauer im Sinne von § 121 I StPO.109 So kann zum Beispiel durch Anfertigung von Doppel- oder Mehrfachakten zum Zweck gleichzeitiger Ermittlungen oder gleichzeitiger Akteneinsicht, aber auch zur Durchführung von Rechtsbehelfsverfahren ein längerer Ermittlungsstillstand vermieden werden.110, 111 In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung zu den Problemen mit einer verspäteten Eröffnung des Hauptverfahrens bzw. Anberaumung eines Hauptverhandlungstermins hinzuweisen. Oftmals tolerieren die Gerichte einen längeren Zeitraum zwischen diesen Verfahrensstadien; mehrmonatige Verzögerungen sind jedoch nicht hinnehmbar.112 Feste Regeln für die insoweit noch zulässigen Fristen gibt es allerdings nicht, zumal die Beurteilung vom jeweiligen Einzelfall abhängig ist.113 103

OLG Schleswig StV 1985, 115. OLG Frankfurt/Main StV 1990, 310 f.; OLG Celle StV 2002, 150. 105 BGH StV 1991, 475; OLG Düsseldorf, StV 1991, 308 u. 476; OLG Bremen, NJW 1965, 2361. 106 Weitere Beispiele s. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 25; Schlothauer/ Weider, RN 855. 107 BVerfG NStZ 2004, 49, 50; BVerfG 36, 264, 274 = NJW 1974, 307, 308; OLG Düsseldorf, StV 1991, 308 u. 476. 108 BVerfG 36, 264, 274 = NJW 1974, 307, 308; s. dazu ausführlich auch LR-Hilger, 25. Aufl.. § 121 RN 28; SK-Paeffgen, § 121 RN 15, Schlothauer/Weider RN; vgl. auch OLG Koblenz StV 1997, 147; OLG Bamberg NStZ 1991, 169. 109 Vgl. Schlothauer/Weider, RN 885, m. w. N. 110 Vgl. BVerfG NJW 1994, 208 f.; StV 1999, 162; KG StV 2000, 36, 37. 111 Weitere Beispiele s. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 25; Schlothauer/ Weider, RN 855. 112 Vgl. OLG Hamm StV 2000, 90; KG StV 1994, 90; OLG Düsseldorf StV 1992, 21. 104

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Prozessuale Fehlhandlungen der Justizbehörden, wie zum Beispiel die Anklageerhebung bei einem offensichtlich unzuständigen Gericht,114 die unzulässige Verweisung vom Strafrichter an das Schöffengericht,115 Aktenverlust116 oder die überflüssige Beauftragung eines Sachverständigen,117 stellen keinen wichtigen Grund dar, der die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate rechtfertigt.118 In die Sphäre der Justizbehörden fällt auch die seit Jahren in Rechtsprechung und Lehre geführte Diskussion, ob eine zeitweiligen Verzögerung des Verfahrens durch eine anschließend besonders zügige Bearbeitung ausgeglichen werden kann. Während ein Teil der Rechtsprechung und Literatur diese Möglichkeit bejaht und in solchen Fällen die Einhaltung des Beschleunigungsgrundsatzes als gegeben erachtet,119 lehnen andere die Möglichkeit der Kompensation von Verzögerungen ab.120 Begründet wird dies damit, dass der Grundsatz der Beschleunigung auch vor Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft zu beachten ist. Deshalb können innerhalb dieser Frist eingetretene vermeidbare Verzögerungen nicht durch eine anschließende zügige Behandlung wieder wettgemacht werden. Die beschleunigte Bearbeitung ist ohnehin die in Haftsachen gebotene, mithin keine überpflichtgemäße Verfahrensförderung. Durch Einhaltung der Standards können davon abweichende Mängel deshalb nicht ausgeglichen werden. (2) Verzögerungen in der Sphäre des Beschuldigten Eine differenzierte Betrachtung muss bei Verzögerungen, deren Ursache in der Sphäre des Beschuldigten liegt, vorgenommen werden. Auch diese Umstände rechtfertigen die Fortdauer der Haft grundsätzlich nur, wenn sie für Strafverfolgungsbehörden und Gericht nicht vorhersehbar und nicht vermeidbar waren.121 Vorhersehbar und vermeidbar ist die mit der Wahrnehmung prozes113

Schlothauer, StraFo 2000, 109, 117. OLG Düsseldorf StV 1992, 21; BVerfG StV 1992, 522. 115 OLG Düsseldorf StV 2000, 630. 116 OLG Frankfurt/Main StV 1990, 412. 117 OLG Oldenburg StV 1993, 429. 118 Weitere Beispiele s. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 25; Schlothauer/ Weider, RN 855. 119 Vgl. OLG Köln NJW 1970, 1010; OLG Düsseldorf StV 1988, 211; OLG Düsseldorf StV 1989, 113; OLG Köln NJW 1989, 118, 121; ThürOLG Jena NStZ 1997, 452; OLG Stuttgart, Justiz 2001, 196; KMR-Wankel, § 121 RN 9; Kleinknecht/MeyerGoßner, § 121 RN 26; KK-Boujong; Kleinknecht/Janischowsky, RN 260. 120 BVerfG NStZ 2004, 49, 50; BVerfG NStZ 1995, 459; OLG Frankfurt/Main StV 1992, 124; OLG Frankfurt/Main NStZ 1996, 268; OLG Bamberg StV 1992, 426; SKPaeffgen, § 121 RN 18; Seebode, StV 1989, 118, 121; Schlothauer/Weider, RN 887; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 32; Burhoff, StraFo 2000, 118; Pfeiffer, § 121 RN 8. 114

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sualer Rechte verbundene Verzögerung; keinesfalls darf die Reaktion der Justizbehörden hierauf zu einer weiteren Verfahrensverlängerung führen.122 Der übermäßige Gebrauch von Eingaben, Beschwerden und wiederholte Anträge auf Akteneinsicht, die das Verfahren aufhalten, können zwar einen wichtigen Grund für die Aufrechterhaltung der Haft darstellen, rechtfertigen dies jedoch in der Regel nicht, denn auch hier können die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte Dispositionen gegen eine übermäßige Verzögerung des Verfahrensablaufs, beispielsweise durch die frühe Anfertigung von Mehrfachakten, treffen.123 Ein wichtiger Grund aus der Risikosphäre des Beschuldigten, der die Haftfortdauer rechtfertigt, liegt hingegen dann vor, wenn ein Beschuldigter seine Identität nicht preisgibt, erst in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium Angaben zur Sache macht, oder die Ermittlungsbehörden durch Falschangaben in die Irre führt.124 Die dadurch bedingte Verfahrensverzögerung war für die Ermittlungsbehörden nicht vorhersehbar, so dass der Beschuldigte die Verzögerungen hinnehmen muss. Auch das Verhalten seines Verteidigers, beispielsweise ein Terminverlegungsantrag, oder einen Verteidigerwechsel kurz vor Hauptverhandlungsbeginn, muss sich der Beschuldigte zurechnen lassen.125 Allerdings kann eine länger andauernde Verhinderung des Wahlverteidigers für das Gericht vorhersehbar und vermeidbar sein, so dass dies keinen wichtigen Grund i. S. v. § 121 I StPO darstellen muss.126 c) Fazit Hinsichtlich der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 121 I StPO bestehen aufgrund der mittlerweile reichhaltigen straf- und bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung keine Unklarheiten mehr. Dass nach wie vor zahlreiche Fälle durch das BVerfG entschieden werden müssen, ist darauf zurückzuführen, dass der Gesetzgeber in § 121 I StPO die Abwägung zwischen dem Recht auf Freiheit und dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung im Einzelfall auf die Praxis übertragen und den Ermittlungsbehörden und Gerichten damit einen großen Beurteilungsspielraum eingeräumt hat.127 121

LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 34; Schlothauer/Weider RN 888. OLG Bremen StV 1986, 540; KG StV 1993, 204; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 34; Schlothauer/Weider RN 888. 123 OLG Stuttgart StV 1983, 70; LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 RN 34; Schlothauer/ Weider RN 888. 124 Weitere Beispiele vgl. LR-Hilger, 25. Aufl. § 121 RN 36; Schlothauer/Weider, RN 888 f.; KK-Boujong, § 121 RN 16. 125 s. OLG Hamm, StV 1996, 497; OLG Düsseldorf, StV 1994, 326; OLG Frankfurt/Main, StV 1992, 21. 126 Vgl. OLG Hamm StV 2002, 151 = NStZ-RR 2002, 124. 127 SK-Paeffgen, vor § 112 RN 9; LR-Hilger, 25. Aufl., vor § 112 RN 17 f. 122

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 120 I StPO Außerhalb des Anwendungsbereichs von §§ 121, 122 StPO beurteilt sich die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer nach § 120 StPO. Dies bedeutet, dass ein Haftbefehl in den Zeiträumen vor der „Sechsmonatsprüfung“,128 während der Hauptverhandlung,129 sowie nach einem erstinstanzlichen Urteil130 nur auf Grundlage des § 120 StPO aufgehoben werden kann. Ferner ist diese Vorschrift auch für die Fälle der Überhaft und des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls relevant.131 a) Die gesetzliche Regelung Die Vorschrift des § 120 I StPO bestätigt im Grunde eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit: Der Haftbefehl ist von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen, § 120 I Satz 1 Halbsatz 1 StPO. Diese Voraussetzungen ergeben sich aus §§ 112 ff. StPO. Da sich die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die zur Anordnung der Untersuchungshaft geführt haben, mit zunehmender Verfahrensdauer jederzeit ändern können, müssen diese Voraussetzungen in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium vor allem unter dem Aspekt des Zeitablaufs neu bewertet werden. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft steigen die Anforderungen an die Voraussetzungen des Tatverdachts. Allein durch Zeitablauf kann er unter die Schwelle des dringenden Tatverdachts absinken. Ein anfänglicher, zur Verhaftung ausreichender, aber auf noch unzureichenden Beweisen beruhender Tatverdacht kann auf diese Weise seine Qualität als dringender Tatverdacht dadurch verlieren, dass die Ermittlungsbehörden es unterlassen, mögliche und zumutbare Ermittlungen mit dem Ziel zu führen, diese Beweislage abzuklären.132 Der Tat-

128 Vgl. dazu OLG Köln StV 1994, 584; AG Essen StV 1997, 380; AG Wuppertal StV 1998, 555; s. auch Burhoff, StraFo 2000, 109, 115; KMR-Wankel, Vor § 112 RN 13. 129 Vgl. dazu OLG Düsseldorf, NStZ 1992, 402 m. Anm. Keller, NStZ 1992, 604; OLG Hamm, StV 1998, 553; KG StraFo 2000, 137; s. auch KK-Boujong, § 121 RN 5. 130 Vgl. dazu OLG Hamburg JR 1983, 259 m. Anm. Rieß; OLG Düsseldorf NStZRR 2000, 250, 251; s. auch Schlothauer/Weider, RN 902. 131 Zur Überhaft vgl. KG StV 2002, 554; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Frankfurt/Main StV 1994, 665; OLG Stuttgart StV 1990, 213; s. auch SK-Paeffgen, § 120 RN 10; zum außer Vollzug gesetzten Haftbefehl vgl. KG StV 2003, 627 u. StV 1989, 68; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 29; LG Frankfurt/Oder StV 2003, 31; LG Frankfurt/Main StV 1989, 486, 487; AG Gera StV 1997, 141, 142; s. auch BVerfG StV 2003, 30 u. NJW 1980, 1448, 1449 = BVerfGE 53, 152, 159 ff.; Schlothauer/ Weider, RN 832 ff. 132 Vgl. OLG Celle StV 1986, 392; OLG Brandenburg StV 1996, 157.

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verdacht besteht dann nicht mehr, wenn nach dem Ermittlungsergebnis anzunehmen ist, dass der Nachweis auch nur eines einzigen Tatbestandsmerkmals nicht zu führen ist.133 Fluchtgefahr vermindert sich, wenn der Anreiz zur Flucht geringer geworden ist. Dies ist namentlich der Fall, wenn der Beschuldigte wegen der Dauer einer nach § 51 I Satz 1 StGB anzurechnenden Untersuchungshaft im Falle einer Verurteilung nicht mehr mit einer längeren Strafverbüßung zu rechnen hat. Die Möglichkeiten zur Verdunkelung und damit auch die Verdunkelungsgefahr nehmen regelmäßig ab, je weiter die Ermittlungen voranschreiten.134 Sie entfällt, wenn die Tat aufgeklärt und alle Beweise gesichert sind; insbesondere nach Abschluss der Hauptverhandlung in der letzten Tatsacheninstanz ist ein auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl aufzuheben.135 Nach § 120 I Satz 1 Halbsatz 2 StPO ist der Haftbefehl auch dann aufzuheben, wenn sich ergibt, dass die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis stehen würde. Diese Regelung beruht auf dem allgemeinen Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit, aus dem sich ergibt, dass die Untersuchungshaft nur angeordnet und vollzogen werden darf, wenn die vollständige Aufklärung der Tat und die rasche Abwicklung des Strafverfahrens nicht anders gesichert werden können.136 Neben § 112 I Satz 2 StPO konkretisiert nun § 120 I Satz 1 Halbsatz 2 StPO diesen Grundsatz dahingehend, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere die Bedeutung der Sache und die Rechtsfolgenerwartung mit zu berücksichtigen sind. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist, sind im Rahmen einer Gesamtabwägung die konkreten Nachteile und Gefahren des Freiheitsentzugs für den Beschuldigten mit der Bedeutung der einzelnen Strafsache und der zu erwartenden Sanktion im Einzelfall zu vergleichen. Die Dauer der Untersuchungshaft ist regelmäßig dann unverhältnismäßig, wenn die vom Beschuldigten erlittene Untersuchungshaft die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht oder sogar übersteigt.137 Die Bedeutung der Sache beurteilt sich anhand des Gewichts des öffentlichen Interesses an einer Verfolgung der konkreten Rechtsgutverletzung. Beurteilungsfaktoren sind die Art und Schwere der Straftat, insbesondere die Art des verletzten Rechtsgutes, die gesetzliche Strafandrohung, die konkrete Erscheinungs133 KK-Boujong, § 120 RN 4; Münchhalffen/Gatzweiler, RN 266; SK-Paeffgen, § 120 RN 4; LR-Hilger, 25. Aufl., § 120 RN 6. 134 Münchhalffen/Gatzweiler, RN 267; HK-Lemke § 120 RN 6; LR-Hilger, 25. Aufl., § 120 RN 8; SK-Paeffgen, § 120 RN 4. 135 Münchhalffen/Gatzweiler, RN 267; KK-Boujong, § 120 RN 5; HK-Lemke, § 120 RN 6. 136 BVerfGE 19, 342, 348; 20, 45, 49. 137 OLG Bremen NJW 1960, 1265, 1266; OLG Bamberg NJW 1996, 1222.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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form der Tat und die tatbezogenen Umstände in der Person des Beschuldigten.138 Auch das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Tat, vor allem wenn sie zu einer Gruppe von Straftaten gehört, die besonders wirksam bekämpft werden müssen, kann unter dem Aspekt der Verteidigung der Rechtsordnung berücksichtigt werden.139 Allerdings kann die Erregung der Öffentlichkeit die Bedeutung der Tat nicht nachträglich erhöhen.140 Die Beurteilung der zu erwartenden Strafe ist mit einer schwierigen Prognose verbunden, die nur grobe Einschätzungen zuläßt. Soweit nach dem Erkenntnisstand möglich, sind grundsätzlich alle Strafzumessungserwägungen anzustellen, von denen sich voraussichtlich das Gericht am Ende der Hauptverhandlung leiten lassen wird.141 b) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes im Anwendungsbereich des § 120 I StPO Nach ständiger strafgerichtlicher und bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung kann im Rahmen der Abwägung nach § 120 I Satz 1 StPO neben der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe auch der Beschleunigungsgrundsatz von Bedeutung sein, denn die Untersuchungshaft soll auch außerhalb des Geltungsbereichs der §§ 121, 122 StPO nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden können, wenn das Verfahren verzögert wurde.142 Die Fortdauer der Untersuchungshaft kann daher auch dann nach § 120 I StPO unverhältnismäßig sein, wenn eine erhebliche, sachlich ungerechtfertigte, von Beschuldigtenseite nicht zu vertretende und unvermeidbare Verfahrensverzögerung eingetreten ist.143 Als Begründung für die Beachtung des Beschleunigungsgebots im Anwendungsbereich des § 120 StPO verweisen die Gerichte meist auf die – vornehmlich im Zusammenhang mit § 121 StPO ergangene – bundesverfassungsgerichtliche und oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zur Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen. Besonders deutlich erfolgte dies bei-

138 Vgl. LR-Hilger, 25. Aufl., § 112 RN 58; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 112 RN 11; kritisch dazu: SK-Paeffgen, § 112 RN 16. 139 OLG Düsseldorf NStZ 1996, 554; OLG Frankfurt/Main StV 1988, 392. 140 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 112 RN 11; LR-Hilger, 25. Aufl., § 112 RN 58. 141 Vgl. LR-Hilger, 25. Aufl., § 112 RN 59; KK-Boujong, § 112 RN 48; zu den Prognoseschwierigkeiten vgl. SK-Paeffgen, § 112 RN 18. 142 Vgl. BVerfG StV 2003, 30 f.; BVerfGE 53, 152, 158 ff.; OLG Düsseldorf NStZRR 2000, 250, 251; LG Frankfurt/Main StV 1989, 486, 487; vgl. auch Rieß, JR 1983, 260; LR-Hilger, 25. Aufl., § 120 RN 16. 143 Vgl. OLG Hamburg JR 1983, 259; KG StV 1985, 67; OLG Köln MDR 1992, 694; OLG Oldenburg NStZ 1993, 578; OLG Bamberg StV 1994, 141; OLG Köln StV 1994, 584; OLG Düsseldorf StV 1996, 552; LG Gera NJW 1996, 2586; OLG Düsseldorf NStZ 2002, 250, 251; LG Berlin StV 2002, 608.

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spielsweise in der Begründung einer Haftbefehlsaufhebung durch das LG Frankfurt/Main im Jahre 1989: „Das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 II GG) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 120 StPO) gebieten zumal in Haftsachen in jeder Phase des Verfahrens eine angemessene Beschleunigung der Sachbearbeitung mit dem Ziel einer möglichst zügigen Beendigung der Untersuchungen und alsbaldiger Entscheidung. Eine Verletzung dieser Grundsätze durch eine von der Angeklagtenseite nicht zu vertretende erhebliche Verzögerung des Verfahrens, die einer sachlichen Rechtfertigung entbehren und vermeidbar sind, kann insoweit sogar ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe zur Aufhebung des Haftbefehls führen.“144

Für die Beurteilung der Verzögerung greifen die Strafgerichte auf die materiellen Maßstäbe, die der Gesetzgeber in § 121 I StPO vertypt hat, zurück. Dies bedeutet, dass auch im Anwendungsbereich des § 120 StPO die besondere Schwierigkeit, der besondere Umfang und andere wichtige Gründe nebst der dazu ergangenen oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung von Bedeutung sind, ohne dass § 121 I StPO unmittelbar oder entsprechend angewandt wird.145 Beispielsweise wurde der Haftbefehl bereits in den ersten sechs Monaten der Untersuchungshaft aufgehoben, weil wichtige Ermittlungsmaßnahmen wie die Beauftragung eines Gutachters grundlos unterblieben waren.146 War das Verfahren nicht mehr gefördert worden, weil das Verfahren gegen einen Mitbeschuldigten abgewartet werden musste,147 oder haben die anfänglichen Ermittlungen insgesamt die gebotene Zügigkeit vermissen lassen,148 wurde die Fortdauer der Untersuchungshaft bereits vor Ablauf von sechs Monaten wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot unverhältnismäßig. Treten nach Eröffnung der Hauptverhandlung Verzögerungen ein, etwa weil der Angeklagte aufgrund von Personalmangel, der lange bekannt und damit vorhersehbar war, nicht zum Hauptverhandlungstermin vorgeführt werden konnte,149 oder weil das Verfahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde, ohne dass ein wichtiger Grund ersichtlich war,150 ist der Haftbefehl ebenfalls aufzuheben. Nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils können allerdings die Schwierigkeit der Ermittlungen und der Umfang der Sache regelmäßig keine Rolle mehr spielen;151 für die Beurtei144 LG Frankfurt/Main StV 1989, 486, 487, unter Berufung auf BVerfGE 20, 45, 50; HansOLG Hamburg JR 1983, 259 f.; StV 1985, 66; LG Hamburg StV 1985, 20 f.; KG StV 1985, 66, OLG Karlsruhe, NJW 1969, 1682 f.; OLG München NJW 1970, 156 f. 145 OLG Frankfurt/Main NJW 1968, 2118; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2000, 250, 251; Rieß, JR 1983, 260 f. 146 AG Frankfurt/Main StV 1994, 380; AG Essen StV 1997, 142. 147 AG Wuppertal StV 1998, 555. 148 OLG Köln StV 1994, 584. 149 OLG Hamburg StV 1993, 375. 150 OLG Bamberg StV 1994, 142. 151 Vgl. Rieß, JR 1983, 260.

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lung der Verzögerung bleiben jedoch die „anderen wichtigen Gründe“ von Bedeutung: So kann beispielsweise eine neunmonatige Verzögerung der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft,152 die gänzlich unterlassene Bearbeitung der Sache für fünf Monate nach der Revisionseinlegung oder eine willkürliche Verweisung an ein unzuständiges Gericht nicht mehr die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls für die Zeit bis zur Rechtskraft des Urteils rechtfertigen.153 Die materiellen Maßstäbe des § 121 I StPO werden von den Strafgerichten auch bei Entscheidungen über die weitere Aufrechterhaltung von Haftbefehlen, die gemäß § 116 StPO außer Vollzug gesetzt wurden, für die Beurteilung der Verfahrensverzögerungen herangezogen; ein erheblicher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot kann genauso wie bei vollzogenen Haftbefehlen zur Unverhältnismäßigkeit nach § 120 I StPO führen.154 Auch hier stellt zum Beispiel die Überlastung der zuständigen Strafkammer oder Aussetzung und Vertagung der Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit infolge Ausbleibens des Mitangeklagten, ohne dass die Abtrennung des Verfahrens gegen den anwesenden Angeklagten in Erwägung gezogen wurde, einen zur Unverhältnismäßigkeit des Haftbefehls führenden Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz dar.155 Gleiches gilt für Haftbefehle, die wegen Überhaft aufgrund Strafhaft oder Untersuchungshaft in anderer Sache nicht vollzogen werden. Die Unterlassung der Beauftragung von Gutachtern,156 die verzögerte Übersetzung der Anklageschrift157 oder andere Verzögerungen beim Verfahren, wie die aus Überlastung und Personalmangel resultierenden langen Zeitabstände zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens und der Terminierung sowie das Abwarten der Ergebnisse von Ermittlungen gegen Mitbeschuldigte oder Zeugen, können auch bei Überhaft zu nicht mehr tolerablen Verzögerungen und damit zur Haftbefehlsaufhebung nach § 120 I StPO führen.158 Das Beschleunigungsgebot ist mithin in jeder Phase des Verfahrens zu beachten. Seine Einhaltung ist deshalb bei jeder Haftentscheidung im Rahmen von §§ 117 ff. oder 304 ff. StPO, nicht nur bei der oberlandesgerichtlichen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO, von Amts wegen zu prüfen. Dies findet mittlerweile auch in der Literatur159 Zustimmung. Unklar ist allerdings, wie es sich mit dem Wortlaut des § 120 I Satz 1 StPO vereinbaren läßt, einen Haftbefehl 152

HansOLG Hamburg JR 1983, 259. LG Berlin StV 2002, 608; LG Bremen StV 1992, 523. 154 BVerfGE 53, 152, 159; BVerfG StV 1996, 156; BVerfG StV 2003, 30 f. 155 HansOLG Hamburg StV 1985, 66; LG Hamburg StV 1989, 20, 21; LG Frankfurt/Main StV 1989, 486, 487. 156 OLG Brandenburg StV 1999, 161; LG Krefeld StV 2003, 516. 157 OLG Bremen StraFo 2000, 107. 158 Vgl. BVerfG StV 2003, 30; OLG München StV 2002, 555; KG StV 2002, 554; OLG Hamm StV 1986, 441; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Stuttgart StV 1990, 214. 153

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infolge einer erheblichen, vom Beschuldigten nicht zu vertretenden und sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerung aufzuheben, obwohl die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache keinen Anlass für die Haftbefehlsaufhebung bieten. Denn diese Regelung gebietet ausdrücklich, die Bedeutung der Sache und die Straferwartung bei der Entscheidung über die Haftfortdauer zu berücksichtigen. Es ist daher fraglich, worin der Unterschied in der Anwendung von § 121 I StPO und § 120 I StPO besteht. Die Strafrechtsprechung zu § 120 I StPO ist diesbezüglich uneinheitlich. In vielen Entscheidungen wird der Haftbefehl aufgrund einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, vermeidbaren und erheblichen, von dem Beschuldigten bzw. Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe und der Bedeutung der Sache aufgehoben.160 Andere Entscheidungen wiederum wägen das Gewicht der Straftat und die Höhe der zu erwartenden Straftat gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens gegeneinander ab.161 Im Einzelfall kann dies dazu führen, dass die Untersuchungshaft angesichts des zu erwartenden hohen Strafmaßes trotz einer festgestellten vermeidbaren Verfahrensverzögerung weiter vollzogen wird.162 Einige Stimmen in der Literatur versuchen, den Widerspruch zwischen der strafgerichtlichen Praxis und dem Wortlaut des § 120 I Satz 1 StPO unter Rückbesinnung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der dieser Vorschrift zugrunde liegt, zu lösen. Angesichts der verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Grundsatzes könne § 120 I Satz 1 StPO nur so interpretiert werden, dass der Gesetzgeber mit der Bedeutung der Sache und der Straferwartung zwei für die Untersuchungshaft besonders wichtige und typische Abwägungsbelange betont habe, ohne jedoch andere ausschließen zu wollen.163 Bei der Abwägung im Rahmen von § 120 I StPO handele es sich deshalb – im Gegensatz zu § 121 I StPO – um eine Gesamtabwägung.164 Diese Lösung ist folgendermaßen zu ver159 Rieß, JR 1983, 260; KK-Boujong, § 120 RN 8; LR-Hilger, 25. Aufl., vor § 112 RN 35 f. und § 120 RN 16; SK-Paeffgen, vor § 112 RN 30, Schlothauer/Weider, RN 830; Burhoff, StraFo 2000, 109, 115; Seetzen, ZRP 1975, 29, 30; ablehnend jedoch noch Seebald, NJW 1975, 28. 160 Vgl. OLG Hamburg JR 1983, 259; 290; KG StV 1985, 67; OLG Oldenburg NStZ 1993, 578; OLG Hamburg, StV 1993, 375; OLG Köln StV 1994, 584; OLG Bamberg StV 1994, 142; LG Bremen StV 1992, 523; LG Berlin StV 2002, 608; AG Frankfurt/Main StV 1994, 380; AG Essen StV 1997, 380; AG Wuppertal StV 1998, 555. 161 Vgl. OLG Köln MDR 1992, 694, 695; OLG Düsseldorf StV 1996, 552; NStZRR 2000, 250, 251; KG StraFo 2000, 137; LG Gera NJW 1996, 2586. 162 Vgl. OLG Köln MDR 1992, 694, 695; OLG Düsseldorf StV 1996, 552; NStZRR 2000, 250, 251; KG StraFo 2000, 137; LG Gera NJW 1996, 2586. 163 Vgl. Rieß, JR 1983, 260; LR-Hilger, 25. Aufl., § 120 RN 16. 164 Vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2000, 250, 251 m. w. N.; Rieß, StraFo 1999, 397, 398; ders. JR 1983, 260; Schlothauer/Weider, RN 830; Kleinknecht/Janischowski

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stehen: Das Ausmaß der Verfahrensverzögerung ist neben der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe sowie anderen, bei der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer im konkreten Einzelfall eine Rolle spielenden Belangen, als gleichwertiger Abwägungsaspekt in die Gesamtabwägung einzubeziehen. Im Unterschied zu §§ 121, 122 StPO kann daher im Rahmen von § 120 I StPO ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaftdauer führen, muss aber nicht, wenn die Verzögerung gegenüber der Bedeutung der Sache und der Höhe der zu erwartenden Strafe im Einzelfall als weniger schwerwiegend erachtet werden kann. Den in § 121 I StPO normierten Haftfortdauervoraussetzungen und der dazu ergangenen Rechtsprechung kommt daher auch bei der Beurteilung, ob im Anwendungsbereich des § 120 StPO dem Beschleunigungsgebot genüge getan wurde, eine bedeutsame, wenn auch nicht allein entscheidende Rolle zu. Dass in vielen veröffentlichten Entscheidungen der Haftbefehl aufgrund einer vom Beschuldigten nicht zu vertretenden, sachlich nicht zu rechtfertigenden Verletzung des Beschleunigungsgebots ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe aufgehoben wird, muss nicht bedeuten, dass diese Gerichte eine umfassende Abwägung unterlassen haben. Die zitierten Entscheidungen wurden oftmals nur recht knapp begründet und der Sachverhalt wurde nicht oder nur in Kurzform veröffentlicht, so dass eine definitive Feststellung der von den jeweiligen Gerichten einbezogenen Abwägungsbelange nicht möglich ist. Angesichts der Relevanz der Umstände des Einzelfalls kann deshalb nur vermutet werden, dass die Gerichte in den konkreten Fällen die eingetretene Verfahrensverzögerung als derart gravierend erachteten, dass für sie weitere Ausführungen über die bei der Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer einzubeziehende Bedeutung der Sache und Rechtsfolgenerwartung überflüssig erschienen. c) Die Rechtsprechung zu § 120 I StPO in den einzelnen Verfahrensstadien Wie bereits festgestellt, gilt § 120 I StPO im Gegensatz zu §§ 121, 122 StPO in recht unterschiedlichen Verfahrensstadien. Die Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit verändert sich je nach Verfahrensstadium und Verfahrenskonstellation. Durch die fortlaufende Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden und den damit verbundenen Zuwachs an Erkenntnissen über den Täter, die Straftat und deren Umstände sowie durch die mehrfach stattfindenden gerichtlichen Sachverhaltsüberprüfungen wird die Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft immer dichter, je länger das RN 232; KK-Boujong, § 120 RN 8; LR-Hilger; 25. Aufl., § 120 RN 16; AK-StPOKrause, § 121 RN 1.

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Verfahren andauert. In einem frühen Verfahrensstadium ist diese Grundlage meist noch sehr unkonkret, denn die Beweise, die für eine Täterschaft des Beschuldigten sprechen, müssen zu Beginn des Verfahrens oft erst noch durch weitere Ermittlungsmaßnahmen gesichert werden. Im Zwischenverfahren wird dann der Sachverhalt, der dem Verfahren zugrunde liegt, einer genauen Überprüfung durch eine unabhängige Instanz unterzogen. Ergeht ein Eröffnungsbeschluss des zuständigen Gerichts, hat eine erste Konkretisierung der Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit der Haftfortdauer stattgefunden. Nach Abschluss der Hauptverhandlung und Erlass eines Urteils kann indessen die Grundlage zur Beurteilung der Täterschaft als dicht und relativ gefestigt gelten; die Unschuldsvermutung hat durch eine Verurteilung bereits eine wesentliche Erschütterung erfahren. Dementsprechend ist die Prognose über die zu erwartende Freiheitsstrafe in einem frühen Stadium des Verfahrens noch recht schwierig, wohingegen ein Urteil, das zwar noch nicht rechtskräftig ist, aber in dem doch aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung eine neutrale Bewertung der Tatsachen und Beweismittel durchgeführt wurde, eine deutlich gesichertere Grundlage für die Rechtsfolgenprognose bietet.165 Ferner ist § 120 I StPO im Gegensatz zu §§ 121, 122 StPO auch auf Haftbefehle anzuwenden, die außer Vollzug gesetzt wurden oder wegen Überhaft in anderer Sache nicht vollzogen werden können.166 Da der Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit des Betroffenen bei einem außer Vollzug gesetzten Haftbefehl weniger gravierend ist, als bei vollzogener Untersuchungshaft, stellen manche Strafgerichte weniger strenge Anforderungen an die Einhaltung des Beschleunigungsgebots durch die Strafverfolgungsbehörden.167 Die Verhältnismäßigkeit eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls kann deshalb im konkreten über einen längeren Zeitraum als bei einem vollzogenen Haftbefehl bejaht werden. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer im Einzelfall ist daher neben dem Verfahrensstadium auch von Bedeutung, ob der Haftbefehl vollzogen wurde oder nicht. Verfahrensverzögerungen sind deshalb im Lichte des jeweiligen Verfahrensstadiums und der jeweiligen Verfahrenskonstellation zu bewerten. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit die deutsche Strafrechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatzes dies im Rahmen von § 120 I StPO beachtet hat.

165 Vgl. Kleinknecht/Janischowsky, RN 239 u. 118; AK-StPO-Krause, § 120 RN 5; KK-Boujong, § 120 RN 7; Schlothauer/Weider, RN 913. 166 s. oben Teil 3, A. II. 3. vor a). 167 Vgl. OLG Düsseldorf StV 1991, 474; OLG Stuttgart StV 1990, 213; LG Frankfurt/Oder StV 2003, 31; vgl. auch Schlothauer/Weider, RN 833.

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aa) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in den ersten sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs Aus diesem Verfahrensabschnitt ließen sich nur sehr wenige veröffentlichte Entscheidungen deutscher Strafgerichte168 finden. Jedoch hoben die Gerichte in diesen Entscheidungen die Haftbefehle allesamt nach weniger als sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs auf.169 Für die Beurteilung der Verzögerung griffen sie auf die Maßstäbe des § 121 I StPO zurück, ohne diese Vorschrift explizit zu erwähnen. Ferner wurde weder auf die dazu ergangene oberlandesgerichtliche Rechtsprechung, noch auf die Grundsätze des BVerfG zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen ausdrücklich hingewiesen. Es fällt auf, dass die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache in sämtlichen Entscheidungen keine entscheidende Rolle spielte und zumeist überhaupt keine Erwähnung fand, geschweige denn mit dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung abgewogen wurde.170 In den meisten Entscheidungen blieb auch die Rechtsgrundlage für die Haftbefehlsaufhebung im Dunkeln. Lediglich das AG Essen171 wies darauf hin, dass der Haftbefehl aufgehoben werden musste, da die Voraussetzungen des § 121 I StPO für eine weitere Haftfortdauer nicht vorlagen. Diese Vorschrift ist jedoch vor Ablauf von sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs noch nicht anwendbar; der Hinweis auf § 121 I StPO war deshalb in diesem Fall nicht zutreffend. Interessant an den Entscheidungen des AG Essen172 und des AG Wuppertal ist, dass die Aufhebung des Haftbefehls jeweils nur deshalb erfolgte, weil die Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist nach § 121 StPO abzusehen war und die Besorgnis bestand, dass der Haftbefehl nach Ablauf dieser Frist mangels besonderer Haftverlängerungsgründe gem. § 121 I StPO nicht mehr weiter hätte vollzogen werden können. Diese Begründung spiegelt die von mehreren Stimmen in der Literatur174 beanstandete Praxis vieler Strafverfolgungsbehörden wi173

168 OLG Köln StV 1994, 584; AG Frankfurt StV 1994, 380; AG Essen StV 1997, 142; AG Wuppertal StV 1998, 555. 169 OLG Köln StV 1994, 584: Aufhebung des Haftbefehls nach fünfwöchiger Untersuchungshaft, da die Hauptzeugin fünf Monate nach der Tat noch nicht vernommen war; AG Frankfurt StV 1994, 380: Aufhebung nach viermonatiger Untersuchungshaft, weil ein erforderliches Gutachten nicht in Auftrag gegeben wurde; AG Essen StV 1997, 142: Aufhebung nach einer Verzögerung von zweieinhalb Monaten bei der gutachterlichen Altersfeststellung; AG Wuppertal StV 1998, 555: Aufhebung vor Ablauf von sechs Monaten der Untersuchungshaftdauer, da der Ausgang des Strafverfahrens gegen einen Mitbeschuldigten abgewartet wurde. 170 Allerdings sind die Entscheidungsgründe recht kurz gehalten oder nur ausschnittsweise veröffentlicht. 171 StV 1997, 142. 172 StV 1997, 142. 173 StV 1998, 555. 174 Vgl. Schlothauer/Weider, RN 837; LR-Wendisch, 24. Aufl., vor § 112 RN 23.

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der, den Beschleunigungsgrundsatz nur unter dem Aspekt der Einhaltung der Sechsmonatsfrist zu betrachten und, wenn die Fristeinhaltung gesichert scheint, alle weiteren Bemühungen, mit denen die Untersuchungshaft weiter hätte abgekürzt werden können, zu unterlassen. Eine solche Praxis widerspricht aber der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BVerfG zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes im Rahmen von § 120 I StPO. Es ist gerade nicht ausreichend, das Verfahren so zu gestalten, dass die Ermittlungen innerhalb von sechs Monaten beendet werden können, um die besondere Haftprüfung durch das OLG gemäß §§ 121, 122 StPO mit dem Ergebnis der Haftbefehlsaufhebung zu vermeiden. Vielmehr haben die Ermittlungsbehörden darauf zu achten, dass Haftsachen unabhängig von dieser Sechsmonatsfrist mit geeigneten Maßnahmen gefördert werden. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot kann daher bereits auch dann vorliegen, wenn in einer Haftsache, die beispielsweise nach drei Monaten anklagereif ist, erst nach fünf Monaten Anklage erhoben wird.175 bb) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes während der Hauptverhandlung Für diesen Verfahrensabschnitt lassen sich ebenfalls recht wenige veröffentlichte Entscheidungen176 finden. Besonders interessant ist die Entscheidung des KG vom 30.12.1999177, denn es handelt sich hier um einen Beschluss, durch den während des Hauptverfahrens die Haftfortdauer angeordnet wurde, obwohl eine nicht unerhebliche Verfahrensverzögerung zu konstatieren war. Folgender Sachverhalt lag dieser Entscheidung zugrunde: Die Hauptverhandlung hatte gegen die drei Angeklagten erst vier Monate nach dem Eingang der Anklage begonnen und wurde nach zehn Sitzungstagen gemäß § 229 I, II StPO einmal für zehn Tage und ein weiteres Mal für dreißig Tage unterbrochen. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Haftfortdauer befanden sich die Angeklagten elf Monate in Untersuchungshaft. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen befand das Gericht, dass diese Verzögerungen gegen den besonders in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatz verstoßen hatten. Allerdings führe dieser Verstoß noch nicht dazu, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei und die Haftbefehle aufgehoben werden müssten. Denn im Verhältnis zu den zu erwartenden Freiheitsstrafen und der Bedeutung der Angelegenheit (Einfuhr von 363,3 Gramm Kokain in Tateinheit mit bandenmäßigem

175 Vgl. Schlothauer/Weider, RN 837; vgl. auch EGMR, Shiskov ./. Russland, Urteil vom 9.1.2003, Nr. 38822/97, Ziff. 66. 176 Vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1992, 403; OLG Hamburg StV 1993, 375; KG StraFo 2000, 137; LG Dortmund StV 1989, 254; AG Frankfurt/Main StV 1994, 380. 177 StraFo 2000, 137.

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unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) falle die ungerechtfertigte Verfahrensverzögerung nicht entscheidend ins Gewicht. Eine Abwägung der Verfahrensverzögerung mit der zu erwartenden Freiheitsstrafe und der Bedeutung des Sache nimmt auch das OLG Hamburg in einer Entscheidung aus dem Jahre 1993178 vor. Allerdings stuft es die Verzögerung als einen massiven Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot ein, so dass eine weitere Fortdauer der Untersuchungshaft auch angesichts der – allerdings eher geringen – Bedeutung der Sache (versuchter Taschendiebstahl) und der gleichwohl zu erwartenden Freiheitsstrafe unverhältnismäßig geworden wäre. Diese beiden Entscheidungen erscheinen vor dem Hintergrund des genauen Wortlauts des § 120 I StPO und der strafgerichtlichen Rechtsprechung über die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes im Rahmen von § 120 StPO konsequent. Das Ausmaß der Verzögerung und die zu erwartende Strafe wurden in diesen Entscheidungen als Aspekte von primär gleicher Bedeutung in die Abwägung einbezogen; je nach den Umständen des Einzelfalls kann aber der eine Aspekt den anderen überwiegen. Das KG befand, dass die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe trotz des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot für die Aufrechterhaltung der Haft allein entscheidend waren, während diese beiden Gesichtspunkte gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung bei der Entscheidung des OLG Hamburg kaum von Bedeutung waren. Ob das Ergebnis der kammergerichtlichen Entscheidung auch den konventionsrechtlichen Wertungen standhält, ist allerdings zu bezweifeln. Dass die Straferwartung und die Bedeutung der Sache im Einzelfall allein ausschlaggebend für die Entscheidung über die Haftfortdauer sein können, ist, wie sich noch zeigen wird, mit der Judikatur des EGMR zu Art. 5 III Satz 2 EMRK wohl kaum in Einklang zu bringen. Die anderen aus dem Stadium der Hauptverhandlung veröffentlichten Entscheidungen heben den Haftbefehl wegen Verletzung des Bescheunigungsgrundsatzes auf, jedoch ohne – entgegen dem Wortlaut des § 120 I StPO – auf die Bedeutung der Sache oder der zu erwartenden Strafe einzugehen.179 Für die Beurteilung, ob der Beschleunigungsgrundsatz von den Behörden auch eingehalten worden ist, wurden die in § 121 I StPO vertypten Maßstäbe herangezogen, wobei allerdings nicht auf die dazu ergangene oberlandesgerichtliche Rechtsprechung und auf die Grundsätze des BVerfG zum Beschleunigungsgebot 178

StV 1993, 375. Vgl. AG Frankfurt a. M. StV 1994, 380: Aufhebung des Haftbefehls, da ein weiteres Zuwarten bis zur Erstellung eines Gutachtens über die vom Angeschuldigten in die BRD eingeführte Substanz gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen würde; LG Dortmund StV 1989, 254; Außervollzugsetzung des Haftbefehls, da ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dadurch erfolgte, dass die StA dem Verteidiger keine umfassende Einsicht in das verfahrensrelevante Aktenmaterial ermöglicht hatte, so dass dies während der Hauptverhandlung nachgeholt werden musste. 179

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in Haftsachen hingewiesen wurde. Ferner wurde § 120 I StPO in der Begründung dieser Beschlüsse nicht ausdrücklich als Rechtsgrundlage benannt.180 cc) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes nach Verurteilung Zu diesem Verfahrensabschnitt wurden zahlreiche Entscheidungen181 veröffentlicht. Auffällig viele Gerichte ordneten hier die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft an, weil die Verfahrensverzögerungen gegenüber der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe als weniger gravierend eingestuft wurden,182 während nur einige andere Strafgerichte die zu erwartende Strafe bei der Beurteilung der Angemessenheit nicht erwähnten.183 Eine ausführliche Abwägung des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung mit der im Urteil ausgesprochenen Freiheitsstrafe und der Bedeutung der Tat nahm zum Beispiel das OLG Düsseldorf in einem Beschluss aus dem Jahre 1999184 vor. Es hatte zwar eine Verzögerung des Verfahrens von viereinhalb Monaten festgestellt, die infolge einer fehlerhaften Zustellung des Berufungsurteils an den Verteidiger eingetreten war, wobei diesem ein gewisses Mitverschulden anzulasten war. Das Gericht zog jedoch in Betracht, dass der Inhaftierte erstinstanzlich wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Deshalb erachtete das Gericht die Verzögerung als nicht so massiv, als dass die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig geworden wäre. Allen Beschlüssen ist indessen gemeinsam, dass sie ausdrücklich § 120 I StPO als Grundlage für ihre Entscheidung angeführt und bei der Beurteilung 180 Da im Beschluss des LG Dortmund in StV 1989, 254 der Haftbefehl lediglich außer Vollzug gesetzt wurde, wäre die Heranziehung des § 120 I StPO auch nicht zutreffend gewesen. 181 z. B. HansOLG Hamburg JR 1983, 259; KG StV 1985, 67; OLG Köln MDR 1992, 694; OLG Oldenburg StV 1992, 481; OLG Düsseldorf StV 1996, 552 u. NStZRR 2000, 250; LG Bremen StV 1992, 523; LG Gera NJW 1996, 2586; LG Berlin StV 2002, 608. 182 Vgl. OLG Köln MDR 1992, 694, 695: angesichts der zu erwartenden Freiheitsstrafe (13 Jahre für die verbotene Einfuhr von über 16 kg Heroin) wiegt eine Verzögerung des Verfahrens von einem Jahr weniger schwer; OLG Düsseldorf StV 1996, 552: Verzögerungen bei Zustellung des schriftlichen Urteils, bei Revisionsbegründung und Aktenversendung an den GBA sind gegenüber der zu erwartenden Strafe von acht Jahren weniger gewichtig; LG Gera NJW 1996, 2586: eine bevorzugte Terminierung vorausgesetzt, ist eine mehrmonatige Verzögerung im Revisionsverfahren gegenüber einer zu erwartenden lebenslangen Freiheitsstrafe geringer zu gewichten. 183 Vgl. HansOLG Hamburg JR 1983, 259; KG StV 1985, 67; LG Bremen StV 1992, 523; LG Berlin, StV 2002, 608. 184 NStZ-RR 2000, 250.

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der Verfahrensverzögerung die Maßstäbe des § 121 I StPO herangezogen haben, wenn auch eine ausdrückliche Bezugnahme auf diese Vorschrift und der dazu ergangenen Rechtsprechung nur sehr selten erfolgt ist. dd) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen Auch wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, kann allein schon die Existenz eines Haftbefehls für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen. Werden ihm gemäß § 116 StPO Aufenthaltsbeschränkungen und Meldepflichten auferlegt, kann sich dadurch eine gravierende Beschränkung seiner Freiheitsrechte ergeben. Aufgrund dieser Auswirkungen muss das Verfahren auch dann beschleunigt bearbeitet werden, wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird. Auch der Fortbestand eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls kann unverhältnismäßig werden, wenn erhebliche, sachlich ungerechtfertigte Verzögerungen, die von dem Beschuldigten nicht zu vertreten waren, vorliegen.185 Zu dieser Verfahrenskonstellation lassen sich viele veröffentlichte Beschlüsse finden, die aufgrund eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz die Aufhebung des Haftbefehls gemäß § 120 I StPO veranlassen.186 Für die Beurteilung der Verzögerung ziehen die Gerichte auch bei nicht vollzogenen Haftbefehlen die Maßstäbe des § 121 I StPO heran und beziehen sich häufig auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen, sowie auf die strafgerichtliche Rechtsprechung zu § 120 I StPO, die in der Regel unverändert auf die Fälle des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls übertragen werden. Nur selten wird an das Ausmaß der zur Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls führenden Verfahrensverzögerung höhere Anforderungen als bei vollzogenen Haftbefehlen gestellt.187 So hat zum Beispiel das LG Frankfurt/Oder in einem Beschluss aus dem Jahre 2002188 ausdrücklich geringere Anforderungen an die Einhaltung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots gestellt, jedoch ohne dies näher zu begründen. Allerdings wirkte sich der weniger strenge Maßstab in dieser Entscheidung nicht aus, denn das Gericht hob den Haftbefehl angesichts der vom Angeschuldigten nicht zu vertretenden erheblichen Verfahrensverzögerungen sowie der Nichtab185 KG StV 2003, 627 m. w. N.; s. auch BVerfG StV 2003, 30; BVerfGE 53, 152, 159 ff. 186 Vgl. z. B. OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 29; KG StV 2003, 627; StV 1991, 473 u. StV 1989, 68; HansOLG Hamburg StV 1985, 66; LG Frankfurt/Oder StV 2003, 31; LG Frankfurt/Main StV 1989, 486; LG Hamburg StV 1985, 20. 187 Vgl. LG Frankfurt/Oder StV 2003, 31; das KG erwähnt in StV 2003, 627 dies lediglich, ohne darüber zu entscheiden; vgl. auch Schlothauer/Weider, RN 833. 188 StV 2003, 31.

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sehbarkeit der Durchführung der Hauptverhandlung trotzdem auf. Der Umstand, dass der Angeschuldigte auch durch den außer Vollzug gesetzten Haftbefehl erheblich in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt war, ließ den Fortbestand des Haftbefehls unverhältnismäßig erscheinen. Auffällig selten werden in den Entscheidungen, die zu einer Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls führen, die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe bei Überprüfung der Verhältnismäßigkeit erwähnt; eine Abwägung der Verfahrensverzögerung gegen diese beiden Belange findet in den erwähnten Beschlüssen überhaupt nicht statt.189 Angesichts des Wortlauts des § 120 I StPO und der strafgerichtlichen Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgebots im Anwendungsbereich des § 120 I StPO ist dies nicht nachvollziehbar. Zumindest in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium hätte die zu erwartende Strafe in die Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit des Fortbestands des Haftbefehls mit einfließen müssen. ee) Die Rechtsprechung zur Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bei Überhaft Für die nachlässige Förderung von Strafverfahren, bei denen Überhaft notiert ist, erscheint der Sachverhalt, welcher der Entscheidung des OLG München aus dem Jahre 2002190 zugrunde lag, besonders charakteristisch. Die Staatsanwaltschaft erhob in diesem Fall gegen den in anderer Sache in Strafhaft befindlichen Beschuldigten Anklage, die sechs Wochen später vom zuständigen Gericht zur Hauptverhandlung zugelassen wurde; die erste mündliche Verhandlung sollte allerdings erst über elf Monate später stattfinden. Mehrere Monate vor Beginn der Hauptverhandlung endete jedoch die Strafhaft des Angeklagten, so dass Untersuchungshaft wegen der Taten, die Gegenstand der bevorstehenden Hauptverhandlung waren, angeordnet wurde. Das OLG München hob den Haftbefehl wegen Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz auf und betonte, dass für die späte Terminierung der Hauptverhandlung kein Anlass bestanden hätte; der Sachverhalt sei einfach gewesen. Hätte das erkennende Gericht verhandelt, solange sich der Angeklagte in Strafhaft befand, hätte es eines Haftbe189 HansOLG Hamburg StV 1985, 66: zehnmonatige Verzögerung infolge Überlastung des Gerichts; KG StV 1989, 68: neunmonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen verzögerter Rückgabe der Akten durch den Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses; LG Frankfurt/Main StV 1989, 486: eine achtmonatige Verzögerung infolge der Aussetzung der Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit und weitere noch bevorstehende Verzögerungen genügen für die Aufhebung des Haftbefehls; LG Frankfurt/Oder StV 2003, 31: eine einjährige Verzögerung infolge Überlastung des Gerichts und der Nichtabsehbarkeit der Durchführung der Hauptverhandlung genügt für die Haftbefehlsaufhebung, auch wenn im Falle der Außervollzugsetzung an das Beschleunigungsgebot weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind. 190 StV 2002, 555.

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fehls überhaupt nicht mehr bedurft. Die Inhaftierung des Beschuldigten sei deshalb länger als für die Verfahrenssicherung unbedingt erforderlich aufrechterhalten worden. Zu der Problematik des Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bei Überhaft wurden auffällig viele Entscheidungen veröffentlicht, in denen die Aufhebung des mit einem Überhaftvermerk versehenden Haftbefehl gemäß § 120 I StPO angeordnet wurde.191 Sämtlichen Beschlüssen liegt die ständige oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zu § 120 I StPO sowie die Grundsätze des BVerfG zu der Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen zugrunde, die unverändert auf die Fälle der Überhaft übertragen wurden. Nur das OLG Düsseldorf192 und das OLG Stuttgart193 stellten an die Beachtung des Beschleunigungsgebots im Falle der Überhaft weniger strenge Anforderungen, allerdings ohne diese Einschränkung näher zu begründen. Das OLG Düsseldorf hatte deswegen noch eine hinzunehmende Verfahrensverzögerung festgestellt und den Haftbefehl nicht aufgehoben. Für die Beurteilung der Verzögerung griffen die Gerichte auch im Fall der Überhaft auf die Maßstäbe des § 121 I StPO zurück, ohne diese Vorschrift explizit zu erwähnen. Ferner waren die Rechtsprechung des BVerfG zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen sowie die strafgerichtliche Rechtsprechung zu § 120 I StPO für die meisten Beschlüsse von Bedeutung. Die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache spielten indessen keine entscheidende Rolle und fanden in den meisten Beschlüssen keine Erwähnung, obwohl der Wortlaut des § 120 I StPO und die dazu ergangene Rechtsprechung dies zumindest in einem späten Verfahrensstadium nahegelegt hätten. d) Fazit Die deutsche Strafrechtsprechung zu § 120 StPO zieht die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe bei der Beurteilung der Angemessenheit der vollzogenen Untersuchungshaft in einem frühen Verfahrensstadium nie heran, wohingegen in späteren Stadien, nach Eröffnung der Hauptverhandlung und vor allem nach einer erstinstanzlichen Verurteilung, die Abwägung der Verfahrensverzögerungen gegen die Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe öfters vorgenommen wird. In dem auf die Verurteilung folgenden Verfahrensab-

191 Vgl. z. B. OLG München StV 2002, 555; KG StV 2002, 554; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Oldenburg StV 2001, 520; HansOLG Bremen StraFo 2000, 107; OLG Brandenburg, StV 1999, 161; HansOLG Hamburg StV 1996, 495; OLG Düsseldorf StV 1991, 474; OLG Stuttgart StV 1990, 213; OLG Hamm StV 1986, 441; LG Krefeld StV 2003, 516; vgl auch BVerfG StV 2003, 30. 192 StV 1991, 474. 193 StV 1990, 213, allerdings nur gemäß des gerichtlichen Leitsatzes.

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schnitt führt die Abwägung häufiger als in früheren Verfahrensstadien dazu, dass die Untersuchungshaft weiter vollzogen werden kann. Dieses Ergebnis ist konsequent. Zu Beginn des Strafverfahrens ist die Prognose über die zu erwartende Strafe recht schwierig, denn sie erfolgt auf Grundlage des bisher von den Ermittlungsbehörden zusammengetragenen Aktenmaterials. In einem frühen Verfahrensstadium ist diese Grundlage aufgrund von wenig gesicherten Ermittlungsergebnissen für die Entscheidung über die Haftfortdauer noch wenig aussagekräftig. Nach der Eröffnung der Hauptverhandlung und erst recht nach einem erstinstanzlichen Urteil ist die Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer bereits gefestigt und konkret; die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe hat die Unschuldsvermutung wesentlich erschüttert, so dass sie eine genauere Prognose über die zu erwartende Strafe zuläßt. Dementsprechend kann die Fortdauer der Untersuchungshaft von der zu erwartenden Strafe mit abhängig gemacht werden. Bei Haftbefehlen, die außer Vollzug gesetzt sind oder wegen Überhaft nicht vollzogen werden können, kommt der Bedeutung der Sache und der Straferwartung bei der Beurteilung, ob die Aufrechterhaltung des Haftbefehls noch angemessen ist, kaum Bedeutung zu. Eine Differenzierung nach Verfahrensstadien, wie sie in der gerichtlichen Praxis im Zusammenhang mit vollzogenen Haftbefehlen zu beobachten ist, kann nicht festgestellt werden, obgleich dies durchaus angebracht wäre. Gründe, weshalb eine Berücksichtigung des Verfahrensstadiums unterblieben ist, sind nicht ersichtlich. Diese Feststellungen gelten allerdings unter dem Vorbehalt der Veröffentlichungspraxis der verschiedenen Periodika194 und anderer Fundstellen195. Denn meist werden die strafgerichtlichen Entscheidungen nur auszugsweise mit kurzen Zusammenfassungen der zugrunde liegenden Sachverhalte veröffentlicht. Ferner ist zu beachten, dass nur Entscheidungen, die für die Zielgruppe der Veröffentlichung interessant sind, veröffentlicht wurden, so dass Umfang und Anzahl der veröffentlichten Entscheidungen für die deutsche Strafrechtsprechung zu § 120 I StPO nicht repräsentativ sein können. 4. Zusammenfassung Nach den Grundsätzen des BVerfG beruht das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auf Art. 2 II Satz 2 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen 194

Dies sind vor allem StV, NStZ, NStZ-RR und StraFo. Juris und homepages verschiedener deutscher Strafgerichte wie z. B. www.justiz. bayern.de. 195

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Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Kommt es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so steht dies der Haftfortdauer entgegen, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt die Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe. § 121 I und § 120 I StPO tragen dieser verfassungsrechtlichen Lage Rechnung. Nach der strafgerichtlichen Entscheidungspraxis muss im Anwendungsbereich des § 120 I StPO der Haftbefehl wegen Unverhältnismäßigkeit aufgehoben werden, wenn eine erhebliche Verfahrensverzögerung vorliegt, deren Ausmaß gegenüber der zu erwartenden Freiheitsstrafe und der Bedeutung der Sache größeres Gewicht besitzt. Überwiegen die Straferwartung und die Bedeutung der Sache im Einzelfall, ist die Fortdauer der Untersuchungshaft verhältnismäßig; der Haftbefehl kann dann weiter fortbestehen. In frühen Verfahrensstadien und bei Haftbefehlen, die außer Vollzug gesetzt sind oder wegen Überhaft nicht vollzogen werden, wird dies allerdings sehr selten von den Strafgericht praktiziert, wohingegen nach einer erstinstanzlichen Verurteilung die Fortdauer der Untersuchungshaft häufiger angeordnet wird. Wurde die Untersuchungshaft in einer Strafsache sechs Monate vollzogen, ohne dass das Verfahren durch eine erstinstanzliche Verurteilung beendet werden konnte, muss der Haftbefehl gemäß § 121 I StPO – unabhängig von der zu erwartenden Strafe und der Bedeutung der Sache – aufgehoben werden, wenn eine erhebliche, sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung eingetreten ist, die vom Beschuldigten nicht zu vertreten ist. III. Art. 5 III Satz 2 EMRK und die deutsche Strafrechtsprechung Nachdem in den beiden vorherigen Abschnitten das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach Konventionsrecht und nach deutschem Recht ausführlich dargestellt wurde, erfolgt nun im folgenden Abschnitt eine Gegenüberstellung beider Sichtweisen. Es soll dabei ermittelt werden, ob zwischen der Regelung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nach deutschem Recht und Art. 5 III Satz 2 EMRK Differenzen bestehen, die zu einer Beeinflussung der deutschen Strafrechtsprechung durch das Konventionsrecht geführt haben. Dazu werden einzelne veröffentlichte Entscheidungen deutscher Strafgerichte untersucht und deren Argumentation im Hinblick auf die Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK und der Straßburger Rechtsprechung auf das Entscheidungsergebnis überprüft. 1. Vergleich der deutschen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des EGMR Das konventionsrechtliche Beschleunigungsgebot unterscheidet sich gegenüber dem deutschen Recht zunächst dadurch, dass es in Art. 5 III Satz 2 und

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Art. 6 I EMRK ausdrücklich angesprochen und präziser formuliert ist als im deutschen Recht, welches den Beschleunigungsgrundsatz dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, entnimmt.196 Art. 5 III Satz 2 EMRK regelt zusätzlich das in Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot, das gegenüber Art. 6 I EMRK strengere Voraussetzungen an die Einhaltung des Beschleunigungsgebots stellt. Die Regelung in Art. 5 III Satz 2 EMRK sieht dann als Rechtsfolge ausdrücklich die Entlassung des Betroffenen aus der Haft vor. a) Unterschiede im Geltungsbereich des Art. 5 III Satz 2 EMRK und der §§ 120, 121 StPO Die strengen Maßstäbe des Art. 5 III Satz 2 EMRK für die Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer gelten bis zum Erlass eines erstinstanzlichen Urteils. Während den ersten sechs Monaten der Untersuchungshaft gilt er ebenso wie für den Zeitraum ab sechs Monaten sowie während der Hauptverhandlung. Sobald ein erstes Urteil ergeht, endet der Anwendungsbereich von Art. 5 III Satz 2 EMRK; ab diesem Zeitpunkt gelten dann die weniger strengen Anforderungen des Art. 6 I EMRK.197 Ferner ist Art. 5 III Satz 2 EMRK auf Fälle der Überhaft anwendbar.198 Die Grundsätze des Beschleunigungsgebots in Haftsachen werden vom BVerfG vor allem auf die Untersuchungshaft, die bereits sechs Monate gedauert hat, angewendet, aber gleichermaßen auf die Untersuchungshaft in den ersten sechs Monaten, auf den Zeitraum ab Verurteilung, sowie auf außer Vollzug gesetzte Haftbefehle und Haftbefehle mit Überhaftvermerk übertragen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Grundsätze in den §§ 120, 121 f. StPO konkretisiert. Die Aufhebung eines Haftbefehls kann in den ersten sechs Monaten der Untersuchungshaft und während der Hauptverhandlung nur gemäß § 120 I StPO erfolgen; § 121 StPO gilt hier nicht. Nach Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft müssen dann die besonderen Vorschriften für die Haftfortdauer von § 121 I StPO herangezogen werden; diese Vorschrift gilt jedoch nur bis zum Erlass eines erstinstanzlichen Urteils. Für den Zeitraum, der auf die Verurteilung folgt, ist dann wiederum § 120 I StPO einschlägig. Für die Aufhebung von Haftbefehlen, die außer Vollzug gesetzt sind oder wegen Überhaft nicht vollzogen werden können, ist allein § 120 I StPO heranzuziehen. Art. 5 III Satz 2 EMRK ist hingegen nur für die Beurteilung der Dauer der Überhaft einschlägig;199 für die Überprüfung der Verfahrensdauer bei 196 197 198

Vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 414; Roxin, § 16 RN 3 ff. s. oben Teil 3, A. I. 2. a). s. oben Teil 3, A. I. 2. c).

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen ist Art. 6 I EMRK anzuwenden. Ist die Außervollzugsetzung gemäß § 116 StPO mit Auflagen verbunden, liegt allenfalls eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 2 ZP Nr. 4 vor, die nicht im Schutzbereich des Art. 5 EMRK liegt.200 § 120 I StPO und Art. 5 III Satz 2 EMRK gelten also für die Beurteilung der Untersuchungshaft in den ersten sechs Monaten, während der Hauptverhandlung und im Falle der Überhaft. § 121 I StPO und Art. 5 III Satz 2 EMRK sind für die Beurteilung der Untersuchungshaft von über sechsmonatiger Dauer einschlägig. § 120 I StPO und Art. 6 I EMRK gelten für die Beurteilung der Untersuchungshaft nach Verurteilung bis zur Rechtskraft sowie bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen. Die Anwendungsbereiche von Art. 5 III Satz 2 EMRK und §§ 120, 121 f. StPO decken sich also nicht. b) Unterschiede bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer Die Grundsätze, welche das BVerfG zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen in ständiger Rechtsprechung aufgestellt hat und die der Straßburger Judikatur zu Art. 5 III Satz 2 EMRK unterscheiden sich nicht. Die Haftdauer ist unverhältnismäßig bzw. unangemessen lang, wenn keine Umstände mehr ersichtlich sind, die dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung gegenüber dem Recht auf persönliche Freiheit des Beschuldigten höheres Gewicht verleihen. Sowohl das BVerfG als auch der EGMR ziehen aus dieser Abwägung die Konsequenz, dass die Rechtmäßigkeitsanforderungen an die Untersuchungshaft mit zunehmender Dauer der Inhaftierung immer höher werden und damit der Haftdauer unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt. Seitens der Strafverfolgungsbehörden erfordert dies besondere Maßnahmen zur effektiven Verfahrensförderung und zur Vermeidung unsachgemäßer Verzögerungen. Ein Vergleich der deutschen Strafrechtsprechung zu § 121 I StPO und der Straßburger Judikatur zur Art. 5 III Satz 2 EMRK ergibt, dass im Hinblick auf die Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes bei Untersuchungshaft ab sechs Monaten Dauer ebenfalls keine Unterschiede inhaltlicher Art bestehen. Beide Judikaturen stellen an die Fortdauer der Haft mit zunehmendem Zeitablauf immer höhere Anforderungen an die Validität des Tatverdachts und der Haftgründe sowie an die Art und Weise der behördlichen Verfahrensbearbeitung. Bei besonders komplexen und umfangreichen Verfahren darf die Untersu199 200

s. oben Teil 3, A. 2. c). Vgl. Peters, S. 92; Frowein/Peukert, Art. 5 RN 12 f.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

chungshaft insoweit länger dauern, als den Strafverfolgungsbehörden keine vorhersehbaren Organisations- und Planungsmängel vorzuwerfen sind. Zwar ist der Betroffene nicht dazu verpflichtet, aktiv bei der Aufklärung des Falles mitzuwirken. Jedoch muss er sich Verzögerungen, die auf sein unkooperatives Verhalten zurückzuführen sind, zurechnen lassen. Zwischen Art. 5 III Satz 2 EMRK und § 120 I StPO kann indessen ein inhaltlicher Unterschied festgestellt werden. Für die Beurteilung, ob die weitere Aufrechterhaltung eines Haftbefehls noch verhältnismäßig ist, muss gemäß § 120 I StPO eine Gesamtabwägung durchgeführt werden. Dazu ist das Ausmaß des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot insbesondere mit der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe abzuwägen. Im Gegensatz zu den Grundsätzen der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 5 III Satz 2 EMRK ist es deshalb möglich, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot angeordnet wird, weil die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe bei der Abwägung im Einzelfall gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung höher zu gewichten sind. Allerdings hat die deutsche Strafrechtsprechung zu § 120 I StPO diesen Unterschied faktisch weitgehend ausgeglichen. Es kommt in der Praxis höchst selten vor, dass der Haftbefehl in den ersten sechs Monaten der Untersuchungshaft, während der Hauptverhandlung und bei Überhaft trotz einer erheblichen Verfahrensverzögerung weiter vollzogen wird, weil die Bedeutung des Sache und die zu erwartende Strafe einer Aufhebung entgegenstehen. Vielmehr wird die Verfahrensverzögerung im jeweiligen Einzelfall zumeist als so erheblich erachtet, dass die zu erwartende Freiheitsstrafe bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Haftfortdauer keine Rolle mehr spielt.201 Diese Praxis entspricht den Vorgaben des Art. 5 III Satz 2 EMRK. Entscheidungen deutscher Strafgerichte aus dem Zeitraum bis zur erstinstanzlichen Verurteilung, wie beispielsweise die des KG aus dem Jahre 1999202, die trotz festgestellten Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot die Untersuchungshaft aufrechterhalten, weil die zu erwartende Freiheitsstrafe nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer führt, widersprechen folglich Art. 5 III Satz 2 EMRK und sind damit konventionswidrig. Während des Zeitraums, der auf die erste Verurteilung des Inhaftierten folgt, haben die deutschen Strafgerichte indessen häufig entschieden, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz erheblicher Verfahrensverzögerung noch verhältnismäßig ist, weil die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache eine weitere Inhaftierung rechtfertigen.203 Diese ab erstinstanzlicher Verurteilung zu beobachtende Zäsur entspricht den konventions201

s. oben Teil 3, A. II. 3. c) aa), bb), ee). StraFo 2000, 137. 203 Vgl. OLG Köln MDR 1992, 694, 695; OLG Düsseldorf StV 1996, 552; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2000, 250; LG Gera NJW 1996, 2586. 202

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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rechtlichen Vorgaben. Denn die strengen Anforderungen an die Einhaltung des Beschleunigungsgebots gemäß Art. 5 III Satz 2 EMRK sind auch ab diesem Zeitpunkt nicht mehr anwendbar; vielmehr ist für Beurteilung der Untersuchungshaftdauer der weniger strenge Maßstab des Art. 6 I EMRK anzulegen. c) Stellungnahme und Bewertung Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG, die nicht in Widerspruch zu den Grundsätzen des EGMR zu Art. 5 III Satz 2 EMRK steht, ist die strafverfahrensrechtliche Konkretisierung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen durch §§ 120, 121 f. StPO mißglückt. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte insbesondere § 121 I StPO die Garantie des Art. 5 III Satz 2 EMRK umsetzen. Die von § 121 I StPO in Anlehnung an die Vorgaben der Konvention vorgeschriebenen besonderen Voraussetzungen für eine Haftdauer gelten allerdings erst ab sechsmonatigem Untersuchungshaftvollzug. Es ist fraglich, ob es dem gesetzgeberischen Willen wirklich entsprechen sollte, dass der in Art. 5 III Satz 2 EMRK begründete Anspruch, innerhalb angemessener Frist abgeurteilt zu werden, erst ab sechs Monaten Untersuchungshaft gelten soll. Dies wäre nämlich konventionswidrig und würde für eine vollständige Umsetzung der Vorgaben des Art. 5 III Satz 2 EMRK nicht ausreichen. Offenbar hat dies auch die deutsche Strafrechtsprechung und Literatur erkannt und befunden, dass dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen auch im Geltungsbereich von § 120 I StPO im Rahmen einer Gesamtabwägung Beachtung geschenkt werden muss. Allerdings behindert hier der Wortlaut des § 120 I Satz 1 StPO die exakte Beachtung des Art. 5 III Satz 2 EMRK und zwingt die Strafgerichte dazu, die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe mit dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung in Verhältnis zu setzen. Der dadurch entstehende Unterschied zwischen der Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes im Rahmen von § 120 I StPO und § 121 I StPO führt zu einer qualitativen Abstufung zwischen diesen beiden Vorschriften mit einer Zäsur nach sechsmonatigem Untersuchungshaftvollzug. Dies entspricht aber nicht den konventionsrechtlichen Vorgaben.204 Hiernach gilt Art. 5 III Satz 2 EMRK unabhängig von der Dauer der Untersuchungshaft bis zu einer erstinstanzlichen Verurteilung des Inhaftierten. Ab Verurteilung ist Art. 6 I EMRK einschlägig. Diese Zäsur ist indes auch sinnvoll und wird vom EGMR mit gutem Grund gesetzt: Das erstinstanzliche Urteil bietet für die Beurteilung der Tatschwere und der Rechtsfolgenprognose eine sehr viel dichtere und sicherere Grundlage. In dem Verfahrensabschnitt bis zur Verurteilung erfolgt die Prognose hingegen nur 204 A. A. jedoch Kleinknecht/Janischowski, RN 240, der die Abstufung zwischen § 120 I und § 121 I StPO als bewußte Anpassung an Art. 5 III Satz 2 und Art. 6 I EMRK ansieht; vgl. auch Kühl, ZStW 100 (1988), 611; Schmidt, NJW 1968, 2209.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

anhand der Aktenlage und dem flüchtigen und oberflächlichen Eindruck des Haftrichters. Hinzu kommt, dass die Unschuldsvermutung durch eine Verurteilung bereits eine wesentliche Erschütterung erfahren hat. Diese Gründe treffen jedoch auf die Abstufung bei der Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes, wie sie durch §§ 120, 121 StPO vorgegeben wird, nicht zu. Bei konsequenter Beachtung der Grundsätze des EMGR müsste deshalb für die Beachtung des Beschleunigungsgebots bei vollzogener Untersuchungshaft und Überhaft gelten: Bei einem erheblichen, vom Beschuldigten nicht zu vertretenden und sachlich nicht zu rechtfertigenden Verstoß im Verfahrensabschnitt bis zum erstinstanzlichen Urteil muss die Untersuchungshaft zumindest außer Vollzug gesetzt werden, ohne die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache in Betracht zu ziehen. Ab Verurteilung kann ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz mit der Dauer der Freiheitsstrafe, die im Urteil vorgesehen ist, in Verhältnis gesetzt werden. Nur dies entspricht den Vorgaben aus Art. 5 III Satz 2 und Art. 6 I EMRK. 2. Entscheidungen, die auf Art. 5 III Satz 2 EMRK Bezug nehmen a) Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich des § 121 I StPO Trotz der im vorherigen Abschnitt festgestellten inhaltlichen Übereinstimmung zwischen § 121 I StPO und Art. 5 III Satz 2 EMRK zitieren einige Oberlandesgerichte in Entscheidungen anlässlich des besonderen Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO hin und wieder Art. 5 III Satz 2 EMRK.205 Im Folgenden sollen deshalb einige dieser Entscheidungen beispielhaft dargestellt werden, um Aufschluss darüber zu geben, wie und weshalb die Konvention von der deutschen Strafrechtsprechung herangezogen wird und welche Konsequenzen die Bezugnahme für die jeweilige Entscheidung hatte. aa) Entscheidungen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 121 StPO In einer Entscheidung des OLG Saarbrücken aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 121 in die StPO im Jahre 1965206 wurde der Haftbefehl nach einem Jahr und neun Monaten auf Grundlage des Art. 5 III Satz 2 EMRK aufgehoben,

205 Veröffentlichte Entscheidungen: HansOLG Bremen NJW 1960, 1265, 1266; NJW 1960, 2260; Yb ECHR 5 (1962), 358; OLG Saarbrücken NJW 1961, 377; LG Köln NJW 1964, 1816; HansOLG Bremen NJW 1965, 2361; OLG Oldenburg NJW 1972, 1585; OLG Koblenz NStZ 1982, 343; OLG Hamm NStZ 1985, 425; OLG Celle NStZ 1991, 248; OLG Frankfurt/Main StV 1988, 68; OLG Düsseldorf StV 1990, 168. 206 StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. I, 1067.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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da die Dauer der Untersuchungshaft im konkreten Fall mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht mehr vereinbar war. Sinn des Art. 5 III Satz 2 EMRK sei, „daß Eingriffe in das Grundrecht der persönlichen Freiheit nur insoweit zulässig sind, als sie aus Gründen höherer und übergeordneter Rechtsgüter, hier also aus Gründen der staatlichen Strafverfolgung, unbedingt erforderlich sind. Die Organe der Strafrechtspflege müssen ihre Maßnahmen so durchführen, daß zwar der Zweck der Strafverfolgung erreicht wird, das Grundrecht der Freiheit aber möglichst wenig angetastet wird. Das gilt vor allem für den zeitlichen Ablauf. Die Freiheitsentziehung aus Gründen der Untersuchung soll möglichst kurz bemessen sein. Sie soll nicht länger dauern, als die wohlverstandenen Zwecke der Strafverfolgung das erfordern. Damit ergibt sich die Frist, innerhalb deren die Aburteilung erfolgt sein muß oder der Verhaftete freizulassen ist, von selbst. Objektiver Maßstab für die Angemessenheit ist allein die Schwierigkeit der Aufklärung und die Schwierigkeit der Durchführung des Verfahrens.“207

Da im konkreten Fall ein Verfahrensstillstand von fast zweieinhalb Monaten zu konstatieren war und die Aufklärung und Durchführung des Verfahrens sich als nicht besonders schwierig erwiesen hatte, war die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt und deswegen unangemessen. Insbesondere wurden Maßnahmen, die das Verfahren beschleunigt hätten, wie beispielsweise die Abtrennung verhandlungsreifer Verfahrensteile, unterlassen. bb) Entscheidungen ab Inkrafttreten des § 121 StPO In der im gleichen Jahr des Inkrafttretens von § 121 StPO ergangenen Entscheidung des HansOLG Bremen208 stützte sich das Gericht für die Aufhebung des Haftbefehls nach sechsmonatiger Untersuchungshaft zunächst auf den damals neuen § 121 I StPO. Für die Bestimmung der Maßstäbe zur Auslegung der Ausnahmetatbestände des § 121 I StPO griff das Oberlandesgericht auf die Entstehungsgeschichte und den Normzweck dieser Vorschrift zurück. Der sich aus Art. 5 III Satz 2 EMRK ergebende Anspruch des Beschuldigten auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist solle durch § 121 I StPO gesichert werden. Um diesen Anspruch zu sichern, müsse bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „anderer wichtiger Grund“ ein strenger Maßstab angelegt werden. Schwierigkeiten bei der Besetzung der Strafkammer wegen Krankheit und Urlaub wie im konkreten Fall können deshalb nicht als wichtige Gründe für die Haftfortdauer angesehen werden. Durch eine Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahre 1989 wurde der Haftbefehl nach sechs Monaten Untersuchungshaft wegen Überlastung der zuständigen Strafkammer aufgehoben; der Beginn der Hauptverhandlung war zum 207 OLG Saarbrücken NJW 1961, 377; vgl. auch LG Köln NJW 1964, 1816, 1817; OLG Bremen NJW 1960, 1265, 1266. 208 HansOLG Bremen NJW 1965, 2361.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht absehbar. Art. 5 III Satz 2 EMRK wird auch hier im Zusammenhang mit der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „anderen wichtiger Grund“ für die Verlängerung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus genannt. Das Gericht führt hierzu aus, dass ein solcher wichtiger Grund „ein derartiges Gewicht besitzen [muß], daß es gerechtfertigt ist, den Freiheitsanspruch und das Beschleunigungsinteresse des Beschuldigten unter Berücksichtigung von Art. 5 III Satz 2 EMRK hinter unabweisbare Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung zurücktreten zu lassen.“209

Da die Überlastung der zuständigen Strafkammer nicht nur vorübergehend war und gerichtsorganisatorische Maßnahmen zur Gegensteuerung unterblieben sind, konnte dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung im konkreten Fall kein großes Gewicht gegenüber dem Freiheitsanspruch und dem Beschleunigungsinteresse des Beschuldigten zukommen. In einer Entscheidung des OLG Celle aus dem Jahre 1991 galt es zu klären, inwieweit die Zeit, welche der Beschuldigte gemäß § 126a StPO in Unterbringung verbracht hatte, bevor er wegen derselben Tat in Untersuchungshaft genommen wurde, bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist nach § 121 I StPO zu berücksichtigen war. Das Gericht war der Ansicht, dass die Unterbringungs- und Untersuchungshaftdauer zusammengerechnet werden müssen. Dies ergebe sich aus dem Zweck der besonderen Haftprüfung. Diese gewährleiste die Beachtung des aus Art. 2 III Satz 2 GG resultierenden und in Art. 5 III Satz 2 EMRK konkretisierten Beschleunigungsgebots. Der sich daraus ergebende Grundsatz, dass Haftsachen besonders beschleunigt zu bearbeiten sind, damit der Schwebezustand des Freiheitsentzugs ohne rechtskräftiges Urteil in angemessener Zeit beendet werde, gelte für die einstweilige Unterbringung und die Untersuchungshaft gleichermaßen. Deshalb müsse der nach § 126a StPO aufgrund derselben Tat angeordnete Freiheitsentzug bei der Errechnung der Sechsmonatsgrenze des § 121 I StPO mit einbezogen werden. Da § 121 StPO auf die einstweilige Unterbringung gemäß § 126a II StPO nicht anwendbar ist, griff das Oberlandesgericht zu recht auf die Garantie des Art. 5 III Satz 2 EMRK zurück, um die Berücksichtigung der Unterbringungsdauer bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist zu begründen. Denn auch der Untergebrachte solle eine Aburteilung innerhalb angemessener Frist beanspruchen können.210, 211

209

OLG Düsseldorf, StV 1990, 168. OLG Celle NStZ 1991, 248. 211 Hier hätte das Gericht auch Art. 5 III Satz 2 EMRK unmittelbar anwenden sowie auf die Entscheidung des EGMR im Fall Herczegfalvy gegen Österreich vom 24.9.1992, EuGRZ 1992, 535, 536, Ziff. 62 ff. hinweisen können; s. dazu oben Teil 3, A. I. 2. b). 210

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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Eine vergleichbare Problematik bildete auch den Gegenstand einer Entscheidung des OLG Frankfurt/Main212 aus dem Jahre 1987. Hier ging es um die Frage, inwieweit eine in Unterbrechung der Untersuchungshaft vollzogene Ersatzfreiheitsstrafe, die nachträglich als unzulässig erklärt wurde, auf die Untersuchungshaft angerechnet werden kann. Auch in diesem Fall zog das Gericht als Argument dafür, dass eine Anrechnung zulässig sei, Art. 5 III Satz 2 EMRK als Ursprungsnorm des § 121 I StPO heran. Aus dem Zweck des § 121 I StPO, dem in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten einen Anspruch auf beschleunigte Aburteilung einzuräumen, schloss das Gericht, dass die Anerkennung von Verwahrungszeiten, die nicht zur Anrechnung auf die Sechsmonatsfrist gelangen, restriktiv zu handhaben sei. Deshalb müsse der Zeitraum, in welchem eine unzulässige Ersatzfreiheitsstrafe vollzogen wurde, bei der Fristberechnung mit einbezogen werden. b) Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich des § 120 I StPO Wie bereits oben213 festgestellt werden konnte, bestehen Unterschiede zwischen Art. 5 III Satz 2 EMRK und § 120 I StPO sowohl in deren Geltungsbereich, als auch in inhaltlicher Hinsicht. Diese Unterschiede wurden durch die Praxis der Strafgerichte faktisch ausgeglichen. Interessant ist nun zu untersuchen, welchen Beitrag Art. 5 III Satz 2 EMRK dazu geleistet hat. Deshalb soll im folgenden Abschnitt untersucht werden, ob und wenn ja, wie Art. 5 III Satz 2 EMRK von der deutschen Rechtsprechung im Anwendungsbereich von § 120 I StPO herangezogen worden ist. aa) Entscheidungen aus den ersten sechs Monaten des Untersuchungshaftvollzugs Von den wenigen veröffentlichten Entscheidungen deutscher Strafgerichte214 zu diesem Verfahrensabschnitt erwähnt keine Art. 5 III Satz 2 EMRK. Die Gerichte haben aber in allen Entscheidungen den Haftbefehl ohne Rücksicht auf die zu erwartende Strafe aufgehoben, weil eine erhebliche, sachlich ungerechtfertigte Verfahrensverzögerung eingetreten war. Diese wurde anhand der Maßstäbe von § 121 I StPO beurteilt, jedoch ohne ausdrücklichen Hinweis auf diese Vorschrift. Die Grundlage für die Haftbefehlsaufhebung wurde in den – meist recht knappen – Entscheidungen ebenfalls nicht explizit genannt. Nach deut-

212

OLG Frankfurt/Main StV 1988, 68. Teil 3 A. III. 1. 214 OLG Köln StV 1994, 584; AG Frankfurt StV 1994, 380; AG Essen StV 1997, 142; AG Wuppertal StV 1998, 555. 213

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

schem Recht war § 120 I StPO einschlägig; noch klarer wäre aber ein Hinweis auf Art. 5 III Satz 2 EMRK gewesen. bb) Die Untersuchungshaft während der strafrechtlichen Hauptverhandlung Unter der geringen Zahl der zu diesem Verfahrensstadium veröffentlichten Entscheidungen215 erwähnen lediglich zwei216 Art. 5 III Satz 2 EMRK. Im Beschluss des KG vom 30.12.1999 wird Art. 5 III Satz 2 EMRK neben Art. 2 II Satz 2 EMRK folgendermaßen zitiert: „Eine Aufhebung der Haftbefehle und die Freilassung der Angeklagten käme nur in Betracht, wenn das sich aus Art. 2 II Satz 2 GG und Art. 5 III Satz 2 EMRK ergebende Beschleunigungsgebot217 in einem Maße verletzt wäre, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit218 nicht mehr gewahrt ist.“219

Es folgt dann die Untersuchung, ob im konkreten Fall ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen vorliegt. Der Verweis auf die Konventionsgarantie diente hier nur zur Herleitung und Bekräftigung des Beschleunigungsgebots und erfolgte nur gemeinsam mit anderen innerstaatlichen Grundlagen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen. In der Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahre 1992 stand indessen nicht die gerichtliche Beurteilung von Verfahrensverzögerungen im Mittelpunkt; vielmehr bedurfte der Klärung, ob die oberlandesgerichtliche Prüfungskompetenz gemäß §§ 121, 122 StPO auch nach Beginn der Hauptverhandlung besteht. Im vorliegenden Fall hatte das BVerfG die oberlandesgerichtliche Haftfortdauerentscheidung aufgehoben und zu neuer Entscheidung zurückverwiesen. Zwischenzeitlich war das Hauptverfahren eröffnet und ein erster Verhandlungstermin festgelegt worden. Das Gericht befand, dass Sinn und Zweck des oberlandesgerichtlichen Haftprüfungsverfahrens sei, den Anspruch des Verhafteten aus Art. 5 III Satz 2 EMRK auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist zu gewährleisten. Nach Beginn der Hauptverhandlung bestünde für die Sicherung dieses Anspruchs keinerlei Anlass mehr, denn ab diesem Zeitpunkt sei gesichert, dass innerhalb eines absehbaren Zeitraums ein Urteil gegen den Ange215 Vgl. z. B. OLG Düsseldorf NStZ 1992, 403; OLG Hamburg StV 1993, 375; KG StraFo 2000, 137; LG Dortmund StV 1989, 254; AG Frankfurt/Main StV 1994, 380. 216 KG StraFo 2000, 137; OLG Düsseldorf NStZ 1992, 403. 217 Hier verweist das KG auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen in StV 1992, 121, 122; 1991, 307; sowie auf Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 121 RN 1. 218 Hier wird auf KG StV 1992, 532, 524, einem Beschluss, der die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gem. §§ 121, 122 StPO zum Gegenstand hatte, verwiesen. 219 KG StraFo 2000, 137, ausführlich oben in Teil 3 A. II. 2. c) bb) dargestellt.

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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klagten ergehen werde. Dem Beschleunigungsgebot sei mit Beginn der Hauptverhandlung Rechnung getragen, so dass es der oberlandesgerichtlichen Haftprüfung nicht mehr bedürfe.220 Die Bezugnahme auf Art. 5 III Satz 2 EMRK erfolgte in dieser Entscheidung, ebenso wie bei den Entscheidungen aus dem Geltungsbereich des § 121 StPO221, zur Ermittlung von Sinn und Zweck des besonderen Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO. cc) Die Rechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft In den zahlreichen Entscheidungen, die diese Verfahrenskonstellation betreffen, wurde auffällig oft auf Art. 5 III Satz 2 EMRK hingewiesen. So stellte beispielsweise das HansOLG Bremen im Jahre 1999 fest, dass eine Verfahrensverzögerung von über sechs Monaten gegen das besonders in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot verstößt. An dieser Stelle verwies das Gericht zur Herleitung und Bekräftigung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf Art. 5 III Satz 2 EMRK und Art. 2 II Satz 2 GG sowie auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Im konkreten Fall war dem Angeschuldigten die Anklageschrift erst nach vier Monaten in übersetzter Form zugestellt worden; der Beginn der Hauptverhandlung war noch nicht absehbar. Das Oberlandesgericht war der Ansicht, dass die Sachbehandlung durch das zuständige Gericht eine Förderung des Verfahrens nicht habe erkennen lassen und gegen den Grundsatz verstoße, dass jeder auf Grund eines Haftbefehls festgenommene Beschuldigte Anspruch auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist oder auf Haftentlassung hat. Hier zitiert das Gericht zur Bekräftigung seines Entscheidungsergebnisses wieder Art. 5 III Satz 2 EMRK und zusätzlich Art. 6 I EMRK.222 Auch in den meisten anderen Entscheidungen wurde auf Art. 5 III Satz 2 EMRK hingewiesen, um den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen herzuleiten.223 Art. 2 II Satz 2 GG wurde dabei immer mitzitiert; häufig wird auch Art. 6 I EMRK für die Herleitung des Beschleunigungsgebots mit herangezogen.224 Einige Gerichte kommen aber auch gänzlich ohne Konventionszitat aus.225 Vermutlich besteht bei den Gerichten im Falle der Überhaft große Un220

NStZ 1992, 402 m. Anm. Keller, NStZ 1992, 604. s. oben Teil 3 III. 2. a) bb). 222 HansOLG Bremen StraFo 2000, 107. 223 Vgl. OLG Brandenburg StV 1999, 161; KG StV 2002, 554; LG Krefeld StV 2003, 516 224 Vgl. z. B. HansOLG Bremen StraFo 2000, 107; OLG Brandenburg StV 1999, 161; KG StV 1986, 22; OLG München, StV 2002, 555, zitiert indes nur Art. 6 I EMRK. 221

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

sicherheit bezüglich des Geltungsbereichs von Art. 5 III Satz 2 EMRK. Inhaltliche Auswirkungen hat diese unterschiedliche Praxis allerdings nicht, denn sämtlichen Beschlüssen liegen die ständige oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zu § 121 StPO sowie die Grundsätze des BVerfG zu der Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen zugrunde. Manche strafgerichtliche Entscheidungen ziehen Art. 5 III Satz 2 EMRK auch dazu heran, um das Ergebnis ihrer Entscheidung mit der Formulierung des Art. 5 III Satz 2 EMRK zu vergleichen und die gefundene Lösung zu bekräftigen.226 3. Die Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung Wie aus dem vorangegangen Abschnitt hervorgeht, wurde in einigen strafgerichtlichen Entscheidungen auf Art. 5 III Satz 2 EMRK Bezug genommen. Diese Bezugnahmen hatten verschiedene Funktionen und waren für das Entscheidungsergebnis von unterschiedlicher Bedeutung. a) Art. 5 III Satz 2 EMRK als Rechtsgrundlage In den Beschlüssen aus dem Zeitraum vor Inkrafttreten der §§ 121, 122 StPO im Jahre 1965 wurde Art. 5 III Satz 2 EMRK von den Gerichten als Grundlage für die Aufhebung eines unangemessen lang vollzogenen Haftbefehls herangezogen.227 Dazu war erforderlich, den unbestimmten Rechtsbegriff „angemessene Frist“ auszulegen. Da es Anfang der sechziger Jahre noch keine ergiebige Rechtsprechung der Konventionsorgane zu Art. 5 III Satz 2 EMRK gab,228 wurde von den Gerichten die angemessene Frist mit Hilfe des Freiheitsrechts 225 Vgl. OLG Karlsruhe StV 2002, 317, das den Beschleunigungsgrundsatz nur aus Art. 2 II Satz 2 GG und den Grundsätzen des BVerfG ableitet; HansOLG Hamburg StV 1996, 495, das lediglich auf die ständige OLG-Rechtsprechung und die Literatur verweist; KG StV 1992, 523, das auf die BVerfG-Grundsätze zum Beschleunigungsgebot und auf die OLG-Rechtsprechung bei Überhaft Bezug nimmt. 226 Vgl. KG StV 1986, 22; OLG Brandenburg StV 1999, 161; HansOLG Bremen StraFo 2000, 107. 227 OLG Saarbrücken NJW 1960, 377; HansOLG Bremen NJW 1960, 1265; LG Köln NJW 1964, 1816. 228 Die erste EGMR-Entscheidung zu Art. 5 III EMRK erging am 1.7.1961 im Fall Lawless gegen Irland), Nr. 332/57, Serie 3; die Angemessenheit der Frist i. S. v. Art. 5 III Satz 2 EMRK stand jedoch in dieser Entscheidung nicht in Frage. Erst in einer der ältesten in der HUDOC veröffentlichte Zulässigkeitsentscheidungen der EKMR zu Art. 5 III Satz 2 EMRK vom 19.12.1961 (X. ./. Deutschland), Nr. 920/60, CD 8, 46– 49, werden erste Kriterien zur Bemessung der angemessenen Frist i. S. v. Art. 5 III Satz 2 EMRK aufgestellt; die weitere Judikatur der EKMR bis 1964 ist wenig ergiebig, vgl. z. B. EKMR X ./. Deutschland, Entscheidung vom 10.3.1962, Nr. 945/60,

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bestimmt, welche als tragende Prinzipien des Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert sind. Vor allem in der Entscheidung des OLG Saarbrücken229 wird deutlich, dass die anhand dieser Verfassungsprinzipien aufgestellten Maßstäbe zur Bemessung der angemessenen Haftdauer bereits der heute herrschenden ständigen Rechtsprechung des BVerfG zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen entsprechen, welche sich ebenfalls auf das Recht auf Freiheit und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützt. Für die Bewertung der Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung hat dies folgende Konsequenzen: Zwar wurde die Konventionsgarantie für die Aufhebung eines Haftbefehls von der deutschen Strafrechtsprechung unmittelbar angewendet. Da diese Konventionsvorschrift tragende Verfassungsprinzipien konkretisiert und eine Rechtsfolge für den Fall der Verletzung dieser Verfassungsprinzipien im Zusammenhang mit der Dauer von Untersuchungshaft vorsieht, während das deutsche Recht einer solchen präzisen Formulierung entbehrt,230 war letztlich nicht die Anwendung des Art. 5 III Satz 2 EMRK selbst für das Entscheidungsergebnis relevant, sondern die sich dahinter verbergenden Verfassungsprinzipien. Inhaltlich hatte die unmittelbare Anwendung des Art. 5 III Satz 2 EMRK mithin keinerlei Auswirkung auf das Ergebnis von Entscheidungen deutscher Strafgerichte vor 1965. b) Art. 5 III Satz 2 EMRK als Auslegungshilfe für § 121 StPO Der deutsche Gesetzgeber nahm Art. 5 III Satz 2 EMRK zum Anlass, durch das StPÄG von 1964 die Regelung des § 121 in die StPO einzufügen. Durch die grundsätzliche Beschränkung der Untersuchungshaft auf sechs Monate und der eng eingegrenzten Verlängerungsmöglichkeiten sollte dem Anspruch des Beschuldigten, innerhalb angemessener Frist abgeurteilt zu werden, genüge getan werden.231 Art. 5 III Satz 2 EMRK wurde auf diese Weise durch den Gesetzgeber „spiegelbildlich“232 in nationales Recht umgesetzt; die Konventionsgarantie musste ab sofort nicht mehr unmittelbar zur Aufhebung eines Haftbefehls, der sechs Monate lang vollzogen wurde, angewendet werden. Für die deutsche Strafrechtsprechung lag es deshalb nahe, Art. 5 III Satz 2 EMRK mittelbar zur historisch-teleologischen Auslegung des § 121 StPO anzuwenden.

CD 8, 98, 105; X ./. Belgien, Entscheidung vom 12.3.1963, Nr. 1103/61, CD 8, 112, 127. 229 NJW 1960, 377, s. Teil 3 A. III. 2. a) aa). 230 Vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 414. 231 BT-Drucks. 4/178, S. 25. 232 Zur dieser Terminologie vgl. Uerpmann, S. 57; Verdross/Simma § 585 lit. c.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Genau dies ist in den oben233 dargestellten Entscheidungen geschehen: Zur Ermittlung von Sinn und Zweck des § 121 StPO wurde von den deutschen Strafgerichten gelegentlich auf die Konventionsgarantie zurückgegriffen. Hauptsächlich geschah dies zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „anderer wichtiger Grund“ und der damit verbundenen Inhaltsbestimmung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen.234 Aber auch für die Lösung von Problemen, die bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist auftreten, wurde für die Bestimmung von Sinn und Zweck der Regelung des § 121 StPO die Konventionsgarantie herangezogen.235 Allerdings war dies nur in einigen wenigen Entscheidungen der Fall. Sehr viel mehr Gerichte verzichteten in diesem Zusammenhang, auf Art. 5 III Satz 2 EMRK Bezug zu nehmen;236 im letzten Jahrzehnt lassen sich sogar überhaupt keine veröffentlichten Entscheidungen von Gerichten mehr finden, die sich des Art. 5 III Satz 2 EMRK zur Bestimmung des Zwecks von § 121 I StPO bedienen. Diese Entscheidungen beruhten vielmehr auf der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen sowie auf der mittlerweile sehr umfangreichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 121 StPO. Vergleicht man nun – soweit die Umstände des Einzelfalls dies zulassen – die Ergebnisse der Entscheidungen, die Art. 5 III Satz 2 EMRK zitieren, mit den Ergebnissen der Entscheidungen ohne Konventionszitat, sowie die jeweiligen Grundsätze, die zum Entscheidungsergebnis geführt haben, so ergeben sich keinerlei Unterschiede. Bezugnahmen auf Art. 5 III Satz 2 EMRK besitzen in Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus keine Ergebnisrelevanz und stellen daher nur „internationale Verzierungen“237 des Entscheidungsergebnisses dar.

233

Teil 3 A. III. 2. a) bb). So in den Entscheidungen des HansOLG Bremen NJW 1965, 2361; OLG Celle StV 1985, 331; OLG Düsseldorf StV 1990, 168. 235 Zur Einbeziehung von Verwahrungszeiten außerhalb der Untersuchungshaft vgl. OLG Celle NStZ 1991, 248; OLG Frankfurt/Main StV 1988, 68; OLG Oldenburg NJW 1972, 1585; zur Berechung der Sechsmonatsfrist, wenn wegen eines Teils der den Gegenstand von zwei Haftbefehlen bildenden Taten bereits ein Urteil ergangen ist s. OLG Koblenz NStZ 1982, 343; OLG Hamm NStZ 1985, 425. 236 Z. B. BGH StV 1991, 475; OLG Schleswig StV 1985, 115; OLG Frankfurt/ Main StV 1986, 22; OLG Köln StV 1992, 524 f.; OLG Nürnberg, Beschluss vom, 15.10.2001 in: www.justiz.bayern.de/olgn; ThürOLG StV 2002, 555; OLG Koblenz StraFO 2003, 92 f.; OLG Düsseldorf StV 2003, 172; zur Anrechnung von Unterbringung nach § 126b oder § 81 StPO auf die sechs Monatsfrist vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1987, 475 m. w. N.; OLG Dresden NStZ-RR 2002, 60; zur Berechnung der Frist des § 121 StPO vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2002, 382 m. w. N. 237 Vgl. Hilf, S. 22. 234

A. Der Beschleunigungsgrundsatz

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c) Art. 5 III Satz 2 EMRK zur Herleitung und Begründung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen Genauso sind die Konventionszitate im Zusammenhang mit der Herleitung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen zu bewerten. Indes wird hier die Konvention nicht einmal mittelbar zu Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen. Vielmehr wird Art. 5 III Satz 2 EMRK lediglich ganz allgemein im Rahmen einer Aufzählung verschiedener Grundlagen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen erwähnt. Dabei kommt der Konventionsnorm nur geringe Bedeutung zu, denn sie wird nur als eine dem internationalen Recht entnommene, neben vielen anderen aus dem nationalen Recht und der nationalen Rechtsprechung stammende Grundlage genannt. Für das Entscheidungsergebnis war eine solche Bezugnahme auf die Konvention eine „internationale Verzierung“238 ohne inhaltliche Relevanz. Gleiches gilt für die nachträgliche Bezugnahme auf die Konvention, die nur dazu dient, das jeweilige Entscheidungsergebnis zu bekräftigen. d) Fazit Die Bezugnahmen der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen auf Art. 5 III Satz 2 EMRK blieben allesamt ohne inhaltliche Auswirkungen; Bezugnahmen auf einzelne Entscheidungen des EGMR oder der EKMR lassen sich überhaupt keine finden. Vielmehr griff die deutsche Strafrechtsprechung hauptsächlich auf die Grundsätze des BVerfG und auf den umfangreichen Fundus oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung zurück. 4. Gründe für die unterbliebene Auswirkung Als möglicher Grund für die fehlende inhaltliche Auswirkung der Konventionsgarantie auf die deutsche Strafrechtsprechung zu §§ 120, 121 StPO kann die parallele Entwicklung der Judikaturen des Bundesverfassungsgerichts, der deutschen Strafgerichte und des EGMR sowie der EKMR zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen gelten. Diese Entwicklung findet ihren Ausgangspunkt nicht erst in der Umsetzung des Art. 5 III Satz 2 EMRK in § 121 StPO. Da sich das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auch aus den Verfassungsprinzipien des Freiheitsgrundrechts, Art. 2 II Satz 2 GG, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Unschuldsvermutung ergibt,239 gilt der Beschleunigungsgrundsatz seinem Inhalt nach bereits seit Inkrafttreten des GG im Jahre 1949. Konkretisiert, jedoch nicht inhaltlich geändert, wurde der Grundsatz dann durch 238 239

Vgl. Hilf, S. 22. Vgl. BVerfG StV 2000, 322, 323; BVerfGE 46, 194, 195 m. w. N.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

den für die Bundesrepublik Deutschland seit 1953 gültigen Art. 5 III Satz 2 EMRK, der das Beschleunigungsgebot in Haftsachen präziser als im GG als materiell-staatsrechtlichen Anspruch des inhaftierten Beschuldigten gegen den Staat formuliert und konkrete Rechtsfolgen für den Fall eines Verstoßes vorsieht.240 Allerdings fehlten Anweisungen an die nationalen Staatsanwaltschaften und Gerichte, durch welche prozessualen Maßnahmen dieser Anspruch realisiert werden sollte, um eine hinreichend sichere und gleichmäßige Rechtspraxis zu gewährleisten.241 Dieser Mangel sollte dann durch die Einführung der §§ 121, 122 StPO wettgemacht werden, ohne jedoch inhaltlich an der Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen etwas zu ändern. Für die Entwicklung der deutschen Strafrechtsprechung hatte dies zur Folge, dass sich lediglich die Rechtsgrundlage für die Aufhebung eines Haftbefehls, der über sechs Monate hinaus vollzogen wurde, geändert hatte, nicht jedoch deren inhaltliche Voraussetzungen. Ein weiterer möglicher Grund für die unterbliebene Auswirkung des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung kann darin bestehen, dass die deutschen Strafgerichte zu einer Beurteilung der Verfahrensverzögerung im Geltungsbereich des § 120 StPO die vom Gesetzgeber in § 121 I StPO vertypten Maßstäbe herangezogen haben, anstatt die inhaltlich gleichen Maßstäbe des Art. 5 III Satz 2 EMRK anzuwenden. Die nationale Ausgestaltung der Kriterien für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer in § 121 I StPO hat daher die konventionsrechtlichen Maßstäbe für diese Beurteilung verdrängt. Auch wenn die Übertragung der Maßstäbe des § 121 I StPO auf den Geltungsbereich des § 120 I StPO inhaltlich nicht zu kritisieren ist, bringt dies jedoch unnötige Komplikationen mit sich, die durch den eindeutigen Wortlaut des § 121 I StPO hervorgerufen werden. Klarer und einfacher wäre es gewesen, § 120 I StPO konventionskonform auszulegen, ohne den Umweg über § 121 I StPO zu wählen. IV. Ergebnis Art. 5 III Satz 2 EMRK und die Straßburger Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen hatten bisher keine Auswirkung auf die deutsche Strafrechtsprechung zu §§ 120, 121 StPO. Zwar konnten inhaltliche Unterschiede bei der Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer im Anwendungsbereich des § 120 I Satz 1 StPO festgestellt werden. Bei der Beurteilung, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft noch verhältnismäßig ist, müssen hier das Ausmaß der Verfahrensverzögerungen, die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe als primär gleichwertige Abwägungsbelange in die 240 241

Vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 414. Vgl. Schmidt, NJW 1968, 2209.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Gesamtabwägung einbezogen werden. Art. 5 III Satz 2 EMRK sieht hingegen vor, dass bei einer erheblichen, sachlich ungerechtfertigten und vom Inhaftierten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung der Haftbefehl unabhängig von der zu erwartenden Freiheitsstrafe aufgehoben werden muss. Da die Geltungsbereiche dieser beiden Vorschriften nicht deckungsgleich sind, führt dies dazu, dass die qualitative Abstufung zwischen § 120 I und § 121 I StPO mit einer Zäsur nach sechsmonatigem Untersuchungshaftvollzug konventionswidrig ist. Die deutsche Strafrechtsprechung gleicht zwar den inhaltlichen Unterschied zwischen § 120 I Satz 1 StPO und Art. 5 III Satz 2 EMRK wieder aus, so dass nur noch vereinzelte Entscheidungen deutscher Strafgerichte den konventionsrechtlichen Wertungen nicht standhalten. Der Ausgleich erfolgte jedoch auf komplizierte und rechtlich fragwürdige Weise: Zur Begründung einer Haftbefehlsaufhebung auf Grundlage von § 120 I StPO wurden die gesetzgeberischen Wertungen aus § 121 I StPO herangezogen, obgleich der eindeutige Wortlaut dieser Vorschrift dem entgegensteht. Sehr viel klarer und rechtlich einwandfrei wäre die Heranziehung des Art. 5 III Satz 2 EMRK, der für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft keine qualitative Zäsur nach sechs Monaten Untersuchungshaftvollzug vorsieht. Die deutschen Strafgerichte haben jedoch von dieser Option bisher keinen Gebrauch gemacht.

B. Das Recht auf Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren Das Akteneinsichtsrecht ist ein „Kernstück“ der Verteidigung.242 Befindet sich der Beschuldigte bereits während des Ermittlungsverfahrens in Untersuchungshaft, ist die Einsicht in die Ermittlungsakten besonders wichtig für die Prüfung, ob die Anordnung der Untersuchungshaft rechtmäßig erfolgt ist. Für die Vorbereitung einer wirksamen Verteidigung im Haftprüfungsverfahren benötigt der Beschuldigte oder sein Verteidiger Informationen darüber, welcher konkreten Tat er beschuldigt wird, auf welche Tatsachen die Annahme des dringenden Tatverdachts und eines Haftgrundes gestützt wird und mit Hilfe welcher Beweismittel es zu entsprechenden Sachverhaltsannahmen gekommen ist. Nur so kann er feststellen, ob die maßgeblichen Tatsachen zutreffend und vollständig ermittelt sind, nur so kann er Einwendungen gegen Zulässigkeit und Zuverlässigkeit der gegen ihn vorgebrachten Beweise erheben, und nur so kann er die vom Haftrichter gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen überprüfen.243 Dem Anspruch des Beschuldigten, umfassend über die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen informiert zu sein, steht das Interesse der Staatsanwaltschaft entgegen, die Ermittlungen effektiv und ohne unstatthafte Einwirkung auf das 242

LR-Lüderssen, 25. Aufl., § 147 RN 1; Dahs, RN 233. Vgl. BGHSt 37, 204, 205 f.; Schmitz, wistra 1993, 319; Dahs, RN 313; Schlothauer/Weider, RN 413 ff.; Münchhalffen/Gatzweiler, RN 24. 243

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Verfahren zu führen.244 Dies gilt insbesondere für Ermittlungsmaßnahmen, die zu ihrem Erfolg einen Überraschungseffekt erfordern. Dem Interesse einer effektiven Strafverfolgung entspricht es deshalb, Ermittlungen weitgehend geheim, vor allem unter Ausschluss des Beschuldigten und dessen Verteidiger durchzuführen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die Sachverhaltserforschung und Wahrheitsfindung von vornherein erheblichen Erschwernissen und Verdunkelungsmöglichkeiten ausgesetzt werden.245 In der Praxis der deutschen Strafverfolgungsbehörden wird dem Verteidiger deshalb bei allen gewichtigeren Verfahren, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, bei Straftaten der organisierten Kriminalität und bei Tötungsverbrechen regelmäßig die vollumfängliche Akteneinsicht bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens versagt. Die Begründungen dafür sind zumeist recht spärlich; in der Regel wird der Gesetzestext wiederholt; selten wird eine substantielle Begründung für die verweigerte Einsicht geliefert.246 Es kommt immer wieder vor, dass ein Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten für längere Zeit anhängig ist, ohne dass dieser die Möglichkeit hat, den dafür ausschlaggebenden Grund zu erfahren, um sich gegebenenfalls dazu zu äußern und dagegen zu verteidigen. Befindet sich der Beschuldigte vor Eröffnung des Hauptverfahrens in Untersuchungshaft, gewinnt in dieser Situation sein Interesse, Einsicht in die Ermittlungsakten zu erhalten, deutlich an Gewicht, denn die Untersuchungshaft bedeutet einen erheblichen Eingriff in elementare Freiheitsrechte, die durch Art. 2 II GG und Art. 104 GG besonderen Schutz genießen. Es ist deshalb für den Verteidiger und den Beschuldigten im Falle der vollzogenen Untersuchungshaft besonders wichtig, Kenntnis von dem der Inhaftierung zugrunde liegenden Sachverhalt zu erhalten. Es geraten daher zwei mit Verfassungsrang247 ausgestattete Rechtspositionen in Konflikt: Das für die Verteidigung des Beschuldigten essentielle Recht auf Akteneinsicht, das bei Inhaftierung des Beschuldigten hinzutretende Recht auf persönliche Freiheit und das staatlichen Interesse an einer funktionsfähigen Strafrechtspflege, einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung. Dieser Gegensatz tritt insbesondere im Stadium des Ermittlungsverfahrens zutage. Die Entscheidung, welcher Rechtsposition der Vorrang gebührt, wirkt sich unmittelbar auf den Umfang der dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger gewährten Akteneinsicht aus.

244 s. BVerfG StV 1994, 1; BVerfG StV 1994, 465; Beulke, Strafprozessrecht, RN 208; Deckers, NJW 1994, 2261; Schmitz, wistra 1993, 319. 245 Vgl. LR-Lüderssen, 25. Aufl., § 147 RN 133; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 RN 25; Schmitz, wistra 1993, 321. 246 Vgl. Zieger, StV 1993, 321. 247 Zum Verfassungsrang der Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung s. BVerfGE 80, 367, 375; vgl. auch Rieß, StraFo 2000, 364.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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I. Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren Art. 5 IV EMRK sieht vor: „Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“248

Art. 5 IV EMRK garantiert festgenommenen oder inhaftierten Personen das Recht auf eine effektive gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung insbesondere dadurch, dass dieses Haftprüfungsverfahren verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen genügen muss. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR muss es kontradiktorisch ausgestaltet sein, die Grundsätze des fair trial beachten und Waffengleichheit („equality of arms“/ „égalité des armes“) zwischen der Ermittlungsbehörde und der Verteidigung gewährleisten.249 Mit den Grundsätzen des fair trial und der Waffengleichheit zwischen den Verfahrensbeteiligten greift der EGMR auf die anglo-amerikanische Prozesstradition zurück, deren Erkennungsmerkmal eine grundsätzlich adversatorische, am Beibringungsgrundsatz und der Dispositionsmaxime orientierte Verfahrensgestaltung ist.250 Im Gegensatz zum kontinental-europäischen Strafverfahren mit inquisitorischer Prägung, zu dem auch das deutsche Strafverfahren als staatlich betriebenes Anklageverfahren mit gerichtlicher Amtsaufklärung gehört,251 können anglo-amerikanische Strafprozesse deshalb schlagwortartig als „Parteiprozess“ bezeichnet werden.252 Ankläger und Beschuldigter müssen als gleichwertige Parteien dem Gericht die erforderlichen Tatsachen und Beweismittel darlegen und schaffen auf diese Weise die für die Entscheidung notwendige Grundlage.253 Prozessbetrieb und Beweisaufnahme liegen in den Händen der 248 EMRK in der Fassung des Prot. Nr. 11 vom 11.5.1994 (Neubekanntmachung BGBl. 1998 II). 249 EGMR, De Wilde, Ooms, Versyp ./. Belgien, Urteil vom 18.6.1971, Serie A 12, Ziff. 78; Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283 f., Ziff. 29; Kampanis ./. Griechenland, Urteil vom 13.7.1995, Serie A 318-B, Ziff. 47; Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25.3.1999, EuGRZ 1999, 321, Ziff. 58; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2013, 2014, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2015, 2017; Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2018, 2019, Ziff. 39; s. auch oben, Teil 2, A. III. 3. b). 250 Vgl. Jung, Lüke-FS, S. 323; Walischewski, S. 20, Tettinger, S. 2 ff.; Müller, NJW 1976, 1063 ff. ders., Koch-FS, S. 192 f.; Herrmann, S. 134; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. F, RN 9; Roxin, § 17, RN 5; Ambos, NStZ 2003, 14; IntKomm-Miehsler/Vogler, Art. 6 RN 356; Trüg, S. 25. 251 Roxin, § 17, RN 5; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. F, RN 9, Müller, KochFS, S. 192 f. 252 Vgl. Jung, Lüke-FS, S. 323; Roxin, § 73, RN 4 ff.; Herrmann, S. 134.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Parteien. Der Ankläger hat den Beweis für die Richtigkeit seiner Anklage zu bringen, indem er die belastenden Umstände darlegt. Er ist jedoch nicht verpflichtet, von sich aus entlastende Umstände in das Verfahren einzubringen, da dies Aufgabe des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers ist. Allerdings müssen grundsätzlich die Beweise der „anderen Seite“ offengelegt werden, was durch umfassende „disclosure rules“254 gewährleistet wird.255 Diese Verfahrensausgestaltung kommt dem Verständnis des EGMR recht nahe. Zwar trifft die Konvention keine namentliche Grundentscheidung für oder gegen ein bestimmtes Rechtssystem.256 Dagegen spricht ihre bereits in der Präambel zum Ausdruck gebrachte allgemeine menschenrechtliche Orientierung und die allen Mitgliedstaaten gemeinsame Basis von politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Indem der EGMR aber für ein waffengleich ausgestaltetes Verfahren fordert, dass eine Partei den Fall unter Bedingungen präsentieren können muss, die sie in keine nachteilige Position gegenüber der anderen Partei bringt und dabei auf das äußere Erscheinungsbild des Verfahrens ebenso wie auf die erhöhte Sensibilität der Justiz für ein faires Verfahren Wert legt,257 ist seine größere Affinität zu adversatorischen Verfahrenstypen unverkennbar.258 Die Judikatur des Gerichtshofs hat, bei aller Zurückhaltung mit Grundsatzerklärungen, immer den Weg über die Stärkung von Mitwirkungs- und Gestaltungsrechten des in ein Strafverfahren verwickelten Bürgers eingeschlagen und damit den Weg, der dem kontradiktorischen Modell entspricht.259 Hinzu kommt, dass auf internationaler Ebene eine verstärkte

253 Sog. formelle Wahrheit, vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. RN 9; KK-Pfeifer, Einl. RN 2; LR-Schäfer, 24. Aufl., Einl. 6 RN 15. 254 s. dazu Dickson, S. 503 f. 255 Vgl. Ambos, NStZ 2003, 14; zu den Einzelheiten des anglo-amerikanischen Strafprozesses s. Trüg, S. 37 ff.; Schmid, §§ 6 ff.; Herrmann, S. 133 ff.; Frase, S. 35 ff.; es wird betont, dass auch der amerikanische Ankläger zu einer gewissen Objektivität verpflichtet ist. 256 Vgl. EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 166. 257 Vgl. EGMR, Borgers ./. Belgien, Urteil vom 30.10.1991, EuGRZ 1991, 519, Ziff. 33; Lanz ./. Österreich, Urteil vom 31.1. 2002, ÖJZ 2002, 433, Ziff. 57; Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 159: „. . . selon le principe de l’égalité des armes . . ., chaque partie doit se voir offrir la possibilité raisonnable de présenter sa cause dans des conditions qui ne la placent pas dans une situation de désavantage par rapport à son adversaire. Dans ce contexte, la Cour attribue une importance aux apparences autant qu’à la sensibilité accrue aux garanties d’une bonne justice.“ 258 Vgl. IntKomm-Vogler, Art. 6, RN 207; Jung, Lüke-FS, S. 333; Jung, GA 2003, 203; Schmid, § 1, 2.2.; Ambos, ZStW 115 (2003), 594; vgl. auch das abweichende Votum des maltesischen Richters M. Zekia anlässlich des EGMR-Entscheidung Wemhoff ./. Deutschland, Urteil vom 27.6.1968, DVBl. 1968, 968, 972 f. = JR 1968, 463. 259 Vgl. Jung, Lüke-FS, S. 333; Jung, GA 2003, 203; Ambos, ZStW 115 (2003), 592 ff.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Orientierung an diesem Modell stattfindet. Dies zeigen insbesondere die Verfahrensordnungen des Jugoslawiengerichtshofs (ICTY) und des neuen International Criminal Court, bei denen sich die adversatorische Verfahrensstruktur durchgesetzt hat.260 Vor diesem Hintergrund formulierte nun der EGMR die Anforderungen an das Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen. Der dabei zu beachtende Grundsatz der Waffengleichheit und der Anspruch auf ein faires Haftprüfungsverfahren bedeuten insbesondere, dass die Verteidigung im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens über sämtliche Informationen verfügen muss, die dafür erforderlich sind, die Rechtmäßigkeit der Haft wirksam angreifen zu können.261 Besonders deutlich – und mit einigen Konsequenzen für die deutsche Strafrechtspraxis – hat der EGMR dies für das Akteneinsichtsrecht hervorgehoben. 1. Die Urteile des EGMR in den Fällen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva Über die Akteneinsicht des Verteidigers eines in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten anlässlich der bevorstehenden gerichtlichen Haftprüfung hatte der EGMR erstmals im Jahre 1989 im Fall Lamy gegen Belgien zu entscheiden. Der Beschwerdeführer war in diesem Fall im Zusammenhang mit einem Konkursstrafverfahren von der belgischen Justiz in Untersuchungshaft genommen worden. Drei Tage nach seiner Festnahme wurde der Beschwerdeführer dem Haftrichter vorgeführt; nach sechs Monaten Haft wurde er vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Seine Rechtsmittel gegen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft während dieses Zeitraums hatten keinen Erfolg. In seiner Beschwerde vor dem EGMR trug er u. a. eine Verletzung des Art. 5 IV EMRK vor, da weder er noch sein Verteidiger während den ersten 30 Tagen seiner Haft Akteneinsicht erhalten hatten. Bei seiner ersten Vernehmung durch den Haftrichter hatte dieser lediglich die Beschuldigungen mündlich mitgeteilt und eine Kopie des Haftbefehls ausgehändigt. Die spätere Bestätigung der Haftanordnung erfolgte auf Grundlage eines Geständnisses des Beschwerdeführers sowie aufgrund zweier Polizeiberichte. Diese Schriftstücke lagen jedoch weder dem Beschwerdeführer, noch dessen Verteidiger vor; ihr Inhalt war dem Beschwerdeführer unbekannt.262

260 Vgl. Nrn. 66 ff. der Rules of Procedure an Evidence (RPE) des Jugoslawiengerichtshofs sowie Art. 61 (3), 67 (2) Statut und Nrn. 76 ff. RPE des neuen International Criminal Court; s. auch Ambos, NStZ 2003, 14; Jung, JuS 1998, 6. 261 Zu den weiteren Verfahrensgarantien, die im Verfahren nach Art. 5 IV EMRK immer gewährleistet sein müssen, s. oben Teil 2, A. III. 3. b). 262 EGMR, Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, Serie A 151, Ziff. 8–16, 27.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Die belgische Regierung rechtfertigte diese Praxis zunächst mit Praktikabilitätserwägungen: Die Akten würden vom Ermittlungsrichter laufend benötigt. Es sei deswegen unzumutbar und unpraktikabel, sie ständig insgesamt in Kopie für den Beschuldigten oder dessen Verteidiger bereitzuhalten. Die belgische Regierung wandte ferner ein, dass ein kontradiktorisches Verfahren nicht unbedingt erfordere, dem Beschuldigten oder dessen Verteidiger die gesamte Akte zur Verfügung zu stellen. Vielmehr sei aufgrund des inquisitorischen und geheimen Charakters des Ermittlungsverfahrens sowie zugunsten einer beschleunigten Bearbeitung des Falles gewisse Einschränkungen in Kauf zu nehmen.263 Nach der Auffassung von Kommission und Gerichtshof war jedoch wesentlich, dass der Verteidiger infolge der fehlenden Akteneinsicht insbesondere in der ersten Verhandlung über die Bestätigung der Haftanordnung keine wirkungsvollen Argumente gegen Feststellungen oder Auffassungen, welche die Staatsanwaltschaft aus dem Akteninhalt gewonnen hatte, vorbringen konnte. In dem Stadium des Verfahrens, in dem über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entschieden wird, ist jedoch der Zugang zu diesen Dokumenten von großer Wichtigkeit. Da der Ankläger mit der gesamten Akte vertraut war, bot das Verfahren dem Beklagten und dessen Verteidiger keine Gelegenheit, die Gründe, auf die sich die Untersuchungshaft stützte, in geeigneter Weise zu bekämpfen. Da das Verfahren die Waffengleichheit nicht sicherte, war es auch nicht kontradiktorisch und widersprach damit den Anforderungen des Art. 5 IV EMRK.264 Im Jahre 1999 hatte der Gerichtshof diese Rechtsprechung im Fall Nikolova bestätigt.265 Dementsprechend wurde die Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva im Februar 2001 verurteilt. Die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer befanden sich zur Zeit der gegen sie laufenden Ermittlungen in Untersuchungshaft und beantragten zusammen mit der Haftprüfung Akteneinsicht. Diese wurde jeweils mit dem Hinweis auf die Gefährdung des Untersuchungszwecks gemäß § 147 II StPO und die im Haftbefehl enthaltenen bzw. mündlich mitgeteilten Informationen vollständig oder teilweise versagt. Rechtsbehelfe dagegen hatten keinen Erfolg. Im Fall Lietzow stand der Verteidigung nur der Haftbefehl mit der üblichen Zusammenfassung der den Tatvorwürfen zugrunde liegenden Tatsachen und dem Hinweis auf die Beweismittel zur Verfügung; Akteneinsicht oder zumindest Kopien der Aussagen der beiden Hauptbelastungszeugen wurden verweigert.266 Im Fall Schöps, einem umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren, wurde der Verteidigung zunächst jegliche Akteneinsicht verweigert, dann allerdings ein Teil der Ermitt263

EGMR, Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283, 284, Ziff. 28. EGMR, Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283, 284, Ziff. 29. 265 Vgl. EGMR, Nikolova ./. Rumänien, Urteil vom 25.3.1999, EuGRZ 1999, 320 ff., Ziff. 58. 266 Vgl. EGMR, Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2001, 201 = NJW 2002, 2014, Ziff. 10 ff. 264

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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lungsakten zugänglich gemacht, nicht jedoch der zwischenzeitlich auf insgesamt 132 Bände angewachsene Aktenbestand. Vollumfängliche Akteneinsicht wurde erst nach Anklageerhebung erteilt.267 Im Fall Garcia Alva erhielt die Verteidigung teilweise Akteneinsicht, die Aussage des Hauptbelastungszeugen wurde ihr aber zunächst vollständig vorenthalten und erst nach mehr als vier Monaten Untersuchungshaft mit geschwärzten Passagen übergeben. Vollständige Akteneinsicht wurde erst nach einem weiteren Monat gewährt.268 In allen drei Fällen stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 5 IV EMRK fest. Er bestätigte zunächst die im Fall Lamy formulierten Anforderungen an das gerichtliche Haftprüfungsverfahren: „Das Gericht, das eine Haftbeschwerde prüft, muss die Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten. Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und Waffengleichheit zwischen den Beteiligten – der StA und der Person, der die Freiheit entzogen ist – gewährleisten. Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in den Ermittlungsakten versagt wird, die für eine wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandanten wesentlich sind. . . . Angesichts der schwer wiegenden Folgen einer Freiheitsentziehung für die Grundrechte des Betroffenen [müssen] die Grundanforderungen an ein faires Verfahren, wie zum Beispiel das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, grundsätzlich auch in Verfahren nach Art. 5 IV EMRK in einem unter den Umständen eines laufenden Ermittlungsverfahrens größtmöglichen Maß erfüllt sein . . .“269

Aus dieser Forderung resultiert ein Anspruch auf Offenlegung aller Tatsachen und Beweismittel gegenüber dem Beschuldigten, die auch den Ermittlungsbehörden bekannt sind, denn die Verfahrensbeteiligten müssen in dieser Situation zumindest in der Effektivität gleichwertige Befugnisse bei der Vertretung ihrer gegenläufigen Interessen haben. Dies ist jedoch dann nicht der Fall, wenn dem Verteidiger des Beschuldigten lediglich die zusammengefassten Informationen im Haftbefehl vorliegen und der Zugang zu den wesentlichen Teilen der Ermittlungsakte verweigert wird. Den Einwand der Bundesrepublik Deutschland, die Einschränkung der Akteneinsicht sei aus Gründen eines Informationsvorsprungs der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren für die effektive Strafverfolgung notwendig, erkannte der Gerichtshof ausdrücklich an. Allerdings darf dieses berechtigte Ziel nicht zu 267 Vgl. EGMR, Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2001, 203 = NJW 2002, 2017, Ziff. 11 ff. 268 Vgl. EGMR, Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2001, 205 = NJW 2002, 2019, Ziff. 13 ff. 269 EGMR, Lietzow ./. Deutschland, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Ziff. 39, in der nichtamtlichen Übersetzung des BMJ, NJW 2002, 2013 ff.; vgl. auch EGMR, Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 283 f., Ziff. 29; Nikolova ./. Bulgarien, Urteil vom 25.3.1999, EuGRZ 1999, 320, 321 = NJW 2000, 2883, 2885, Ziff. 58.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

erheblichen Einschränkungen wichtiger Rechte der Verteidigung führen.270 Er betont, dass ungeachtet des staatsanwaltlichen Geheimhaltungsinteresses „dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger hinreichend Gelegenheit gegeben [werden muss] . . ., Aussagen und andere ihr zugrunde liegenden Beweise zur Kenntnis zu nehmen, . . . gleichviel, ob der Beschuldigte oder sein Verteidiger in irgendeiner Weise darlegen kann, dass die Beweisstücke, von denen er Kenntnis haben möchte, für seine Verteidigung wesentlich sind.“271

Dies gilt auch für Aktenteile, die im Verlauf der Ermittlungen neu hinzu gekommen sind; ein erneuter Akteneinsichtsantrag ist dazu nicht mehr erforderlich.272 Der uninformiert gehaltene Beschuldigte darf deshalb nicht weiter in Haft gehalten werden, weil die vorenthaltenen Tatsachen und Beweise für das Haftprüfungsverfahren nicht verwertet werden dürfen. Es ist unklar, welche Folgerungen aus der Judikatur des EGMR zu ziehen sind. Zum einen wird vertreten, das Art. 5 IV EMRK einen Anspruch auf eine vollumfängliche Einsichtnahme in die Ermittlungsakten gewährt.273 Andere wiederum erkennen lediglich einen Anspruch auf diejenigen Aktenteile an, die für die Haftfrage wesentlich sind. Das Recht auf Information sei daher bei einer auf wesentliche Aktenteile beschränkten Aktenkenntnis regelmäßig gewährleistet; die Staatsanwaltschaft könne weiterhin im Interesse effektiver Ermittlungen Aktenteile geheimhalten. Einen allgemeinen Grundsatz, dass in einem kontradiktorischen Verfahren stets Einsicht in sämtliche Akten zu gewähren sei, könne sich aus den Urteilen des EGMR nicht entnehmen lassen.274 Diese Interpretation kann zwar insoweit zutreffen, als der Gerichtshof nur verlangt, dass das Haftprüfungsverfahren soweit wie möglich („the largest extent possible“/ „autant que possible“) kontradiktorisch ausgestaltet sein muss.275 Ferner hatte der EGMR in den einschlägigen Urteilen tatsächlich nicht ein vollumfängliches 270 EGMR, Lietzow ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2014, Ziff. 47, Garcia Alva ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2017, Ziff. 42. 271 EGMR, Lietzow ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2014, Ziff. 46, Schöps ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2017, Ziff. 45; Garcia Alva ./. BRD, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2019, Ziff. 41. 272 EGMR, Schöps ./. BRD, Urteil vom 13.2.1002, NJW 2002, 2017, Ziff. 52. 273 Vgl. Kempf, StV 2001, 206; ders. in Rieß-FS, S. 217; LR-Lüderssen, 25. Aufl. § 147 RN 160a; Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2004 f., Deckers, StV 2002, 319 f.; Kühne/Esser, StV 2002, 390 f.; Esser, S. 351 ff.; Ambos, ZStW 115 (2003), 601 f.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 296; bereits vor der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR: Samson, S. 331 f.; Zieger, StV 1993, 322 f. 274 Vgl. Trechsel, Druey-FS, S. 1005 f.; KMR-Wankel, vor § 112 RN 8; Lange, NStZ 2003, 348; KK-Laufhütte, § 147 RN 14; vgl. auch OLG Köln, NStZ 2002, 659; seit dem Lamy-Urteil bereits: Walischewski, StV 2001, 244 ff.; Nehm, Graßhof-FS, S. 240 ff. 275 Vgl. EGMR, Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2014, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2017, Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2019, Ziff. 39; vgl. auch Migon ./. Polen, Urteil vom 25.6.2002, Nr. 24244/94, Ziff. 79.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Akteneinsichtsrecht ausgesprochen, sondern die Akteneinsicht immer nur auf die Informationen bezogen, die für die Frage der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft wesentlich sind.276 Lediglich im Fall Schöps sprach der Gerichtshof eine Pflicht auf Gewährung von Einsicht in sämtliche Ermittlungsakten aus, da die besonderen Umstände des Einzelfalls – es handelte sich um umfangreiche und komplizierte Ermittlungen – für die effektive Anfechtung der Haft die Kenntnis der Akten in ihrem Zusammenhang erforderten; die vollumfängliche Akteneinsicht war deshalb nur ausnahmsweise für die Haftfrage wesentlich gewesen.277 Die Befürworter des Teilakteneinsichtsrechts im Haftprüfungsverfahren übersehen jedoch, dass ihre Interpretation das Problem mit sich bringt, wer darüber entscheiden soll, welche Aktenteile für die Haftfrage wesentlich sind und welche nicht.278 Im deutschen Strafverfahrensrecht sind dies Staatsanwaltschaft und Haftrichter, §§ 147 II, V, 161a III Satz 2–4 StPO. Bei den Aktenteilen, die der Beschuldigte oder sein Verteidiger vor der Durchführung des Haftprüfungsverfahrens dann erhält, handelt es sich deshalb um eine aus staatsanwaltschaftlicher oder richterlicher Sicht getroffene und damit deren Wertungen entsprechende Auswahl, die nicht unbedingt mit den Bedürfnissen der Verteidigung korrespondieren muss. Dies entspricht jedoch nicht den Grundsätzen der prozessualen Waffengleichheit, die nach der Rechtsprechung des EGMR für jedes Verfahren nach Art. 5 IV EMRK gilt. Der EGMR hat deshalb betont, dass es nicht ausreicht, wenn der Verteidiger auf die Bewertung durch die Staatsanwaltschaft oder den Haftrichter verwiesen wird, sondern dass ihm durch die Akteneinsicht Gelegenheit gegeben werden muss, selbst die Vollständigkeit und die Relevanz der Informationen zu beurteilen.279 Der Verteidiger hat deshalb Anspruch auf Akteneinsicht in vollem Umfang bereits vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens in Fällen, in denen sich der Beschuldigte in Haft befindet. Die Staatsanwaltschaft wird nicht mehr die Gefährdung des Untersuchungserfolgs gegen die Gewährung der Akteneinsicht einwenden können. Tut sie es doch, muss der Haftbefehl, der auf Tatsachen und Beweisen beruht, die dem Verteidiger und Beschuldigten unbekannt sind, aufgehoben werden. Es sind mithin 276 Vgl. EGMR, Lamy ./. Belgien, Urteil vom 30.3.1989, StV 1993, 284; Ziff. 29; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2014, Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2019, Ziff. 39; vgl. auch Nikolov ./. Bulgarien, Urteil vom 30.1.2003, Nr. 38884/97, Ziff. 97. 277 EGMR, Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, Nr. 25116/94, Ziff. 52. 278 s. Bohnert, GA 1995, 471 ff.; vgl. auch Samson, S. 531 f.; Kempf, Rieß-FS, S. 224; ders., StV 2001, 207; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 296; Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2003, 2004. 279 EGMR, Lietzow ./. BRD. Ziff. 46, Schöps ./. BRD, Ziff. 45; Garcia Alva ./. BRD, Ziff. 41; NJW 2002, 2013 ff.; vgl. auch Lanz ./. Österreich, Urteil vom 31.1.2002, ÖJZ 2002, 434, Ziff. 44; Migon ./. Polen, Urteil vom 25.6.2002, Nr. 24244/ 94, Ziff. 79; s. auch Samson, S. 531; Kempf, Rieß-FS, S. 224; Schünemann, ZStW 114 (2002), 40 f.; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 296.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

keine Fallkonstellationen mehr vorstellbar, in denen die Verteidigung nicht ihr Recht auf Akteneinsicht wirksam geltend machen können sollte, um die Voraussetzungen der gegen seinen Mandanten angeordneten Untersuchungshaft zu überprüfen.280 Das Recht auf vollumfängliche Akteneinsicht wird auf diese Weise zu einer von vornherein abwägungsfesten und unverfügbaren Beschuldigtenposition. 2. Das Akteneinsichtsrecht des „unverteidigten“ Beschuldigten Gleiches gilt für den Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat: Auch ihm gegenüber kann die Einsichtnahme in die Ermittlungsakten nicht aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungserfolgs abgelehnt werden. Zwar beruhen die Entscheidungen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva auf Sachverhalten, in denen der Beschuldigte nicht selbst Akteneinsicht beantragt hatte, sondern der mit seiner Verteidigung beauftrage Anwalt. Der EGMR trifft jedoch in den Urteilsgründen der drei Entscheidungen keine explizite Unterscheidung zwischen der anwaltlichen Verteidigung und der Verteidigung durch den Beschwerdeführer selbst. Vielmehr werden zumeist die neutralen Begriffe „Verteidigung“ und „Verfahrensbeteiligter“ verwendet. In den entscheidenden Passagen der Urteilsgründe ist dann nur von den Verteidigungsrechten des Beschuldigten die Rede.281 Vor dem Hintergrund der Straßburger Judikatur ist dies konsequent. Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Gewährung effektiver Verteidigungsrechte nicht davon ab, ob der Beschuldigte diese selbst ausübt oder durch einen Anwalt ausüben lässt.282 Auch der unverteidigte Beschuldigte muss in der Lage sein, seine eigene Verteidigung sachgerecht vorzubereiten. Im Fall Foucher gegen Frankreich entschied der Gerichtshof deshalb, dass der Beschuldigte über ein eigenes Akteneinsichtsrecht verfügen muss, wenn er keinen anwaltlichen Verteidiger beauftragt hat, die Selbstverteidigung nach dem nationalen Strafverfahrensrecht zulässig ist und die Verurteilung auf denjenigen Tatsachen und Beweismitteln beruht, zu denen der Beschuldigte keinen Zugang hatte. Wird ihm für die effektive Selbstverteidigung notwendige Einsicht in die Ermittlungsakten verweigert, ist entgegen den Anforderungen von Art. 6 III lit. b) i.V. m. I EMRK die Waffengleichheit im Verfahren nicht gewährleistet.283 Der EGMR 280

Kempf, Rieß-FS, S. 217; ders., StV 2001, 207. EGMR, Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2014, Ziff. 46, 47; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2017, Ziff. 50, Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, NJW 2002, 2019, Ziff. 41, 42. 282 Vgl. EGMR Artico ./. Italien, Urteil vom 13.5.1980, EuGRZ 1980, 662, Ziff. 33; Foucher ./. Frankreich, Urteil vom 18.3.1997, NStZ 1998, 429, Ziff. 35; Deumeland, NStZ 1998, 429; Simon, S. 31; Böse, StraFo 1999, 294 f. 283 EGMR, Foucher ./. Frankreich, Urteil vom 18.3.1997, NStZ 1998, 429, Ziff. 36. 281

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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hat allerdings ebenso anerkannt, dass ein auf den Verteidiger beschränktes Akteneinsichtsrecht dann nicht konventionswidrig ist, wenn gerade zum Zwecke der Akteneinsicht nach nationalem Recht ein Verteidiger bestellt werden muss.284 Maßgeblich ist deshalb, dass auf Seiten des Beschuldigten – unabhängig davon, wer die Verteidigung über nimmt – diejenigen Informationen vorliegen, die für eine effektive Verteidigung erforderlich sind. Die Ausführungen des EGMR zur Akteneinsicht anlässlich des Haftprüfungsverfahrens in den Fällen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva gelten deshalb für die Akteneinsicht des Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, wie für das Akteneinsichtsrecht des anwaltlichen Verteidigers gleichermaßen. Damit hat auch der „unverteidigte“ inhaftierte Beschuldigte einen Anspruch auf Gewährung von Einsicht in sämtliche Ermittlungsakten, die dem Gericht zur Haftprüfung vorgelegt wurden; die Gefährdung des Untersuchungserfolgs steht diesem Anspruch nicht entgegen. 3. Zusammenfassung Der EGMR hat den Konflikt zwischen dem Informationsinteresse des inhaftierten Beschuldigten im Ermittlungsverfahren und dem Geheimhaltungsinteresse der Ermittlungsbehörden zugunsten der Rechtspositionen des Beschuldigten gelöst: Der Verteidiger oder der inhaftierte Beschuldigte selbst haben bereits vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens Anspruch auf vollumfängliche Akteneinsicht, um die Inhaftierung im Haftprüfungsverfahren effektiv angreifen zu können. Die Ermittlungsbehörden werden nicht mehr die Gefährdung des Untersuchungserfolgs dagegen einwenden können.

II. Die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren 1. Die gesetzliche Regelung Nach § 147 I StPO ist der Verteidiger von Beginn des Strafverfahrens an in allen Verfahrensstadien zur Einsicht in diejenige Akten berechtigt, die dem Gericht vorliegen oder im Falle einer Anklage vorzulegen wären.285 Für den Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, bestimmt der mit dem StVÄG 1999286 284 Vgl. EGMR, Kamasinski ./. Österreich, Urteil vom 19.12.1989, Serie A 168, Ziff. 88; Foucher ./. Frankreich, Urteil vom 18.3.1997, NStZ 1998, 429 Ziff. 35. 285 Vgl. LR-Lüderssen, 25. Aufl., § 147 RN 119; AK-StPO-Stern, § 174 RN 10 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 RN 10. 286 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts, BGBl. I vom 2.8.2000, S. 1253, seit 1.11.2000 in Kraft.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

neu hinzugefügte Absatz 7 des § 147 StPO entsprechend der bisherigen Praxis der Staatsanwaltschaften und Gerichte,287 dass ihm nach pflichtgemäßem Ermessen Auskünfte oder Ablichtungen der für seine Verteidigung wesentlichen Aktenteile gewährt werden können. Die auf diese Weise erteilten Informationen können einer vollen Akteneinsicht gleichkommen, wenn sich der Beschuldigte sonst nicht angemessen verteidigen kann.288 Die Akteneinsicht kann für den Verteidiger vor Abschluss der Ermittlungen gemäß Absatz 2 auf in Absatz 3 genannten Niederschriften und Sachverständigengutachten beschränkt werden. Im übrigen kann die Akteneinsicht vor Ermittlungsabschluss im Interesse der effektiven Strafverfolgung verweigert werden, wenn und solange der Untersuchungszweck durch die Einsichtnahme gefährdet würde, § 147 II StPO. Auch die Möglichkeit des Beschuldigten, nach § 147 VII StPO Auskünfte und Fotokopien aus den Ermittlungsakten zur erhalten, kann im Interesse des Untersuchungserfolgs eingeschränkt werden. Wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind oder die Gefährdung des Untersuchungserfolgs entfallen ist, kann die Akteneinsichtnahme des Verteidigers nicht mehr beschränkt oder in vollem Umfang abgelehnt werden, § 147 VI StPO. Für das Haftprüfungsverfahren sieht die StPO keine Ausnahmen von der Beschränkbarkeit der Akteneinsicht vor. Die Entscheidung, ob der Untersuchungszweck gefährdet ist und die Akteneinsicht deswegen während des laufenden Ermittlungsverfahrens verweigert werden kann, erfolgt nach pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft, § 147 V Satz 1 StPO, Nr. 183 a) RiStBV; eine Beschwerdemöglichkeit besteht grundsätzlich nicht.289 Diese Rechtslage war häufig Gegenstand von Kritik; insbesondere wurde die Verweigerung von Akteneinsicht im Falle der Untersuchungshaft als unsachgemäß empfunden.290 Dass die Lage des Untersuchungshäftlings nicht mit dem Normalfall des auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten verglichen werden 287 Vgl. bisher Nr. 185 IV RiStBV; OLG Zweibrücken NJW 1977, 1699; LG Hamburg NJW 1993, 3152; LG Ravensburg NStZ 1996, 100; OLG Köln StV 1999, 12; Dedy, StraFo 2001, 153; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 RN 3; KK-Laufhütte, § 147 RN 2. 288 Pfeiffer, § 147 RN 11; KK-Laufhütte, § 147 RN 2; LG Hamburg NJW 1993, 3152; LG Ravensburg NStZ 1996, 101. 289 Vgl. mit unterschiedlichen Begründungen OLG Frankfurt/Main StV 1989, 96 und StV 1993, 292; KG StV 1993, 370; OLG Hamm StV 1993, 299, 300; OLG Karlsruhe NStZ 1997, 49; KK-Laufhütte, § 147 RN 18. 290 s. Rudolphi, StV 1988, 535; Welp, StV 1989, 194; AK-StPO-Stern, § 147 RN 49 f; Bahnsen, S. 92; Walischewski, S. 77; Kohlmann, Peters-FS, S. 320; Schlothauer, StV 1993, 371; ders. StV 1994, 321; Taschke, StV 1993, 294; Schmitz, wistra 1993, 319 ff.; Zieger, StV 1993, 320; Deckers, NJW 1994, 2263; Bohnert, GA 1995, 468; Kempf, Rieß-FS, S. 217 ff.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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kann, wurde auch vom Gesetzgeber erkannt. Gemäß dem durch das StVÄG 1999291 neu hinzugefügten Satz 2 des § 147 V StPO kann gegen die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft in Ausnahmefällen gerichtlich vorgegangen werden.292 Ein solcher Ausnahmefall besteht, wenn sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet. In diesem Fall kann gemäß § 161a III Satz 2–4 StPO gegen die ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Die gerichtliche Kontrolle konzentriert sich zunächst auf die Überprüfung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Gefährdung des Untersuchungszwecks“ in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und anschließend, wenn eine solche Gefährdung bejaht werden kann, auf die Fehlerkontrolle der staatsanwaltlichen Ermessensausübung.293 Wenn nach Auffassung des Gerichts der Untersuchungszweck nicht gefährdet ist, kann es Akteneinsicht anordnen. Konnte das Gericht lediglich eine fehlerhafte Ermessensausübung seitens der Staatsanwaltschaft feststellen, ist diese zur Neubescheidung des Akteneinsichtsantrags unter Beachtung der gerichtlichen Auffassung zu veranlassen.294 Gelangt jedoch auch das Gericht zu der Erkenntnis, der Untersuchungszweck sei durch die Einsichtnahme gefährdet, besteht keine weitere Möglichkeit, gegen die gerichtliche Entscheidung vorzugehen; die ablehnende gerichtliche Entscheidung ist gemäß § 161a III Satz 4 StPO unanfechtbar und ist nicht zu begründen, § 147 V Satz 3 StPO. Die Einführung einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verweigerung von Akteneinsicht bei vollzogenem Haftbefehl ändert indessen nichts an Natur der Entscheidung selbst, denn das Kriterium für die Gewährung von Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren – keine Gefährdung des Untersuchungszwecks – ist nach wie vor das gleiche. In der Sache handelt es sich immer noch um eine Ermessensentscheidung als Ergebnis einer Abwägung von widerstreitenden Interessen des Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft. Wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, mißt die deutsche Strafrechtspraxis dabei dem Aufklärungsinteresse der Staatsanwaltschaft regelmäßig ein höheres Gewicht bei als den Informationsinteressen des Beschuldigten.

291 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts, BGBl. I vom 2.8.2000, S. 1253, seit 1.11.2000 in Kraft. 292 Aus § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO folgt, dass im übrigen gegen die ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft lediglich die Dienstaufsichtsbeschwerde möglich ist. Der Streit über die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs gem. §§ 23 ff EGGVG hat sich mithin erledigt. Vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 RN 40. 293 Vgl. LG Landau StV 2001, 613 m. Anm. Schlothauer; ders., StV 2001, 195. 294 Vgl. LG Landau StV 2001, 613 m. Anm. Schlothauer, ders., StV 2001, 195.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

2. Die Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren Für die meisten Oberlandesgerichte stellte sich die Problematik des Akteneinsichtsrechts im Haftprüfungsverfahren im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die verweigerte Akteneinsicht besteht. Die Antragsteller wählten dafür zumeist den Weg über §§ 23 ff. EGGVG. Von den Gerichten wurde über die Zulässigkeit dieses Rechtswegs in unterschiedlicher Weise entschieden. Für den Fall der vollzogenen Untersuchungshaft ist diese Fragestellung nun obsolet, da mit der Einführung des § 147 V Satz 2 StPO eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine negative Entscheidung der Staatsanwaltschaft geschaffen wurde. Jedoch besitzen die Entscheidungsgründe nach wie vor Aktualität für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verweigerung von Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren, soweit neben dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit des Rechtswegs auch inhaltlich zu dem Anspruch des Beschuldigten auf Akteneinsicht Stellung genommen wurde. Noch Anfang der neunziger Jahre war es in der deutschen Strafrechtsprechung weit verbreitete Ansicht, dass es rechtmäßig ist, dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger bis zum Abschluss der Ermittlungen die vollständigen Informationen über die strafrechtlichen Ermittlungen vorzuenthalten, unabhängig davon, ob der Beschuldigte inhaftiert war oder nicht. Die damalige Rechtsprechung zog insbesondere nicht die Alternative in Betracht, dem Beschuldigten diejenigen Tatsachen und Beweisergebnisse mündlich mitzuteilen, die für seine Verteidigung gegen seine Freiheitsentziehung essentiell waren, ihm aber aufgrund der Verweigerung von Akteneinsicht oder durch nichtssagende formelhafte Hinweise im Haftbefehl vorenthalten wurden.295 So entschied beispielsweise das OLG Frankfurt/Main in einem Beschluss aus dem Jahre 1992, der in dem vom EGMR beurteilten Lietzow-Verfahren erging, dass es auch für den inhaftierten Beschuldigten zumutbar sei, mit der Einsichtnahme in die Ermittlungsakten bis zum Abschluss der Ermittlungen zu warten. Dies liege im Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. Zwar erkennt das Gericht unter Bezugnahme auf das BVerfG296 an, dass besondere Umstände es unzumutbar erscheinen lassen können, den Betroffenen auf den Abschluss der Ermittlungen zu vertrösten. Die Inhaftierung stelle jedoch trotz des Eingriffs in die Freiheitsrechte nach Art. 2 II GG einen solchen Umstand nicht dar, denn auch in diesem Fall hätte die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege Priorität. Anhaltspunkte für eine objektiv willkürliche Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungen, die eine vorzeitige Akteneinsicht ausnahmsweise rechtfer295 Vgl. OLG Hamburg, NJW 1972, 1586; OLG Koblenz NJW 1985, 2038; OLG Hamburg StV 1986, 422. 296 NJW 1985, 1019.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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tigen können, seien im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Der Gefahr einer Rechtsverletzung auf Seiten des Beschuldigten und eines Rechtsmißbrauchs des staatsanwaltschaftlichen Informationsvorsprungs würde durch das verfahrensrechtlich geregelte Zusammenspiel von Staatsanwaltschaft und des mit der Haftentscheidung befassten Gerichts wirksam vorgebeugt. Die Staatsanwaltschaft sei bei der Wahrheitsfindung zur Objektivität, Gründlichkeit, Ordnungsmäßigkeit der Ermittlungen und zur Beachtung des Beschleunigungsgebots verpflichtet. Der Ermittlungsrichter seinerseits hätte bei der Ermittlung der Wahrheit und der vollständigen Aufklärung der für seine Entscheidungen erforderlichen Tatsachen und insbesondere für die Beachtung der prozessualen und materiellen Grundrechte des Beschuldigten Sorge zu tragen. Wenn die Verletzung der Beschuldigtenrechte durch die verweigerte Akteneinsicht und fortdauerende Haft droht, stehe dem Gericht als alleiniges Mittel die Anordnung der Haftentlassung zur Verfügung; weitere Möglichkeiten, einer drohenden Rechtsverletzung entgegenzuwirken, zum Beispiel durch Gewährung von Akteneinsicht oder anderweitige Mitteilung der Haftgründe, bestünden nicht. Über diese verfüge allein die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens.297 Als ein Schritt, der für die Praxis im Hinblick auf die Verstärkung der Beschuldigtenrechte im Haftprüfungsverfahren von größter Bedeutung war,298 wurden indessen einige Entscheidungen des Berliner Kammergerichts von 1993 und 1994 gewertet. Während die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Rechtsprechung die Freiheitsentziehung des Beschuldigten bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht nicht berücksichtigte, veranlaßte diese besondere Situation das Kammergericht zu einer differenzierteren Betrachtungsweise. Enthält der Haftbefehl nur die nichtssagende und formelhafte Angabe, der dringende Tatverdacht ergebe sich aus dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen sowie den Angaben namentlich genannter Zeugen und wird zusätzlich die Einsicht in die Ermittlungsakten versagt, so entsteht für den inhaftierten Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger ein Informationsdefizit über die belastenden Umstände und Beweisergebnisse, das jede Verteidigungsmöglichkeit abschneidet und sich wie das Unterlassen einer zwingend vorgeschriebenen Anhörung auswirkt. Das Kammergericht entschied, dass dieses Informationsdefizit aus Gründen des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG vom Gericht in anderer Weise effektiv ausgeglichen werden müsse, wenn die Staatsanwaltschaft diese Informationen nicht im Wege der Akteneinsicht zur Verfügung stellt.299 Zwar – so betont das KG – sei im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft für die Gewährung von Informationen durch Akteneinsicht zuständig. Kommt die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, 297 OLG Frankfurt/Main StV 1993, 294 m. Anm. Taschke; vgl. auch OLG Frankfurt/Main StV 1993, 297, 298. 298 Vgl. Schlothauer, StV 1993, 371; ders. StV 1994, 321. 299 KG StV 1993, 370; StV 1994, 319; StV 1994, 320.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

dass der Untersuchungszweck durch die Einsichtnahme gefährdet wird, könne sich auch das mit der Haftfrage befasste Gericht grundsätzlich nicht über die staatsanwaltliche Entscheidung hinwegsetzen, gewisse Informationen durch die Verweigerung von Akteneinsicht aus diesen Gründen zurückzuhalten.300 Ist jedoch der Beschuldigte im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen über die belastenden Umstände im Unklaren gelassen worden und beruht auf diesen Umständen die gerichtliche Haftentscheidung, so bestehe für das Gericht gemäß §§ 33 III, 115 III StPO die Verpflichtung, vor dem Haftfortdauerbeschluss den Beschuldigten über diese Umstände und darüber hinaus über alle weiteren seit seiner Inhaftierung zu den Akten gelangten Ermittlungsergebnisse zu unterrichten. Denn „das verfassungsrechtlich gesicherte Recht auf Anhörung zu Tatsachen und Beweisergebnissen, die entscheidungserheblich sind, überwiegt das Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege jedenfalls insoweit, daß das Gericht dem Beschuldigten und dem Verteidiger – soweit sich das nicht aus dem Haftbefehl ergibt – zumindest Kenntnis von dem Untersuchungsergebnis in anderer Form als durch Gewährung von Akteneinsicht geben kann.“301

Dies könne beispielsweise in der mündlichen Verhandlung der Haftprüfung geschehen,302 oder bereits bei der polizeilichen Vernehmung durch Vorhaltung der belastenden Zeugenaussagen erfolgen,303 oder es genügt die Anwesenheit des Verteidigers bei der richterlichen Vernehmung von Belastungszeugen.304 Sollte die Staatsanwaltschaft weiter darauf bestehen, dass die Verdachtsgründe dem Beschuldigten im Interesse des Fortgangs der Ermittlungen noch nicht zur Kenntnis gelangen dürfen, wird der Haftbefehl aufzuheben sein.305 In diesen Beschlüssen wurden die verschiedenen Möglichkeiten des Gerichts, den Beschuldigten mit Informationen über die Gründe seiner Inhaftierung zu versorgen, mit Rücksicht auf die Gefährdung des Ermittlungserfolgs zueinander in Beziehung gesetzt. Werden Informationen im Haftbefehl in für eine effektive Verteidigung nicht ausreichenden Maße geliefert und verweigert die Staatsanwaltschaft gleichzeitig gemäß § 147 II StPO die Akteneinsicht, kommt der mündlichen Unterrichtung im weiteren Verlauf des Verfahrens besondere Bedeutung zu. Umfang und Ausführlichkeit der Unterrichtung bestimmen sich dabei nach dem Umfang und Ausführlichkeit der Haftbefehlsbegründung und danach, ob und in welchem Umfang Akteneinsicht gewährt wurde. Auch bei der mündlichen Unterrichtung muss nach wie vor darauf geachtet werden, dass 300 Vgl. auch OLG Hamm NStZ 1982, 348; OLG Stuttgart Die Justiz 1970, 113, jeweils m. w. N. 301 KG StV 1993, 370; ähnlich: KG, StV 1994, 318, 319; KG StV 1994, 319, 320. 302 KG StV 1993, 370. 303 KG Beschl. v. 15.7.1993 – 4 Ws 204/93, unveröffentlicht. 304 KG Beschl. v. 7.9.1993 – 5 Ws 302–303/93, unveröffentlicht. 305 KG StV 1994, 319; KG, StV 1994, 320.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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der Ermittlungszweck nicht gefährdet wird. Erweisen sich jedoch bestimmte Informationen, die unter der Sperrwirkung des § 147 II StPO stehen, für die gerichtliche Haftentscheidung als tragend, so muss der Haftbefehl aufgehoben und der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt werden. Kurze Zeit nach den Entscheidungen des Berliner Kammergerichts bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese „Konstruktion“ und entwickelte sie weiter. Die hinreichend substantiierte, den Untersuchungserfolg jedoch nicht gefährdende Bekanntgabe der belastenden Tatsachen und Beweisergebnisse in der Haftbefehlsbegründung, bei der Verhaftung, während der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter oder anlässlich der mündlichen Verhandlung im Rahmen der Haftprüfung, genügt grundsätzlich für eine effektive Verteidigung im Haftprüfungsverfahren. Die Einsichtnahme in die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten ist deshalb nicht geboten. Etwas anderes soll jedoch ausnahmsweise gelten, wenn die mündliche Mitteilung der belastenden Umstände nicht mehr durchführbar ist, etwa bei komplexen Sachverhalten und wenn die Untersuchungshaft weiter fortdauert. Die Gewährung von Akteneinsicht kann dann nicht mehr weiter aufgeschoben werden. Denn während durch die Ermittlungen als solche regelmäßig nicht unmittelbar in die Rechte des Beschuldigten eingegriffen wird, liegt in diesem Fall ein Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf Freiheit der Person nach Art. 2 II Satz 2 GG vor. Dieses Grundrecht verleiht dem Informationsinteresse des Beschuldigten gegenüber den Erfordernissen des rechtstaatlichen Auftrags zur Wahrheitsermittlung im Strafverfahren höheres Gewicht. Wenn die Tatsachen und das Beweismaterial, auf die das Gericht seine Haftentscheidung stützt, nicht mehr mitteilbar sind, müssen dem Beschuldigten deshalb weitere Informationsquellen, etwa durch Akteneinsicht, eröffnet werden. Denn „aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt der Anspruch des inhaftierten Beschuldigten auf Einsicht seines Verteidigers in die Akten, wenn und soweit er die darin befindlichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können und eine mündliche Mitteilung der Tatsachen und Beweismittel, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt, nicht ausreichend ist. Dabei wird regelmäßig eine Teilakteneinsicht genügen. Ist aus Gründen der Gefährdung der Ermittlungen aus der Sicht der Staatsanwaltschaft eine auch nur teilweise Einsicht in die Ermittlungsakte nicht möglich und verweigert sie diese deshalb gemäß § 147 II StPO, so kann das Gericht auf die Tatsachen und Beweismittel, die deshalb nicht zur Kenntnis des Beschuldigten gelangen, seine Entscheidung nicht stützen und muß gegebenenfalls den Haftbefehl aufheben.“306

Die herrschende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Oberlandesgerichte gewährt somit auch in Fällen der Untersuchungshaft nach wie vor kein Recht auf Akteneinsicht, sondern lediglich ein mit Blick auf die Gefährdung des Ermittlungszwecks „abgestuftes“ Informationsrecht, das nur 306

BVerfG StV 1994, 465, 466 f. = NJW 1993, 3219 = NStZ 1994, 551.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

ausnahmsweise zu einem Akteneinsichtsrecht erstarken kann und durch ein verfassungsrechtliches Verwertungsverbot ergänzt wird. Die einzelnen Stufen lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Substantiierte Bekanntgabe der belastenden Gründe (schriftlich im Haftbefehl, mündlich bei Bekanntgabe des Haftbefehls sowie im Rahmen der richterlichen Vernehmung oder während der Haftprüfung); wenn dies nicht ausreicht. (2) Gewährung von Einsicht in Aktenteile, die für die Verteidigung im Haftprüfungsverfahren wesentlich sind; wenn dies wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht möglich ist. (3a) Verfassungsrechtliches Verwertungsverbot für diejenigen Tatsachen und Beweismittel, die nicht zur Kenntnis des Beschuldigten gebracht wurden, und (3b) Aufhebung des Haftbefehls, wenn die bekanntgegebenen Tatsachen und Beweismittel nicht für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ausreichen. Die Stufen (1) und (2) stehen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander. Grundsätzlich soll dem Informations- und Verteidigungsinteresse des Beschuldigten durch eine ausführliche schriftliche Begründung im Haftbefehl und gegebenenfalls durch eine ausführliche mündliche Mitteilung im weiteren Verlauf des Haftprüfungsverfahrens genüge getan werden. Ausnahmsweise, wenn die für eine effektive Verteidigung im Haftprüfungsverfahren notwendigen Informationen den Rahmen des Haftbefehls und der mündlichen Unterrichtung sprengen würden, soll bereits vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens Akteneinsicht gewährt werden. Ist zu befürchten, dass durch die Gewährung bestimmter Informationen der Erfolg der strafrechtlichen Untersuchungen gefährdet wird, dürfen diese Informationen der Haftentscheidung nicht zugrundegelegt werden. Beruht die Anordnung der Untersuchungshaft gerade auf diesen Informationen, muss der Haftbefehl aufgehoben werden. Diese Grundsätze bilden seither die Grundlage für die meisten Entscheidungen der deutschen Strafgerichtsbarkeit307 zum Informationsrecht im Haftprüfungsverfahren und werden bis heute von dem BVerfG bestätigt.308

307 s. BGH NJW 1996, 734; BGH NJW 2000, 84; BGH, Beschluß vom 13.10.1999, 2 BJs 112/97; OLG Köln StV 1998, 269; OLG Saarbrücken NJW 1995, 1440; OLG Hamm NStZ-RR 2001, 254; LG Aschaffenburg StV 1997, 644, 645. 308 Vgl. BVerfG, Beschluß vom 23.10.2001, 2 BvR 1007/01; BVerfG NStZ-RR 1998, 108.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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3. Zusammenfassung Die deutsche Strafrechtsprechung löste das Spannungsverhältnis zwischen dem Informationsinteresse und dem Freiheitsrecht des inhaftierten Beschuldigten und dem Interesse an der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege im Stadium des Ermittlungsverfahrens zunächst zugunsten des letztgenannten Verfassungsguts. Diese Lösung wurde auch dann gewählt, wenn der Beschuldigte sich in Untersuchungshaft befand. Erst im letzten Jahrzehnt wurde der besonderen Situation des inhaftierten Beschuldigten Rechnung getragen. Allerdings führte dies im Ergebnis nicht zu einer Abwägung zugunsten der Interessen des inhaftierten Beschuldigten oder gar einem Akteneinsichtsrecht, sondern mündete in die Konstruktion eines „abgestuften“ Informationsrechts, das ausnahmsweise zu einem Akteneinsichtsrecht erstarken kann. III. Art. 5 IV EMRK und die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren 1. Die Unterschiede zwischen der deutschen Strafrechtsprechung und der Judikatur des EGMR Die Rechtsprechung des BVerfG und die daraus resultierende Praxis der Staatsanwaltschaften und Strafgerichte blieb nicht ohne Kritik,309 differiert sie doch in weiten Teilen von der Auffassung, die der EGMR seit seiner Entscheidung 1989 im Fall Lamy zu der Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens gemäß Art. 5 IV EMRK vertreten und gegenüber der Bundesrepublik in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva im Jahre 2001 bestätigt hatte.310 Die Gründe dieser EGMR-Entscheidungen gehen erkennbar über die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung hinaus. Dies folgt schon allein daraus, dass in allen drei Entscheidungen die Beschuldigten zuvor beim BVerfG hinsichtlich der vom EGMR letztlich bestätigten Vorwürfe kein Gehör gefunden haben.311 Im Gegensatz zu der Rechtsprechung des BVerfG und der Strafgerichte ist den Erfordernissen eines kontradiktorischen und waffengleich ausgestalteten Haftprüfungsverfahrens nur dann Rechnung getragen, wenn der Beschuldigte oder sein Verteidiger ein umfassendes Recht auf Information hat, das im Falle 309 s. Rudolphi, StV 1988, 535; Welp, StV 1989, 194; AK-StPO-Stern, § 147 RN 49 f.; Bahnsen, S. 92; Kohlmann, Peters-FS, S. 320; Schlothauer, StV 1993, 371; ders., StV 1994, 321; Taschke, StV 1993, 294; Schmitz, wistra 1993, 319 f.; Zieger, StV 1993, 320; Lammer, StV 1994, 1; Deckers, NJW 1994 2263; Bohnert, GA 1995, 468; Walischewski, S. 77; Schlothauer/Weider, RN 421; Samson, S. 531 f., Kempf, Rieß-FS, S. 217 ff. 310 s. dazu oben Teil 3, B. I. 1. 311 Vgl. Kühne/Esser, StV 2002, 391.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

der Untersuchungshaft nicht mehr zugunsten des Interesses an einer funktionstüchtigen Strafverfolgung eingeschränkt werden kann. Insbesondere kann der Beschuldigte oder sein Verteidiger Akteneinsicht verlangen, unabhängig von der Komplexität des Sachverhalts und gleichviel, ob er oder der Verteidiger darlegen kann, dass die Beweisstücke, von denen er Kenntnis haben möchte, für seine Verteidigung wesentlich sind. Während das BVerfG die Akteneinsicht bisher unter die Bedingung gestellt hat, dass die im Haftbefehl enthaltenen Informationen nicht ausreichen und eine mündliche Mitteilung der relevanten Tatsachen und Beweismittel durch den Haftrichter nicht möglich ist, wird dieses vom Gesetzeswortlaut nicht gedeckte Regel-Ausnahme-Verhältnis vom EGMR aufgebrochen: Vollumfängliche Akteneinsicht ist regelmäßig zu gewähren, unabhängig von der Ausführlichkeit des Haftbefehlinhalts und der im Laufe des Verfahrens erteilten mündlichen Informationen.312 Jede Informationsmöglichkeit ist gesondert zu betrachten. Der Umfang der Akteneinsicht bestimmt sich deshalb nicht mehr nach der Ausführlichkeit der Haftbefehlsbegründung und der mündlichen Mitteilungen. Umgekehrt regeln die §§ 114 II, 115 III, 115a III, 118a III StPO den Umfang und Inhalt der Information, die der Beschuldigte auf jeden Fall erhalten muss, ungeachtet davon, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er Akteneinsicht erhalten hat.313, 314 Der EGMR stellt damit klar, dass die im Haftbefehl enthaltenen oder durch den Haftrichter mitgeteilten Informationen lediglich eine Zusammenfassung von und Schlussfolgerungen aus Tatsachen sind, die der Haftrichter in der ihm von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Ermittlungsakte vorfindet. Auf Grundlage einer solchen Zusammenfassung und Schlussfolgerung können weder der inhaftierte Beschuldigte noch sein Verteidiger im Stande sein, die Richtigkeit einer solchen Schlussfolgerung zu überprüfen, ohne auf die Beweismittel zurückgreifen zu können, auf denen sie beruht. Auch der Teilakteneinsicht erteilt der EGMR eine Absage, da es sich bei den Aktenteilen, die dem Verteidiger bzw. dem Beschuldigten zur Kenntnis gebracht werden, um eine aus staatsanwaltschaftlicher oder richterlicher Sicht getroffene und damit deren Wertungen entsprechende Auswahl der Ermittlungsakten handelt. Der EGMR betont, dass die 312 Vgl. Kempf, Rieß-FS, S. 223 f.; Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2004; IntKomm-Renzikowski, Art. 5 RN 295. 313 Vgl. Kempf, Rieß-FS, S. 220. 314 Hierin besteht auch der Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR, wenn man die EGMR-Urteile lediglich dahingehend interpretiert, dass ein Anspruch nur auf teilweise Akteneinsicht besteht, s. oben Teil 3, B. I. 1. Der richterlichen Auskunft bzw. der schriftlichen Information durch den Haftbefehl als alleinige Grundlage für eine effektive Verteidigung im Haftprüfungsverfahren hat der EGMR in jedem Fall eine Absage erteilt; die Gewährung von Teilakteneinsicht kann nicht mehr unter die Bedingung gestellt werden, dass eine schriftliche oder mündliche Information nicht mehr ausreichend ist.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Auswahl der Aktenteile, die für die Haftprüfung erheblich sind, allein durch den Verteidiger bzw. den Beschuldigten getroffen werden kann.315 2. Entscheidungen, die auf Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Rechtsprechung Bezug nehmen Wie im vorherigen Abschnitt festgestellt werden konnte, unterscheidet sich die vorherrschende Praxis der deutschen Staatsanwaltschaften und Strafgerichte erheblich von den Anforderungen des EGMR an die Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens. Es ist deshalb verwunderlich, dass der überwiegende Teil der deutschen Strafrechtsprechung mit keinem Wort auf die bereits 1989 vom EGMR im Fall Lamy aufgestellten Anforderungen an kontradiktorische Haftprüfungsverfahren und das daraus resultierende Recht auf umfassende Information eingegangen ist und eine Berücksichtigung der EGMR-Judikate in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva in neueren Entscheidungen größtenteils unterlässt.316 Lediglich einige wenige Entscheidungen deutscher Strafgerichte befassen sich mit den Garantien des Art. 5 IV EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden. a) Entscheidungen aus dem Zeitraum vor den EGMR-Urteilen Lietzow, Schöps und Garcia Alva Zu Beginn der neunziger Jahre317 stand lediglich das Urteil des EGMR zu Art. 5 IV EMRK im Fall Lamy als Quelle zur Verfügung. Bezugnahmen in Entscheidungen deutscher Strafgerichte auf dieses Urteil und auf Art. 5 IV EMRK waren jedoch bis zu der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR am 13.2.2001 nur sehr selten feststellbar. In den Beschlüssen des KG318, des OLG Hamm319 und des OLG Saarbrücken320 ging es um die Entscheidung über Rechtswidrigkeit der Akteneinsichtsverweigerung der Staatsanwaltschaft gemäß § 147 II StPO. Der inhaftierte Beschuldigte beantragte die Überprüfung im Rahmen eines Antrags auf gericht315

s. dazu ausführlich Teil 3. B. I. 1. Vgl. bis jetzt BVerfG, Beschluss vom 23.10.2001, 2 BvR 1007/01; LG Mannheim, Beschluss vom 9.5.2001, StV 2001, 613; LG Landau, Beschluss vom 16.7.2001, StV 2001, 613 m. Anm. Schlothauer, StV 2001, 614 f. 317 Die erste Veröffentlichung des Lamy-Urteils in deutscher Sprache erfolgte in StV 1993, 283; zuvor war das Urteil erst in der im Mai 1992 erschienenen Kommentierung von Gollwitzer in LR, 24. Aufl., RN 124 zitiert worden, ohne dass auf die erheblichen Auswirkungen dieser Entscheidung hingewiesen wurde. 318 wistra 1994, 38. 319 Beschluss vom 3.2.1994, 3 Ws 678/93, veröffentlicht bei juris. 320 NJW 1995, 1440. 316

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

liche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG bzw. einer weiteren Beschwerde gegen die gerichtliche Entscheidung, die Untersuchungshaft des Beschuldigten aufrecht zu erhalten. Die Verteidiger hatten sich auf die Entscheidung des EGMR im Fall Lamy berufen und eine Verletzung des Art. 5 IV EMRK geltend gemacht. Die Gerichte kamen jedoch zu dem Schluss, dass die staatsanwaltliche Entscheidung gemäß § 147 II StPO, Akteneinsicht zu verweigern, nicht in die in Art. 5 IV EMRK garantierten Rechte des Beschuldigten eingreife, denn der Sachverhalt, welcher dem Lamy-Urteil zugrunde lag, sei mit den zu entscheidenden Fällen nicht vergleichbar und damit nicht anwendbar. Im Fall Lamy wäre der Beschuldigte ausschließlich wegen Fluchtgefahr inhaftiert gewesen, wohingegen im zur Entscheidung vorliegenden Fall neben Fluchtgefahr auch Verdunkelungsgefahr als Haftgrund herangezogen wurde. Auch gäbe es im Fall Lamy keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine vorzeitige Akteneinsicht den Untersuchungszweck gefährdet hätte. Die EGMR-Entscheidung bedeute lediglich, dass gegen Art. 5 IV EMRK verstoßen würde, wenn einem allein wegen Fluchtgefahr Inhaftierten die Einsichtnahme in die Ermittlungsakten aus anderen Gründen als der Gefährdung des Untersuchungszwecks verweigert werde. Für das KG, das OLG Hamm und das OLG Saarbrücken lag es deshalb auf der Hand, keinen Verstoß der Akteneinsichtsverweigerung gegen Art. 5 IV EMRK anzunehmen, wenn der Beschuldigte, dem die vorzeitige Akteneinsicht aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt wurde, wegen Verdunkelungsgefahr inhaftiert war.321 Für das KG bestand noch ein weiterer Unterschied: Die Regelung des Akteneinsichtsrechts gemäß dem für den Fall Lamy relevanten belgischen Strafprozessrecht unterscheide sich grundlegend von den Bestimmungen der deutschen StPO. Nach belgischem Recht sei die Akteneinsicht grundsätzlich aus Praktikabilitätsgründen in den ersten 30 Tagen ausgeschlossen, während das deutsche Strafverfahrensrecht nur bei Gefährdung des Untersuchungserfolgs die Verweigerung der Akteneinsicht zulässt und praktische Hindernisse der Einsichtsgewährung nicht gelten lässt. Das Akteneinsichtsrecht werde im deutschen Strafverfahrensrecht entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur insoweit eingeschränkt, als es das berechtigte Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung erfordere. Auch deshalb besage die Lamy-Entscheidung gerade nicht, dass die Verweigerung vorzeitiger Akteneinsicht aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungszwecks – wie es die deutsche StPO in § 147 II vorsieht – gegen Art. 5 IV EMRK verstößt.322

321 Vgl. OLG Hamm, 3 Ws 678/93, veröffentlicht bei juris; KG wistra 1994, 38, 39; OLG Saarbrücken NJW 1995, 1440, 1441; vgl. auch Nehm, Graßhof-FS, S. 242. 322 Vgl. KG wistra 1994, 38, 39.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Das OLG Saarbrücken ging noch einen Schritt weiter und versagte den Entscheidungen der Straßburger Organe die allgemeine Gültigkeit über den Einzelfall hinaus. Zunächst sei durch die Lamy-Entscheidung keine Ausformung eines allgemeinen Grundsatzes dahingehend erfolgt, dass einem Inhaftierten in jedem Fall und in jedem Verfahrensstadium Akteneinsicht gewährt werden müsse. Vielmehr seien die jeweiligen Entscheidungen der Straßburger Organe einzelfallbezogen und ließen sich deshalb weder in eine allgemeingültige Dogmatik einfügen, noch zielten sie auf die Schaffung einer solchen ab.323 Zu einem anderem Ergebnis kam das OLG Frankfurt/Main in einem Beschluss aus dem Jahre 1992. Das Gericht erhob keine Einwendungen gegen die Beachtung von Entscheidungen des EGMR; vielmehr zitiert es das Urteil im Fall Lamy ausdrücklich für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite des Gebots der Waffengleichheit im Strafverfahren. Allerdings kam im konkreten Fall weder Art. 5 IV EMRK, noch der Inhalt des Lamy-Urteils zum Tragen, denn der Hinweis des Gerichts geschah nur zur Darlegung, dass der inhaftierte Beschuldigte, dessen Verteidiger keine Akteneinsicht vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens gewährt wurde, über ausreichenden Rechtsschutz im Strafverfahren verfügt. Dieser sei u. a. dadurch gewährleistet, dass der Haftrichter verpflichtet ist, im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens auch darauf zu achten, dass eine gewisse verfahrensrechtliche Waffengleichheit zwischen dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft gewahrt bleibt.324 b) Entscheidungen, die nach den EGMR-Urteilen Lietzow, Schöps und Garcia Alva ergingen Nach der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR am 13.2.2001 ist zu beobachten, dass sich die Gerichte mit Art. 5 IV EMRK und der dazu ergangenen Judikatur des Gerichtshofs häufiger und intensiver auseinandergesetzt haben. Das OLG Köln bezieht sich in einem Beschluss vom 29.5.2001 zunächst auf die Rechtsprechung des BVerfG325 und befürwortet ein Akteneinsichtsrecht allenfalls in diejenige Aktenteile, die für eine effektive Stellungnahme der Verteidigung zu den Vorwürfen unbedingt notwendig sind. Steht dem der Schutz des Untersuchungszwecks entgegen, muss der Haftbefehl aufgehoben werden. Das OLG vertritt nun die Ansicht, dass sich nichts anderes aus der Rechtsprechung 323 Vgl. OLG Saarbrücken NJW 1995, 1440, 1441, unter Berufung auf LR-Gollwitzer, 24. Aufl. MRK Einl. RN 39; vgl. dazu auch Nehm, Graßhof-FS, S. 240 ff.; Bosch, StV 1999, 333, FN 2. 324 Vgl. OLG Frankfurt/Main StV 1993, 292, 294. 325 BVerfG NStZ 1994, 551 = StV 1994, 465, 466 f. = NJW 1993, 3220 sowie BVerfG NStZ-RR 1998, 108.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

des EGMR ergebe. In den Fällen Lietzow und Garcia Alva seien tatsächlich wichtige Aussagen von Belastungszeugen dem Beschuldigten und der Verteidigung im Haftprüfungsverfahren nicht zur Kenntnis gebracht worden, obgleich diesen bei der Haftentscheidung eine Schlüsselrolle zukam. Die Kenntnis dieser Aktenteile sei für die Verteidigung somit unbedingt erforderlich gewesen. Hingegen sei im Fall Schöps nur ausnahmsweise die Einsicht in sämtliche Aktenteile für erforderlich erachtet worden; die teilweise Akteneinsicht sei nur deshalb nicht ausreichend gewesen, weil nach den besonderen Umständen des Einzelfalles – es handelte sich um ein umfangreiches und unübersichtliches Wirtschaftsstrafverfahren – eine wirksame Verteidigung im Haftprüfungsverfahren ohne Kenntnis des gesamten Akteninhalts im Zusammenhang nicht möglich gewesen wäre. In dem vom OLG Köln zu entscheidenden Fall war die Sachlage indessen nicht kompliziert und die Ermittlungen weniger umfangreich. Die Vorwürfe ergaben sich nur aus einigen Vernehmungsprotokollen, die der Verteidigung bereits zur Verfügung gestellt worden waren. Nach den Umständen des Einzelfalles war die vollumfängliche Akteneinsichtnahme für eine effektive Verteidigung deswegen nicht notwendig gewesen und konnte aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungszwecks verweigert werden.326 Für einen Beschluss des OLG Frankfurt/Main vom 10.7.2001 gilt die Feststellung einer verstärkten Auseinandersetzung mit der EMGR-Rechtsprechung seit der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland allerdings nicht. Zwar griff das Gericht neben Entscheidungen des BVerfG und des BGH – ohne Art. 5 IV EMRK zu nennen327 – bereits auf die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Lietzow, Schöps, und Garcia Alva zurück, jedoch nur als Nachweis dafür, dass die Akteneinsicht insbesondere den Anspruch auf ein waffengleiches Verfahren gewährleistet.328 In inhaltlicher Hinsicht waren die EGMR-Entscheidungen in diesem Beschluss nicht von Bedeutung. Die Bezugnahme auf die Urteile in den Fällen Lietzow, Schöps, und Garcia Alva hat hier allenfalls die Funktion einer „internationalen Verzierung“329. Hingegen nimmt das OLG Hamm in einem Beschluss vom 13.2.2002 ausführlich Bezug auf die EGMR-Entscheidungen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva. Es hatte im Rahmen einer besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschuldigten zu entscheiden. Der Verteidiger des Beschuldigten konnte zuvor Einsicht in 16 von 19 Aktenbände nehmen; die Einsicht in die letzten drei wurde aber von der Staatsanwaltschaft verweigert, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Das 326

Vgl. OLG Köln NStZ 2002, 659. Ein Hinweis auf Art. 5 IV EMRK wäre in diesem Fall auch nicht zutreffend gewesen, da sich der Betroffene nicht in Haft befand. 328 OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2001, 374. 329 Zu dieser Bezeichnung s. Hilf, S. 22. 327

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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OLG hob den Haftbefehl auf, weil diese Vorgehensweise seiner Ansicht nach den vom BVerfG330 und dem EGMR331 aufgestellten Anforderungen nicht gerecht wurde. Hiernach müsse der Verteidigung das für die Haftfrage wesentliche Informationsmaterial in geeigneter Weise zugänglich gemacht werden, da ansonsten dem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör und auf ein kontradiktorisches Verfahren nicht genüge getan werde. Im vorliegenden Fall sei die Verteidigung aber nicht in der Lage gewesen, zu den hafterheblichen Umständen, insbesondere über die Einhaltung des Beschleunigungsgebots bei den Ermittlungen, effektiv Stellung zu nehmen, weil sie nicht die dazu erforderliche Akteneinsicht hatte. Ferner habe es die Staatsanwaltschaft versäumt, zumindest aus den Bänden 17 bis 19 diejenigen Ermittlungsvorgänge, welche für die Frage der Haftfortdauer relevant waren, herauszuziehen und dem Verteidiger in Ablichtung zu überlassen. Das Gericht dürfe deshalb die letzten drei Aktenbände bei seiner Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haft über sechs Monate hinaus nicht verwerten.332 3. Die Auswirkungen des Art. 5 IV EMRK und der EGMR-Rechtsprechung auf die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht a) Ablehnung der Anwendbarkeit von EGMR-Entscheidungen Vor allem im Zeitraum vor der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR kann festgestellt werden, dass die deutschen Strafgerichte bereits der Anwendbarkeit von Urteilen des EGMR ablehnend gegenüberstehen. Die Oberlandesgerichte Saarbrücken333 und Hamm334 sowie das KG335 zogen für die Interpretation und Anwendung des § 147 II StPO die Urteile des EGMR zu der Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens deshalb nicht heran, weil ihrer Ansicht nach Entscheidungen der Straßburger Organe grundsätzlich nur einzelfallbezogen seien und nicht auf die Schaffung einer allgemeinen Dogmatik abzielen würden. Auch aufgrund der unterschiedlichen Sach- und Rechtslage könne das Lamy-Urteil nicht für den zur Entscheidung vorliegenden Fall gelten.336 Die Straßburger Rechtsprechung zu Art. 5 IV EGMR sei deshalb für 330

NJW 1994, 3219 = StV 1994, 465 = NStZ 1994, 551. Entscheidungen Lamy ./. Belgien, StV 1993, 283; Lietzow, Schöps, Garcia Alva ./. BRD, StV 2001, 201 ff. = NJW 2002, 2013 ff. 332 Vgl. OLG Hamm StV 2002, 318, 319 = NStZ 2003, 386, 387 m. Anm. Deckers, StV 2002, 319 f. 333 NJW 1995, 1440, 1441. 334 Beschluss vom 3.2.1994, 3 Ws 678/93, veröffentlicht bei juris. 335 wistra 1993, 38. 336 Vgl. auch Nehm, Graßhof-FS, S. 240 ff.; Bosch, StV 1999, 333, FN 2. 331

144

Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Rückschlüsse auf die Rechtmäßigkeit der Verweigerung von Akteneinsicht gemäß § 147 II StPO unbrauchbar. Wie bereits im ersten Teil337 der vorliegenden Arbeit festgestellt, sind die Straßburger Judikate bei der Auslegung und Anwendung der StPO zu berücksichtigen, wenn ihnen nicht gar „normative Leitfunktion“ zukommt.338 Die innerstaatlichen Gerichte haben sich deshalb auch an der Interpretation des Art. 5 IV EMRK durch den EGMR bei der Auslegung und Anwendung des § 147 II StPO vorrangig zu orientieren; sie dürfen nur im Ausnahmefall davon abweichen und tragen dafür die Argumentationslast. Voraussetzung ist eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung des Art. 5 IV EMRK auf Grundlage einer gefestigten Rechtsprechung. Die Grundsätze, die sich aus den Urteilen des EGMR in den Fällen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva ergeben, entsprechen diesen Anforderungen. Hier hat der Gerichtshof in klarer Weise hervorgehoben, dass das Recht des inhaftierten Beschuldigten auf Akteneinsicht nicht durch das Geheimhaltungsinteresse der Ermittlungsbehörde eingeschränkt werden darf.339 Dies soll sowohl für die Fälle der Fluchtgefahr (Fall Schöps) als auch der Verdunkelungsgefahr (Fall Lietzow) gelten. Dabei wird deutlich, dass es sich bei dem Akteneinsichtsrecht des inhaftierten Beschuldigten nach der Rechtsprechung des EGMR um ein unverfügbares, abwägungsfestes und damit allgemeine Gültigkeit beanspruchendes Beschuldigtenrecht handelt, das vom Einzelfall unabhängig für jedes gerichtliche Haftprüfungsverfahren in sämtlichen Mitgliedstaaten der EMRK beansprucht.340 Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Sachverhalten, die den Straßburger Entscheidungen zugrundliegen, sind unerheblich. Die „normative Leitfunktion“ der EGMR-Rechtsprechung zu den Verfahrensrechten des inhaftierten Beschuldigten steht somit außer Frage. Die deutschen Strafgerichte hätten Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Entscheidung im Fall Lamy in sämtlichen Entscheidungen über das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren in Erwägung ziehen und davon abweichende Ergebnisse in ihren Entscheidungen begründen müssen. Dies gilt um so mehr, seit der EGMR im Jahre 2001 in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva die bisherige Praxis der deutschen Strafgerichte ausdrücklich als konventionswidrig erachtet hatte.

337

Teil 1, A. II. BVerwG JZ 2000, 1052 unter Bezugnahme auf Ress, in: Menschenrechtsschutz, S. 227, 257 ff., ders., EuGRZ 1996, 650; sowie Polakiewicz, S. 353 f. 339 EGMR, Lietzow ./. BRD. Ziff. 47, Garcia Alva ./. BRD, Ziff. 42; Urteile vom 13.3.2001, StV 2001, 202 ff. = NJW 2002, 2013 ff.; s. dazu ausführlich oben Teil 3, B. I. 1. 340 Vgl. Schmitz, wistra 1993, 320; Zieger, StV 1993, 323; Walischewski, S. 80; Villiger, RN 372; Kempf, StV 2001, 207. 338

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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b) Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Rechtsprechung zur Herleitung und Begründung des Grundsatzes der Waffengleichheit Im Gegensatz zu den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Saarbrücken, Hamm und des KG hatte das OLG Frankfurt/Main in zwei Beschlüssen341 über die Gewährung von Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren keine Einwendungen gegen die Anwendbarkeit der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 5 IV EMRK erhoben. Vielmehr wird explizit auf die Bedeutung der Konventionsnorm und der dazu ergangenen EGMR-Entscheidungen im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens verwiesen. Die vom EGMR aufgestellten Grundsätze werden jedoch nur zu rein methodischen Zwecken im Rahmen einer Aufzählung verschiedener Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des Grundsatzes der Waffengleichheit im Strafverfahren erwähnt. Dabei kommt Art. 5 IV EMRK und den Entscheidungen des EGMR in den Fällen Lamy, Lietzow, Schöps und Garcia Alva keine inhaltliche Bedeutung zu, denn sie werden lediglich als eine dem internationalen Recht entnommene, neben vielen anderen aus dem nationalen Recht stammende Auslegunghilfe genannt. Die Bezugnahme auf die Konventionsvorschrift bzw. auf die EGMR-Entscheidungen hatte auch nur theoretischen Charakter, denn in den konkret zu entscheidenden Fällen fand keine Auslegung des Grundsatzes der Waffengleichheit anhand Art. 5 IV EMRK und der EGMR-Rechtsprechung statt. c) Inhaltliche Auseinandersetzung mit der Judikatur des EGMR Erst seit der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland wird die Judikatur des EGMR zu Art. 5 IV EMRK auch inhaltlich diskutiert, obwohl durch die neuen Entscheidungen keinerlei inhaltliche Änderung in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR im Fall Lamy stattgefunden hat. Für die inhaltliche Auseinandersetzung in den Beschlüssen des OLG Köln342 und des OLG Hamm343 ist kennzeichnend, dass beide Gerichte die Entscheidungen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva als Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zum abgestuften Informationsrecht interpretieren.344 Hiernach soll sich der Umfang der Akteneinsicht danach bestimmen, welche Informationen für eine effektive Verteidigung gegen die Inhaftierung wesentlich sind; dies kann im Ausnahmefall auch zu einem vollumfänglichen Akteneinsichtsrecht führen. Die Maßstäbe für die Bestimmung des für 341

StV 1993, 292 und NStZ-RR 2001, 374. NStZ 2002, 659. 343 StV 2002, 318 m. Anm. Deckers. 344 Vgl. Lange, NStZ 2003, 348, 351 f.; anders jedoch Deckers, StV 2002, 319 f., der den Beschluss des OLG Hamm als einen Meilenstein auf dem Weg des deutschen Strafverfahrensrecht zu einem vollumfänglichen Akteneinsichtsrecht bezeichnet. 342

146

Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

die Haftfrage wesentlichen Akteninhalts des BVerfG, der Umfang und die Komplexität der Ermittlungen, würden insoweit mit denen des EGMR übereinstimmen. Die Entscheidung, welche Aktenteile wesentlich sind, müsse dann von Staatsanwaltschaft und Haftrichter nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen werden. Die Beschlüsse der beiden Oberlandesgerichte sind deshalb vor diesem Hintergrund konsequent, obgleich – oder gerade weil – sie zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen. Da die für die Haftfrage wesentlichen Aktenteile dem Verteidiger bereits zur Kenntnis gebracht wurden und die Ermittlungen nicht komplex waren, lehnte das OLG Köln die Haftbeschwerde des Beschuldigten ab und erhielt die Untersuchungshaft aufrecht. Dabei hatte das Gericht die vom EGMR im Fall Schöps gewährte vollständige Akteneinsicht ausdrücklich nur als ein aufgrund der Komplexität der Ermittlungen ausnahmsweise zu einem vollen Akteneinsichtsrecht erstarkten Teilakteneinsichtsrecht qualifiziert.345 Das OLG Hamm hatte entschieden, dass die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Haftfortdauer gewährte Teilakteneinsicht insbesondere für die Beurteilung, ob die Ermittlungsbehörden den in Haftsachen besonders strengen Beschleunigungsgrundsatz beachtet haben, nicht ausreichend war. Vielmehr hätte dem Verteidiger dafür die Einsichtnahme in alle Aktenbände gewährt werden müssen. Dies war nicht geschehen, so dass der Haftbefehl aufgehoben werden musste.346 Der Ausnahmefall des zum vollumfänglichen Akteneinsichtsrecht erstarkten Teilakteneinsicht war hier eingetreten. Die Interpretation, dass die Urteile des EGMR nur eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG darstellen, hat für die Untersuchung der Auswirkungen des Art. 5 IV EMRK und der Rechtsprechung des EGMR folgende Konsequenzen: Die Konvention hat auf die deutsche Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren keine ergebnisrelevante Auswirkungen. Dass die Gerichte trotzdem auf die Entscheidungen des EGMR eingehen, ist darauf zurückzuführen, dass noch nicht eindeutig geklärt ist, welche Folgerungen aus den Urteilen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva zu ziehen sind.347 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht deswegen noch ein Begründungsbedürfnis für das jeweils gefundene Ergebnis. Da sich die beiden Oberlandesgerichte dafür entschieden haben, dass die dreifache Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR zu keiner Änderung der bisherigen Praxis der Gewährung von Akteneinsicht führt, hat die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR deshalb nur die Funktion, das Entscheidungsergebnis zu bekräftigen.

345 346 347

OLG Köln NStZ 2002, 659. OLG Hamm StV 2002, 318 m. Anm. Deckers. s. dazu oben, Teil 3, B. I. 1.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

147

d) Stellungnahme und Bewertung Die Gesamtschau der wenigen Entscheidungen deutscher Strafgerichte, die Art. 5 IV EMRK und die Rechtsprechung des EGMR erwähnen, ergibt ein höchst widersprüchliches Bild. Während ein Teil der Gerichte in älteren Entscheidungen die Berücksichtigung von EGMR-Urteilen grundsätzlich ablehnen, sehen sich andere Gerichte zumeist in neueren Entscheidungen an einer grundsätzlichen Anwendbarkeit dieser Entscheidungen über den Einzelfall hinaus nicht gehindert. Dies ist allerdings Folge der innerhalb Rechtsprechung und Lehre bislang herrschenden Uneinigkeit über die Bindungswirkung der Straßburger Judikatur über den konkreten Einzelfall hinaus. Die Diskussion hierüber kann jedoch mittlerweile aufgrund der höchstrichterlichen Anerkennung einer normativen Leitfunktion für EGMR-Judikate als beendet gelten.348 Für die meisten älteren Entscheidungen ist eine gewisse Scheu vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Konvention und der Straßburger Judikatur kennzeichnend. Die Methode der Oberlandesgerichte Saarbrücken349 und Hamm350 sowie des Kammergerichts351, die Anwendung der von den Straßburger Organen herausgebildeten Grundsätze bereits auf der „ersten Prüfungsstufe“, der Frage nach der allgemeinen Bindungswirkung und der Anwendbarkeit von EGMR-Entscheidungen auf den zur Entscheidung vorliegenden Fall, abzulehnen, deutet auf eine Abneigung deutscher Gerichte hin, sich genauer mit den Entwicklungen der Straßburger Rechtsprechung zu beschäftigen. Durch diese Vorgehensweise konnte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Garantien des Art. 5 IV EMRK bequem vermieden werden. Eine Auswirkung der Konvention konnte auf diese Weise nicht stattfinden. Erst ab der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR im Jahre 2001 kann eine Wende hinsichtlich der Auseinandersetzung der deutschen Strafgerichte mit der Judikatur des EGMR ausgemacht werden. Die Signalwirkung dieser Verurteilungen veranlasste die deutsche Strafrechtsprechung, auf die Urteile des EGMR Bezug zu nehmen. Die Art und Weise der Bezugnahme auf die Straßburger Judikatur hat sich dabei verändert. Während man vor der dreifachen Verurteilung noch ein „gewisses Zähneknirschen“352 bei der Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR zu vernehmen meinte, gehen die deutschen Strafgerichte nun unbefangener mit der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung um und setzten sich sogar inhaltlich mit ihr auseinander. Allerdings stellt sich dies nur auf den ersten Blick als eine Verän348 349 350 351 352

s. dazu oben Teil 1. OLG Saarbrücken NJW 1995, 1440, 1441. OLG Hamm, Beschluss vom 3.2.1994, 3 Ws 678/93, veröffentlicht bei juris. KG wistra 1994, 38. Weigend, StV 2000, 63.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

derung dar, denn die Gerichte haben sich für die „bequemere“, aber vertretbare Interpretation der EGMR-Entscheidungen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva entschieden, die zu keinerlei Änderung der bisherigen Praxis der Gewährung von Akteneinsicht führt. Ergebnisrelevante Auswirkungen der Konvention auf die deutsche Strafrechtsprechung konnten deswegen auch nach der dreifachen Verurteilung des Bundesrepublik Deutschland nicht stattfinden. 4. Gründe für die bisher unterbliebene Berücksichtigung des Art. 5 IV EMRK und der EGMR-Rechtsprechung Der größte Teil der deutschen Strafrechtsprechung, insbesondere das BVerfG, nahm bisher auf die Straßburger Judikatur im Zusammenhang mit dem Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren keinen Bezug. Im Folgenden soll der Ursache für die unterbliebene Beachtung nachgegangen werden. a) Verfassungsrechtliche Hintergründe Das Recht auf Akteneinsicht resultiert aus dem Recht auf Information, welches wiederum auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 I GG,353 auf dem Verfassungsgrundrundsatz des fairen Verfahrens und dem daraus abgeleiteten Prinzip der Waffengleichheit beruht.354 Diese Grundsätze fungieren zum einen als Leitlinien für den Gesetzgeber, um Verhaltensrichtlinien rechtlich verbindlich zu machen und damit ihre Einhaltung sichern zu können; zum anderen dienen sie als Auslegungs- und Anwendungsdirektive für eine allgemeine Überprüfung der einfachgesetzlichen Rechtsanwendung bei besonders massiven Verletzungen der rechtsstaatlichen Mindeststandards.355 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Konsequenz aus dem Rechtsstaatsprinzip. Er hat die Funktion, die Würde der Person zu schützen, da er verhindern soll, dass der Einzelne zum Objekt obrigkeitsstaatlicher Gewalt wird, ohne sich gegen Maßnahmen, die in seiner Rechte eingreifen, verteidigen zu können.356 Das Recht auf Information ist die Voraussetzung für die effektive Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör überhaupt und gebietet, dem Betroffenen den Verfahrensstoff vollständig zu unterbreiten. Das Gericht 353 Vgl. BVerfGE 18, 399, 405; AK-GG-Wassermann, Art. 103 RN 25; Jarass/Pieroth, Art. 103 RN 11, 15; Hiebl, S. 24 ff., Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Art. 103 RN 69. 354 Vgl. BVerfGE 38, 105, 111; AK-GG-Wassermann, Art. 103 RN 15; Hiebl, S. 27 f. 355 Vgl. Tettinger, S. 52 ff.; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. H, RN 100; SK-Rogall, vor § 137 RN 103; KK-Pfeiffer, Einl. 28. 356 BVerfGE 9, 89, 95; 55, 1, 5 f.; AK-GG-Wassermann, Art. 103 RN 7; Jarass/ Pieroth, Art. 103 RN 1; Schmitz, wistra 1993, 319, 322.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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hat daher dafür zu sorgen, dass das Verfahren nicht in ein dem Berechtigen ungünstiges Entscheidungsstadium tritt, bevor dieser von Verfahren und Verfahrensstand Kenntnis erlangt.357 Im gerichtlichen Verfahren der Haftprüfung besitzt der Anspruch auf rechtliches Gehör volle Gültigkeit und wird dementsprechend durch die StPO-Vorschriften über den Inhalt des Haftbefehls, der mündlichen Unterrichtung im Rahmen von Vernehmungen und mündlichen Verhandlungen anlässlich des Haftprüfungsverfahrens und vor allem über die Vorschriften der Akteneinsicht konkretisiert.358 Das Gebot des fairen Verfahrens soll dem Beschuldigten die Chance einräumen, sich gegenüber einer übermächtigen Anklagebehörde bestmöglich zu verteidigen. Es wird unmittelbar aus Art. 6 EMRK und Art. 20 III GG in Verbindung mit Art. 2 I GG hergeleitet. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung dargelegt, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens dem Beschuldigten einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen gewährleistet. Ihm muss die Möglichkeit eingeräumt werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dies verbietet es, den Beschuldigten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen. Er muss vielmehr in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen und sich im Verfahren verständlich zu machen.359 Der Grundsatz des fairen Verfahrens beansprucht auch für das Ermittlungsverfahren Gültigkeit.360 Das Gebot der Waffengleichheit ist Bedingung für ein rechtsstaatliches, faires Verfahren und leitet sich aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip, Art. 3 I GG sowie Art. 6 I EMRK her.361 Im Strafverfahren kennzeichnet es die Forderung nach einer gewissen verfahrensrechtlichen Gleichbehandlung von Staatsanwaltschaft und Beschuldigten,362 womit in der Regel die Stärkung der Partizipationsrechte des Beschuldigten im Strafverfahren verbunden ist.363 Jedoch ist einhellige Meinung, dass völlige verfahrensrechtliche Waffengleichheit zumindest im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht bestehen kann.364 Der Grund dafür liegt in der unterschiedlichen verfahrensspezifischen Rollenverteilung von 357

BVerfGE 36, 85, 88; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Art. 103 RN 70. s. dazu oben Teil 3, B. II. 1. a). 359 Vgl. BVerfGE 63, 45, 60 f.; 57, 250, 274 f. 360 Vgl. HK-Lemke, Einl. RN 17; Schäfer, Rieß-FS, S. 491; Kohlmann, Peters-FS, S. 319. 361 BVerfGE 63, 45, 61; BVerfGE 38, 105, 111; der Grundsatz der Waffengleichheit wird überwiegend als eine Konkretisierung des Fairnessgebots verstanden, vgl. Jung, Lüke-FS, S. 331; Tettinger, S. 20; Roxin, § 11, RN 13; Kohlmann, Peters-FS, S. 311. 362 BVerfGE 63, 45, 61; BVerfG 38, 105, 111. 363 Vgl. Jung, Lüke-FS, S. 334 f.; Müller, NJW 1976, 1066. 364 Vgl. BVerfGE 63, 45, 65 f.; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. H, RN 116, Müller, NJW 1976, 1066 f.; SK-Rogall, Vor § 133, RN 107; Kohlmann, Peters-FS, S. 319; 358

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Staatsanwaltschaft und Beschuldigten im Ermittlungsverfahren und dessen sachlogischen Besonderheiten. Insbesondere diese Rollenverteilung und Funktion des Strafverfahrens verbieten es, die beispielsweise im Zivilprozess zum Gebot der Waffengleichheit entwickelten Grundsätze auf das Strafverfahren vollständig zu übertragen. Zentrales Anliegen eines rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ist nicht die Anklageerhebung und Verurteilung des Beschuldigten, sondern die Aufklärung des wahren Sachverhalts als notwendige Grundlage einer sachgerechten Entscheidung über das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und eines gerechten Urteils.365 Die Staatsanwaltschaft ist zu diesen Zwecken zur Legalität und Objektivität verpflichtet, § 160 II StPO. Sie hat zu beachten, dass für den Beschuldigten die Vermutung der Unschuld streitet; sie muss ihre Ermittlungen fair führen und Mißbräuche ihrer Befugnisse sowie Beschränkungen der Rechte des Beschuldigten vermeiden. Sie hat auch die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der entsprechenden Beweise zu sorgen, § 160 II StPO. Der Gesetzgeber hat die eingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren insbesondere durch § 147 II StPO umgesetzt. Mangels einer gesetzlichen Regelung der Akteneinsicht für das Haftprüfungsverfahren hat die Rechtsprechung unter Berücksichtigung der eingeschränkten Geltung der Waffengleichheit und des Anspruchs auf rechtliches Gehör ein „abgestuftes“ Informationsrecht entwickelt.366 Der dabei im Laufe des Ermittlungsverfahren eintretende Handlungs- und Informationsvorsprung der Staatsanwaltschaft und die gleichzeitig beim Beschuldigten infolge des Informationsdefizits eintretende Erschwerung der Verteidigung ist daher durch die unterschiedliche Rollenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem gerechtfertigt. Somit muss dieser Handlungs- und Informationsvorsprung der Ermittlungsbehörden bis zum förmlichen Abschluss des Ermittlungsverfahrens nicht voll kompensiert werden.367 Waffengleichheit muss deshalb erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens hergestellt werden; während des Ermittlungsverfahrens gilt der Grundsatz der Waffengleichheit nicht in vollem Umfang. Das „abgestufte“ Informationsrecht des BVerfG kann deshalb als verfassungskonformer Ausgleich zwischen den kollidierenden Interessen des Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft gewertet werden.

Hill in: Isensee/Kirchhof VI, § 156, RN 40 f.; IntKomm-Miehsler/Vogler, Art. 6 RN 357. 365 Vgl. BVerfGE 63, 45, 61; 80, 367, 378; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. G. RN 42 ff.; KK-Pfeiffer, Einl. RN 2. 366 s. dazu oben Teil 3, B. II. 1. b). 367 Vgl. BVerfG NStZ 1984, 228; BVerfG NStZ-RR 1998, 108.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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b) Rechtssystematische Hintergründe Im Gegensatz zur deutschen Strafrechtsprechung führt die Auslegung des Art. 5 IV EMRK durch den EGMR im Ergebnis zu einem vollumfänglichen Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren. Der EGMR lehnt es ab, den Wissensvorsprung der Staatsanwaltschaft auf die Kosten der wirksamen Verteidigung des inhaftierten Beschuldigten gehen zu lassen. Aufgrund der zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigten herrschenden Waffengleichheit müssen beide Beteiligten im Haftprüfungsverfahren über den gleichen Informationsstand verfügen. Das Informationsinteresse des Inhaftierten wird nicht gegen das Aufklärungsinteresse der Staatsanwaltschaft abgewogen, sondern stellt von vornherein eine abwägungsfeste und unverfügbare Beschuldigtenposition dar. Offenbar verstehen BVerfG und EGMR Inhalt, Geltung und Reichweite des Grundsatzes der Waffengleichheit im Haftprüfungsverfahren auf unterschiedliche Weise. Dies ist aufgrund des rechtskulturellen Hintergrunds des Grundsatzes der Waffengleichheit wenig verwunderlich. Wie bereits oben368 dargelegt, findet der Grundsatz des Waffengleichheit seinen gedanklichen Ursprung im anglo-amerikanischen Parteienprozess, für den grundsätzlich die kontradiktorische, am Beibringungsgrundsatz und der Dispositionsmaxime orientierte Verfahrensausgestaltung kennzeichnend ist. Ankläger und Beschuldigter müssen als gleichwertige Parteien dem Gericht die erforderlichen Tatsachen und Beweismittel darlegen und ermitteln auf diese Weise die sogenannte formelle Wahrheit als notwendige Entscheidungsgrundlage für ein gerechtes Ergebnis. Im Gegensatz dazu orientiert sich das deutsche Strafverfahren als staatlich betriebenes Anklageverfahren mit gerichtlicher Amtsaufklärung an der kontinental-europäischen Struktur mit instruktorischer Prägung.369 Der Staatsanwaltschaft kommt in dieser Verfahrensstruktur nicht die Stellung einer Partei zu, die einseitig Belastungsmaterial gegen den Beschuldigten zusammenträgt; sie ist vielmehr zur Erforschung der materiellen Wahrheit als Grundlage einer gerechten Entscheidung verpflichtet. Sie ist deswegen ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege. Aufgrund dieser Rolle ist die Staatsanwaltschaft zur objektiven Ermittlungstätigkeit verpflichtet; alles andere wäre mit ihrer Verpflichtung auf Wahrheit und Gerechtigkeit unvereinbar.370 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ausgestaltungen des Ermittlungsverfahrens, insbesondere des Haftprüfungsverfahrens, wie sie jeweils durch die Judikaturen des EGMR und des BVerfG vorgenommen wurden, konsequent. Für 368

s. Teil 3, B. am Anfang. Vgl. Roxin, § 17 RN 5; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. F, RN 9; Müller, Koch-FS, S. 192 f.; Trüg, S. 27. 370 Vgl. Roxin, § 10, RN 9, KK-Pfeiffer, Einl. RN 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. RN 10; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. I, RN 53 ff. 369

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

ein kontradiktorisches Verfahren fordert der EGMR, dass die eine Partei den Fall unter Bedingungen präsentieren können muss, die sie in keine nachteilige Position gegenüber der anderen Partei bringt.371 Beide Parteien müssen deshalb in jedem Verfahrensstadium – auch in Verfahrensabschnitten vor dem Hauptverfahren –372 über die „gleichen Waffen“ verfügen, d.h. insbesondere Kenntnis von Stellungnahmen und Beweisen der jeweils anderen Seite haben.373 Die Einräumung von effektiv gleichwertigen Rechten für verfahrensrechtlich ungleich behandelte Beteiligte im deutschen Strafverfahren, insbesondere im Ermittlungsverfahren, hieße hingegen, „systemfremde“ Elemente in das deutsche Strafverfahren einzubringen, was möglicherweise zu „Systemverwerfungen“ innerhalb des deutschen Verfahrensmodells führen würde.374 Die deutsche Rechtsprechung375 und ein überwiegender Teil der Lehre376 versteht „Waffengleichheit“ indessen – angepaßt an das instruktorisch geprägte Strafverfahren – im Sinne einer Ausbalancierung der jeweiligen Interessenlagen und damit eines materiellen Chancenausgleichs für die Beteiligten im Hinblick auf die gerichtliche Entscheidung. Hierbei haben Staatsanwalt und Beschuldigter zwar ungleiche Rechte, allerdings werden die Vorrechte des einen durch verfahrensrechtliche Begünstigungen des anderen an anderer Stelle wieder ausgeglichen. Im Ergebnis soll dann jeder der Beteiligten die Möglichkeit besessen haben, den Verlauf und das Ergebnis des Strafverfahrens zu beeinflussen.377 In Anbetracht dieser Interpretation des Grundsatzes der Waffengleichheit ist es deshalb konsequent, dass das BVerfG für die Dauer des Ermittlungsverfahrens

371 Vgl. EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 159; Lanz ./. Österreich, Urteil vom 31.1. 2002, ÖJZ 2002, 433, Ziff. 57; Borgers ./. Belgien, Urteil vom 30.10.1991, EuGRZ 1991, 519, Ziff. 33. 372 Vgl. EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Urteil vom 24.11.1993, Serie A 275, Ziff. 36; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 201, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 203, Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 205, Ziff. 39; denn der Begriff „Anklage“ in Art. 6 I EMRK, aus den der EGMR den Grundsatz der Waffengleichheit ableitet, ist weit im Sinne jeder formalen oder gar materiellen Beschuldigung zu verstehen. 373 EGMR, Öcalan ./. Türkei, Urteil vom 12.3.2003, EuGRZ 2003, 472 ff., Ziff. 166; Lietzow ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 201, Ziff. 44; Schöps ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 203, Ziff. 44; Garcia Alva ./. Deutschland, Urteil vom 13.2.2001, StV 2002, 205, Ziff. 39. 374 Vgl. LR-Schäfer, 24. Aufl., Einl. 6, 15; ähnlich auch Müller, NJW 1976, 1065 f.; Roxin, § 11 RN 13; Ambos, ZStW 115 (2003), 616 f. 375 BVerfGE 63, 45, 61 = NJW 1983, 1043; BGHSt 18, 369, 371. 376 Jung, Lüke-FS, S. 333; Roxin, § 11 RN 13; LR-Rieß, 24. Aufl., Einl. Abschn. H, RN 118 f.; Müller, NJW 1976, 1063, 1065; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. RN 88; Hill in Isensee/Kirchhof VI, § 156 RN 46. 377 Sog. „materielle“ Waffengleichheit, im Gegensatz zur „formellen“ Waffengleichheit im anglo-amerikanischen Parteienprozess, vgl. Roxin, § 11 RN 13; Sandermann, S. 4 f., m. w. N.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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die schriftliche Information im Haftbefehl, gegebenenfalls ergänzt durch eine mündliche Unterrichtung im Regelfall genügen läßt und ein Akteneinsichtsrecht im Ausnahmefall zuläßt. Der Beschuldigte wird nämlich nach Abschluss der Ermittlungen uneingeschränkt Zugang zu den Ermittlungsakten haben.378 c) Stellungnahme und Bewertung Obwohl Divergenzen zwischen der Straßburger Spruchpraxis zu Art. 5 IV EMRK und der deutschen Strafrechtsprechung bestehen, fand eine ergebnisrelevante Auswirkung des Konventionsrechts auf die Argumentation der deutschen Strafrechtsprechung bisher nicht statt. Als Gründe dafür konnten verfassungsrechtlich bedingte Systemunterschiede zwischen dem deutschen Strafverfahrensrecht und dem von der EMRK favorisierten anglo-amerikanischen Rechtssystem ermittelt werden. Die deutschen Strafgerichte und das BVerfG sahen sich deshalb außerstande, die vom EGMR seit der Entscheidung im Fall Lamy im Jahre 1989 etablierten Grundsätze zur kontradiktorischen Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens in vollem Umfang auf das deutsche Strafverfahrensrecht zu übertragen. Es ist allerdings fraglich, ob diese „Abschirmung“ des deutschen Strafverfahrens gegenüber den Entwicklungen des Konventionsrechts und des internationalen Strafverfahrensrechts angesichts der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva in der deutschen Strafrechtsprechung noch aufrechterhalten werden kann. Zunächst sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass die drei Entscheidungen des EGMR Art. 5 IV EMRK für die deutschen Gerichte und Ermittlungsbehörden verbindlich auslegt.379 Diese Auslegung ist bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren, § 147 II, VII StPO und bei deren gerichtlichen Rechtmäßigkeitsüberprüfung, § 147 V, 2 StPO, vorrangig zu berücksichtigen. Daraus folgt die Pflicht zur (künftigen) Beachtung. Entscheidungen deutscher Strafgerichte und Staatsanwaltschaften, die weiterhin dem Verteidiger eines inhaftierten Beschuldigten Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren versagen bzw. dies für rechtmäßig erachten, sind konventionswidrig. Die Frage nach der Systemkonformität der vom EGMR etablierten Grundsätze stellt sich allein deshalb nicht mehr. Zudem ist fraglich, ob die Argumentation der Systemdivergenz und das Beharren auf dem nationalen Modell des Strafverfahrens in heutiger Zeit überhaupt noch aufrecht erhalten werden kann. Die voranschreitende Internationalisierung des Rechts und nicht zuletzt die EMRK und der EGMR als Motor für 378 Vgl. BVerfG StV 1994, 1; BVerfG StV 1994, 465, 466 f. = NJW 1993, 3220 = NStZ 1994, 551. 379 BVerfGE 74, 358, 370; vgl. dazu oben Teil 1, A.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

die Rechtsvereinheitlichung in Europa führen dazu, dass die nationalen Strafrechtsordnungen näher zusammenrücken und Konturen eines supra- und internationalen Strafrechts mit einheitlichen Standards erkennen lassen.380 So erstaunt es nicht, dass im deutschen Strafverfahrensrecht Abweichungen und Durchbrechungen festgestellt werden können, die mit dem anglo-amerikanischen Verfahrensmodell in Verbindung gebracht werden können;381 das System des staatlich betriebenen Anklageverfahrens mit gerichtlicher Amtsaufklärung besteht in Deutschland also nicht in seiner absoluten Reinform.382 Trotz der nach wie vor bestehenden Systemdivergenzen können Abweichungen und Durchbrechungen zu einer Annäherung beider Systeme führen mit der Konsequenz, dass die Lösungen verfahrensrechtlicher Probleme in den jeweiligen Systemen einander ähneln können; Systemdivergenzen müssen deshalb nicht automatisch zu Lösungsdivergenzen führen.383 Es kann ferner festgestellt werden, dass die vom EGMR etablierten Grundsätze zur kontradiktorischen Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens im Grunde genommen den Entwicklungstendenzen und den Reformbestrebungen des Gesetzgebers im deutschen Strafverfahrensrecht kaum zuwiderlaufen. Kann nicht schon seit langem eine Schwerpunktverlagerung des Strafverfahrens weg vom Hauptverfahren, hin zum Ermittlungsverfahren festgestellt werden? Erfordern nicht wichtige, für den Ausgang des Strafverfahrens erhebliche Weichenstellungen im Ermittlungsverfahren eine Verstärkung der Beschuldigtenrechte in diesem Verfahrensstadium? Trägt nicht die frühzeitige Beteiligung des Beschuldigten und seines Verteidigers dazu bei, weiteres Aufklärungspotential zu erschließen? Die Einführung eines offenen und partizipatorischen Vorverfahrens wird seit Jahren in Praxis und Lehre diskutiert384 und in den neueren Veröffentlichungen des Bundesjustizministeriums der Justiz zu einer großen Strafprozessreform als ein Reformziel bezeichnet.385 Die Durchbrechungen im System des deutschen Strafverfahrens sind mithin rechtspolitisch gewollt. Aber auch inner380 s. dazu Kühl, ZStW 100 (1988), 406 ff., 601 ff.; Jung, JuS 1998, 6; Esser, S. 26 ff. u. 41 ff. 381 Z. B. die vielfältigen Möglichkeiten, zur Bewältigung von Massen- und Bagatellkriminalität bestimmte Fälle nach Eröffnung des Ermittlungsverfahrens unter Durchbrechung des Legalitätsgrundsatzes, ohne Anklageerhebung einzustellen, §§ 153 ff., 376 StPO; vgl. Jung, in: Ausländische Verfahrensordnungen, S. 4; Jung, Lüke-FS, S. 335; weitere Beispiele vgl. Kühl, ZStW 100 (1988), 413 ff. u. 601 ff.; Trüg, S. 59 ff., 72 ff., 103 ff., 146 ff., 201 ff. 382 Vgl. Jung, Lüke-FS, S. 335; Trüg, S. 14. 383 Vgl. Kühl, Söllner-FS, S. 622 ff.; ders., ZStW 109 (1997), 777, 802 f.; Jung, in: Ausländische Verfahrensordnungen, S. 3 f.; vgl. dazu auch die gesamte Dissertation von Trüg. 384 Vgl. Rieß, Schäfer-FS, S. 169; Beulke, Rieß-FS, S. 3 ff.; Müller, Koch-FS, S. 192 f.; Ignor/Matt, StV 2002, 102 ff.; Schünemann, ZStW 114 (2002), 38 ff.; Ambos, ZStW 115 (2003), 617; s. auch die Stellungnahme des DAV zur Reform der Strafjustiz, Anwbl. 2001, 30, 39 ff.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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halb der Strafrechtsprechung fand eine gewisse Öffnung gegenüber einer verstärkten Beschuldigtenstellung im Ermittlungsverfahren statt, sonst hätte die Entwicklung hin zu einem ausnahmsweisen Akteneinsichtsrecht und einem verfassungsrechtlichen Verwertungsverbot der nicht bekanntgegebenen Tatsachen im Haftprüfungsverfahren nie stattgefunden. Die EGMR-Entscheidungen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva laufen deshalb der gegenwärtigen Entwicklung des Strafverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland nicht zuwider, sondern unterstützen diese. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Ausführungen des Gerichtshofs sich ausschließlich im Rahmen von Art. 5 IV EMRK bewegen und sich damit auf das Verfahren der Haftprüfung und auf andere Fälle beschränken, in denen der Beschuldigte die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung überprüfen möchte. Inwieweit das deutsche Ermittlungsverfahren in seiner Gesamtheit einer weiteren kontradiktorischen Aus- bzw. Umgestaltung bedarf und Akteneinsicht bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit anderer Grundrechtseingriffe während des Ermittlungsverfahrens versagt werden darf, ist nach Maßgabe des Art. 6 EMRK und den hierzu vom EGMR entwickelten Verfahrensgrundsätzen zu entscheiden.386 IV. Konsequenzen der Entscheidungen des EGMR zum Recht auf Information im Haftprüfungsverfahren: Auswirkungen des Art. 5 IV EMRK in Zukunft Bisher ließen sich keine ergebnisrelevanten Auswirkungen der Straßburger Judikatur auf die deutsche Strafrechtsprechung feststellen. Da seit der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland die Konventionswidrigkeit der deutschen Strafrechtspraxis nunmehr feststeht, sollen in diesem Abschnitt die künftigen Auswirkungen dieser Verurteilung auf die deutsche Strafrechtspraxis untersucht werden. Unmittelbare Konsequenz einer Verurteilung durch den EGMR ist die völkerrechtliche Verpflichtung des verurteilten Staates, den Entscheidungen des Gerichtshofs nachzukommen, Art. 46 I EMRK. Zunächst bedeutet dies die Wiedergutmachung der Folgen des im konkreten Fall als konventionswidrig eingestuften staatlichen Handelns. Eine Verurteilung bringt jedoch für den verurteilen Staat die weitere Verpflichtung mit sich, präventive Maßnahmen zur Vermeidung künftiger gleichartiger Konventionsverletzungen durchzuführen,387 wobei dem verurteilten Staat ein großer Handlungsspielraum eingeräumt wird.388

385 s. z. B. das Diskussionspapier der Regierungskoalition vom 6.4.2001, StV 2001, 314 ff.; s. dazu Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 361. 386 Vgl. dazu Trechsel, Druey-FS, S. 106 ff.; Walischewski, StV 2001, 243. 387 s. dazu oben Teil 1, A. II.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

Die Auswirkungen der Urteile in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva389 werden sich deshalb nicht nur auf die staatsanwaltschaftliche Praxis der Gewährung von Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren begrenzen. Die Lösung des Konflikts zwischen Aufklärungs- und Verteidigungsinteresse und die dadurch aufgeworfene Frage, inwieweit die Staatsanwaltschaft im Haftprüfungsverfahren auf ihren Informationsvorsprung beharren darf, tritt nicht nur bei der Auslegung von § 147 II StPO auf. Die Verurteilung hat auch Konsequenzen für sämtliche Vorschriften der StPO, welche die Information des inhaftierten Beschuldigten über die Gründe seiner Inhaftierung betreffen. Tangiert ist deshalb insbesondere auch die Interpretation der §§ 114 II, 115 III, 115a III und § 118a III StPO, welche den Inhalt der schriftlichen Begründung eines Haftbefehls und die mündliche Unterrichtung im Rahmen der richterlichen Vernehmung oder mündlicher Verhandlungen regeln. 1. Konsequenzen für die Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren In den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva stellte der Gerichtshof die Konventionswidrigkeit der Praxis deutscher Staatsanwaltschaften, Akteneinsicht gegenüber dem Verteidiger eines inhaftierten Beschuldigten aus Gründen des überwiegenden Geheimhaltungsinteresse zu verweigern, fest.390 Die in § 147 II StPO vorgesehene Kompetenz der Staatsanwaltschaft zur Verweigerung von Akteneinsicht stand jedoch nicht in der Kritik des EGMR. Vielmehr bestätigte er ausdrücklich das staatliche Interesse an ungestörten und damit effektiven Ermittlungen. § 147 II StPO schreibt die Verweigerung der Akteneinsicht nicht zwingend vor, sondern stellt sie in das pflichtgemäße Ermessen der Staatsanwaltschaft. Die Konventionsverletzung beruht folglich nicht unmittelbar auf der bestehenden gesetzlichen Regelung des § 147 II StPO, sondern auf der Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft in den Fällen, in denen sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befand und seinem Verteidiger der genaue Akteninhalt unbekannt war. Zur künftigen Vermeidung weiterer Verletzungen des Art. 5 IV EMRK stehen nun zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Zunächst kann diejenige Rechtsnorm, welche Grundlage für die konventionswidrige Ermessensentscheidung war, geändert werden. So könnte dem § 147 II StPO ein weiterer Satz hinzugefügt werden, der in Anlehnung an den kürzlich geänderten § 147 V Satz 2 StPO folgendermaßen lauten könnte: „Dies gilt nicht, wenn der Beschuldigte sich 388 Vgl. EGMR, Marckx ./. Belgien, Urteil vom 13.6.1979, EuGRZ 1979, 454, Ziff. 58; Vermeire ./. Belgien, Urteil vom 29.11.1991, EuGRZ 1992, 12, 13, Ziff. 26; Grabenwarter, § 16 RN 2; Peters, S. 253. 389 EGMR, Urteile vom 13.3.2001, StV 2001, 202 ff. = NJW 2002, 2013 ff. 390 s. dazu oben, Teil 3, B. I. 1.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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nicht auf freiem Fuß befindet.“ Eine Änderung diesen Inhalts ist vom Bundesministerium der Jusitz jedoch nicht vorgesehen.391 Auch wenn sie die sicherste Garantie gegen eine Wiederholung der vom EGMR gerügten Praktiken darstellt, ist eine Gesetzesänderung nicht zwingend erforderlich.392 Die Bundesrepublik Deutschland kann sich deshalb bei der Durchführung der EGMR-Urteile auch darauf beschränken, für eine konventionskonforme Anwendung des § 147 II StPO im Einzelfall zu sorgen. Dies ließe sich durch eine Änderung der für den behördeninternen Gebrauch erlassenen Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) sicherstellen. Durch Hinzufügung einer Ausnahmeregelung zu Nr. 187 I RiStBV für Beschuldigte, die sich nicht auf freiem Fuß befinden, könnte für eine konventionskonforme Anwendung des § 147 II gesorgt werden. Aber auch eine solche Änderung ist vom Bundesjustizministerium nicht beabsichtigt.393 Vielmehr beschränkte sich die Bundesregierung darauf, die Urteile des EGMR den Landesjustizverwaltungen, dem Generalbundesanwalt sowie dem BGH zur Kenntnis zu bringen.394 Dies entspricht auch der Praxis des für die Überwachung der Urteilsdurchführung zuständigen Ministerkomitees.395 Nach der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland infolge Verstoßes gegen Art. 5 IV EMRK sind Fälle zulässiger Verweigerung der Akteneinsicht des Verteidigers in diejenigen Akten, die die Staatsanwaltschaft dem Ermittlungsrichter für dessen Entscheidung vorgelegt hat, nicht mehr vorstellbar. Die Wahlmöglichkeit der Staatsanwaltschaft, ob und in welchem Umfang dem Verteidiger Einsicht in die Akten verschafft wird, reduziert sich deshalb im Fall der Inhaftierung des Beschuldigten darauf, Akteneinsicht in vollem Umfang zu gewähren. Anders lautende Entscheidungen wären infolge der Konventionswidrigkeit ermessensfehlerhaft; das Ermessen der Staatsanwaltschaft ist deswegen auf Null reduziert.396 Wird die Akteneinsicht gleichwohl verweigert, hat dies ein Verwertungsverbot von denjenigen Tatsachen zur Folge, bezüglich derer die Einsicht verweigert wurde. Wenn die dem Beschuldigten bekanntgegebenen Tatsachen für die Anordnung der Untersuchungshaft nicht ausreichen, muss der Haftbefehl aufgehoben werden. Dies wird notwendigerweise zu einer re-

391 Dies ergaben zumindest die Nachforschungen der Verfasserin beim Bundesjustizministerium Berlin; vgl. auch Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2005. 392 Vgl. Okresek, EuGRZ 2003, 168, 171; Frowein/Peukert, Art. 54 RN 8; Polakiewicz, S. 181 ff. 393 So die Nachforschungen der Verfasserin beim Bundesjustizministerium Berlin. 394 Vgl. Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2005. 395 Vgl. z. B. den Anhang zu den Resolutionen DH (78) 39 vom 13.10.1978, Tyrer ./. UK; DH (92) 62 vom 10.11.1992, Linguistique Belge ./. Belgien; vgl. Okresek, EuGRZ 2003, 168, 171; zu den Fällen Lietzow, Schöps, Garcia Alva liegen keine Resolutionen des Ministerkomitees vor. 396 Vgl. Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2005; Schmitz, wistra 1993, 324, der dies bereits seit dem Lamy-Urteil des EGMR 1989 gefordert hat.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

striktiveren Handhabung entweder der Untersuchungshaft oder der Verweigerung von Akteneinsicht führen.397 Das gemäß §§ 147 V Satz 2, 161a III Satz 2–4 StPO mit der Überprüfung der staatsanwaltlichen Verweigerung von Akteneinsicht befasste Gericht ist ebenfalls zur Beachtung der EGMR-Entscheidungen verpflichtet und kann im Falle einer konventionswidrigen Verweigerung von Akteneinsicht die Staatsanwaltschaft auffordern, dem Verteidiger Einsicht in die gesamte Ermittlungsakte zu gewähren. Damit stellt die mit StVÄG 1999398 geschaffene Rechtsschutzmöglichkeit das „Haupteinfallstor“ für Art. 5 IV EMRK dar. 2. Die Konsequenzen für die Akteneinsicht des inhaftierten Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat Die Konsequenzen für das Akteneinsichtsrecht des „unverteidigten“ Beschuldigten werden nicht anders als für das Akteneinsichtsrecht des „verteidigten“ Beschuldigten aussehen. Nach deutschem Recht hat der Beschuldigte selbst keinen Anspruch auf Akteneinsicht; das Akteneinsichtsrecht steht vielmehr nur seinem Verteidiger zu, der es für ihn ausübt.399 Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, können gemäß § 147 VII Satz 1 StPO Auskünfte und Abschriften aus den Ermittlungsakten erteilt werden, sofern ihm nicht bei schwierigen Sach- und Rechtslagen ein Pflichtverteidiger nach § 140 II StPO bestellt wurde. Die auf diesem Weg erteilten Informationen können einer vollen Akteneinsicht gleichkommen, wenn sich der Beschuldigte sonst nicht angemessen verteidigen kann.400 Die Entscheidung, ob und wie dem Beschuldigten diese Auskünfte erteilt werden, steht allerdings im Ermessen der Staatsanwaltschaft oder des Vorsitzenden, § 147 V StPO. Insbesondere kann der Erteilung von Auskünften und Abschriften die Gefährdung des Untersuchungszwecks entgegenstehen, § 147 VII, 1, 2. Hs StPO. Nach der Judikatur des EGMR im Fall Foucher steht dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger beauftragt hat, ein eigenes Akteneinsichtsrecht zu; die Gewährung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten hängt nicht davon ab, ob der Beschuldigte diese selbst ausübt oder durch einen Verteidiger ausüben läßt.401 397

Vgl. Ambos, NStZ 2003, 15. BGBl. I vom 2.8.2000, S. 1253 ff. 399 Vgl. BVerfGE 53, 207, 214; OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2001, 374; OLG Köln StV 1999, 12; LG Mainz NJW 1999, 1272; KK-Laufhütte, § 147 RN 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 RN 3 f.; Pfeiffer, § 147 RN 1; a. A. bereits LG Ravensburg NStZ 1996, 101; Hiebl, S. 97; Böse, StraFo 1999, 295 f.; Haass, NStZ 1999, 444; Schröder, NJW 1987, 301 ff., spricht in diesem Zusammenhang von formeller und materieller Verteidigung. 400 Vgl. Pfeiffer, § 147 RN 11; KK-Laufhütte, § 147 RN 2; LG Ravensburg, NStZ 1996, 101; LG Hamburg NJW 1993, 3152. 398

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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Allerdings hat der EGMR anerkannt, dass ein auf den Verteidiger beschränktes Akteneinsichtsrecht dann nicht konventionswidrig ist, wenn zum Zwecke der Akteneinsicht ein Verteidiger bestellt werden muss.402 Die Frage, ob die Akteneinsicht des Verteidigers aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungszwecks eingeschränkt werden kann, wenn der Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzt, wurde vom EGMR negativ beantwortet.403 Gleiches muss nun auch für die Akteneinsicht für den unverteidigten Beschuldigten gelten.404 Dem Recht des unverteidigten Beschuldigten auf Akteneinsicht darf also nicht mehr die Gefährdung des Ermittlungszwecks entgegengehalten werden. Für die Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung zur Akteneinsicht des unverteidigten Beschuldigten im deutschen Strafverfahrensrecht ist denkbar, weiteren Verletzungen des Art. 5 IV EMRK durch Änderung der § 147 VII StPO vorzubeugen.405 Da eine Gesetzesänderung in diesem Zusammenhang nicht beabsichtigt ist,406 bleibt der Staatsanwaltschaft nichts anderes übrig, als die EGMR-Judikatur bei der Ausübung ihres Ermessens im Rahmen von § 147 VII StPO zu berücksichtigen. Auch im Falle des unverteidigten und inhaftierten Beschuldigten wird keine andere Entscheidung als die Gewährung von vollumfänglicher Akteneinsicht konventionskonform sein; das staatsanwaltschaftliche Ermessen ist auf Null reduziert.407 3. Konsequenzen für den Inhalt des Haftbefehls Die Urteile des EGMR in Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva408 haben auch Folgen für den Umfang der schriftlichen Begründung der Untersuchungshaftanordnung. § 114 II StPO schreibt vor, welche Angaben im Haftbefehl zwingend enthalten sein müssen. Bei der Bestimmung des notwendigen Inhalts herrscht Uneinigkeit in Rechtsprechung und Literatur. Strittig ist nach wie vor, 401

EGMR, Urteil vom 18.3.1997, NStZ 1998, 429; vgl. oben Teil 3, B. I. 2. Vgl. EGMR, Foucher ./. Frankreich, Urteil vom 18.3.1997, NStZ 1998, 429 Ziff. 35; Kamasinski ./. Österreich, Urteil vom 19.12.1989, Serie A 168, Ziff. 88. 403 EGMR, Lietzow ./. BRD; Schöps ./. BRD; Garcia Alva ./. BRD; Urteile vom 13.3.2001, StV 2001, 202 ff. = NJW 2002, 2013 ff. 404 Vgl. dazu oben Teil 3, B. I. 2. 405 Etwa durch Hinzufügung eines 3. Satzes, der folgendermaßen lauten könnte: „Befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, kann die Gewährung von Auskünften und Abschriften aus den Akten nicht aus Gründen der Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt werden.“ 406 Vgl. die Anfrage der Verfasserin beim Bundesjustizministerium Berlin. 407 Eine weitere Möglichkeit zur Umsetzung der EGMR-Grundsätze zum Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten stellt ferner die Änderung bzw. die konventionskonforme Auslegung der Vorschriften für die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach §§ 117 IV, 140 I, II StPO dar. 408 EGMR, Urteile vom 13.3.2001, StV 2001, 202 ff. = NJW 2002, 2013 ff. 402

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

ob gemäß § 114 II Nr. 2 und 3 StPO sämtliche Straftaten, deren der Beschuldigte verdächtigt wird, und alle in Betracht kommenden Haftgründe im Haftbefehl erschöpfend aufgezählt werden müssen. Ungeklärt ist auch, ob gemäß § 114 II Nr. 4 StPO die Beweismittel für diejenigen Tatsachen, die den dringenden Tatverdacht und die Haftgründe beschreiben, vollständig aufgeführt werden müssen. Auch bezüglich der Erörterung des Beweiswerts im Haftbefehl besteht Uneinigkeit. Aus dem Wortlaut des § 114 II StPO ergibt sich die Pflicht zur vollständigen Angabe dieser Informationen im Haftbefehl nicht zwingend.409 Nach bisher weit verbreiteter Ansicht in Rechtsprechung410 und Literatur411 soll der notwendige Inhalt des Haftbefehls in Anlehnung an § 147 II StPO unter Berücksichtigung des Ermittlungszwecks bestimmt werden. Dies bedeutet, dass die in § 114 II StPO und Art. 103 I GG niedergelegte Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte, den Haftbefehl mit den vorbezeichneten Angaben zu versehen, nur dann besteht, wenn dadurch der Ermittlungszweck nicht gefährdet wird. Diese Interpretation wurde vielfach kritisiert. Der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Prinzip des fairen Verfahrens gebiete, die Untersuchungshaftanordnung ohne Rücksicht auf eine Gefährdung der Ermittlungen möglichst ausführlich zu begründen, um die effektive Verteidigung im Haftprüfungsverfahren zu ermöglichen.412 Bei konsequenter Übertragung der EGMR-Grundsätze auf die Anforderungen an den Inhalt des Haftbefehls nach § 114 II StPO ist diese Meinung die einzig vertretbare.413 Der EGMR hält eine effektive Verteidigung nur dann für gewährleistet, wenn der Beschuldigte oder sein Verteidiger über die notwendige Sachverhaltsbasis verfügen, um sämtliche Gründe seiner Inhaftierung angreifen zu können. Zu dieser Sachverhaltsbasis gehören die Beweismittel und die Kenntnis über die Einschätzung des Beweiswerts sowie die Beweiswürdigung durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht. Ferner sind sämtliche Straftaten, deren der Beschuldigte verdächtig wird und alle in Frage kommenden Haftgründe im Haftbefehl erschöpfend aufzuführen. Der Einwand der Gefährdung des Ermittlungszwecks gegen die vollständige Aufführung die-

409 Einen Überblick über die Diskussion verschaffen Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 114 RN 6 ff.; LR-Hilger, 25. Aufl., § 114 RN 10 ff.; KK-Boujong, § 114 RN 6 ff.; SK-Paeffgen, RN 4 ff.; Schlothauer/Weider, RN 313 ff.; vgl. auch OLG Düsseldorf JZ 1984, 540. 410 OLG Düsseldorf JZ 1984, 540; StV 1988, 534; StV 1991, 521; HansOLG Hamburg MDR 1992, 693; OLG Hamm StV 1998, 35. 411 LR-Hilger, 25. Aufl., § 114 RN 10; KK-Boujong, § 114 RN 12; Pfeiffer, § 114 RN 6; HK-Lemke, § 114 RN 9; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 114 RN 11. 412 Vgl. SK-Paeffgen, § 114, RN 9; Schlothauer, StV 1991, 522, 523; Schlothauer/ Weider, RN 415; Rudolphi, StV 1988, 534; AK-StPO-Deckers, § 114 RN 4. 413 s. Kempf, Rieß-FS, S. 219 f., 221 f.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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ser Informationen wird infolge der EGMR-Rechtsprechung nicht mehr vorgebracht werden können. Zwar kann sich jetzt der inhaftierte Beschuldigte bzw. sein Verteidiger die für die Haftfrage wesentlichen Information im Wege der Akteneinsicht verschaffen; er wäre dann deshalb nicht mehr auf die Mitteilung dieser Informationen im Haftbefehl angewiesen. Die vom BVerfG etablierte Verknüpfung von Akteneinsicht und schriftlicher Begründung des Haftbefehls414 wurde aber durch den EGMR aufgelöst. Der Umfang der von der Staatsanwaltschaft geschuldeten Mitteilungen hängt gerade nicht davon ab, ob sich ein soeben verhafteter Beschuldigter Kenntnis über die Gründe seiner Freiheitsentziehung im Wege der Akteneinsicht verschaffen wird. Vielmehr stellt § 114 StPO auf diejenige Information ab, die er unabhängig von der Frage, ob und inwieweit ihm Akteneinsicht gewährt wird, er auf jeden Fall erhalten muss.415 Die sicherste Umsetzung der Grundsätze der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 5 IV EMRK für den notwendigen Inhalt des Haftbefehls würde auch hier durch Änderung der Muss-Vorschrift des § 114 II StPO erfolgen. In dieser Vorschrift müssten nunmehr alle Strafvorwürfe und Haftgründe zwingend in die Begründung der Untersuchungshaftanordnung gemäß § 114 II Nr. 2 und 3 StPO aufgenommen werden; ebenso müsste § 114 II Nr. 4 StPO um die Pflichtangabe von Beweismitteln und Ausführungen über deren Beweiswert erweitert werden. Eine solche Gesetzesänderung ist jedoch nicht geplant, ebenso wenig eine Änderung der für den behördeninternen Gebrauch bestimmten Nr. 46 RiStBV.416 Die Bundesregierung hat lediglich die Urteile des EGMR in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva den Landesjustizverwaltungen, dem Generalbundesanwalt sowie dem BGH zur Kenntnis gebracht,417 damit diese bei der Anwendung und Auslegung des § 114 II StPO im Einzelfall berücksichtigt werden. Es kann nur gehofft werden, dass diese Maßnahme ausreicht, um weiteren Konventionsverletzungen wirksam entgegenzuwirken. 4. Konsequenzen für den Inhalt der mündlichen Information Das Spannungsfeld zwischen Verteidigungs- und Aufklärungsinteresse tritt auch bei der Interpretation der §§ 115 III, 115a III und § 118a III StPO auf. Diese Vorschriften regeln die mündliche Unterrichtung des in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten durch den Haftrichter nach Festnahme, nach Ergreifen aufgrund eines Haftbefehls oder bei der mündlichen Verhandlung anlässlich des Haftprüfungsverfahrens. Bei diesen Gelegenheiten ist dem Beschul414 415 416 417

s. dazu oben Teil 3, B. II. 1. b). Vgl. Kempf, Rieß-FS, S. 220. So die Nachforschungen der Verfasserin beim Bundesjustizministerium Berlin. Vgl. Kieschke/Osterwald, NJW 2002, 2005.

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Teil 3: Die Auswirkungen des Art. 5 auf die deutsche Strafrechtsprechung

digten rechtliches Gehör zu allen Umständen zu gewähren, die bei der richterlichen Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls gegen ihn verwandt werden können.418 Dazu ist erforderlich, dass er über das gesamte zusammengetragene Be- und Entlastungsmaterial, das den Gegenstand des Verfahrens bildet und für die Haftfrage maßgeblich sein kann, unterrichtet wird.419 Nach der bisher herrschenden Rechtsprechung des BVerfG hat dies insbesondere dann zu geschehen, wenn nach § 147 II StPO Akteneinsicht versagt wurde.420 Auf diese Weise sollte das durch die Akteneinsichtsverweigerung entstehende Informationsdefizit ausgeglichen werden. Diese Unterrichtungspflicht ging jedoch nur soweit, wie es die Sperrwirkung des § 147 II StPO erlaubte. Die Gewährung von Informationen zur effektiven Verteidigung gegen die Untersuchungshaft konnte somit nach wie vor zugunsten des Aufklärungsinteresses der Ermittlungsbehörden eingeschränkt werden. Dies ist nun nach der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva nicht mehr möglich. Zum einen wurde die Verflechtung der Unterrichtungspflicht mit der Akteneinsicht in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis vom EGMR aufgelöst.421 Es wird deshalb auf Beschuldigtenseite kein Informationsdefizit mehr geben, das des Ausgleichs durch mündliche Mitteilungen im Rahmen richterlicher Vernehmungen und mündlicher Verhandlungen bedarf.422 Zum anderen wurde dem „abgestuften“ Informationsrecht der deutschen Rechtsprechung vom EGMR eine Absage erteilt, weil es den Erfordernissen eines kontradiktorischen Verfahrens nicht genügt. Ein durch Versagung von Akteneinsicht entstandenes Informationsdefizit kann nicht durch eine mündliche Haftbegründung beseitigt werden, weil die durch den Haftrichter mitgeteilten Informationen lediglich eine Zusammenfassung von Schlussfolgerungen aus Tatsachen darstellen, die diesem durch die Staatsanwaltschaft übermittelt worden sind.423 Um eine künftige Verletzung von Art. 5 IV EMRK zu vermeiden, ist eine Änderung der §§ 115 III, 115a III, 118a III StPO nicht erforderlich. Als konventionswidrig hat sich lediglich die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften im Einzelfall erwiesen. Dafür hat das Bundesjustizministerium gesorgt, indem die Entscheidungen des EGMR den Strafbehörden zur Kenntnis gebracht wurden.

418 419

Vgl. KK-Boujong, § 115 RN 9; SK-Paeffgen, § 115 RN 9. Vgl. BVerfG StV 1994, 465; KK-Boujong, § 115 RN 9; SK-Paeffgen, § 115

RN 9. 420 421 422 423

BVerfG StV 1994, 465; s. dazu oben Teil 2, B. III. 1. b). s. dazu oben Teil 3, B. III. 1. Kempf, Rieß-FS, S. 223 f. Kempf, Rieß-FS, S. 224.

B. Das Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren

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V. Ergebnis Art. 5 IV EMRK und die Straßburger Judikatur zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren hatten bisher auf die deutsche Strafrechtsprechung keine ergebnisrelevanten Auswirkungen, obgleich erhebliche inhaltliche Unterschiede zwischen der Praxis der Staatsanwaltschaften und Gerichte und der EGMRRechtsprechung bestehen. Der EGMR gewährt zum Zwecke der Haftprüfung vollumfängliche Akteneinsicht; die deutschen Strafgerichte und das BVerfG befürworten ein „abgestuftes“ Informationsrecht, das nur ausnahmsweise zu einem vollen Akteneinsichtsrecht erstarken kann. Bis zur dreifachen Verurteilung des Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR im Jahre 2001 fand dieser Unterschied keinen Anklang in der deutschen Strafrechtsprechung; vielmehr wurde eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den EGMR-Grundsätzen auf unterschiedlichen Wegen vermieden. Erst ab den Verurteilungen in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva haben sich die deutschen Strafgerichte verstärkt mit der Sichtweise des EGMR auseinandergesetzt, ohne dass dies jedoch für die Entscheidungsergebnisse inhaltliche Relevanz besessen hätte. Allerdings hat sich die Art und Weise der Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung seit der dreifachen Verurteilung verändert. Wenn davor die Bezugnahmen eher widerwillig und mit einer gewissen Scheu erfolgten, kann nun eine verstärkte inhaltliche Auseinandersetzung und damit ein unbefangenerer Umgang mit den Urteilen des EGMR ausgemacht werden. Es kann nur gehofft werden, dass diese Unbefangenheit der deutschen Strafrechtsprechung anhält und dazu führt, dass die Konsequenzen der dreifachen Verurteilung angenommen und ein wichtiges Bestandteil der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Praxis der Gewährung von Informationen im Haftprüfungsverfahren werden.

Zusammenfassende Thesen (1) Trotz des eingangs festgestellten Bedeutungszuwachses der EMRK auf dem europäischen Kontinent und der „Neuentdeckung“ der Konvention für das deutsche Strafverfahrensrecht durch die Strafrechtswissenschaft hatten Art. 5 III Satz 2 und Art. 5 IV EMRK keine ergebnisrelevanten Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren. Allerdings kann hieraus nicht geschlossen werden, dass die weiteren Garantien des Art. 5 EMRK, die nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit waren, für die deutsche Strafrechtsprechung gleichfalls keine Relevanz für die deutsche Rechtsprechung zum Strafverfahrensrecht besitzen. (2) Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach Art. 5 III Satz 2 EMRK wurde vor allem durch § 121 StPO in nationales Recht umgesetzt. Die Auslegung der in Absatz 1 dieser Vorschrift enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe wurde der deutschen Strafrechtsprechung in Anlehnung an Art. 5 III Satz 2 EMRK bestimmt, so dass sich keine inhaltlichen Unterschiede ergeben konnten.424 Unstimmigkeiten zwischen strafgerichtlichen Entscheidungen und der Konventionsgarantie betrafen nur die Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall. Ergebnisrelevante Auswirkungen des Art. 5 III Satz 2 EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung zu § 121 StPO waren unter diesen Voraussetzungen nicht möglich.425 (3) Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird von der deutschen Strafrechtsprechung auch im Rahmen einer Gesamtabwägung nach § 120 I StPO beachtet. Allerdings kann diese Gesamtabwägung im Einzelfall dazu führen, dass der Haftbefehl trotz eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot nicht aufgehoben wird, da die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache dem entgegenstehen.426 Dies widerspricht jedoch Art. 5 III Satz 2 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR, die vorsehen, dass der Inhaftierte aus der Haft zu entlassen ist, sobald das Strafverfahren von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten in zurechenbarer Weise erheblich verzögert wird. Die zu erwartende Strafe und die Bedeutung der Sache können der Haftentlassung nicht entgegenstehen.427 424 425 426 427

s. s. s. s.

dazu oben Teil 3, A. III. 1. b), 2. a). oben Teil 3 A. III. 3. dazu oben Teil 3. A. II. 2. b). dazu oben Teil 3. A. III. 1. b).

Zusammenfassende Thesen

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(4) Der Unterschied zwischen Art. 5 III Satz 2 EMRK und § 120 I StPO einerseits und die Übereinstimmung von Art. 5 III Satz 2 EMRK und § 121 StPO andererseits führen zu unterschiedlichen Zäsuren bei den Maßstäben für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer. Die EMRK legt den nach Art. 5 III Satz 2 EMRK geltenden strengeren Maßstab von Beginn der Untersuchungshaft bis zum Erlass eines erstinstanzlichen Urteils an; ab Verurteilung gilt der weniger strenge Maßstab des Art. 6 I EMRK. Dies ist sachgerecht, da die Beurteilungsgrundlage für die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer erst durch ein erstinstanzliches Urteil konkretisiert und die Unschuldsvermutung durch eine Verurteilung erstmalig erschüttert wurde. Nach der StPO erfolgt die Änderung des Beurteilungsmaßstabs nach sechs Monaten Untersuchungshaftvollzug. In den ersten sechs Monaten gelten für die Fortdauer der Untersuchungshaft die Voraussetzungen des § 120 I StPO. Ab sechsmonatiger Untersuchungshaftdauer ist die Aufrechterhaltung der Haft anhand der strengen Voraussetzungen von § 121 StPO zu beurteilen. Nach einem erstinstanzlichen Urteil gelten wiederum die weniger strengen Voraussetzungen des § 120 I StPO für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft. Die Zäsur bei sechs Monaten Untersuchungshaftdauer ist jedoch nicht sachgerecht und widerspricht den Wertungen der EMRK.428 (5) Die deutsche Strafrechtsprechung zu § 120 I StPO gleicht den inhaltlichen Unterschied zu Art. 5 III Satz 2 EMRK und der Judikatur des EGMR faktisch aus, indem sie die Abwägung zwischen der Verfahrensverzögerung und der zu erwartenden Strafe in frühen Verfahrensstadien nie explizit durchführt, hingegen in späten Verfahrensstadien, insbesondere nach einem erstinstanzlichen Urteil, vornimmt. Auf diese Weise kann der nach Verfahrensstadium unterschiedlichen Dichte der Beurteilungsgrundlage für die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer in sachgemäßer Weise Rechnung getragen werden. Der Ausgleich erfolgt jedoch nicht anhand von Art. 5 III Satz 2 EMRK und der Judikatur des EGMR; vielmehr greifen die Gerichte für die Beurteilung, ob ein erheblicher Verfahrensverstoß zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft während den ersten sechs Monaten, während der Hauptverhandlung und im Falle der Überhaft führt, auf die BVerfG-Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen sowie auf die Wertungen des § 121 I StPO und die dazu ergangene oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zurück, obwohl § 121 I StPO auf diese Verfahrensabschnitte nicht anwendbar ist.429 (6) § 121 I StPO und die seit Inkrafttreten des GG ständige Rechtsprechung des BVerfG zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen haben Art. 5 III Satz 428 429

s. dazu oben Teil 3. A. III. 1. a), b). s. dazu oben Teil 3. A. III. 2. b).

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Zusammenfassende Thesen

2 EMRK mithin verdrängt. Gelegentliche Bezugnahmen auf die Konvention in strafgerichtlichen Entscheidungen zu § 120 I StPO hatten deshalb nur noch die Funktion, den für Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgrundsatz herzuleiten und zu begründen, ohne für das Entscheidungsergebnis relevant zu sein.430 (7) Inhaltliche Unterschiede bestehen auch zwischen Art. 5 IV EMRK und der deutschen Strafrechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren nach § 147 StPO. Der EGMR gewährt dem Beschuldigten oder dessen Verteidiger aufgrund des Erfordernisses, das Haftprüfungsverfahren waffengleich auszugestalten, ein vollumfängliches Akteneinsichtsrecht.431 Die deutsche Rechtsprechung gewährt lediglich ein unter dem Vorbehalt der Gefährdung des Untersuchungszwecks „abgestuftes“ Informationsrecht, das zunächst die schriftliche Information im Haftbefehl, ergänzt durch eine mündliche Information des Beschuldigten durch den Haftrichter, umfasst. Es genügt den Anforderungen an ein waffengleich ausgestaltetes Verfahren, dass Akteneinsicht nur dann gewährt wird, wenn die beiden anderen Informationsquellen für eine wirksame Verteidigung des Beschuldigten im Haftprüfungsverfahren nicht ausreichen. Die Einsichtnahme soll sich dann jedoch auf diejenigen Aktenteile beschränken, die für das Haftprüfungsverfahren wesentlich sind, wobei die Auswahl der wesentlichen Aktenteile der Staatsanwaltschaft oder dem Haftrichter überlassen ist. Zwar kann dies im Einzelfall dazu führen, dass die Ermittlungsakten in ihrer Gesamtheit als wesentlich erachtet werden, jedoch bleibt dies eine Ausnahme.432 Diese Praxis widerspricht jedoch den konventionsrechtlichen Vorgaben. (8) Trotz dieses Unterschieds fand vor der dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in den Fällen Lietzow, Schöps und Garcia Alva im Jahre 2001 keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR in den strafgerichtlichen Entscheidungen statt; die vereinzelten Bezugnahmen auf Art. 5 IV EMRK und das Lamy-Urteil des EGMR dienten lediglich zur Herleitung und Begründung des Grundsatzes der Waffengleichheit im Haftprüfungsverfahren. Ab 2001 setzen sich die deutschen Strafgerichte zwar nun inhaltlich mit den Urteilen des EGMR ausführlich auseinander; allerdings kommen die Gerichte zu dem Ergebnis, dass keine Unterschiede zwischen ihrer bisherigen Praxis der Gewährung von Akteneinsicht für das Haftprüfungsverfahren und der Rechtsprechung des EGMR bestehen. Deswegen war Art. 5 IV EMRK und die EGMR-Rechtsprechung auch hier für das Entscheidungsergebnis ohne Bedeutung.433 430 431 432 433

s. s. s. s.

dazu dazu dazu dazu

oben oben oben oben

Teil Teil Teil Teil

3, 3, 3, 3,

A. III. 2. und 3. B. I. und III.1. B. II. und III.1. B. III. 3.

Zusammenfassende Thesen

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(9) Als Grund für die unterbliebene Auswirkung konnten Systemunterschiede zwischen dem deutschen Strafverfahrensrecht und dem von der EMRK favorisierten anglo-amerikanischen Rechtssystem ermittelt werden, die zu einer unterschiedlichen Interpretation des Begriffs der Waffengleichheit im Haftprüfungsverfahren geführt haben. Aufgrund der für das deutsche Strafverfahren spezifischen Rollenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung besteht für die h. M. in Rechtsprechung und Literatur kein Anlass, entsprechend dem anglo-amerikanischen Verständnis absolute Waffengleichheit zwischen den Verfahrensbeteiligten herzustellen. Allerdings ist fraglich, ob angesichts der vielen Systemdurchbrechungen des deutschen Strafverfahrens zugunsten anglo-amerikanischer Verfahrenselemente sowie der rechtspolitischen Diskussionen über eine Verstärkung der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren die Systemdivergenz als Argument gegen eine konsequente Beachtung der EGMR-Rechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren noch Gültigkeit besitzt.434 (10) Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren wird Konsequenzen für die Praxis der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte bei der Gewährung von Akteneinsicht des unverteidigten inhaftierten Beschuldigten haben. Auch ihm muss vollumfängliche Einsicht gewährt werden. Ferner müssen die im Haftbefehl enthaltenen schriftlichen Informationen sämtliche Straftaten und Haftgründe, sämtliche Beweismittel einschließlich deren Bewertung beinhalten. Die im Rahmen der ersten Vernehmung und weiterer Verhandlungen über die Fortdauer der Haft gewährten mündlichen Informationen dürfen nicht mehr wie bisher unter den Vorbehalt der Gefährdung des Untersuchungszwecks gestellt werden.435 (11) Anhand der Untersuchung der konventionsrechtlichen Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsprechung zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und dem Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren zeigt sich, dass noch kein breites Verständnis innerhalb der deutschen Strafrechtsprechung für Art. 5 EMRK besteht. Es bedarf nach wie vor der Signalwirkung einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR, um die deutschen Behörden und Gerichte zu einer ernsthaften inhaltlichen Auseinandersetzung mit den einzelnen Garantien der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung zu animieren. Der Bekanntheitsgrad der EMRK wurde nur anhand von Einzelfällen, wie beispielsweise dem des Akteneinsichtsrechts im Haftprüfungsverfahren, gesteigert; die in Art. 5 III Satz 2 EMRK erfolgte Ausgestaltung des Beschleunigungsgebots in 434 435

s. dazu oben Teil 3, B. III. 4. s. dazu oben Teil 3, B. IV.

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Zusammenfassende Thesen

Haftsachen wurde hingegen kaum beachtet, da keine „spektakulären“ Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland vorliegen. Diese „reaktive“ Auseinandersetzung trägt jedoch nicht dazu bei, ein breiteres Verständnis über das Potential der Konvention für das deutsche Strafverfahrensrecht zu schaffen.

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Sachwortverzeichnis Kursive Einträge bezeichnen Entscheidungen des EGMR Akteneinsichtsrecht – des „unverteidigten“ Beschuldigten 128 f., 158 f. – deutsche Rechtsprechung 132 ff., 137 ff. – EGMR-Rechtsprechung 121 ff., 137 ff. – gemäß § 147 StPO 129 ff., 156 ff. – im Haftprüfungsverfahren 58, 121 ff. 156 ff. – Rechtsschutz 130 ff. Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer – Beurteilungsgrundlage 47 ff. – Beurteilungskriterien 45 ff., 66 f., 72 ff., 81 ff., 89 ff., 105 ff. Anspruch auf rechtliches Gehör 133 ff., 148 ff. Auslegung – historische 28 f., 109, 112 f., 115 ff. – konventionskonforme 23, 26 f., 28 f. – teleologische 109, 110 f., 113 f., 115 ff., 145 Äußerung 58 f. Auswirkungen – der EMRK 28 f. – von EGMR-Urteilen 25, 114 ff., 139 ff., 155 ff. Behördenorganisation 73 ff., 83 ff. Beibringungsgrundsatz 121 ff., 151 ff. Beschleunigungsgebot – Abgrenzung Art. 5 III Satz 2 und Art. 6 I EMRK 44 f., 64, 67 ff. Beschleunigungsgebot in Haftsachen 44 ff., 64 ff.

– bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen 94, 99 f. – bei einstweiliger Unterbringung 69 f. – bei Überhaft 70 ff., 100 f., 113 f. – deutsche Rechtsprechung 77 ff. – EGMR-Rechtsprechung 66 ff. – Geltungsbereich 67 ff., 104 f., 110 f. Bindungswirkung eines EGMR-Urteils 24 ff. Dispositionsmaxime 121 ff., 151 ff. Erdem ./. Deutschland 47 Ermittlungszweck siehe Untersuchungszweck Faires Verfahren 121 f., 148 ff. – nach Art. 6 I EMRK 56 f., 67 ff. Festnahme, vorläufige 35 ff., 44 Fluchtgefahr 38, 49, 88 Foucher ./. Frankreich 128 f. Freiheitsentziehung – Definition 30 f. Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege siehe Strafverfolgungsinteresse Garcia Alva ./. Deutschland 124 ff., 137 ff., 141 ff. Habeas-Corpus-Verfahren 53 f. Haftbefehl 42, 70 f., 100 f. – Aufhebung 87 ff., 134 ff. – Außervollzugsetzung 79, 99 f. – Inhalt 58, 132 ff., 137 ff., 159 ff. Haftentschädigung 61 ff.

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Sachwortverzeichnis

Haftentscheidung – Anforderungen an die Begründung 47 f., 59 f. Haftgründe – nach Art. 5 I EMRK 32 ff., 48 ff. – Überpüfung 44 ff., 48 ff. Haftprüfungsverfahren – Frist 60 f. – gemäß §§ 121, 122 StPO 78 ff., 108 ff. – gemäß § 120 StPO 87 ff., 111 ff. – gemäß Art. 5 IV EMRK 53 ff. Herczegfalvy ./. Österreich 70 Informationsrecht im Haftprüfungsverfahren 40 ff., 148 ff. – Form 42 – Inhalt 41, 159 ff. – Umfang 41 126 ff., 133 ff., 148 ff. – Zeitpunkt der Unterrichtung 42 f. Komplexität des Verfahrens 52, 74 f., 81 ff. Lamy ./. Belgien 123 ff., 137 ff., 140 ff. Leitfunktion, normative 26 f., 147 Lietzow ./. Deutschland 124 ff., 137 ff., 141 ff. Menschenwürde 148 ff. Präventivhaft 38 ff. Rang der EMRK 22 f. Recht auf Äußerung siehe Äußerung rechtliches Gehör siehe Anspruch auf rechtliches Gehör Rückverweis auf nationales Recht 31 f. Schöps ./. Deutschland 124 ff., 137 ff., 141 ff. Shishkov ./. Bulgarien 67

Sicherungsverwahrung 55 f., 33, 39 Straferwartung als Haftgrund 50 f., 88 f., 92 ff., 106 ff. Strafverfahren siehe auch Verfahren – anglo-amerikanisches 121 ff., 151 ff. – kontinental-europäisches 121 ff., 151 ff. Strafverfolgungsinteresse 77, 119 f., 132 ff. Systemdivergenzen 151 ff. Tatverdacht – dringender 87 f. – hinreichender 37 ff., 48 Terrorismusbekämpfung 37 f. Überhaft 70 ff., 100 f., 113 f. Umsetzung eines Urteils 24, 156 ff. Unschuldsvermutung 69 Unterbringung, einstweilige 34, 56, 69 f., 79 Untersuchungshaft gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK 36 ff. Untersuchungszweck 130 f., 156 f., 159 f. Verdunkelungsgefahr 49, 88 Verfahren – adversatiorisches 121 f., 149 ff. – beschleunigtes 73 f., 82 ff. – inquisitorisches 121 f., 149 ff. – kontradiktorisches 121 ff., 123 f., 137 ff., 149 ff. Verfahrensverzögerungen 72 ff., 81 ff. Verfahrensweise, sorgfältige 52, 72 ff. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 65, 78, 80 f., 88, 95 ff., 114 f. Verhalten des Beschuldigten 75 f., 82 f. Vorführung – Frist 44 – Zeitpunkt 44 Vorführungszweck 36, 68 ff.

Sachwortverzeichnis Waffengleichheit 121 ff., 148 ff. – im Haftprüfungsverfahren 126 ff., 137 ff., 145, 149 f.

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Wemhoff ./. Deutschland 46, 68 Wiederaufnahme des Verfahrens 24 f. Wiederholungsgefahr 50, 56

SUMMARY In the light of the efforts to develop a consistent european criminal procedure, with more and more expanding possibilities to encroach upon the rights of an accused, the European Convention of Human Rights (ECHR) has gained increasingly in importance. The right to be entitled to trial within a reasonable time in the procedure of habeas corpus according to the article 5 III sentence 2 ECHR has earned particular attention. This guarrantee is exercised frequently and with great success in the European Court of Human Rights and due to the difference between this and the regulations of the right to be entitled to trial within a reasonable time in §§ 120, 121 StPO, it is of great interest to the criminal law practitioner. For an effective defense it is also important to have the right of access to the records in the procedure of habeas corpus according to the article 5 IV ECHR and § 147 II StPO. In this point several recent condemnations of the German Government by the European Court of Human Rights made clear that the current excercise of the right of access to the records during the detention on remand of the accused does not comply to the jurisdiction of the European Court of Human Rights. RÉSUMÉ Au vu des efforts pour développer une procédure pénale européenne permettant toujours plus de possibilités d’intervention à la charge des accusés, la Convention Européenne des Droits de l’Homme (CEDH) gagne sans cesse en valeur. Le droit d’être jugé dans un délai raisonnable concernant l’examen de validité de la détention provisoire d’après l’article 5 III alinéa 2 CEDH merite une attention particulière. Cette garantie est souvent et avec grand succès, exercée devant la Cour Européenne des Droits de l’Homme et, est en raison de différence par rapport aux réglements du droit d’être jugé dans un délai raisonnable dans les §§ 120, 121 StPO d’un grand intérêt pour le praticien de droit pénal. Important pour une défense effective est de plus le droit d’accès au dossier dans la procédure d’examen de la détention provisoire d’après l’article 5 IV CEDH et § 147 II StPO. Sur ce point il y a eu dans un passé récent des condamnations de la RFA par la Cour Européenne des Droits de l’Homme, qui montrent sans le moindre doute, que l’octroi du droit d’accès au dossier durant la détention provisoire de l’accusé ne correspond toujours pas aux prescriptions de jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme concernant l’article 5 IV CEDH.