Die Experimentelle Rechtswissenschaft: Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft [1 ed.] 9783428424597, 9783428024599


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Die Experimentelle Rechtswissenschaft: Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft [1 ed.]
 9783428424597, 9783428024599

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 21

Die Experimentelle Rechtswissenschaft Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft

Von

Frederick K. Beutel

Duncker & Humblot · Berlin

FREDERICK K.BEUTEL

Die Experimentelle Rechtswissenschaft

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 21

Die Experimentelle Rechtswissenschaft Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft

Von

Prof. Dr. Frederick K. Beutel Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Uwe Krüger

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1971 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1971 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 02459 1

Einführung Die vorliegende Arbeit ist die übersetzung des ersten Teiles eines modernen Klassikers der amerikanischen Rechtstatsachenforschung, des 1957 erschienenen Buches von Frederick K. Beutel mit dem Titel "Some Potentialities of Experimental Jurisprudence as a New Branch of Social Science". Schon 1934, nach den ersten großen Anfängen der empirischen Rechtsforschung in den USAl, hatte Beutel einen Ausdruck des amerikanischen Rechtsrealisten Jerome Frank aufgegriffen und von "experimental jurisprudence" gesprochen 2 • Nach dem Weltkrieg arbeitete er seine Gedanken über Sinn und Methode dieser experimental jurisprudence weiter aus und belegte sie durch mehrere Pilotstudien aus dem Recht des Staates Nebraska. Der nicht übersetzte, zweite Teil dieses Buches, der etwa die Hälfte des Werkes ausmacht, besteht im wesentlichen3 aus einer groß angelegten Untersuchung der Rechtswirklichkeit des Gesetzes über Scheckdelikte. Es war dies die erste bedeutende Untersuchung dieser Art nach Beendigung des Weltkrieges. Wenn sie gegenüber späteren amerikanischen Arbeiten in Anlage und Ausmaß noch verhältnismäßig bescheiden wirkt, so liegt das daran, daß Beutel außer den laufenden Universitätskosten dreier Jahre für sich und jeweils einen Forschungsassistenten nur 15000 Dollar aufwenden konnte. Die wenig später einsetzenden Jury-Studien in Chicago begannen z. B. mit einem Startkapital von 500 000 Dollar, die Untersuchungen über die Kraftfahrzeughaftpflicht durch den Michigan Automobile Injury Survey kosteten 109500 Dollar, usw. 4 • Eine Zusammenfassung der interessanten Ergebnisse der Studie über Scheckdelikte in Nebraska würde für den deutschen Leser zu weit führen. Sie ist in der Originalausgabe auf den Seiten 405 - 417 zu finden. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, daß Beutel später eine Paralleluntersuchung für das Recht von Puerto Rico durchgeführt hat5 • Ferner ist es für die 1 Vgl. dazu eingehend Manfred Rehbinder: Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtstatsachenforschung in den USA, 1970, S. 11 ff., 27 ff. 2 Some Implications of Experimental Jurisprudence, in Harvard Law Review

48 (1934), S. 169 - 197.

3 Ferner enthält der zweite Teil 4 kleinere Pilotstudien, und zwar über die gesetzlichen Vorschriften über die Sterilisierung von Arbeitsgeräten in Friseurläden, über den Tabakverkauf an Minderjährige, über die Standardgröße von Ziegelsteinen und über die Ausführung von Installationsarbeiten. 4 Näher dazu Rehbinder (FN. 1), S. 34, 38. S Frederick K. BeuteliTadeo Negron Medero: The Operation of the BadCheck Laws of Puerto Rico, 1967.

6

Einführung

experimental jurisprudence charakteristisch, daß Beutel mit einem Gesetzentwurf für ein besseres Gesetz über Scheckdelikte endet (S. 419420). Die experimental jurisprudence ist nämlich eine Rechtstatsachenforschung in rechtspolitischer Absicht. Im Vergleich zur Rechtstatsachenforschung von Nußbaum 6 oder zu den empirischen Arbeiten des amerikanischen Rechtsrealismus, auf dessen Grundlage die experimental jurisprudence entstanden ist, liegt der Schwerpunkt nicht so sehr in der Hilfe für die Rechtsanwendung, sondern in der gesetzgeberischen Rechtsgestaltung, der Rechtspolitik 7 • Die gegenwärtigen Rechtsnormen sollen den sozialen Bedürfnissen angepaßt werden, indem neue Gesetze auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitet und in Kraft gesetzt werdenS. Das geschieht unter Beachtung rechtlicher Sozialgesetzlichkeiten (jural laws), die es auf naturwissenschaftlichem Wege zu entdecken gilt. Daß es wissenschaftstheoretisch möglich ist, derartige Sozialgesetzlichkeiten des Rechts mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erarbeiten, hat Ernst E. Hirsch bereits im Jahre 19488a überzeugend nachgewiesen. Beutel nennt dieses naturwissenschaftliche Vorgehen "experimentell". Dadurch will er zum Ausdruck bringen, daß Gesetze wie naturwissenschaftliche Hypothesen behandelt werden sollen 9 • Das darf natürlich nicht dahin mißverstanden werden, als würde Beutel bei seinen empirischen Untersuchungen als Methode nur das Experiment verwenden lO • In der Tat war keine seiner eigenen Untersuchungen ein Experiment im eigentlichen Sinne. Alle waren Erhebungen. Erst wenn die Gesetze in Kraft gesetzt werden, die auf Grund dieser Erhebungen entwickelt wurden, und wenn dann eine Messung der Ergebnisse vorgenommen wird, liegt methodisch ein Experiment vor. "Experimentell" ist also nicht so sehr die Methode der Erhebung der Daten, sondern die Methode des rechtspolitischen Vorgehens. Vielleicht hätte man deshalb umfassen8 Die wenig einsichtsvolle Kritik des alten Nußbaum (Some Aspects of American "Legal Realism", in: Journal of Legal Education 12 (1959/60), S. 182 - 192) wurde von Beutel glänzend widerlegt in: Elementary Semantics. Criticisms of Realism and Experimental Jurisprudence, in: Journal of Legal Education 13 (1960), S. 67 - 75. 7 Näher über experimental jurisprudence und Rechtspolitik Manfred Rehbinder: Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 333 - 359 (353 - 355). 8 Siehe die 8 Stufen der experimental jurisprudence, unten S. 35. 8a Die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild, in: Ernst E. Hirsch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, S. 65 - 87, fortentwickelt von Jürgen Tiemeyer in Bd. 16 dieser Schriftenreihe. 9 Vgl. Uwe Krüger: Der Adressat des Rechtsgesetzes. Ein Beitrag zur Gesetzgebungslehre, 1969, S. 59. 10 Als Beispiel eines echten rechtssoziologischen Experiments vgl. Maurice Rosenberg: The Pretrial Conference and Effective Justice. A Controlled Test in Personal Injury Litigation, 1964.

Einführung

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der von scientific jurisprudence oder empirical jurisprudence sprechen sollen. In der lebhaften Diskussion, die Beutels Buch hervorrieft!, sind auch Einwände laut geworden, die im wesentlichen in drei Richtungen zielten. So zeigten sich einige Rechtspraktiker von der begrenzten Thematik der Pilotstudien enttäuscht und meinten, es würde wohl noch lange dauern, bis man die Beschäftigung mit dem Recht durchgehend auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen könne 12 • Dem ist zuzugeben, daß man in der Tat den praktischen Nutzen der Sozialwissenschaften angesichts ihres gegenwärtigen Leistungsstandes und der weitverbreiteten abschätzigen Einstellung gegenüber der Empirie nicht überschätzen sollte. Doch wie entgegnete schon Eugen Ehrlich vor mehr als einem halben Jahrhundert?: "Es muß auch mit dem Anfange einmal angefangen werden 13 ." Beutels leidenschaftliches Plädoyer für eine Verwissenschaftlichung des Rechts rief ferner "grundsätzliche" Gegner auf den Plan. Bei einer wissenschaftlichen Einstellung zum Recht müssen nämlich Zweifel an der Legitimation der Gesetzgebung durch die Demokratietheorie und an der Zweckmäßigkeit des Staatsaufbaus als Bundesstaat entstehen. Diese Zweifel hat Beutel sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und stieß damit auf den erbitterten Widerspruch der "Demokraten"t4, die sich lieber den Politikern als den Wissenschaftlern ausgeliefert sehen wollen. Beutel hat sich mit den dadurch aufgeworfenen Problemen eingehend in einem späteren Buch beschäftigt15 • Schließlich hat Beutel als Konsequenz der 11 Vgl. David F. eaVeTS: Science, Research, and the Law: Beutel's "Experimental Jurisprudence", in: Journal of Legal Education 10 (1957), S. 162188; Walter BeTns: Law and Contemporary Behavioral Science, in: Law and Contemporary Problems 28 (1963), S. 185 - 212; Nußbaum (FN. 6); Shin Oikawa: On Criticism of Beutel's Exrerimental Jurisprudence. Non-Library Research and the Law, in: Kwansei Gakuin Law Review (Japan) 3 (1964), S. 33 - 57; ferner die zum Teil sehr eingehenden Rezensionen von Edward McWhinney in California Law Review 45 (1957), S. 226 - 228; P. J. FitzgeTald in The Law Quarterly Review 73 (1957), S. 417 - 420; Alfred W. BlumTosenlHarry C. BTedemeieT in Columbia Law Review 57 (1957), S. 1047 - 1050; Ilmar Tammelo in Wayne Law Review 4 (1957), S. 94 - 99; Glendon A. SchubeTt in Administrative Science Quarterly 2 (1957), S. 264 - 268; Samuel 1. Shuman in Michigan Law Review 56 (1958), S. 477 - 479; R. Max PeTshe in Villa nova Law Review 3 (1958), S. 584 - 591; Henry H. FosteT in University of Pittsburgh Law Review 19 (1958), S. 687 - 690; Robert ETickson in South Dakota Law Review 3 (1958), S. 193 - 194; Reginald A. H. Robson in University of Chicago Law Review 26 (1959), S. 492 502; Charles H. GTeenbeTg in Temple Law Quarterly 32 (1959), S. 236 - 237; Saul Mendlovitz in Indiana Law Journal 34 (1959), S. 521 - 527; Irving LadimeT in Boston University Law Review 39 (1959), S. 284 - 289. 12 GTeenbeTg, Pershe, Erickson (FN. 11). 13 Eugen EhTlich: Die juristische Logik, 1918 (1925/1966), S. 113. 14 BeTns (FN. 11), S. 212: "The political world must be ruled not by science but by prudence"; LadimeT (FN. 11), S. 287: "In this subservience to science, Beutel comes perilously elose to authoritarianism"; SchubeTt (FN. 11), S. 266: "political naivete"; Robson (FN. 11), S. 500 - 502. 15 Democracy or The Scientific Method in Law and Policy Making, 1965.

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Einführung

"experimentell" zu entdeckenden Sozialgesetzlichkeiten des Rechts aufgezeigt, daß dadurch die Rolle der "Wertentscheidungen" verringert würde, die gegenwärtig die juristische, insbesondere die gesetzgeberische Praxis beherrschen. Das rief die NaturrechtIer aller Richtungen auf den Plan. Die eigentliche wissenschaftliche Arbeit, so sagte man, werde von den Naturrechtlern geleistet, die sich mit der "actual selection of values" beschäftigten. Der Bereich des Juristen werde unzulässig eingeengt, wenn man ihn aus der Verantwortung entlasse "for the determination of the ultimate ends on which the political and social order is to be based"16. Was dem vom Standpunkt einer kritischen Rechtssoziologie aus zu entgegnen ist, ist am besten bei Tiemeyer nachzulesen 17 . Frederick Keating Beutel (gesprochen: Biu-tel) ist, wie viele Rechtssoziologen, von Haus aus Handels- und Wirtschaftsrechtler, mit vielfältigen Bindungen zur Praxis 1B . Seine bekanntesten dogmatischen Werke sind seine Darstellung des Bankrechts19 und seine Bearbeitung des seinerzeit führenden Handbuchs des Wertpapierrechts 20 • Letzteres ist jetzt durch den Uniform Commercial Code überholt, auf dessen endgültige Fassung im Wertpapierrecht Beutel durch mehrere Abhandlungen Einfluß genommen hat 21 . Geboren am 23. Oktober 1897 in Montgomery (Alabama) begann er als Bankangestellter und, nach der Graduierung zum A.B. an der Cornell University (Ithaka/New York), als Manager der Handelsschule seines Vaters (Beutel Business College) in Tacomal Washington. Dann aber studierte er Rechtswissenschaften in Harvard (Cambridge/Massachusetts) und graduierte dort zum LL.B. (1925) und S.J.D. (1928). Nach einer Professur an der Tulane University (New Orleans/Louisiana) von 1928 - 1935 wurde er Dekan des College of Law der Louisiana State University (Baton Rouge) von 1935 - 1937 und nach einer Gastprofessur an der Northwestern University (Chicago/Illinois) von 1939 - 1945 Professor am College of William and Mary (Williamsburgl Virginia). Während des Krieges war er auch in mehreren Regierungsdienststellen tätig. Nach dem Kriege wurde er von 1945 - 1949 Dekan des 16 So McWhinney (FN. 11), S. 226 - 228; vgl. auch Robson (FN. 11), S. 495 - 499; Shuman (FN. 11), S. 478 - 479. Das völlige Unverständnis dieser "Wertwissen-

schaftler" für wissenschaftliche Arbeit beweist die naive Bemerkung eines angesehenen Autors wie Shuman (ebd. S. 477), er sehe nicht ein, warum man seitenlang Statistiken lesen müsse, wenn sich das Ergebnis auf wenigen Seiten zusammenfassen lasse. Diese Statistiken machen ja gerade den Unterschied zwischen "wertfreien", d. h. überprüfbaren Aussagen und "wertbefrachteten", d. h. unüberprüften und unüberprüfbaren Glaubensbekenntnissen aus! 17 Jürgen Tiemeyer: Zur Methodenfrage der Rechtssoziologie, 1969; vgl. auch Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 179 - 182. 18 Nähere Angaben in Who's Who in America, Bd. 33 (1964/65), S. 169. 19 Bank Offkers Handbook of Commercial Banking Law, 3. Aufl. 1970. 20 Beutel's Brannan on Negotiable Instruments, 1948. 21 Vgl. jetzt sein Lehrbuch: Uniform Commercial Code. Cases and Materials, 1966 (hektographiert).

Einführung

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College of Law der University of Nebraska (Lincoln) und blieb dort als Professor bis zu seiner Eremitierung im Jahre 1963. Danach war er als Gastprofessor zunächst von 1963 - 1965 an der University of Puerto Rico Law School (Rio Piedras) und dann an verschiedenen anderen Universitäten tätig. Gegenwärtig lehrt er an der Arizona State University (Tempe). Beutel ist in drei Staaten als Rechtsanwalt zugelassen (1925 Washington, 1926 Pennsylvania, 1946 Nebraska) und Mitglied des American Law Institute sowie zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen. Ich hatte Gelegenheit, ihn auf der Jahrestagung der Association of American Law Schools Ende Dezember 1969 in San Francisco persönlich kennenzulernen, wo er in die lebhaften Debatten des Arbeitskreises "Barriers to Empirical Research on the Law" eingriff, eine beliebte und geachtete Persönlichkeit, souverän und immer noch ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Sache. Ich darf diese Zeilen mit einem Wort des Dankes an den Übersetzer, Herrn Dr. Uwe Krüger, schließen. Er hat die schwierige und undankbare Aufgabe der Übertragung ins Deutsche uneigennützig übernommen und, wie ich glaube, im Sinne eines guten Kompromisses gelöst. Denn: "A translation, like a woman, cannot be beautiful and faithful at the samE' time"! Bielefeld, im März 1970 Manfred Rehbinder

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

17

KapiteZ I

Kann die naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft angewendet werden? 1. Die Rückständigkeit der Sozialwissenschaften und der Regierungs-

18

technik ............................................................

18

2. Das Wesen naturwissenschaftlicher Methoden und Entdeckungen. . ..

19

3. Theoretische Einwände gegen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode von den Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

23

4. Einige Hindernisse und Hilfen beim Aufbau einer experimentellen Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

29

KapiteZ II

Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

31

1. Recht und juridisches Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

31

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . ..

34

a) Die Natur der zu regelnden Phaenomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

36

b) Feststellung der Rechtsnorm und der Regulierungsmittel ........ . .

37

c) Die Reaktion der Gesellschaft auf eine Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . ..

40

d) Die Gründe der Reaktionen auf eine Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . ..

41

e) Die Vervollkommnung eines juridischen Gesetzes ................

42

f) Vorschläge zur Rechtsänderung ..................................

44

g) Der Erlaß der vorgeschlagenen Gesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

47

3. Ein experimentelles System der Ethik ........... . . . ................

50

12

Inhaltsverzeichnis

Kapitel III Werte und Interessen in der Rechtsordnung

56

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

56

2. Die Natur der Interessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . ..

64

3. Die Beweggründe für Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse . . . . . . ..

68

4. Recht und Gedankenkontrolle .. . . . ...................... . ..........

71

5. Die Unvoreingenommenheit oder der wissenschaftliche Standpunkt bei Entscheidungen ....................................................

73

6. Schlußfolgerung....................................................

77

Kapitel IV Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit; das Verhältnis der Experimentellen Rechtswissenschaft zu Regierung, Gesetzgebung und politischer Entscheidung

79

1. Das Verhältnis zwischen Recht, Regierung, Staat und Souverän. . . . . . ..

79

2. Die Zwecke von Recht und Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

83

3. Das Verhältnis des experimentellen Rechtswissenschaftlers zur Regierung .............................................................. 86 4. Gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

90

Kapitel V Der Zeitabstand zwischen wissenschaftlichen Entdeckungen und rechtlichen Maßnahmen 1. Faktoren, die den Abstand zwischen Wissenschaft und rechtlicher Maß-

91

nahme begünstigen ................................................

92

a) Die historischen Wurzeln der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

93

b) GE!Schriebene Gesetze und Verfassungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

94

c) Richterliche Interpretation und Bindung an Präjudizien . . . . . . . . . . ..

94

d) Gesetzgeberische Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

97

Inhaltsverzeichnis e) Demokratie

13 98

f) Die Geschwindigkeit der naturwissenschaftlichen Entwicklung .... 100 2. Die Verzögerung bei der übernahme wissenschaftlicher Methoden durch die Rechtsordnung .................................................. 101 a) Die Gesetze im öffentlichen Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102 b) Die öffentliche Sicherheit ........................................ 117 3. Die Naturwissenschaft im Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung ............................................................ 124 4. Das American Law Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 128 5. Das Johns Hopkins Institute of Law ............... . . . ........ . ..... 133 a) Erhebungen über Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135 b) Die Ergebnisse der Untersuchungen der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . .. 136 c) Die Arbeitsergebnisse des Instituts .............................. 140 6. Forschungsprogramme aus neuerer Zeit

......................... . .. 142

Kapitel VI

Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

144

1. Die Verkehrsregulierung als eine vollständige Entwicklung der Experi-

mentellen Rechtswissenschaft ...................................... 144 a) Das zu untersuchende und zu isolierende soziale Problem . . . . . . . . .. 146 b) Das Auffinden der einschlägigen Rechtsvorschrift ............ . ..... 148 c) Die sozialen Auswirkungen der Rechtsnormen ...... . . . . . . . . . . . . .. 149 d) Die Konstruktion von Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152 e) Die Entwicklung von juridischen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153 f) Vorschläge zur Rechtsänderung ............................... . .. 154

g) Die Verabschiedung neuer Gesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 157 h) Die Verabschiedung neuer Gesetze und die Untersuchung ihrer Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 2. Bedeutsame Aspekte der Entwicklung wissenschaftlicher Verkehrsvorschriften .......................................................... 162 3. Die Stadtplanung - ein neues und fruchtbares Feld für die Experimentelle Rechtswissenschaft ............................................ 167 4. Die Regulierung des Luftverkehrs .................................. 168

14

Inhaltsverzeichnis Kapitel VII

Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

170

1. Forschung im Rahmen der Bundesregierung ........................ 171

a) Forschungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171 b) Fehlerhaft als Forschung bezeichnete Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176 c) Wissenschaftliche Vorbereitung der Gesetzgebung ................ 177 d) Die Untersuchungsausschüsse des Kongresses .................... 180 e) Die Entwicklung in Richtung auf eine wissenschaftliche Tatsachenermittlung ...................................................... 182 2. Die Verwendung von Gesetzen als administrative Hilfsmittel zur Verbreitung wissenschaftlicher Information ............................ 184 a) Bildungsarbeit .................................................. 184 b) Der Öffentliche Gesundheitsdienst und das Milchprogramm ........ 184 c) Die jährlichen Berichte von hohen Beamten und Behördenleitern .. 188 3. Die wissenschaftliche Ausrichtung der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 189 a) Die Zollkommission als wissenschaftliches Gremium ....... . . . . . .. 189 b) Forschungen zur Bestimmung der Politik der Behörden. . . . . . . . . . .. 190 4. Die Notwendigkeit, die Forschung von der Verwaltungstätigkeit zu trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 192 5. Die beiden Hoover-Kommissionen .................................. 195 6. Folgerung.......................................... . ...... . ........ 199

Kapitel VIII

Die Entwicklung von wissenschaftlichen juristischen Methoden und Forschungseinrichtungen

200

1. Der Schlüssel liegt in den einfachen Problemen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 201

2. Die Anwendung naturwissenschaftlicher Entdeckungen auf Rechtsprobleme ............................................................ 202 a) Kooperative Forschung ..................................... . . . .. 203 b) Die Schwierigkeit, Juristen zu überzeugen ........................ 204 3. Problemgruppen, auf die gegenwärtig verfügbare Daten angewendet werden können .................................................... 206

Inhaltsverzeichnis 4. Die Entwicklung von Techniken und experimentellen Methoden

15 208

5. Die Beachtung der wirksamen sozialen Fakten muß ins einzelne gehen.. 210 6. Statistische Daten als Grundlage tatsächlicher Folgerungen .......... 217 7. Meßtechniken ...................................................... 217 8. Zum Stand der amtlichen Unterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 221 9. Die Notwendigkeit vorbereitender Untersuchungen und von Leitstudien 223

Vorbemerkung Für gewöhnlich werden Bücher über Rechts- oder Sozialwissenschaft so geschrieben, daß die Werke aller gelehrten Autoren über den betreffenden Gegenstand wiedergegeben und jeweils mit der Kritik des Verfassers versehen werden. Dem Ende des Überblicks kann dann ein Paragraph oder ein Kapitel angehängt sein, das die eigenen Theorien ausführt. Auf diese Weise vermag der Autor seine Gelehrsamkeit und das Verhältnis seiner Gedanken zum gesamten Wissensgut vorzuführen. So gesehen ist dieses Buch nur ein letztes Kapitel oder ein letzter Paragraph einer derartigen Abhandlung. Soweit die Schriften von Bentham, J.ames, Dewey, Ihering, Pound, Lundberg und vielen anderen dieser Kurzfassung belebende Impulse vermittelt haben, wird man davon ausgehen dürfen, daß die Meister gelesen und einigermaßen verstanden worden sind. Soweit der Leser vielleicht wünscht, daß die hier vorgetragenen Theorien in einen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Schrifttum in Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie oder Sozialwissenschaft gebracht werden, bleibt er sich selbst überlassen. Das in den Fußnoten zitierte Material ist weder als zwingender Beweis für die im Text vorgetragenen Argumente noch als Zeugnis einer erschöpfenden Forschung anzusehen, die bei einem so umfassenden Gegenstand wie diesem natürlich unmöglich ist. Mögen die zitierten Werke auch eine gewisse Erhärtung bieten, so sind sie doch hauptsächlich als Hinweise für diejenigen angeführt, die der Sache weiter nachgehen wollen. Die Experimentelle Rechtswissenschaft ist ja ein Gemeinschaftsunternehmen, an dem sich alle beteiligen müssen.

Kapitel I

Kann die naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft angewendet werden? 1. Die Rückständigkeit der Sozialwissenschaften und der Regierungstechnik

Schon seit einiger Zeit sind sich Gelehrte und andere an der gesellschaftlichen Entwicklung Interessierte darüber im klaren, daß weder die Sozialwissenschaften noch die Staatsführung soziale Veränderungen bewirkt haben, die mit denen vergleichbar wären, welche durch die Anwendung von Naturwissenschaft und Technik ausgelöst wurden. Während allein das letzte Jahrhundert Zeuge eines großartigen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts auf materiellem Gebiet gewesen ist, scheint die allgemeine Wissenschaft und Kunst der Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Regierungstätigkeit seit den Tagen des Römischen Reichs praktisch nichts Neues entwickelt zu haben. Die Lehren über die soziale Kontrolle und über die Regierungsmaschinerie haben in der Tat derart offensichtlich versagt, mit den revolutionären Entwicklungen der Naturwissenschaften Schritt zu halten, daß die daraus resultierenden geistigen, politischen und sozialen Fehlanpassungen zumindest einen führenden Soziologen dazu bestimmt haben, das gegenwärtige Zeitalter als dasjenige des Verfalls der modernen Kultur zu bezeichnen 1• Das Versagen des Menschen, sich selbst in demselben Maße zu lenken, in dem er die Kontrolle über die Natur zu gewinnen vermochte, wurde dramatisch in Hiroshima und Nagasaki beleuchtet, wo die hochentwikkelte Herrschaft über die Natur eindrucksvoll als Gegensatz zur Anarchie menschlicher Beziehungen vorgeführt wurde. Selbst die Naturwissenschaftler, die lange ihre Neutralität in Rechts- und Staats angelegenheiten erklärt haben, begannen seit jener Zeit zu fürchten, daß sie gottähnlich zerstörerische Kräfte in die Hände eines politischen Tieres gelegt haben, das - weil ihm die Kontrolle über die Leidenschaften und Spannungen der Gesellschaft fehlt, in der es lebt - so töricht sein könnte, nicht nur diese Gesellschaft, sondern auch die ganze Menschheit zu vernichten2 . 1

!

SOTokin: The Crisis of Our Age, 1946. Waddington: The Scientific Attitude, Penguin-Ausgabe 1941.

2. Das Wesen naturwissenschaftlicher Methoden und Entdeckungen

19

Angesichts dieses offensichtlichen Mißverhältnisses zwischen der Macht des Menschen über sich selbst und der Macht über die Elemente, die ihn umgeben, scheint es ratsam, sich der Frage zuzuwenden, ob nicht das Wissen und die Techniken, die in den Naturwissenschaften so erfolgreich entwickelt wurden, auf das Gebiet der sozialen Kontrolle übertragen werden könnten; oder, anders ausgedrückt, ob nicht die Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und die Sozialwissenschaft auf eine feste Grundlage gestellt und ähnlichen Untersuchungs- und Kontrollmethoden unterworfen werden könnten, wie sie in Physik, Biologie und Medizin seit langem vorherrschen. Wenn dieser übergang gelänge, wie würde dann die derart entwickelte Wissenschaft, wie würden die angewandten Techniken und die Veränderungen aussehen, die in Theorie und Praxis der Staatsführung zu erwarten wären?

2. Das Wesen naturwissenschaftlicher Methoden und Entdeckungen Ehe versucht wird, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, dürfte es sich lohnen, das Wesen der naturwissenschaftlichen Methode, die auf anderen Gebieten so spektakuläre Ergebnisse gezeigt hat, noch einmal kurz zu überprüfen. Kurz gesagt und möglicherweise im Unterschied zu den vielen anderen Bedeutungen, in denen der Begriff "Wissenschaft" gebraucht wird, ist die naturwissenschaftliche Methode eines der Mittel, menschliche Wißbegierde zu befriedigen und Erklärungen der verschiedenartigen Sinneswahrnehmungen zu versuchen, die zum menschlichen Gehirn gelangen. Es scheint, daß Wasser bergab läuft und daß Feuer Holz verbrennt, und offensichtlich können Steine gesammelt und gezählt werden. Diese und andere unserer zahlreichen Sinneswahrnehmungen kann man besser verstehen, wenn sie klassifiziert und erklärt sind. Man sollte sich jedoch darüber klar sein, daß die naturwissenschaftliche Methode nur eine der vielen Erklärungsmöglichkeiten liefert, die wißbegierige Menschen für ihre verschiedenartigen Gefühle und Sinneswahrnehmungen anzubieten versucht haben. Es gibt andere wie die Religion oder den Mystizismus 3 ; aber die wissenschaftliche Methode ist das einzige Mittel, das über eine Erklärung hinaus erstaunliche Fortschritte bewirkte, die Herrschaft über die Natur zu erlangen. Diese Methode hat man so charakterisiert, daß sie aus einer wechselnden Anzahl von Schritten bestehe, je nachdem, welche bestimmte Person a Huxley, A: The Perennial Philosophy, 1945; ders.: Science, Liberty and Peace, 1946; MaTitan: Christianity and Democracy, 1944.

20

1. Kap.:

Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

sie verwendet; der Einfachheit halber kann hier jedoch gesagt werden, daß sie die folgende Handlungsreihe umfaßt4 : 1. Die Beobachtung und Identifizierung von Sinneswahrnehmungen. 2. Den Versuch, das in den Sinneswahrnehmungen offenbar gewordene Geschehen zu erklären. Solche Erklärung nennt man gewöhnlich eine Hypothese. 3. Weitere Beobachtungen, um die Genauigkeit der Hypothese zu prüfen; zur Durchführung dieser Beobachtungen haben die Wissenschaftler viele mechanische Mittel erfunden, um die Genauigkeit und die Reichweite des Wahrnehmungsvermögens zu vergrößern, wie z. B. Teleskop, Mikroskop, Fotoapparat, Röntgenstrahlen und unzählige andere technische Vorrichtungen und Verfahren, die es allesamt erlauben, weit über den Wahrnehmungsbereich der auf sich allein angewiesenen menschlichen Sinne hinaus zu beobachten und zu prüfen. 4. Hat eine Reihe von Beobachtungen eine Verifikation oder überprüfung der Hypothese ermöglicht, wird sie als Aussage über eine vorläufig gesicherte wissenschaftliche Tatsache betrachtet. 5. Diese Aussage wird sodann erweitert, um andere Phänomene einzuschließen, die den schon geprüften ähneln; trifft sie auch hier zu, sprechen wir manchmal von der Erklärung als von einem wissenschaftlichen Gesetz. 6. Wird die Hypothese solchermaßen erweitert, stößt sie gewöhnlich bald auf eine Situation, die sie nicht mehr erklärt. Die Hypothese wird hierauf versuchsweise umgeformt, um das neue Phänomen zu erklären und das Verfahren von Beobachtung, Prüfung und Verifikation wird dann aufs neue wiederholt. Auf diese Weise hat die Naturwissenschaft Tausende von Arbeitshypothesen entwickelt, die die Reaktionen des untersuchten Gegenstandes mit hinreichender Genauigkeit erklärten. So konnten die Techniker, die diese Prinzipien anwandten, Instrumente ersinnen, die einen beträchtlichen Grad der Herrschaft über verschiedene Erscheinungen der Natur ermöglichten. Dieser Machtzuwachs hat unsere Produktionskapazität so sehr vergrößert, unsere Reisegebiete und Denkbereiche um soviel erweitert und überhaupt das Gesicht der Erde in einem solchen Maße verändert, daß der heutige Mensch durch diese Hypothesen und die Maschinen, die er mit ihrer Hilfe erfinden konnte, seine Lebensweise von Grund auf revolutioniert hat. Entscheidend in diesem ganzen Prozeß war die Rolle der Hypothese und die Einstellung des Wissenschaftlers zum" Wissen", das sie bot. Denn 4 Siehe Dtto: Science and the Moral Life, Mentor-Ausgabe 1949, S. 155; Davis: The Reasonableness of Science, in: Readings in the Physical Sciences, hrsg. von Shapley, Wright und Rapport ,1948, S. 18.

2. Das Wesen naturwissenschaftlicher Methoden und Entdeckungen

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es sollte beachtet werden, daß jeder echte Wissenschaftler, sobald er eine neue Hypothese entwickelt hat, diese völlig unvoreingenommen sogleich bekanntmacht, damit sie von seinen Fachkollegen geprüft werden kann. Kann die Hypothese auf Grund der Prüfung verifiziert werden, so wird sie angenommen und erweitert. Läßt sie sich nicht verifizieren, dann wird sie sofort aufgegeben, und der Wissenschaftler, der allein oder mit seinen Kollegen zusammenarbeitet, versucht, eine andere Hypothese zu entwickeln. Man könnte in der Tat behaupten, daß der Fortschritt der Wissenschaft durch gescheiterte Hypothesen gekennzeichnet ist; sehr viel mehr wurden widerlegt als verifiziert, und bis jetzt ist keine erdacht worden, die allen Prüfungen und Bedingungen widerstanden hätte. Die Mathematik wird oft als diejenige echte experimentelle Wissenschaft bezeichnet, bei der eine Verifikation stets möglich sei. Eine Prüfung der allen Mathematikern wohlbekannten Tatsachen zeigt jedoch, daß es viele mathematische Systeme gibt, die nicht verifiziert werden können, und gar keine, die bei der Erklärung der Welt um uns herum sehr weit reichten. Beispielsweise scheint es völlig klar zu sein, daß eins und eins zwei sind. Dies kann leicht mit Hilfe beinahe aller Gegenstände belegt werden, die man greift. Zum Beispiel ergeben ein Glas Wasser und noch ein Glas Wasser zwei Gläser; aber wenn man versucht, diese Regel auf ungleiche Gegenstände zu erstrecken, dann ist genauso klar, daß ein Glas Wasser und ein Glas Zucker zusammengetan nicht zwei Gläser füllen. Desgleichen ergibt die Mischung von einem Kubikmeter Sand, einem Kubikmeter Wasser und einem Kubikmeter Zement noch nicht drei Kubikmeter Beton. Der Wissenschaftler wird sogleich erkennen, daß das Gesetz "eins und eins ist zwei" - aus der Abstraktion gelöst - eine bloße Hypothese ist; und wenn er auf diese neuen Hindernisse stößt, erfindet er die Molekulartheorie, die ihm hilft, die Phänomene von Lösungen und chemischen Kombinationen zu erklären; experimentiert er aber in der Chemie weiter, so muß er bald eine Hypothese aufstellen, die das Molekül unterteilt und das Atom herstellt. Weiterreichende chemische Experimente gelangen dann bis zum Gesetz von der Unzerstörbarkeit der Materie, das sich in der Technik, in der Chemie und auf vielen anderen Gebieten als sehr nützlich erwiesen hat. Vor kurzem hat man jedoch durch die Entdeckung des Urans und anderer radioaktiver Elemente herausgefunden, daß selbst die Gesetze von der Erhaltung der Energie und der Unzerstörbarkeit der Materie keine hinreichende Erklärung mehr hergeben für Phänomene wie die Atombombe und die Radioaktivität. Infolgedessen erscheinen auf der Bühne der Wissenschaft neue Hypothesenketten, die allesamt geprüft und verifiziert werden müssen5 • 5 Für eine ausführliche Erörterung dieses Verfahrens, wie es im Laufe der ganzen Geschichte der Wissenschaft angewendet worden ist, siehe Sullivan: Limitations of Science, Mentor-Ausgabe 1949, Kapitel 3.

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1. Kap.: Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

Die Spezialhypothesen und -gesetze auf dem Gebiet der medizinischen Grundlagenwissenschaften sind in der Tat so zahlreich geworden, daß zumindest ein Autor 6 klagte, die Medizin sei überhaupt keine Wissenschaft, sondern eine Ansammlung zahlreicher Hypothesen, die keine grundlegenden Wahrheiten kennen7 • Auch Physiker und Astronomen gelangen allmählich zu dem Schluß, daß der Mensch die Tatsachen der Materie nicht wirklich aufgreifen kann, daß er nur noch Schatten von SchattenS sieht und durch seine wissenschaftlichen Bemühungen nichts weiter gewinnt als eine vorläufige Verifikation des angewendeten hypothetischen Gedankenganges 9 • Bestünde der einzige Zweck der Wissenschaft in der Entdeckung letzter Wahrheiten, dann wären diese Schlußfolgerungen wirklich beunruhigend und der Mensch könnte seine Suche nach Wissen ebenso gut aufgeben; doch obgleich viele Wissenschaftler und Lehrer mit Nachdruck das theoretische Wissen betonen, das mit der wissenschaftlichen Methode gewonnen wird, ist das Wissen als solches gar nicht das wirklich bedeutsame Ergebnis. Der überragende Wert der wissenschaftlichen Methode liegt in der durch sie herbeigeführten Unvoreingenommenheit, die es ermöglicht, veraltende Praktiken sofort aufzugeben und systematisch neue und nützliche Mittel zur Beherrschung der Natur und zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu schaffen. Auf Grund dieser zugestandenermaßen vorläufigen Hypothesen haben Techniker Vorrichtungen entwickelt, die zu Mitteln einer technischen Umwelt geworden sind, die - wie immer sie der Philosoph auch bewerten mag - mehr an sichtbaren und unsichtbaren Lebensgütern hervorbringt, als sonst irgendein System, das die Welt je kannte. Sogar widerlegte und überholte wissenschaftliche Gesetze haben Mittel zur Lösung praktischer Probleme hinterlassen. So ist die euklidische Geometrie immer noch brauchbar, um Fußböden, Gebäude und kleinere Landflächen zu vermessen, während sie bei dem Versuch, das Universum auszumessen, versagt. In ähnlicher Weise kann man Newtons Gesetze benutzen, um viele Phänomene des Sonnensystems zu erklären, aber nur Einsteins Relativitätstheorie erklärt weitere Erscheinungen des Universums10 • Unsere naturwissenschaftlichen Gesetze sind G

Stevenson: Why Medicine Is Not A Science, in: Harpers, Bd. 198 (April

1949), S. 24.

7 Conant: On Understanding Science, 1947; Lewis: The Scientific Meaning of Chance, in: Readings in the Physical Sciences, hrsg. von Shapley, Wright und Rapport, 1948, S. 381. 8 Bridgman: The Logic of Modern Physics, 1927, S. 33; Planck: Das Weltbild der neuen Physik, 10. Auflage, Leipzig 1947. Die Psychologen stimmen dem zu. Siehe den Bericht über die Rede von Dr. Pieron vor der American Association for the Advancement of Science, in: Literary Digest, Bd. 116 (Januar 1933), S.19. B Oppenheimer: Physics in the Contemporary World, in: Technology Review. Bd. 50 (Februar 1948), S. 201. 10 SuHivan, a.a.O. (Anm. 5), S. 59 ff.

3. Theoretische Einwände

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lediglich vorläufig gewesen. Die nützlichen Apparate und Informationen aber, die als Nebenprodukt dieser verschiedenen Theorien entstanden sind, und die darauf beruhenden technischen Leistungen haben uns gleichwohl eine neue Welt geschenktl1 . In diesem Zusammenhang sollte noch bemerkt werden, daß die Wissenschaft in zwei große Bereiche unterteilt werden kann, nämlich in einen deskriptiven und einen experimentellen. Wo sich der Forschungsgegenstand dem Einflußvermögen des Beobachters so gut wie gänzlich entzieht, wird die Wissenschaft als rein deskriptiv betrachtet. Die Geologie ist eine solche Wissenschaft, ebenso Meteorologie und Astronomie. Auf diesen Gebieten kann der Wissenschaftler trotz des Fehlens jedweder Kontrolle über den Forschungsgegenstand Hypothesen formulieren, die brauchbare Voraussagen anbieten. Hierauf können sich viele Tätigkeiten gründen, wie z. B. die Schiffahrt, die Fliegerei und die Sammlung riesiger Mengen nützlicher Daten. Die zweite Art der Wissenschaft ist durch den Gebrauch kontrollierter Experimente charakterisiert; der Beobachter kann seine Hypothesen prüfen, indem er den beobachteten Phänomenen bestimmte Elemente entzieht oder beifügt. Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Agronomie und sogar Psychologie sind einige der vielen Beispiele hierfür. Das kontrollierte Experiment hat die Prozesse zur Schaffung und Verifikation von Hypothesen, zur Anhäufung nützlichen "Wissens" und zur Entwicklung von Produktionsmaschinen erheblich beschleunigt. Dem Rechtswissenschaftier bieten indessen beide Arten der Wissenschaft fruchtbares Analogiematerial und reichliche Informationen, was darauf hindeutet, daß viele ihrer Methoden und Techniken auf das Gebiet der Sozialwissenschaften übertragen werden können.

3. Theoretische Einwände gegen die 'Obertragung der naturwissenschaftlichen Methode von den Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften Schon seit den ersten Anfängen der Naturwissenschaft hat es Hinweise darauf gegeben, daß ihre Methodologie auf das Gebiet der Sozialwissenschaften übertragen werden könnte. So wird Roger Bacon zugeschrieben, er habe im 13. Jahrhundert eine experimentelle Sozialwissenschaft vorgeschlagen - lange bevor man die Bausteine der Naturwissenschaft ersonnen hatte 12 • Diese Vorschläge trafen auf zahlreiche und unter11 Dewey: Philosophy's Future in Our Scientific Age, in: Commentary, Bd. 8 (Oktober 1949), S. 388; Edman: Science and the Dream of Happiness, in: Readings in the Physical Sciences, hrsg. von Shapley, Wright und Rapport, 1948, S. 56. 12 Thomas: Living Biographies of Great Scientists, 1941, S. 20, zitiert Roger Bacon wie folgt: "Ich glaube, daß die Menschheit als Verhaltensgrundsatz das

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1. Kap.: Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

schiedliche Einwände, die man einst für unüberwindlich hielt, die aber allmählich ihre Kraft verloren, als man das Wesen der Wissenschaft besser erkannte. Heute gibt es in der Tat viele Philosophen und Wissenschaftler, die mit überzeugung feststellen, daß es eine Trennungslinie zwischen Natur- und Sozialwissenschaft nicht mehr gibt1 3 • Der Unterschied wird nur als graduell, nicht als essentiell betrachtet. Der Einwand, daß der menschliche Geist von der Natur getrennt bestehe und in einem Kosmos existiere, der sich von dem der Naturerscheinungen und anderer Lebewesen 14 unterscheide, wird nicht mehr allzu ernst genommen. Heute sind die meisten fortschrittlichen Denker zu dem Schluß gekommen, daß der Mensch auch in seinen kompliziertesten Aspekten genauso Teil des Universums ist wie ein Tier oder ein Stein und daß seine Aktionen und Reaktionen der Erforschung genauso zugänglich sind wie die der ihn umgebenden Objekte 15 • Die landläufige Annahme, der Mensch habe einen Prinzip annehmen wird, für das ich mein Leben hingegeben habe - das Recht, zu forschen. Es ist das Glaubensbekenntnis freier Menschen - diese Möglichkeit, zu versuchen, dieses Privileg, zu irren, dieser Mut, aufs neue zu experimentieren. Wir Wissenschaftler des menschlichen Geistes sollen experimentieren, nochmals experimentieren und immer wieder experimentieren. In Jahrhunderten voller Versuche und Irrtümer, Qualen des Forschens .... laßt uns mit Gesetzen und Bräuchen, mit Währungssystemen und Regierungen experimentieren, bis wir die Erhabenheit unserer eigenen Bahn finden, so wie die Planeten die ihrigen gefunden haben." 13 Chase: The Proper Study of Mankind, 1948; Huxley, J.: Man in the Modern World, Mentor-Ausgabe 1949; Lundberg: Can Science Save Us? 1947; Northrop: Physical Science and Human Va lues, hrsg. von Wigner, 1947, S. 98; Otto a.a.O. (Anm. 4), S. 122 - 126; Robinson: The Humanizing of Knowledge, 1924; Sullivan, a.a.O. (Anm. 5); Leighton: Human Relations in aChanging World, 1949; Chapin: Social Obstacles to the Acceptance of Existing Social Science Knowledge, in: Social Forces, Bd. 26 (Oktober 1947), S. 7 - 12; Conant: The Role of Science in Our Unique Society, in: Science, Bd. 107 (Januar 1948), S. 77; Condon: Science and National Welfare, in: Science, Bd. 107 (Januar 1948), S. 6; Oppenheimer, a.a.O. (Anm. 9); Sears: Integration at the Community Level, in: American Scientist, Bd. 37 (April 1949), S. 235; Stewart: Challenge to Social Science, in: Science, Bd. 110 (August 1949), S. 179; Stewart: Concerning Social Physics, in: Scientific American, Bd. 180 (Mai 1948), S. 21; Stone: Science and Statecraft, in: Science, Bd. 105 (Mai 1947), S. 509; Williams: Natural Science and Social Problems, in: American Scientist, Bd. 36 (Januar 1948), S. 116; Young: Limiting Factors in the Development of the Social Sciences, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Bd. 92 (1948), S. 325. 14 Otto, a.a.O. (Anm. 4), passim; Sullivan, a.a.O. (Anm. 5), S. 100; vgl. Harlow und Harlow: Learning to Think, in: Scientific American, Bd. 181 (August 1949), S.36. 15 Beadle: The Genes of Men and Molds, in: Scientific American, Bd. 180 (September 1948), S. 30; Conklin Ulfd Groff: Cancer and Environment, in: Scientific American, Bd. 181 (Januar 1949), S. 11; Jacobs: The Application of Sociometry to Industry, in: Sociometry, Bd. 8 (1945), S. 181; Mills: Temperature Dominance over Human Life, in: Science, Bd. 110 (August 1949), S. 267; Ruderfer und Martin: The Concept of Action as a Measure of Living Phenomena, in: Science, Bd. 110 (September 1949), S. 245; Reusch und Bateson: Structure and Process in Social Relations, in: Psychiatry, Bd. 12 (Mai 1949), S. 105; Sears: Integration at the Community Level, in: American Scientist, Bd. 37 (April 1949) ,

3. Theoretische Einwände

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freien Willen, während sich andere Gegenstände im Universum mit mechanischer Gleichförmigkeit bewegten, ist durch die Quantentheorie l6 und durch Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation l7 hinfällig geworden, da diese in einem Gebiet Anwendung finden, wo die Naturwissenschaft die unbelebte Materie untersucht. Das alte Argument, daß der Mensch, falls er naturwissenschaftlichen Gesetzen unterworfen sei, zu einem bloß mechanischen Roboter degradiert wird, übersieht die neue Erkenntnis von der ungeheuer komplizierten Natur der Materie. Auch der entsprechende Glaube, die Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung in der Natur sei viel sicherer als beim Menschen, hat sich in Physik und Chemie als so trügerisch erwiesen, daß Wissenschaftler auf diesen früher als "exakt" bezeichneten Gebieten zur Veranschaulichung der Drehbewegungen von Atomen, Elektronen und Protonen oft den Fußgängerstrom an der Ecke Zweiundvierzigste Straße/Broadway als Beispiel verwenden ls . Diese Hypothesen haben, kurz gesagt, viele Zweifel an der allgemeinen Theorie geweckt, wonach die Wirkkräfte der Gesellschaftswissenschaften so viel komplexer und verschiedenartiger seien als die der Naturwissenschaften, daß wir nie darauf hoffen könnten, sie zu beherrschen und in ein geordnetes System von Erklärungen zu bringen. Manche haben auch ernsthaft vertreten, daß der Mensch sich nicht selbst beobachten könne l9 , und zwar vermutlich in der Annahme, daß ihn seine eigenen Vorurteile gegenüber menschlichem Tun daran hinderten, einen ungetrübten Blick für seine eigenen Reaktionen zu gewinnen. Anthropologen, Psychologen und Psychiater haben jedoch zur Genüge bewiesen, daß Menschen die Handlungen anderer beobachten und einordnen können und daß sie, wenn sie dabei unvoreingenommen bleiben, eine Fülle nützlicher Hypothesen über diese Handlungen aufzustellen vermögen. Andererseits kann die subjektive Beziehung des Menschen zu sich selbst insofern einen großen Vorzug bedeuten, als sie die Möglichkeit eröffnet, menschliche Reaktionen sowohl von innen als auch von außen zu betrachten. Man braucht nur die raschen Fortschritte zu betrachten, die heute in der organischen Chemie und der Biologie durch den Gebrauch radioaktiver Partikel gemacht werden, indem man die Atome auf ihren Wegen durch die Organismen verfolgt, um ein Beispiel S. 235; Stern: Selection and Eugenics, in: ScienC€, Bd. 110 (August 1949), S. 201; Stouffer: A Study of Attitudes, in: Scientific American, Bd. 181 (Mai 1949), S.l1.

t6 Planck: A Survey of Physics, 1925, S. 159. Über die Verwendung der Quantentheorie in der Biologie s. Schrodinger: What ist Life?, 1945, Kap. 14. 17 Jeans: Exploring the Atom, in: Readings in thePhysical Sciences, hrsg. von Shapley, Wright und Rapport, 1948, S. 337; s. auch SuHivan, a.a.O. (Anm. 5), S.72. t8 Lewis, a.a.O. (Anm. 7), S. 383; vgl. Eddington: The Philosophy of Physical Science, 1939; Einstein und Injield: The Evolution of Physics, 1938, S. 299 ff. U J. Huxley, a.a.O. (Anm. 13), S. 115. Dagegen: Otto, a.a.O. (Anm. 4), S. 153 ff.

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1. Kap.: Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

der großen, verborgenen Vorteile zu sehen, die der SozialwissenschaftIer gegenüber seinen Kollegen in den Naturwissenschaften hat. Der uralte Streit zwischen Materialisten und Idealisten über die Frage, ob der Mensch mechanisch wie eine Maschine oder die sonstige unbelebte Materie funktioniere oder nicht, erscheint als ziemlich witzlos im Lichte der modernen Chirurgie, die mit Hilfe elektrischer Ströme im menschlichen Gehirn Träume, Sinnesempfindungen und Erinnerungen hervorrufen kann20 • Des weiteren gibt es heute Rechenmaschinen, die bestimmte Aufgaben weit über das Leistungsvermögen jedes menschlichen Gehirns hinaus ausführen 21 und die den eigentlichen Denkprozeß viel besser erklären, als dies bisher möglich war 22 • Sogar die uralte mechanistische Deutung der unbelebten Materie hat durch den Einfluß der Relativität und der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation eine große Schlappe erlitten. All dies mag dem menschlichen Selbstwertgefühl hart zusetzen. Der Mensch besteht darauf, daß er sich von der Materie unterscheide und daß sich die Sozialwissenschaft ausschließlich mit letzten Werten und grundsätzlichen, unveränderlichen Wahrheiten beschäftige. Deswegen sollten sich die Wissenschaftler aber nicht von dem Versuch abhalten lassen, Arbeitshypothesen zu finden, die die Reaktion des Menschen auf den Menschen und die Reaktion der Menschen auf Gesetze und Kontrollmaßnahmen erklären helfen, denen sie von anderen unterworfen wurden oder die sie selbst ersonnen haben. Diejenigen, die sich der Übertragung wissenschaftlicher Methoden auf das Gebiet der Rechtswissenschaft widersetzen, haben auch das Schreckgespenst der Undurchführbarkeit beschworen. Selbstverständlich sind die Probleme der Beobachtung, der Datenaufzeichnung und der Kontrolle der Experimente hier sehr viel komplizierter; deswegen sind sie aber noch nicht gleich unüberwindlich. Gleichwohl ist zu hören, daß die Methoden der experimentellen Naturwissenschaft nicht auf die Jurisprudenz angewendet werden können 23 , daß sich die menschlichen Handlungen jenseits von Beobachtung, Kontrolle und Vorhersehbarkeit abspielen 24 und daß die Rechtswissenschaft abhängig bleiben müsse von Ratio20 Gray: The Great Ravelled Knot, in: Scientific American, Bd. 180 (Oktober 1948), S. 27; Silverman: Now They're Exploring the Brain, in: Saturday Evening Post vom 8. Okt. 1948, S. 26. 21 Machines Without Men, in: Fortune, Bd. 34 (November 1946), S. 165; A Key to the Automatie Factory, in: Fortune, Bd. 39 (November 1949), S. 139; Ashby: The Electronie Brain, in: Radio Seienee (März 1949), S. 77; Ridenour: The Roll of the Computer, in: Seientifie American, Bd. 187 (September 1952), S. 116, 130. 22 Wiener: Cybernetics, 1948, S. 32, Kap. 5,7. %3 Siehe Lauterpaeht: Kelsen's Pure Science of Law, in: Modern Theories of Law, 1933, S. 105; Pound: Law and the Science of Law in Recent Theories, in: Yale Law Journal, Bd. 43 (1934), S. 525, 532. 24 Beard: Method in the Study of Political Science as an Aspect of Social Science, in: Essays on Research in the Social Science, 1931, S. 51, 59; Oliphant: Facts, Opinions, and Value-Judgments, in: Texas Law Review, Bd. 10 (1932),

3. Theoretische Einwände

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nalisierung 25 , Ethik26 , Politik27 , Soziologie28 , Psychologie, Religion, richterlicher Intuition 29 , von den Traditionen einer ausgebildeten Rechtsanwaltschaft30 und dergleichen mehr. Mit gutem Recht kann man sagen, daß diese und ähnliche Erklärungen nur Entschuldigungen für das Versagen der Juristen sind, sich mit den wirklichen Problemen der Rechtswissenschaft auseinanderzusetzen. Eine der Tragödien moderner Staatsführung liegt in der Tatsache, daß sich die sogenannten führenden Köpfe der Gesellschaft und die Juristen immer noch auf altertümliche Theorien, Institutionen und Dogmen über die Natur des Menschen stützen, wie sie von Klerikern und Philosophen in jenem einfachen Gesellschaftszustand gehegt wurden, der dem Auftreten der wissenschaftlichen Methode vorausging. Zu den großen Quellen auf den Wissensgebieten der sozialen Kontrolle und des Rechts, die heute noch von Einfluß sind, zählen die Bibel, Aristoteles, Plato, Adam Smith, Rousseau, Kant, Hegel, Montesquieu, Bentham, Blackstone und Marx. Zur gleichen Zeit, als diese und andere "großen Werke" über Recht, Staat und Philosophie geschrieben wurden, duldete man kaum die Gleichberechtigung der beginnenden Naturwissenschaft mit der "Gelehrtheit" der Geisteswissenschaften, und zwar in der Annahme, daß sie noch ein wenig zweifelhaft sei und sich in ihren Grenzen halten müsse. Galilei entging der Exkommunikation nur dadurch, daß er sich einverstanden erklärte, zu widerrufen und zu schweigen31 • Glücklicherweise hielten weder er noch seine Nachfolger dieses Versprechen, sondern fuhren fort, die Welt mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode so sehr umzuwälzen, daß sich heute behaupten läßt, daß "die Zukunft unserer Zivilisation von der zunehmenden Verbreitung und dem stärker werdenden Einfluß der wissenschaftlichen Geisteshaltung abhängt"32. S. 127; Spengler: Social Science Becomes Exact, in: American Mercury, Bd. 20 (Juni 1930), S. 202. 25 Vgl. Yntema: The Rational Basis of Legal Science, in: Columbia Law Review, Bd. 31 (1931), S. 925. 28 Vgl. F. Cohen: The Ethieal Basis of Legal Criticism, in: Yale Law Journal, Bd. 41 (1931), S. 201; M. Cohen: Philosophy and Legal Seien ce, in: Columbia Law Review, Bd. 32 (1932), S. 1103. 27 Hutchins: The Autobiography of an Ex-Law Student, in: Ameriean Law School Review, Bd. 7 (1934), S. 1051, 1055. 28 Siehe Angelt: The Value of Sociology to Law, in: Michigan Law Review, Bd. 31 (1933), S. 512; vgl. Greenwood: Experimental Sociology, 1945. 29 Hutcheson: Lawyer's Law and the Little, Sm all Dice, in: Tulane Law Review, Bd. 7 (1932), S. 1; Hutcheson: The Judgment Intuitive: The Functions of the "Hunch" in Judicial Decision, in: Cornell Law Quarterly, Bd. 14 (1929), S.274. 30 Harno: Theory, Experienee, Experimentation and the Logical Method, in: Ameriean Bar Assoeiation Journal, Bd. 17 (1931), S. 659, 663. 31 I. B. Cohen: Galileo, in: Scientific American, Bd. 181 (August 1949), S. 40 ff. 32 Dewey, zitiert in: Readings in the Physical Scienees, hrsg. von Shapley, Wright und Rapport, 1948, S. 10.

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1. Kap.: Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

Die vorangegangenen Bemerkungen weisen nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, die Grundpostulate der sozialen Kontrolle im allgemeinen und der Rechtsordnung im besonderen nochmals im Lichte dessen zu prüfen, was die Naturwissenschaft in allen ihren Richtungen anzubieten hat. Mittelalterliche Vorstellungen sollten nicht mehr diejenigen beherrschen dürfen, die im Zeitalter der modernen Wissenschaft leben. Die Rechtswissenschaft sollte wenigstens nach den Grundsätzen einer deskriptiven Wissenschaft entwickelt werden; wie noch gezeigt werden wird, birgt sie sogar ganz bestimmte Möglichkeiten, zu einer vollständig experimentellen Wissenschaft erweitert zu werden. Auf bestimmten Teilbereichen der Anthropologie, der Sozialpsychologie, der Paläontologie und vielleicht auch der Geschichte besteht bereits die hochentwickelte Fähigkeit, eine deskriptive Sozialwissenschaft von jenen Kräften zu schaffen, die die Reaktion des Menschen gegenüber anderen Menschen und gegenüber der Natur bestimmen. Die Aufgabe, menschliche Handlungen zu registieren, ihren Verlauf darzustellen und künftige Ereignisse vorherzusagen, ist hier nicht viel schwieriger als die Beobachtung des Kosmos oder die Voraussage von Wind, Wetter und Gezeiten. Um den Stand der Gezeiten, die Wasser- und Windverhältnisse für die Landung auf Okinawa vorauszusagen, mußten kaum mehr Umstände berücksichtigt werden als bei der Ermittlung der seelischen Verfassung des japanischen Volkes in bezug auf die Kapitulation. Beide Meisterleistungen wurden während des 2. Weltkrieges vollbracht33 • Es scheint keinen Grund zu geben, warum die Reaktionen einer Stadt, eines Kreises oder eines Landes auf das Inkrafttreten und die Voll ziehung eines bestimmten Gesetzes nicht ebenfalls im Bereich einer deskriptiven Sozialwissenschaft, nämlich der Rechtswissenschaft, liegen sollten34 • Die experimentelle Wissenschaft, die sich nur wenig von der deskriptiven unterscheidet, hat es in der Regel bei kontrollierten Bedingungen leichter. Das Experiment bei streng geregelten Umweltsbedingungen, so heißt es, erbringt die schnellsten und genauesten Ergebnisse. Unredliche Kritiker der Sozialwissenschaften weisen gerne darauf hin, daß solche Kontrollen unmöglich seien, wenn der Mensch den Menschen wissenschaftlich untersucht. Diese Kritik läßt die Tatsache völlig außer acht, daß das Recht eines der Hauptwerkzeuge der sozialen Kontrolle darstellt und daß es von denjenigen, die es handhaben, nach Belieben als geschicktes Mittel benutzt werden kann, um die Bedingungen einer gegebenen gesellschaftlichen Situation zu verändern. Doch das Recht ist nicht die einzige Kontrollmöglichkeit, die dem Menschen zur Verfügung steht. Propa33 Siehe Zacharias: Secret Missions, 1946, S. 334; ders.: Behind Closed Doors, 1950, S. 56 - 57. 34 Siehe z. B. Esslinger: Politics and Science, 1955; Lundberg: Social Research, 1929.

4. Aufbau einer experimentellen Sozialwissenschaft

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ganda, Erziehung, gesellschaftlicher Druck, nackte Gewalt und viele andere kann man als solche sofort feststellen. Es sollte aber beachtet werden, daß sie fast alle als Ersatz für rechtliche Sanktionen dienen und bis zu einem gewissen Grade zu Manipulationszwecken unter die Herrschaft des Rechts gebracht werden können. Die totalitäre Rechtsordnung ist ein Stück Wirklichkeit. Man kann sie genauso zum Guten wie zum Bösen lenken. Der Gebrauch von Gesetzen als Kontrollinstrument für Experimente in den Sozialwissenschaften ist folglich mehr als ein bloßer Traum. Es sieht demnach so aus, als könnte die naturwissenschaftliche Methode, so wie sie oben beschrieben wurde, auf viele Gebiete unseres sozialen Lebens angewendet werden.

4. Einige Hindernisse und Hilfen beim Aufbau einer experimentellen Sozialwissenschaft Zwar ist es vorstellbar, daß das Recht zur Entwicklung sowohl einer deskriptiven als auch einer experimentellen Wissenschaft als ein Kontrollmittel verwendet wird, aber diese Möglichkeit ist vielen offensichtlichen Einwänden ausgesetzt. Obwohl die deskriptive Sozialwissenschaft schon lange Wirklichkeit ist, gibt es heute praktisch viele anscheinend unüberwindliche Hindernisse für die Entwicklung einer ebensolchen experimentellen Wissenschaft. Dazu gehören die Schwierigkeiten, für diese Wissenschaft eine Spezialtheorie zu entwickeln, die sich mit der Beobachtung und der Kontrolle menschlicher Handlungen beschäftigt. Sodann existiert ein weiteres Hindernis in der Wirkung, welche vorgefaßte Ansichten über individuelle und soziale Werte, Moralmaßstäbe und Gruppengewohnheiten auf soziale Experimente ausüben. Jede Wissenschaft dieser Art träfe auch auf den Widerstand tiefverwurzelter Ordnungen des Rechts, des Staates, der Erziehung, der Rechtsmethoden und -verfahren, sowie allgemeiner Gewohnheiten und Geisteshaltungen der gesamten Öffentlichkeit. Andererseits gibt es heute schon auf einigen Gebieten - besonders da, wo der Forschungsgegenstand im Bereich einer hochentwickelten naturwissenschaftlichen Disziplin liegt - eine experimentelle Gesetzgebungstechnik, bei der sich die Ergebnisse innerhalb der Reichweite bereits hochentwickelter experimenteller Methoden in einem engen tatsächlichen Spielraum bewegen. Auf diesen wenigen und begrenzten Gebieten betreten wir bereits das Zeitalter der experimentellen Gesellschaftstechnik. Es ist natürlich nicht möglich, alle Hindernisse vollständig zu erörtern und die günstigen Entwicklungen auf den Gebieten innerhalb des all-

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1. Kap.:

Naturwissenschaftliche Methode in der Rechtswissenschaft?

umfassenden Bereichs der Sozialwissenschaften aufzuzählen; es soll jedoch versucht werden, einige der theoretischen Schwierigkeiten und praktischen Entwicklungen auf dem Wege zu einer experimentellen Sozialwissenschaft zu erfassen und zu erläutern. Außerdem soll der Versuch unternommen werden, die Frage aufzuwerfen und kurz zu erläutern, welche Wirkung eine solche Wissenschaft im Falle ihrer Entwicklung auf Forschung und Staatswesen haben würde. Dabei wird es möglich sein, einige ausgewählte Problemgruppen zu erörtern, deren Entstehen - soweit das heute voraussehbar ist - erwartet werden kann. Eine ausführliche Diskussion über die Auswirkungen, die jedes dieser Gebiete auf einen möglichen experimentellen Zweig der Sozialwissenschaft haben würde, muß indessen weitere Entwicklungen abwarten.

Kapitel 11

Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft In Kapitel I wurde aufgezeigt, daß das Recht - das wohlgemerkt eine der hauptsächlichen Methoden sozialer Kontrolle, nicht aber die einzige ist - durchaus als Mittel dazu benutzt werden kann, einen neuen Zweig der Sozialwissenschaft zu entwickeln. Der Verfasser ist sich sowohl über die theoretischen als auch über die praktischen Schwierigkeiten, eine solche Wissenschaft zu schaffen und zu praktizieren, völlig im klaren; dennoch dürfte es lohnen, die theoretische Struktur zu prüfen, die sie annehmen könnte. In den folgenden Ausführungen wird diese wissenschaftliche Methode und ihre mögliche Anwendung auf soziale Phänomene der Einfachheit halber Experimentelle Rechtswissenschaft genannt. Ohne weitere Diskussion über die Errichtungsmöglichkeiten einer solchen Wissenschaft, sondern auf Grund der Annahme, daß sie möglich sei, werden wir uns zweckmäßigerweise sofort der Prüfung der ersten Schwierigkeit eines solchen Unternehmens zuwenden: der theoretischen Wege und Verfahren, mit denen man eine derartige Wissenschaft begründen kann, und der Art und Weise, wie sie auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft verwendet werden könnte.

1. Recht und juridisches Gesetz Vor einer kurzen Darstellung der Experimentellen Rechtswissenschaft oder einer Rechtswissenschaft, die unmittelbar auf der naturwissenschaftlichen Methode beruht, scheint es nützlich, den Begriff "Recht" (law) zu klären. Recht ist, da es bei den verschiedensten Gelegenheiten unterschiedlich verwendet wird, in der Tat ein sehr vieldeutiges Wort. Sogar in der Rechtswissenschaft selbst hat es wechselnde Bedeutung. Aus Gründen der Genauigkeit sollten daher die Bedeutungsinhalte in wenigstens vier Kategorien eingeteilt werden. 1. "Recht" bezieht sich in dem gewöhnlich gebrauchten Sinne auf ein Mittel sozialer Kontrolle: auf ein Gesetz, eine Verordnung, ein Gerichtsurteil, eine Verkehrsampel usw.; es ist in keiner Weise naturwissenschaftlich. Es kann das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experimentier-

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

verfahrens sein oder auch nicht, jedenfalls ist es im Kern lediglich ein soziales oder staatliches Phänomen. 2. Es gibt weiterhin das sogenannte "Recht hinter dem Recht" oder das ideale "Naturrecht". Manche glauben daran als einen Inbegriff von Regeln, denen sich alle Rechtsregeln als Mittel sozialer Kontrolle annähern sollten 1 . 3. Ein weiterer Wortgebrauch findet sich im sogenannten "Naturgesetz" (Scientific Law), das einfach besagt, daß unter bestimmten Umständen eine bestimmte Folge von Ereignissen eintritt. Danach fällt z. B. ein Gegenstand, der nicht gehalten wird, zu Boden, oder ein sehr unpopuläres Gesetz kann gegen den Willen einer aktiven Mehrheit nicht durchgesetzt werden. 4. Eine vierte Bedeutung enthält der Ausdruck "juridisches Gesetz" (jurallaw). Er bezeichnet ein Naturgesetz, das auf die Abfolge oder das Muster sozialer Reaktionen Anwendung findet, die dem Erlaß einer bestimmten Rechtsnorm tatsächlich folgen oder voraussichtlich folgen werden. Juridisches Gesetz wäre gleichbedeutend mit Naturrecht, wenn der letztere Begriff in einem naturwissenschaftlichen Sinne gebraucht würde, um diejenigen natürlichen Reaktionen zu bezeichnen, die den Erlaß einer Rechtsnorm begleiten oder die ihm folgen. Wenn aber der Begriff "Naturrecht" in seinem geschichtlichen Sinn von den Anhängern der Naturrechtslehre 2 gebraucht wird, dann hat er eine religiöse oder intuitiv-idealistische Bedeutung, die nicht im geringsten darauf beruht, wie Menschen in einer Gesellschaft auf geltende Gesetze wirklich reagieren. In diesem Zusammenhang bezieht er sich auf ein angeblich perfektes Rechtssystem, wohingegen ein juridisches Gesetz die Reaktionen der Gesellschaft auf ein solches System angeben würde, und zwar in gleicher Weise wie bei jedem beliebigen anderen System. Die geschichtliche Bedeutung des Begriffes "Naturrecht" soll daher beibehalten werden, und der Terminus "juridisches Gesetz" wird dazu gebraucht, die allgemeinen wissenschaftlichen Prinzipien zu bezeichnen, die durch Prüfung der Wirkung von Gesetzen in der Gesell1 Diese Theorie wird geschickt widerlegt bei Dickinson: The Law Behind Law, in: Columbia Law Review, Bd. 29 (1929), S. 113,285,289 ff. 2 Aristoteles: Ethik V, 7, Rhetorik 1,13; Justinian: Pandekten I, tit. 2; Thomas von Aquin: Summa Theologica, 1,2, quaestio 91, art. 2; quaestio 95, art. 5; Lord Justice Coke, in: Calvin's Case, Co. Rep., Bd. 7, S. 2a (1609); Grotius: De Jure Belli et Pacis, Bd. 1, Kap. I, S. 10; Locke: Second Treatise on Civil Government, Kap. II, § 12; Vattel: Le Droit Des Gens International, S. 5; Lord Justice Mansjield, in: Moses v. Mac Ferlan 2 Burr. 1005 (1760); BI. Comm., Bd. 1, S. 38 43; American Dec1aration of Independence; Justice Chase in: Calder v. BuU, DaUas, Bd. 3, S. 386, 387, 388 (U.S. 1798); Justice Waite in: United States v. Cruickshank, 92 U.S. 542, 551 (1875); Justice McReynolds in: Pierce v. Society of Sisters, 268 U.S. 510 (1925); Frank: Law and the Modern Mind, 6. AufI. 1949, S. 11 (Vorwort).

1. Recht

und juridisches Gesetz

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schaft zu gewinnen sind. Die folgenden Ausführungen sind darum bemüht, den Gebrauch der vier Begriffe auf den jeweils dargelegten Sinn zu beschränken. Zu Beginn jeder Diskussion, die das Rechtssystem berührt, wird man sofort mit dem uralten Streit über das Wesen des Rechts konfrontiert. Obwohl dieses Problem seit Jahrhunderten die Gelehrten fasziniert hat, ist es für den experimentellen Rechtswissenschaftler von wenig unmittelbarem Interesse. Dagegen bedarf es keines Beweises, daß das Recht ein soziales Phänomen ist und daß jede Wissenschaft vom Recht und den damit zusammenhängenden Reaktionen notwendigerweise eine Sozialwissenschaft sein muß. Um eine derartige Wissenschaft entwickeln zu können, sei einstweilen angenommen, daß das Recht vom Menschen als ein Instrument sozialer Kontrolle geschaffen wurde, um die Ziele des Gesetzgebers durchzusetzen. Es kann nicht ausschließlich charakterisiert werden als unabänderlicher Gang der Geschichte 3 , als Gottes unwandelbarer Wille4, als Befehl eines Herrschers 5 , als höchste Verkörperung der Gerechtigkeit6 , als Wille der Regierten 7 , als Ergebnis unkontrollierbarer Kräfte 8 oder als zweckmäßiger Ausgleich sozialer Interessen 9 • In jeder dieser Erklärungen, die von den verschiedenen Richtungen in der Rechtswissenschaft gegeben werden, liegt wahrscheinlich je nach den Bedingungen und Umständen ein Stückchen Wahrheit, aber keine einzige davon kann man als die ganze Wahrheit akzeptieren. Ferner wird nicht viel gewonnen durch einen Disput darüber, welche von ihnen, wenn überhaupt, die entscheidende Erklärung der Phänomene des Rechts darstellt. Es genügt vollauf, von der augenscheinlichen Tatsache auszugehen, daß es manchmal, wie im Falle der Gesetzgebung, bewußt geschaffen wird, um ein bestimmtes soziales Problem zu lösen. In anderen Fällen entwickelt sich das Recht in einem kaum merklichen Prozeß fallgerechter Konfliktsbeilegungen durch Gerichte, Kommissionen, Rechtsanwälte und andere Konfliktsmittler. Als wichtiger Umstand ist hier zu vermerken, daß die Entscheidung eines Einzelfalles eine Art von gerichtlichem Zufall darstellt. Gewohnheit, Sitten, Präzedenzfall oder auch inneres Gerechtigkeitsgefühl werden alle in komplizierter Weise bei der Lösung des Streitfalles wirksam. Eine nachfolgende Reihe offizieller Handlungen oder Unterlassungen unter ähnlichen Umständen konkretisiert sich Maine: Andent Law, 4. amerikanische Ausgabe 1906. , Cicero: De Legibus, 379 - 381. 5 Brown: The Austinian Theory oi Law, 1906. 8 Stammler: Die Lehre vom richtigen Recht, 1902, S. 29. 7 Jefferson: Writings, hrsg. von Ford, 1899, Bd. 5, S. 115 - 124. 8 Carter: Law: Its Origin, Growth and Function, 1907. 9 Cardozo: The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 112 - 115; Jhering: Der Zweck im Recht, 3. Aufl. 1893; Pound: Sodal Control Trough Law, 1942, 3

S. 63 - 80. 3 Beutel

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

dann zu einer Entscheidungsregel, die der Fachkundige als Mittel anerkennt oder vorhersagt, in ähnlichen Fällen zu einem Urteil zu gelangen. Wie dem auch sei, ob das Recht diese oder jene Gestalt annimmt, sollte für den experimentellen Rechtswissenschaftler nicht viel bedeuten. Er versteht das Recht einfach als eine von Menschen geschaffene Gesamtheit von Regeln und Kontrollen, die man ändern kann, um sie den Erfordernissen wissenschaftlicher Entdeckungen anzupassen. Das Recht ist ein Mittel zur Erreichung eines Zweckes. Der experimentelle Rechtswissenschaftler interessiert sich nicht so sehr für das Wesen des Rechts, sondern konzentriert vielmehr seine Aufmerksamkeit darauf, wie das Recht und die mit ihm zusammenhängenden Einrichtungen funktionieren. Gerade so wie der Physiker die Elektrizität nicht definieren kann, aber ständig daran arbeitet, herauszubekommen, was sie bewirkt, so schenkt auch der experimentelle Rechtswissenschaftler der Wirkung des Rechts sehr viel mehr Aufmerksamkeit als dessen Definition. Wenn man die mit ihm zusammenhängenden Phänomene besser begreift, dann wird sich wahrscheinlich die Definition von allein ergeben. Eine große Zahl wissenschaftlicher Daten und Fortschritte der Technik hatte man schon auf praktischem Gebiete erlangt, ehe die Wissenschaftler zu der Theorie gelangten, daß Elektrizität aus dem Fluß von Elektronen durch Atome bestehPo. Ob diese neueste Theorie die letzte Wahrheit darstellt, ist nahezu unbedeutend, wenn wir auf den Fortschritt zurückschauen, der in der Anwendung einer Kraft erreicht wurde, die möglicherweise noch nicht genau definiert worden ist. Eine wissenschaftliche Erforschung des Rechts nach ähnlichem Muster könnte genauso wichtige Ergebnisse zeitigen, lange bevor eine exakte Definition vonnöten ist.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft Eine Rechtswissenschaft, die auf strenger Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode beruht, sollte sich dem Studium des sozialen Sachverhalts, den ein Gesetz regeln will, der Wirkung des Gesetzes auf die Gesellschaft sowie der Effektivität einzelner Vorschriften im Hinblick auf die Zwecke widmen, deretwegen sie erlassen wurden. Dabei ist es unbedeutend, ob die Experimentelle Rechtswissenschaft einen Zweig der Soziologie darstellt oder ob zu ihrem Bereich die ganze Politikwissenschaft und Teile der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und weiterer gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen ge10 Millikan: Electronics (+ & -) Protons, Photons, Neutrons, Mesotrons and Cosmic Rays, 1947, S. 66.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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hören. Die Grenze zwischen den "Wissenschaften" ist genauso wie die Definition des Rechts nicht viel mehr als eine Spitzfindigkeit, die den Fachgelehrten, Bürokraten und Verwaltungsbeamten überlassen werden kann; für den Wissenschaftler ist nicht die Definition einer bestimmten Wissenschaft von grundsätzlicher Bedeutung, sondern vielmehr die Art ihres Forschungsgegenstandes, die Methoden, die sie anwendet, und die Ergebnisse, zu denen sie führt. Behält man diese Vorbemerkungen im Auge, so läßt sich sagen, daß die methodischen Schritte, in denen die Experimentelle Rechtswissenschaft vorzugehen hat, ungefähr folgendermaßen aussehen müßten: 1. Man müßte die Natur der Erscheinungen studieren, die das Recht zu regeln versucht. Insbesondere sollte das soziale Problem, dem ein bestimmtes Gesetz gewidmet ist, sorgfältig isoliert und geprüft werden.

2. Man müßte die Rechtsnorm oder die sonstige Maßnahme genau festlegen, die zur Regulierung der Phänomene oder zur Lösung des sozialen Problems angewandt werden soll. 3. Man müßte beobachten und messen, wie sich die angewandte Norm in der Gesellschaft auswirkt. 4. Man müßte dann eine Hypothese aufstellen, die die Gründe der festgestellten Reaktion zu erklären versucht. 5. Wird diese Erklärung auf analoge Situationen ausgedehnt, so müßte sie als juridisches Gesetz betrachtet werden, das die Folgen beschreibt und vorhersagt, die bei Anwendung einer ähnlichen Rechtsregelung auf ähnliche Probleme eintreten würden. 6. Falls die Analyse zeigt, daß das Recht unwirksam ist, so müßten neue Wege vorgeschlagen werden, um den ursprünglich erwünschten Erfolg zu erreichen. 7. Die vorgeschlagene neue Rechtsregel müßte in Kraft gesetzt und das Verfahren wiederholt werden. 8. Eine Reihe derart in Kraft gesetzter neuer Rechtsregeln und die Untersuchung ihrer Ergebnisse müßten ein wichtiges Licht auf die Brauchbarkeit der dem Recht zugrundeliegenden Zwecke werfen und auf diese Weise eine mögliche Änderung oder Aufgabe des Vorhabens bewirken, vielleicht sogar auf lange Sicht - was im Augenblick allerdings zweifelhaft erscheint - eine Revision unserer gegenwärtigen sozialen und politischen Wertmaßstäbe einleiten. Jeder Schritt in diesem Verfahren kann den sachkundigen Gebrauch komplizierter Maschinen und Beobachtungstechniken erfordern. Manche davon gibt es schon, andere müssen noch entwickelt werden. Wichtig ist, daß eine wissenschaftliche Jurisprudenz in erster Linie eine Technik der Problemlösung ist.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

a) Die Natur der zu regelnden Phänomene Der erste Schritt in der Methodologie der wissenschaftlichen Jurisprudenz muß die sorgfältige Abgrenzung vergleichsweise einfacher Probleme sein. Solange die Wissenschaftler philosophisch vorgingen und über die Natur des Universums oder über die Sache an sich Spekulationen anstellten, war der Fortschritt gering; als aber Galilei seine Aufmerksamkeit dem schwingenden Pendel oder der Geschwindigkeit fallender Gegenstände zuwandte, als Newton nach dem Grunde für das Fallen des Apfels suchte oder als sich die Medizin auf Ursache und Heilung einer bestimmten Krankheit wie der Pocken konzentrierte, da begann die großartige Entwicklung der Naturwissenschaft. Wir können mit einem ähnlichen Fortschritt rechnen, wenn die Rechtswissenschaft mit der Abgrenzung und Erforschung jener Phänomene beginnt, die sich nach einem einfachen Verhaltensmuster richten. Dies erfordert eine sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Elemente der Phänomene, auf die sich eine bestimmte Rechtsnorm bezieht. Für eine derartige Untersuchung stehen zahlreiche unerwünschte Zustände zur Verfügung, mit denen Rechtsregeln fertig zu werden versuchten, z. B.: die gefährliche Kreuzung zweier Straßen, die zu Verkehrsstockungen und Verkehrsunfällen führt; die Jugendlichen einer Stadt, die Waren aus den Geschäften stehlen und fremdes Eigentum zerstören; eine große Zahl ungedeckter Schecks, die in Zahlung gegeben werden; Hauseigentümer, die unerlaubt hohe Mieten verlangen; die alten und bedürftigen Menschen einer Gemeinde, die nicht gehörig betreut werden. In der Lösung dieser und unzähliger anderer konkreter sozialer Probleme liegt die Aufgabe, die die Verantwortlichen der Gesellschaft mit Hilfe dieses oder jenes Mittels zu bewältigen versucht haben. Wenn die Rechtswissenschaft der wissenschaftlichen Methode folgen soll, dann schiene es ratsam und wäre für den Juristen verhältnismäßig leicht, ein solches Problem einer gesonderten Untersuchung zu unterziehen. Tatsächlich sind bereits viele derartige Studien durchgeführt ll , und weitere sind begonnen worden 12 • Nachdem das Problem auf diese Weise für die Untersuchung isoliert worden ist, erfordert es wegen seiner gesellschaftlichen Natur oft die Anwendung anderer Wissenschaften. Es ist klar, daß eine Untersuchung der Verkehrssituation technische Kenntnisse und etwas Psychologie 11 Glueck and Glueck: Five Hundred Criminal Careers, 1930; dies.: Criminal Careers in Retrospect, 1943; Pound and Frankfurter: Criminal Justice in Cleveland, 1922; Tappan: Delinquent Girls in Court, 1947; Moore and CaHahahn: Law and Learning Theory: A Study in Legal Control, in: Yale Law Journal. Bd. 53 (1943), S. 1. 12 The Hoover Commission Report on Organization of the Executive Branch of the Government, 1949; Fine: Connecticut Studies Schools: Everyone's Opinion Asked, in: New York Times, 14. Nov. 1949, S. 1 Sp. 3; vgl. Chase: The Proper Study of Mankind, 1948, S. 50.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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voraussetzt, während ein Problem der Jugendkriminalität die Hilfe von Ärzten, Psychiatern und Psychologen erfordert. Desgleichen werden Untersuchungen über ungedeckte Schecks und über Mietpreisüberwachungen wirtschaftswissenschaftliche Daten verwenden. In der Tat wird eine zureichende Analyse eines jeden Problems die Unterstützung vieler der modernen Wissenschaften nötig haben, um die damit zusammenhängenden Grundtatsachen klarzulegen. Die Wahl eines bestimmten Untersuchungsgegenstandes an Stelle irgendeines anderen hängt von solchen Faktoren ab wie Gelegenheit, Dringlichkeit des Problems, Geldquellen, Verfügbarkeit von Personal, wissenschaftlichen Daten, vorhandenen oder noch zu schaffenden Techniken zur Aufdeckung der sachdienlichen Einzelheiten, Zeit, Organisation und vielen anderen Überlegungen. Jedes Problem wird seine eigenen Lösungserfordernisse entwickeln, die sich jeweils nach den zweckdienlichsten Experimentierverfahren richten müssen. Dies wird in späteren Kapiteln noch kurz berührt werden. b) Feststellung der Rechtsnorm und der Regulierungsmittel

Sobald das Problem abgegrenzt ist, dürfte es einfach sein, herauszufinden, welche gesetzlichen Mittel eigentlich zu seiner Lösung geschaffen worden sind. Handelt es sich um eine gefährliche Straßenecke, so stehen viele Mittel zur Verfügung. Da gibt es, um nur einige zU nennen, Magistratsverordnungen, die für Ampeln und Halteschilder sorgen, Verkehrspolizisten in der Hauptverkehrszeit einsetzen, Einbahnstraßen festlegen, das Abbiegen nach links oder rechts oder beides verbieten und den Bau von Hochstraßen und Umleitungen anordnen. Um die Probleme der Jugendkriminalität zu lösen, hat man Gesetze geschaffen, die bestimmte Handlungen bestrafen, Jugendgerichte einrichten, Erziehungsheime bauen oder sogar Präventivmaßnahmen einführen wie z. B. die Schaffung von Jugendzentren. Manchmal kann man das Verfahren mit Gewinn umkehren und versuchen, die Phänomene aufzudecken, auf die sich eine bestimmte Rechtsnorm bezieht. Es gibt viele Normen, bei denen es schwer ist, das Problem oder die Probleme auszumachen, deren Lösung versucht worden ist. Untersucht man z. B. gesetzliche Bestimmungen gegen die Scheidung oder für die Konzessionierung von Kneipen oder öffentlichen Buslinien, kann man feststellen, daß sie zu vielerlei Zwecken existieren. Andere Gesetze können noch auf dem Papier bestehen, lange nachdem die Gründe, deretwegen sie geschaffen wurden, zU bestehen aufgehört haben, z. B. das berühmte Gesetz in Louisiana, das die Länge der Nadeln an Damenhüten begrenzte 13 • Das Wichtige an diesem Untersuchungsstadium ist 13

Louisiana Laws 1941, Nr. 64, Abschnitt 156; siehe Louisiana Laws 1896,

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

jedoch die Verknüpfung der Rechtsnormen mit den sozialen Problemen, die sie lösen sollen. Ob der Weg von der Norm zum Problem oder vom Problem zur Norm führt, ist gleichgültig. Während dieser zweite Schritt im Bereich des gesetzten Rechts leicht ist, kann er ein beachtliches Forschungsproblem bieten, wenn das sogenannte gemeine Recht im Spiele ist. Hier kann eine Rechtsnorm oft erst nach einer ausführlichen Untersuchung durch sachverständige Juristen gefunden werden, wie das allgemein der Fall war bei den "Kompilationen des geltenden Rechts" (Restatements of the Law)14 durch das American Law Institute, und zwar besonders bei vielen Normen des Schadensersatz- und des Sachenrechts. Logischerweise gibt es noch eine dritte Konstellation, daß nämlich ein dringliches soziales Problem vorliegt, für dessen Lösung keine "Rechtsregel" existiert. Rein theoretisch, vom Standpunkt des Juristen aus, ist eine solche Situation nicht möglich, denn von allen derartigen Fällen wird angenommen, daß sie in die Restkategorie fallen, die man gemeines Recht nennt. Gelangt solch ein Fall vor das Gericht oder wird eine andere Rechtsmaschinerie in Bewegung gesetzt, dann muß der Richter oder sonstige Beamte eine Entscheidung improvisieren. Die Begründung, die er seinen Ergebnissen gibt, wird zur Bestimmungsgrundlage des künftigen Gewohnheitsrechts. In Wirklichkeit, wie z. B. im Falle der Festlegung gesetzlicher Rechte von Kindern, die durch das neue medizinische Verfahren der künstlichen Insemination empfangen wurden, stehen selbst die juristischen Experten so vielen widersprüchlichen Analogien und so vielen Lösungsmöglichkeiten gegenüber, daß man praktisch sagen kann, es gebe keine "Rechtsnorm" oder die Rechtsanalogien seien völlig verworren. In einem solchen Falle könnte man den Standpunkt vertreten, daß derartige Probleme nicht mehr im Bereich der Jurisprudenz lägen und in das Gebiet anderer Sozialwissenschaften gehörten; oder man könnte vorschlagen, daß bei einer derartigen Sachlage die oben genannten Schritte drei bis fünf ausgelassen werden sollten und daß der Jurist sogleich gemäß Schritt sechs damit beginnen sollte, wünschenswerte Rechtsänderungen zu empfehlen, um denjenigen sozialen Daten entgegenzutreten, die aus der Abwesenheit oder der Verworrenheit der "Rechtsnorm" resultieren. Es macht kaum einen Unterschied, welchen Weg man einschlägt. Auf jeden Fall ist es möglich, aufgrund erkennbarer Tatsachen, die entweder von der unklaren "Rechtsnorm" oder vom Fehlen einer Rechtsnorm herrühren, festzustellen, welche Rechtsänderung, Nr. 62, Abschnitt 95 (danach war es Frauen gesetzlich verboten, in Theatern Hüte zu tragen); vgl. ferner Palmer: Vestigial Remnants in the Law, American Bar Association Journal, Bd. 35 (1949), S. 905. 14 Das "Restatement of American Law" ist eine vielbändige Arbeit einer autoritativen wissenschaftlichen Kommission, die die Rechtsangleichung zwischen den Einzelstaaten und eine allmähliche Kodifikation vorbereiten will.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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wenn überhaupt, wünschbar ist. Würde eine derartige Rechtsnorm erlassen, dann könnte das Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft, wie vorgeschlagen, weitergehen und mit Schritt sieben beginnen. Bei kritischer Überprüfung mag es jedoch des weiteren scheinen, als bestünde eine bestimmte Rechtsnorm zu keinem anderen sozialen Zweck als dem, eine Regel für die Beilegung von Prozessen aufzustellen. Während Fahrlässigkeitstatbestände in einigen Fällen sozial regulierend wirken mögen, dient die "last clear chance"-RegePS sichtlich nur dem Zweck, in einem Rechtsstreit ein Urteil zu ermöglichen. Dennoch würde selbst hier eine sorgfältige Untersuchung des Zweckes in Verbindung mit anderen Schritten in der Methodologie einer wissenschaftlichen Jurisprudenz sich als äußerst fruchtbar erweisen und könnte die dahinter liegende Zweckmäßigkeit erhellen. Andererseits kann die Suche nach dem zugrundeliegenden sozialen Problem sichtbar machen, daß das Recht in seiner gegenwärtigen Fassung dazu geschaffen war, einer Theorie über das zugrundeliegende Problem zu entsprechen, die mit späteren Erkenntnissen desselben Problems völlig unvereinbar ist. Beispielsweise sind die derzeitigen Normen über Straftaten, über die Behandlung Geisteskranker und die Beweiswürdigung lange vor der Zeit entstanden, als die wissenschaftliche Methode neues Licht auf die Natur des Menschen warf. Psychiatrie und Psychologie zeigen, daß die gegenwärtig als Grundbegriffe des Strafrechts verwendeten Kriterien wie Schuld, verbrecherische Absicht und Unrechtsbewußtsein gar nichts mit dem wirklichen Geisteszustand der Delinquenten zu tun haben 16 , und moderne Methoden zur Prüfung wissenschaftlicher Tatsachen lassen viele Seiten des Schöffensystems nicht nur als obsolet erscheinen, sondern auch als wirkliches Hindernis der Tatsachenfeststellung 17 • Auf diesen Gebieten wird die notwendige Rekonstruktion des Problems, auf das sich das Gesetz bezieht, die Hilfe vieler anderer Wissenschaftler erfordern, die mit dem forschenden Juristen zusammenarbeiten. Wenn die Berichte eines solchen Forschungsteams vorliegen, dann wird sich herausstellen, daß viele unserer gegenwärtigen Rechtsnormen auf Anschauungen von der Natur des Menschen und seiner Umwelt beruhen, die sich durch die moderne Wissenschaft als irrig herausgestellt haben. Überlegungen dieser Art können die Preisgabe vieler der Grundpostulate des Strafrechts und des Beweisrechts erzwingen und den Weg weisen, wie die Rechtsänderung zu erfolgen hat. 15 Nach der "Last clear chance doctrin" wird einem Beklagten die Einrede des "gegebenen" Mitverschuldens immer dann genommen, wenn er es schuldhaft (grob fahrlässig) unterlassen hat, den Schadenseintritt zu verhindern. 18 Wertham: The Show of Violence, 1949, S. 86, 149, 152; Zilboorg: Mind, Medicine and Man, 1943, Kap. 8. 17 Siehe Berry v. Chaplin, 74 Ca I. App. 2d 652,169 P. 2d 442 (1946), in: Cornell Law Quarterly, Bd. 34 (1948), S. 78 - 80.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

So wie rechtliche Theorien über die Natur des Problems, das das Recht zu lösen versucht, nicht mit wissenschaftlichen Ergebnissen übereinzustimmen brauchen, so können auch die vom Recht zur Erreichung des erwünschten Zweckes vorgeschriebenen Methoden und Techniken unbrauchbar sein. Wie in Kapitel V näher dargelegt ist, hat unsere Rechtsordnung zur Modernisierung ihrer Verfahren die Ergebnisse der Naturund Sozialwissenschaften nur beklagenswert langsam übernommen. Die Aufdeckung und Anwendung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Zwecke der gesetzgebenden und rechtsanwendenden Behörden stellt eine der fruchtbarsten und vernachlässigsten Gebiete heutiger Sozialforschung dar. Auch hier besteht, wie in den folgenden Kapiteln ausführlicher dargelegt werden wird, ein wachsendes Bedürfnis nach kooperativer Forschung durch Juristen und andere Wissenschaftler aus den Sozial- und den Naturwissenschaften. c) Die Reaktion der Gesellschaft auf eine Rechtsnorm

Der dritte Schritt - die Sammlung der Daten, um zu bestimmen, in welchem Grade das Recht seinen Zweck erreicht - ist bei weitem schwieriger als jeder der beiden vorangegangenen Schritte. Hier gilt es, die Wirkung der Rechtsanwendung auf das Verhalten der Gesellschaft zu beobachten. Dabei liegt der Schwerpunkt bei den Verhaltensmustern der Masse und nicht bei den individuellen Reaktionen18 • Derartige Verhaltensmuster ähneln den physikalischen, statistischen oder Massenreaktionen, wie z. B. der Molekularbewegung bei der Vereinigung zweier farbiger Flüssigkeiten in einer Lösung, und sie bestehen aus der Summe aller anscheinend ununterscheidbaren Einzelreaktionen. Um die hier erwünschte Information zu erlangen, ist die Untersuchung zahlreicher physischer und psychischer Einzelreaktionen notwendig, damit ein Bild der Gruppenreaktionen und Gruppenattitüden entsteht 19 • Hierzu sind wiederum andere Wissenschaften um Datengewinnung zu ersuchen, und die Fachleute müssen zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse koordinieren. Im Falle einer gesetzlichen Bestimmung, die - wie eine Verkehrsvorschrift - nur einen einzigen Zweck erreichen soll, ist die Beobachtung einer bestimmten Tatsache an einer bestimmten Straßenecke vergleichsweise leicht. Das soziale Verhaltensmuster, das die Einwirkung einer gesetzlichen Maßnahme auf das verhältnismäßig einfache Phänomen des Fußgänger- und Fahrzeugverkehrs an einer Straßenecke hervorruft, 18 Cooley: Case Study of Small Institutions as a Method of Research in Personality and the Social Group, Burgess-Ausgabe 1929, S. 182; siehe ferner Ohlin: Selection for Parole, 1951, und die dort aufgeführten Autoren, S. 131 ff. 19 Siehe z. B. Stewart: Empirical Mathematical Rules Concerning the Distribution and Equilibrium of Population, in: Geographical Review, Bd. 37 (1947),

S.461.

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kann ohne weiteres beobachtet werden. Hier genügen mechanische Zählvorrichtungen, Statistiken, Filmkameras und ähnliches, um das Verkehrsverhalten vor und nach der Rechtsänderung festzustellen. Wo es sich um eine Rechtsnorm mit mehreren Zwecken handelt, ist das soziale Bild komplizierter. Hier könnte eine Studie versucht werden, entweder die Wirksamkeit der Norm bezüglich eines einzigen ihrer angeblichen Zwecke oder ihren Erfolg im Hinblick auf zwei oder mehrere oder alle erklärten Ziele zu bestimmen. Dabei sollten die Analysen von Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Kriminologen, Psychiatern, Meinungsforschern und vielen anderen Spezialisten zur Datengewinnung verwendet werden. Damit die Genauigkeit sichergestellt ist, müssen die einzelnen Bestandteile des Programmes isoliert werden, und der ausgewählte Untersuchungsbereich muß statistisch groß genug sein, um individuelle Abweichungen zu eliminieren. Die Reaktionen des Verkehrs an einer einzigen Straßenecke werden daher nicht genügen; es müssen vielmehr die Verhaltensmuster an vielen Straßenkreuzungen beobachtet und verglichen werden. Genauso könnte zwar die Untersuchung eines einzigen Jugendgerichtes aufschlußreich sein, aber sie sollte über einen längeren Zeitabschnitt hinweg auch auf andere ausgedehnt werden, um Zufallskomponenten auszuschalten. Dieses Verfahren ähnelt der Festlegung einer komplizierten Versuchsordnung auf anderen wissenschaftlichen Gebieten. Demgegenüber kann die Aufgabe, ein vermutlich veraltetes Gesetz zu überprüfen, verhältnismäßig einfach sein. Wenn beispielsweise eine vorläufige Untersuchung offenbart, daß die Damen keine langen Hutnadeln mehr tragen, daß auf Grund des Gesetzes über Hutnadeln seit Jahren keine Fälle mehr verfolgt worden sind und daß die Frauen dieses Gesetz weder fürchten noch irgendwie kennen, dann ist die Folgerung daraus offensichtlich20 • Dennoch sollte die Möglichkeit nicht übersehen werden, daß ein Gesetz, das nicht mehr dem Zweck dient, zu dem es ursprünglich erlassen worden war, nunmehr nützlich sein kann, neue Phänomene zu bewältigen. d) Die Gründe für die Reaktion auf eine Rechtsnorm

Obgleich das Fehlen ausführlicher Gesetzesmaterialien die Auffindung der Zwecke, deretwegen die Gesetze geschaffen wurden, einige Spekulationen und vielleicht auch schwierige Beweisprobleme verursachen kann, ist im bisher behandelten Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft kaum etwas anderes vorgeschlagen worden, als die wissenschaftliche Technik der Deskription. Im vierten Schritt fangen jedoch 20 Das Hutnadel-Gesetz wurde durch § 21, Nr. 43 des StGB von Louisiana (von 1942) aufgehoben.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

wissenschaftliche Phantasie, Spekulation und Intuition an, sich zu behaupten. Die Formulierung einer Hypothese zur Erklärung der erforschten Verhaltensmuster der Gruppe oder des einzelnen kann eine einfache oder eine komplizierte Aufgabe sein, unmöglich ist sie nicht. Wo es um bloße Verkehrsregelungen geht, sind die Ergebnisse vor und nach der Rechtsänderung schnell und leicht begreiflich, denn wenn die Wirkung der Rechtsnorm erkannt und beschrieben worden ist, kann man ohne weiteres schließen, warum sich ein Verkehrsandrang vergrößerte oder verringerte. Ist eine Einbahnstraße oder eine Straßenüberführung eingerichtet worden, dann sind die Ergebnisse offensichtlich, und die Reaktion der Gesellschaft auf die Rechtsnorm kann ohne große Schwierigkeiten erklärt werden. Wo es dagegen um Rechtsnormen mit mehreren Zwecken geht, wenn also z. B. Jugendgerichte oder Bewährungshelfer eingeführt oder Zulassungsverfahren vorgesehen werden, verlangt die Beobachtung der Wirkung des Gesetzes auf die Gesellschaft, daß jedes verfügbare Mittel deskriptiver Sozialforschung auf das Problem angewendet wird. Nur mit ihrer Hilfe kann eine Hypothese, die die Gesetzeswirkung erklärt, erfolgreich aufgestellt werden. e) Die Vervollkommnung eines juridischen Gesetzes

Nachdem eine Hypothese über die Wirkung einer Rechtsnorm auf eine Einzelsituation aufgestellt worden ist, kann sie für eine Erweiterung zu einem echten juridischen Gesetz geeignet sein. Auf Grund der Prüfung ähnlicher Situationen, in denen dieselbe Rechtsnorm angewendet worden ist, kann die Aussage über soziale Reaktionen in Einzelfällen verallgemeinert werden. Auf diese Weise kann man feststellen, daß Verkehrsampeln unter gewissen Bedingungen einen Teil der Unfälle auf verkehrsreichen Kreuzungen verhindern, während es sicher ist, daß eine Straßenüberführung alle Verkehrsunfälle beseitigt, die durch Kollisionen an Kreuzungen verursacht werden. Das gleiche gilt für den Fall des Jugendgerichts; wenn die sorgfältigen Untersuchungen über die Arbeits- und Wirkungskreise eines einzelnen Gerichtes so ausgedehnt werden, daß sie gleichartige Institutionen berücksichtigen, dann kann es möglich sein, juridische Gesetze festzustellen, die die Wirkung dieser Art von Institutionen auf die Jugendkriminalität im allgemeinen bestimmen. Ein solcher Vergleich ist ohne weiteres durchführbar in den Vereinigten Staaten, wo eine Zentralregierung, 48 Staatsregierungen, Tausende von Bezirksregierungen und über hunderttausend unabhängige Regierungsstellen nebeneinander bestehen, von denen viele dieselben Funktionen erfüllen 21 • Durch eine geeignete statistische Untersuchung lassen 21 Anderson: The Units of Government in the United States (Public Administration Service Monograph Nr. 83) 1942.

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sich individuelle Variationen eliminieren, und das juridische Gesetz, das die Institution als solche bestimmt, kann klargelegt werden. Unser allgemeines Handelsgesetzbuch, unsere Musterkodifikationen des gerichtlichen Verfahrensrechts und die so gut wie identischen Rechtspflegeeinrichtungen bieten allesamt eine Fundgrube für Rohmaterial, aus dem nach einer Sammlung und Einbeziehung hinreichender Daten juridische Gesetze über gesellschaftliche Reaktionen gewonnen werden können. Werden solche Untersuchungen unternommen, so ist zu erwarten, daß die Ergebnisse die grundsätzlichen Kontroversen über die Nützlichkeit der untersuchten Institution oder Rechtsnorm auf ein Minimum reduzieren. Eine eindrucksvolle Illustration dieses Prinzips erbrachte die kürzliche Untersuchung der "Progressive Education"22. Vor dieser Untersuchung erhitzten sich die Gemüter der Lehrer an den höheren Schulen über den Wert der "altbewährten" konservativen Methoden, die "Three R's"23 zu lehren; die "progressive education" mit ihren zufälligen und nicht festgelegten Methoden wurde überall im Lande rundweg abgelehnt. Als man aber den Studienerfolg von Collegestudenten untersuchte, die nach einem Schlüssel, der Zufälligkeiten nahezu ausschloß, fachgerecht aus verschiedenen "progressive" und "non-progressive institutions" ausgesucht worden waren, zeigten die Ergebnisse, daß die Studenten aus "progressive schools" etwas besser abschnitten als diejenigen aus den orthodoxen Anstalten 24 . Ein eindrucksvolles Ergebnis dieser Untersuchung, das jedem Dogmatiker auf dem Gebiete sozialer und gesetzlicher Regelung zu denken geben sollte, deutete darauf hin, daß Studenten aus "progressive schools" ohne vorherige Ausbildung in den Naturwissenschaften bessere Noten in den naturwissenschaftlichen CollegeKursen erlangten als ihre Kommilitonen, denen die Naturwissenschaften in den höheren Schulen mit den konservativen Methoden gründlich eingepaukt worden waren 25 . Natürlich ist der Erfolg im College nicht der einzige Zweck des Unterrichts an den höheren Schulen, aber er ist sicherlich einer der Zwecke. Seit dieser Untersuchung haben die ständigen Streitigkeiten auf diesem Gebiete viel von ihrer Heftigkeit verloren, und die Lehrer sind wenigstens einen Schritt darin weitergekommen, die "beste" Methode des Oberschulunterrichts herauszufinden. 22 Aikin: The Story of the Eight-Year-Study, 1942. "Progressive Education" ist eine Bewegung im amerikanischen Erziehungswesen, die Ende des 19. Jahrhunderts begann. Sie richtete sich, von John Dewey besonders vertreten, gegen die Denkschulung durch reines Lernen und befürwortete das Lernen durch Erlebnis und eigene Tätigkeit des Schülers. 23 Die "three R's" bedeuten Lesen, Schreiben und Rechnen: Reading, Writing, Arithmetic. 24 Time, 16. Febr. 1942, S. 53. 25 Thirty Schools Tell Their Story, 1943, S. 668.

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Die Techniken, die man auf die Untersuchung der von Erziehern aufgestellten Regeln anwenden kann, sind genauso anwendbar auf Rechtsnormen, die von Gesetzgebungskörperschaften erlassen oder durch Verallgemeinerungen von Gerichtsentscheidungen gewonnen worden sind. Die Art und Weise menschlicher Reaktionen in beiden Fällen befindet sich jetzt innerhalb der Reichweite unserer Methoden oder Sozialforschung. Ein führender Wissenschaftler hat die Situation folgendermaßen zusammengefaßt: "Es gibt heute keine Entschuldigung mehr für diejenigen, die die Tatsache ignorieren, daß Menschen - im Durchschnitt und mindestens bei bestimmten Verhältnissen - mathematischen Regelmäßigkeiten gehorchen, die manchen einfachen physikalischen ,Gesetzen' im Grundsatz ähneln. Die "Sozialphysik" liegt im Bereich einer wirklich modernen wissenschaftlichen Forschung. Wenn wir sie erreicht haben, wird man sich über die blinde Opposition wundern, auf die ihre Befürworter anfänglich gestoßen sind 2ß." Bis zu diesem Punkte hat sich die wissenschaftliche Jurisprudenz nur der deskriptiven Methoden der Sozialphysik bedient; auf Grund der unterschiedlichen Rechtsnormen in verschiedenen Rechtskreisen mit ähnlicher Gesellschaftsstruktur kann der Jurist jedoch viele Vorzüge der kontrollierten Experimente nutzen, indem er einfach die Forschungsergebnisse aus bestehenden Gesellschaften vergleicht, ohne das Recht ändern zu müssen. Wo sich darüber hinaus die Gesellschaften in ihrer Rechtsstruktur erheblich unterscheiden, wie z. B. im Vergleich zwischen den USA, Spanien und Sowjetrußland, können juridische Gesetze weiter dadurch verifiziert werden, daß man die Ergebnisse der Sozialphysik vergleicht, wie sie auf ähnliche Phänomene, aber unter völlig verschiedenen rechtlichen Bedingungen angewendet wird. f) Vorschläge zur Rechtsänderung

Gelangt man zum sechsten Schritt in der Methodik der Experimentellen Rechtswissenschaft, dann ist es möglich, daß die Soziologie oder "Sozialphysik" eine genauso experimentelle Wissenschaft wird, wie Physik und Chemie es sind. Nachdem man nämlich die Reaktion der Menschen auf eine bestimmte Rechtsnorm oder auf bestimmte Arten von Rechtsnormen beobachtet hat und diese Beobachtungen gesammelt und systematisiert worden sind, kann der Jurist die Unzulänglichkeiten aufzeigen, die sowohl in der Anwendung des Rechts als auch in dessen technischem Aufbau liegen. In diesem Stadium werden die meisten dieser Fehler als das Versagen erscheinen, den Zweck des Rechts zu erreichen. Der Jurist kann dann den Regierungsverantwortlichen oder anderen Politikern Rechtsänderungen vorschlagen, die besser dazu geeignet sind, das politische Ziel zu verwirklichen, dessentwegen es geschaffen wurde. In der Ver28

Stewart (Anm. 19), S. 485.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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gangenheit ist zu diesem Punkte stets eingewandt worden, daß die Zustimmung zu dieser oder jener Rechtsnorm das Problem der sozialen Werte aufwerfe, das die Wissenschaft allein nicht zu lösen vermöge. Des weiteren wird behauptet, es sollte keine Rechtsänderung ohne Werturteil vorgenommen werden, da die Menschen sich nicht gern als Versuchskaninchen betrachteten. Dieses Argument übersieht jedoch gänzlich die Tatsache, daß die weitaus überwiegende Mehrzahl der heute geltenden Gesetze und die meisten gegenwärtigen politischen Entscheidungen in einer mehr oder weniger impressionistischen Weise entstehen, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Häufig sind sie eher das Ergebnis leidenschaftlicher Gefühle als einer systematischen Untersuchung. Diese Gesetze sind daher insgesamt, ob wir es mögen oder nicht, in gewissem Sinne experimentell, aber es handelt sich um Experimente, die nicht einer systematischen Kontrolle in bezug auf ihre Ergebnisse unterworfen worden sind. Als Folge dieser Zufallspraxis werden die meisten gegenwärtigen Gesetze durch das Trägheitsmoment weitergetragen, bis sie entweder obsolet geworden sind oder aufgehoben werden, und zwar auf Grund eines Druckes, der nicht auf einer wissenschaftlichen Untersuchung beruht, sondern auf den Klagen der Öffentlichkeit, die oft von der Wirksamkeit des Gesetzes selbst herrühren. In der Tat wird es wohl ein juridisches Gesetz unserer repräsentativen Demokratie sein, daß ein Gesetz, je mehr es die Aktionen bestimmter Gruppen einschränkt, desto heftiger von diesen Gruppen zwecks Änderung angegriffen wird. Es ist deshalb ein interessantes Paradox, daß Regierungsbehörden, die durch Gesetz zur Bekämpfung bestimmter "Antisozialer Umtriebe" geschaffen worden sind, häufig durch diejenigen Kräfte paralysiert werden, die sie kontrollieren sollten. Die Polizei wird bisweilen von der Unterwelt beherrscht27 , die Interstate Commerce Commission 28 von den Eisenbahnen 29 und die Arbeitsämter von den Gewerkschaften oder den Arbeitgebern, je nachdem, wer im Augenblick sozial stärker ist 30 • Dieses Herumexperimentieren der Regierung könnte unter der Herrschaft von Untersuchungen im Sinne einer wissenschaftlichen Jurisprudenz be endet werden. Im übrigen gibt es keinen Grund, anzunehmen, daß der experimentelle Jurist sogleich zu Wertentscheidungen gezwungen würde. Er sollte vielmehr das Recht untersuchen, um dessen Wirksamkeit bei der Erreichung des Zweckes herauszufinden, für den es die Regierungsverant27 Frank Costello: Time Magazine, Heft 54 vom 28. Nov. 1949, S. 15 (Titelgeschichte). 28 Die Interstate Commerce Commission (Bundesverkehrsbehörde) wurde 1887 als Bundeskontrollbehörde für das Eisenbahnwesen eingerichtet und ist heute für das gesamte zwischenstaatliche Verkehrswesen (mit Ausnahme der Luftfahrt) zuständig. 29 Georgia v. Pennsylvania Railroad, 324 U.S. 439, 458 (1945). 30 Cohen and Cohen: The National Labor Relations Board in Retrospect, in: Industrial and Labor Relation Review, Bd. 1 (1948), S. 648.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

wortlichen oder die Richter erklärtermaßen geschaffen haben, und er sollte in der Lage sein, die Änderungen anzuraten, die diesem Zwecke besser dienen würden. "Die einzigen Werturteile, die ein gut ausgebildeter Wissenschaftler in bezug auf sein Tatsachenmaterial fällt, sind Urteile darüber, welche Erheblichkeit diese Tatsachen für sein Problem besitzen, welches Gewicht den einzelnen Aspekten zukommt und wie die beobachteten Phänomene generell zu interpretieren seien. Hier handelt es sich um Fragen, denen kein Wissenschaftler ausweichen kann, und sie sind in den Sozialwissenschaften keineswegs einzigartig oder unüberwindlich. Haben die Wissenschaftler demnach keine besondere Aufgabe oder Verpflichtung, die Ziele zu bestimmen, für die wissenschaftliche Erkenntnis verwendet werden soll? Als Wissenschaftler haben sie nur die Aufgabe, unmittelbare und entfernte Kosten und Konsequenzen möglicher Handlungsalternativen zu bestimmen und sie der Öffentlichkeit bekannt zu geben 31 ." Die Aufgabe des wissenschaftlichen Juristen sollte sein, diese "natürlichen Konsequenzen" in Form von juridischen Gesetzen festzulegen. Daher ist er zuerst notwendigerweise Diener des Gesetzgebers. Wenn der experimentelle Jurist seine Arbeit damit beginnt, einfache Probleme auf Grund eines unparteiischen, auf Tatsachen und sozialen Reaktionen beruhenden Verfahrens zu lösen, und wenn er dabei in bezug auf Gut und Böse der Endergebnisse genauso unvoreingenommen vorgeht wie ein Mediziner, der die Syphilis erforscht, dann wird es nicht lange dauern, bis er der wichtigste Partner eines jeden Gesetzgebers wird. Daher wären "die Dienste der wirklichen Sozialwissenschaftler den Faschisten ebenso unentbehrlich wie den Kommunisten und den Demokraten, geradeso wie die Dienste der Physiker und Ärzte"32. Sind die Tatsachen der sozialen Reaktion auf Rechtsnormen einmal bekannt und hat man die juridischen Gesetzes genau bestimmt, dann wird jedenfalls ein großer Teil des Streites über die letzten Werte zu bestehen aufhören. So hat man beispielsweise einmal geglaubt, daß es "gut" sei, den Handel mit alkoholischen Getränken durch Prohibitionsgesetze zu unterbinden, aber schon das rein zufällige Experimentieren hat uns gezeigt, daß die Folgen nach beinahe jedem Maßstab "schlechter" waren als der Alkoholhandel selbst. Hätten die Gesetzgeber die Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft angewendet, dann wäre dieses juridische Gesetz eher erkannt worden, es hätte weniger Gefühlsausbrüche gegeben, und wir wären bei unseren Versuchen, das "Schlechte" des Alkoholhandels zu kontrollieren, sehr viel erfahrener gewesen. In der Tat ginge man nicht zu weit mit der Hoffnung, daß die Anwendung sorgfältiger wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden auf derartige 31 32

Lundberg: Can Science save us?, 1947, S. 28. Ders.: S. 48; vgl. Lynd: The Implications of Economic Planning of

Sociology, in: American Sociological Review, Bd. 9 (1944), S. 14, 17.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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Probleme der sozialen Kontrolle Mittel und Wege ergeben könnte, viele der uns plagenden" Übel" völlig zu beseitigen33 •

g) Der Erlaß der vorgeschlagenen Gesetze Es ist offensichtlich, daß der siebente Schritt - soll die Experimentelle Rechtswissenschaft eine maximale Wirkung erreichen - in der tatsächlichen Verabschiedung der Gesetzesänderungen liegen muß, die der Jurist nach seinen Untersuchungen vorgeschlagen hat. Beim gegenwärtigen Gesetzgebungsverfahren bietet der Staatsapparat jedoch ein nur teilweise adäquates Instrument für dieses Vorgehen. So könnte ein Gegner ohne weiteres darauf hinweisen, daß die gesetzgebenden Körperschaften unabhängig und dem Juristen in keiner Weise verpflichtet seien, daß er sich vielmehr glücklich schätzen müsse, falls seine neuen Reformen jemals verabschiedet würden. Hierin liegt gewiß eine Schwierigkeit, aber in der tatsächlichen Praxis dürfte sie bei weitem nicht unüberwindlich sein. Es gibt drei Wege, dieses Nachhinken der Gesetzgebung zu beseitigen. (1) Der erste besteht in der Delegation von Normsetzungsbefugnissen durch die gesetzgebende Körperschaft auf Behörden, die dann geltende Rechtsnormen verbindlich ändern können. (2) Zweitens ist die Variationsbreite der gegenwärtig geltenden Rechtsnormen, die dieselben oder ähnliche Phänomene regeln, so groß, daß nach einer Untersuchung der Rechtswirksamkeit in einigen anderen Rechtsordnungen ohne viel Mühe geklärt werden kann, daß die meisten theoretischen, gesetzlichen und verwaltungstechnischen Variationen, die ein experimenteller Jurist als Kontrollen zur Überprüfung der Rechtswirksamkeit wünschen könnte, bereits in Rechtsordnungen mit ähnlicher Struktur erlassen worden sind. (3) Drittens und letztens können die gesetzgebenden Körperschaften, selbst bei ihrer jetzigen Struktur, dazu bewegt werden, das Recht zu ändern. 1. Die Delegation von Befugnissen ist gängige Regierungspraxis in allen Bereichen des VerwaltungshandeIns. Ihre Verfassungsmäßigkeit, die durch Richtschnuren über die Ermessensausübung eine gewisse Sicherung erfährt, ist in beinahe jedem Bereich rechtsstaatlicher Verwaltung anerkannt, und sie beginnt bereits, wie in den Kapiteln VI und VII dargelegt, wichtige Ergebnisse für die gegenwärtige Entwicklung der Experimentellen Rechtswissenschaft hervorzubringen. Wo die Rechtsetzung in dieser Weise auf einen Beamten delegiert wird, kann er mit dem seiner Zuständigkeit zugehörigen Gegenstand in ungefähr derselben Art verfahren wie ein Physiker in seinem Laboratorium. Kapitel VI enthält zahlreiche Beispiele dafür, wie vorausschauende Beamte die wissen33 über eine ausführlichere Diskussion der möglichen Auswirkungen der Experimentellen Rechtswissenschaft auf Wertprobleme siehe Kap. III.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

schaftliche Kenntnis des Verkehrs rechts und seiner juridischen Gesetze mit Hilfe von Experimenten entwickelt haben, die sie durch Verordnungs- und Gesetzesänderungen kontrollierten, um damit ihre Leitung des Verkehrsflusses zu vervollkommnen und ihr Wissen in bezug auf einen praktikablen Gebrauch gesetzlicher Techniken zu erhöhen. 2. Die Variationsbreite der Rechtsnormen in den verschiedenen Rechtsgebieten allein der Vereinigten Staaten ist ein Phänomen, das alle Juristen und viele Sozialwissenschaftler kennen. Wie schon dargelegt, gibt es in diesem Lande über 150000 Regierungsstellen mit Rechtsetzungsbefugnissen, und zwar in der gesamten Hierarchie von der Bundesregierung mit ihren verschiedenen territorialen Unterteilungen bis hin zu den Staaten, Kreisen, Schulbezirken, Zweckverbänden und vielen anderen Behörden. Hunderte dieser Stellen dienen gleichen Aufgaben. Selten haben sie, wenn überhaupt, identische Rechtsnormen oder Durchführungsmethoden. Eine neuere Untersuchung der Gesetze und Gesundheitsverordnungen über die Pockenschutzimpfung34 zeigt, daß es auf diesem Gebiete mindestens acht Grundkategorien der Durchführungen gibt, die sich auf die 48 Staaten verteilen und die von der zwangsweisen Impfung für jedermann bis zum Verbot der Zwangsimpfung in drei Staaten variieren. Die acht Kategorien können wiederum nach der konkreten Regelung oder dem Verfahren der Durchführung in zahlreiche Variationen zerlegt werden. Auf Grund einer sorgfältigen Untersuchung der Statistiken über Pockenfälle in den verschiedenen Gebieten mit ähnlichen Regelungen ist es möglich gewesen, allgemein die Wirksamkeit der acht Hauptkategorien aufzuzeigen, und darüber hinaus ist mit Hilfe eines Vergleichs der Variationen innerhalb der Kategorien herausgestellt worden, daß es heute möglich ist, die Vorzüge und Schwächen so gut wie aller bekannten Arten gesetzlicher Regelung der Pockenimpfung auszumachen. Wo die heimischen Gesetze nicht die bestimmte und erwünschte Kontrolle ergeben, kann die Untersuchung auf fremde Staaten ausgedehnt werden. Hier ist ein Gebiet, wo die vorhandenen Variationen der Gesetzes- und Ausführungsarten den juristischen Wissenschaftler mit fast jeder Art von experimenteller Kontrolle versorgen, die ein Physiker in seinem Laboratorium anwenden kann - vorausgesetzt, daß er gewillt ist, in seinem verfügbaren Regierungslaboratorium ein wenig herumzureisen. Wie in späteren Kapiteln dargelegt, stehen ähnliche Kontrollen zu Gebote in Hunderten von anderen Gebieten gesetzgeberischer Tätigkeit. 3. Auch die eigentlichen gesetzgeberischen Körperschaften befinden sich nicht außerhalb der Reichweite des experimentellen Wissenschaft34 RavensCToft and Solomon: An Experiment in Scientific Jurisprudence, in: Nebraska Law Review, Bd. 32 (1953), S. 547.

2. Die Grundzüge der Experimentellen Rechtswissenschaft

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lers. Hat eine gesetzgebende Körperschaft oder eine andere normsetzende Instanz erst einmal mit einem Ziel zu handeln begonnen, das - gleichgültig mit welcher Begründung - auf einer Präferenzentscheidung beruht, dann wird die Erfahrung zeigen, daß es nicht allzu schwer ist, diese Gremien zur Annahme von Gesetzesänderungen zu bewegen, die für die Erreichung der ursprünglichen Zielvorstellung geeigneter sind. Viele der Gebiete, die für die ersten Untersuchungen des experimentellen Juristen am ergiebigsten sind, liegen in Bereichen, in denen es wenige oder gar keine heftigen politischen Voreingenommenheiten gibt, wie z. B. die Verkehrsregulierung, die Reform des Verfahrensrechts, die Verbrechensbekämpfung, die Kommunalverwaltung und die Regionalplanung. Sollten sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen eine Änderung des Zieles oder der politischen Zwecksetzung nahelegen, so dürften sie für jeden Gesetzgeber - mit Ausnahme des gefühlsbedingt uneinsichtigen - das überzeugendste Argument darstellen. Selbst da, wo es um tief verwurzelte Emotionen geht, die auf Individualinteressen wie Privateigentum, Religion oder Moralvorstellungen einwirken, kann eine sorgfältig ausgeführte Untersuchung, die die vorgeschlagenen Änderungen nahelegt, in der Lage sein, alle Emotionen zu überwinden, die überhaupt der Kritik zugänglich sind. Mit Ausnahme der Fälle, in denen solche unvernünftigen Positionen von bedeutenderen politischen Kräften verteidigt werden, kann der wissenschaftliche Jurist mit einem Fortschritt in jener Richtung rechnen, die seine Untersuchungen nahegelegt haben. Wird dieses Ziel erreicht, dann steht ein neu es Regierungsinstrument zur Verfügung, das einen stetigen Fortschritt in Recht und Verwaltung ermöglicht. Die Rechtsmaschinerie wird in den Stand gesetzt, ein Verfahren geordneter sozialer Veränderungen anzuwenden, die mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt halten. Es ist nicht einzusehen, warum gewaltsame Revolutionen weiterhin das hauptsächliche Mittel zur Erreichung einer permanenten sozialen Reform sein müssen. Wo blinde, voreingenommene Emotionalität, Selbstsucht und Ignoranz auf Seiten der entscheidenden politischen Kräfte einer geordneten Veränderung im Wege stehen, können die Untersuchungen neutraler Juristen immer noch beträchtlich dazu beitragen, das Gleichgewicht der Kräfte zu verlagern. Ein vorübergehend unterbrochener Fortschritt kann weiterverfolgt werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, welches Mittel den Wechsel der politischen Macht bewirkte. "Indessen sollten ,Gesellschaftsplaner' aufpassen! Wasser muß gepumpt werden, damit es bergauf fließt; natürliche Regungen im zwischenmenschlichen Bereich kann man nicht bekämpfen oder regulieren, indem man sie beschwört Der Architekt muß das Gravitationsgesetz und die Beschränkungen des Materials hinnehmen und verstehen. Genauso muß, wer Städte oder Staaten plant, seine Bemühungen den Naturgesetzen anpassen35." "

Beutel

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

Es ist interessant festzustellen, daß in der Vergangenheit - ganz gleich, wie Revolutionen zustandekamen, ob politisch oder mit Waffengewalt die Führer der nachfolgenden Neuordnung der Verhältnisse oft die vorhandenen Staatsformen übernommen haben 36 • Die Verpflanzung der Lehren Montesquieus in die Verfassung der Vereinigten Staaten, die Annahme des Code civil durch Napoleon, die Verwendung des "Kapital" und anderer Werke von Marx und Engels durch das russische Politbüro und die Durchführung von "Mein Kampf" durch die Nazis - all das folgte auf Revolutionen. Die Historiker können viele weitere Beispiele für diese Tendenz erbringen. Wäre es nach alledem für die neuen Befehlshaber nicht sicherer, im Falle unausweichlicher politischer Umstürze aufgeklärte Rechts- und Staatstheorien bereit zu haben, die mit Hilfe rationaler, experimenteller Verfahren sorgfältig erarbeitet wurden, als sich auf irre Träume eingesperrter Fanatiker verlassen zu müssen? Ohne Rücksicht darauf, wie eine Regierung aussieht oder was ihr fehlt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß die vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe, wenn sie auf sorgfältig untersuchten juridischen Gesetzen beruhen, eine Chance haben, legiferiert zu werden. Auf diese Weise kann die Wissenschaft der Jurisprudenz gänzlich experimentell werden. 3. Ein experimentelles System der Ethik

Ein vollständiges System der Experimentellen Rechtswissenschaft wäre nicht notwendigerweise darauf beschränkt, die Wirksamkeit verschiedener Rechtsinstitute im Hinblick auf die Erreichung ihres Zweckes zu untersuchen. Es könnte auch den Wert der Zwecke selbst beträchtlich erhellen. Philosophen, Theologen und Moralphilosophen haben viel Aufmerksamkeit auf das verwandt, was sie Grundwerte oder letzte Ziele nennen, derentwegen das Recht und andere Sozialnormen existieren. Diese Werte sind postuliert worden als Hedonismus (größtes Glück für die größte Zahl), als Materialismus (größte Ansammlung materieller Güter), als Idealismus (die Entwicklung der Dinge durch den Geist) und als so vieles andere, das hier nicht aufgezählt werden kann. Oder anders ausgedrückt: Wer Verallgemeinerungen liebt, wird sagen, der Zweck des Rechts sei Rassenherrschaft, nationale Machterweiterung, seelischer oder geistiger Fortschritt, Schutz der Freiheit, Entwicklung des Staates, Herrschaft des Proletariats, Erhaltung des Adels usw. Die Rechtsphilosophen nehmen gerne an, daß sich der Gesetzgeber in seinen grundlegenden Entscheidungen bewußt diesen ethischen Quellen zuwen35 36

Stewart (Anm. 19), S. 485. Lasswell: Power and Personality, 1948, S. 164.

3. Ein experimentelles System der Ethik

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det oder sich wenigstens auf seine Intuition verläßt, die auf seiner frühen ethischen Erziehung beruht. In der Vergangenheit mag in dieser Theorie ein Körnchen Wahrheit gesteckt haben. Wer jedoch realistisch ist, sieht auch ohne ein System der Experimentellen Rechtswissenschaft, das dem Gesetzgeber die umstrittenen Tatsachen unterbreiten würde, daß Behauptungen solcher letzten Werte oft nur Rechtfertigungen für Entscheidungen darstellen, die bereits aus viel konkreteren Gründen getroffen worden sind 37 • So wurden Hitlers Lehren über die Rassenreinheit und die Überlegenheit des nordischen Menschen als Begründung für die Vernichtung deutscher Juden vorgebracht. Aber wer die Dinge realistisch sieht, erkennt, daß dies nur ein Vorwand dafür war, eine Judenverfolgung in unmenschlicheren Formen fortzuführen, die schon lange vor sich ging, ehe Hitler seine Lehre von der Rassenüberlegenheit verkündete, und die tatsächlich noch immer vor sich geht, obwohl diese Lehre völlig in Verruf geraten ist 38 • Ein anderes Beispiel dafür, wie die Ideale den Entscheidungen nachfolgen, an statt ihnen voranzugehen, bietet die amerikanische Revolution, deren Beweggründe in Wirklichkeit - wie wir heute wissen - im Unwillen über ungerechte Steuern, Handelsschranken und koloniale Ausbeutung lagen, lange ehe Jefferson die Unabhängigkeitserklärung schrieb oder Patrick Henry sein unsterbliches "Give me liberty or give me death" aussprach. In der Tat haben die großen Patrioten aus Virginia von Freiheit und Gleichheit des Menschen im allgemeinen so wenig gehalten, daß eine Sklaven befreiung ernstlich nicht versucht wurde. In gleicher Weise sollte man beachten, daß viele unserer modernen politischen Probleme keineswegs tiefer in derartigen höchsten Idealen oder ethischen Normen verwurzelt sind. Eine wirklichkeitsnahe Untersuchung würde Interessenkonflikte auf sehr viel einfacheren und leichter nachprüfbaren Ebenen aufzeigen. Die Reichen wollen Steuern umgehen und mittels hoher, unverdienter Einkommen Sicherheit erlangen und zugleich die Möglichkeit, ihre Vorteile ihren Kindern zu vererben. Die Armen erstreben Sicherheit in Form von Renten, unverdienten Einkommen und Konfiskation des Reichtums, um ihren eigenen Kindern Chancengleichheit zu gewähren. Der tatsächliche Druck dieser und vieler anderer Interessen kann mit den Dimensionen von Zahl, Umfang und Macht gemessen werden, und der Gesetzgeber kann sie auf dieser Grundlage regeln. Mit Hilfe des experimentellen Juristen und in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern könnte man die relevanten Tatsachen aufdecken und Gesetzes- und Verwaltungsänderungen vorschlagen; auf diese Weise wäre es möglich, sehr weit in Richtung auf eine endgültige Lösung der betreffenden Konflikte zu gehen, ohne sich jemals mit den Endfragen 37

38



Robinson: The Mind in the Making, 1921. Montagu: Man's Most Dangerous Myth:

The Fallacy of Race, 1942, S. 178.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

ethischer Werte auseinandersetzen zu müssen. Natürlich kann der Gesetzgeber gelegentlich gezwungen sein, auf allgemeine Prinzipien zurückzugehen, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit wird er in näherliegenden Begriffen denken. Man sollte des weiteren nicht übersehen, daß es als Entscheidungsgrundlage eine zweite Ebene mit weniger vagen Idealen gibt, die ständig vertreten werden, wie z. B. das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, das Privateigentum an öffentlichen Versorgungsbetrieben (oder die umgekehrte Forderung), der Schutz der Familien und die Wahrung der Sittlichkeit in der Gemeinde; der Wert dieser Idealvorstellungen ist wissenschaftlich wägbar und prüfbar. So mag etwa die absolute Notwendigkeit des Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung als übertrieben erscheinen, wenn man sieht, daß es heute in den Vereinigten Staaten über 150000 selbständige Behörden der Gemeindeverwaltung gibt39 , die mit hohen Kosten und geringem Wirkungsgrad arbeiten. Man könnte nachweisen, daß viele von ihnen historische Anachronismen sind und daß ihre Aufgaben im Hinblick auf die veränderten Verkehrs- und Kommunikationsbedingungen mit weit geringeren Kosten und durch einen Bruchteil von ihnen erfüllt werden könnten. Einige dieser Tatsachen sind bereits durch unparteiische Forschungen erarbeitet worden 40 , und was noch nicht bewiesen ist, liegt mit Gewißheit im Forschungsbereich der modernen Sozialwissenschaft und der Experimentellen Rechtswissenschaft. Auf der anderen Seite kann eine vergleichende Studie erweisen, daß eine örtliche Regionalverwaltung nach dem Muster der Tennessee Valley Authority 41 sehr viel leistungsfähiger ist als eine gleichartige Verwaltung auf Bundesebene. Es kann sich auch umgekehrt verhalten, aber diese Fälle liegen heute ebenfalls in unserem Erkenntnisvermögen, wenn wir uns die Mühe machen, ihnen nachzugehen. Ein Experiment oder auch schon eine sorgfältige Prüfung der zu lösenden Probleme durch neutrale Fachleute würde rasch enthüllen, ob man eine wirtschaftliche Verwaltung eines Flußtales leichter durch eine einzige Behörde erreicht, die das ganze Stromgebiet beherrscht, oder durch eine Anzahl zusammenarbeitender Staaten oder Gemeinden, die für sich allein nicht das ganze Gebiet ausmachen. Ein solcher Vergleich ist jetzt möglich zwischen dem "Pick-Sloan-Plan" für das Missouri-Tal42 und der Tennessee Valley Authority. Werden die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Verfüa.a.O. (Anm. 21). a.a.O. (Anm. 21); County Government and Administration in Tennessee Valley States, Tennessee Valley Authority Document No. 120 (1940), und die dort zitierten Autoren. 41 Die Tennessee Valley Authority ist eine Regierungsbehörde, die im Jahre 1933 zur wirtschaftlichen Erschließung des Tennessee-Tals geschaffen wurde. 42 Dieses Projekt wird auch Missouri Basin Plan genannt, ist aber wegen der beiden Männer, die es in Angriff nahmen, bekannter als Pick-Sloan plan. 39

40

Anderson, Anderson,

3. Ein experimentelles System der Ethik

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gung gestellt, dann verschwindet auch die blinde Vorliebe für die Kommunalverwaltung als solche aus den Köpfen, soweit sie nicht besonders uneinsichtig sind. Statt dessen wird es nützliche Informationen zum Nachweis darüber geben, wo die Gemeindeverwaltung am günstigsten arbeitet und wo ein größerer Rahmen vorzuziehen ist. Des weiteren steht genügend Material zur Verfügung, um alle Faktoren gründlich zu untersuchen, die für den Streit um das öffentliche bzw. private Eigentum an Elektrizitätsgesellschaften Bedeutung haben, so daß diese heftig diskutierte Frage nicht mehr derart heiß umstritten zu werden braucht, wie das gegenwärtig der Fall ist. Würden Fachleute, unter ihnen Ökonomen, Juristen, Ingenieure und Sozialforscher die verschiedenen Faktoren studieren, die mit dem Betrieb öffentlicher und privater Versorgungseinrichtungen zusammenhängen - wie z. B. Kosten der Versorgung, Güte der Versorgung, Höhe der gesamten Baukosten, Verbrauchergebühren, Gewinnanteile der Aktionäre, Kosten der staatlichen Aufsicht, Vorhandensein oder Fehlen politischer Korruption, Arbeitslöhne und Direktorengehälter, Arbeitsmoral und erwiesene Ansätze zur Verbesserung und andere Faktoren, die von Wirtschaftsexperten übereinstimmend als einschlägig bezeichnet werden -, dann müßte der Vergleich der Ergebnisse überzeugend erweisen, welches das bessere System sei, ohne daß man dazu im verworrenen Bereich letzter Werte zu spekulieren hätte. Falls die Untersuchung bei Berücksichtigung aller Umstände keine überwiegende Leistungsfähigkeit ergibt, dann wären die intermediären Ideale des öffentlichen oder privaten Eigentums und die höchsten Werte des Menschenglücks unwichtig, und man mag getrost fortfahren, öffentliche Versorgungseinrichtungen nach bei den Systemen anzubieten. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß dies der Fall wäre. In bei den Fällen könnten aber Gesetzgeber und Juristen auf höchste Werte verzichten. Der Bericht der Federal Trade Commission 43 über öffentliche Versorgungsbetriebe 44 bewegte sich ein ganzes Stück in dieser Richtung, war aber leider nicht als ein Leistungstest angelegt, der die verschiedenen, mit derartigen Problemen verbundenen Faktoren behandelte; statt dessen war der Bericht eine journalistische Beschreibung der Geschehnisse. Doch selbst in dieser Form erwiesen sich die Ergebnisse des Berichts als sehr brauchbar für politische Entscheidungen, die von vorurteilsfreien Beamten auf diesem Gebiet gefällt wurden. Es muß hier allerdings bemerkt werden, daß experimentelle Untersuchungen von Tatsachen, die vergleichsweise einfachen Problemen der 43 Die F.T.C. (Bundeshandelskommission) wurde 1914 errichtet; sie ist für die überwachung und Ausführung der Gesetze über den unlauteren Wettbewerb und die Anti-Trust-Gesetze zuständig. 44 Annual Reports der Federal Trade Commission, 1929 - 1934.

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2. Kap.: Das Wesen der Experimentellen Rechtswissenschaft

eben diskutierten Art zugrunde liegen, nur theoretisch möglich sind. Das (in Kap. VII diskutierte) völlige Versagen der Second Commission on the Organization of the Executive Branch of the Government, sich mit den Grundtatsachen des Widerstreits zwischen Staatsbetrieb und Privateigentum auseinanderzusetzen, beweist, daß derartige Probleme noch auf lange Zeit hinaus auf der Grundlage von Vorurteilen gelöst werden, die man mit einem zugrundeliegenden sog. Wertsystem rechtfertigt. Bedeutet aber dieses gegenwärtige Versagen, die verfügbaren Mittel zur Untersuchung relevanter Tatsachen anzuwenden, daß ihre Verwendung auch dann für immer ausgeschlossen bleibt, wenn die Mittel der Sozialforschung und Tatsachengewinnung in einem späteren Zeitpunkt entwickelt werden? Für diejenigen Situationen endlich, in denen das Recht näher Dinge der persönlichen Moral berührt, zeigt der kürzlich erschienene Kinsey Report über das sexuelle Verhalten des amerikanischen Mannes 45 und der zweite Report über das entsprechende Verhalten der Frau, daß unter der Leitung wissenschaftlicher Juristen eine gewisse Dosis "Experimentalethik" ohne weiteres angewendet werden kann. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß - würden die gegenwärtigen Gesetze über das Geschlechtsleben nach ihrem Wortlaut durchgesetzt - ungefähr 5 0/0 der amerikanischen Männer über die übrigen 95 % zu Gericht sitzen würden, die sich sexueller Vergehen schuldig gemacht haben 46 • Würde sich ein Team aus Psychologen, Ärzten, experimentellen Juristen, Anthropologen und anderen Forschern mit den in Frage kommenden Rechtsproblemen beschäftigen, dann könnte es sehr wahrscheinlich experimentelle Sozialgruppen bilden und einen Weg aus unserem gegenwärtigen Dilemma aufzeigen, das u. a. auf der Tatsache beruht, daß medizinische Entdeckungen viele der sozialen Tabus, die zum Gesetz erhoben worden sind, unnötig machten. Die genannten Experimentalgruppen, für die man viele Freiwillige fände, würden nach neuen, von den Experten vorgeschlagenen Gesetzen leben. Die solchermaßen entwickelten Ergebnisse könnten sehr viel dazu beitragen, den langsamen Zusammenbruch unserer gegenwärtigen Moral genauso zu verhindern, wie das ungeheure menschliche Elend in Gestalt seelischer Traumata, zerrütteter Familien und Gemütsstörungen, die von den vorangegangenen Belastungen herrühren und die dem Zusammenbruch folgen, der mit Wahrscheinlichkeit kommt, wenn wir an unseren gegenwärtigen Sitten und Gesetzen, die auf Glauben und Aberglauben einer vorwissenschaftlichen Zeit beruhen, 45 Kinsey, Pomeroy and Martin: Sexual Behavior in the Human Male, 1948 (deutsch: Das sexuelle Verhalten des Mannes, 1955). 46 Maclver: Sex and Social Attitudes, in: About the Kinsey Report, hrsg. von Geddes and Curie, 1948, S. 85; vgl. Chisholm: The Reestablishment of Peacetime Society: The Responsibility of Psychiatry, in: Psychiatry, Bd. 9 (1946),

S. 1,3,7 ff.

3. Ein experimentelles System der Ethik

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weiterhin festhalten 47 • Es besteht Grund zur Annahme, daß die wissenschaftliche Jurisprudenz hier (wie in vielen anderen Fällen) bei der Entwicklung einer neuen und verfeinerten Zivilisation das Instrument einer experimentellen Ethik werden könnte. Niemand könnte behaupten, daß die Lösung aller moralischen, sozialen und internationalen Probleme auf Grund der Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft gegenwärtig möglich ist; aber kann nicht gesagt werden, es sei voraussehbar, daß die vollständige Erweiterung der hier vorgeschlagenen Verfahren gangbare Wege zur Lösung von Meinungskämpfen eröffnen könnte, die in der Vergangenheit mit roher Gewalt beigelegt wurden? Wenn man, wie es bei allen experimentellen Wissenschaften geschah, mit einfachen Problemen anfängt und mit schwierigeren fortfährt, dann könnten größere - nationale und internationale 47 - soziale Normierungen sehr viel schneller in den Brennpunkt rücken, als es heute möglich zu sein scheint. Die Rolle sogenannter menschlicher Werte in diesem Verfahren soll nun in Kap. III ausführlich erörtert werden.

47 Vgl. Chisholm: The Psychiatry of Enduring Peace, in: Psychiatry, Bd. 9 (1946), S. 7 ff.

Kapitel III

Werte und Interessen in der Rechtsordnung Bei der folgenden Erörterung sollte stets daran gedacht werden, daß verschiedene Gebiete der Sozialwissenschaften, z. B. Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Staatswissenschaft und gewisse Zweige der Psychologie mit Literatur über Werte und Werttheorien überflutet sind. Diese Betrachtungen können von Nutzen sein, wenn man versucht, über die grundlegenden Antriebe nachzudenken, die Individuen oder Gruppen zu einer Wahl veranlassen. Gegenstand der Jurisprudenz ist das Recht, d. h. eine allgemeine Ordnung der Gesellschaft, und deshalb könnte man vielleicht eine solche Wissenschaft in erster Linie auf dem Umstand aufbauen, daß der einzelne und die Gruppe faktisch eine Wahl treffen und Präferenzen haben. Die sogenannten "Werte", die den einzelnen oder die Gruppe zu Entscheidungen bewegen, könnten lediglich zweitrangige Bedeutung besitzen. Dennoch dürfte es aufschlußreich sein, den Begriff "Wert" und seine Ableitung "Werte" und "Bewertung" zu untersuchen, um herauszufinden, ob sie im Vokabular der Experimentellen Rechtswissenschaft verwendet werden können.

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert"

Der Bewertungsprozeß ist in seiner allgemeinen Bedeutung im Grunde ein Verfahren, die Wahl zwischen zwei oder mehr Gegenständen zu treffen. Wenn jemand sagt: "A ist wertvoller als B", dann bringt er normalerweise damit zum Ausdruck, daß er, wenn er eine Wahl zu treffen hätte, eher Aals B wählen würde. Der Wert ist also ein Kürzel, das die Ergebnisse unzähliger Impulse ausdrückt, die den Betreffenden veranlaßt haben, einen Gegenstand, eine Idee, ein Gesetz oder ein Ideal einem anderen vorzuziehen. Beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler mit den Problemen, warum einzelne etwas wählen, dann wird er - soll er genau sein - eine Terminologie zu entwickeln suchen zur Beschreibung dessen, was geschieht, wenn sich dieser Wahl- oder Bewertungsprozeß ereignet. Objektiv betrachtet ist die Feststellung, daß ein Gegenstand A wertvoll sei, lediglich ein Kürzel für die Zusammenfassung der Tatsache, daß A Bündel von Gefühlen oder Wünschen hervorruft, die

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert"

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mächtiger sind als diejenigen, die B stimuliert. Der Begriff "Wert" wird jedoch auch in einer Reihe anderer Bedeutungen gebraucht. Um sie zu bezeichnen, werden Adjektive gebraucht wie "innerer Wert", "subjektiver Wert", "objektiver Wert", "moralischer Wert", "funktionaler Wert" und "Bewertung zum Zwecke der Messung". Eine kritische Prüfung dieser Begriffe wird schließlich dazu führen, den Begriff "Wert" im rechten Licht zu sehen, nämlich als ein Arbeitsmittel der Experimentellen Rechtswissenschaft.

Innerer Wert scheint ein Begriff zu sein, der einem Gegenstand, einer Idee, einem Gesetz oder irgendeinem anderen Ding ganz oder teilweise eine Qualität zuschreibt, die den Wert des Gegenstandes ausmacht. Dieser Begriff erscheint in seiner reinsten Form häufig in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur, wo davon gesprochen wird, daß Gegenstände einen Handelswert haben oder besser: daß sie auf der Börse einen Preis verlangen. Eine nähere Betrachtung dieses Begriffes zeigt, daß er in Wirklichkeit auf eine Messung des Interesses hinausläuft, das die Käufer auf der einen Seite haben, einen Gegenstand zu kaufen, und die Verkäufer auf der anderen Seite, ihn zu behalten; oder er bezeichnet den Grad, bis zu dem beide Gruppen Geld oder andere Gegenstände dafür austauschen würden. Der "innere Wert" setzt demnach notwendig die Existenz von Menschen voraus, die ihn verlangen und für ihn zu zahlen gewillt sind. So gesehen ist der Ausdruck "Wert" in Wirklichkeit ein Maßstab für die Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem Menschen. Jedoch entspringt der Wert dem menschlichen Begehren und nicht dem Gegenstand als solchem. Es handelt sich nur um einen Ausdruck für das Gesamtresultat der Nachfrage oder des Interesses des Menschen in bezug auf einen Gegenstand, der in einem bestimmten Augenblick nach dem vorhandenen Angebot verteilt wird. Um dies auszudrücken, genügt das Wort "Preis" vollauf. Daß einem Gegenstand als solchem kein Wert inhärent ist, daß der Wert des Gegenstandes vielmehr durch die Einstellung der Menschen ihm gegenüber bestimmt wird, ist sehr leicht einzusehen, wenn man sich die Angelegenheit mit dem Eisenerz in Minnesota ansieht. Jahrelang haben es die Indianer, die dieses Gebiet durchschweiften, einfach als rote Erde angesehen, die keinen "Wert" hatte, aber als die Weißen mit ihrer eisen- und stahl verbrauchenden Zivilisation heranzogen, bekam die rote Erde einen ungeheuren "Wert" und wurde zur Grundlage großer Vermögen. Es war also offensichtlich die Einstellung des Menschen dem Erz gegenüber, die dem Eisenerz einen "Wert" verlieh, der, wenn es ihn überhaupt gibt, ganz und gar in den menschlichen Beziehungen zu finden ist. Bisweilen wird mit "innerer Wert" eine Eigenschaft des Gegenstandes bezeichnet, die man feststellen kann. So wird oft gesagt, ein Kunstwerk

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

sei schön oder habe einen Wert in sich, der nur von denjenigen erkannt werden könne, die derartige innere Werte schätzten. Unter diesen Bedingungen können einige Leute den Wert (die Schönheit) sehen, andere können es nicht. Wer ihn sehen kann, dem wird nachgesagt, er habe den inneren Wert erkannt. Aber auch hier liegt der "Wert" in der Geisteshaltung des Menschen und nicht im Gegenstand als solchem. Es gibt noch eine dritte Art von innerem Wert, die manchmal von Philosophen postuliert wird. Nach dieser Theorie wird vorgebracht, daß jeder Gegenstand in Anbetracht aller möglichen Wünsche einen bestimmten nützlichsten Verwendungszweck habe, der seinen Wert darstelle. Demnach könnte Eisenerz am wertvollsten sein, um Wolframstahl herzustellen. Dieser Standpunkt ist theoretisch vorstellbar, aber praktisch nicht zu erreichen, weil eine derartige Wertbestimmung die Katalogisierung und Prüfung aller möglichen Verwendungsarten eines Gegenstandes erforderte. Ein derartiger Katalog dürfte schon in einer statischen Gesellschaft unmöglich sein; er ist aber völlig unvorstellbar in einer dynamischen Gesellschaft, in der sich die Verwendungs möglichkeiten eines Gegenstandes schon geändert hätten, bevor der Katalog erstellt werden könnte. Beispielsweise könnte man behaupten, es gäbe eine Verwendungsmöglichkeit für die Geschwindigkeitsbeschränkung von 60 km/h, die am wertvollsten sei, aber in der Postkutschenzeit oder auf holprigen Landstraßen wäre sie völlig wertlos gewesen, während sie für Autobahnen viel zu niedrig ist. Deshalb sind es die Umstände, auf die das Gesetz angewendet wird, welche ihm seinen "Wert" verleihen, und diese Umstände können sich unendlich oft ändern; es ist daher unmöglich, den bestmöglichen Gebrauch oder Wert zu bestimmen. Alles, was in bezug auf innere Werte gesagt werden kann, ist, daß man unter manchen Umständen die bewerteten Gegenstände nützlich findet. Hier ist der Wert wiederum nur ein Kürzel für ein menschliches Begehren, das sich unter irgendwelchen Bedingungen auf den betreffenden Gegenstand beziehen mag; die Bedingungen sind aber unbegrenzten Veränderung unterworfen. Der eine nützlichste Wert kann niemals dem Gegenstand innewohnen. Folglich muß jeder Versuch, den inneren Wert eines Gegenstandes zu entdecken, immer zur inneren Einstellung des Menschen oder anderer Willenssubjekte führen, die mit ihm in Berührung kommen. Als subjektiver Wert wird derjenige Wert angesehen, den ein einzelner von sich aus einem Gegenstand verleiht. Wenn er imstande ist, A statt B zu wählen, oder wenn er insgeheim A gegenüber B vorziehen würde, dann wird häufig gesagt, A sei subjektiv wertvoller als B. Dies ist wiederum ein Kürzel, um auszudrücken, daß der einzelne im Augenblick mehr daran interessiert ist, A zu haben als B, und zwar aus Gründen, die nur er kennt, und unter Berücksichtigung aller seiner Gefühle,

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert"

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Urteile und anderer psychologischer Beweggründe. Wenn diese Theorie irgend einen Nutzen bringen kann, dann liegt er in der Erforschung des Interesses und der Gefühlsantriebe, die die Wahl verursachen; hier ist eine Analyse erforderlich. Ob die vielfältigen Antriebe eines Individuums (wie z. B. Gewohnheiten, Gefühle, Ernährungsbedürfnisse, Neigungen, Impulse und ähnliches) im Falle einer Wahl zwischen zwei Dingen über Nervenstränge oder andere Impulswege in ein Bewertungszentrum fließen, wo sie gewogen und schließlich durch den Bewertungsmechanismus zu einer Entscheidung zusammengefaßt werden, oder ob die dominierenden Impulse hinsichtlich des einen Gegenstandes einfach die weniger starken Impulse zum anderen Gegenstand automatisch überwinden, ist zuallererst ein Problem für den Psychologen. Was den Juristen anlangt, so braucht er lediglich die Tatsache der Wahl zu kennen oder, anders ausgedrückt, die Tatsache, daß die Menschen de facto gewisse Dinge einfach wählen oder mehr schätzen als andere. Wie und warum die Wahl im Nervensystem zustande kommt, ist ohne besondere Bedeutung. Sind derartige Interessen einmal in ihre verschiedenen Bestandteile wie Ansprüche, Verlangen, Bedürfnisse usw. zerlegt, dann bleibt kein Prozeß mehr übrig, bei dem ein Wert oder eine Bewertung nötig wären. Es handelt sich einfach um eine bewußte oder unbewußte Wahl zwischen einander widerstreitenden Antrieben in dem einzelnen selbst; ihre Erforschung bleibt am besten der Psychologie überlassen. Wenn das Recht in regelmäßiger Praxis das Gebiet der Gedankenkontrolle betritt, was in einigen totalitären Staaten schon der Fall ist, dann werden die Ergebnisse der Psychologen darüber, wie der Verstand bei der Begründung der subjektiven Wahl funktioniert, dem Juristen von hohem Nutzen sein. Für die Zwecke der heutigen Rechtswissenschaft ist es lediglich erforderlich, daß man die objektiven Ergebnisse der subjektiven Wahl kennt. Das heißt, die Menschen wünschen aus ihnen bekannten Gründen bestimmte Dinge mehr als andere. Werden diese Wünsche bekannt, so hat die Rechtswissenschaft die Aufgabe, juridische Gesetze aufzustellen, die sich aus einer Anerkennung dieser Wünsche durch Gesetze ergeben, die die Erfüllung der objektiv zum Ausdruck gebrachten Wahlentscheidungen bezwecken. Für den Juristen ist es einstweilen nicht notwendig, sich am gegenwärtigen Streit der Psychologen über die Frage des Behaviorismus zu beteiligen. Da das Recht sich mit der Regulierung der Tätigkeit einer großen Zahl von Menschen beschäftigt, sind deren objektive Verhaltensweisen oder ihre Aussagen über innere Begehren eine zuverlässige Grundlage, um Rechtswissenschaft zu beginnen. Im derzeitigen Stadium des Rechts und der Sozialwissenschaft hat der subjektive Wert keinerlei Aufgabe. Bis

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

das Recht mit ständiger Gedankenkontrolle anfängt, kann auf ihn verzichtet werden, indem man den Ausdruck "Interesse" und seine noch zu erörternden Bestandteile verwendet.

Objektiver Wert. Manchmal wird behauptet, Gegenstände könnten einen objektiven Wert haben, d. h. eine Art Inbegriff aller subjektiven Vorzüge, die ihnen von Individuen beigelegt werden können. Dieser objektive Wert könnte sich theoretisch auf eine allgemeine Übereinstimmung unter den Menschen gründen, d. h. auf die Einstimmigkeit der subjektiven Wahlakte unter gleichen Bedingungen, d. i. ein statistischer Durchschnitt solcher Wahlakte oder ein Wahlschema, das von den dominierenden, die Gesellschaft beherrschenden Klassen oder von einzelnen vertreten wird. Soweit diese Entscheidungen nur eine Anhäufung der genannten subjektiven Werte sind, bereichern sie die Bedeutung des oben diskutierten subjektiven Wertes nur um das Merkmal der Vielzahl; sind sie dagegen selbständige Auffassungen, so ist es möglich, daß sie unterschiedliche Bedeutung haben, und es scheint ratsam, diese Möglichkeiten zu untersuchen. Beim ersten Hinsehen stellt die Idee eines objektiven Wertes als einheitlicher Wahl, die alle Menschen unter gleichen Umständen teilen würden, eine interessante Theorie dar, aber in Wirklichkeit ist ein derartiges objektives Wählen bislang nicht nachgewiesen worden. Man könnte meinen, daß ein Mensch in jeder möglichen Situation das Leben anstelle des Todes wählen würde, aber es lassen sich hunderte von Beispielen anbieten, daß es in jeder Situation einige Menschen gab, die den Tod dem Leben vorzogen. Falls irgendeine derartige Einstimmigkeit in der Bevorzugung irgendeines Gegenstandes bestünde, dann gehörte sie wahrscheinlich in den Bereich der Anthropologie; das gegenwärtig verfügbare Beweismaterial hat indessen nicht dargetan, daß irgendein derartiger objektiver Wert besteht!. Natürlich sind statistische Aussagen darüber möglich, wie Individuen wählen oder unter bestimmten Bedingungen wählen würden, aber dies wären lediglich mechanische Feststellungen einer großen Zahl individueller Bevorzugungen und Wahlakte. Die Meinungsbefragung ist ein stichhaltiges Beispiel für die Brauchbarkeit derartiger statistischer Feststellungen, aber man kann sie kaum als Feststellung einer wie immer gearteten objektiven Bewertung ansehen. Beispielsweise scheint bislang niemand behauptet zu haben, daß Eisenhower ein wertvollerer Präsidentschafts kandidat war als Stevenson, weil ihn mehr Leute vorgezogen haben. Wir wissen lediglich, daß die Mehrheit ihn für dieses Amt wählte. Wollte man dies bewertend ausdrücken, so würde der statistischen Auszählung der Bevorzugungen nichts hinzugefügt. Eine derartige Auszählung ist ein zwar nütz1

Siehe z. B. Benedict: Patterns of Culture, 1934.

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert"

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liches Hilfsmittel der Sozialwissenschaft, aber man sollte sie als solche beschreiben, anstatt einen so vagen Sammelbegriff wie "objektiver Wert" zu benutzen. Objektive Werte oder gesellschaftliche Werte, so wird manchmal gesagt, bestünden getrennt von individuellen Werten oder, verständlicher ausgedrückt, eine Gesellschaft als ganze könnte A statt B wählen, während die einzelnen B bevorzugten. Gäbe es neben der Ansammlung der Individualentscheidungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder eine derartige gesamtgesellschaftliche Entscheidung, so fehlt jeder Beweis zu ihrer Begründung. Mögen wir auch von Sozialinteressen im Gegensatz zu Individualinteressen sprechen, so bedeuten doch die gesellschaftlichen Werte als eine Art Einstimmigkeitsentscheidung wahrscheinlich nicht mehr als die oben dargelegten statistischen Verknüpfungen oder sie nehmen die Stelle von Situationen ein, in denen bestimmte Individuen für das gesamte Sozialgefüge Entscheidungen und Wahlen treffen. Eine sorgfältige Prüfung erweist, daß diese von einzelnen oder Gruppen getroffenen Wahlen demselben Muster folgen, nach dem die Individuen auch ihre eigenen Wahlen treffen. Der Bewertungs- oder Entscheidungsprozeß ist genau derselbe und enthält für den Fall, daß er nicht nur statistisch sein sollte, die Ausnahme, daß die Präsenz anderer, die bei der Gruppenentscheidung mitwirken, ein weiteres psychologisches Gewicht haben kann; dann ist die Wahl aber mehr im Namen der Gruppe oder der Gesellschaft getroffen worden als von den einzelnen für sich selbst. Gäbe es neben den Interessen der einzelnen in der Gesellschaft ein völlig selbständiges Sozialinteresse oder einen gesellschaftlichen Wert, so ist dies jedenfalls noch von niemandem bewiesen worden 2 ; und sollte man etwas derartiges postulieren, so ist schwerlich zu begreifen, daß es auf etwas anderes hinausliefe als auf Mystizismus. Der objektive gesellschaftliche Wert ist demnach ein Sammelbegriff, der entweder völlig verschwindet oder auf irgendeine mathematische Formel gegründet ist, die die Gesamtheit der Einzelentscheidungen beschreibt, wobei der einzelne durch Überlegungen über die Wirkung seiner Wahl auf andere sowie auf sich selbst beeinflußt wird. Es dürfte sehr schwierig sein zu beweisen, daß solche Überlegungen nicht auch bei allen subjektiven Individualentscheidungen gegenwärtig seien.

Moralischer Wert ist ein weiterer Begriff, der beharrlich in der Literatur auftaucht. Er scheint zu bedeuten, daß jemand unter dem Einfluß moralischer, ethischer, intellektueller oder sozialer Antriebe ein Wertgefüge oder Selektionsschema besitze, das in den Fällen, in denen er ohne den Einfluß derartiger Antriebe wählte, anders aussähe. Dieser Begriff besagt nicht viel mehr, als daß es bei manchen Individuen Antriebe 2 Siehe Duguit: The Law and the State (übersetzt von de Sloovere), in: Harvard Law Review, Bd. 31 (1917), S. 1, 8.

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

und Impulse zu Entscheidungen gibt, die durch ihre Geisteshaltung gegenüber bestimmten moralischen Anschauungen beeinflußt sind. Es ist dies einfach der Versuch, jemandes Wahl mit Hilfe seiner Antriebe zu beschreiben. In demselben Sinne könnte man von einem Wert des Hungers, des Ärgers, der Liebe und all jener anderen Antriebe sprechen, die dominieren können, wenn ein Mensch gerade eine Wahl trifft. Es wäre daher besser, statt den Ausdruck "moralischer Wert" zu verwenden, von Entscheidungen zu sprechen, die durch Moral beeinflußt sind. Die Antriebe der Religion, des Hungers, der Liebe usw. gehören in dieselbe Kategorie. Sie sind bloße Faktoren im Entscheidungsprozeß, und deshalb brauchen sie nicht mit größerer Notwendigkeit berücksichtigt zu werden als irgendein anderer psychischer Beweggrund für eine Wahl.

Funktionaler Wert ist ein weiterer Bedeutungszusammenhang, in dem der Begriff "Wert" erscheint. Hier bedeutet er anscheinend, daß der bewertete Gegenstand zur Erreichung eines bestimmten Zwecks taugt. So ist beispielsweise eine 2-Zo11-Kupplung funktional wertvoll, um die beiden Enden von 2-Zo11-Rohren zu verbinden, während eine 3-Zo11Kupplung für diesen Zweck keinen Wert hat. "Wert" bedeutet in diesem Sinne einfach die Vorhersage, daß der Gegenstand zur Lösung bestimmter Probleme technisch nützlich sei. In der Tat ist der Ausdruck "nützlich" viel exakter, um diese besondere Art von "Wert" zu beschreiben. Spricht jemand in diesem Sinne von einem guten (oder wertvollen) Gesetz, dann meint er dessen Nützlichkeit, unter gewissen Bedingungen ein bestimmtes Problem zu lösen. So kann etwa eine Rechtseinrichtung zur Besserung Jugendlicher für die Verhinderung der Jugendkriminalität in einer bestimmten Stadt nützlicher sein als ein Jugendgericht. Man könnte nun behaupten, daß es im ganzen Universum zur Regulierung jeder Situation nur ein bestes Gesetz gäbe und daß, selbst vom pragmatischen Standpunkt aus, der Gesetzgeber sich eines Tages auf seine Werte besinnen muß, um zu entscheiden, welches von zwei Gesetzen in einer derartigen Situation das beste sei, so daß er schließlich doch auf Werte angewiesen wäre. Dies ist jedoch nur eine logische Schwierigkeit, nicht aber eine solche der Wirklichkeit. Praktisch wird der Gesetzgeber stets nur darüber zu befinden haben, welche von zwei oder mehreren möglichen Aktionsweisen oder vorgeschlagenen Gesetzen der Lösung des anstehenden Problems am besten dient. Benutzt er die Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft, so wird er dasjenige Gesetz wählen, das eine Lösung verspricht, die die am wenigsten beunruhigenden Folgen in Form weiterer voraussehbarer Interessenverlagerungen im Staate zeitigt oder die mit einem Minimum von weiteren Interessenkonflikten zwischen den Bürgern verbunden ist. Unter Ausnützung der Information und der juridischen Gesetze, die ihm verfügbar sind, kann er die Vorhersage in derselben Weise erreichen, in der ein Ingenieur voraussagt, wieviel Kraft

1. Die Nützlichkeit des Begriffes "Wert"

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nötig ist, um einen bestimmten Berg zu versetzen. Nachdem der Gesetzgeber auf Grund der verfügbaren Daten eine derartige Vorhersage aufgestellt hat, muß er die Rechtsnorm oder die Aktionsweise wählen, die sich seiner Meinung nach am meisten zur Erreichung des Zweckes eignet, den Frieden zu wahren oder die Interessen zu befriedigen. Hat er seine Wahl getroffen und bestätigen die Beobachtungsergebnisse seine Vermutung, dann besitzt er ein nützliches (funktional wertvolles) Gesetz; wenn aber die nachfolgenden Ereignisse seine Voraussage nicht erhärten oder wenn sich, was wahrscheinlich ist, die Faktoren ändern, dann kann er die Daten, die seiner vorherigen Einschätzung der Nützlichkeit zugrundelagen, revidieren und den Arbeitsprozeß nach wissenschaftlichem Muster zur ständigen Verbesserung fortsetzen. Prüft er die Daten, so wird er in einem derartigen Verfahren eine große Zahl von juridischen Gesetzen entwickeln, die ihm gegenwärtige Gesellschaftsprobleme lösen helfen und ihn bei der Entscheidung zwischen den regulierenden Gesetzen unterstützen. Bei einem solchen Vorgehen brauchen letzte Werte nie erreicht zu werden, und sie können dabei auch nicht erreicht werden. Schiebt der Gesetzgeber die wissenschaftliche Methode beiseite und kehrt er zu intuitiven Entscheidungen zurück, indem er seine Wahl auf innere, bewußte oder unbewußte momentane psychologische Antriebe gründet, dann führt die Untersuchung dieses Prozesses genauso auf die Psychologie zurück wie im Falle anderer subjektiver Entscheidungen (Werte). Ob eine solche Entscheidung gut ist, muß am Ende anhand ihrer Nützlichkeit für den Gesetzgeber oder für die Öffentlichkeit geprüft werden. Ist der Gesetzgeber ein Naturrechtsanhänger oder ein Idealist, der von einem vorgefaßten Ideal oder Muster ausgeht, so muß der funktionale Wert seiner Gesetzeswahl noch dazu dahin geprüft werden, welchen Erfolg das Gesetz in bezug auf die Anpassung der Gesellschaft an das Ideal hat. "Funktionale Bewertung" würde dann besser wiedergegeben einfach als die Wahl nützlicher Hilfsmittel zur Befriedigung menschlicher Interessen, die allen Gesetzesproblemen zugrunde liegen. Das Problem, Interessen als solche zu analysieren, wird unten noch diskutiert werden. "Funktionaler Wert" bedeutet lediglich Tauglichkeit zur Erreichung bestimmter Ziele.

Die Bewertung oder Wertbestimmung stellt eine weitere Ausdrucksform dar, in der der Begriff "Wert" oft erscheint. So spricht man z. B. von Bewertung zur Gebührenfestsetzung oder zu Steuerzwecken. Bei diesem Verfahren wird die Betriebseinrichtung einer Gesellschaft oder ein Gegenstand, der einem Steuerzahler gehört, mit anderen Einrichtungen oder Gegenständen verglichen, um zu bestimmen, ob die Gebühren oder Steuern höher oder niedriger sind. Hier handelt es sich lediglich um ein Meßverfahren. Sein Zweck ist die Messung und nichts weiter. Die damit verbundenen Probleme sind allen Wissenschaften gemein.

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

Es scheint also, daß der Begriff "Wert" in der Experimentellen Rechtswissenschaft keinem Zweck dient. Sein fortgesetzter Gebrauch in unserer Sprache gibt ihm eine große Ähnlichkeit mit dem Begriff "Phlogiston", den einst alle Physiker verwendeten, um einen Bestandteil zu beschreiben, der ihrer Meinung nach zur Erklärung des Phänomens "Feuer" nötig war; aber - wie gezeigt wurde - genauso wie Physiker heute ohne Phlogiston auskommen, so kann eine deskriptive und experimentelle Sozialwissenschaft ohne den Begriff des "Wertes" auskommen3 • Notwendig ist allein, die reale Beschaffenheit der Interessen und Forderungen der einzelnen in der Gemeinschaft aufzudecken, um so den dringenden Grund für die Erfüllung der erhobenen Forderungen klarzustellen und die gesetzlichen Maßnahmen zu wählen, die dazu taugen, unter minimaler sozialer Reibung die durch die einzelnen Entscheidungen offenbarten Wünsche erfüllen zu können.

2. Die Natur der Interessen

Bei jedem System, das die Auswahl gesetzlicher Techniken zum Schutze oder zur Erfüllung der Interessen einzelner oder der Gesellschaft mit sich bringt, ist offensichtlich, daß die sogenannten Interessen ausgemacht und geprüft werden müssen. Dieser Ausdruck ist von Philosophen und Juristen in unterschiedlicher Weise verwendet worden, um zahlreiche Begriffe zu kennzeichnen, von theoretischen Rechten bis hin zur Analyse der durch verschiedene Rechtsnormen erreichten Ergebnisse 4 . Für einen experimentellen Juristen bedeutet dieser Ausdruck nicht viel, solange er nicht tatsächlich identifiziert wird mit den wirklichen Bedürfnissen der einzelnen oder der Gesellschaft, wie sie bei der Schaffung von Rechtsnormen eine Rolle spielen oder spielen sollten. Eine Prüfung unter diesem Blickwinkel läßt erkennen, daß die Interessen und Wünsche eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen in drei Klassen zerfallen, die ihre objektiven Interessen oder deren Feststellbarkeit umfassen. Diese drei Kategorien oder Grade der Intensität, mit der sie auf das Recht einwirken, können als "Forderungen", "Wünsche" und "Bedürfnisse" bezeichnet werden. Forderungen kann man als Wünsche einstufen, die so geäußert werden, daß man sie objektiv darlegen kann. Forderungen sind der Gegenstand, um den es bei den meisten Rechtsvorgängen geht. Im Falle eines Prozesses erscheinen sie als zu Recht bestehende oder einfach behauptete 3 Vgl. Lundberg: Foundations of Sociology, 1939, S. 10 ff.; Wild: Plato's Modern Enemies and the Theory of Natural Law, 1953, S. 204 ff. 4 Siehe die Anmerkungen und die zusammengestellte Bibliographie hierüber in Pound: Outline of Lectures on Jurisprudence, 4. Aufl. 1928, S. 60 ff.

2. Die Natur der Interessen

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Ansprüche. Wo es um Gesetzgebung geht, werden die Forderungen gewöhnlich durch Lobbies, durch Anhörungsverfahren und bei Wahlen vorgebracht. Gemeinhin wird angenommen, daß dort, wo sich unbeachtete Forderungen häufen, Ruhestörungen oder andere Erschütterungen der Rechtsordnung die Folge sind. Die meisten Rechtsprobleme liegen darin, Entscheidungen zu fällen, die diese Forderungen ausgleichen, indem man - auf die Erhaltung des Friedens bedacht - einigen nachkommt und anderen entgegentritt. Interessen und Wünsche haben aber auch tiefere und feinere Bedeutungen, die der Jurist beachten muß. Wünsche kann man bezeichnen als menschliche Interessen an Gegenständen, die der einzelne oder eine Gruppe ausdrücklich oder stillschweigend für sich begehrt, verlangt, oder - wenn dazu ermutigt - beanspruchen würde. Es ist natürlich durchaus möglich, daß ein Individuum oder eine Gruppe etwas wünschen kann, ohne es zu fordern. Auch ist es möglich, Forderungen zu stellen, die nicht auf Wünschen beruhen, sondern nur aus taktischen, politischen oder anderen Gründen aufgestellt werden. Nicht geäußerte Wünsche erscheinen dem Rechtswissenschaftler nur insofern bedeutsam, als sie die Grundlage für spätere Forderungen sein können oder weil ihre Unterdrückung sowohl rationale als auch irrationale Kräfte aufspeichern kann, die einen sozialen Umbruch verursachen oder mit der Rechtspflege kollidieren können. Der experimentelle Rechtswissenschaftler muß sie in Betracht ziehen, wenn er sie erfassen, beobachten und messen kann. Bedürfnisse stellen eine dritte Gruppe von Interessen oder Wünschen dar, die eine wichtige Rolle spielen. Sie können als diejenigen Bedingungen und Umstände des augenblicklichen Gesellschaftszustandes angesprochen werden, deren Vorhandensein und Wirksamkeit den einzelnen oder die Gesellschaft dazu bringen, mit der geringsten Reibung und in größerer Harmonie mit der natürlichen Ordnung zu leben. Bedürfnisse verändern sich deutlich mit den wechselnden Bedingungen der Gesellschaft. Der primitive Mensch braucht keine Automobile, Flugzeuge, Telefonapparate, Werkzeugmaschinen oder Universitäten, während die moderne amerikanische Gesellschaft ohne sie nicht existieren könnte. Die Schaffung von Gesetzen, die gegenwärtige Bedürfnisse befriedigen, bringt ihrerseits neue Bedürfnisse hervor. Z. B. erzeugen Gesetze über die soziale Sicherheit das Bedürfnis nach Fürsorgern, die allgemeine Wehrpflicht das Bedürfnis nach Offizieren und die Vereinten Nationen eine ganze Legion Bedürfnisse. Es liegt auch auf der Hand, daß Bedürfnisse Wünschen und Forderungen entsprechen oder auch nicht entsprechen können; wäre der Mensch ausschließlich rational, dann könnten alle drei Gruppen einander gleichgesetzt werden, aber beim gegenwärtigen Stand der Dinge erlebt man regelmäßig Forderungen nach dem, was man nicht braucht oder was einem erfahrungsgemäß so schadet, wie einem Kind, 5 Beutel

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

das zu viele Süßigkeiten verlangt. Bedürfnisse können desgleichen mit Wünschen übereinstimmen oder auch nicht. Forderungen oder Wünsche, die nicht erfüllt oder beachtet werden, können soziale Umstürze verursachen. Unbefriedigte Bedürfnisse können die Ursache für das Versagen einer ganzen Kultur sein. Beispielsweise scheinen die alten Mayas nach einer bestimmten Theorie Mais angebaut zu haben, indem sie den Dschungel abbrannten und mit Hilfe eines spitzen Stockes pflanzten. Als aber kräftiges Gras und Unkraut die Lichtungen überwucherte und den Mais erstickte, half das Verbrennen nichts. Die Mayas waren nicht in der Lage, so etwas wie einen Pflug zum Einpflügen des Grases zu erfinden. Deshalb griff es auf die Maisfelder über, und die große und entwickelte Gesellschaft hatte dann weder Dschungel noch Nahrungs. Das Versagen, Gesetze zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft zu erlassen, kann die gleiche Wirkung haben. Allzu oft übersehen die führenden Leute des Rechtsapparats Bedürfnisse der Menschen. Unbefriedigte Bedürfnisse können Revolutionen oder andere Umwälzungen hervorrufen, aber die überkommene Rechtsordnung bleibt danach möglicherweise bestehen und befriedigt die Bedürfnisse nicht, weil die Anführer der Revolution oder einer anderen politischen Veränderung nach der Vernichtung der Symbole des Rechts, das sie unterdrückte, einfach weder das Wissen noch die Fähigkeit besitzen, um die geeigneten Rechtsangleichungen vorzunehmen zur Ausrichtung der Rechtsordnung auf diejenigen Bedürfnisse, die den Konflikt verursacht hatten. In solchen Fällen kann die Rechtsordnung eine Serie weiterer revolutionärer Umwälzungen erleiden, wie es in Mittel- und Südamerika geschehen ist; oder die Dinge verlaufen so wie bei vielen alten Kulturen, daß nämlich eine Zivilisation nach Wiederherstellung der Ordnung wieder verfällt und stirbt, weil die Gesetzgeber die Bedürfnisse der von ihnen regierten Gesellschaft nicht zu befriedigen vermochten. Da in der modernen Welt die großen technischen Fortschritte Revolutionen immer schwieriger gemacht haben und die Kompliziertheit der Regierungsmaschinerie planmäßige Veränderungen erschwert, muß die Rechtsordnung neue Wege eröffnen, um die wahren Bedürfnisse des Menschen herauszufinden; andernfalls beginnt der innere Verfall. Die Kunst des Regierens vermittelt zwischen Forderungen und entdeckt auch einige Wünsche. Die Wissenschaft aber sollte die Bedürfnisse aufdecken, indem sie die Effektivität der Gesetze im Hinblick auf die Erreichung ihrer Zwecke feststellt. Sie kann auch vorhersagen, daß die Befriedigung bestimmter gegenwärtiger Bedürfnisse das Entstehen zukünftiger Bedürfnisse verursachen wird. Für die Zwecke einer Experimentellen 5 Morley: The Ancient Maya, 1946, S. 71. Die Mayastämme machen es heute noch so. Higbee: Agriculture in the Maya Homeland, in: Geographical Review, Bd. 38 (1948), S. 457; Gann: Maya Cities, 1928, S. 156.

2. Die Natur der Interessen

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Rechtswissenschaft oder einer objektiven Sozialwissenschaft wäre es wahrscheinlich besser, den Ausdruck "Interessen" aufzugeben und an seiner Stelle seine drei Bestandteile: Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse zu verwenden. Die Experimentelle Rechtswissenschaft bietet die Methoden an, Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse aufzudecken und zu wägen, sie stellt ein Mittel bereit, um festzustellen, welche davon befriedigt werden sollten, und sie kann eine Methode zur Auswahl der Techniken entwickeln, die zur Herbeiführung der nötigen Änderungen am besten geeignet sind. Eine sorgfältige Überprüfung dieses Verfahrens wird viele juridische Gesetze hervorbringen, die Fehlentscheidungen zukünftiger Gesetzgeber verhindern und auch auf den Fehler hinweisen werden, beharrlichen Forderungen nach unnötigen Gegenständen nachzukommen.

Die Ebenen der Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse gehören mindestens zwei Stufen an. Es gibt Begehren nach unmittelbaren Gegenständen wie Nahrung, Kleidung, Unterhaltung, Büchern, Bildung u. ä. Sie können Primärbegehren genannt werden. Daneben gibt es auch sekundäre oder mittelbare Begehren, d. h. einzelne oder Gruppen können eine Rechtsnorm, einen Beamten oder eine Kommission fordern oder wünschen, um etwas anderes zu erlangen. Dies wird oft mit der formelhaften Wendung ausgedrückt: "Es müßte ein Gesetz geben." So forderte die Women's Christi an Temperance Union6 ein Prohibitionsgesetz, um den Verbrauch alkoholischer Getränke zu verringern oder zu beseitigen, und andere Bürger forderten die Aufhebung der Prohibition, um billigeren Alkohol zu bekommen und um die Gangster loszuwerden. Wie sich herausstellte, haben sich alle heftig getäuscht. Die Sekundärmittel, die sie forderten, zeitigten nicht die erwünschten Primärergebnisse. Zuweilen mag ein Sekundärbegehren als primär erscheinen. Beispielsweise fordert eine Stadt, wie es oft geschieht, einen Gemeindedirektor oder ein Staat ein Einkammerparlament als selbständiges Ziel statt als Mittel zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. Viele der sogenannten Sozialinteressen gehören in diese Kategorie. Demnach scheint es klar zu sein, daß Begehren aller drei Arten entweder primär oder sekundär sind. Die Experimentelle Rechtswissenschaft bietet eine wissenschaftliche Methode, die die Nützlichkeit insbesondere der Sekundärbegehren voraussagt und außerdem klarlegt, daß das, was im Augenblick als Primärbegehren erscheint, in Wirklichkeit sekundär ist. Sie dürfte auch in der Lage sein, die möglichen Wirkungen der Erfüllungen primärer oder sekundärer Forderungen und Wünsche aufzuzeigen. G Die W.C.T.U. ist eine christliche Frauenvereinigung, die die allgemeine Abstinenz vom Alkohol erreichen will.

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung 3. Die Beweggründe für Forderungen Wünsche und Bedürfnisse

Man muß sich stets vor Augen halten, daß ein Sozialwissenschaftler oder ein experimenteller Jurist bei der Beschäftigung mit Wünschen, Forderungen und Bedürfnissen mit realen menschlichen Gefühlen, Begehren und Ansprüchen arbeitet, die in ähnlicher Weise aufgedeckt, gemessen und klassifiziert werden können, wie man eine Größe, ein Gewicht, eine Rasse, Kulturformen und dergleichen bestimmt. Von einem rein objektiven Standpunkt aus wäre die Existenz der Forderung oder des Bedürfnisses eine hinreichende Arbeitsgrundlage für eine rein objektive Rechtswissenschaft. Aber der Mensch ist ein rationales Wesen; er begründet seine Begehren. Äußert er die Gründe zusammen mit seinen Forderungen, so werden sie zum Motiv der Gesetzesverabschiedung oder der Gerichtsurteile. Sehr häufig sind die vorgebrachten Gründe reine Heuchelei, aber eine Untersuchung der zum Ausdruck gebrachten Zwecke, für die die Rechtsregeln geschaffen wurden, und ihres Erfolges bei der Erreichung dieser Zwecke (Schritt drei in der Experimentellen Rechtswissenschaft) wird die angeblichen Forderungen großenteils entlarven und die wirklichen oder eingebildeten Bedürfnisse aufdecken. Es gibt viele besondere Beweggründe, die sich verbinden können, um eine Forderung nach Rechtsnormen und rechtlichen Mitteln entstehen zu lassen. Man kann sie im großen und ganzen in drei Gruppen zusammenfassen: 1. die rein egoistischen Begehren des Menschen als eines Individuums nach Nahrung, Kleidung, Reichtum, Macht, Selbstbestätigung und dergleichen; 2. die im engeren Sinne altruistischen Begehren des Menschen als eines Mitgliedes einer Sippe, einer Familie oder einer sonstigen kleinen Gruppe; und 3. die in einem weiteren Sinne altruistischen Begehren, mit denen der Mensch Gegenstände als ein Mitglied einer größeren Gesamtheit beansprucht, wobei das Zusammengehörigkeitsgefühl eine bedeutende Rolle spielt. Äußerungen einer solchen größeren Gruppensolidarität kann man im Rassenhaß, im Patriotismus, in politischen Parteien, in der Treue zu Kirche, College, Loge und ähnlichem finden. Die Tatsache, daß diese Beweggründe bestehen, ist bedeutsam, und ihre Auswirkungen auf Recht, Rechtsetzung und Rechtsanwendung können allesamt in den Forschungsbereich der Experimentellen Rechtswissenschaft gehören. Hier braucht der Jurist die Unterstützung der Psychologen, Psychiater, Kriminologen, Soziologen, Ökonomen, Anthropologen und sonstigen SozialwissenschaftIer. Die erreichbare Information von diesen Wissensgebieten scheint darauf hinzuweisen, daß dem Menschen wenige oder gar keine dieser Forderungen und Bedürfnisse als Instinkte in derselben Art angeboren sind, in der ein Vogel mit der

3. Die Beweggründe für Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse

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Fähigkeit zur Welt kommt, ein kompliziertes Nest zu bauen. Augenscheinlich werden die grundlegenden Bedürfnisse, die aus diesen Beweggründen hervorgehen, durch die Umwelt geschaffen und sind daher der Einwirkung durch das Recht zugänglich. Das Recht beachtet und unterstützt viele Institutionen, die wichtige Mittel zur Hervorbringung der Beweggründe jener Begehren sind, die der Mensch durch seine Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse ausdrückt. Diese Institutionen können grob in fünf Gruppen unterteilt werden: in die Familie und in religiöse, ethische, patriotische und kommerzielle Gruppen. Die Institution der Familie wird, obwohl sie biologischen Erfordernissen am nächsten steht, durch viele Rechtsnormen stark sanktioniert, geschützt und unterstützt. Zu den geschützten und geförderten religiösen Institutionen, die bei der Hervorbringung menschlicher Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen, gehören die Kirchen und die ihnen untergeordneten verwandten Organisationen wie Konfessionsschulen, Logen wie die Freimaurer, Columbus-Ritter7 , Pfadfinder und andere Einrichtungen mit engen Bindungen an Kirche und Gefühlsleben. Auf der ethischen oder intellektuellen Ebene gibt es Institutionen wie Schulen, Universitäten, Berufsvereinigungen und ähnliches. Auch patriotische Vereinigungen wie der Verband der ehemaligen Kriegsteilnehmer, die Söhne der Veteranen, die ehemaligen College-Studenten und gemeinnützige Zweckverbände erfahren viel gesetzliche Sanktionierung und Unterstützung. Kommerzielle Institutionen wie Kapitalgesellschaften, Handelskammern, Wirtschaftsverbände und dergleichen spielen gleichfalls eine bedeutende Rolle. Alle diese Einrichtungen sind rechtlich sanktioniert und üben ihrerseits Druck aus, um die Rechtsordnung durch unmittelbare Forderungen und durch Erzeugung indirekter Motivierungen zu ändern, was ihnen offensichtlich gelingt. Es ist hinlänglich bekannt, daß die Gesellschaften und andere Rechtseinrichtungen, deren Zweck in der Unterstützung von Institutionen der eben erwähnten Art besteht, in die Millionen gehen. Diese rechtlichen Einheiten haben sich - mit weiterer Unterstützung durch das Recht - zu Handels-, Geschäfts-, Berufs-, Erziehungs- und Religionsgesellschaften zusammengeschlossen, die eifrig damit beschäftigt sind, ihre Forderungen nach Rechtsänderungen vorzubringen, um ihre tatsächlichen oder eingebildeten Begehren oder Bedürfnisse zu befriedigen oder neue zu erzeugen. Eine kürzlich verfaßte übersichtS erweist, daß es über 4 000 solcher rechtsgültig errichteten Organisationen und Institutionen gibt, von denen die meisten damit beschäftigt sind, 7 Die Knights of Columbus sind eine römisch-katholische Männervereinigung mit religiösen und wohltätigen Zwecken. 8 Judkins: National Associations of the United States, 1949.

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

Sekundärforderungen in Form von Rechtsänderungswünschen zu erheben. Obwohl diese Institutionen und organisierten Interessenverbände in ihren Reihen Repräsentanten haben, die die stärksten Bestrebungen der Menschheit hegen, Bestrebungen, die gewöhnlich mit den edelsten, höchsten, teuersten und ähnlich preisenden Adjektiven versehen werden, vertreten sie auch genauso starke Bestrebungen, die mit abfälligen Ausdrücken wie egoistisch und minderwertig gekennzeichnet werden können. Wird man vor das Problem gestellt, Gesetze auf Grund einer Wahl zwischen den Forderungen bestimmter Interessenverbände zu machen, so kann man sich nur darüber wundern, daß alle Gruppen von der ethischen Berechtigung ihrer Forderungen völlig überzeugt sind, mögen sie auch diametral entgegengesetzt sein. So ist die Barmixergewerkschaft bei ihrer Befürwortung des Verkaufs alkoholischer Getränke ihrer Moralvorstellung nicht weniger treu, als es die Women's Christi an Temperance Union bei ihrer Ablehnung ist. Wer könnte sagen, daß die Tabaksgesellschaften durch Millionenausgaben für die Reklame ihrer Produkte ihre Interessen weniger gutgläubig fördern als die Lobbyisten, die im Namen religiöser Vereinigungen Gesetze durchgebracht haben, welche den Verkauf von Zigaretten verbieten? Die meisten Einstellungen berufsmäßiger Moralisten und einiger Sozialwissenschaftler gegenüber diesen Organisationen und Institutionen sind Ausdruck prädeterminierter Überzeugungen, Ideale und Werte, die ihrem Denken durch Institutionen eingeimpft wurden, die unter der Förderung und dem Schutz des Rechts als Kirchen, Schulen, als religiöse und moralische Propaganda oder als Bildungs- und Interessenverbände unaufhörlich ihre eigenen Moralbegriffe propagieren. Das Denken der Gegner ist ebenso angefüllt von Erziehung und Propaganda, wie sie von den rechtlich geschützten Aktionsstellen der Gegenseite verbreitet wird. Jede nachfolgende Generation ist in Gefahr, sich in einer stetig enger werdenden Denkspirale vorwärtszubewegen, die sich um einen zentralen Kern oder "Sitten"-Kodex dreht. Die Befürworter jeder Position prüfen in ihrem eigenen Geiste die Stichhaltigkeit der widerstreitenden Positionen nur durch Bezugnahme auf eine Reihe von "Prinzipien", die zuvor aufgestellt worden waren, um gerade diese Positionen zu rechtfertigen. Auf diese Weise ist die Gesellschaft in gegnerische Parteien gespalten, die sich auf die moralische Unterstützung von rechtlich sanktionierten Institutionen verlassen, die ihrerseits vom Widerstreit ihrer eigenen Moralvorstellungen leben. Wer könnte sagen, welche recht hat? Dennoch ist es bezeichnend, daß jede dieser Vereinigungen demselben Zweck dient: menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Es dürfte daher ratsam sein, ihre Wirkung auf die Rechtsordnung zu erforschen in der Erkenntnis, daß sie eine wichtige Funktion erfüllen, indem sie tatsächliche menschliche Forderungen und Begehren zum Aus-

4. Recht und Gedankenkontrolle

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druck bringen, die den Weg zur Entdeckung grundlegender Bedürfnisse weisen können. Auf der anderen Seite gibt es mächtige Kräfte, die gegen eine Veränderung des Rechts arbeiten. Zu ihnen gehören Gewohnheiten, traditionelle Lebensweisen, einige der eben erwähnten Institutionen und einfach bloße Trägheit. Sie alle üben auf die Einzel- und Gruppenüberzeugungen, die sich als Sitten, als Vorstellungen über Recht und Unrecht und als Wünsche äußern, einen gewaltigen Druck aus, um ihre rechtlich anerkannten Interessen und sonstigen Forderungen und Bedürfnisse zu schützen. Es handelt sich hier um Kräfte, mit denen sich die traditionellen Rechtsordnungen haben aus ein an der setzen müssen. Da die Zahl der Menschen wächst und sich die rechtlich unterstützten Institutionen weiterhin vervielfältigen und Massenkommunikationsmittel verwenden, müssen selbst orthodoxe Rechtsordnungen alle diese Stabilitäts- und Veränderungsbestrebungen in Rechnung stellen, oder sie werden die Kontrolle über die Gesellschaft verlieren. Die Experimentelle Rechtswissenschaft muß daher eingesetzt werden, um die hier beteiligten Kräfte zu messen, um die von ihnen entwickelten juridischen Gesetze festzustellen und um vorzuschlagen, wie diese Kräfte reguliert, geformt und dirigiert werden können.

4. Recht und Gedankenkontrolle

Indessen dringen heute bereits viele Herrscher totalitärer Länder und mächtige Kräfte in den Demokratien mit Hilfe rechtlich anerkannter Mittel in Bereiche ein, die früher von jenen freiwilligen, aber gesetzlich unterstützten Institutionen beherrscht waren, die Bedürfnisse erzeugen und Entscheidungen dirigieren. Was die Entstehung und die Verwendung von Massenkommunikationsmitteln wie Presse, Radio und Fernsehen anbetrifft, so braucht man nicht ausgebildeter Soziologe zu sein, um zu bemerken, daß diese gesetzlich unterstützten, auf Gedankenkontrolle ausgerichteten Unternehmungen konkrete Ergebnisse zeitigen. Die sogenannten Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit in Armee, Marine und anderen amerikanischen Regierungsstellen sind Beispiele für den Erfolg dieser Bemühungen in demokratischen Ländern, und die in diese Richtung gehenden Fortschritte der Herrscher in totalitären Staaten sind jedem wohlbekannt. Wenn diejenigen, die diese gesetzlich sanktionierten Mächte beherrschen, durch Egoismus, Vorurteil oder vorgefaßte, willkürliche Ideale oder Absichten bestimmt werden, können fürchterliche Kräfte in Form leidenschaftlicher und verzerrter Forderungen entfesselt werden, denen besessene nationale und internationale Aktionen folgen.

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

Der daraus resultierende Schaden für den Staat und sogar für die ganze Welt kann katastrophal sein. Man braucht sich nur die Aktionen HitlerDeutschlands und des faschistischen Italiens anzuschauen, um die Resultate einer solchen gesetzlich sanktionierten Gedankenkontrolle in den Händen geschickter und fanatischer Gesetzgeber zu erkennen. Die Bedrohung durch das kommunistische Rußland und China, die diese gesetzlichen Hilfsmittel jetzt in noch größerem Stil anzuwenden beginnen, ist wahrhaft furchterregend. Derartige Tätigkeiten anzuprangern oder sogar mit Waffengewalt anzugreifen, scheint keine Lösung zu sein. Da diese Kräfte ihre Fähigkeit bewiesen haben, die Menschen zu jedem Zweck lenken zu können, zu dem der Gesetzgeber sie verwenden will, ist es an der Zeit, daß die Juristen endlich den Prozeß der Gedankenkontrolle zum Gegenstand sorgfältiger Beobachtung und wissenschaftlicher Analyse machen. Das erfordert eine Untersuchung der Reaktion der Öffentlichkeit auf verschiedene Arten offizieller und inoffizieller Propaganda. Dazu müßten Hypothesen aufgestellt werden, die die Gründe für derartige Handlungen erklären, und es müßten juridische Gesetze festgestellt werden, die die Effektivität öffentlicher und privater Anstrengungen beschreiben, die Menschen dazu zu bewegen, bestimmte überzeugungen und Haltungen anzunehmen. Die Ergebnisse der Bemühungen von Psychologen, die Funktionsweise des individuellen Gehirns bei Erreichung einer subjektiven Entscheidung zu erforschen, werden brauchbares Material liefern, um Hypothesen über Massenreaktionen zu konstruieren. Die Sozialpsychologie dürfte ebenfalls nützlich sein, aber die Juristen brauchen nicht auf die Zusammenarbeit mit den Psychologen zu warten, um schlüssige Ergebnisse hervorzubringen. Auch hier werden wieder die statistisch gesammelten objektiven Reaktionen der Menschen ein brauchbares Instrument sein, um die Effektivität verschiedener Techniken der Gedankenkontrolle zu messen. Zusätzlich zu den Methoden der Psychologie versprechen Erhebungen über Verbrauchernachfrage, Abstimmungen unter Radiohörern und zahlreiche Untersuchungen der Wirksamkeit verschiedener Reklametechniken weitere Beobachtungsmöglichkeiten auf diesem Gebiet. Mit einem Blick in die ferne Zukunft kann man voraussagen, daß die Methoden gesetzlich geregelter Gedankenkontrolle eines Tages die Lenkung und Kontrolle dessen, was heute manche als menschliche Werte bezeichnen, übernehmen können, und daß diese Macht wissenschaftlichen Zwecken zugewandt werden kann. Wenn dies erreicht werden soll, dann sollte es nach den Grundsätzen der Experimentellen Rechtswissenschaft geschehen. Mit der Bewältigung dieses Problems wird es keinerlei Basis mehr für die Annahme geben, daß eine Sozialwissenschaft unmöglich sei, weil sie keine Kontrollfaktoren von der Art enthalte, wie man sie in den

5. Der wissenschaftliche Standpunkt bei Entscheidungen

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Naturwissenschaften finde. Die Mittel für eine rechtliche Regulierung des Soziallebens entwickeln und vergrößern sich gegenwärtig überall um uns herum. Die Menschheit wird bald gezwungen sein, sich zu entscheiden, ob diese Kräfte um der Habsucht, Gier und Laune einzelner willen gebraucht werden sollen oder ob man sie für den wissenschaftlichen Fortschritt des Menschengeschlechtes verwendet.

5. Die Unvoreingenommenheit oder der wissenschaftliche Standpunkt bei Entscheidungen Kein aufgeklärter Mensch wird heute leugnen, daß das, was er ist, was er glaubt, seine dringenden Forderungen, seine innersten Wünsche und Bedürfnisse von unzähligen sozialen und rechtlichen Kräften um ihn herum geformt und großenteils beherrscht werden. Ob sie seine ganze Persönlichkeit und seinen ganzen Charakter ausmachen oder ob etwas der angeborenen Struktur und der Vererbung verbleibt, das sind Probleme für den Psychologen, Psychiater, Ethnologen und für verwandte Wissenschaftler. Die Experimentelle Rechtswissenschaft kann jedoch, sogar ehe sie den Einfluß rechtlicher Institutionen auf die Erzeugung dieser psychischen Antriebe untersucht, mit den bestehenden Forderungen, Wünschen und Bedürfnissen und mit den Problemen der Harmonisierung und Wahl zwischen ihnen beginnen. Sie kann dabei vorgefaßte Beweggründe bei der Bewertung nicht vermeiden, und zwar besonders deshalb, weil sie bei den gegenwärtigen Gesetzgebern vorhanden sind. Aber der Jurist braucht sich von ihnen nicht beherrschen zu lassen. Bei der Beschäftigung mit der unbelebten Natur wird auch ein Physiker, als Mensch, in einem gewissen Maße durch seine Religion, seine Gewohnheiten und vorgefaßten Ansichten beeinflußt, aber es ist für ihn leichter als für einen Sozialwissenschaftler, eine unbefangene Haltung zu erreichen. Vorgefaßte idealistische Vorstellungen über das Gute, Schöne, Richtige, Gerechte usw. sind allen Menschen von Geburt an eingeimpft. Die Bereitschaft, für diese Überzeugungen, die in jedem Falle Rationalisierungen von Bedürfnissen sind, zu kämpfen und zu sterben, wird als einer der edelsten Züge der menschlichen Natur angesehen. In der Vergangenheit wurde die Sozialwissenschaft durch den Versuch fasziniert, die letzte Wahrheit, das höchste Gut, die letzten Werte und dergleichen zu entdecken. Eine sorgfältige Prüfung der Lebenstatsachen zeigt, daß dieses Bemühen, von wissenschaftlicher Warte aus gesehen, nurmehr die Jagd nach einem Phantom ist. Früher wurden diese Endzwecke dogmatisch behauptet ohne jeden Versuch eines Beweises oder einer Bemühung, ihre Nützlichkeit in der Gesellschaft zu bestimmen. Führer und Gefolge

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

waren gleichermaßen gewohnt, ihren Glauben an ihre eigenen besonderen letzten Wahrheiten zu betonen und dann hartnäckig an ihnen festzuhalten. Dies ist wahrscheinlich eine hervorragende Eigenschaft des einzelnen Rechtsgenossen, aber es bestehen ernste Zweifel, ob es ein nützliches Charakteristikum für einen Gesetzgeber darstellt, und es ist augenscheinlich, daß es nicht zum Rüstzeug eines Juristen gehört. Indem sich unser Wissen in der Anthropologie und in bezug auf die verschiedenen, in der ganzen Welt vertretenen Ideale erweitert, wird offensichtlich, daß diese angebliche Tugend für die beiden letzteren möglicherweise selbstzerstörend sein kann. Da die idealen Positionen, die von verschiedenen Nationen und Völkern der Welt behauptet wurden, erwiesenermaßen in direktem Konflikt stehen (wie z. B. die Ziele und Zwecke von Kommunismus und Kapitalismus, die Gebietsansprüche der Polen, Deutschen und Tschechen in Osteuropa), garantiert der Hang, für die eigene Position bis aufs Messer zu kämpfen, sofortigen Krieg und Chaos, sofern die Gesetzgeber diesen Hang übernehmen und aufrechterhalten. Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der modernen Wissenschaft zielt ein fortgesetztes Verhalten dieser Art auf die schließliche Vernichtung der Menschheit hin. Selbst der vollständige Sieg eines Ideals über das andere mit Gewaltanwendung garantiert nicht seine Gültigkeit. Eine vom Sieger beherrschte Gesellschaft kann des Überlebens nur gewiß sein, wenn sie die Bedürfnisse der nachfolgenden Situation zu befriedigen vermag. Kann sie diese Bedürfnisse nicht befriedigen, so zeigt die Geschichte, daß Tod und Vernichtung des einzelnen und der Gesellschaft folgen können. Das Versagen der Führer einer Gesellschaft, den Bedürfnissen eines Volkes im Rahmen seiner Lebensbedingungen zu entsprechen, war eine der Ursachen für den Untergang jeder Zivilisation in der Geschichte. Die Gesellschaft zu führen ist nur fähig, wer sie ihrer Umgebung anzupassen vermag und ihre starren Rechtsnormen verändert, um den Erfordernissen der Welt, in der sie lebt, zu genügen. Der Natur der Sache nach sind die besten Rechtsnormen die, denen es gelingt, die brauchbarsten Anpassungen zu bewerkstelligen. Ein Versagen hierin bedeutet, daß je nach dem Grade des Versagens entweder ein Zusammenbruch der rechtlichen Sanktionen erfolgt oder Paralyse oder Tod der Gesellschaft. In der modernen Gesellschaft, in der Organisation und Bewaffnung Revolutionen sehr erschweren, wird die Gefahr eines inneren Zusammenbruchs erheblich größer. Die Experimentelle Rechtswissenschaft wird eines Tages für den Juristen bereitstehen, um an das Problem der Feststellung heranzugehen, wie juristische Phänomene sich entwickeln, ihren Gang gehen und die von ihnen beherrschten Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen. Der Gesetzgeber sollte daher seine Probleme so unvoreingenommen wie möglich angehen, um die Forderungen und Wünsche der Gesellschaft

5. Der wissenschaftliche Standpunkt bei Entscheidungen

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berücksichtigen zu können. Als Gesetzgeber ist er dazu berufen, zwischen widerstreitenden Forderungen Entscheidungen zu treffen. Ob er nun an diese Entscheidungen unvoreingenommen herangeht oder ob er sich einfach auf seine eigenen Vorurteile und egoistischen Wünsche stützt - die Not des Augenblicks verlangt, daß er handele. Der Jurist sollte sich jede derart geschaffene Rechtsnorm vornehmen und mindestens drei Fragen beantworten. 1. In welchem Grade befriedigt sie die Forderungen, derentwegen sie entstanden ist? 2. Erreicht sie die ausdrücklichen Zwecke, für die sie der Gesetzgeber erlassen hat? 3. Wie wirkt sie auf die Bedürfnisse der Menschen ein, über die sie herrscht? Da der Jurist desgleichen die Tatsachen in unvoreingenommener Haltung zu prüfen hat und gewillt sein muß, auf der Grundlage beobachtbarer Daten die Nützlichkeit der Rechtsnormen in ihrer Anwendung von neuem zu erwägen, gibt es für ihn keine Absolutheiten, vielmehr muß die Nützlichkeit einer jeden Rechtsnorm nach den Tatsachen der menschlichen Reaktion beurteilt werden. Während es selbst in einem experimentellen Verfahren wichtig ist, daß Ideale und überzeugungen sowohl des Gesetzgebers als auch des einzelnen Bürgers beständig aufrechterhalten werden und daß man sich tapfer nach ihnen richtet, sollte sich der Jurist stets das Prinzip vor Augen halten, daß jedes Gesetzgebungsideal und jeder Gesetzgebungsplan einer wissenschaftlichen Hypothese ähnelt, der man getreulich folgen soll, bis eine brauchbarere auftaucht. Vorgefaßte Absolutheiten, die sich in der Praxis nicht bewähren, aber gleichwohl bis zum bitteren Ende behauptet werden, können im menschlichen Zusammenleben nur in unausweichlichem Konflikt und schließlicher Tragödie enden. Nachdem eine Rechtsnorm objektiv erprobt worden ist und versagt hat, ihren Zweck zu erreichen, sollte sie genauso ausrangiert werden wie eine unbrauchbare Hypothese. Beim Fällen dieser Entscheidung müssen Gesetzgeber und Jurist die aufgedeckten Wünsche, Forderungen und Bedürfnisse, auf die sie stoßen, aufnehmen und sie in Richtung auf eine allseitige zweckmäßige Harmonisierung verarbeiten. Vorgefaßte Idealvorstellungen über Nützlichkeit, Ziele, Zwecke und dergleichen haben notwendigerweise einige Wirkung auf den Gesetzgeber, aber der Jurist braucht sich nur die Ergebnisse anzusehen. Im gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es, daß jede Forderung und jeder Wunsch beim Abwägen oder Messen der Begehren zu jedem anderen Wunsch und jeder anderen Forderung im Verhältnis 1: 1 stehen sollte. Demnach wäre die Betrachtungseinheit das einzelne Begehren jedes Menschen und nicht der Mensch selbst. Natürlich müssen auch die Intensität der Wünsche und Forderungen und die Anzahl der sie äußernden Menschen berücksichtigt werden. Für die Gegenwart erscheint die zahlenmäßige oder statistische Grundlage brauchbar. Werden Bedürfnisse entdeckt, so versteht es sich von selbst, daß sie sowohl Forderungen als

3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

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auch Wünschen vorgezogen werden sollten, aber die beiden letzteren können auch nicht gänzlich außer acht gelassen werden, weil es wahrscheinlich ein menschliches Bedürfnis nach Befriedigung von Forderungen und Wünschen gibt, obwohl die verlangten Gegenstände nicht gebraucht werden und den Menschen, die die Forderungen erheben, nicht einmal nützlich sind. Es handelt sich hier nicht um den Maßstab des Utilitarismus, demzufolge das Glück jedes Menschen dasselbe zählt9. Hier bilden vielmehr die Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse die Einheiten, die man berücksichtigen sollte. Die zu erlassenden oder zu empfehlenden Rechtsnormen sollten diejenigen sein, die zur größten Endsumme der Befriedigung von Bedürfnissen, Forderungen und Wünschen führen, und zwar in dieser Reihenfolge. So hat ein vielschichtiger Mensch mit Sicherheit mehr Begehren als ein einfaches Individuum, und alle seine Interessen zusammengenommen wiegen daher in der wissenschaftlichen Waagschale mehr als jene eines weniger vielschichtigen (oder wenn man so will, weniger intelligenten) Individuums. Demgemäß braucht und verlangt ein Wissenschaftler sehr kostspielige und komplizierte Werkzeuge, um seine Arbeit zu verrichten, während das einfache (weniger intelligente) Individuum möglicherweise nur Nahrung und Kleidung braucht, die auch der Wissenschaftler nötig hat. Wenn alle Bedürfnisse und Forderungen bei der sozialen Anpassung durch Verordnungen und Gesetze berücksichtigt werden, erfährt der vielschichtige (intelligentere) Mensch weitergehende Berücksichtigung, und in dem Maße, in dem ein vielschichtiger Mensch das Produkt einer fortgeschrittenen Zivilisation ist (was der Fall zu sein scheint), kann und wird diese Zivilisation vom Recht gefördert werden. Durch Experimentieren mögen juridische Gesetze entwickelt werden, die diese Formel eines Tages überflüssig machen, aber sie scheint ein brauchbarer Ausgangspunkt dafür zu sein, Rechtsnormen zur Schlichtung aufeinanderprallender menschlicher Interessen zu schaffen. Spätere Erfahrung wird möglicherweise ihre Gültigkeit ermitteln, vielleicht ungefähr so, wie die Wissenschaft zunächst das Gesetz von der Erhaltung der Energie bestätigte und es später widerlegte. Man muß sich darüber klar sein, daß die Möglichkeit eines Sozialwissenschaftiers, das höchste Gut zu erkennen, geringer ist als die eines Physikers, den innersten Aufbau der Materie zu entdecken, aber das braucht nicht zur Verzweiflung zu führen. überträgt der Mensch die experimentelle Methode auch auf das Staatswesen, so erscheint es möglich, daß er durch schrittweise Bemühungen juridische Gesetze schaffen kann, die schließlich eine brauchbare Beschreibung der Wirkung verschiedener Erscheinungen der 9

HaH: Readings in Jurisprudence, 1938, Kap. 4, S. 177, und die dort zitierten

Autoren.

6. Schlußfolgerung

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Rechtsordnung auf die Gesellschaft bieten. Mit Hilfe zweckmäßig entwickelter juridischer Gesetze, die Voraussagen über die Wirkung eines bestimmten Gesetzes erlauben (dessen Funktionsweise weiterer experimenteller Prüfung und Verifikation unterworfen ist), werden Vorstellungen vom höchsten Gut und ähnlichem durch eine Reihe pragmatischer Arbeitshypothesen ersetzt werden, die den Menschen in die Lage versetzen, innerhalb der Begrenzungen durch das Universum, in dem er sich befindet, an seine maximal kontrollierte Entwicklung heranzugehen. Wenn diese unvoreingenommene experimentelle Methode ernsthaft in Rechtsetzung und Regierung angewendet würde, gäbe es keinen Grund, der uns zwänge, Aufstieg, Niedergang und Verfall der Zivilisationen mitzuerleben. Ein ständiger Fortschritt in Richtung auf eine Gesellschaft, die sich besser in die natürlichen Erfordernisse des Universums fügt, ist so möglich. Wenn Gesetzgeber und Juristen ihre vorgefaßten Ansichten über letzte Wahrheiten, Güter, Werte und dergleichen fallen lassen, dann können sie stetig daran arbeiten, ein Instrumentarium der Experimentellen Rechtswissenschaft zu schaffen. Dies wird natürlich einen umfangreichen Wandel in bezug auf unsere Haltung gegenüber dem erfordern, was manche heute als grundlegende Werte betrachten. Schließlich kann deswegen eine gründlichere Reorganisation unserer derzeitigen Regierungssysteme erforderlich sein, aber derartige Probleme liegen viel zu weit in der Zukunft, als daß sie eine Diskussion zum gegenwärtigen Zeitpunkt verlangten.

6. Schlußfolgerung Kurz gesagt, von der Experimentellen Rechtswissenschaft kann, wenn sie richtig angewendet wird, gegenwärtig lediglich erwartet werden, daß sie die Effektivität einer Rechtsnorm hinsichtlich der Erreichung der besonderen Ziele, derentwegen sie erlassen wurde, prüft und daß sie des weiteren die Ergebnisse feststellt, die aus verschiedenen Versuchen, derartige Ziele zu erreichen, folgen. Die auf diese Weise angesammelten Daten können deutlich die endgültige Brauchbarkeit der Ziele und die Effektivität der zu ihrer Erreichung verwendeten Mittel erhellen. Die ethische Frage, was in abstracto das höchste Gut sei, wird wahrscheinlich nie jemals im Forschungsbereich der Experimentellen Rechtswissenschaft auftauchen; sie ist heute viel zu weit entfernt, als daß sie in Betracht gezogen werden müßte. Im Lichte des gegenwärtigen Standes der Forschungsmethoden kann die Jurisprudenz als Wissenschaft der ethischen Werte, Normen und dergleichen keine andere Aufgabe haben, als die der philosophischen Spekulation. Eine derartige Spekulation mag außerordentlich interessant sein

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3. Kap.: Werte und Interessen in der Rechtsordnung

und überaus anregende Arbeitshypothesen zeitigen, aber sie kann nie wirklich wissenschaftliche Brauchbarkeit besitzen, ehe sie nicht dem Säurebad einer praktischen Erprobung unterworfen wird, und zwar im Wege ihrer Anwendung auf die Gesellschaft unter sorgfältiger, wissenschaftlicher Beobachtung. Auf diese Weise könnte durch die Entwicklung der Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft eine pragmatische Ethik zur lebendigen Wirklichkeit werden. Wenn man einem sogenannten Werturteil begegnet, dann sollte gefragt werden: "Ein Wert zur Lösung welchen sozialen Problems"?; wird das Problem daraufhin sorgfältig klargelegt, werden seine tatsächlichen Grundlagen untersucht und entwickelt man die Naturgesetze und die juridischen Gesetze, die seine Phänomene umgeben, dann wird man regelmäßig feststellen, daß die Wertfrage als philosophische Spekulation oder politische Streitfrage verschwunden ist.

Kapitel IV

Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit Das Verhältnis der Experimentellen Rechtswissenschaft zu Regierung, Gesetzgebung und politischer Entscheidung Diskutiert man die theoretische Natur der Experimentellen Rechtswissenschaft, so stößt man sofort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Staatsführung und nach den Zwecken, denen sie dienen; man trifft auf Ausdrücke wie "Staat", "Souveränität", "Souverän" und auf den Begriff des Rechtsschöpfers oder Gesetzgebers. Einige dieser Erscheinungen gibt es wirklich, manche sind erfunden. Für ein klares Denken ist es unerläßlich, das Wirkliche vom Erfundenen zu trennen und die Auswirkungen dieser Phänomene auf die Theorien der Rechtswissenschaft aufzuzeigen.

1. Das Verhältnis zwischen Recht

Regierung, Staat und Souverän

Die Phänomene der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung umfassen zwei reale Komponenten: Den organisierten Zusammenschluß von Menschen und die Normen, die die Menschen aufstellen, um ihre eigene Organisation, deren Mitglieder und Dritte zu kontrollieren. Im Rahmen dieses Prozesses kann diejenige Personengruppe, die sich zur Arbeit und zum Zusammenwirken in Richtung auf ein gemeinsames Ziel vereinigt hat, als Regierung bezeichnet werden. Diese Gruppe stellt Regeln auf und setzt sie durch. Diese Regeln finden sich in verschiedenen Publikationen und werden Rechtsnormen genannt. Bisweilen können die sogenannten Rechtsnormen auch bloße Fiktionen sein. So verhält es sich z. B. häufig dann, wenn ein Gericht zur Entscheidung eines Falles angerufen wird, der nicht durch ein geschriebenes Gesetz, eine Verwaltungsanordnung oder ein eindeutig feststellbares Präjudiz geregelt ist. In einem derartigen Falle wäre der Genauigkeit halber die Feststellung erforderlich, daß die (gewöhnlich geschriebene) Rechtsnorm das Gericht lediglich dazu autorisiert, den anstehenden Fall und sonst nichts zu entscheiden; in den common-Iaw-Staaten führt jedoch zumindest das Gericht bei der Ent-

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4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

scheidung eines solchen Falles die Gründe dafür an, warum es so entscheidet, und indem es seine Entscheidungsgründe darlegt, greift es zu der Fiktion, daß die im Urteil festgestellte Rechtsnorm seit jeher bestanden habe. In Wirklichkeit wendet das Gericht natürlich die Fiktion an, um seine Entscheidung plausibler zu machen. Da eine Reihe solcher Entscheidungen ausreicht, um eine anerkannte Gewohnheitsrechtsnorm zu bilden, ist es klar, daß in irgendeinem Stadium dieses Prozesses die Fiktion zur Wirklichkeit geworden ist. Der gen aue Zeitpunkt, zu dem die Fiktion eine wirkliche Rechtsnorm wird, bildet eines der Hauptproblerne des Rechtspraktikers und des Rechtslehrers; für den experimentellen Juristen hat er indessen wenig Bedeutung. Mit dem Fortschreiten der Zivilisation beschäftigen sich die Gerichte scheinbar immer weniger mit dieser Rechtsetzungsfunktion und werden in zunehmendem Maße dazu angerufen, Normen zu interpretieren und anzuwenden, die von anderen Gremien geschaffen wurden. Es ist interessant, festzustellen, daß es viele Organisationen gibt, die sich entweder aus eigener Macht oder als Vertreter anderer zusammenfinden, um Normen zu setzen. In alten Zeiten waren diese Organisationen Familien, Sippen, religiöse Sekten, Orden, Städte und ähnliches; heutzutage verfassen einige dieser Gremien zwar immer noch Normen oder Rechtssätze, aber großenteils sind an ihre Stelle freiwillige Vereinigungen getreten. Was ihr Verhalten in Beratungsversammlungen angeht, so könnte ein Wesen vom Mars nicht unterscheiden zwischen einer Sitzung einer gesetzgebenden Körperschaft, der Delegiertenversammlung der Amerikanischen Bundesanwaltskammer (American Bar Association) oder der Amerikanischen Bundesärztekammer (American Medical Association), dem American Law Institute, der Versammlung der Vereinten Nationen, der Nationalen Konferenz der American Legion oder der Freimaurerloge. Diese Geschäftsund Berufsvereinigungen und jede beliebige von tausend anderen scheinen sich in ungefähr derselben Weise zu verhalten. Jedes dieser Gremien führt Debatten nach ähnlichen Verfahren und stellt Regeln zur Bestimmung seiner Handlungen auf; sie alle besitzen Exekutivorgane und Repräsentanten, die mit den Mitgliedern in Verbindung stehen und die die Geschäfte der Organisation führen. Ein Unterschied zwischen diesen Organisationen und der Regierung besteht indessen darin, daß die sogenannten privaten Körperschaften regelmäßig keine Normen aufzustellen versuchen, um andere als ihre Mitglieder zu beherrschen. Die rechtmäßige Regierung stellt dagegen Regeln auf, die sowohl für die Glieder der rechtsetzenden Gruppe als auch für Außenstehende verbindlich sein sollen.

Staat wird häufig als Bezeichnung der höchsten Macht gebraucht zur Beherrschung der Außenseiter innerhalb eines bestimmten Territoriums. Diese Macht des Staates, für alle seine Bürger verbindliche Normen auf-

1. Das Verhältnis zwischen Recht, Regierung, Staat und Souverän

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zustellen, kann auf vorhandene nichtstaatliche Organisationen übertragen werden, die man danach Handlungs- und Unterstützungsorgane des Staates nennt und deren Normen gegenüber der Organisation selbst und gegenüber Nichtmitgliedern durchgesetzt werden. In anderen Fällen, wie etwa bei der Uniform Laws Commission, dem American Law Institute, der Spitzenorganisation der Arbeitgeberverbände und Unternehmer (Chamber of Commerce) und vielen anderen mehr, stellt die private Organisation Regelungen wie den Musterentwurf eines Handelsgesetzbuchs (Uniform Commercial Code) auf, um Außenstehende zu binden, wobei sie erwartet, daß diese Regelungen durch die Regierung offiziell sanktioniert und somit zu Gesetzen werden. Weiterhin ist zu beachten, daß der Ausdruck "Staat" in seiner modernen Bedeutung eine Schöpfung der Philosophen und der Politikwissenschaftler ist und manchmal - wie im Falle der Vereinigten Staaten dazu verwendet wird, einen geographischen Teil eines größeren Bundesstaates zu kennzeichnen, also wiederum als ein Synonym für die höchste Macht oder die Souveränität einer bestimmten Regierung gebraucht wird. In seiner älteren Bedeutung war er die militärische Macht im Unterschied zum Herrschaftsbereich der Zivilregierung 1 . Des weiteren wird dieser Ausdruck auch als Sammelbegriff für die Machtbefugnisse und Interessen der politischen Organisation als einer Einheit im Unterschied zu den Machtbefugnissen und Interessen der einzelnen Staatsbürger verwendet. Obgleich sich der Ursprung dieses Begriffes in die Vorzeit zu verlieren scheint2 , stellt er eine Fiktion dar, die mit sehr viel echter Überzeugung ausgestattet worden ist. Die Lehre von den ursprünglichen Rechten der einzelnen Staaten (doctrine of states' rights), die Theorien über die allem vorgehende Macht, Gewalt und Wichtigkeit des Staates und die Behauptungen, der Staat sei ein Vertretungsorgan der Gemeinden, gehören zu den zahlreichen Fiktionen, die in der Wirklichkeit Gefühlsreaktionen und politische Streitigkeiten aller Art bewirken, von denen einige zur Rechtfertigung von Zwistigkeiten, zu Gewalt und Blutvergießen geführt haben. Während sich Philosophen und Politikwissenschaftler bis zum Überdruß wegen der richtigen Verwendung dieses Begriffes streiten mögen und sich auch gestritten haben, ist der experimentelle RechtswissenschaftIer neben anderen in der Hauptsache dar an interessiert, in welchem Umfang der Begriff benutzt wird als Symbol zur Verschleierung der Forderungen bestimmter lokaler Gruppen, als Fassade zum Schutze der Großindustrie gegen die Rechtsverwirklichung durch eine starke Regie1

Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 110 ff.

über die Vermengung der Begriffe "Staat" und "Souveränität" siehe Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. XIV (1934), S. 265, 328, und die dort aufgeführten Autoren. 2

6 Beutel

4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

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rung, als Mittel zur Schwächung der Macht und Effektivität einer Zentralregierung, als Maßnahme zur Annäherung der Regierung an das Volk oder umgekehrt als Vorwand zur Machterweiterung einer Zentralbürokratie auf Kosten der Freiheitsrechte der einzelnen. Diese und viele andere Beispiele, die man zum Gebrauch des Wortes "Staat" liefern könnte, verraten die Macht dieses Begriffes, wenn er so wie Gott, Heimatland, Mutter und dergleichen als emotionaler Brennpunkt zur Beeinflussung menschlicher Handlungen verwendet wird. Das Ausmaß der wirklichen Macht und die Folgen der Verwendung des Ausdrucks "Staat" müssen erforscht werden, aber als Rechtsetzungseinheit sollte man ihn für das halten, was er wirklich ist, nämlich großenteils eine Fiktion, die zur Rechtfertigung oder Bezeichnung der Rechtsetzungsmacht benutzt wird. Behauptet eine Organisation oder Gruppe, die bis dahin nicht als Regierung bezeichnet worden ist, sie handle wegen oder im Namen dieser Fiktion, oder wird sie in die Lage versetzt, ihren Willen anderen aufzuzwingen, dann wird sie eine de facto Regierung genannt. Dabei sollte beachtet werden, daß eine de facto Regierung in Wirklichkeit alle Eigenschaften eines Staates besitzt. Das einzige fehlende Element besteht in der Bereitschaft anderer Staaten, die Existenz dieser Tatsache "offiziell" einzugestehen und "offizielle" Vertreter der Regierung zu empfangen, doch ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, daß die übrigen etablierten Regierungen mit ihr in derselben Weise verhandeln wie mit anderen. Die Beziehungen der Vereinigten Staaten zum kommunistischen China während des Korea-Krieges und während der darauffolgenden Verhandlungen sind ein typisches Beispiel. Auf dem Gebiete des Völkerrechts wird sie dann eine "de jure" Regierung, der man "Souveränität" zuschreibt, wenn andere Regierungsorganisationen ihre Macht "anerkennen", ihren Willen anderen, nämlich ihren Untertanen, aufzuzwingen. Die Souveränität ist genauso wie der Staat eine Fiktion, die im 16. Jahrhundert zur Rechtfertigung des aufkommenden Nationalismus wieder aufgebracht wurde. Sie wird bisweilen zur Beschreibung der Macht einer Person oder einer Gruppe verwendet, Regeln oder Rechtsnormen ohne jegliche Beschränkung oder Beeinträchtigung durch andere ändern zu können und wegen eines solchen Verhaltens keiner Sanktion ausgesetzt zu sein3 . In der Vergangenheit wurde diese schrankenlose Rechtsetzungsmacht als eine der Eigenschaften des Staates angesehen; aber mit dem Anwachsen der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Nationen fängt die Fiktion des bindungslosen souveränen Staates, das Ideal des 18. Jahrhunderts, langsam an, sich aufzulösen. Die modernen nationalen und internationalen Regierungen beginnen, mag es auch langsam gehen, ihre 3

Siehe Krabbe: Die moderne Staats-Idee, 2. deutsche Ausg. 1919, S. 3 ff., 6.

2. Die Zwecke von Recht und Regierung

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wechselseitigen de facto- und de jure-Verpflichtungen gegeneinander anzuerkennen. Die kommunistische Philosophie, die für die schließliche Auflösung des Staates eingetreten ist, ist nicht ein bloßer Angriff auf eine Fiktion. In Wirklichkeit könnte sie eher als Bewegung zur Beseitigung nationaler Regierungen als solcher bezeichnet werden; aber die praktischen Ergebnisse dieses Versuches, den Begriff des souveränen Staates aufzugeben, haben um so deutlicher die Existenz und die Notwendigkeit einer Instanz wirklich werden lassen, die gegenüber jedermann Normen setzt und durchsetzt, und zwar mit Hilfe einer Organisation, die wir gewöhnlich als Regierung bezeichnen. Nirgends ist diese alles beherrschende Regierungsorganisation sichtbarer als in der Kommunistischen Partei Rußlands und in der sie beherrschenden Bürokratie. Der Rechtsschöpjer oder Gesetzgeber ist eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit, die für gewöhnlich denjenigen Teil der Regierungsorganisation bezeichnet, der Rechtsnormen erläßt und schafft. In einfachen Regierungen ist der Gesetzgeber diejenige Person, Versammlung oder gesetzgebende Körperschaft, die tätig wird, um Rechtsnormen zu schaffen. Und in modernen, komplizierten Regierungen, wie in denen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens oder Sowjetrußlands, ist die gesetzgebende und rechtsschöpfende Funktion auf so viele Instanzen delegiert, daß dieser Ausdruck als einheitliche Bezeichnung zur bloßen Fiktion geworden ist. Normen mit der Kraft und der Wirkung eines Gesetzes werden heute erlassen von unzähligen, mit verfassungsmäßiger oder delegierter Gewalt arbeitenden Behörden. De facto und de jure kann der Gesetzgeber ein einzelner sein, ein Gericht, eine Kommission, eine gesetzgebende Körperschaft, ein Gremium, ein Minister, eine Privatorganisation, eine pressure group oder Verbindungen aus zwei oder mehreren dieser und weiterer Instanzen. Heutzutage sind "die Rechtsetzung" und lIder Gesetzgeber" lediglich symbolische Ausdrücke zur Erfassung des gesamten Rechtschöpfungsprozesses. Folglich stellen Recht, Regierung und Rechtsetzung Realitäten dar, die der Mensch mit irreführenden Fiktionen wie Souverän und vielen anderen umgibt.

2. Die Zwecke von Recht und Regierung

Einer der ertragreichsten Böden zur Erzeugung von Fiktionen über Regierung und Recht ist der Bereich der Versuche, den Existenzzweck der Regierung zu bestimmen. Hier scheinen sich die wirklichen Zwecke mit den vorgeschützten, scheinbaren, theoretischen und fiktiven Zwekken in solchem Maße zu vermischen, daß ein zufälliger Betrachter be6·

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4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

zweifeln könnte, daß wirkliche Zwecke von fiktiven unterschieden werden können. Es ist jedoch augenscheinlich, daß die grundlegende Notwendigkeit des Rechts und der Regierung darin besteht, den inneren Frieden zu wahren. Ohne ihn ist jedes Rechts- oder Regierungssystem unmöglich. Jenseits des elementaren Erfordernisses, den Frieden zu wahren, werden unzählige Gründe für die Existenz der Regierung und für die Wahrung bestimmter Rechtsnormen angeboten. Ist der Frieden erst einmal gesichert und hat das System der Rechtsdurchsetzung begonnen, so kann die Regierungsgewalt auf jedes Ziel gerichtet werden, das von der herrschenden Klasse oder den herrschenden Gruppen einzelner erstrebt wird, und die einzelnen Rechtsnormen, die sie erlassen, erzeugen, verordnen oder verlangen, können sich an unzähligen bewußten oder unbewußten Zwecken orientieren. Philosophen und sogenannte Staatstheoretiker haben liebend gern über die fiktiven und wirklichen Ziele spekuliert, derentwegen es Regierungen gibt. Die Literatur ist voller gelehrter Erörterungen über den besten, den wahren oder den vorzuziehenden Zweck von Regierung und Rechtsetzungsmacht. Viel davon ist Rechtfertigung bestehender Mächte, und noch mehr ist Spekulation darüber, was der allgemeine Zweck oder die Richtschnur für die Macht sein sollte. Alle diese Theorien über Regierungspolitik zu überprüfen, erforderte eine gelehrte Abhandlung, die der bereits veröffentlichten Literatur wenig hinzufügen würde. Hier brauchen als Beispiele nur wenige erwähnt zu werden, und zwar ohne sich mit der Trennung von Fiktion und Wirklichkeit - als ob sie wirklich möglich wäre - aufzuhalten, um so den Hintergrund für die Diskussion über das Verhältnis der Experimentellen Rechtswissenschaft zu Regierung und Rechtsetzung zu erhellen. Die postulierten Ziele, für die Recht und Regierung verwendet werden können, sind zahllos, und die daraus resultierenden, sowohl wirklichen als auch fiktiven politischen Linien gehen in alle Richtungen. Unter den ältesten und am weitesten vertretenen befinden sich diejenigen, die sich um die Idee der absoluten Monarchie scharen. Zu dieser Gruppe gehören die Theorien, daß die Regierung zu dem Zweck besteht, den Willen des Souveräns zu vollstrecken, der seinerseits ein lebender absoluter Monarch, wie bis vor kurzem im Falle des Königs Saud von Arabien, oder der abstrakte, fiktive Herrscher sein kann, den Austin in seiner Rechtslehre als Souverän darstellt. Hiermit eng verwandt sind die Lehren, daß die Regierung die Interessen einer Adelsschicht oder einer irgendwie gearteten herrschenden Klasse aufrechterhält. Diese Auffassung bestimmt die Wirklichkeit in einer größeren Zahl moderner Regierungen, als die Herrschenden zugeben mögen.

2. Die Zwecke von Recht und Regierung

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Bewegt man sich in Richtung auf das Reich der Fiktion, dann trifft man sogleich auf die Theokratie, bei der die Macht hinter der Rechtspolitik für den Willen Gottes gehalten wird. Diese Theorie findet ihre verschiedenen Ausprägungen in der alten Doktrin des Königtums von Gottes Gnaden, in solch modernen Staaten wie dem Vatikanstaat und in der kürzlich gestürzten Regierung Tibets. Noch weiter fortgeschritten im Reich der Fiktion sind die Lehren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wonach die Regierung eingesetzt wurde, um Naturrechte von der Art zu sichern, wie sie in den ersten zehn Zusatzartikeln der amerikanischen Bundesverfassung aufgeführt sind. Teilweise verwandt mit ihnen sind die Äußerungen Jeffersons, Lincolns und anderer großer demokratischer Führer, wonach die Regierung existiert, um den Willen der Regierten auszudrücken. Ein vermutlicher Abkömmling dieser Vorstellung ist die Lehre von Marx, daß der Zweck der Regierung darin bestehe, den Willen des Proletariats zu vollstrecken, und zwar mit dem Zusatz, daß eines der Regierungsziele darin liege, die Auflösung des Staates zu erreichen. Dies scheint wiederum eine Art fiktiver Rechtfertigung der Regierung als solcher zu sein. Die Antithese der marxschen Lehre lautet, daß der Mensch für den Staat existiere und daß die Regierungspolitik entsprechend geleitet werden sollte. In engerer Annäherung hieran befindet sich ein anderes Dogma, nämlich die nazistische Doktrin, daß die Regierung dazu da sei, eine Herrenrasse zu schaffen. Dies sind nur wenige der allgemeinen Theorien, die in unterschiedlichen Spielarten erscheinen, um Handlungen und politische Konzeptionen der Regierungen zu rechtfertigen. Einige von ihnen mögen zufällig die wirklichen Zwecke der Rechtsetzung beschreiben, aber man sollte klar erkennen, daß sie in der Hauptsache weitgehend fiktiv sind, hervorgebracht je nachdem, wie die Lage es erfordert, um Handlungen des Gesetzgebers zu rechtfertigen, um Rechtsunterworfene zu beschwichtigen oder um die an der Gesetzgebung Beteiligten, Richter oder sonstige Beamte dazu zu überreden, einen neuen Aktionskurs zu übernehmen oder denjenigen fortzusetzen, dem sie gerade folgen. Die bisherigen Versuche, allgemeine Theorien über die Zwecke von Recht und Regierung miteinander abzuwägen oder zu bewerten, haben nur zu fruchtloser Philosophiererei, zu Zank und Streit oder sogar zur Rechtfertigung von Blutvergießen geführt. Wenn man die in Kapitel III vorgebrachten vorläufigen Theorien übernehmen will, so kann man davon ausgehen, daß die Regierung dazu da ist, die Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse der ihr Unterworfenen zu erfüllen. Bei diesem Ausgangspunkt erhebt sich sofort die Frage, wie diese Begehren tatsächlich aussehen und wie sie in Wahrheit von der Rechtsordnung gefördert, erkannt und befriedigt werden. Unter die-

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4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

sem Blickwinkel wird man notwendigerweise sogleich mit der Tatsache konfrontiert, daß eine Bestandsaufnahme aller derartigen Begehren und ein Versuch, das Ausmaß zu bestimmen, in dem eine spezielle Rechtsordnung oder Regierung sie allesamt genau bewertet und erfüllt, eine Aufgabe darstellt, die einen Apparat sozialer Beobachtungen und Messungen erforderlich machte, der vielleicht nicht theoretisch unmöglich ist, der aber sichtlich weit über jeden bisher denkbaren hinausgeht. Andererseits ist es durchaus möglich, derartige Untersuchungsverfahren auf bestimmte, feststellbare Rechtsnormen anzuwenden, wie auch immer sie aussehen mögen. Indem man eine solche Norm für sich herausnimmt, kann man die Fragen aufwerfen und vermutlich beantworten, inwieweit sie die Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse erfüllt, denen sie ihr Entstehen verdankt. Auch hier gilt es, das Wirkliche vom Vorgeblichen und Fiktiven zu trennen. Zwar ist es für den Wissenschaftler möglich und ergiebig, das Ausmaß zu bestimmen, in dem ein Gesetz tatsächlich einen vorgeblichen oder fiktiven Zweck zu erreichen vermag, und es können auch viele Hypothesen und einige Beweise auf diesem Bereich entwickelt werden, aber der wirkliche Zweck für den Erlaß bestimmter Gesetze liegt unter der Oberfläche und kann nur durch eine Sozialforschung aufgedeckt werden, die in die Motive eindringt, welche sich auf die geäußerten und versteckten, den Gesetzeszweck verursachenden Begehren auswirken. Hier kann der Wissenschaftler eine lohnende Verwendung für seine Fähigkeiten finden.

3. Das Verhältnis des experimentellen RechtswissenschaftIers zur Regierung Der experimentelle Rechtswissenschaftler als solcher zeigt wenig Interesse für die allgemeinen Theorien, die vorgebracht werden, um die Zwecke der Regierung als ganzer zu erklären oder um gewisse Richtungen der Politik zu rechtfertigen. Als Wissenschaftler muß er erkennen, daß diese Äußerungen weitgehend fiktiv sind. Zwar könnte ihm vielleicht daran gelegen sein, die tatsächliche Effektivität der verschiedenen Techniken zu untersuchen, die zur Verbreitung dieser Fiktionen verwendet werden, um die Öffentlichkeit zu überreden, damit sie sich den allgemeinen politischen Vorhaben einer bestimmten Regierung füge; aber seine unmittelbare Aufmerksamkeit würde sich vorzugsweise auf die Wirkung einer bestimmten Rechtsnorm richten, mit der sie den eigentlichen Zweck erreicht, dessentwegen sie geschaffen wurde. Wie in Kapitel II dargelegt, würde dies zweierlei umfassen: zum einen die Prüfung der für den Erlaß einer bestimmten Rechtsnorm genannten Gründe, um festzustellen, welche davon wirklich und welche fiktiv waren, und zum anderen

3. Das Verhältnis des Rechtswissenschaftlers zur Regierung

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das Verfahren von Schritt zwei bis Schritt sechs, um die Wirksamkeit der Rechtsnorm und den Grund der sozialen Reaktionen auf die Rechtsnorm zu bestimmen. Nachdem der experimentelle Rechtswissenschaftler diese Feststellung in bezug auf eine bestimmte Rechtsnorm getroffen hat, wäre er in der Lage, Änderungen zu empfehlen. In diesem Verfahren könnte die Stellung des experimentellen Rechtswissenschaftlers zur Regierung vier Formen annehmen: 1. die einer unabhängigen Organisation, 2. die eines Teiles der Regierung selbst als Ratgeber oder als Untergebener des Gesetzgebers und des für die Politik Verantwortlichen; 3. der experimentelle Rechtswissenschaftler könnte den Gesetzgebungsprozeß selbst kontrollieren; 4. es könnte eine Kombination oder eine unterschiedlich starke Vermischung der drei genannten reinen Formen geben. Es scheint, als besitze der experimentelle Rechtswissenschaftler eine besonders wichtige Funktion in der Gesetzgebung, ganz gleich, welche der drei oder mehr Stellungen er in der Regierung einnehmen würde. Ob diese oder jene Form ratsam wäre, hängt vom Zustand der Regierung in dem Zeitpunkt ab, in welchem die Tätigkeit institutionalisiert wird. Die unabhängige Organisation hat bestimmte Vor- und Nachteile. In einem Rechtsstaat, wo unabhängige Kritik an der Regierung erlaubt ist, wie gegenwärtig in den Vereinigten Staaten, könnte der experimentelle Rechtswissenschaftler in einer von der Regierung unabhängigen Organisation wirken, etwa einer Stiftung oder einer Studieneinrichtung. Sie könnte ungehindert untersuchen und kritisieren, aber man könnte ihr den Zugang zu Regierungsbehörden und Regierungsunterlagen verwehren. Da sie völlig unabhängig ist, könnte sie die Zusammenarbeit mit der Bürokratie, den Gerichten, der gesetzgebenden Körperschaft usw. erlangen oder auch nicht. Außerdem besteht die erhebliche Gefahr, daß eine unabhängige Organisation ohne die Zwangsgewalt der Regierung in Form von Bußgeldern und dergleichen nicht die erforderliche Information und Beachtung durch Privatpersonen fordern könnte. Aus der fehlenden Einwirkungsmöglichkeit auf die gesetzgebenden Körperschaften könnte sich auch die in Kapitel II hervorgehobene große Schwierigkeit ergeben, die Übernahme von Vorschlägen zu erwirken, aber das wäre keine Unmöglichkeit. Die Annahme unabhängig vorgeschlagener Gesetze oder politischer Entscheidungen wäre abhängig von der Energie und der Überzeugungskraft, mit der man für sie einträte. Die zeitliche Verzögerung zwischen der Formulierung einer Hypothese oder eines juridischen Gesetzes und der Gelegenheit, den Vorschlag durch Erlaß eines neuen Gesetzes und durch Beobachtung seiner Auswirkungen zu prüfen, könnten durchaus entmutigend sein. Natürlich würden derartige Unterfangen in einem totalitären Staat wahrscheinlich nicht toleriert werden. Wie in späteren Kapiteln dargelegt werden wird, gibt es heute in den Ver-

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4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

einigten Staaten einige Unternehmungen dieser Art, die mit der Regierung zusammenarbeiten. Als Teil der Regierung selbst hätte der experimentelle RechtswissenschaftIer gewisse Vorteile. Darunter befände sich die Befugnis, den Zugang zu Informationen aller Art zu erzwingen, die einer privaten Organisation verwehrt wäre. Beim Sammeln der Fakten käme es zu einer leichteren Zusammenarbeit mit der Bürokratie, zu größeren Geldzuwendungen und zu einer möglichen Kontinuität. Ferner bestünde die Chance, die Regierungsverantwortlichen zu beraten und möglicherweise eine schnellere Umwandlung der Vorschläge in rechtskräftige Gesetze zu erwirken. Wie in späteren Kapiteln aufgezeigt werden wird, ist ein großer Teil derartiger Forschungsarbeit bereits zum routinemäßigen Bestandteil der Regierungsarbeit in den Vereinigten Staaten geworden. Als Teil der Regierung könnte der experimentelle Rechtswissenschaftler jedoch der Herrschaft der Politiker unterworfen werden, die auf die wissenschaftlichen Schlußfolgerungen störend einwirken würden. Diese Gefahr ist sogar noch größer in einer Diktatur, in der die Parteilinie keine Abweichung in Form wissenschaftlicher Ergebnisse dulden könnte; aber selbst dort wäre es möglich und geschieht es heute sogar, daß der experimentelle Rechtswissenschaftler der wichtigen Funktion dient, den Gesetzgeber hinsichtlich des Erfolges seiner geltenden Gesetze zu beraten. In ähnlicher Weise können in den Demokratien die landläufigen Vorurteile, die Emotionen gewählter Funktionäre und die hoch- und niedergehenden Gefühlswellen mit wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen in Konflikt geraten, was sie auch tatsächlich tun. Wie in späteren Kapiteln dargelegt werden wird, passierte dies mit der Hoover Law Enforcement Commission bei der Untersuchung der Prohibition, und es geschieht gegenwärtig im Fall der Zoll kommission und vieler quasiwissenschaftlicher Behörden der amerikanischen Regierung. Auf der anderen Seite nimmt die Verwendung wissenschaftlicher Daten ständig zu, und immer mehr wird die Politik durch die Forschungsabteilungen der Regierungen in totalitären wie in demokratischen Ländern bestimmt. Die wissenschaftliche Lenkung der Rechtspolitik ist sowohl eine gegenwärtige Realität als auch eine sich vergrößernde Möglichkeit der Zukunft. Wie in späteren Kapiteln demonstriert werden wird, überträgt man heute schon im Bereich der Verkehrsgesetze, der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, der Erhaltung der Naturschätze und vieler anderer Gebiete, in denen Daten fortgeschrittener experimenteller Wissenschaften verfügbar sind, die politische Entscheidung der Rechtsetzung und Rechtserzwingung auf wissenschaftliche Gremien, die die Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft anwenden. Auf den Gebieten der Regierungseinwirkung auf Stadtplanung, wirtschaftliche Entwicklung,

3. Das Verhältnis des Rechtswissenschaftlers zur Regierung

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Verbrechensbekämpfung und dergleichen gewöhnen sich die Gesetzgeber in zunehmendem Maße daran, sich auf den Rat von Experten zu stützen, die in der Lage sind, die Wirkung alter Gesetze einzuschätzen und den Verlauf der Durchführung neuer Gesetze vorherzusagen. Hier findet man die leistungsfähigsten Organe der Rechtsdurchsetzung und die größte Flexibilität der Rechtsordnungen bei der Einführung von Neuerungen, die zur Befriedigung der Bedürfnisse einer dynamischen Zivilisation notwendig sind. Da die Experimentelle Rechtswissenschaft weitere Daten entwickelt, da die sozialen Wirkungen der Gesetze untersucht werden und da man juridische Gesetze aufstellt und prüft, die die Ergebnisse der Gesetzgebung vorhersagen, wird jener Bereich ständig eingeengt werden, auf dem der Politiker frei bleibt, nicht auf Grund von Tatsachen und wissenschaftlichen Daten, sondern aus anderen Erwägungen zwischen alternativ vorgeschlagenen Gesetzen irgendeines Gebietes zu wählen. Je schneller der experimentelle Wissenschaftler die politische Entscheidung übernimmt, desto mehr wird das Tempo des Fortschri tts beschleunigt. Die vierte oder gemischte Form der Mitwirkung des experimentellen Rechtswissenschaftlers in Gesetzgebung und Verwaltung ist wahrscheinlich in allen heute existierenden, fortschrittlichen Regierungstypen zu finden. Sie erscheint mit Sicherheit auch in allen Entwicklungsstaaten, in denen sich die Form der Regierung ändert, um mehr und mehr wissenschaftliche Methoden zu übernehmen. Dies wird einen Funktionswechsel verschiedener Ministerien umfassen; es wird gleichfalls das Verhältnis der gesetzgebenden Körperschaften des Staates, des Landes, der Stadt usw. untereinander beeinflussen, und es sollte zu einer Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Gremien ermutigen, um Forschungen zu betreiben und politische Entscheidungen zu fällen. Der Charakter dieser Entwicklung auf Bundesebene wird in Kapitel VII noch ausführlicher erörtert werden. Ein Beispiel, das hierher paßt und das die Zusammenarbeit aller Regierungszweige und privater Organisationen demonstriert, findet sich auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens, und zwar bei der Reinhaltung der Milch. Hier hat das Gesundheitsministerium (Public Health Service) der Bundesregierung umfangreiche Forschungen über die Wirkung verschiedener Gesetze betrieben, die Maßnahmen zur Reinigung der Milch angeben. Es hat Mustergesetze und -verordnungen entworfen, die von Staaten, Kreisen und Gemeinden übernommen worden sind. Der Fortschritt dieser Gesetze bei der Verbesserung gesunder Milchversorgung ist von Behörden sowohl der Einzelstaaten als auch des Bundes überprüft worden, während die Wirksamkeit des ganzen Programms mit Hilfe des Bundeslandwirtschaftsministeriums von der Nationalen Akademie der Wissenschaf-

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4. Kap.: Die Zwecke von Recht und Staatstätigkeit

ten (National Academy of Sciences), vom Nationalen Forschungsrat4 (National Research Council) und von einer privaten Stiftung untersucht wurde, die von einer Anzahl von Milchhandelsvereinigungen 5 getragen wird. Hier findet man ein gutes Beispiel dafür, wie eine gemischte Gruppe aus Regierungs- und Privatorganisationen die Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft voranbringt.

4. Gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen Wer seine Phantasie spielen läßt, wird erkennen, daß die Anwendung der Techniken der Experimentellen Rechtswissenschaft, sofern sie entwickelt und erweitert werden, auf die gegenwärtigen Regierungsorganisationen und -methoden einwirken wird. Man kann sich vorstellen, welch beträchtliche Veränderung es sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Regierungstätigkeit geben könnte, sobald sie die hier umrissenen Forschungsmethoden rezipiert. Eine Rechtsetzung, die auf der Grundlage der Experimentellen Rechtswissenschaft beruht, könnte durch die bloße Macht ihrer Nützlichkeit genauso einen Platz in der Regierungstechnik erlangen, wie die Produktion mit Hilfe automatischer Maschinen im Wirtschaftsleben die Handarbeit verdrängt. Gleichgültig, ob dieses Anliegen von privaten Stiftungen und Studieneinrichtungen, von Ratgebern der Regierung oder von einer Vereinigung beider gefördert wird, der Einfluß der experimentellen Wissenschaftler auf die Politik könnte ein Gegenstück werden zur Ausdehnung der Technik bei der Planung der industriellen Weiterentwicklung. Ob das geschehen wird, ist zur Zeit jedoch noch zu ungewiß, als daß es einer ernsthaften Stellungnahme wert wäre; einem Fortschritt in dieser Richtung steht nämlich, wie in Kapitel V dargelegt werden wird, eine größere Opposition gegenüber, als man auf den ersten Blick erwarten könnte.

4 Siehe ihren Bericht: Dahlberg, Adams und Hetd: Sanitary Milk Control and its relation to Sanitary, Nutritive and other Qualities of Milk, 1953. 5 Der leitende Ausschuß umfaßte sogar Vertreter der American Dairy Science Association, der International Association of Milk Sanitarians, der American Public Health Association, der International Association of Milk Dealers und der National Cooperative Milk Producers Federation. Siehe den Bericht (Anm.

4), S. V.

Kapitel V

Der Zeitabstand zwischen wissenschaftlichen Entdeckungen und rechtlichen Maßnahmen Die Schritte sieben und acht des in Kapitel 11 dargelegten Verfahrens der Experimentellen Rechtswissenschaft erweisen, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen Theorie in ein Gesetz gebracht werden müssen, wenn die Experimentelle Rechtswissenschaft ihre größte Effektivität erreichen soll, und daß man die Auswirkungen dieses Gesetzes auf die Gesellschaft untersuchen muß. In dieser Hinsicht läßt sich sagen, daß die vorgeschlagenen Techniken der Experimentellen Rechtswissenschaft denjenigen ähneln, die bei der Entwicklung und Erprobung medizinischer Heilmittel verwendet werden. Nachdem die Heilmittel im Laboratorium durch Erprobung der zugrunde liegenden Theorien und Experimente soweit wie möglich ausgeklügelt worden sind, besteht die abschließende Prüfung in der Anwendung des neuen Heilmittels auf die allgemeine Öffentlichkeit. Die kürzlichen Massenimpfungen, die die Wirksamkeit des Salk-Impfstoffes erweisen sollten, sind ein höchst spektakuläres Beispiel für den Erfolg der praktischen Medizin als einer angewandten Wissenschaft, bei der Menschen sozusagen zum LaboratoriumsmateriaJ werden. Da das Recht ebenso wie die Medizin ein Mittel ist, das auf Menschen einwirken soll, muß es gleichfalls den entscheidenden Test der Anwendung auf die Öffentlichkeit bestehen. Die Experimentelle Rechtswissenschaft muß ebenso wie die Medizin mit Notwendigkeit eine angewandte Wissenschaft werden, die an den Vorzügen sowohl der reinen Wissenschaft als auch der Technik teilhat. Der Enderfolg der Theorien wird von der Bereitschaft der Öffentlichkeit und der Gesetzgebungsgremien abhängen, die Entwicklungen der wissenschaftlichen Jurisprudenz aufzugreifen und sie in Rechtsnormen zu verwandeln, wodurch die Theorien dem endgültigen Laboratoriumstest der öffentlichen Reaktion ausgesetzt sind. Auch hier scheint es dem Fortschritt des Rechts dienlich zu sein, wenn Entwicklungen anderer Wissenschaftsgebiete zur Unterstützung der Rechtsdurchsetzung und Rechtsanwendung verwendet werden könnten. Beide Anstrengungen kann man berechtigterweise zum Forschungsgebiet der Experimentellen Rechtswissenschaft zählen, und beide machen

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5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen

zur Erreichung optimaler Ergebnisse erforderlich, daß der Rechtsapparat so ausgerüstet wird, daß er die wissenschaftlichen Entwicklungen unverzüglich verwerten und erproben kann. Unglücklicherweise lassen die tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsstruktur unserer Gesellschaft auf diesem Gebiete viel zu wünschen übrig.

1. Faktoren, die den Abstand zwischen Wissenschaft und rechtlicher Maßnahme begünstigen

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß das Recht und die rechtlichen Maßnahmen weit hinter jeder Art von sozialem Wandel zurückbleiben. Dies trifft sogar zu auf Veränderungen der gesellschaftlichen Bräuche, der Religion und der menschlichen Gewohnheiten. Aber es scheint noch viel auffälliger zu sein, wenn man sich dem Problem zuwendet, wissenschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und zu übertragen, um sie als Hilfsmittel bei Rechts- und Regierungsverfahren anzuwenden. Die Gründe für das Versagen der Rechtsordnung, wissenschaftliche Neuerungen sofort zu rezipieren, sind zahlreich. Viele von ihnen finden sich in der Natur der Rechtsordnung selbst. Ihre geschichtlichen Wurzeln, ihre geschriebenen Gesetze und Verfassungen, das richterliche Vertrauen auf Präjudizien, der Grundsatz der Bindung an Präzedenzfälle und die Angewohnheit eines freien Juristenstandes, sich in hohem Maße mit dem lohnenden Geschäft der Verteidigung des Status quo zu beschäftigen - all das bildet Hindernisse für plötzliche Veränderungen. Auch die Veränderungsmaschinerie, die von den meisten Regierungen eingerichtet ist, nämlich das System des Gesetzgebungsverfahrens, ist nicht sehr gut darauf eingestellt, Neuerungen aus dem Bereich der Wissenschaft aufzugreifen. In Amerika wenigstens ist die Legislative nicht mit Einrichtungen für Rechtsänderungen versehen wie z. B. Rechtspflegeministerien oder Forschungsorganisationen. Die Legislative ist hinsichtlich ihrer Information abhängig von interessierten pressure groups und von der freiwillig aufgewandten Zeit patriotischer Bürger oder Weltverbesserer. Die Trennung staatlicher Funktionen, die als eines der grundlegenden Dogmen der Regierungsform in diesem Lande gilt, steht dem Fortschritt ebenfalls im Wege. Unsere Gewaltentrennung in der Bundesregierung und dazu unsere Auf teilung in Staaten, Städte, Kreise und unzählige lokale Verwaltungseinheiten verzögern mit einiger Wahrscheinlichkeit das Eindringen neuer Informationen in das Recht. Rechnet man zu all dem das uneingeschränkte Vertrauen auf den demokratischen Prozeß hinzu, der davon ausgeht, daß erwünschte Veränderungen aus einer informier-

1. Faktoren, die den Abstand begünstigen

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ten Öffentlichkeit empordringen, und bedenkt man das Ganze angesichts der Tatsache, daß wissenschaftliche Daten nur wenigen bekannt sind und wegen ihrer Kompliziertheit von der Masse im großen und ganzen nicht erfaßt werden, so könnte man erwarten, daß es nicht nur schwierig, sondern beinahe unmöglich ist, die Information aus der neuen und schnell wachsenden wissenschaftlichen Revolution in unsere konservativen Rechts- und Regierungsformen einzubringen. a) Die historischen Wurzeln der Rechtsordnung

Alle unsere rechtlichen und die wichtigsten unserer staatlichen Einrichtungen wurden vor der industriellen und wissenschaftlichen Revolution etabliert, um einen Gesellschaftstypus zu regieren, der heute so gut wie verschwunden ist. Die Formen, Gewohnheiten und Verfahrensmethoden unseres Rechts sind viel älter als jede uns bekannte Naturwissenschaft und viele von ihnen haben Jahrhunderte lang ohne Änderung bestanden. Wigmore berichtet in seinem Panorama der Rechtsordnungen der Welt von einem übertragbaren Schuldschein, der den Anforderungen unserer modernen Rechtsordnung genügt; dieser Schuldschein war 2100 v. ehr. allgemein üblich l . Wie viele unserer Handelsformen, so reicht auch das Gerichtssystem hinter die Geschichte oder die Entdeckungen der Archäologie zurück2 • Unser eigener amerikanischer Verfahrenstyp kann unmittelbar und in ununterbrochener Linie auf die britischen Gerichte des 13. Jahrhunderts zurückgeführt werden 3 . Das gegenwärtige amerikanische System war in den meisten seiner Einzelheiten schon vollständig ausgebildet, als die amerikanischen Kolonien gegründet wurden' und noch ehe großartige Erfindungen wie die Dampfmaschine 5 , der mechanische Webstuhl 6 und die Baumwollentkörnungsmaschine 7 irgend welche sozialen Auswirkungen haben konnten - ganz zu schweigen von automatischen Fabriken, elektrischer und atomarer Energie und all den anderen Ergebnissen moderner Wissenschaft, die in den letzten 100 Jahren zutage getreten sind. Die englische Legislative, die oft die Mutter der Parlamente genannt wird, obwohl sie unter den plebiszitären und repräsentativen gesetzgebenden Körperschaften der Welt nur ein Kind ist8 , bildete sich in ihren Einzelheiten, wie sie heute Wigmore: A Panorama of the World's Legal Systems, 1928, S. 69. Ders.: S. 12, 73, 177, 289, 406 ff.; siehe auch Gluckman: The Judicial Process of the Barotse of Northern Rhodesia, 1955, S. 357 ff., wo der Autor darauf hin1

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weist, daß das Gerichtssystem dieser Wilden dem unsrigen sehr ähnelt. 3 Holdsworth: History of English Law, 3. Aufl. 1922, Bd. 1. S. 54 ff. 4 Siehe Harlow: Legislative Methods Before 1828, 1884, Kap. 1; Atkins: Lex Parliamentaria, 1748. 5 Patentiert im Jahre 1769, Encyclopedia Britannica, 1926, Bd. 28, S. 415. 8 Patentiert im Jahre 1785, Encyclopedia Britannica, 1926, Bd. 5, S. 435. 7 Patentiert im Jahre 1794, Encyclopedia Britannica, 1926, Bd. 28, S. 611. 8 Siehe Wigmore, a.a.O. (Anm. 1), Bd. 1, S. 343; Buckland and McNair: Roman Law and Common Law, 1936, S. 1 ff.

94 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen in amerikanischen Verfassungen und Gesetzen erscheinen, im frühen 17. Jahrhundert aus 9 , also zu Lebzeiten von Sir Francis Bacon 10 , der häufig als Vorläufer der modernen Wissenschaft bezeichnet wird. b) Geschriebene Gesetze und Verfassungen

Das amerikanische Rechts- und Regierungssystem, das auf geschriebenen Gesetzen und Verfassungen beruht, ist gleichfalls alten Ursprungs. Seit Beginn der Geschichte hegte die Menschheit den Glauben, daß grundlegende Rechtsnormen für alle Zeiten niedergeschrieben werden könnten. Der babylonische Kodex Hammurabi (2100 v. Chr.), die jüdischen zehn Gebote (etwa 1200 v. Chr.) und die römischen Zwölf Tafeln (400 v. Chr.)l1 sind frühe Beispiele für die weltweite Gewohnheit, augenblickliche Rechtsauffassungen aufzuzeichnen, sie mit übernatürlichen Sanktionen auszustatten und als Richtschnuren für künftige Generationen zu etablieren. Unsere eigenen Verfassungen und Gesetze leiten sich unmittelbar von diesem uralten Mittel her, die rechtliche Regulierung einzufrieren, um Veränderungen zu verhindern. Sicherlich ist es richtig, daß wir uns nicht mehr auf das Übernatürliche berufen und daß die Väter unserer Verfassung klugerweise für Ergänzungs- und Interpretationsverfahren gesorgt haben, um Veränderungen zu bewältigen, aber man sollte nicht vergessen, daß die Bundesverfassung ein Regierungssystem verfestigte, das dem vorwissenschaftlichen Zeitalter entstammte, und daß die Verfassung selbst in ihre derzeitige Form gebracht wurde, lange bevor die naturwissenschaftlichen Entdeckungen irgendeine nennenswerte Veränderung in der Gesellschaft bewirkt hatten 12 • Man sollte sich desgleichen vergegenwärtigen, daß die von den Vätern der Verfassung eingerichteten Hilfsmittel zur Veränderung in der Praxis nicht besonders wirksam waren, um neue Ideen aufzugreifen. Wenn es überhaupt etwas gibt, das die Wissenschaft erwiesen hat, dann ist es das Fehlen der Korrelation zwischen dem Alter einer Idee und ihrer Geltung für irgendeinen Zweck. c) Richterliche Interpretation und Bindung an Präjudizien

Eine der Veränderungsmethoden, in die man in der Geschichte unseres Landes das größte Vertrauen gesetzt hat, war die in unserem Gerichtssystem entwickelte Interpretationstechnik; man muß aber erkennen, daß auf Grund der Natur der Rechtsprechung eine Änderung mit Hilfe von Fortbildungs- und Interpretationsverfahren nicht sehr groß sein

Atkins, a.a.O. (Anm. 4). Bacon starb im Jahre 1626. 11 Wigmore, a.a.O. (Anm. 1), Bd. I, S. 86, 104,374. 12 Siehe Lynd und Lynd, Middletown, 1929, Kap. 2; Seagte: Law, The Science of Inefficiency, 1952. 9

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1. Faktoren, die den Abstand begünstigen

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kann. überall in der Welt fühlen sich die Gerichte daran gebunden, dem geschriebenen Recht zu folgen, und innerhalb des anglo-amerikanischen Systems kranken sie an einem weiteren Hemmnis für den Wandlungsprozeß: am Grundsatz des stare decisis, der berühmten anglo-amerikanischen Regel, die dafür sorgt, daß der einmal von einem Gericht entschiedene Streitfall zu einer grundlegenden Rechtsnorm wird, die nur in den allerungewöhnlichsten Situationen geändert werden darf. Der Ursprung hierfür liegt im englischen Rechtssystem, in dem die grundlegenden Rechtsnormen durch einen geschichtlichen Zufall nicht aufgezeichnet worden waren, so daß die Gerichtsentscheidungen die einzige klare Darstellung des Rechts bildeten. Durch Standesbrauch wurde dieser Grundsatz jedoch auf die Interpretation sowohl der Gesetze als auch der Verfassungen angewendet und war so eines der größten Hindernisse auf dem Wege der Rechtsänderung, und zwar selbst im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens. In vielen Fällen, in denen eine aus alten Zeiten stammende Rechtsregel in klaren Worten eigens durch eine gesetzgeberische Maßnahme aufgehoben worden war, hat der Grundsatz der Präjudizienbindung die Gerichte immer wieder daran gehindert, der offensichtlichen Absicht der Legislative zu folgen. Einige wenige Beispiele für diese Tendenz mögen genügen. Auf dem Gebiet des Handelsrechts bestimmte das in England und in allen Staaten der USA einheitlich rezipierte Wertpapiergesetz in klaren Worten, daß ein Kredit als Valutierung gelten solle, um einem Zessionar die besonderen Rechte eines legitimierten Inhabers zu geben l3 , aber bis zum heutigen Tage weigert sich die Mehrheit der Gerichte trotz der klaren Bedeutung des Wertpapiergesetzes, den Bankkredit als Valutierung zu behandeln, und folgt damit den vor diesem Gesetz ergangenen Entscheidungen l4 . Auf dem Gebiete des Verfassungs rechts ist der Grundsatz der Präjudizienbindung in gleicher Weise dazu benutzt worden, um das Anwachsen der Bürgerrechte in der Verfassung der Vereinigten Staaten zu beschneiden. Zunächst wandten die Gerichte auf die Bill of Rights eine enge Interpretation an und entschieden trotz vieler, klarer, gegenteiliger Ausführungen, daß sie lediglich auf die Bundesregierung Anwendung fände l5 . Als dann nach dem Bürgerkrieg der 14. Zusatzartikel bestimmte: "Kein Staat soll ein Gesetz erlassen oder ausführen, das die Privilegien und Immunitäten der Bürger der Vereinigten Staaten schmälert" und damit offensichtlich auf die ersten zehn Zusatzartikel Bezug nahm, entschieden die Gerichte in der Nachfolge 13 § 27 British Bills of Exchange Act; §§ 25, 191 Uniform Negotiable InstrumentsLaw. 14 Siehe Beutel's Brannan, Negotiable Instruments Law, 1948, S. 498, und die dort aufgeführten Autoren. 15 Siehe z. B. Crosskey: Politics and the Constitution, 1953, Bd. 2, S. 1058 ff.; Rottschaeffer: Constitutional Law, 1939, S. 781, 782, 785, 800, 812, 817.

96 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen alter Urteile weiterhin, daß die vielen in den ersten zehn Zusatzartikeln garantierten Rechte nur gegenüber der Bundesregierung anwendbar seien l6 , und sie beschränkten sogar die Ausführung der Bürgerrechte durch den Bund 17 , der durch den 13., 14. und 15. Zusatzartikel ausdrücklich dazu autorisiert worden war. Auch heute noch streiten sie sich um die Frage, ob die Redefreiheit, die Pressefreiheit, die Religionsfreiheit, das Recht auf einen Geschworenenprozeß, der Schutz gegen ungerechtfertigte Durchsuchung und Beschlagnahme und einige weitere der "Privilegien und Immunitäten der Bürger der Vereinigten Staaten" allesamt außerhalb der Beschränkungsbefugnis durch Gesetze der Einzelstaaten stehen l8 . Dies sind nur zwei Beispiele für den allgemeinen Hang der Gerichte, die Ausführung der durch die Gesetzgebung angeordneten Rechtsänderung zu verweigern. Der Hang zur Bindung an Präjudizien ist so stark, daß man beinahe ohne die Gefahr eines Widerspruchs sagen kann, Gerichtsentscheidungen bleiben zwischen 30 und 100 Jahren hinter der von der Legislative mit der Annahme neuer Gesetze und Rechtsnormen verfolgten Absicht zurück. 40 Jahre waren nötig und die gesetzgeberische Zustimmung von 19 Einzelstaaten l9 , ehe die Bundesgerichte anerkennen wollten, daß gesetzliche Vorschriften über Höchstarbeitszeiten eine gerechtfertigte Ausübung staatlicher Ordnungsgewalt waren. Der gleiche Wandel in Richtung auf Mindestarbeitslöhne verlangte noch über 25 weitere Jahre, voller Gesetzgebung 20 und mit ähnlichem Kampf. Alles in allem waren nach der Annahme des Gesetzes über den Achtstundentag für Frauen in Wisconsin im Jahre 1867 21 mehr als 70 Jahre erforderlich, bis der Supreme Court endlich anerkannte, daß die Festlegung der Arbeitszeit und des Arbeitslohnes rechtsstaatlichen Grundsätzen (due process of law) entsprach 22 • Es macht kaum einen Unterschied, ob diese Einführung von Neuerungen auf dem Gebiete bedeutsamer Sozialreformen in Gestalt von Mindestarbeitslöhnen und -arbeitszeiten vor sich geht, oder ob sie sich, wie noch zu zeigen ist, auf nichtumstrittenen Ge16 Rottschaeffer, a.a.O. (Anm. 15), S. 446 ff.; über die wirkliche Bedeutung des Vierzehnten Zusatzartikels und seine Geschichte siehe Crosskey, a.a.O. (Anm. 15), Bd. 2, S. 1083 ff. 17 Siehe Edgerton: The Incidence of Judicial Control Over Congress, in: Cornell Law Quarterly, Bd. 22 (1937), S. 299, 320 ff. 18 über einen preisgekrönten Versuch, dieses Durcheinander rational zu erklären, siehe Kauper: The First Ten Amendments, in: American Bar Association Journal, Bd. 37 (1951), S. 717. 19 Siehe den Brandeis-Schriftsatz, Muller v. Oregon, 208 U.S. 412 (1908); vgl. Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905); Frankfurter: Hours of Labor and Realism in Constitutional Law, in: Harvard Law Review, Bd. 29 (1916), S. 352. 20 Siehe Stephens und Frankfurter: Schriftsatz der Verliererseite, in: Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 544 - 652 (1923); vgl. West Coast Hotel v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937); Morehead v. People, 298 U.S. 587 (1936). Siehe Powell: The Judiciality of Minimum Wage Laws, in: Harvard Law Review, Bd. 37 (1924), S. 545. 21 Wisconsin General Laws, Chapter 83 (1867). 22 United States v. Darby Lumber Company, 312 U.S. 100 (1941).

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bieten abspielt; wo es den Versuch gab, wissenschaftliche Techniken anzuwenden, stellten sich die Gerichte jeweils gewöhnlich dem von der Legislative übernommenen Fortschritt entgegen 23 • d) Gesetzgeberische Änderungen

Selbst der gesetzgeberische Änderungsprozeß ist nicht auf die sofortige übernahme neuer Ideen eingestellt. Die anglo-amerikanischen Gesetzgebungskörperschaften als solche besitzen wenig Kontinuität, denn sie hängen beinahe vollständig von der Laune der allgemeinen Wahl ab. So wie sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England verfaßt wurden 24, besitzen unsere amerikanischen Gesetzgebungskörperschaften keinen unabhängigen Forschungsapparat. Hinsichtlich des Tatsachenmaterials hängen sie fast gänzlich vom Druck der Öffentlichkeit ab, der im gesetzgeberischen Anhörungsverfahren und in verschiedenen Formen des Lobbyismus in Erscheinung tritt. Der Druck stammt in der Regel von Leuten, die etwas wollen; diese Leute zerfallen in zwei Hauptgruppen: Die einen, die durch die sozialen Verhältnisse so bedrängt werden, daß sie gezwungen sind, Änderungen zu verlangen, und zwar hauptsächlich zu eigennützigen Zwecken, und die anderen, die schon durch augenblickliche Rechtsvorschriften nachteilig betroffen sind25 • Wie das Sprichwort sagt: Geschmiert wird nur das Rad, das quietscht. Das führt häufig zu anti sozialen Kräften, wie sie etwa von Spielern, kriminellen Elementen, raubgierigen Großunternehmen und Gewerkschaften ausgehen, die die Herrschaft über die Gesetzgebungs- und Regierungsmaschinerie erringen, welche ja gerade zu ihrer Beherrschung errichtet worden ist. Wir haben kein Justizministerium, wie es in europäischen Staaten existiert26 und das vornehmlich an der Vervollkommnung der Rechts23 Die ganze Lehre von der materiell-rechtlichen Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens (doctrine of substantive due process of law) ist seit der Entscheidung Nebbia v. New York, 291 V.S. 502 (1934) heute so gut wie tot. Diese Entscheidungen waren lediglich eine Rationalisierung der Gegnerschaft des Gerichts gegen eine fortschrittliche Interpretation des Fünften und Vierzehnten Zusatzartikels. Siehe die abweichenden Stellungnahmen von HoLmes in: Baldwin v. Missouri, 281 V.S. 586, 595 (1930), und Lochner v. New York, 198 V.S. 45, 75 (1905); abweichendes Votum von BLack: Connecticut General Insurance Company v. Johnson, 303 V.S. 77, 85 (1938). 24 Vgl. HarLow, a.a.O. (Anm. 4); Atkins, a.a.O. (Anm. 4). 25 Siehe BeuteL: Pressure of Organized Interests on Legislation, in: South California Law Review, Bd. 3 (1929), S. 10. 26 Siehe Cardozo: A Ministry of Justice, in: Harvard Law Review, Bd. 35 (1921), S. 113. Selbst bis zum heutigen Tage ist wenig getan worden, um den Vorschlägen dieses großen Juristen nachzukommen. Die sogenannten legislativen Forschungsstellen, die mit vielen einzelstaatlichen Gesetzgebungskörperschaften verbunden sind, dürfen nicht mit einem Rechtspflegeministerium verwechselt werden. Die meisten von ihnen sind bloße Entwurfsabteilungen oder Einrichtungen für ständige Ausschußanhörungen während der Parlamentsferien.

7 Beutel

98 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen ordnung interessiert ist. Der Untersuchungs ausschuß des Kongresses, der seine Stelle einnehmen sollte, interessiert sich mehr für Politik und Effekthascherei als für das Aufspüren der Wahrheit. Die Forderung nach einem Wandel bedarf selbst vor dem Untersuchungsausschuß irgendeiner Art öffentlichen Druckes, der seiner Natur nach stets weit hinter den Neuerungen zurückbleibt, die von den Entdeckungen der Wissenschaft geboten wären. Selbst wenn der Wandel langsam erreicht wird, muß er Stückwerk sein. Die unendliche Auf teilung von Regierungsfunktionen bildet ein weiteres Hemmnis für Veränderungen. Die Väter der Verfassung hatten begründete Furcht vor einer zentralisierten Regierung, weil sie als Instrument unverantwortlicher Klassentyrannei genutzt werden könnte. Deshalb verhinderten sie sorgfältig die Zentralisation der Macht. Die Trennung der Gewalten innerhalb unserer Regierungen und unser mannigfaltiges Regierungssystem mit seinen über 150000 zur Rechtsetzung befugten Instanzen 27 stellen ein wirksames Hindernis für die Übernahme neuer Ideen dar. Neue Gesetze jedweder Art müssen durch tausende von gesetzgebenden Körperschaften hindurch geleitet werden, ehe sie wirksam werden können. Dies macht einen ungeheuren Gemeinsinn erforderlich, der uns schließlich dazu bringt, die Wirksamkeit des sogenannten demokratischen Verfahrens zu betrachten. e) Demokratie

Das demokratische Verfahren, das unser gegenwärtiges Regierungssystem regeln soll, ist ungeachtet dessen, was seine guten Seiten sein mögen, nicht auf eine soziale Veränderung eingestellt, die mit der Übernahme und der Anwendung wissenschaftlicher Ideen verbunden ist. Die Gründe sind Legion; hier brauchen nur einige wenige diskutiert zu werden. Das Volk als ganzes, das jeweils abstimmt und das den Kern der demokratischen Macht darstellt, steht nicht in direktem Kontakt mit dem Betrieb und der Maschinerie des Rechts. Die Menschen sind sich seiner Existenz nur bewußt zur Wahlzeit oder wenn es mit ihren Unternehmungen in Konflikt gerät oder wenn es ihnen das Mittel zur Hand gibt, etwas zu erlangen, was sie auf andere Weise nicht erreichen können. Aus diesem Grunde erfahren die Wähler etwas über die Rechtspflege und das Wirken des Rechts meist nur aus zweiter Hand und recht vage von Beamten und Rechtsanwälten, die unmittelbar an den Hebeln des Rechtsapparats sitzen. 27

Anderson: The Units of Government, in: Public Administration Service,

1934, S. 11 ff.

1. Faktoren, die den Abstand begünstigen

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Die beiden genannten Gruppen haben ein sehr erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. Sie üben die unmittelbare Herrschaft über den Rechtsapparat aus und besitzen in gewisser Weise ein Monopol für seine Bedienung. Ihr Arbeitskapital besteht in ihrer Kenntnis des gegenwärtigen Apparats und ihrer Fähigkeit, ihn für die Zwecke ihrer Klienten zu manipulieren. Änderungen der Methoden und Regeln stören sie in ihrer unangefochtenen Herrschaft und zwingen sie, neue Techniken zu erlernen, und manchmal sogar dahin, daß sie anderen Platz machen müssen. Ein Versagen beim Betrieb der Rechts- und Regierungsmaschinerie fällt unmittelbar auf Rechtsanwälte und Beamte zurück, und deshalb ist es deren Interesse, dafür zu sorgen, daß der Status quo den Wählern im besten Licht erscheine. Was die Rechtsanwälte angeht, so ist dieses Anliegen zu einer solchen Zwangsvorstellung geworden, daß selbst ein zufälliger Besucher einer Rechtsanwaltstagung nicht umhin kann, vom Umfang der Rhetorik beeindruckt zu sein, die der Lobpreisung der Rechtsordnung, der Ehrlichkeit der Richter und der Redlichkeit des ganzen Standes gewidmet wird. Der Rechtsanwalt ist auf Grund seiner Schulung gedanklich tief in der Vergangenheit verwurzelt. Der Präzedenzfall ist seine wichtigste Waffe, und die meisten führenden Rechtsanwälte vertreten Klienten, die unter dem gegenwärtigen System erfolgreich waren und deren Hauptanliegen deshalb die Erhaltung des Status quo darstellt. Hiernach überrascht es nicht, daß man die meisten Anwaltsvereinigungen in vorderster Front von Konservatismus und Reaktion findet. Die Information und den Einfluß, die sie auf die öffentliche Meinung ausüben mögen, wird man kaum jemals in Richtung auf die Rezeption neuer Vorstellungen gehen sehen, und zwar am wenigsten dann, wenn diese Vorstellungen von den Angehörigen anderer Berufsstände, etwa von Naturwissenschaftlern, herrühren. Ein allgemeines öffentliches Interesse an der Durchführung von Veränderungen, die durch wissenschaftliche Entwicklungen angezeigt sind, ist sehr schwer zu entwickeln. Dies beruht teilweise auf der Tatsache, daß der komplizierte Charakter unserer Gesellschaft viele Arbeits- und Interessenteilungen erzeugt hat. Der Durchschnittsbürger ist glücklich, wenn er die Verästelungen seines eigenen Tätigkeitsbereiches verstehen kann, ohne je zu hoffen, die neuen Entwicklungen der Wissenschaft auf anderen Gebieten in sich aufzunehmen. Die Natur der wissenschaftlichen Information ist so überaus speziell, daß es jahrelanges Studium erfordert, um ihre Bedeutung auch nur für jene Gebiete zu begreifen, die sie unmittelbar berührt. Es ist sehr schwierig für jedermann - lassen wir den Durchschnittswähler beiseite -, die soziale Auswirkung einer wissenschaftlichen Veränderung zu erfassen und die Nützlichkeit der über7·

100 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen nahme wissenschaftlicher Methoden und Erfindungen für die Unterstützung der Rechtsdurchsetzungsmaschinerie vorherzusehen. Kürzlich veranstaltete Intelligenztests und Volkszählungsangaben von 1950 zeigen, daß 87 0J0 der amerikanischen Erwachsenen nur eine HighSchool-Bildung28 oder weniger besitzen. Weitere 6 0J0 haben das College absolviert, und von der Gesamtbevölkerung sind nur 40 0J0 zu einem Hochschulstudium fähig. Von dieser Gruppe wurde nur ein Sechstel (bzw. 6 0J0 der ganzen Bevölkerung) tatsächlich hinreichend ausgebildet, um einen Bachelor-Grad29 zu erlangen30 • Diese letzte Gruppe potentieller Gelehrter kann als einzige hoffen, die Bedeutung wissenschaftlicher Entwicklungen zu begreifen oder Hilfsmittel zu konstruieren, mit denen sie für die Zwecke der Rechts- und Regierungsmaschinerie verwendet werden können. Wenn also ein hinreichendes öffentliche Interesse für die Rezeption neuer wissenschaftlicher Methoden entwickelt werden soll, so muß dieser kleine Kern, aus dem die fähigen Wissenschaftler hervorgehen 31 , die große Mehrheit davon überzeugen, sie solle ihre Zustimmung zu verschiedenen Regierungs- und Rechtseinrichtungen geben, die die überwältigende Masse der Menschen überhaupt nicht versteht. Unter solchen Umständen ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einen öffentlichen Druck zu erzeugen, der die Übernahme naturwissenschaftlicher Entdeckungen in den Rechts- und Regierungsbereich befürwortet und genügend groß ist, um die Trägheit derjenigen zu überwinden, die die Maschinerie beherrschen. f) Die Geschwindigkeit der naturwissenschaftlichen Entwicklung

Die Neuheit, Geschwindigkeit und Kompliziertheit wissenschaftlicher Entwicklungen ist der letzte und wichtigste Faktor für den Rückstand des Rechts hinter der Naturwissenschaft. Gemessen am Alter rechtlicher Einrichtungen und Verfahren, steckt die naturwissenschaftliche Methode noch in den Kinderschuhen. Mit Ausnahme ganz weniger Verwaltungsbehörden, die im 20. Jahrhundert eingeführt wurden, waren alle unsere Rechtseinrichtungen und -verfahren und unsere Regierungstechniken eingerichtet und voll entwickelt, ehe die Naturwissenschaft überhaupt irgend eine Wirkung auf die soziale Kontrolle ausübte. Dies wird recht anschaulich in der Einleitung zu "Middletown" illustriert, einer 1929 ver28 Die High School, die mit der 12. Klasse endet, ist kaum mit der deutschen Oberschule vergleichbar. 29 Der Bachelor-Grad wird regelmäßig nach dem 4jährigen College-Besuch erworben. 30 Wolfe: Intellectual Resources, in: Scientific American, Bd. 185 (September 1951), S. 42, 45. 31 Die Zahl derer, die in den Naturwissenschaften promoviert worden sind, belief sich im Jahre 1950 auf weniger als 4 000, das sind weniger als 6/1000 eines Prozentes des Bevölkerungsteils, der älter als die Promovierten war. Wolfe, a.a.O. (Anm. 30), S. 46.

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

101

öffentlichten anthropologischen Studie über eine Stadt im Mittelwesten Amerikas. Darin wird ein alter Mann beschrieben, der in Middletown lebt und in einer Zivilisation geboren wurde, die in ihren wesentlichen Zügen dem Jahre 1 n. ehr. nähersteht als dem Jahre 1929. Im Laufe des Lebens dieses einen Menschen, eines Arztes, hatten wissenschaftliche Entwicklungen die Lebensumstände und die Lebensweise völlig verändert: "Während dieses einen Menschenlebens haben die Nahverkehrsmittel das stadium von Pferd und Wagen verlassen, die schon zu Homers Zeiten verwendet wurden; das Getreide wurde im Lande nicht mehr wie in den Tagen Ruths mit der Sichel gemäht, und das Dreschen verrichteten nicht mehr stampfende Pferde oder Dreschflegel auf der Tenne; die Mehrheit des amerikanischen Volkes hörte auf, ihren Lebensunterhalt unter demselben Dach zu verdienen, unter dem sie ihre Wohnung hatte; Bildung war nicht mehr länger ein für wenige erreichbarer Luxus; auf seinem eigenen Arbeitsbereich, der Medizin, haben Röntgenstrahlen, Narkotika, Asepsis und weitere Entwicklungen damit begonnen, die Heilkunst zu einer Wissenschaft zu machen; Elektrizität, Telefon, Telegraph und Radio traten in Erscheinung und die Evolutionstheorie erschütterte die theologische Kosmogonie, die jahrhundertelang geherrscht hatte 32." Heute werden wissenschaftliche Fortschritte mit noch höherer Geschwindigkeit erzielt. Die Zahlen des Patentamtes zeigen, daß seit 1907 zweimal soviele Erfindungen registriert worden sind wie in der ganzen Geschichte des Patentamtes von der Gründung der Republik bis zu jener Zeit33 • Diese Erfindungen und Entdeckungen werden wieder in den wissenschaftlichen Prozeß zurückgeleitet, wo jede Neuerung unzählige weitere Veränderungen der wissenschaftlichen Methoden und Techniken erzeugt. Neue, wunderbare Apparate, Elixiere zur Heilung von Krankheiten und phantastische Veränderungen der Produktion, Verteilung und Beförderung erscheinen im Verein mit entsprechenden Veränderungen der Lebensweisen in immer schnellerem Tempo. Riesige private und staatliche Forschungsorganisationen werden betrieben und geben Milliarden von Dollar aus, um diesen wissenschaftlichen Wandel zu verstärken. 2. Die Verzögerung bei der Vbernahme wissenschaftlicher Methoden durch die Rechtsordnung Im Gegensatz zu den zahlreichen Institutionen und Organisationen, die zur Beschleunigung der wissenschaftlichen Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben des Menschen eingerichtet worden sind, Lynd und Lynd, a.a.O. (Anm. 12), S. 10. Eines der Patente, die Bliss für seine Eisenbahnblocksignale 1907 erteilt wurden, trug die Nummer 861.015. Bis zum Juni 1952 überschritt die Zahl der ausgegebenen Patente die Zahl 2 600000. Siehe: Annual Report of Commission of Patents, 1951, S. 6. 32

33

102 5. Kap.: Zeit abstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen gibt es - wenn überhaupt - nur wenige Einrichtungen und organisierte Anstrengungen, die der Rechtsordnung diese ungeheure Ansammlung wissenschaftlicher Daten zur Verfügung stellen, um sie zum Vorteil des öffentlichen Ganzen zu nutzen. Aufgrund all der Unzulänglichkeiten unserer Rechtsordnung muß man daher erwarten, daß sie die Entwicklungen der Wissenschaft nur langsam auf ihre Zwecke einstellen werde. Obwohl dies vom Wesen ihres Aufbaus her offensichtlich ist, scheinen wenige Leute das Ausmaß zu erkennen, in dem das Recht versagt hat, die wissenschaftliche Information aufzugreifen, welche zur Erreichung seines Zweckes verwendet werden könnte. Ein vollständiger Katalog aller Fälle dieser Verzögerung ist nicht möglich, denn er würde die Sammlung aller wissenschaftlichen Entwicklungen erfordern - eine Aufgabe, die das Vermögen jedes menschlichen Gremiums oder jeder Institution überschreitet. Einige Beispiele für diese allgemeine Tendenz werden jedoch ausreichen, um die Schädlichkeit dieses schockierenden Rückstandes zu zeigen und seine gefährlichen Auswirkungen auf das Gemeinwohl darzulegen. Die ansehnlichsten Entwicklungen hinsichtlich der staatlichen Kontrolle und der Verwendung wissenschaftlicher Information befinden sich, wie in den Kapiteln VI und VII dargelegt, auf denjenigen Gebieten, in denen Rechtsetzungsmacht und Zwang einschließlich der Befugnis zum Experiment auf Instanzen mit großem Forschungspotential und beträchtlichen Geldmitteln delegiert worden sind; es mag indessen interessant sein, die Langsamkeit zu untersuchen, mit der die Wissenschaft selbst diese Gebiete durchdringt.

a) Die Gesetze im öffentlichen Gesundheitswesen Einer der größten (in Kapitel VII noch weiter diskutierten) Fortschritte findet sich im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens. Hier gibt es gut organisierte Studien- und Forschungseinrichtungen zur Entwicklung wissenschaftlicher Daten und zahlreiche Regierungsstellen, die die Übernahme wissenschaftlicher Daten für den Gebrauch der Rechtsordnung fördern. Beinahe jede Regierungsstelle, die irgendwie in diesem Lande dafür zuständig ist, hat eine Art Beamten für das öffentliche Gesundheitswesen, dessen Pflicht es ist, medizinische Erkenntnisse für die Erhaltung der Volksgesundheit auszuwerten. Die meisten medizinischen Fakultäten veranstalten Kurse darüber, und es gibt sogar einige Anstalten, die sich ausschließlich mit öffentlichem Gesundheitswesen beschäftigen. Dennoch sind die Fälle des Abstandes zwischen dem medizinischen Wissen und seiner Verwendung im Rahmen gesetzlicher Vorkehrungen und Maßnahmen zum Schutze der Volksgesundheit kennzeichnend und erschreckend. Einige Beispiele aus Gebieten, in denen die Wissenschaft

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

103

große Fortschritte bei der Durchdringung des Rechtsapparates gemacht hat, sind recht instruktiv. Die Impfung zur Pockenbekämpfung ist eines der ältesten, wirksamsten und am weitesten verbreiteten Mittel zur Erhaltung der Volksgesundheit. Vor der Vervollkommnung der Impfung waren die Pocken eine der tödlichsten Geißeln der Menschheit; ungefähr 6 Ofo ihrer Opfer verloren das Leben, und nur wenige Menschen entgingen ihr 34• Obwohl die erste wissenschaftliche Entdeckung und Veröffentlichung über die Impfung in Europa neun Jahre nach der Annahme der amerikanischen Bundesverfassung stattfand35 , blieb die Wirkung dieser Krankheit so fürchterlich, daß man dringend jede mögliche Hilfe forderte. Im Jahre 1810 erschienen in Massachusetts Gesetze, die zur Impfung auf Staatskosten berechtigten36 , nur zwölf Jahre nachdem Jenner seine Abhandlung über diesen Gegenstand in England veröffentlicht hatte und zehn Jahre nach den ersten Experimenten in den Vereinigten Staaten37 • Fast unmittelbar folgte ein Bundesgesetz38 , das den Regierungen der Einzelstaaten auf Wunsch eine Zusammenarbeit bei der Impfung anbot 39 • 1855 wurde die Impfung in Massachusetts obligatorisch 40 • Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erklärte sie, allerdings erst nach der Wende zum 20. Jahrhundert, für verfassungsmäßig 41 , zu einer Zeit, als zahlreiche Staaten ähnliche Vorschriften wie Massachusetts in Kraft gesetzt hatten42 • Obwohl heute die Wirksamkeit der Impfung über jeden Zweifel erhaben ist, obwohl jeder Staat des Bundes die Öffentlichkeit irgendwie gegen Pocken schützt, und obwohl es die wissenschaftlichen Mittel gibt, diese Krankheit von der Erde verschwinden zu lassen, und zwar hauptsächlich durch Anwendung von Quarantäne und Impfung, hinkt das Recht weit hinter der Wissenschaft her. Es gibt immer noch sechs Staaten, in denen gesetzliche Bestimmungen gegen Zwangsimpfungen bestehen, und zwar selbst bei drohenden Epidemien 43 • Es bedürfte einer gesonder34 Rehberger: Lippincott's Reference Book of Medical Science, 11. Auf!. 1940, S. 512; Steadman Reference Book of Medical Science, 3. Auf!. 1947, S. 782. 35 Jenner: In Inquiry into the Causes and Effects of the Varioulae Vaccurae, 1798; Clendening: A Source Book of Medical History, 1942, S. 291. 38 Massachusetts Laws, Kap. 116, § 204 (1808 - 1812). 37 Siehe Clendening, a.a.O. (Anm. 35), S. 301 - 305. 38 Statutes, Bd. 2, 806 (1813). 39 Siehe z. B. Virginia Laws, Kap. 14, § 43 (1813 - 1814). 40 Massachusetts Laws, Kap. 414, § 812 (1854 - 1855). 41 Jacobson v. Massachusetts, 197 U.S. 11 (1905). 42 Siehe Lawyer's Reports Annotated, Bd. 25 (1894), S. 152 (Anm.); ebd. n. F. Bd. 17 (1909), S. 709 (Anm.). 43 Arizona Code Annotated, § 68-307 (1939); Minnesota Statute Annotated, § 144.12 (9) (West 1947); North Dacota Revised Code, § 23-0717 (1943); South Dacota Code § 27.2201 (1939); Utah Code Annotated § 26-5-10 (1953); Washington Revised Statute Annotated § 4805 dreizehntens (1932).

104 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen

ten Abhandlung, um auch nur eine grobe übersicht über die Gesetze und Vorschriften der Staaten und Ortsbehörden zu bieten, die sich mit Pockenkontrolle und -impfung beschäftigen. Die Gesetze der einzelnen Staaten variieren auf der ganzen Breite, angefangen von solchen, die die Zwangsimpfung für alle Bürger oder als Voraussetzung des Schulbesuches verlangen, über verschiedene Grade des Verwaltungsermessens auf unterschiedlichen Bereichen, bis hin zu solchen, die die Zwangsimpfung untersagen44 • Drei Staaten scheinen überhaupt kein einschlägiges Gesetz zu besitzen45 • Es hat unzählige statistische Untersuchungen gegeben, die beweisen, daß das Auftreten dieser Krankheit direkt proportional zur Strenge der Gesetze oder der Verordnungen abnimmt, die die Impfung vorschreiben46 • In Deutschland, wo die Zwangsimpfung für das Militär 1845 und für die Zivilisten 1875 angeordnet wurde, ist die Krankheit praktisch verschwunden47 • All diesen wissenschaftlichen Beweisen zum Trotz gibt es jedoch immer noch viel rührige Opposition gegen die Impfung, und zwar nicht nur unter den Anhängern der Christlichen Wissenschaft und anderer religiöser Sekten, sondern auch bei vielen anderen, von denen einige sogar scheinbar unter der Flagge der Wissenschaft segeln. Eine sorgfältig durchgeführte Meinungsbefragung ergab kürzlich 48 , daß 18 Ofo der Mütter die Impfung "schlimmer als die Krankheit selbst" fanden; 24 % der Befragten wußten nicht oder glaubten nicht daran, daß eine Impfung die Pocken verhindern konnte. Obwohl die Ärzte die Säuglingsimpfung anraten, weigerten sich 35 Ofo der Mütter, ihre Kinder vor dem Schulbesuch impfen zu lassen, und 60 Ofo der Bevölkerung erklärten, daß die Impfung Pocken nicht verhindern könnte, glaubten aber, sie sei in der Lage, die Krankheit abzuschwächen. Obgleich sich eine ermutigende Tendenz zeigt, die Regelung und Durchsetzung der Impfung und anderer Sicherungen gegen ansteckende Krankheiten auf kompetente wissenschaftliche Gremien zu übertragen, hat diese gegenläufige öffentliche Meinung, die von einer entschiedenen C4 Siehe Fowler: Principal Provisions of Small-pox Vaccination Laws and Regulations in the United States, U.S. Public Health Report Bd. 56 (1941), S. 167; vgl. Fowler: Small-pox Vaccination Laws, Regulations and Court Decisions, U.S. Public Health Report Supplement Nr. 60 (1927); Ravenscroft und Solomon: Vaccinations, Sm all-po x and the Law - An Experiment in Scientific Jurisprudence, in: Nebraska Law Review, Bd. 32 (1953), S. 547, 552 ff. 45 Delaware, Nevada, Oklahoma; Ravenscroft und Solomon: ebd. (Anm. 44),

S. 547, 555.

48 Siehe z. B. Ravenscroft und Solomon, a.a.O. (Anm. 44), S. 547; Force und Leak: Small-pox in Twenty States 1915 - 1920, in: Public Health Report, Bd. 36 (1921), S. 1979; Hampton: State Vaccination Laws and Regulations, in: Public Health Report, Bd. 58 (1943), S. 1771; Steadman: Reference Handbook on Medical Sciences, 3. Aufl. 1917, S. 371. 47 Steadman, a.a.O. (Anm. 46). 48 Siehe Byrd: Health Instruction Yearbook, 1943, S. 106.

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

105

Gruppe von Fanatikern aufgestachelt wird, die Schwächung der Durchsetzung der Zwangsimpfungsgesetze zur Folge. In den sechs Staaten, in denen die Befugnis der Behörden zur Durchsetzung der Impfung einer Beschränkung unterliegt, hat sie praktisch die Aufhebung oder Aufweichung der Gesetze bewirkt. Zum Beispiel wurde das Gesetz über die Zwangsimpfung in Arizona durch eine Gesetzesinitiative des Volkes aufgehoben 49 • In Utah wurde eine solche Aufhebung gegen den Einspruch des Gouverneurs durchgesetzt50 , und in den übrigen vier Staaten wurde die zuvor gegebene Befugnis der Behörden, die Impfung zwangsweise durchzusetzen, im Wege des gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahrens beseitigt51 • Es wäre eine viel umfassendere Übersicht, als sie hier möglich ist, notwendig, um festzustellen, ob die Impfgesetze und ihre Durchsetzung im ganzen überall im Lande gelockert werden. Diese besonderen Fälle zeigen jedoch, daß die allgemeine Opposition und Unwissenheit bezüglich wissenschaftlicher Tatsachen leicht alarmierende Ausmaße erreichen könnte. Daß eine derartige Situation in den Vereinigten Staaten bestehen kann, wo es immer noch Pocken gibt trotz der Tatsache, daß wissenschaftliche Methoden zu ihrer völligen Ausrottung vorhanden sind, verlangt ernsthafte Überlegungen. Obwohl die Gesundheitsbehörden ständige Fortschritte in der Beseitigung der Pocken mittels Quarantäne, Zwangsvorschriften und Überredungen gemacht haben, gibt es noch viele Gegenden in diesem Lande, wo diese Krankheit fortbesteht und wo die latenten Möglichkeiten einer Epidemie gegenwärtig sind. In Idaho und Nevada, die keine Zwangsimpfungsgesetze haben, gab es zwischen den Jahren 1945 und 1950 jährlich einen Krankheitsfall auf 100000 Menschen der Bevölkerung 52 • Im Staate Pennsylvania gab es im Jahre 1943, vor kurzer Zeit also, einen Ausbruch der Krankheit, die von außerhalb des Staates eingeschleppt worden war; nach einer Untersuchung ergab sich, daß alle Betroffenen bis auf fünf nicht geimpft waren und daß bei den Ausnahmen alle Impfungen über 30 Jahre alt waren 53 • Trotz der Tatsache, daß die Wissenschaft ohne Zweifel die Mittel zur vollständigen Ausrottung der Pocken besitzt, und obwohl hier eines der erfolgreichsten Tätigkeitsbereiche der öffentlichen Gesundheitspflege liegt, befinden sich die Gesetze mehrerer Staaten immer noch in einem Arizona Laws (Referendum and Initiative), § 21 (1919). Utah Laws Kap. 18 § 15 (1901); vgl. State v. Board of Education of SaH Lake City, 21 Utah 401, 60 Pacific 1013 (1900). 51 Siehe Minnesota Laws; Kap. 299 (1903); vgl. Note, Minnesota Law Review, Bd. 8 (1924), S. 453. Siehe North Dacota Laws, Kap. 236 (1919); South Dacota Laws, Kap. 223 (1903); Washington Laws, Kap. 90, § 9 (1919). über dieselbe Tendenz siehe Massachusetts Law, Kap. 337 (1908), wodurch die Zwangsimpfungsgesetze z. T. wieder aufgehoben wurden. 52 Ravenscroft und Solomon, a.a.O. (Anm. 44), S. 547, 563. S3 U.S. Public Health Report, Bd. 58 (1943), S. 359. 49

50

106 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen Zustand, der künftige Epidemien weiterhin ermöglicht. Es sieht ganz so aus, als ob Gesetzgeber, Verwaltungsbeamte und Öffentlichkeit, die die Angst vor Epidemien verloren haben, nachlässiger werden und so die Erkenntnisse der Wissenschaft immer mehr vernachlässigen. Die Versetzung des Trinkwassers mit einem Fluorid zur Verhütung der Zahnkaries ist eine der neueren Entdeckungen der Wissenschaft und bietet zugleich ein gutes Beispiel dafür, was mit der Experimentellen Rechtswissenschaft erreicht werden kann. Zahnärzte und Forschungswissenschaftler haben erstmals ungefähr 1928 angefangen, die Beziehung zwischen den Zahnschmelzflecken auf Kinderzähnen und der Zahnkaries zu entdecken. Eine nähere Untersuchung dieses Phänomens ergab, daß Kinder mit Flecken auf ihren Zähnen ein deutliches Ausbleiben des Zahnverfalls aufwiesen. Etwa 1939 wurde die Hypothese entwickelt, daß Fluorlösungen im Trinkwasser sowohl für die Zahnflecken als auch für die Reduzierung der Zahnkaries verantwortlich waren 54 • Eine weitere Prüfung dieser Theorie ergab, daß in den Vereinigten Staaten ungefähr 1400 Gemeinden existieren, in denen die öffentliche Wasserversorgung mehr als eine Spur gelöster Fluorid-Verbindungen enthielt. Der Anteil derartiger Lösungen variierte von einem halben bis zu fünf Milligramm Fluorid-Verbindungen auf einen Liter Wasser. Wie Tabelle 1 zeigt, erwies eine Untersuchung des Zahnverfalls in diesen Gebieten, daß sich eine erkennbare Fleckenbildung nur dann ereignete, wenn mehr als 2 Milligramm Fluorid-Verbindungen auf einen Liter Wasser vorhanden waren, daß sie aber fast vollständig fehlte, wenn der Lösungsanteil unter dieser Menge lag 55 • Eine konkrete Untersuchung des Zahnverfalls bei Kindern (dargelegt in Tabelle 1) in verschiedenen Städten, deren Trinkwasser natürliche Fluoride enthielt, zeigte, daß dort, wo es ungefähr 1,2 mg Fluorid-Verbindungen in einem Liter Wasser gab, keine Fleckenbildung auf den Zähnen auftrat und daß die Zahl der verfallenden Zähne in diesen Gebieten am niedrigsten war 56 • Ein Vergleich zwischen den Städten Madison (Wisconsin) und Colorado Springs (Colorado), dargestellt in den Tabellen 2 und 3, erweist, daß sich der Vorteil des Fluorgehalts auf alle Altersgruppen erstreckt. 54 Dean: Epidemological Studies in the Uni ted States in Dental Caries and Fluorine, 1946, S. 5 ff. 55 In bezug auf die geographische Verteilung dieser Gebiete siehe American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952, S. 2. 56 Vgl. Ca.rr: Dentistry, An Agency of Health Service, 1946, S. 157 ff. und die dort aufgeführten Autoren.

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

107

Tabelle 1

Das Verhältnis zwisclten der Zahngesundheit und den Fluoriden im Trinkwasser

Städte

Zahl der untersuchten Kindera)

v. f. g.b)

Colorado Springs, Colo..... Galesburg, Ill .............. Elmhurst, Ill ............... Joliet, Ill. . ................. East Moline, Ill. Aurora, 111................. Maywood, Ill ............... Kewanee, 111............... Pueblo, Colo ............... Elgin, Ill. .................. Marion, Ohio .............. Lima,Ohio ................ Middletown, Ohio ........ . Zanesville, Ohio ........... Quincy, Ill................. Portsmouth, Ohio .......... Elkhart, Ind. Michigan City, Ind ......... Evanston, 111. . ............. Oak Park, Ill............... Waukegan, 111. ........... .

404 273 170 447 152 635 171 123 614 403 263 454 370 459 330 469 278 236 256 329 423

246 236 252 323 303 281 258 343 412 444 556 652 703 733 706 772 823 1037 673 772 810

0

0

••••••••••

•••••••••••••

FluorbeAuftreten von Zahnstandteil des Wassers flecken mg/l c ) schwach schwach

........

Grenzfälle

........ ........ ........

negativ

........ ........ ........

negativ

........ ........ ........ ........

2,6 1,9 1,8 1,3 1,2 1,2 1,2 0,9 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,0 0,0 0,0

a) Die untersuchten Kinder gehllrten zur Altersgruppe der 12- bis 14jährigen und hatten alle stets in dem bestimmten Bezirk gewohnt. b) "v. f. g." bedeutet die Zahl der verfallenen, fehlenden oder gefüllten bleibenden Zähne bei 100 untersuchten Kindern. c) "mg/I" bedeutet Milligramm Fluorid auf einen Liter Wasser. QueUe: Gesundheitsministerium des Staates Nebraska, Abteilung für Zahngesundheit.

Tabelle 2

Vergleichende Untersuchung über Zahnverlust und ZahnverfaII bei 3 358 Personen Colorado Springs, Colo. 2,6 Fluor mg/l und andere Bezirke mit hohem Fluorgehalt

Älter

10-14 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

Madison, Wisconsin 0,05 Fluor mg/l und andere Bezirke mit gering. Fluorgeh.

durchschnittliche durchverAnzahl der schnittgeverfallenen, liche Anunter- Anzahl fallene zogene fehlenden zahl der suchte ohne und Anzahl Zahn- gefüllte Zähne und gefüllten gezogenen bleibenden Zähne verfall Zähne Zähne pro Person pro Person

479 848

294 34

481 5600

1,10 7,07

45 389

0,09 0,46

Sechsmal soviel Verfall pro Person fünfmal soviel gezogene Zähne pro Person 15-19 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

372 310

161 4

690 3604

2,05 12,97

73 415

0,20 1,34

-----

Sechsmal soviel Verfall pro Person siebenmal soviel gezogene Zähne pro Person 20-24 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

108 265

36

o

259 4698

2,51 17,69

13 746

0,12 2,82

Siebenmal soviel Verfall pro Person dreiundzwanzigmal soviel gezogene Zähne pro Person 25-29 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

95 174

20

o

19 867

367 2308

4,01 18,29

0,20 4,92

Viermal soviel Verfall pro Person vierundzwanzigmal soviel gezogene Zähne pro Person 30-34 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

54 117

11

o

204 1698

4,16 20,09

21 654

----------------------------------------------

0,39 5,58

-----

Fünfmal soviel Verfall pro Person vierzehnmal soviel gezogene Zähne pro Person

35-39 Hoher Fluorgehalt Jahre geringer

43 115

8

o

162 1446

17 846

----------------------------------------------

0,39 7,36

4,17 19,93

-----------

Fünfmal soviel Verfall pro Person neunzehnmal soviel gezogene Zähne pro Person

40 J. Hoher Fluorgehalt u. ält. geringer

78 300

10

o

452 2710

54 3679

6,49 21,29

0,70 12,26

Dreimal soviel Verfall pro Person siebzehnmal soviel gezogene Zähne pro Person (Die dritten Backenzähne sind ausgenommen) Frederick S. McKay, D.D.S. Colorado Springs, Colorado

october 1949

John G. Frisch, D.D.S. Madison, Wisconsin

QueUe: Gesundheitsministerium des Staates Nebraska, Abteilung für Zahngesundheit.

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtoordnung

109

Tabelle 3

Vergleich zwischen der Widerstandsfähigkeit gegen Zahnkaries in Colorado Springs, Colorado, mit einem Fluorgehalt von 2,6 mg/I, und Madison, Wisconsin, mit weniger als 0,05 mg/I Fluorgehait

.--------------------------------------------Altersgruppen

10-14 Jahre ................ 15-19 Jahre ................ 20-24 Jahre .. , .......... . .. 25-29 Jahre ........ . ....... 30-34 Jahre ................ 35-39 Jahre ................ 40 Jahre und älter ..........

d urchschni ttliche v. f. g.a)

Durchschnittszahl der gezogenen bleibenden Zähne pro Person

Madison

Colorado Springs

Madison

Colorado Springs

7,1 12,9 17,6 18,3 20,1 19,9 21,3

1,1 2,1 2,5 4,0 4,2 4,2 6,4

0,46 1,34 2,82 4,92 5,58 7,36 12,26

0,09 0,20 0,12 0,20 0,39 0,39 0,70

a) v. f. g. bedeutet verfallene, fehlende oder gefüllte bleibende Zähne pro Person. QueUe: Gesundheitsministerium des Staates Nebraska, Abteilung für Zahngesundheit.

In Madison, wo dem Wasser Fluoride fehlen, waren die Zerfallsschäden sechsmal so groß wie in Colorado Springs, dessen Wasser mehr als den optimalen Anteil enthielt. Nach diesen Entdeckungen im Jahre 1943 unterbreitete Dean, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, der Amerikanischen Wasserwerke-Vereinigung den Vorschlag, man solle dem Wasser bestimmter Städte Fluorid-Verbindungen zusetzen, um den Zustand der Zähne der Bevölkerung zu verbessern 57 • Die von Dean vorgeschlagenen kontrollierten Experimente mit Fluorid-Zusätzen zur Trinkwasserversorgung wurden in einer Anzahl weit verstreuter Staaten durchgeführt, unter anderem in Wisconsin, New York, Michigan, Texas und Idaho. Vorangegangene und nachfolgende Untersuchungen des Zahnzustandes bei Kindern sowie Vergleiche hinsichtlich des Zahnverfalls zwischen Städten, in denen die Experimente ausgeführt wurden und Kontroll-Städten, die bis auf den Fluorid-Zusatz zum Wasser unter ähnlichen Bedingungen arbeiteten, haben gezeigt, daß der Prozentsatz der kariesfreien Zähne bei Kindern von 50 auf 300 Ofo stieg und daß die Zahl der verfallenden oder fehlenden Zähne von 65 auf 23 Ofo fiel, weil das Wasser mit Fluorverbindungen versetzt worden war 58• 57 Wolman: Fluorine and Public Water Supply, Fluoride Ingestion, 1946. S.108,110. 58 Finn und Chase: Journal of the American Dental Association, Bd. 42 (1952), S. 188; Cox und Ast: Water Fluoridation, in: American Water Works Association Journal, Bd. 43 (1951), S. 642; Dean, Arnold und Knutson: Studies on Mass Control of Dental Ca ries, U.S. Public Health Report, Bd. 65 (1950), S. 1403.

110 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen Darstellung 1

Prozentsatz der ersten bleibenden und gesunden Backenzähne bei Kindern, die in einer Stadt wohnten, deren Wasser mit Fluoriden versetzt worden war, und bei Kindern, die in einer nahegelegenen Stadt mit ftuoridfreiem Wasser lebten 1. Jahr

••••••••••• •••••••••••

2. Jahr

••••••••••• ••••••••••• ••••

3. Jahr

•••••••• ··········1···········

4. Jahr

••

...........,........... •••••••• 50%

55%

60%

65%

70%

75%

- - - - Stadt mit fluoridhaltigem Wasser ********** Kontrollstadt

Darstellung 2

Verfallene, fehlende und gefüllte Zähne je Kind in einer typischen Stadt mit einem TrinkwasserFluoridgehalt von 1,2 mg auf 11 Wasser und in einer Stadt mit ftuoridfreiem Wasser Alter 5 6 7

8

9

10 11

12

•• •••

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I

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

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Die Skizzen in den Darstellungen 1 und 2 geben graphisch eine grobe Zusammenfassung aller dieser Experimente wieder, die von der Amerikanischen Zahnärzte-Vereinigung zusammengestellt worden sind59 • Als Ergebnis dieser Vorgänge, die Zahnforschung mit rechtlichen Experimenten verbanden, indem sie die Hinzufügung von Fluorid-Verbindungen zum Wasser genehmigten, wurde festgestellt, daß das beste Verfahren zur Verringerung des Zahnverfalls in der Herstellung eines Anteils von ungefähr 1,2 mg Fluoriden auf einen Liter Wasser liegt. Dieses Projekt wird heute uneingeschränkt von der Amerikanischen Zahnärzte-Vereinigung und von zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften empfohlen, und zwar nicht nur im Bereich der Zahnmedizin, sondern auch von der allgemeinen Medizin, der Krankenpflege und vielen verwandten Berufen60 • Es besteht jetzt der Beweis, daß eine geeignete Versetzung des öffentlichen Trinkwassers mit Fluoriden den Zahnverfall am Ende um etwa 65 G/o verringert, und die wissenschaftliche Literatur, die diese Folgerung unterstützt, ist unüberschaubar 61 • Die Opposition gegen die Fluoridierung rekrutiert sich wie im Falle der Pocken aus religiösen Sekten, aus einigen Ärzten, die von verstaatlichter ärztlicher Fürsorge und von Sozialismus reden und aus diversen anderen Gruppen. Es wurden viele Einwände wegen angeblicher Gefahren der Fluoridierung erhoben; sie umfassen etwa 25 bis 30 Argumente, so etwa: der Fluorzusatz erzeuge spröde Knochen und verstärke Krebs, Herzkrankheiten und dergleichen mehr 62 • Jede dieser Behauptungen wurde sorgfältig in denjenigen Gemeinden geprüft, in denen Fluorid-Verbindungen im Wasser vorkommen, und jede einzelne erwies sich als absolut unbegründet. Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Fluoridierung des Wassers in irgendeiner Weise schädlich ist, und es besteht die überwältigende Gewißheit, daß sie in allen derzeitigen Anwendungsgebieten eine ungeheure Wohltat für die Zahngesundheit sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen darstellt. American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952. Unter ihnen befinden sich: American Dental Association; American Medical Association; American Water Works Association; American Public Health Association; National Research Council; United States Public Health Service; State and Territorial Health Officers Association; American Association of Public Health Dentists and the Inter-Association Commission on Health of the American Dental Association; American Hospital Association; American Nurses Association und die American Public Welfare Association; American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952. 61 Siehe z. B. American Dental Association, Fluoridation in the Prevention of Dental Ca ries 1951, und das Sachregister der Dental Periodical Literature 1949 - 51, unter "Fluoriden". Ferner siehe Rhyne und Mullin: Fluoridation of Municipal Water Supply, 1952, und die dort aufgeführten Autoren. 82 American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952. 59

80

112 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen Die Kosten der Fluoridierung sind sehr niedrig. Die jährliche Erfahrung einer Anzahl Städte zeigt, daß die Kosten für die Einrichtung und Erhaltung eines geeigneten Systems zur Fluoridierung zwischen 3 und 12 cents pro Kopf und Jahr betragen63 • Die Ausgaben für eine lebenslange Fluoridierung des Wassers, welche eine erwartungsgemäße Reduzierung von ungefähr zwei Dritteln der Zahnkaries bei allen Einwohnern bewirkt, die das Wasser trinken, wären folglich geringer als die Kosten jedes Patienten für einen einzigen Zahnarztbesuch. Die Fluoridierung kann eine gewaltige Verbesserung der individuellen Gesundheit und ungeheure Ersparnisse bei Zahnarztrechnungen erreichen. Der Vorrat an löslichen Fluoriden, die im Wasser zu verwenden sind, ist genügend groß. Narrensichere Maschinen zur Herstellung geeigneter Lösungen sind bereits erfunden worden 64 . Folglich scheint es in jeder Hinsicht vernünftig zu sein, daß die Wasserwerke zu einer Fluorbehandlung verpflichtet werden sollten. Die Gesetzesmaschinerie befindet sich in bezug auf die Übernahme der Fluoridierung in genauso erheblich divergentem Zustand wie bei der Pockenkontrolle. Gesetze zur Einrichtung öffentlicher Wasserwerke waren schon erlassen, bevor die moderne Chemie die Mittel zur künstlichen Reinigung durch Fluoridierung, Chlorierung oder durch andere Verfahren solcher Art ersonnen hatte. Tatsächlich geht die Einrichtung öffentlicher Wasserversorgungen bis in jene Zeit zurück, in der die Menschen in Städten und Dörfern zusammen zu leben begannen. Die Kontrolle über die allgemeine Wasserversorgung ist heute in Amerika rechtlich einer Anzahl verschiedener Verwaltungsgremien übertragen. In einigen Fällen wird die öffentliche Wasserversorgung von privaten Gesellschaften unter der Kontrolle einer Kommission für öffentliche Versorgungsbetriebe durchgeführt oder von privaten Gesellschaften, die zusammen mit örtlichen Behörden Konzessionsinhaber sind; beide Möglichkeiten kommen auch zusammen vor 65 • In anderen Fällen wird die Wasserversorgung unmittelbar von örtlichen Behörden durchgeführt und betrieben; sie wird durch ein staatliches Gesetz errichtet, das verschiedene Kontrollinstanzen der Regierung in verschieden eingestuften Städten des ganzen Staates vorsieht66 • Die Befugnis, dem 63 Maier: Fluoridation of Water Supplies, in: American Water Works Association Journal, Bd. 42 (1950), S. 1120; Blayney und Tucker: Evanston Dental Caries Study, in: Journal of Dental Research, Bd. 27 (1948), S. 279, 286; Zufelt: Sheboygan Experience with Fluoridation of Drinking Water, in: American Water Works Association Journal, Bd. 42 (1950), S. 839; American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952. M Smith: Fluoridation as Practiced at Madison, Wisconsin, in: Water and Sewage Works, Bd. 96 (1949), S. 125. e5 Siehe z. B. New York Public Service Law § 89c (McKinney, 1939). 66 Siehe Wisconsin Statute § 66.071 ff. (1947).

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Wasser Chemikalien zuzusetzen, kann dem Gemeinderat, den Beauftragten für Wasserangelegenheiten oder den Beamten des Gesundheitsamtes zustehen, aber in fast allen Fällen ist die Zustimmung des staatlichen Gesundheitsamtes erforderlich, ehe eine endgültige Maßnahme getroffen werden kann 67 • Die Einführung eines derartigen Programms kann also den zuständigen Beamten oder einem Gemeinderat überlassen sein; in manchen Fällen muß sie durch einen Volksentscheid angeordnet werden, der der Zustimmung des staatlichen Gesundheitsamtes unterliegt. Die Gesundheitsämter sind ihrerseits eine neuartige Erscheinung, der man auf nationaler, einzelstaatlicher und lokaler Ebene begegnet. Die meisten von ihnen traten erst nach dem Bürgerkrieg in Erscheinung 6B • Das Staatliche Gesundheitsamt 69 , der heutige Öffentliche Gesundheitsdienst, wurde im Jahre 1879 eingeführt; er bietet im Bereich der Reinigung sowie der Fluoridierung des Wassers wertvolle Ratschläge an. Die meisten Staaten haben irgendeine zentralisierte öffentliche Gesundheitsbehörde, die Verordnungen und Durchführungsbestimmungen hinsichtlich der Wasserversorgung des ganzen Staates erläßt, aber viele haben Gesetze, die bestimmen, daß Gemeinderäte und örtliche Gesundheitsbehörden von der staatlichen Zentralbehörde mehr oder minder unabhängig sind 70 • Man muß unterscheiden zwischen der Wasserreinigung wie der Chlorierung und der Anreicherung des Wassers mit gewissen wertvollen Feststoffen, wofür die Fluoridierung ein sehr gutes Beispiel ist. Die Chlorierung begann in der öffentlichen Wasserversorgung ungefähr im Jahre 1910 71 , und viele seither erlassene Gesetze sorgen ausschließlich für Reinigungsverfahren 72 • Da aber die Fluoridierung kein Reinigungsverfahren darstellt, steht eine Reihe rechtstechnischer Hindernisse allen Maßnahmen zur Versetzung des Wassers mit Fluoriden im Wege. Da gibt es das Problem der rechtlichen Befugnis, dem Wasser für andere Zwecke als für die Reinigung Chemikalien beizugeben. Ferner gibt es da die Schwierigkeit der aufgeteilten Kompetenzen. Die Einführung der Fluoridierung setzt also voraus, daß man die staatlichen Gesundheitsbehörden, die Gemeinderäte, die zuständigen Beamten und die Wählerschaft jeweils einzeln oder mit anderen zusammen dafür gewinnt. Wo die staatlichen Gesundheitsbehörden befugt sind, die Ent67 New York Public Health Law § 70 (McKinney, 1943); New Jersey Statute Annotated § 58, 11-13 (West, 1940); Pennsylvania Statute Annotated, 53 § 8732, 9673 (Purdon, 1938); Wisconsin Statute §§ 140.05 (3), 140.05 (7), 162.03 (b) (1947). 68 Siehe z. B. New York Laws, Kap. 534 (1885). Siehe Encyc10pedia Britannica, 13. Auf!. 1926, Bd. 22, S. 628, und die dort aufgeführten Autoren. 69 Statutes, Bd. 20 (1879), 484. 70 Siehe New York Public Health Law § 70 (McKinney 1943). 71 Encyc10pedia Britannica, 13. Aufl. 1926, Bd. 31, S. 994. 72 Siehe die oben Anm. 67 zitierten Gesetze.

8 Beutel

114 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen

scheidung zu fällen, wie das in Ontario73 üblich ist, was aber in den Vereinigten Staaten eine Ausnahme darstellt, hat die Fluoridierung rasche und leichte Fortschritte gemacht, denn der wissenschaftliche Wert dieses Verfahrens ist völlig gesichert und der durchschnittliche Gesundheitsbeamte ist mit der wissenschaftlichen Entwicklung seines Fachs gut vertraut. Das Problem, Gemeinderäte und Wählerschaft zu überzeugen, ist sehr viel schwieriger. Die Fortschritte in dieser Richtung während der letzten neun Jahre scheinen recht rasch gewesen zu sein. Nach Mitteilung der Amerikanischen Zahnärzte-Vereinigung, die zusammen mit Gesundheitsbehörden der Vereinigten Staaten sowie der Einzelstaaten die Fluoridierungsmaßnahmen aktiv vorantreibt, haben 423 Gemeinden mit zusammen rund 35 Mil!. Einwohnern die Fluoridierung durchgeführt, oder sind dabei, damit zu beginnen74 • Dies scheint eine ansehnliche Zahl zu sein; aber selbst wenn man die 21/2 Mil!. Menschen hinzuzählt, die von der Natur fluoridiertes Wasser trinken 75 , so stellt dieses Ergebnis noch immer weniger als 53 % der Bevölkerung dar, die von öffentlichen Wassernetzen versorgt wird 76 , und nur 11 Ufo der Städte und Dörfer, die ihre Zustimmung geben müssen, ehe ein Fluoridierungsprogramm einheitlich in der Form angenommen worden ist77 , wie sie nach den klaren Ergebnissen der Wissenschaft aussehen sollte. Folglich wird man einsehen müssen, daß ein ungeheurer Propagandaaufwand nötig ist, um die allgemeine Trägheit und Opposition auf diesem Gebiete zu überwinden. Eine kürzlich durchgeführte Gallup-Umfrage 78 zeigt, daß nur 56 Ufo der Öffentlichkeit von der Fluoridierung überhaupt etwas gehört haben Siehe z. B. Ontario Revised Statutes, Kap. 306, § 111 (1950). American Dental Association Information Bulletin, Mai 1952; siehe Journal of the American Dental Association, Bd. 45 (1952), S. 555, in bezug auf spätere und kleinere Zahlen. 75 Fluoridation, American Dental Association Pamphlet, 1951, S. 1; Journal of the American Dental Association, Bd. 45 (1952), S. 555. 76 Im Jahre 1933 wurden mehr als 85 Ofo der Stadtbevölkerung über Wassernetze mit Reinigungsanlagen versorgt, American Water Works Association, Census of Municipal Water Plants, 1933, S. 26. Die in Städten lebende Bevölkerung der Vereinigten Staaten beträgt gegenwärtig ungefähr 88 Millionen, U.S. Census, Preliminary Count, 1950. 77 Im Jahre 1933 gab es in den Vereinigten Staaten 3.015 Reinigungsanlagen, American Water Works Census (Anm. 76), S. 28. Heute ist die Zahl weit größer. Die Amerikanische Zahnärztevereinigung schätzt, daß es in Amerika 16747 öffentliche Wasserversorgungsnetze gibt, Journal of the American Dental Association, Bd. 45 (1952), S. 556. 6300 Gemeinden haben eine öffentliche Wasserversorgung; davon haben über 5000 weniger als das Optimum an Fluoriden, American Dental Association, Fluoridation in the Prevention of Dental Caries, 1951. Geht man von diesen Zahlen aus, dann sinkt der Prozenstatz auf 8 Ofo, nimmt man dagegen die spätere, vom Journal angegebene Zahl von 16747 öffentlichen Wassernetzen, so beträgt der Anteil nur noch 3 Ofo. 78 Darüber wurde berichtet im Journal of the American Dental Association, Bd. 44 (1952), S. 350. 73

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und daß hiervon nur drei Fünftel (oder nur 35 Ofo der Gesamtheit) die Fluoridierung befürworten, während 4 Ofo der Bevölkerung dagegen sind und der Rest darüber keine Meinung hat. Wem es also um Maßnahmen geht, die der Unterstützung der öffentlichen Meinung bedürfen, der steht einer trägen Ignoranz bei rund 60 Ofo der Bevölkerung gegenüber. Das Ausmaß dieses Hindernisses wurde durch die Tatsache demonstriert, daß 57 der 104 Gemeinden, in denen Volksbefragungen stattfanden, gegen die Fluoridierung des Trinkwassers gestimmt haben. Ein krasses Beispiel dieser Art ereignete sich in der Stadt Seattle. Auf Grund der Tatsache, daß ihre Wasserversorgung fast ganz aus Schnee- und Regenwasser besteht, ist sie einer der schlimmsten Fälle für das Auftreten von Zahnfäule in den Vereinigten Staaten79 • Trotz dieses Ums tun des stimmte die Bevölkerung in einem kürzlichen Referendum mit 2: 1 gegen die Fluoridierung 8o • Desgleichen haben die Beschlußorgane von 17 Städten gegen die Fluoridierung gestimmt. Dies ergibt eine Gesamtbevölkerung der ablehnenden Gemeinden von 2400000 Menschen, darunter so große Städte wie New Orleans, Minneapolis und Memphis81 • Von den übrigen bleiben viele einfach aus Trägheit untätig. Trotz der Tatsache, das sowohl Naturwissenschaft als auch Experimentelle Rechtswissenschaft den Wert der Fluoridierung erwiesen haben, und obwohl sie praktisch von allen organisierten wissenschaftlichen Gremien des Landes unterstützt wird, bleibt diese Trägheit ein Hemmnis für den Fortschritt. Auch hier wird also die Einführung wissenschaftlicher Schutzmaßnahmen zugunsten der Gesundheit der gesamten Bevölkerung durch die Tatsache behindert, daß unsere Rechtsordnung die Grundentscheidungen in die Hände jener Leute gelegt hat, die am wenigsten zur Lösung des Problems geeignet sind. Wieder steht die gesetzliche Maßnahme weit hinter den Ergebnissen der Wissenschaft zurück. Die Reinigung der Milch ist ein weiteres Gebiet, auf dem die Experimentelle Rechtswissenschaft große Fortschritte gemacht hat. Wie in Kapitel VII dargelegt, erforscht der Öffentliche Gesundheitsdienst der Vereinigten Staaten seit der Jahrhundertwende die Pasteurisierung und Sterilisierung der Milch, ihre Zusammenhänge mit Krankheiten sowie die Auswirkungen der Gesetze und Verordnungen über das Auftreten von Epidemien, die durch Milch verbreitet werden. Als Teil dieser Untersuchung wurde in Zusammenarbeit mit Ortsbehörden eine Life vom 24. März 1952, S. 42. Life ebd. (Anm. 79); Tides vom 24. März 1952, S. 17. 81 Die Zahlen über Zustimmungen und Ablehnungen stammen aus Phair und Driscol: The Status of Fluoridation Programs, in: Journal of the American Dental Association, Bd. 45 (1952), S. 555; siehe ferner Bernard und Judith Manser: A Study of the Anti-Scientific Attitude, in: Scientific American, Bd. 192 (Februar 1955), S. 35; Scientific American, Bd. 194 (Februar 1956), S. 58 7U

80

(Anrn.).

s'

116 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen

Standardmilchverordnung entwickelt. Die neuesten Zahlen ergeben, daß diese Verordnung im Jahre 1960 von 55 Städten mit einer Bevölkerung von über 100000 Einwohnern, in 38 Städten mit einer Bevölkerung zwischen 50000 und 100000 Einwohnern sowie in 1400 kreisfreien Städten übernommen worden ist. Ihr Geltungsbereich umfaßt 880 Kreise, die über 38 Staaten verstreut sind. Ferner gibt es 32 Staaten, die in dieser Materie teilweise damit übereinstimmen und 13 Staaten, die gleichlautende Gesetze erlassen haben. Insgesamt genießen 59 Mill. Menschen den Vorteil dieser rechtlichen Regelung 82 • Dieses Ergebnis ist sehr eindrucksvoll; wie aber aus Tabelle 4 hervorgeht, gibt es annähernd 91 Mil!. Einwohner (oder 60 % der Bevölkerung), denen dieser Vorteil nicht zugute kommt. Wenn es auch zweifelhaft ist, ob jemals die ganze Bevölkerung erfaßt werden kann, so bleibt doch viel zu wünschen übrig. Tabelle 4

Geltungsbereich der Milchverordnung der Vereinigten Staaten zur Sicherung der Volksgesundheit In Kraft gesetzt oder sonstwie geltenda) Gesamtbevölkerung .......... . Stadtbevölkerung ............. . Städte über 100000 ............ . Städte zwischen 50000 und 100 000 Kreise ....................... .

59000000 59000000

55

38 887

Nicht erfaßGesamt- ter Prozentzahl satz 150000000 88000000 106b )

125 b ) 3050c)

60 33 48 61 70

a) Entnommen aus: Federal Security Agency, Public Health Service Release, November 1950. b) U.S. Census, Vorläufiger Bericht 1950. c) Anderson, Units of Government, Public Administration Service, 1942, Nr. 83, S. 17.

Tabelle 4 zeigt, daß ein Drittel der Stadtbevölkerung - 48 % der Städte mit über 100000 und 61 Ofo der Städte mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern - und die Bevölkerung in 70 Ofo der Landkreise dem Gesetz nicht unterworfen sind. In den Vereinigten Staaten gibt es über 76 Städte ohne vorgeschriebene Pasteurisierung, und man muß sich vergegenwärtigen, daß sechs Kreise und 23 kreisfreie Städte mit einer Bevölkerung von über 200000 Einwohnern die Verordnung in den ersten neun Monaten des Jahres 1950 aufgehoben haben. Dies ist die größte Zahl von Aufhebungsbeschlüssen innerhalb eines Jahres83 . 82 Federal Security Agency, Public Health Service, Division of Sanitary Release, November 1950. 83 Federal Security Adency, Release, a.a.O. (Anm. 82).

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Abgesehen von der Art der Durchführung ist dieses fraglos hervorragende und wissenschaftlich begründete Gesetz immer noch zu nur etwa 50 % verabschiedet worden, obwohl ihm ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Experimentierarbeit und über 25 Jahre experimenteller Untersuchungen vorausgegangen waren. Aus den jüngsten Zahlen geht hervor, daß es sich gerade eben noch gegenüber den örtlichen Gesetzgebungskörperschaften behauptet. b) Die öffentliche Sicherheit

Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit steht insofern auf halbwegs gesichertem Boden, als Forschungsunternehmen und Institutionen zur Verfügung stehen, die wissenschaftliches Material sammeln und es in die Rechtsordnung übertragen. Wie in Kapitel VI ausführlich erörtert wird, sind Technik, Forschung, Erziehung und staatliche Versuche auf den Gebieten der Verkehrsüberwachung nahezu perfekt. Die Ergreifung, Bestrafung und Kontrolle krimineller Bevölkerungsgruppen befindet sich in manchen Bereichen auch auf dem Wege zu einer weitgehenden wissenschaftlichen Erfassung; in anderen Bereichen ist sie dagegen kaum über das Mittelalter hinaus gediehen. Es gab zwar einige staatliche Tätigkeit, aber wenig handfestes Experimentieren. Alles in allem ist der Abstand zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Anwendung in der Rechtsordnung offensichtlich. Die Verkehrsüberwachung stellt einen Bereich dar, in dem die Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft überraschende Fortschritte gemacht haben 84 • Hier hat sich eine vollständige experimentelle Sozialwissenschaft herausgebildet, in der der eigens hierfür ausgebildete Verkehrsingenieur zum Experten wird, auf den man die Gesetzgebungsmacht mit größter Wirksamkeit delegiert. Unter diesem System ist der Fortschritt in der Verkehrsüberwachung und bei den Sicherheitsmaßnahmen außerordentlich groß gewesen. 25 Ofo der Städte mit einer Bevölkerung von über 100 000 Einwohnern haben ihre Rechtsetzungsbefugnis auf Experten übertragen 85 , aber es ist bezeichnend, daß die übrigen 75 Ofo dies nicht getan haben. Auf der Ebene der Einzelstaaten ist die rechtliche Überwachung nicht einheitlich. In ungefähr der Hälfte der Staaten besitzt die Straßenverkehrsbehörde oder deren ÄqUivalent die Befugnis, Forschungen und statistische Untersuchungen durchzuführen und Empfehlungen zu geben86 , aber in der anderen Hälfte ist eine der84 Beutel: Traffic Control as Experimental Jurisprudence in Action, in: Nebraska Law Review, Bd. 31 (1952), S. 349. Siehe auch unten Kap. VI. 85 Smith und Le Craw: Speed Laws and Enforcement, in: Traffic Quarterly, April 1947, S. 117, 121. 88 Siehe Report of Commission of Laws and Ordinances, The President's Highway Safety Conference, 1949, S. 19 ff.; Art. V Uniform Vehicle Code, Public Road Administration, 1945.

118 5. Kap.: Zeit abstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen artige Behörde nicht viel mehr als eine Polizei dienststelle mit einigen zusätzlichen statistischen Aufgaben. In fast allen Staaten verbleibt die Befugnis zur Gesetzesänderung bei den Gesetzgebungskörperschaften des Staates oder der Gemeinden, und außer bei dem oben erwähnten Viertel der größeren Städte wird kaum etwas auf die Experten delegiert, die normalerweise nur "beratende Funktion" haben. Das Endergebnis des ganzen Verkehrssystems zeigt das erschreckende Versagen, den Möglichkeiten moderner wissenschaftlicher Erkenntnis gerecht zu werden. Während der ersten beiden Jahre des Koreakrieges war die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten in den Vereinigten Staaten größer als die der amerikanischen Verluste an der Front. Im Straßenverkehr gab es dreimal so viele Tote und 25mal so viel Verletzte wie auf dem Schlachtfeld 87 • Die Summe der Unfalltoten während der etwas mehr als 50 Jahre der Verwendung des Automobils zählt über eine Million. Das ist mehr als alle Kriegsgefallenen dieses Landes seit 177688 • Trotz dieser erschreckenden Tatsachen, die von der Bundesregierung durch den Nationalen Sicherheitsrat spektakulär publik gemacht werden, schleppt sich unsere Rechtsordnung, soweit sie den Straßenverkehr angeht, zu drei Vierteln mühsam dahin und versagt bei der übernahme gesicherter Maßnahmen, die die Wissenschaft der Verkehrssicherung zur Verringerung dieses Gemetzels anbietet. Das Problem der Verbrechensbekämpfung gliedert sich zwanglos in drei Bereiche: Verbrechensaufdeckung, Strafrecht und Strafmethoden sowie Verbrechensverhütung. Die Verbrechensaufdeckung hat bei der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf das Problem der Identifizierung von Verbrechern beträchtliche Fortschritte gemacht. Auf Grund der Pionierarbeit an der Universität von Kalifornien, an der Northwestern University und im Laboratorium der Bundeskriminalpolizei hat jetzt die Ergreifung einzelner Verbrecher viele Züge einer angewandten Naturwissenschaft angenommen. Der größte Teil dieser Entwicklung ist jedoch ziemlich jung. Die Methoden der Verbrechensaufdeckung, die sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen, sind weithin bekannt gemacht. Die Kenntnis der Fingerabdruck-Identifizierung und ähnliche andere wissenschaftliche Techniken kamen vor langer Zeit im 19. Jahrhundert auf 8D • Indessen geht 87 Die durch Verkehrsunfälle verursachten Todesopfer zählten binnen zweier Jahre über 76000 und die Verletzungen über 2,3 Millionen; Accident Facts, National Safety Council F.S.A. (1950 - 1951); Economic Almanac, 1951 - 1952, S. 30. Die Verlustzahlen aus Korea beliefen sich nach Abschluß zweijähriger Kampftätigkeit auf ungefähr 110000, worunter weniger als 20000 Tote waren; siehe: Facts on File, Bd. 112 (1952), S.149. 88 The Millionth Man, in: Scholastic, Bd. 59 (1951), S. 10. 89 Das Bundesamt für Verbrecheridentifizierung begann seine Arbeit im Jahre 1904. Lowenthal: The Federal Bureau of Investigation, 1950, S. 360 ff.

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die ernstliche und verbreitete amtliche Anwendung dieser und weiterer wissenschaftlicher Methoden bei der Verbrechens aufdeckung auf die Schaffung des Laboratoriums der Bundeskriminalpolizei im Jahre 1932 zurück 90 • Aufbauend auf der Pionierarbeit einiger Universitäten und einer geringen Anzahl städtischer Polizeibehörden errichtete die Bundesregierung damals das Zentrallaboratorium, das bis zur derzeitigen Beschäftigung von über 300 Wissenschaftlern vieler Gebiete angewachsen ist, die bei der Verbrechensaufdeckung helfen 91 • Diese zentrale Dienststelle bietet heute den Polizeibehörden Bundesunterstützung an, um Verbrecher, Erde, Gewebe, Farbe, Autoscheinwerfer, Reifenspuren und tausende von anderen Indizien zu identifizieren. Über 12 000 örtliche Polizeibehörden haben diese Unterstützung innerhalb eines einzigen Jahres in Anspruch genommen, und nicht weniger als 7000 Tatverdächtige sind jährlich 92 mit Hilfe der zentralen FingerabdrucksteIle ergriffen worden, die heute beinahe 100 Millionen Einzelabdrücke umfaßt; diese sind so klassifiziert, daß jeder beliebige Abdruck in wenigen Minuten an Hand eines Musters identifiziert werden kann. Das Laboratorium beschränkt sich darauf, wissenschaftliche Techniken zur Verbrechensaufklärung anzuwenden und Verbrecher zu identifizieren. Es findet keine unmittelbare Erforschung des Erfolges der Methoden als solcher statt, wie es bei den Verkehrsuntersuchungen der Fall ist, und es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen über die gesellschaftliche Auswirkung des Strafrechts. Zwar ist eine Abteilung vorhanden, die Kriminalstatistiken erstellt, aber diese werden großenteils wegen der Propagandawirkung auf den Kongreß und andere gebraucht, um die hohe Geldzuwendung zu sichern, die zum Betriebe der ganzen Behörde notwendig ist 93 • Die Stichhaltigkeit solchermaßen aufgestellter Zahlen für wissenschaftliche Zwecke unterliegt ernstem Zweifel 94 • Die Nationale Polizeiakademie95 , ebenfalls ein Zweig der Bundeskriminalpolizei, ist in erster Linie der Ausbildung von Polizeioffizieren gewidmet und nicht der wissenschaftlichen Forschung. Die erstaunlichen Fortschritte des Laboratoriums und der Polizeiakademie sowie der Arbeit an Universitäten, wie der Northwestern University, die Polizeioffiziere und Staatsanwälte ausbildet, haben die Kunst der Rechtsdurchsetzung in den Rang eines Berufsstandes erhoben96 • 90 Lowenthal, a.a.O. (Anm. 89), S. 388; Floherty: Inside the F.B.I., 1943, S. 47 ff. 91 Floherty, a.a.O. (Anm. 90), S. 49. 92 Floherty, a.a.O. (Anm. 90), S. 88. 98 Als ein Beispiel dieser Art von Propaganda siehe Collins: The F.B.1. in Peace and War, 1943. 94 Lowenthal, a.a.O. (Anm. 89), S. 395 ff. 95 Floherty, a.a.O. (Anm. 90), S.187.

120 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen Noch immer gibt es einen außerordentlichen Rückstand des Wissensstandes der Polizeikräfte im allgemeinen gegenüber einer derart entwickelten angewandten Wissenschaft. Obwohl beträchtliche Zweifel darüber bestehen97 , wird die Bundeskriminalpolizei als solche allgemein als gut ausgebildete Berufsorganisation angesehen, aber sie stellt weniger als 8 Ofo der nationalen Polizei kräfte dar 9s • Einige der großen Städte wie New York, Philadelphia, Chicago und Cincinnati besitzen hervorragende wissenschaftliche Identifizierungslaboratorien und Polizeischulen, ebenso viele der Einzelstaaten99 • Aber die örtlichen Sheriffs und die Polizeikräfte der Städte, Dörfer und Kreise werden immer noch gewählt oder sind hinsichtlich ihrer Stellungen abhängig von der Politik. Obwohl die Verbrechensaufdeckung dabei ist, wissenschaftliche Geräte und Methoden zu übernehmen, ist die Mehrheit der Exekutivbeamten noch nicht fachlich ausgebildet, und es gibt auf diesem Gebiet keine experimentelle Wissenschaft über diejenige hinaus, die von den Laboratorien zur Verbrechensaufdeckung entwickelt worden ist. Selbst diese Kenntnisse sind noch nicht zum Rüstzeug der Mehrheit der Polizeibeamten geworden. Die Ausübung des Coroner-Amtes bildet ein Beispiel für das beinahe vollständige Versagen moderner wissenschaftlicher Methoden, unsere Rechtseinrichtungen zu durchdringen. Seit dem 12. Jahrhundert ist es Aufgabe des Coroners, bei unerwarteten Todesfällen Untersuchungen anzustellen und den Sheriff auf sonstige Weise bei der Durchführung des Strafrechts zu unterstützen. Ursprünglich stellte der Coroner, der ein Laie war, eine Liste von Geschworenen auf, die ebenfalls Laien waren; sie sollten ihm bei der Aufdeckung der Umstände von unerwarteten oder unerklärlichen Todesfällen behilflich sein, Schuldsprüche fällen und Strafanklagen oder Untersuchungen einleiten 1oo . In Ermangelung medizinischen Wissens, kennzeichnend für jene Zeiten, war diese Methode so gut wie jede andere, um die Fakten aufzuspüren. Seit der Entwicklung der Wissenschaft und Kunst der Pathologie ist es jedoch töricht, einen einzelnen Laien oder eine Laien-Jury mit solchen Aufgaben zu betrauen. Die Literatur ist voller aufrüttelnder Fälle, in denen Verbrechen unentdeckt blieben oder Unschuldige verurteilt wurden, weil unausgebilVgl. O'Hara und Osterberg: An Introduction to Criminalistics, 1949. Diese Kontroverse wird ausführlich erörtert von Lowenthal, a.a.O. (Anm.89). 9B Es ist schwierig, Zahlen zu bekommen. Wahrscheinlich ist diese Schätzung zu hoch. Vgl. LowenthaZ, a.a.O. (Anm. 89), S. 1, 397; FZoherty, a.a.O. (Anm. 90); S.18. 99 Soderman und O'ConneZZ: Modern Criminal Investigations, 1945. 100 Holdsworth: History of English Law, 3. Auf!. 1922, Bd. 1, S. 82 ff. (Der Coroner hatte ursprünglich noch zahlreiche andere Pflichten; viele davon sind jedoch allmählich verschwunden.) 96

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dete Beamte darin versagten, die Todesursache fachgerecht zu untersuchen 101 • Heute weiß jedermann, daß pathologische Untersuchungen die einzige sichere und wissenschaftliche Methode sind, um alle Ursachen und Arten ungeklärter Todesfälle aufzudecken. Im Lichte dieser wohlbekannten Tatsachen möchte man erwarten, daß die Aufgaben und Verfahrensweisen des Coroner revidiert worden seien, um mit der Entwicklung der modernen Medizin Schritt zu halten. Leider verhält es sich mit dem Zustand des Rechts gerade umgekehrt. In 39 der 48 Staaten 102 ist der Coroner immer noch ein Laie, der meistens gewählt, manchmal jedoch ernannt wird. Er betreibt weiterhin die Leichenschau in vielem so, wie er es im 12. Jahrhundert tat, und er stellt wie damals Geschworenenbänke zusammen, um die Todesursachen zu bestimmen 103 . Nur in neun Staaten gibt es ein im ganzen Staate geltendes Erfordernis, 101 Einige davon sind: The Coroner's Office, Efficiency Series, Report No. 2. Municipal Association of Cleveland, 1912; Adler: Medical Science and Criminal Justice, Part V; Cleveland Survey of Criminal Justice in Cleveland, 1921; Wickersham: Should the Coroner's Office be Abolished, in: Minnesota Law Review, Bd. 1 (1917), S. 197; Breyfogle: The Laws of Missouri, Relating to Inquests and Coroners, in: Montana Law Review, Bd. 10 (1945), S. 34; Jordan: North Carolina's Archaic Coroner System, in: North Carolina Law Review. Bd. 26 (1947), S. 96. 102 Alabama Code Annotated, Tit. 12, § 54 (1941); Arizona Code Annotated § 17-1103 (1940); Arkansas Constitution Art. VII, § 46 (1947); California Governme nt Codes §§ 24000, 24001, 27531 (Deering, 1951); Colorado Statutes Annotated Kap. 45, §§ 116 ff. (1936); Delaware Revised Code §§ 1519 ff. (1935); Florida Statutes Annotated § 936.01 ff. (1944); Georgia Code Annotated, Tit. 21 (Ergänzung 1951); Idaho Code Annotated § 34-202 (1948); Illinois Annotated Statutes, Kap. 46, § 2-14 (Smith-Hurd, Ergänzung 1952); Illinois Constitution Art. X, § 8; Indiana Annotated Statute §§ 49-2901 ff. (Burns, 1951); Iowa Code Annotated § 39.17 (1949); Kansas General Statutes Annotated §§ 19-1001 ff. (1935); Kentucky Constitution §§ 99, 100; Michigan Statutes Annotated § 6.264 (Henderson, 1936); Minnesota Statutes Annotated § 382.01 (West, 1947); Mississippi Constitution Art. V, § 138; Montana Constitution Art. IX, § 10; Montana Revised Statutes § 11459 (West, 1943); Montana Constitution, Art. XVI, § 5; Nebraska Revised Statutes § 23-1210 (1943); North Carolina General Statutes Annotated § 152-1 (1952); North Dakota Revised Code §§ 11-0927, 11-1002, 11-1919 (1943); Nevada Compiled Laws Annotated §§ 11426 ff. (1930); New Jersey Statutes Annotated §§ 40:40-1 ff. (Ergänzung 1952); New Mexico Statutes Annotated §§ 38-1701 bis 38-1704 (1942); New York County Law § 400 (McKinney, Ergänzung 1953); Oklahoma Statutes Annotated, Tit. 19, §§ 461 ff. (1937); Oregon Compiled Laws Annotated §§ 87-101,87-102 (Ergänzung 1943); Pennsylvania Statutes Annotated, Tit. 16, § 51 (Ergänzung 1952); South Carolina Code Annotated § 17-51 (1952); South Carolina Constitution Art. V, § 30; South Dakota Constitution Art. IX, § 5; Tennessee Code Annotated § 712 ff. (Williams, 1943); Texas Code of Criminal Procedure Art. 968 ff. (1950); utah Code §§ 77-58-1 ff. (1953); Vermont Revised Statutes § 4142 (1947); Washington Revised Code §§ 36.16.030, 36.24.010 ff. (1952); West Virginia Constitution Art. IX, § 2; Wisconsin Statutes §§ 59'.34 ff. (1951); Wyoming Compiled Statutes Annotated § 31-103 (1945). Man beachte, daß viele dieser Vorschriften in den Staatsverfassungen verankert sind. 103 In 27 der oben (Anm. 102) zitierten Staaten scheint es eine klare Befugnis zu geben, medizinische Unterstützung oder Zeugen heranzuziehen; siehe Jackson: The Law of Cadavers, 1950, S. 171.

122 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen daß der Coroner oder ein Beamter, der seine Aufgaben erfüllt, irgendeine medizinische Ausbildung oder Unterstützung haben müsse 104 • In zweien von ihnen 105 ist der Mediziner lediglich Gehilfe des Laien; in einem Staat braucht der Coroner nur vom Fach zu sein, wenn für diesen Zweck ein Arzt verfügbar ist 106 , in fünf Staaten muß er ein approbierter Arzt sein 107 , aber in nur zwei Staaten gibt es überhaupt eine obligatorische Vorschrift über die Mitwirkung eines ausgebildeten Pathologen 108 • Maryland ist der einzige Staat, der, wie es sein sollte, fordert, daß derartige Verfahren unter Leitung einer Kommission vonstatten gehen müssen, der ein kompetenter Pathologe vorstehtl° 9 • Es besteht also der nicht zu rechtfertigende Zustand, daß unausgebildete Laien in der weitaus überwiegenden Mehrheit die Ursachen gewalttätiger und ungeklärter Todesfälle bestimmen, und zwar selbst dann, wenn sogar der Arzt, der nicht Pathologe ist, nicht fähig wäre, das Problem zu lösen. Täglich entgehen Verbrecher der Entdeckung und werden unschuldige Menschen angeklagt, wo ausgebildete Pathologen den wahren Stand der Dinge enthüllen würden. Die Sterbestatistiken werden außerdem verdorben durch das Laien-Urteil über die Ursachen vieler mitgeteilter Todesfälle. Hier regiert wiederum ein uraltes Erbe des Mittelalters eines der wichtigen Gebiete unserer Rechtsordnung und ignoriert die aufgeklärten und leicht verfügbaren wissenschaftlichen Methoden.

Das materielle Strafrecht und die Strafrechtspflege sind Bereiche, in die einzudringen die wissenschaftlichen Methoden fast vollständig versagt haben. Es ist bald ein halbes Jahrhundert vergangen, seit der ehemalige Präsident und Oberste Bundesrichter Taft, der nicht als Radikaler oder Reformer bekannt ist, sagte: "Die Sorge um mein Vaterland zwingt mich zu sagen, daß die Strafrechtspflege in allen Staaten des Bundes eine Schande für unsere Zivilisation ist llO ." Wenig ist geschehen, um diese Anklage 104 Connecticut General statutes § 470 ff. (1949); Louisiana Constitution Art. VII, § 70; Maine Revised Statutes, Kap. 79, § 258 ff. (1944); Massachusetts Annotated Laws, Kap. 38 (Ergänzung 1951); Maryland Annotated Code General Laws, Art. 22 (1951); New Hampshire Revised Laws, Kap. 436 (1942); Rhode Island General Laws, Kap. 11 (1938); Virginia Code Annotated § 19-21 ff. (1950). In einer Anzahl von Staaten werden für dichtbevölkerte Städte und Kreise ärztliche Prüfer gebietsweise gesetzlich vorgeschrieben. Siehe z. B. New York County Law § 400; Wisconsin Statutes, Kap. 366.15 ff. (1947). 105 Die Gesetze von Connecticut und Rhode Island (Anm. 104). 108 Das Gesetz von Louisiana (Anm. 104). 107 Die Gesetze von Maine, Maryland, Massachusetts, New Hampshire und Virginia (Anm. 104). 108 Maryland und Virginia. 109 Siehe das Anm. 104 zitierte Gesetz von Maryland. 110 Taft: The Administration of Criminal Law, in: Yale Law Journal, Bd. 15 (1905), S. 1, 11.

2. Die Verzögerung bei der übernahme durch die Rechtsordnung

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weniger zutreffend zu machen, als sie damals war. Sowohl der Inhalt als auch das Verfahren des Strafrechts sind unmittelbare überbleibsel des vorwissenschaftlichen Zeitalters. Unsere Regeln über verbrecherische Absicht und andere Grundbegriffe von Schuld und Strafe basieren auf altertümlichen theologischen Vorstellungen, die in der modernen Psychologie und Psychiatrie keinen Platz haben. Das Gebiet der Geisteskrankheit als Schuldausschließungsgrund bietet ein gutes Beispiel für den Zustand des ganzen Strafrechts. In einem kürzlich verhandelten Mordfall, in dem die Einlassung der Geisteskrankheit vorgebracht wurde, gab es das gewohnte Schauspiel der für beide Seiten Zeugnis ablegenden Sachverständigen; auf näheres Befragen ergab sich jedoch, daß alle fünf Sachverständigen in der psychiatrischen Diagnose vollständig übereinstimmten und sich nur in ihren Folgerungen hinsichtlich der Auswirkung der Rechtsnormen auf den Angeklagten erheblich unterschieden. Schuld daran war natürlich, daß die materiellen Rechtsnormen dem modernen praktischen Arzt unverständlich waren. In gleicher Weise sind die Vorstellungen von Schuld, Bestrafung und Besserung ebenfalls von der Wissenschaft unberührt. Weltverbesserer und Wissenschaftler haben gesetzliche Reformversuche unternommen, die in den Gesetzgebungskörperschaften durchgedrückt wurden, ohne Rücksicht auf nähere Untersuchung und oft mit unzulänglicher finanzieller Unterstützung für zweckmäßige Handhabung 111 • In seiner hervorragenden Erörterung der Geisteskrankheit als Schuldausschließungsgrund faßt Weihofen die Situation folgendermaßen zusammen: "Unsere Strafrechtswissenschaft bietet heute ein zusammengewürfeltes Muster dieser rivalisierenden Theorien dar. Einzelne Reformen sind als Gesetze verabschiedet worden, aber die grundlegende Konzeption, die diese Reformen bewirkt hat, hat man gewöhnlich nicht weiter durchdacht und sicherlich nicht als Grundlage unserer Behandlungsmethoden gegenüber den Delinquenten angesehen. Alle Theorien über die Strafe, sagte Sir Henry Maine im Jahre 1864, sind mehr oder minder zusammengebrochen; und hinsichtlich der Grundprinzipien tappen wir im Dunkeln. Im Jahre 1925 zitierte Lord Oxford diese Worte und fügte hinzu: Nichts ist seither gesagt oder geschrieben worden, das uns diesen Prinzipien irgendwie näher gebracht hätte 112 ." Auf anderen Gebieten des Strafrechts hat es sogar noch weniger Forschung, Reform oder Anstrengung gegeben, das Strafrecht auf die Höhe der modernen Wissenschaft zu bringen. Es ist sehr viel über Straftheorien und über Psychologie und Psychiatrie in ihrer Anwendung auf das 111 Siehe z. B. die Diskussion über das "Briggs Law", Weihofen: Insanity as a Defense in Criminal Law, 1933, S. 401 ff. m Weihofen, a.a.O. (Anm. 111), S. 441; siehe auch Wechsler: The Challenge of a Model Penal Code, Harvard Law Review, Bd. 65 (1952), S. 1097 und die dort angeführten Autoren.

124 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen Verbrechen geschrieben worden, aber bis auf einsame Ausnahmen 113 haben in diesem Bereich wenige gemeinsame Forschungen und Versuche stattgefunden. Das moderne Gefängnis bleibt im wesentlichen ein mittelalterlicher Kerker mit sanitären Anlagen, elektrischem Licht, einer Maschinenwerkstatt und einigen modernen Toröffnungs- und Alarmanlagen. Es ist bedauerlich, daß es auf diesem Gebiet, wo der Delinquent seine Freiheit kraft Gesetzes verliert und wo daher das Experimentieren am leichtesten ist, angewandte, experimentelle Wissenschaft nur wenig zur Anwendung gekommen ist. Die Verbrechensverhütung als Wissenschaft befindet sich noch immer im Bereich der Spekulation. Die Bildung von Jugendgerichten ist ein Versuch, um einige Theorien zu erproben, aber Statistiken und Studien bezüglich dieses Gegenstandes sind noch ohne Beweiskraft 114 oder fehlen vollständig. 3. Die Naturwissenschaft im Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung Wendet man sich dem zu, was gemeinhin als Zentral antrieb des Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsapparates angesehen wird, nämlich den Gesetzgebungskörperschaften und den Gerichten, so ist der Mangel an wissenschaftlichem Fortschritt, an Hilfsmaschinerie und an Forschungsinstitutionen erschreckend. Das Gerichtssystem hat völlig versagt, irgendwelche der verfügbaren wissenschaftlichen Vorstöße zur Verbesserung seines Verfahrens aufzugreifen. Dies wurde anschaulich durch einen Fall beleuchtet, der sich kürzlich ereignet hat. Rundfunkberichten zufolge wollte Senator McCarthy in einem gegen ihn anhängigen Verfahren wegen Beleidigung ein Drahtmagnetofon benutzen, um eine Zeugenaussage aufzunehmen. Obwohl durch die Einführung eines solchen Gerätes kein Schaden angerichtet und viel Zeit hätte gespart werden können, wies das Gericht das Verlangen ohne nähere Begründung zurück. Ähnlich unvernünftige Ablehnungen der Übernahme wissenschaftlicher Fortschritte tauchen im ganzen System auf. Die Feststellung der einem Prozeß zugrunde liegenden Tatsachen ist archaisch. Die Jury, die bei Gericht immer noch das hauptsächliche Mittel der Tatsachenfeststellung ist, stammt aus den Tagen der Karolinger115 • Zu Anfang war sie 113 Ein Beispiel für gute wissenschaftliche Arbeit ist Ohlin: Selection for Parole, 1951. 114 Einen guten Anfang stellt Tappan: Delinquent Girls in Court, 1947, dar. 115 Holdsworth: History of English Law, 3. Aufl. 1922, Bd. 1, S. 312 H. (Darstellung der geschichtlichen Entwicklung).

3. Naturwissenschaft im Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung

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natürlich ein Fortschritt, weil sie das Gerichtsverfahren mit Zweikampf, Eid und Gottesurteil ersetzte. Obwohl sie ursprünglich aus einer Gruppe von Nachbarn bestand, die alle Tatsachen kannten, verwandelte sie sich allmählich in ein Gremium von zwölf Personen, die vom Gegenstand des Prozesses keinerlei Ahnung haben. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatte die englische Jury alle die Grundzüge hervorgebracht, die sie bis heute bewahrt. Mag der durchschnittliche amerikanische Rechtsanwalt heutzutage auch durch die Feststellung schockiert werden: Die moderne Jury ist als Institution beinahe genauso antiquiert, wie es das von ihr verdrängte Gerichtsverfahren mit Zweikampf, Eid oder Gottesurteil war. Seit dem 17. Jahrhundert werden in den führenden europäischen Ländern von den Parteien oder dem Gericht Sachverständige aus zugelassenen Listen benannt, um abschließend wissenschaftliche oder komplizierte Sachverhalte auf dem Gebiete ihres Fachwissens festzustellen 116 • Nichtsdestoweniger bleibt die Jury die von amerikanischen Gerichten hauptsächlich verwendete Methode der Tatsachenfeststellung, und die Gerichte haben sich energisch jeder Beschneidung von deren endgültiger Kompetenz widersetzt, damit kein anderer mit Ausnahme des Richters selbst die Tatsachenfeststellung trifft. Es gibt unzählige Beispiele für die wiederholte und sinnlose Weigerung, die Jury durch moderne Techniken der Tatsachenfeststellung zu ersetzen. Hier brauchen nur einige angeführt zu werden. Bisweilen benutzen die Richter die Verfassung als Ausflucht, um die Erlaubnis zu Änderungen auf Gebieten zu verweigern, die von der angewandten Verfassungs bestimmung niemals erfaßt sein sollten. Zu den kompliziertesten und technisch verwickeltsten Problemen der Tatsachenermittlung, die vor Gericht auftauchen, gehören diejenigen, die mit der Bewertung der Stromversorgung und anderer öffentlicher Dienstleistungen zum Zwecke der Gebührenfestsetzung zu tun haben. Früher entschieden die Gerichte, daß es eine Verweigerung des von der Verfassung vorgeschriebenen Verfahrens bedeute und folglich verfassungswidrig sei, die Befugnis zur endgültigen Feststellung des Faktums "Wert" einer Sachverständigen-Kommission zu übertragen l17 , daß aber die übertragung dieser endgültigen Befugnis auf eine Jury aus zwölf braven und biederen Männern rechtmäßig sei 118 • Der Unsinn, der dadurch bei der Regelung Die europäischen Verfahrensweisen werden kurz zusammengefaßt in History of Continental Civil Procedure (übersetzt von Millar 1927); Continental Legal History Series, Bd. 7, S. 557, 563 (Deutschland), S. 762 (Frankreich), S. 789, 816 (Italien). 117 Ohio Valley Water Company v. Ben Avon Burough, 253 U.S. 287 (1920); Chicago, M. & St. P. Railways v. Minnesota, 134 U.S. 418 (1889); siehe Buchanan: The Ohio Valley Water Case and the Valuation of Railroads, in: Harvard Law Review, Bd. 40 (1927), S. 1033, und die dort angegebenen Autoren. 118 United Gas Public Service Company v. Texas, 303 U.S. 123 (1938). 116

Engelman:

126 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen

privater Versorgungsbetriebe eintrat, gehört zur Geschichte der Gegenwart llU • In ähnlicher Weise sind jetzt Blutgruppen-Untersuchungen, die zur Feststellung der Abstammung dienen, von der Medizin bis zu einem Stadium entwickelt worden, daß man auf Grund eines Blutprobenvergleichs schlüssig beweisen kann, daß ein bestimmter Mann nicht der Vater eines bestimmten Kindes ist. Diese Untersuchungen werden in ganz Europa in Fällen umstrittener Vaterschaft als unwiderlegbare Beweise angesehen 120 , nicht dagegen in den Vereinigten Staaten. Angelegenheiten dieser Art werden noch in allen Staaten den Geschworenen unterbreitet und diese sind nur in acht Staaten 121 von Gesetzes wegen zur Feststellung ermächtigt, daß ein Mann in solchen Fällen nicht der Vater eines unehelichen Kindes ist, wo die Blutgruppenuntersuchungen schlüssig ergeben, daß dies unmöglich ist. Blutgruppenuntersuchungen allein in der Stadt New York haben schlüssig erwiesen, daß 30 Ofo der untersuchten Männer, die in Vaterschaftsprozessen beklagt waren und die Vaterschaft leugneten, tatsächlich nicht die Väter waren. Trotz dieser Tatsache gibt es in diesem Lande nur wenige Gerichte, die sich auf einen solchen Beweis auch nur berufen 122 • In vielen Fällen war es den Jurys gestattet, Männer als Väter zu erklären, obwohl die Blutgruppenuntersuchung dies als unmöglich erwies123 • Ein weiteres Beispiel ist der Gebrauch wissenschaftlicher Methoden zur Feststellung der Wahrheit von Aussagen, die Zeugen und Verdächtige machen. Man hat mechanische Lügendetektoren entwickelt, die erwiesenermaßen in über 75 % der Fälle zuverlässig waren 124, dagegen ist kein derartiger Beweis vorhanden für die Genauigkeit des GeschworenenSpruchs bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen. In einem kürzlich unter kontrollierten Bedingungen veranstalteten Test, bei dem ein Scheinverbrechen vom Verfasser inszeniert wurde und das man mit den üblichen Techniken untersuchte, wurde von fünf Schuldigen nur einer auf Grund normaler Kriminaluntersuchung verhaftet. Er wurde vor Gericht gestellt und für unschuldig erkannt. Daraufhin untersuchte ein Sachverständiger mit einem Lügendetektor die Verdächtigen sowie eine Reihe unschuldiger Beteiligter und reproduzierte das Verbrechen mit fast allen Einzelheiten, wobei er drei Haupttäter und einen Gehilfen 119 Beutel: Due Process in Valuation of Local Utilities, in: Minnesota Law Review, Bd. 13 (1929), S. 409; abweichendes Votum von Richter Black, McCart v. Indianapolis Water Company, 302 U.S. 419, 423 (1938). 120 Schatkin: Disputed Paternity Proceedings, 2. Auf!. 1940, S. 211 ff. 121 Schatkin, a.a.O. (Anm. 120), S. 183. 122 Ploscowe: Sex and the Law, 1951, S. 124 ff.; Schatkin, a.a.O. (Anm. 120). 123 Zahlreiche Fälle sind von den oben (Anm. 120 und 122) zitierten Autoren zusammengestellt worden. 124 Inbau: Lie Detection and Criminal Interrogation, 1948, S. 77.

3. Naturwissenschaft im Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung

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identifizierte. Der fünfte schuldige Beteiligte vermochte den Lügendetektor zu besiegen, indem er eine Überdosis Aspirin schluckte, aber der Sachverständige entdeckte auch diese Tatsache, und bei einer erneuten Untersuchung, nachdem die Wirkung des Präparates abgeklungen war, würde er den fünften Hauptschuldigen zweifellos gefunden haben. Soweit dem Verfasser bekannt, ist dies der einzige Fall, bei dem der Lügendetektor in Konkurrenz mit kriminalpolizeilichen Mitteln, Richter und Jury verwendet wurde. Weitere Experimente dieser Art sind natürlich möglich und sollten sofort unternommen werden. So wie die Dinge liegen, entwickelt sich der Lügendetektor rasch zu einem der wichtigsten Mittel der Verbrechensaufklärung, aber er wird in den Gerichten noch nicht einmal als Beweisvorbringen gegenüber der Jury geduldet, ganz zu schweigen von seiner Stellung aus eigenem Verdienste, wodurch die Jury als Mittel der Tatsachenfeststellung ersetzt würde, und es scheint wenig Forschung vorangetrieben zu werden, die ihn als Beweishilfe weiterentwickelte 125 • Es gibt tausende von sehr viel wirksameren weiteren wissenschaftlichen Mitteln in Physik, Chemie und anderen Naturwissenschaften, um die grundlegenden Fakten in einem Prozeß festzustellen, aber keine dieser Techniken wird von den Gerichten angewendet, die immer noch nach dem Plan vorgehen, sachverständige Aussagen den nichtsachverständigen Geschworenen zu unterbreiten, die keinerlei Voraussetzung dafür mitbringen, zwischen dem Wissenschaftler und dem Scharlatan zu unterscheiden. Noch schlimmer ist, daß es offensichtlich in diesem Lande keine Institution gibt, die sich wegen des Problems der Berichtigung und Verbesserung dieses antiquierten Gerichtsverfahrens irgendeine objektive Sozialforschung angelegen sein läßt. Professor Smith an der Universität von Texas 126 hat mit einigen Arbeiten in dieser Richtung begonnen, aber gegenwärtig widmet er den größten Teil seiner Aufmerksamkeit den Juristen und Medizinern, um sie über die Betriebsmöglichkeiten unserer derzeitigen obsoleten Maschinerie der gerichtlichen Tatsachenermittlung aufzuklären. Es ist zu hoffen, daß diese Arbeit bald der Anfang einer Prozeßreform der Gerichte selbst sein möge. Die Gesetzgebungskörperschaften haben, wie oben dargelegt, keine kontinuierliche Forschungsorganisation und somit auch keinen Apparat zur Einführung wissenschaftlicher Entdeckungen in die Rechtsordnung. Sie haben wie die Gerichte wenig Neigung und Ausrüstung zur Übernahme neuer Verfahren. Diese Tatsachen bilden ein unmittelbares Hindernis für die Rezeption wissenschaftlicher Methoden durch das Recht. 125 128

Siehe Inbau, a.a.O. (Anm. 124), S. 86 ff. Bulletin Law Science Short Course, 1953.

128 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen

Die hier aufgeführten Beispiele sind nur ein verschwindender Bruchteil der Fälle, in denen die Rechtsordnung hinter der wissenschaftlichen Entwicklung zurücksteht oder nichts von ihr weiß. Den erörterten Punkten könnten leicht solche Themen hinzugefügt werden wie die Trunkenheitstests, die Anwendung von Wahrheitsserum, die Revision der Gesetze über Sittlichkeit, Ehe und Scheidung, die Sterilisation und künstliche Insemination, die Anwendung von Intelligenztests im Bildungsprozeß - in der Tat die Generalüberholung des gesamten Bildungswesens zur Anpassung an die erkannten Gebote der Wissenschaft, ferner wissenschaftliche Bewertung für Steuerzwecke und tausende andere mehr, von denen der Leser viele selbst nennen kann und bei denen wissenschaftliche Erkenntnisse entwickelt wurden, die darauf warten, in unsere Rechtsordnung übernommen zu werden. 4. Das American Law Institute

Eine Diskussion über den Rückstand des Rechts gegenüber der Naturwissenschaft wäre nicht vollständig, ohne die Arbeit des American Law Institute hervorzuheben. Obgleich es noch andere Organisationen und Stiftungen beträchtlichen Ausmaßes gibt, die sich mit den Problemen der Modernisierung der Rechtsordnung beschäftigen 127 , ist das American Law Institute 128 unter denen, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben, am bedeutendsten und hat wahrscheinlich mehr konkrete Arbeit in dieser Richtung geleistet, als alle anderen zusammengenommen. Es wurde 1923 als vornehme Einrichtung des Juristenstandes gegründet, um das Recht zu modernisieren, und setzt sich zusammen aus Vorstandsmitgliedern der organisierten Anwaltschaft, aus den Richtern der obersten Gerichtshöfe des Bundes und der Staaten sowie aus hervorragenden Professoren des Rechts. Die Richter und die Dekane der juristischen Fakultäten sind Mitglieder ex officio, und die Vorstandsmitglieder der Anwaltschaft und die Professoren werden auf Grund ihrer Leistungen als Gelehrte und in der Praxis gewählt. Insgesamt besteht seine Mitgliedschaft aus ungefähr 1400 prominenten Rechtsanwälten, Richtern und Professoren aus dem ganzen Lande 129 • Gemäß seiner Satzung ist es dazu errich127 Unter ihnen befinden sich: American Bar Association, Commissioners on Uniform Laws, American Institute of Criminal Law and Criminology, Louisiana Law Institute, Council of State Governments und Survey of the Legal Profession. 128 Siehe Goodrich: The Story of the American Law Institute, in: Washington University Law Quarterly, 19'51, S. 283; soweit hier nichts anderes angegeben wird, stammen die wiedergegebenen Fakten über das Institut aus diesem Artikel. 129 Die Liste der Mitglieder wird in den Programmen der jährlichen Konferenzen wiedergegeben. Siehe American Law Institute, 29. Jahresversammlung, 1952, S. 9 - 28.

4. Das American Law Institute

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tet, um die Klarheit und Vereinfachung des Rechts und seine bessere Anpassung an soziale Bedürfnisse zu fördern, eine bessere Ausübung der Justiz zu garantieren und wissenschaftliche Arbeiten zu unterstützen und fortzuführen. Während der 33 Jahre seines Bestehens hat es neben den Beiträgen seiner Mitglieder und anderen diversen Geldern über 3 Mill. Dollar ausgegeben, die ihm von einer Anzahl großer Stiftungen für seine Bemühungen um die Verbesserung des Rechts gewährt wurden. Große Fortschritte sollte man von den Anstrengungen eines so prominenten Kreises von Männern und von der Ausgabe einer solch großen Summe erwarten, und es ist auch ein beträchtlicher Fortschritt gemacht worden. Über drei Viertel der aufgewendeten Geldmittel und der Arbeit der Organisation kam dem "Restatement of the Common Law" zugute, einer inoffiziellen Kodifizierung des gemeinen Rechts. Dies entspricht ungefähr dem Schritt zwei im Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft 130 , wobei es sich hier allerdings nicht um eine genaue Darlegung des Rechts handelt, wie es auf soziale Probleme eines bestimmten Hoheitsbereichs angewendet wird, sondern eher um eine Systematisierung des allen gemeinsamen Rechts. Das Vorhaben war nicht ein Versuch, das gesamte Recht zu kodifizieren; es sollte nur das gemeine Recht neu darstellen, wie es in den Urteilen der anglo-amerikanischen Rechtsprechung sichtbar wird. Das "Restatement" ist kein Gesetzbuch, denn es soll nicht offiziell in Kraft gesetzt werden und läßt die Gesetze außer acht; es versucht lediglich, tausende und abertausende von Gerichtsentscheidungen zu durchmustern und festzuhalten. Die Technik der Rechtskompilation ähnelt derjenigen sehr, die von Justinian bei der Abfassung des Corpus iuris im Römischen Recht des 6. Jahrhunderts verwendet wurde 131 • Das Werk wurde großenteils von bezahlten Professoren des Rechts, den "Berichterstattern", ausgeführt, die in ihrer Freizeit mit Hilfe von freiwilligen Rechtsanwaltsausschüssen arbeiteten, welche als Ratgeber fungierten. Die Entwürfe wurden so dann von den Mitgliedern des Instituts auf einer Versammlung diskutiert und gebilligt. Es wurde nicht versucht, die sozialen Fakten zu erlangen, man bediente sich nicht der Technik irgendeiner anderen Wissenschaft. Das abgeschlossene "Restatement" bildet eine Bibliothek von über 22 Bänden, die mehr als 16000 Seiten umfassen, mit einer Menge kleinerer diverser Publikationen, Kommentare, Verzeichnisse und dergleichen. Obwohl es nicht mehr unternimmt, 130 Beutel: An Outline of the Nature and Methods of Experimental Jurisprudence, in: Colorado Law Review, Bd. 51 (1951), S. 415, 425 H. Siehe ferner Beutel: Trafik Control as Experimental Jurisprudence in Action, in: Nebraska Law Review, Bd. 31 (1952), S. 349. Siehe KapitellI. 131 Siehe Wigmore: A Panorama of the World's Legal System, 1928, Bd. 1, S. 444. Der Unterschied besteht darin, daß die Digesten juristische Schriften zusammenstellten, während das Restatement Entscheidungen enthält.

9 Beutel

130 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen als inoffiziell das Ergebnis der Gerichtsentscheidungen darzulegen, hat es sich weitgehende Anerkennung als autoritative Darstellung des Rechts auf den von ihm umfaßten Gebieten gesichert und hat viel dazu beigetragen, den Wirrwarr der Gerichtsentscheidungen zu verringern. Ohne den Versuch einer Verbesserung, Reform oder Modernisierung tut es nichts weiter, als das gemeine Recht herauszuarbeiten. Die Bemühungen um eine Rechtsreform haben weniger als ein Viertel der Kräfte des Instituts in Anspruch genommen, aber nun, da das "Restatement" beendet ist, muß man hoffen, daß diese Seite der Arbeit eine stärkere Betonung erfahren wird. Neben dem Ausbildungsprogramm, das nicht mehr als eine technische Ausbildung für Rechtsanwälte im Gebrauch der gegenwärtigen Rechtsmaschinerie darstellt, hat das Institut fünf Gesetzentwürfe fertig gestellt, die einen freimütigen Versuch darstellen, das Recht zu verbessern, und die ungefähr dem Schritt sechs im Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft entsprechen, jedoch ohne die Mühe, Forschungen anzustellen und im Zusammenhang mit den Schritten drei bis fünf zu denken. Die vorgeschlagenen Gesetze sind das Strafprozeßgesetz, das Gesetz über das Jugendstrafrecht, das Mustergesetzbuch über das Beweisrecht, das einheitliche Handelsgesetzbuch und das Bundeseinkommensteuergesetz. Bei dem Versuch, diese Gesetzbücher zu schaffen, übernahm das Institut leider denselben Verfahrensmodus, der sich bei der Neudarstellung des gemeinen Rechts als so erfolgreich erwiesen hatte. Die Arbeit an jedem Projekt geschah unter der Leitung einer Gruppe von Rechtsprofessoren als Berichterstattern, umgeben von Ausschüssen der Anwaltschaft, die sich beim Entwurf der neuen Gesetze auf die Kenntnisse der Berichterstatter verließen. Es gab praktisch keine Sozialforschung oder Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften oder Gruppen von Wissenschaftlern. Folglich sind diese Gesetze in erster Linie ex cathedra-Manifeste großer Autoritäten aus dem Stande der Rechtslehrer, während den Problemen der Naturwissenschaft oder der Sozialwissenschaft wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Bei der Zusammenstellung des Jugendstrafrechts haben Sozialwissenschaftler aus anderen Gebieten einige Ratschläge ex cathedra erteilt, aber man bemühte sich kaum um Forschungen, die über rechtliche Feststellungen hinausgingen. Der Entwurf des Handelsgesetzbuches geschah nach demselben Muster tS2 wie das Restatement, allerdings in Zusammenarbeit mit der Kom132 Für eine ausführliche Kritik an diesem Verfahren siehe Beutel: The Proposed Uniform Commercial Code as a Problem in Codification, in: Law and Contemporary Problems, Bd. 16 (1951), S. 141 ff.; Beutel: The Prosposed Uniform Commercial Code Should Not Be Adopted, in: Yale Law Journal, Bd. 61 (1952), S. 334, 358 ff.

4. Das American Law Institute

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mission für Gesetzesvereinheitlichung des Amerikanischen Anwaltsvereins (Uniform Laws Commission of the American Bar Association), die ein freiwilliger Zusammenschluß von Rechtsanwälten ist und in ihren Entschließungen dem Verfahren einer Gesetzgebungskörperschaft ähnelt. Beim Entwurf des Handelsgesetzbuches wurden Rat und Hilfe verschiedener Wirtschaftsverbände erbeten und gewährt, und zwar so ziemlich in der Form, in der Lobbyisten vor den Gesetzgebungsausschüssen auftreten; und wie an anderer Stelle dargelegt 133, wurde in einem Falle, nämlich bei Art. 4 (Bankeinlagen und -einziehungen) dem Institut und den Mitgliedern des Ausschusses für Gesetzesvereinheitlichung die Herrschaft über das Verfahren von der Banklobby entzogen. Die Arbeit des Instituts bewirkte so gut wie keine Änderung des Rechts. Das Restatement hatte ein solches Ergebnis natürlich nicht beabsichtigt, und der Einfluß der Mustergesetzbücher war gering. Bis zum Jahre 1951, also nach 28 Jahren Institutsarbeit, war das Strafprozeßgesetz, welches lediglich die Entfernung einiger der Anachronismen aus der Strafrechtspraxis versucht hatte, nur von fünf Staaten annähernd vollständig und von anderen Staaten nur in manchen Einzelheiten rezipiert worden. Das Jugendstrafgesetzbuch, das eine widersprüchliche Reform in der Behandlung junger Delinquenten versucht, wurde mit einer Anzahl von Änderungen von nur fünf Staaten angenommen. Das Mustergesetzbuch über das Beweisrecht, das mit nur wenigen geringen Änderungen eine autoritative Kompilation auf der Grundlage des gegenwärtigen Gerichtsverfahrensrechts darstellt, wurde nirgendwo übernommen. Das Einheitliche Handelsgesetzbuch, ein gewaltiges, aber nicht sonderlich befriedigendes Unternehmen, ist seit fünf Jahren abgeschlossen, hat aber erst von der Legislative eines Staates die Zustimmung erhalten 134 • Das Bundeseinkommensteuergesetz ist, wie sein Titel andeutet, ein Versuch der Neukodifizierung von Teilen des Bundessteuergesetzes; es ist noch nicht fertiggestellt, wird aber nach demselben Verfahren kompiliert wie das Restatement. Der Entwurf eines Musterstrafgesetzbuches 135 , das sich seit 20 Jahren in der Diskussion befindet, wird jetzt mit Spendenmitteln der RockefeIler-Stiftung in Angriff genommen. Auf Grund der Darstellung der 133 Beutel: The Prosposed Uniform Commercial Code Should Not Be Adopted, in Yale Law Journal, Bd. 61 (1952), S. 334, 358 ff. 134 Pennsylvania, in Kraft getreten im Juli 1954, Pensylvania Statutes Annotated, Tit. 12 A (Purdon, 1954). Zur Zeit ist es in die Gesetzgebungskörperschaften von New York, Massachusetts und Georgia eingebracht worden; der New Yorker Gesetzesrevisionsausschuß hat es jedoch zurückgewiesen, New York Legislative Document No. 65 A (1956). (Inzwischen wurde es von allen Staaten angenommen.) 135 Der "Model Penal Code" ist inzwischen fertiggestellt und auch ins Deutsche übertragen worden ("Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetzbuches vom 4. Mai 1962", übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Richard M. Honig, Berlin 1965).

132 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen damit verbundenen Probleme durch den Berichterstatter 136 besteht die Hoffnung, daß ein wenig echte wissenschaftliche Erforschung der Sozialproblerne und der Auswirkungen des derzeitigen Strafrechts in dieses Werk eingehen werden. Der Mitarbeiterkreis ist ungefähr von derselben Art wie der beim Handelsgesetzbuch, und es ist zweifelhaft, ob man jemals irgend ein Musterstrafgesetzbuch entwerfen kann, ehe eine weitreichende Erforschung der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen rund um das Gebiet der Pönologie und der jeweiligen Auswirkungen der verschiedenen z. Z. existierenden Gesetze stattgefunden hat. Wie an Hand der Ergebnisse der Arbeit am Handelsgesetzbuch gezeigt wurde 137 , hat die Beherrschung des American Law Institute durch eine Gruppe vornehmer Rechtsanwälte dazu geführt, daß es dem Interessendruck ihrer Klienten unterworfen wurde. Indessen bedeutet die Kompilation eines Strafgesetzbuches keine unmittelbare Beeinträchtigung dieser Interessen, wie das beim Handelsgesetzbuch der Fall war. Es mag sein, daß die Berichterstatter die Schwierigkeiten erkennen, die mit der Anwendung des Rechts, das sie zu kodifizieren versuchen, verbunden sind, und daß sie echte wissenschaftliche Hilfe aus anderen Gebieten bekommen werden. Das Institut wird so, wie es derzeit organisiert ist, diese Bemühungen kaum vorantreiben; da aber auf diesem Gebiete bei den Mitgliedern der Anwaltschaft wenige unmittelbar finanzielle Interessen vorhanden sind, werden sie vielleicht nicht abgeneigt sein, die Unterstützung außenstehender Wissenschaftler anzunehmen. Es bleibt also die Chance, daß das Institut zur Anwendung wirklich wissenschaftlicher und experimenteller Methoden kommt, nachdem es sich erst einmal den Weg durch die Rechtsverwirrung freigeschaufeIt hat. Es bestehen bereits Pläne für die Untersuchung der Auswirkungen der Übernahme des Mustergesetzbuches für ein Jugendstrafrecht in den verschiedenen Staaten 138 • Wenn sie durchgeführt werden, wird das Institut mit dem letzten Schritt im Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft beginnen, den erneuten Untersuchungen der Auswirkung einer Reform. Ist diese Arbeit erfolgreich, so sollte sie zu einer weiteren Anwendung der vollständigen experimentellen Methode durch das Institut ermutigen. Sofern die Gesetzbücher keinem anderen Zweck dienen, als das bestehende Recht zu formulieren, das auf verschiedene Probleme Anwendung findet, die den einzelnen Paragraphen in langen Kommentaren angefügt sind, so werden sie bis zu einem gewissen Grade zur Vervollständigung von Schritt zwei im Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft 136

Wechsler: The Challenge of a Model Penal Code, in: Harvard Law Review,

Bd. 65 (1952), S. 1097. 137

138

Siehe die oben (Anm. 132) aufgeführte Literatur. Wechsler: The Challenge of a Model Penal Code, a.a.O. (Anm. 136), S. 1121.

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führen. Von da aus kann das American Law Institute weiter schreiten zur Untersuchung sozialer Bedürfnisse und zur Entwicklung und Anwendung wissenschaftlicher Gesetzgebung, oder es kann mit der klugen Verwendung der Früchte anderer Wissenschaften beginnen; aber so, wie das Institut heute konstituiert ist, hat es mehr den Charakter eines geselligen Beisammenseins und einer inoffiziellen, aber erfahrenen Gesetzgebungskörperschaft als den Charakter einer wissenschaftlichen Organisation. Es hat noch einen weiten Weg zu bewältigen, bevor es auch nur damit anfängt, den Abstand zwischen den Entwicklungen der Wissenschaft und dem Zustand des Rechts zu verringern; es bestehen jedoch Anzeichen, daß seine fortgesetzten Bemühungen um die Rechtsreform schließlich einen sichtbaren Fortschritt in diese Richtung bewirken könnten. Im gegenwärtigen Zeitpunkt stellt es eine wichtige institutionalisierte Hoffnung dar auf die Übernahme wissenschaftlicher Entwicklungen in das Recht.

5. Das Johns Hopkins Institute of Law Von allen Versuchen juristisch ausgebildeter Fachleute, bedeutsame Sozialforschungen über Wirkweise und Funktionieren des Rechts zu entwickeln, ereignete sich wahrscheinlich der wichtigste an der Johns Hopkins University unter der Leitung ihres Rechtsinstuts. Dies war die erste größere Anstrengung, die Sozialforschung im Rechtsbetrieb zu institutionalisieren. Das JohnsHopkins Institute wurde im Juni 1928 eingerichtet1 39 und nach etwas mehr als vier Jahren wieder aufgegeben140 • Der ursprüngliche Plan war, eine wissenschaftliche Einrichtung zu schaffen, die das Recht als Instrument gesellschaftlicher Regulierung untersuchen und als weg bereiten des Forschungs- und Entwicklungszentrum dienen sollte, so, wie Johns Hopkins in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft Pionierarbeit geleistet hatte. Zwei Hauptziele lagen dem Institut zugrunde: (1) Die Erforschung der sozialen Auswirkungen der Rechtsanwendung und der Arbeit von Rechtseinrichtungen wie den Gerichten; (2) die Ausbildung junger Leute zu Experten in der Entwicklung dieser neuen Wissenschaft1 41 • Das Forschungsprogramm sah die Untersuchung verschiedener Arten von Rechtspflegeinstituten vor, und zwar durch Berichte über die Ergebnisse ihrer Tätigkeiten auf jenen Gebieten, wo unterschiedliche RechtsRundschreiben Nr. 7 der Johns Hopkins University, 1929/1930, S. 7. Marshall und May: The Divorce Court in Ohio, 1933, S. 8. 141 Goodnow und Griswould: The Institute for the Study of Law, 1929. S. 31 ff. 139

140

134 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen systeme verschiedene Mittel zur Erreichung desselben Zieles verwendeten. Man war der Meinung, daß ein Vergleich der statistischen Fakten über die Arbeitsweise staatlicher Instanzen wie der Gerichte, der öffentlichen Versorgungsbetriebe und ähnlicher Verwaltungsbehörden, die Stärken und Schwächen ihres Aufbaues enthüllen würden und bedeutsame Reformen zur Erhöhung ihrer Wirksamkeit nahelegen könnten. Die Pläne des Instituts wiesen ferner darauf hin, daß es möglich sein könnte, auf Grund der Untersuchungsergebnisse Experimente in der Rechtspflege durchzuführen 142 • Das Programm faßte außerdem die Zusammenarbeit mit Angehörigen verschiedener Zweige der Sozialwissenschaften ins Auge, um die Arbeit des Instituts zu fördern 143 • Die ursprünglichen Pläne rechneten mit sehr beträchtlichen Ausgaben. Der geplante Jahreshaushalt verlangte annähernd 300000 Dollar, die in der Hauptsache für Forschungen ausgegeben werden sollten, aber die tatsächlichen Ausgaben erreichten in ihrem Höhepunkt weniger als die Hälfte dieser Summe. Es bestand auch die Hoffnung, ein weiträumiges Gebäude für ungefähr eine halbe Million Dollar zu errichten l44 • Mit dem Bau wurde nie begonnen. Es wurde jedoch der Kern eines Personalstabs mit sechs bis zehn ständigen Fachleuten geschaffen. Der Plan forderte weiterhin drei assoziierte Experten, die mit dem ständigen Stab auf Jahresbasis zusammenarbeiten sollten, und ungefähr zwanzig jüngere Gelehrte und Bürokräfte 145 • Das Institut besaß dann in seiner tatsächlichen Zusammensetzung einen permanenten Stab von fünf Juristen und einem Wirtschaftswissenschaftler146 • Von den fünf Juristen des Stabes war Walter Wheeler Cook, der Hauptorganisator des ganzen Vorhabens, zugleich ausgebildeter Physiker. Der Assistentenstab veränderte sich zwar hin und wieder während der Dauer des Projektes, war aber ebenso wie das Spitzenpersonal vorwiegend juristisch geschult, und die wenigen Forschungsmitarbeiter, die assoziierte Experten waren, erwiesen sich gleichfalls als Juristen 147 . Ebd. S. 60. Ebd. S. 66. 144 Ebd. S. 83 ff. 145 Rundschreiben Nr. 7 der Johns Hopkins University, 1929/1930, wo auch das ganze Programm dargelegt wird. 148 Walter W. Cook, Leon C. Marshall, Herman Olipha.nt, W. W. Willoughby, Hessel E. Yntema, J. V. A. MacMurray: Rundschreiben Nr. 7 der Johns Hopkins University, 1931/32. Willoughby und MacMurray fungierten hauptsächlich als Berater. 147 Die Einzelheiten über diesen Mitarbeiterstab finden sich in den Jahresrundschreiben der Johns Hopkins Universität, Nr. 6 und 7, 1929/1930 bis 1932/ 1933. 142

143

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Die Tatsache, daß das Personal so überwiegend aus Personen mit juristischer Herkunft und Ausbildung bestand, hatte wahrscheinlich einen sehr ausgeprägten Einfluß auf die Gegenstände, die für die anfängliche Forschung ausgewählt wurden. Da die juristische Ausbildung gänzlich von der Fallmethode und dem Studium der Funktionen des Gerichtswesens beherrscht wurde, war es nur natürlich, daß unter der Leitung der Juristen die hauptsächlichsten Forschungsanstrengungen des Instituts fast ausschließlich auf den gerichtlichen Aspekt der Rechtspflege gerichtet sein würden. Die Knappheit der Geldmittel und der Zeitfaktor mögen ebenfalls eine Rolle dabei gespielt haben, daß die Prüfung anderer sozialer Auswirkungen des Rechtsbetriebes unterlassen wurde.

a) Erhebungen über Gerichtsverfahren Das Institut führte während seines Bestehens drei größere Forschungsvorhaben durch: Eine Erhebung über Gerichtsverfahren in der Stadt New York (sie umfaßte den Obersten Gerichtshof von New York, das Kreisgericht, das Stadtgericht und einen Teil der Tätigkeit der Bundesgerichte in diesem Gebiet)148, eine Untersuchung der Rechtspflege des Staates Ohio 149 und eine ähnliche Untersuchung der Rechtspflege im Staate Maryland l50 • Die beiden letzten Projekte wurden in Zusammenarbeit mit den Justizaufsichtsbehörden (judicial councils) der beiden Staaten durchgeführt. über diese drei größeren Untersuchungen hinaus arbeitete das Johns Hopkins Institute auch an vielen kleineren Forschungsvorhaben seitens einzelner Gelehrter mit, die unter der allgemeinen Leitung des Instituts oder in fast selbständiger Verantwortlichkeit der einzelnen Gelehrten durchgeführt wurden. Heute ist es ganz unmöglich, alle diese Untersuchungen auch nur zu vermerken. Immerhin führte das Institut in seinem Rundschreiben von 1931/32 151 26 solcher Projekte auf, die bis zu einem gewissen Grade in Zusammenarbeit mit dem Institut betrieben 148 Beschreibungen dieser Untersuchungen finden sich in den oben (Anm. 147) zitierten Universitätsrundschreiben. Die hier wiedergegebenen Ergebnisse der New Yorker Untersuchung sind dem "Study of Civil Justice in New York" entnommen, einem vertraulichen Institutsdokument, das sich in den Schriften von Walter W. Cook fand; siehe auch Survey of Litigation in New York, Johns Hopkins Bulletin Nr. 1 - 3 (1931/1932). 148 Judicial System of Ohio, Johns Hopkins Bulletin Nr. 1 - 6, gibt die Projekte und ihre Fortschritte wieder; die folgenden Werke sind (neben anderen) teilweise Ergebnisse dieser Untersuchungen: MarshaH und May: The Divorce Court in Ohio, 1933; Martin: Waiver of Jury Trial in Criminal Cases in Ohio, 1933; MarshaH: Comparative Judicial Criminal Statistics: Ohio and Maryland,

1932.

150 MarshaH und May: The Divorce Court in Maryland, 1932, ist zum Teil eine Frucht dieser Untersuchung; siehe ferner Judicial System of Maryland, Johns Hopkins Bulletins Nr. 1 - 5 (1930 - 1932). 151 S. 12 ff.

136 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen wurden, und zwar zur selben Zeit, als es seine umfassendere Untersung der Rechtspflege unternahm. Von diesen 26 waren alle bis auf drei Versuche, irgendeine Form gerichtlicher Tätigkeit zu erforschen. Von den übrigen drei Projekten galten zwei der Untersuchung der Funktion öffentlicher Versorgungsbetriebe 152 und eines der Prüfung von Kriminalstatistiken. Außerdem ging man an die Arbeit heran, alle laufenden Forschungsprojekte auf dem Gebiete des Rechts zu katalogisieren 153 • Die kurze Zusammenfassung verrät, daß das Institut in Wirklichkeit keine bedeutendere Untersuchung von mehr als einem Zweig der Rechtsmaschinerie, nämlich der Gerichtsbarkeit als solcher, anstellte, obwohl es dazu ausgebaut worden war, eine wissenschaftliche Erforschung der sozialen Auswirkung von Rechtsvorschriften zu unternehmen, in der Hoffnung, Experimente und Verbesserungen zu entwickeln. b) Die Ergebnisse der Untersuchungen der Rechtspflege

Die drei Hauptprojekte auf dem Gebiet der Rechtspflege ähneln sich in ihrer Art, und man kann ungefähr sagen, daß sie die folgenden Zwecke verfolgten: ,,1. Untersuchung der Prozeßverläufe und Ermittlung ihrer menschlichen Ursachen und Auswirkungen. 2. Untersuchung der Maschinerie und der Funktionsweise verschiedener Behörden und Ämter, die direkt und indirekt mit der Rechtsdurchführung zu tun haben. 3. Kennenlernen der Gründe für Verzögerungen, Kosten und Unsicherheiten imProzeß. 4. Einrichtung einer ständigen systematischen Darstellung der Gerichtsakten und -statistiken, welche automatisch für die Information sorgen wird, die heute mit großem Arbeitsaufwand beschafft werden muß. 5. Aufdeckung von Punkten, bei denen Änderungen im materiellen Recht merklich zur sozialen Gerechtigkeit beitragen würden154 ." Die Untersuchungen schritten in keiner Weise weit genug voran, um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, die ihnen vom leitenden Ausschuß gesteckt worden waren. Man hat sich bemüht, gerichtliche Statistiken zusammenzustellen und zu entwickeln. Einem großen Mitarbeiterstab wurden Erhebungsbögen zur Eintragung von Einzelheiten über die Ge152 Eine dieser Untersuchungen ist Burke: The Public Service Commission of Maryland, 1932, eine hervorragende statistische Studie mit einigen Reformvorschlägen. 153 Siehe Harron: Current Research in Law, 1928 - 1929; Iddings: Current Research in Law, 1928 - 1930. 154 Bond und Cook, Vorwort zu: The Divorce Court in Maryland, 1932, S. 7; siehe ferner MarshalI: Outline of Statement Concerning State Wide Judicial Administration, 1932.

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richtspraxis gegeben, um eine Analyse der verschiedenen Prozeßfälle zu erbringen. Die von jedem dieser Fragebögen beabsichtigte Analyse verzeichnet solche Punkte wie persönliche Angaben über die Parteien in Scheidungsfällen, Entstehung des Falles, Gerichtszuständigkeit, Rechtsschutz, Parteistellung, Streitwert, Art der Fallbehandlung, Art des Urteils und mehr als hundert andere Einzelheiten verschiedener Informationen über einen bestimmten Prozeß in den erstinstanzlichen Gerichten und in der Berufungsinstanz 1S5 • Über ein Dutzend unterschiedlicher Erhebungsbogen, von denen ein jeder ungefähr 100 Einzelpunkte enthielt, sind anscheinend in jeder der beiden Untersuchungen in Ohio und Maryland verwendet worden. Nachdem ein oder mehrere Erhebungsbogen für jeden Fall der ausgewählten Fallgruppe ausgefüllt war, wurden die Aufzeichnungen zusammengefaßt und die daraus resultierenden Statistiken manuell oder maschinell weitgehend auf dieselbe Weise ausgewertet, wie es bei der Arbeit im Statistischen Bundesamt geschieht. Daraufhin wurde das Material in Form statistischer Berichte gesammelt und klassifiziert. Eine annähernde Vorstellung von der Riesigkeit dieser Aufgabe kann man aus den statistischen Angaben bekommen, die in den Schlußberichten enthalten sind. Die New Yorker Untersuchung umfaßte z. B. annähernd 10 000 Urteile des Obersten Gerichtshofes von New York, eine ähnlich große Zahl des Kreisgerichtes (county court), 18000 des Stadtgerichtes (city court) und 28000 des Amtsgerichtes (municipal court). Darüber hinaus wurde versucht, einige Daten über mehr als 300000 weitere Fälle an diesen Gerichten statistisch zu erfassen i56 . Obwohl diese Fallanalyse nur eine Teilauswahl aus der Gesamtzahl der im Jahre 1930 entschiedenen Fälle darstellte, ergab sich - zusammen mit einer Auswahl aus anderen Jahren aus den Untersuchungen in Ohio und Maryland, wo die oben erwähnten Erhebungsbogen verwendet wurden - eine Erhebung von über 135000 Urteilen, die aus den Urteilsregistern der verschiedenen Gerichte ausgewählt worden waren. Unter diesen befanden sich 9000 Scheidungsurteile der Gerichte in Ohio aus dem ersten Halbjahr 1930, eine ähnliche Anzahl Strafverfahren aus derselben Zeit, 40 000 Zivilprozesse und viele andere. Eine kleinere Anzahl von Scheidungen, von Klagen nach gemeinem Recht und von Billigkeitsund Straffällen wurde im Staate Maryland untersucht und analysiert l57 • 105 Einige dieser Erhebungsbogen sind in zwei Broschüren zusammengestellt und aufbewahrt worden: Sample of Data Sheets Used in Analysis of Current Litigation und Studies of Maryland and Ohio; siehe ferner Johns Hopkins Judicial System of Ohio, Bulletin Nr. 5, 1931, S. 18 - 47, und Johns Hopkins Judicial System of Maryland, Bulletin Nr. 2, 1930, S. 18 - 47, wo die Erhebungsbogen in Gänze wiedergegeben sind. 158 Siehe die Tabellen 1 - 3 in: Study of Civil Justice in New York (Anm. 148). 157 Rundschreiben Nr. 7 der Johns Hopkins University, 1931-1932, S. 11 ff.; Johns Hopkins Judicial System of Maryland, Bulletin Nr. 2, S. 4 ff.

138 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen Es ist sofort ersichtlich, daß diese gewaltige Masse an Gerichtsstatistik ein enormes Informationsbündel über die Gerichtsmaschinerie dieser drei zur Ausgangsuntersuchung ausgewählten Staaten ergeben haben sollte; und obwohl die Arbeit nie abgeschlossen worden ist - und zwar aus Geldmangel, der großenteils durch die Tatsache verursacht wurde, daß man das Projekt unglücklicherweise während des Tiefstandes der schlimmsten Finanzkrise begonnen und durchgeführt hatte, die dieses Land je erlebt hat -, häufte sie Berge von Gerichtsstatistiken und vielseitige Informationen über die Gerichte der drei Staaten an. Wie nun das Institut dieses Material im einzelnen verwertet hätte, wenn es mit seiner Arbeit fortgefahren wäre, muß ganz und gar der Spekulation überlassen bleiben. Von den fünf Zielen, die sich die fünf Forschungsleiter gesteckt hatten, erreichte man nur das erste und das zweite zum Teil. Es wurden Daten gesammelt, die statistische Informationen über Sampies liefern aus jeder Ebene des Gerichtssystems von Ohio und dazu praktische Informationen über Maryland und New York. Unter anderem wurden neun statistische Monographien veröffentlicht, welche die Arbeit und die Betriebskosten der Gerichte von Ohio analysieren; unter ihnen befinden sich die Gerichte der Friedensrichter l58 und des Bürgermeisters159 im Verwaltungsbezirk Hamilton, Strafverfahren in den erstinstanzlichen Gerichten 160 , Zwangsverwaltungen im Verwaltungsbezirk Franklin 161 , das Ehescheidungsgericht 162 , Berfungsgerichte und Berufungsverfahren163 und die Strafrechtspfiege im Verwaltungs bezirk Franklin 16 4, die Ausgaben für die Rechtspfiege 165 und für die Kriminalstatistik 166 , jeweils innerhalb eines Jahres. Diese Publikationen waren, wie die übrigen des Instituts, großenteils detaillierte Tatsachenbeschreibungen einer Behörde des Gerichtssystems zusammen mit einigen Verbesserungsvorschlägen im Hinblick auf das bestimmte Gericht, das untersucht worden war. Die Prozeßverläufe und das Mahlgut der Justizmühlen werden im Detail und mit großer Genauigkeit vorgeführt. Soweit die Masse der Daten dazu ausreicht, wurden Teile des dritten Leitsatzes (Verzögerungen, Kosten und Unsicherheiten im Prozeß) verwirklicht, aber die Aufgabe der Tatsachensammlung und -systematisieDouglas: Justice of the Peace Courts of Hamilton County, Ohio, 1932. Douglas: The Mayor Courts of Hamilton County, Ohio, 1933. 160 Gehlke: Criminal Actions in the Common Pleas Courts of Ohio, 1936. 161 Billig, 1932. 162 Marshall und May: The Divorce Court in Ohio, 1933. 163 Harris, 1933. 164 Blackburn, 1935. 165 Reticker und Marshall: Expenditures of Public Money for the Administration of Justice in Ohio 1930, 1933. 186 Bettman, Jamison, Marshall und Mires: Ohio Criminal statutes 1931, 1932. 158 159

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rung war so umfangreich, daß sie fast den ganzen anfänglichen Schwung des Personals in Anspruch nahm. Als sein viertes Ziel hatte das Institut vorgeschlagen, man solle die Ergebnisse seiner Arbeit auf diesem Gebiet als Grundlage zur Schaffung einer ständigen systematischen Sammlung von Gerichtsstatistiken verwenden, und zwar nicht nur für die Staaten Maryland und Ohio, sondern für das ganze Land 167 • Tatsächlich befindet sich unter seinen Studien ein Vergleich der Kriminalstatistiken der bei den Staaten Maryland und Ohio 168 • Außerdem existiert ein Rundschreiben, das eine einheitliche Klassifikation für die gerichtliche Kriminalstatistik vorschlägt 169 • Indessen zeigt bereits eine Prüfung der letztgenannten Veröffentlichung, daß sie kaum mehr ist als eine vorläufige Studie, und die meisten Folgerungen scheinen theoretischen Überlegungen zu entspringen, statt auf der praktischen experimentellen Durchführung eines bestimmten Systems zu beruhen. Den vorläufigen Schlüssen dieses Berichtes folgten weitere Vorschläge 170 ; leider konnten sie jedoch nicht an den Ergebnissen späterer und größerer Untersuchungen erprobt werden. An dieser Stelle sollte man jedoch beachten, daß die Gerichtsstatistiken zu Beginn dieses Projektes im ganzen Lande in einem beklagenswerten Zustand waren, und es gibt keine Zweifel darüber, daß die Arbeit des Instituts sehr dazu angeregt hat, bessere Grundlagenvoraussetzungen für die Datensammlung auf diesem Gebiet zu schaffen. Allerdings scheinen seine Empfehlungen weder in Maryland noch in Ohio in der Art der Aufstellung von Gerichtsstatistiken eine Spur hinterlassen zu haben. Das fünfte Ziel, welches Änderungen im materiellen Recht als Ergebnis der Untersuchungen vorsah, scheint wenigstens in einem Falle erreicht worden zu sein. In Zusammenarbeit mit der Justizaufsichtsbehörde von Ohio hat das Institut tatsächlich Mustergesetze für Amtsgerichte l7l und für Verfahrensweisen bei Berufungsverfahren 172 entworfen. Das erstere ist anscheinend nicht in Kraft getreten, aber das letztere wurde von der Legislative von Ohio im Jahre 1935 verabschiedet173 und verursachte 167 168

1932.

Rundschreiben der Johns Hopkins University, 1930 - 1931, S. 9 ff. MarshaH: Comparative Judicial Criminal Statistics: Ohio and Maryland,

169 Hotchkiss und Gehlke: Uniform Classification for Judicial Criminal Statistics, 1931. 170 Johns Hopkins Judicial System of Ohio, Bulletins Nr. 11 und 12, 1932,

1933.

171 Yntema: Draft of Uniform Municipal Court Act for the State of Ohio, Johns Hopkins Bulletin Nr. 7, 1932. 172 Harris: Study of Judicial Administration in Ohio, Johns Hopkins Bulletin Nr. 9, 1932; ders.: Appellate Courts and Appellate Procedure in Ohio, 1933, S. 165 ff. 173 House Bill 42, Acts 116 Ohio Laws 1935, jetzt §§ 12223-1 bis 12223-49 und Änderungen weit~rer dort angegebener Paragraphen in Ohio General Code

(Page, 1938).

140 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. recht!. Maßnahmen eine Anzahl Änderungen im Berufungsverfahren des Staates. Obwohl das neue Gesetz keinerlei radikale Änderungen im Verfahren vor dem Berufungsgericht einführte und nicht in jeder Beziehung auf Untersuchungsergebnissen des Instituts beruhte, bedeutet es einen Schritt vorwärts in der Zusammenarbeit zwischen Gesetzgebungskörperschaften und Fachgremien einerseits und wissenschaftlicher Forschung andererseits. Hier zeigt sich ein bescheidener Fall des Schrittes sieben im Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft, das in Kapitel II erörtert worden ist. Es ist bedauerlich, daß das Institut aufgelöst wurde, ehe man das Gesetz verabschiedet hatte; auf diese Weise war es unmöglich, eine weitere Untersuchung über die Auswirkung der Gesetzesänderung durchzuführen. c) Die Arbeitsergebnisse des Instituts

Es ist ein Unglück, daß das Institut zu bestehen aufhörte, ehe es den Kreis seiner in Angriff genommenen Untersuchungen abgeschlossen hatte. Die ursprünglichen Pläne und seine ausdrücklichen Ziele versprachen, wären sie nur bis zum Abschluß durchgeführt worden, die Entwicklung einer echten Rechtswissenschaft. Nach den oben zitierten vorläufigen Leitsätzen und auf Grund der in Ankündigungen und Rundschreiben 174 umrissenen Absichten ist offensichtlich, daß die Gründer Vorstellungen hegten, die unter günstigeren Vorzeichen und in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften sehr viel mehr Nutzen für eine experimentelle Methode des Rechts gezeitigt haben könnten. Auf Grund der Tatsache, daß es vorwiegend von juristisch ausgebildeten Personen beherrscht war, unternahm es die Aufgabe, die Gerichtssysteme als Ganzes zu erforschen, und diese Aufgabe war in der Tat zu umfangreich, um irgendwelche beachtlichen vorläufigen Ergebnisse abzuwerfen. Die Wahl der Staaten, die verglichen werden sollten, nämlich New York, Ohio und Maryland, war wahrscheinlich wenig geschickt, weil sich deren Gerichtssysteme im ganzen zu sehr ähnelten. Hätte es mehr Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern gegeben, die vom Rang und von der Bedeutung des Gerichtssystems im Gesamtrahmen der sozialen Ordnung nicht so übermäßig beeindruckt gewesen wäre, so hätte diese Überschätzung der Gerichte vermieden werden können, und man wäre in der Lage gewesen, kleineren und bedeutsameren Instanzen der Rechtspflege Aufmerksamkeit zu schenken. Derartige Untersuchungen einzelner Systemteile, die aus den Statistikmassen dort auftauchten, wo es Unterschiede gibt, scheinen den größten Gewinn erbracht zu haben. Die Statistiken der EhescheidungsLaw as a Social Instrument, Johns Hopkins Publication; Goodnow und Institute for the Study of Law, 1929; Johns Hopkins University Rundschreiben 1929 - 1930, S. 28 ff. 174

Griswold:

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gerichte von Ohio und Maryland, wo sich die gesetzlichen Scheidungsgründe radikal unterscheiden, scheinen zum Beispiel einige bedeutende Tatsachen über Wesen und Gründe der Scheidung aufgedeckt zu haben. In Maryland, wo es nur wenige gesetzliche Scheidungsgründe gibt, beträgt die Scheidungsrate nur 1,25 auf 1000 der Bevölkerung 175 , während sich die Rate in Ohio, wo es viele und verhältnismäßig leicht beweisbare Scheidungsgründe gibt, auf 2,15 beläuft176 . Auf der anderen Seite stützt sich in Maryland ein Drittel der Fälle auf den Ehebruch als gesetzliche Begründung 177 , während der Ehebruch in Ohio in weniger als 2 Ofo der Fälle vorgebracht wurde 178 • Nun kann man sich nicht vorstellen, daß sich die Moral der Eheleute oder das Eheglück in beiden Staaten in diesem Ausmaß unterscheiden. Die Scheidungsgründe, die in den Formulierungen der Rechtsmittel beider Staaten gegeben werden, sind wahrscheinlich bloße Ausflüchte, die man dazu verwendet, um lästige Ehen aufzulösen. Diese Zahlen hätte man als Ausgangspunkt nehmen können für weitere und zweckdienliche Untersuchungen der wirklichen Scheidungsgründe und des tatsächlichen Eheglücks, die wahrscheinlich in Ohio und Maryland dieselben waren. Aber leider gelangte die Arbeit des Instituts auf diesem Gebiet nie über die Sammlung von Gerichtsstatistiken hinaus. Da die einleitenden Forschungen versuchten, die Fakten der komplizierten und ausgedehnten Justizmaschinerie dreier Staaten zu studieren, wurde der Erhebung der Brauchbarkeit einzelner Rechtseinrichtungen zur Lösung bestimmter sozialer Probleme wenig oder gar keine Aufmerksamkeit gewidmet. Eine derartige Forschung lag offensichtlich in der Absicht der Gründer, und man hätte diesen Entwicklungsstand der Rechtswissenschaft erreichen können, wenn das Institut mit seiner Arbeit fortgefahren wäre. Unglücklicherweise verhinderte die Hauptbeschäftigung mit Massenstatistiken eine zweckdienliche Forschung dieser Art. Tatsachenmassen sind nur von Bedeutung im Lichte der sozialen Probleme, auf die sie sich beziehen. Da das Institut nie dahin gelangte, einzelne soziale Probleme zu isolieren, sind die gesammelten Tatsachen zwar informativ, aber nicht besonders signifikant. Man könnte sagen, daß die wissenschaftliche Arbeit des Instituts ungefähr dasselbe Stadium erreichte, das die Botanik erreicht haben würde, wenn sie ihre Bemühungen allein darauf konzentriert hätte, die Blätter an den Bäumen zu zählen. Indessen zeigen die Ergebnisse, daß man Fakten über unsere Gerichte in einem Umfang sammeln kann, der ausreicht, um persönliche Abweichungen zu eliminieren, und daß sie in dieser Form zur Kritik am Betrieb unserer Gerichte dienen können. Diese Kritik ist viel mehr wert und nützlicher als die Klassifizierung schriftlicher Entschei175 176

l77

178

Marshall und May: The Divorce Court, 1932, Bd. 1, S. 24 ff. Dies., Bd. 2, 1933, S. 28. Dies., Bd. 1, 1932, S. 169. Dies., Bd. 2, 1933, S. 315.

142 5. Kap.: Zeitabstand zwischen wiss. Entdeckungen u. rechtl. Maßnahmen dungen, und wenigstens in einem Falle führte sie zur Änderung von Normen, die das Gerichtsverfahren regeln. Im ganzen bildete diese Arbeit einen unmittelbaren Schritt vorwärts in der Entwicklung einer wahren Wissenschaft der Jurisprudenz, aber sie war nur unvollständig. Gerichtsstatistiken sind - wie jede Statistik eindrucksvoll, aber ihre Sammlung ist zu langwierig und kostspielig, um wissenschaftlich ergiebig zu sein, wenn der einzige Zweck ihrer Sammlung im Zusammentragen von Tatsachen besteht. Rechtseinrichtungen sind so kompliziert, daß sie unzählige Tatsacheninformationen für die statistische Untersuchung liefern. Diese besitzt aber keine besondere Bedeutung, solange sie nicht mit einer Technik der Problembewältigung verbunden ist. Die Tätigkeit des Instituts zeigt, daß die Faktenanhäufung, wenn sie nicht sorgfältig auf Problemlösungen gerichtet ist, ein Sumpf sein kann, in den man unablässig Arbeit ohne nennenswerte Ergebnisse zu versenken vermag. Die Monographien erhellen ferner, daß Statistiken einen nützlichen Teil, aber nicht das Endziel der Experimentellen Rechtswissenschaft darstellen. Die bloße Notwendigkeit ihrer Aufstellung zum Zwecke der Tatsachenerlangung verhindert indessen eilfertige "Lösungen" wissenschaftlicher Rechtsprobleme. Das Verfahren ist lang und teuer, aber nicht länger und teurer als bei vielen anderen experimentellen Wissenschaften. Die gesamten Kosten des Johns Hopkins Institute betrugen während seines ganzen etwa vierjährigen Bestehens weniger als die Hälfte der Erstellungskosten für ein ZycIotron, und wer wagt zu sagen, daß es nicht viel ergiebiger hätte sein können, wenn ihm eine gleiche Chance geboten worden wäre 17D ?

6. Forschungsprogramme aus neuerer Zeit

In der Zwischenzeit nach der Auflösung des Johns Hopkins Institute bis zum Ende des 2. Weltkrieges hat es in den Rechtsfakultäten praktisch keine kooperative Sozialforschung größeren Ausmaßes mehr gegeben. Es gab natürlich zahlreiche bekannte Fälle individueller Forschung durch Personen, die mit Rechtsschulen verbunden waren, wie zum Beispiel die Arbeiten von Moore 180 , Hall l81 , den Gluecks 182 , Tappan183 und 179 Für eine vollständige Liste dieser Veröffentlichungen einschl. aller oben zitierten siehe Gehlke: Criminal Actions in the Common Pleas Courts of Ohio, 1936 (Reklameseiten am Ende). 180 Moore und Callahan: Law and Learning Theory, A Study in Legal Control, Yale Law Journal, Bd. 53 (1943), S. 1, wird in Kap. VI ausführlicher erörtert. 181 Theft: Law and Society, 1935. 182 Siehe z. B. Glueck und Glueck: 500 Criminal Careers, 1930; Glueck und

6. Forschungsprogramme aus neuerer Zeit

143

anderen, die bereits erörtert worden sind; aber erst in den letzten paar Jahren sind wieder institutionelle Vorhaben aufgetaucht. Die FordStiftung und andere große gemeinnützige Stiftungen haben angefangen, sich umzusehen und Zuschüsse für soziologische Erforschungen der Auswirkungen des Rechts zu gewähren. Ein Teil dieses Geldes kam der neugeschaffenen Forschungsabteilung der Harvard Law SchooP84 und anderen zugute. Eine der vielversprechendsten dieser gegenwärtigen Studien wird gegenwärtig an der Rechtsfakultät der Universität von Chicago in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern an dieser Institution durchgeführt. Die Ford-Stiftung hat kürzlich 1 Million Dollar bewilligt, die von der Universität in einem Zeitraum von vier Jahren für Untersuchungen auf drei Gebieten ausgegeben werden sollen, nämlich die Einstellung der Öffentlichkeit zur Besteuerung durch den Bund, die Handelsschiedsgerichtsbarkeit und das Funktionieren des Geschworenensystems 185 . Noch ist es zu früh, die Ergebnisse solcher Erforschungen zu beurteilen, aber es scheint hier eine Fortsetzung der Arbeit zu geben, wie sie sich die Gründer des J ohns Hopkins Institute vorgestellt hatten, und wenn sie, was so gut wie sicher ist, zum Erfolg gebracht wird, dürfte sie einen tiefgreifenden Einfluß auf die Rechtsforschung ausüben und dazu beitragen, die Lücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und rechtlichen Verfahrensweisen zu schließen.

GLueck: One Thousand Juvenile Delinquents, 1934; Glueck und GLueck: Unraveling Juvenile Delinquency, 1950. 183 Delinquent Girls in Court, 1947. 184 Siehe Dean's Report: The Law School, Harvard University, 1951 - 1952, S.17. 185 Siehe KaLvin: How Jurors Think, University of Chicago Magazine, März 1956, S. 5.

Kapitel VI

Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung* Trotz der in Kapitel V erörterten Schwierigkeiten ist die Experimentelle Rechtswissenschaft nicht bloß eine theoretische Hypothese, wonach die Anwendung des Rechts auf die Gesellschaft so kontrolliert und erforscht werden könne, daß eine Rechtswissenschaft entwickelt wird, die in ihren Grundzügen den Wissenschaften auf naturwissenschaftlichem Gebiete entspricht. Schon heute werden Teile des hier skizzierten Verfahrens in vielen Bereichen der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung angewendet. Einige dieser Teilentwicklungen einer solchen Wissenschaft werden an anderer Stelle erörtert werden; es gibt jedoch einen Sektor, wo sich die Art und Weise, das Recht und die zu ihm gehörenden Bestimmungen herauszubilden, zu einer ausgewachsenen Wissenschaft entwickelt hat, die den oben dargelegten allgemeinen Grundzügen folgt. Dieser Sektor befindet sich auf dem Gebiete der Verkehrsregulierung und Verkehrsüberwachung. Hier gibt es nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch ein System der Technik, das sich auf ihr gründet.

1. Die Verkehrsregulierung als eine vollständige Entwicklung der Experimentellen Rechtswissenschaft

Obwohl eine oberflächliche Betrachtung darauf hinweisen könnte, daß die Verkehrsregulierung weitgehend mechanischer verläuft, als es im allgemeinen bei der Durchführung anderer Gesetze der Fall ist, erweist eine sorgfältige Analyse, daß der Verkehr in Stadtzentren und auf Landstraßen alle Arten menschlicher Reaktionen umfaßt. Zwar sind Automobile Maschinen, aber sie werden von Menschen gelenkt, die als Fahrer

* Der Verfasser ist Herrn Verkehrsingenieur J. E. Johnson und dem Ministerium für Straßenbau und Bewässerung des Staates Nebraska sehr zu Dank verpflichtet für die Anregungen und die Erlaubnis, die in diesem Kapitel wiedergegebenen Darstellungen zu benutzen. Mein Dank muß sich ferner an Rechtsanwalt Alexander Goldfarb (Connecticut) richten, der mir bei der Forschung geholfen hat. Die folgenden Anmerkungen sind nicht auf Vollständigkeit angelegt; sie illustrieren lediglich einen Teil des verfügbaren Materials.

1. Die Verkehrsregulierung

145

und Fußgänger zu genauso unterschiedlichen Reaktionen fähig sind wie Menschen in jedem anderen Bereich. Es trifft zu, daß die Bewegungen der Menschen sowohl als Fahrer wie auch als Fußgänger durch das Vorhandensein von Straßen in der Stadt und auf dem Lande, von Bürgersteigen, Gebäuden und dergleichen irgend wie kanalisiert werden, aber eine eingehende Prüfung erweist, daß die Konstruktion dieser Vorrichtungen, die auf eine Beschränkung der menschlichen Bewegungen abzielen, ihrerseits zunehmend von einer experimentellen Wissenschaft diktiert wird. Die Mannigfaltigkeit der im Verkehr geregelten Arten von Gegenständen ist äußerst verwirrend. Die Bewegungen von Straßenbahnen, Linienbussen, Lastwagen, Pferdefuhrwerken, Automobilen, Motorrädern, Schubkarren, alle vom Menschen gelenkt, und von Fußgängern, die sich mit unzähligen Zielen durch die Fahrzeuge hindurch schlängeln und in alle Richtungen gehen, können genauso kompliziert sein wie andere menschliche Verhaltensmuster. Dennoch werden diese Abläufe heute durch Gesetze, Verordnungen, Straßenführungen, Landstraßen, Ampeln und weiteren Einrichtungen reguliert, die allesamt vom Recht sanktioniert und von der Polizei und anderen gesetzlich dazu ermächtigten Beamten durchgesetzt und konstruiert werden. Tausende von strafbaren Handlungen und die verschiedensten Bürgerrechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten entspringen täglich den widerstreitenden Handlungen und Wünschen dieses Irrgartens, den wir Verkehr nennen. Eine oberflächliche Untersuchung könnte darauf hindeuten, daß hier ein Beispiel menschlichen Verhaltens vorliegt, welches so gut wie jedes andere, das man aufgreifen kann, von manchen als jenseits wissenschaftlicher Kontrolle angesehen wird. Indessen zeigt ein überblick über das Anwachsen der Verkehrs regulierung in den letzten 40 Jahren das Emporkommen einer zusammenhängenden und sich entwickelnden Rechtswissenschaft, die alle oben aufgeführten Schritte um faßt. Seit der Jahrhundertwende gibt es hier und im Ausland eine schnell sich ausweitende Wissenschaft der Verkehrstechnikforschung. Verkehrsstudien wurden in England, und zwar in London, von einer königlichen Kommission schon 1904 durchgeführt1 . Ähnliche Arbeiten wurden in unserem Lande von Eno, einem der frühesten Verkehrsingenieure, in Frankreich und in Japan während der ersten beiden Jahrzehnte unseres Jahrhunderts unternommen2 • Schon im Jahre 1925 richtete man an der Harvard-Universität ein Amt für Straßen- und Verkehrsforschung ein. Die Geschichte dieser Entwicklung ist an anderer Stelle3 dargelegt wor1 Morrison: Research in Trafik Engineering, in: Trafik Quarterly, April 1948, S. 119, 121. 2 Eno: The Story of Highway Trafik Control, 1939. 3 Morrison, a.a.O. (Anm.l); Eno, a.a.O. (Anm. 2).

10 Beutel

146

6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

den und braucht deshalb hier nicht weiter diskutiert zu werden. Es sollte jedoch betont werden, daß wir heute eine tatsächlich angewandte Wissenschaft und Kunst der Verkehrstechnik besitzen, die alle Schritte der Experimentellen Rechtswissenschaft umfaßt.

a) Das zu untersuchende und zu isolierende soziale Problem Die Verfahrensweisen, die in der modernen Verkehrsregelung angewandt werden, erfordern Präzisionsuntersuchungen eines jeden Phänomens, das mit dem Verkehrsgeschehen an verschiedenen Örtlichkeiten zu tun hat. Da die Verkehrsregulierung jetzt voranschreitet, bestehen die verantwortlichen und zuständigen Beamten auf intensiven Untersuchungen einzelner Straßen4 , Kreuzungen 5 , Landstraßen 6 , Verkehrszeichen 7 und des Straßenbaus8 • Die Bewegungen der Fußgänger9 und Fahrzeuge werden an jedem Ort sorgfältig gezählt, zeitlich gemessen und klassifiziert. Geschwindigkeit lO , Richtung ll und Entfernungen, die in Reaktion auf Verkehrszeichen und Straßenverhältnisse zum Anhalten, Losfahren 12 , Abbiegen und Abbremsen 13 gebraucht werden, stellt man in Tabellen dar und berechnet ihren Durchschnitt. Ganze Verkehrsadern werden in ihrer Richtung 14 und in ihrem Fluß sorgfältig graphisch dargestellt. Die Bewegungen von Fahrzeugen und Fußgängern aus ganzen 4 Beachte die graphischen Darstellungen bei Moore und CaHahan: Law and Learning Theory: A Study in Legal Control, in: Yale Law Journal, Bd. 53, 1943/44, S. 1, 10 - 33; Michigan Highway Department, Street Trafik, City of Detroit, 1936 - 1937, S. 81 - 97. 5 Works Progress Administration Survey of Street Conditions in New Orleans, hektographiertes Manuskript 1937, S. 367 - 378; Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 223 - 237. 6 Siehe die Studie zur U.S. Bundesstraße Nr. 6 - Danielson Area, Jorgensen: Priority for Highway Improvement, in: Trafik Quarterly, Januar 1950, S. 5, 8 ff. 7 Smith: Road Signs, Signals and Markings: What do they mean?, in: Trafik Quarterly, April 1949, S. 149; Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 153 - 158. B Lochner & Co., Louisiana Department of Highways, Highway Plan for Shreveport, Louisiana, 1947, S. 6 ff.; Evans: Trafik Planning in San Francisco, in: Traffk Quarterly, Januar 1949, S. 31. U Works Progress Administration, Survey of Street Conditions in New Orleans, Pedestrian Flow, hektographiertes Manuskript 1937, S. 160 ff. Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 138 - 145; Erskine Bureau, Traffk Control Plan for Kansas City (Missouri), 1930, S. 104 - 107. 10 Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9), S. 88 - 95; Federal Emergency Relief Administration, Nr. L. 60-E5-220: Atlantic Traffk Survey, hektographiertes Manuskript 1934, S. 21 ff. U Lochner & Co., a.a.O. (Anm. 8), S. 4 - 5; Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 82. 12 Federal Emergency Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 37 - 45. 13 Ebd. S. 43 ff. 14 Dorsey: The Use of the Off-Center Lane Movement in Los Angeles, in: Trafik Quarterly, Juli 1948, S. 291; Louisiana Department of Highways and U.S. Public Road Administration, Monroe Traffk Survey, 1947, S. 36 - 39; Federal Emergency Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 12 ff.

1. Die Verkehrsregulierung

147

Darstellung 3

Ursprünge des Verkehrs in Richtung auf das zentrale Geschäftsviertel in Lincoln, Nebraska, während eines Durchschnittstages im Jahre 1950

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Fahrzeuge: 1950 insges. -46 100 1944 insges. -24 739 Die eingeklammerten Zahlen (177) bezeichnen einen Durchschnittstag Im Jahre 1944. Stadtplanungskommission, Lincoln, Nebr. Die Daten für die Darstellung wurden von der Abteilung für Straßenplanung Im Straßenbauministerium von Nebraska aufbereitet. Mitwirkende Behörden: U.S. Amt für öffentl. straßen, Harland Bartholomew, St. Louis. Missouri.

148

6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

Städten werden heute untersucht und auf statistische Diagramme und Tafeln reduziert1 5 • Darstellung 3 zeigt ein solches Schaubild von Ursprung und Strom des Stadtverkehrs von Lincoln (Nebraska). Jeder Aspekt des Verkehrsgeschehens sowie die Gruppen- und Einzelhandlungen der Verkehrsteilnehmer sind sorgfältig registriert und graphisch wiedergegeben 16 • Die Strukturen der Massenbewegungen in ganzen Städten17 und Staaten 18 werden erhoben und beschrieben. In einer zeitgemäßen Verwaltung wird dieses Material den Verantwortlichen für Verkehrsrecht zugänglich gemacht, ehe irgendeine neue Maßnahme der Verkehrsregulierung getroffen wird 19 • Hierin sieht der Wissenschaftler sofort eine Beschreibung der betroffenen Phänomene, die der wissenschaftlichen Tatsachenuntersuchung auf anderen Gebieten entspricht und die eine eigene hochentwickelte Technik besitzt20 • b) Das Auffinden der einschlägigen Rechtsvorschrift

Der zweite Schritt in der Wissenschaft der Verkehrsregulierung besteht in der Identifizierung der einschlägigen Rechtsvorschrift und ist vergleichsweise einfach. In den meisten Fällen bedarf es nur geringer Nachforschung, um das Gesetz oder die Verordnung aufzufinden, die den Verkehr auf einer bestimmten Kreuzung oder Straße regelt. Auf Grund des antiquierten Zustandes der Gesetzes- und Verordnungssammlungen kann eine vollständige Wiedergabe der städtischen und staatlichen Verkehrsgesetze etwas komplizierter sein, und es sind auch viele Untersuchungen veröffentlicht worden, die die Normen angeben, welche auf bestimmte Ereignisse angewendet werden 21 • In den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen gewöhnlicher Verkehrslagen war dieser Schritt 15 Alle hier zitierten Verkehrsuntersuchungen sind reichlich mit derartigen Tatsachen versehen, siehe z. B. Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4). Man braucht nur einmal in diesem oder irgendeinem ähnlichen Bericht zu blättern. 16 Siehe z. B. Connecticut Department of Motor Vehicles, Traffk Topics, Statistical Summary 1938 - 1939. 17 Louisiana Department of Highways und U.S. Public Roads Administration, Monroe Traffic Survey, 1947; Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4),

S. 126 - 137. 18 Willey: Statewide Origin-Destination Survey of Traffic in Arizona, Traffk Quarterly, April 1949, S. 189.

19 Jorgensen: Priority for Highway Improvement, in: Traffk Quarterly, Januar 1950, S. 5; Johnson: Factual Studies Needed in Solving Urban Traffic Problems, in: Traffk Quarterly, Januar 1950, S. 78. 20 Siehe Aust und Janda: Method of Making Short Traffic Counts and Estimating Traffic Circulation, University of Wisconsin Bulletin, 1931. 21 The Legal Responsibilities of Traffk Agencies, Eno Foundation Bulletin, 1948; Levin: An Analysis of General State Enabling Legislation Dealing with Automobile Parking Facilities, Bulletin Nr. 2, Highway Research Board, 1946; Report of Committee on Laws and Ordinances, The President's Highway Safety Conference, 1949, S. 54 ff.; Motor Vehicle Inspection, Traffic Quarterly, April 1947, S. 174.

1. Die Verkehrsregulierung

149

jedoch so klar, daß er wenig Suchen erforderte. Demgegenüber existieren zur Frage der Einheitlichkeit staatlicher und städtischer Rechtsnormen ausgedehnte Untersuchungen, welche eine detaillierte Analyse der Gesetze eines jeden Staates hinsichtlich aller Umstände enthalten, die einer Regelung unterliegen22 • c) Die sozialen Auswirkungen der Rechtsnormen

Die sozialen Auswirkungen der Gesetze und Verordnungen sind, soweit sie die verschiedenen Probleme der Verkehrs regulierung berühren, ausführlich untersucht worden. Z. B. hat man die Reaktion der Fahrer auf Parkvorschriften23 , Halteschilder 24 , Geschwindigkei tsbegrenzungen25 , Straßenmarkierungen26 und auch das Zusammenspiel von Halteverboten und Vorfahrtszeichen 27 sowie die Einziehung von Führerscheinen28 peinlich genau untersucht und in statistischen Tabellen dargestellt. Darstellung 4 ist eine solche tabellarische Wiedergabe der Unfälle im Geschäftsviertel von Hastings (Nebraska). Eine andere Studie ergab, daß von den Verkehrsteilnehmern in New Haven (Connecticut) an bestimmten Stellen 24 % der Verkehrsteilnehmer eine zweiminütige Beschränkung der Parkdauer befolgten und 76 0/0 dagegen verstießen, 55 % befolgten und 45 Ofo übertraten eine 15minütige Beschränkung, 70 Ofo befolgten und 30 Ofo übertraten eine 30minütige Beschränkung, während eine Stundenfrist von 52 Ofo befolgt und von 48 Ofo übertreten wurde; 10 Minuten nach dem Ablauf der genannten Fristen waren die Verkehrsteilnehmer jedoch mit folgenden Prozentsätzen der insgesamt geparkten Fahrzeuge abgefahren: 82 bei 2 Minuten, 6 bei 15 Minuten, 78 bei 30 Minuten, 64 bei einer Stunde. Jedes Zeitintervall wurde ausführlich in erschöpfenden Tabellen dargestellt29 • Andere Un22

National Highway Users Conferenee, Uniform Laws, Law Bulletin Bd. 1,

1947; Owen: Automotive Transportation, 1949, S. 102 - 103; Report of Com-

mittee on Law and Ordinances, a.a.O. (Anm. 21). 23 Moore und Callahan, a.a.O. (Anm. 4), S. 1,5,88 ff.; Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9), S. 139 ff., 244, 245. 24 Federal Emergeney Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 35 - 42; Raff: A New Study of Urban Stop Signs: A Volume Warrent, in: Traffie Quarterly, Januar 1950, S. 48; Allport: The J-Curve Hypothesis of Conforming Behavior in Neweomb, Hartley, in: Readings in Social Psychology, 1947, S. 5758. 25 Federal Emergeney Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 20 - 22, Anhang 23 ff.; Works Progress Administration, a.a.O. (Anm. 9), S. 154; Smith und LeCraw, Speed Laws and Enforeement, in: Traffic Quarterly, April 1947, S. 117; Smith und LeCraw: Travel Speeds and Posted Speeds in Three States, in: Traffk Quarterly, Januar 1948, S. 101. 28 Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 119 - 125. 27 Federal Emergency Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 23 - 34. 28 Transeau: Suspending and Revoking Drivers Lieenees, in: Traffk Quarterly, Juli 1947, S. 228 - 230. 29 Moore und Callahan, a.a.O. (Anm. 4), S. 1,95 ff.

150 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Darstellung 4

Verkehrsamt Hastings Vbersicht über Ort und Häufigkeit der Verkehrsunfälle im zentralen Geschäftsviertel und seiner Umgebung vom 1. Januar 1946 bis 30. November 1949

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152 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Zu der Zeit, als die Untersuchung S1 durchgeführt wurde, betrugen die angezeigten Geschwindigkeitsbegrenzungen in den verschiedenen Städten meistenteils zwischen 32 und 40 km/ho Die 85 Ofo-Geschwindigkeit ist diejenige Geschwindigkeit, unter der 85 Ofo der Fahrer ihre Autos führen. Seit dieser Untersuchung ist die Mehrzahl dieser Beschränkungen, wie sie darunter angegeben sind, aufgehoben worden. Es ist zu verzeichnen, daß die vom Gesetz vorgesehenen Geschwindigkeitsbegrenzungen wenig Wirkung hatten. Eine vierte Untersuchung ergab, daß die Genehmigung von zusätzlichen Straßenkreuzungen, Tankstellen und Absperrungen in Durchgangsstraßen dazu führte, daß die ungefährliche Höchstgeschwindigkeit auf der Boston Post Road gegenüber dem parallellaufenden Merrit Parkway, bei dem solche Hindernisse nicht genehmigt worden waren, um 50 Ofo gesenkt werden mußte. Ähnliche Veränderungen wurden auf den Landstraßen von Los Angeles, Chicago und New York registriert32 • d) Die Konstruktion von Hypothesen

Die Konstruktion von Hypothesen, welche die Gruppenreaktionen auf eine einzelne Vorschrift erklären, ist auf diesem Gebiet in hohem Maße entwickelt. Heute sind bereits unzählige Studien veröffentlicht über die Reaktion auf Verkehrszeichen33 , den Einfluß unterschiedlich hoher Beschriftungen34, den Gebrauch von Straßenmarkierungen35 , den Zweck von Verkehrsinseln 36 , die Reaktion auf Einbahnstraßen an bestimmten Orten31 , die Wirksamkeit von Gebots- und Haltezeichen38 , die Durchsetzung gesetzlicher Geschwindigkeitsbegrenzungen39 und die Wirkung 31

Johnson: How About Vehicle Speeds?, in: Traffic Quarterly, Bd. 5 (1951),

S. 325, 329.

32 Owen, a.a.O. (Anm. 22); Winter: Development of a Freeway System in Los Angeles Metropolitan Area, in: Traffic Quarterly, April 1949, S. 105, 114, 115. ~3 Smith, a.a.O. (Anm. 7), S. 149; Raff, a.a.O. (Anm. 24), S. 48. 34 Wright: Highway Speed-zoning and Control as Practiced in State of Utah, in: Traffic Quarterly, April 1949, S. 119, 123 - 124; Forbes und Holmes: Legibility Distances of Highway Destination Signs, Proceedings of Highway Research Board, Bd. 19, 1939, S. 321 - 325; Mitchel und Forbes: Design of Sign Letter Sizes, Proceedings of the American Society of Civil Engineers, Bd. 68 (1942), S. 95 - 104; Hammond und Sorenson: Trafik Engineering Handbook 1941, S.104. 35 Smith, a.a.O. (Anm. 7), S. 152; Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S.88. M Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 202 ff. 37 Smith und Hart: A Ca se Study of One-Way Streets, in: Trafik Quarterly, Oktober 1949, S. 378; Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 173 ff. 38 McEachern: A Four-Way Stop-Sign System at Urban Intersections, in: Traffk Quarterly, April 1949, S. 128, Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9), S. 211. 39 Smith und LeCraw, a.a.O. (Anm. 25), S. 117; ferner: Traffk Speed Enforcement Policies, Eno Foundation Publications 1948.

1. Die Verkehrsregulierung

153

der ganzen übrigen Masse von Verkehrsregelungseinrichtungen. Die Anwendung eines jeden Hilfsmittels ist ausführlich untersucht worden, und alle sind Gegenstand einer sorgfältigen Datenerfassung gewesen. Die unveröffentlichten Untersuchungen zur Lösung von Hunderten von alltäglichen Problemen übertreffen bei weitem die Zahl der in den Bibliotheken zugänglichen. Die Verkehrskommission des Staates New York erarbeitete allein im Jahre 1948 1027 Verkehrsgutachten und -studien 40 • Jeder, der mit der Verkehrsregulierung in Großstadtbezirken vertraut ist, kann viele Beispiele dafür aufzählen, wie wissenschaftliches Vorgehen eine wirksamere Kontrolle der Autofahrer erreichte. Ein Fall dieser Art geschah in der Innenstadt von New York, wo aus der Statistik hervorging, daß sich eine ungewöhnlich große Zahl von Unfällen auf einer der Alleen deshalb ereignete, weil die Fahrer am Steuer eingeschlafen waren. Bei einer sorgfältigen Untersuchung entdeckte man, daß die Vorfahrtszeichen mit einer solch einförmigen Regelmäßigkeit aufgestellt worden waren, daß ein Fahrer, der daran vorbeifuhr, durch die ständige Gleichförmigkeit des Motorgeräusches beim Weiter rollen in den Schlaf gelullt wurde. Eine neue Aufstellung der Zeichen in unregelmäßigen Abständen beseitigte dieses Problem, und die Unfallziffer sank sofort. Es gibt noch weitere Untersuchungen, die die UnfallsteIlen auf eigens dafür angefertigten Karten für Städte, Verwaltungsbezirke und Staaten aufzeichnen 41 , wie z. B. die in Darstellung 4 und diejenige, die man im angeführten Fall von New York verwendete; zusammen mit dem gesamten übrigen Material ergibt sie eine riesige Datenanhäufung für die Aufstellung wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten über die Reaktionen, die von diesen Regelungseinrichtungen verursacht werden. e) Die Entwicklung von juridischen Gesetzen

Als Resultat von Hunderten von Einzelstudien über den Gebrauch aller Arten von Verkehrsregulierungen an verschiedenen Stellen entwickelte man eine Reihe von juridischen Gesetzen, die die Notwendigkeit, die Wirksamkeit und den Vorzug einer bestimmten Einrichtung in einer bestimmten Situation erklären. Diese auf experimentellen Daten beruhenden juridischen Gesetze werden in der Terminologie des Verkehrsingenieurs gewöhnlich "Empfehlungen" genannt42 • Z. B. stellt ein Handbuch der Verkehrstechnik fest: "Die Gesamtzahl von Fahrzeugen, die eine Kreuzung aus allen Richtungen befahren, muß im Durchschnitt min40

Georger: New York State Traffic Commission, in: Traffic Quarterly, Juli

1949, S. 252, 257.

41 Federal Emergency Relief Administration, a.a.O. (Anm. 10), S. 1 - 8; Works Progress Administration, a.a.O. (Anm. 5), S. 19 ff.; Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 238 ff.; Connecticut Department of Motor Vehicles, a.a.O. (Anm. 16); Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 61. 42 Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), Kap. IX.

154 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

destens 8 Stunden lang je 1000 Fahrzeuge betragen", um den Gebrauch einer Verkehrsampel an einer Ecke zu empfehlen; oder: "wenn der gesamte Fahrzeugstrom, der in eine Kreuzung mit zeitlich fixierten Verkehrssignalen einfließt, während der Dauer von 2 oder mehr Stunden unter 500 Fahrzeuge pro Stunde ab sinkt, dann sollen die zeitlich fixierten Signale als Warn- oder Haltesignale oder als bei des betrieben werden"43. Obwohl sich einige dieser Empfehlungen noch auf der Ebene der Schätzung bewegenH und erwartet werden kann, daß sie nach weiterer wissenschaftlicher Entwicklung noch sehr viel genauer werden, enthalten die Handbücher der Verkehrstechnik heute u. a. präzise Empfehlungen für Ort und Stelle von Verkehrszeichen in den Straßen und Feststellungen des stündlichen Verkehrsvolumens, das die Verwendung eines bestimmten Signaltyps, eines Haltegebotes, einer Links- oder Rechtsabbiegung oder einer Durchgangsstraße rechtfertigt45 • Für Straßen mit bestimmten Merkmalen und bestimmtem Verkehrsumfang kann die Unfall rate vorausgesagt werden 46 . Für die Anbringung von verkehrs abhängigen, im Unterschied zu automatischen Signalsystemen gibt es in bezug auf gewisse Verkehrsbedingungen ebenfalls Empfehlungen, die von der Art der Verkehrsbelastung einer bestimmten Hauptverkehrsstraße abhängen47 . Eine ganze Wissenschaft der Erzeugung neuer Empfehlungen und der statistischen Hilfsmittel zu ihrer tabellarischen Erfassung und Wiedergabe ist entwickelt worden, und es stehen Lehrbücher zur Verfügung, die die Techniken auf diesen Gebieten darstellen 48 .

f) Vorschläge zur Rechtsänderung Vorschläge zur Rechtsänderung als Folge juridischer Gesetze oder sogenannter Empfehlungen sind in der Kunst, den Verkehr in Stadt und Land zu regeln, zur Alltäglichkeit geworden. Hunderte von Änderungen werden monatlich bei einzelnen Vorschriften vorgenommen, damit sie mit den Untersuchungsergebnissen in Einklang stehen49 . Halteschilder, Ebd. S.117. Smith, a.a.O. (Anm. 7), S. 149 -155; Morrison, a.a.O. (Anm. 1), S. 119, 125; McEachern, a.a.O. (Anm. 38), S. 128, 129. 45 Smith, a.a.O. (Anm. 7), S.149; Raff, a.a.O. (Anm.24), S.48; Neal: Uniformity in Traffic Markings, in: Traffic Quarterly, Oktober 1947, S. 389; Manual of Uniform Traffie Control Devices, U.S. Publie Road Administration, 1948. 46 Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 238 ff.; Rammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 77; Owen, a.a.O. (Anm. 22), S.120 ff. 41 Rammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 118 - 119. 48 Als Beispiel für die Art der hier betroffenen Untersuchungen siehe Rammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), S. 86; Engineering Manual for Traffic Surveys, Federal Emergeney Relief Administration, 1934, §§ 7 - 11; Ralsey: Traffic Aceidents and Congestion, 1941, S. 62; Maleher: Steady Flow Traffic System, 135; Public Roads Administration Highway Practiee, 1949. 49 Ralsey, a.a.O. (Anm. 48); Eno: The Scienee of Highway Traffic Regulation 43

44

1. Die Verkehrsregulierung

155

Verkehrsampeln, Einbahnstraßen, Parkzonen und Rechts- und Linksabbiegungen werden ständig verändert, um die Regulierung des Verkehrs in bessere Übereinstimmung mit den sie betreffenden juridischen Gesetzen zu bringen und die Regulierung dort zu verbessern, wo Empfehlungen eine bessere Handhabung nahelegen 50 • Darstellung 6 illustriert die Ergebnisse eines solchen Vorgehens. Da an der Kreuzung der US-Bundesstraße 30 mit der abgebildeten Landstraße einige Unfälle geschehen waren, installierte die Stadt eine Reihe automatischer Verkehrsampeln an einer Stelle, wo der Verkehr weit unter dem empfohlenen Umfang lag. Die Folge davon war, daß sich die Unfälle in Wirklichkeit häuften. Das staatliche Straßenministerium stellte eine Untersuchung an und schlug vor, die Ampeln durch ein Haltegebot mit einem vorausgehenden Hinweiszeichen entlang der Landstraße zu bei den Seiten der Bundesstraße 30 zu ersetzen. Das Ergebnis war eine Verminderung der Unfälle von vierzehn auf einen innerhalb gleich großer Zeiträume vor und nach der Veränderung. Die einander zustrebenden Pfeile in der Darstellung zeigen Position und Richtung der Fahrzeuge, die in die Unfälle verwickelt waren. Die Verkehrsabläufe ganzer Städte werden heute untersucht, und die Empfehlungen für die Änderungen von Rechtsvorschriften und Methoden der Verkehrsregulierung stützen sich auf die daraus resultierenden Berichte5 !. Unter vielen anderen wurden Untersuchungen des gesamten Verkehrs systems von Städten wie Detroit52 , New Orleans53 , Kansas City 54, Shreveport55 und Los Angeles 56 veröffentlicht. Die ersten drei der eben genannten Untersuchungen enthalten vollständige, detaillierte Straßenverkehrsordnungen, die auf Grund der jeweiligen Tatsachen und 1899 - 1920, 1920. 1027 derartige Untersuchungen wurden von der New York State Traffk Commission allein im Jahre 1948 angestellt, siehe Traffk Quarterly, Juli 1949, S. 252, 257. 50 Leroy: Signal Time to Meet Peak Loads of Traffk Demands, in: Traffk Quarterly, Januar 1949, S. 23, 24 ff.; Halsey, a.a.O. (Anm. 48); McEachern, a.a.O. (Anm. 38), S. 128, 133; Smith und Hart, a.a.O. (Anm. 37), S. 378, 379 ff.; Raff, a.a.O. (Anm. 24), S. 48; Hurd: The Designing of Intersection Channelization, in: Traffk Quarterly, Januar 1950, S. 89; Zannettos: Two-way, Non-stop Cross-Traffic, in: Trafiic Quarterly, April 1948, S. 128, 137; Ricker: The Traffic Design of Parking Garages, Eno Foundation 1948; Hart: Right Turns at Urban Intersections, in: Traffk Quarterly, Januar 1949, S. 74; Owen, a.a.O. (Anm. 22), S. 94, 106; Eno, a.a.O. (Anm. 2); Caplow: Express Transit Streets to Speed Traffk, in: The American City, Mai 1948, S. 123. 51 Elder: Houston's Urban Expressways, in: Traffk Quarterly, April 1949, S.166; Johnson, a.a.O. (Anm.19), S. 78, 82 ff. 52 Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4). 63 Works Progress Administration, a.a.O. (Anm. 5). 54 Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9). 55 Lochner & Co., a.a.O. (Anm. 8); Andrews: Shreveport's Traffk Runs More Easily, in: The American City, September 1949, S. 171. 68 Winter, a.a.O. (Anm. 32), S. 105.

156 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Darstellung 6

Auswirkung einer ungerechtfertigten Verkehrsampelanlage* Unfälle zwei Jahre vor und zwei Jahre nach der Entfernung der Anlage

1 ACCIDF.NT

• Nach einem tatsächlichen Vorgang in Nebraska.

1. Die Verkehrsregulierung

157

juridischen Gesetze erarbeitet wurden 57 • Darüber hinaus gibt es einheitliche Musterverkehrsgesetzbücher, die zur Anwendung verfügbar sind und die verändert werden können, um den individuellen Bedingungen der verschiedenen Städte58 und Staaten59 gerecht zu werden. Derartige Untersuchungen sind weder vereinzelte noch ungewöhnliche Fälle. Während der frühen 30er Jahre unseres Jahrhunderts führte die Staatliche Arbeitsförderungsbehörde (Works Progress Administration) Hunderte solcher Untersuchungen in verschiedenen Städten durch, und die Bundesnothilfebehörde (Feder al Emergency Relief Administration) entwickelte sogar ein ausgiebiges Handbuch über die Einzelheiten, wie derartiges Material gesammelt werden sollte60 • Das Amt für Öffentliche Straßen der Vereinigten Staaten (United States Bureau of Public Roads) folgte in dieser Richtung und leistete seine Unterstützung in über 80 detaillierten Untersuchungen der dargelegten Art61 • Die Erskine-Stiftung von Harvard, die jetzt als Amt für Landesstraßenverkehr nach Yale verlegt worden ist, beaufsichtigte viele weitere Untersuchungen der staatlichen und städtischen Straßennetze und wirkte an ihnen mit62 • Außerdem sind staatliche Straßenbehörden und städtische Ämter sowie private Stiftungen unablässig damit beschäftigt, die Funktionsweise der Verkehrsvorschriften wiederholt zu untersuchen63 • Allein im Jahre 1948 wurden tatsächlich mehr als 180 derartige systematische Studien geplant oder durchgeführt64 •

g) Die Verabschiedung neuer Gesetze Die vorgeschlagenen neuen Gesetze werden ständig übernommen. Die gegenwärtige Straßenverkehrsordnung von Kansas City wurde 1930 beinahe vollständig so verabschiedet, wie sie durch die wissenschaftlichen 57 Michigan Highway Department, a.a.O. (Anm. 4), S. 263 - 302; Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9), S. 7 ff.; Works Progress Administration, a.a.O. (Anm. 5), S. 231 ff. 68 Model Trafik Ordinances, U.S. Department of Agriculture, Bureau of Public Roads, Teile I, II (1936); vgl. dieses Material besonders mit den Verordnungen von Kansas City. 58 Uniform Act Regulating Trafik on Highways, Uniform Vehicle Code (Acts I und III), Public Roads Administration, 1945, (Acts II, IV und V) Bureau of Public Roads, 1952; Report of Committee on Laws and Ordinances, a.a.O. (Anm. 21), S. 15 - 45. 60 Engineering Manual for Trafik Surveys, Federal Emergency Relief Administration,1934; vgl. Aust und Janda, a.a.O. (Anm. 20). 61 Barnett: Progress in the National Status of Urban Arterial Routes, in: Trafik Quarterly, Januar 1948, S. 80, 84. n Z. B. Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9). 83 Wright, a.a.O. (Anm. 34), S. 119; McConaughy, Safety Commission Procedures in Connecticut, in: Traffk Quarterly, Januar 1948, S. 5; siehe ferner Erskine Bureau, a.a.O. (Anm. 9). 84 Barnett, a.a.O. (Anm. 61), S. 92 - 93.

158 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Untersuchungen des Verkehrs und der Wirkungsweise des Verkehrsrechts in dieser Stadt empfohlen war 65 • Los Angeles 66 und sogar der ganze Staat Kalifornien 67 bilden weitere Beispiele für solche Gebiete, in denen ein Gesetzessystem auf der Grundlage sorgfältiger wissenschaftlicher Erforschung angenommen oder geändert worden ist. In einigen Fällen wurden Gesetze nach lediglich kursorischer und oberflächlicher Prüfung verabschiedet, wie sie gewöhnlich bei einem Anhörungsverfahren vor einem Ausschuß oder Rat veranstaltet werden, aber die neuen Verkehrsbestimmungen sind immer häufiger das Ergebnis erschöpfender wissenschaftlicher Forschung, die von neutralen und politisch ungebundenen Gremien hinsichtlich der Wirkungsweise von Verkehrsgesetzen und -verordnungen angestellt werden. Die oben erwähnten Untersuchungen von New Orleans, Detroit und Kansas City ergaben Berichte von 400, 300 bzw. 250 Seiten; sie enthalten zahlreiche Karten, Zeichnungen und Tabellen, die auf Bänden sorgfältig gesammelter Statistiken beruhen und die die Reaktionsabläufe hinsichtlich der geltenden Gesetze an einzelnen Straßenecken, in Distrikten und in der ganzen Stadt aufzeigen. Einzelheiten, die zur Gesetzesänderung empfohlen werden, gründen sich für den Fall ihrer übernahme auf diese sorgfältigen Tatsachenstudien. h) Die Verabschiedung neuer Gesetze und die Untersuchung ihrer Resultate überall im Lande sind Hunderte von Gesetzen und Verkehrsregelungssystemen als Folge dieser wissenschaftlichen Studien revidiert oder neu verabschiedet worden. Die Rechtsvorschriften vieler Städte und auch die Gesetze jener Staaten, die den von den Expertengremien des Bundes empfohlenen einheitlichen Verordnungen und Gesetzen folgen, sehen vor, daß die Straßenbehörden die Ergebnisse, die durch ihre Verkehrsbestimmungen erreicht werden, weiterhin untersuchen und Gesetzesänderungen empfehlen sollen, die auf diesen Untersuchungen beruhen68 • Beispiels65 Trafik Code of Kansas City, Missouri Ordinance Nr. 2031, 2260, 2310, 2340, in Kraft getreten am 1. Januar 1931. 68 Winter, a.a.O. (Anm. 32), S. 105. 87 California's Highway Problem, AReport by the Joint Fact-Finding Committee on Highways, Streets and Bridges to the Fifty-Seventh Session of the Californian Legislature, 13. Januar 1947; Collier: California's Highway Problem, in: Traffk Quarterly, Juli 1947, S. 202; Warren: A Governor's Message on Highways, in: Trafik Quarterly, April 1947, S. 103; Davis: Development of the Institute of Transportation and Trafik Engineering at the University of California, University of California Institute of Transportation and Trafik Engineering Report, Mai 1949; California Highway Act of 1947, Extra Session, Kap. 11 - 16, S. 3788 ff. (Collier-Bums, 1947). 68 Musterverordnungen über den Straßenverkehr, a.a.O. (Anm. 58), Teil 11, § 3, S. 12 - 13; Uniform Act Regulating Trafik on Highways, Uniform Vehicle

1. Die Verkehrs regulierung

159

weise ist in Kalifornien die staatliche Abteilung für Verkehrs überwachung verpflichtet, umfassende Untersuchungen anzustellen und jährlich statistische Informationen zu veröffentlichen, die auf der Analyse und detaillierten Erforschung der Wirkungsweise von Verkehrsregeln beruhen 69 • Ähnliche Vorschriften gelten in 23 weiteren Staaten70 • Und in Kansas City ist der Direktor des Amtes für Öffentliche Anlagen dazu ermächtigt, auf der Grundlage von Verkehrs untersuchungen Parkvorschriften zu ändern, Durchgangsstraßen einzurichten, Zeichen und Signale zu ändern und die Verkehrsbedingungen allgemein zu verbessern71 ; für seine Arbeit steht ihm eine besondere Abteilung für Verkehrstechnik zur Verfügung, die von einem ausgebildeten Verkehrsexperten geleitet wird72 • Kalifornien und Kansas City sind in dieser Hinsicht keineswegs einzigartig, denn ähnliche Arbeiten sind in vielen anderen Landesteilen vorgesehen 73 . Die Folge hiervon ist die Entwicklung eines neuen Berufsstandes der Verkehrsingenieure, die fähig und willens sind, Änderungen und Verbesserungen der Gesetze und Verordnungen auf Grund wissenschaftlich zusammengetragener Daten zu empfehlen. Auf diese Weise häuft sich eine überaus fruchtbare wissenschaftliche Literatur 74 , die der Verkehrstechnik eine ähnliche Stellung verleiht, wie sie von der Bautechnik und der chemischen Produktion eingenommen wird. Code (Act V) Public Roads Administration, §§ 28, 57 - 59, 60 b, 161, 163 (1945). Hinsichtlich der übernahme der Musterverordnungen über den Straßenverkehr und der Mustergesetze für die Einzelstaaten siehe Report of Committee on Laws and Ordinanees, a.a.O. (Anm. 21), S.17 ff., 45 - 47. BQ California Vehicle Code Annotated, § 139.35 (Deering, 1948). 70 Siehe Report of Committee on Laws and Ordinanees, a.a.O. (Anm. 21), S. 19; dort werden die Staaten aufgeführt, die das Gesetz V des Mustergesetzbuches über den Straßenverkehr rezipiert haben, worin Untersuchungsbestimmungen und Empfehlungen (wie in Anm. 59 aufgeführt) enthalten sind. 71 Trafiic Code of Kansas City, Missouri, §§ 4, 8, 31, 47 (d), 59, in Kraft getreten am 1. Januar 1931; hinsichtlich ähnlicher Bestimmungen in Detroit siehe Ordinanee 61-D (1938). 72 Trafiic Code of Kansas City, Missouri, §§ 113, 114 und 115, in Kraft getreten am 1. Januar 1931; Administrative Code of Kansas City § 31; hinsichtlich einer ähnlichen Bestimmung in Detroit siehe Ordinanee 61-D (1938). 73 Booker: Proposed Additional San Franciseo Bay Crossing, in: Trafiic Quarterly, Juli 1949, S. 224; Georger, a.a.O. (Anm. 40), S. 252, 256; Dorsey, a.a.O. (Anm. 14), S. 291; Lawrenee: Pittsburgh's Trafik Program, in: Trafiic Quarterly, Oktober 1949, S. 301, 304; Rutland: The Dallas Cooperative Experienee in Achieving Trafik Results, in: Trafiic Quarterly, Jan. 1950, S. 31; Johnson, a.a.O. (Anm. 19), S. 78, 82 ff.; Bartholomew: Street Plan and Interstate Highway Experienee in St. Louis, in: Trafiic Quarterly, Januar 1950, S. 24; Trafiic Engineering Functions and Administration, Publieation 100, Publieation and Administration Service, 1948, S. 122 ff. " Hinsichtlich der Angaben über den Umfang einer solchen Bibliothek und des in ihr enthaltenen Materials siehe Cassidy und Redjield: Library Classification Scheme and Selected Bibliography of Traffic Engineering Literature, Bureau of Highway Traffie, Yale University 1948, S. 69 ff.; Wilson: Bibliography on Highway Safety, U.S. Department of Agrieulture, Miseellaneous Publieation Nr. 296, 1938.

160 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Darstellung 7

Typische Verteilung der Fahrzeuggeschwindigkeiten in einer Normalkurve, die charakteristische Eigenschaften der Fahrweise zeigt

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162 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Darstellung 7 zeigt eine Normalkurve der Fahrgeschwindigkeiten auf offener Landstraße. Darstellung 8 zeigt eine Anzahl solcher Kurven für Stadtgebiete. Die punktierte Linie stellt die Kurve vor der angegebenen Erhöhung der Geschwindigkeit dar, die durchgezogene Linie gibt die Kurve nach Anhebung der Begrenzung wieder. Es ist zu bemerken, daß die Änderung eine Beschleunigung der langsamen Fahrer und eine Abbremsung der schnellen Fahrer bewirkte und so eine gleichmäßigere Geschwindigkeit erzeugte. Die Folgen einer Reihe derartiger Änderungen waren eine Verringerung der Verkehrsunfälle um rund 11 0J0 und eine Verringerung der tödlichen und nicht tödlichen Unfälle um 20 bzw. 16 0J075.

2. Bedeutsame Aspekte der Entwicklung wissenschaftlicher Verkehrsvorschriften Diese neuartige Wissenschaft verrät in ihren zahlreichen Aspekten auf bezeichnende Weise Richtung und Reichweite, die die Experimentelle Rechtswissenschaft auf anderen Bereichen annehmen dürfte. Als erstes ist festzuhalten, daß wir hier Forschungen vor uns haben, die in einem der einfacheren, aber dafür um so weiter verbreiteten Tätigkeitsbereiche menschlichen Verhaltens, nämlich des Autofahrens, auf den Massenabläufen menschlicher Reaktionen auf Rechtsnormen beruhen. Dieses Verfahren bringt Vorschriften hervor, die sich auf die alltäglichen Tätigkeiten der ganzen Bevölkerung auswirken. Die Entwicklung dieser Wissenschaft und der aus ihr resultierenden technischen Einrichtungen wäre unmöglich ohne wiederholte Änderung von Rechtsvorschriften. Hier ist eine experimentelle Wissenschaft zur Kontrolle menschlichen Verhaltens unter Verwendung rechtlicher Sanktionen entwickelt worden, die die Prüfung der Rechtswirksamkeit und der menschlichen Reaktionen auf das Recht durch zweckdienliche Experimente ermöglichen sollen. Die Lösung vergleichsweise einfacher Probleme stand am Anfang. Zuerst gab es die Untersuchungen der Verkehrsvorschriften an bestimmten Straßenkreuzungen, in Bezirken, Dörfern, in Klein- und Großstädten. Erst nachdem dort Daten angesammelt worden waren, gingen die Verkehrsingenieure zur Stadtplanung und zur Entwicklung der Einzelstaaten und des ganzen Landes vor. In der Entwicklung dieser Wissenschaft fehlen bei den Daten fast gänzlich die Gerichtsentscheidungen und die Begründungen ihrer Ergebnisse. Obwohl die Entscheidungssammlungen der Gerichte mit Berufungsfällen aus dem Verkehrsgeschehen derart angefüllt sind, daß 75

Johnson, a.a.O. (Anm. 31), S. 325, 330.

2. Aspekte der Entwicklung wissenschaftlicher Verkehrsvorschriften 163 große Teile der Sammlungen diesem Bereich gewidmet werden, und obwohl man in jeder juristischen Bibliothek Literatur zum "Kraftfahrzeugrecht" finden kann, wird in der naturwissenschaftlichen Literatur beides kaum erwähnt i6 . Juristen haben zwar mitgewirkt, aber ihre Bemühungen sind den Untersuchungen, die als Grundlage der Rechtsänderung dienten, eigenartigerweise nicht zu entnehmen. Die Forschungen wurden von Arbeitsgruppen aus Arbeitern, Polizeibeamten, Psychologen 77 , Ökonomen78 , Statistikern und jetzt aus Verkehrsingenieuren durchgeführt. Es ist bezeichnend, daß die Juristen bei den Schritten zwei und sechs, die die Feststellung des Rechts und die erneute Abfassung der Gesetze und Verordnungen auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse betreffen, mitarbeiten können und es auch tatsächlich tun, daß aber selbst hier ihr Beitrag nur gering sein kann. Wie man es in allen Wissenschaften erwarten kann, bilden sich auch hier technische Sachverständigeninstanzen heraus, die die Arbeit auf diesem Gebiet weiterführen. Privat gestiftete Institutionen wie die EnoStiftung für die Regulierung des Straßenverkehrs, das Amt für Straßenverkehr an der Yale-Universität und das Verkehrsinstitut an der Northwestern University sowie öffentliche Einrichtungen wie das US-Straßenamt und die staatlichen Universitätsorganisationen wie das Institut für Transport- und Ingenieurwesen an der Universität von Kalifornien - um nur einige zu nennen -, sie alle geben Millionen von Dollar aus für Lehre, Forschung und die Sammlung ganzer Bibliotheken mit wissenschaftlichen Daten auf diesem Gebiet. Darüber hinaus erscheinen zahlreiche Fachzeitschriften79 • Viele unserer weiterbildenden Schulen haben Lehrgänge für Verkehrstechnik geschaffen und Polizeischulen eingerichtet, die mit Nachdruck Verkehrspolizisten, Verkehrsingenieure sowie Spezialisten und Leiter der öffentlichen Verwaltung ausbilden 80 . 76 Gerichtsentscheidungen scheinen nur wenig zu helfen, den Rechtszustand aufzuklären. Siehe z. B. Belser: The Legal Responsibilities of Traffk Agencies, Eno Foundation Bulletin, 1948. 77 Siehe Forbes: Psychotechnology in Traffk Studies, in: Traffk Quarterly, April 1949, S. 158, und die dort aufgeführten Autoren; AZZgaier: Some RoadUser Characteristics in Traffic Problems, in: Traffk Quarterly, Januar 1950, S.59. 78 Lawton: Evaluation of Highway Improvements on Mileage-and-Time-Cost Basis, in: Traffk Quarterly, Januar 19-50, S. 102. 79 Einige davon sind: Traffk Quarterly, Saugatuck, Connecticut; Traffk Engineering, New Haven, Connecticut; The American City, New York 16, New York; Public Roads; Traffk Business. 80 Siehe Traffk Services for Public Officials, Northwestern University Bulletin; University of California Quarterly Bulletin, Institute of Transportation and Traffk Engineering; Yale University, Bureau of Highway Traffk, Bulletin, Graduate Training (1950); ebd. Annual Report (1948 - 49); New School for Traffk Judges, The American City, September 1949, S. 147; siehe ferner Holmes: Traffk Engineering as a Profession, in: Traffk Quarterly, Oktober 1949, S. 413, 417.

11"

164 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung Es ist interessant zu bemerken, daß die Befugnis zum Erlaß von verkehrsrechtlichen Vorschriften in den verschiedenen Gebietskörperschaften auf andere Instanzen delegiert wird. In Washington D.C.8t, im Staate New York 82 und in tatsächlich mehr als 25 Ufo der Städte mit mehr als 100000 Einwohnern83 ist die Rechtsetzungsbefugnis gänzlich oder zum Teil auf den Beamten übertragen worden, der für die Verkehrsregulierung zuständig ist. Hin und wieder beinhaltet das die Befugnis zur Rechtsänderung vor oder nach wissenschaftlichen Untersuchungen. In einigen Fällen, wie z. B. in Kansas City, behalten demokratisch gewählte Gremien wie die staatliche Legislative und die Stadträte die Befugnis, den Vorschriften des Verkehrsdirektors ihre Zustimmung zu geben oder zu verweigern 84 . Häufiger jedoch, wie in der Praxis von Washington D.C., findet eine vollständige Delegation auf den Sachv'erständigen. statt8S . In rasch zunehmendem Maße wird erkannt, daß der spezialisierte Verkehrs ingenieur oder Verkehrsdirektor, der die einzelnen Fakten und die Gesamtheit der zugänglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse studiert hat, weit besser als jedes gewählte Gremium dafür qualifiziert ist, Rechtsvorschriften zur Regulierung des Fahrzeug- und Fußgängerverkehrs einzuführen86 . Volksentscheide von der Art des kürzlich in der Stadt Lincoln (Nebraska) durchgeführten Referendums, ob sich nämlich an bestimmten Stellen ein schräges Parken empfiehlt87 , sind recht törichte Verfahren, die bald genauso veraltet sein werden wie die Brieftaube. Es überrascht nicht, zu sehen, daß dieses bestimmte Referendum von einem örtlichen Gericht zum Teil für ungültig erklärt wurde, weil "ein zwangsweises Schrägparken eine unangemessene und willkürliche Beeinträchtigung der Eigentümerrechte der Geschäftsunternehmen in jener Gegend darstellen würde"88, was nur beweist, daß es der Öffentlichkeit oder den öffentlich gewählten Gremien unmöglich ist, Einzelheiten der Rechtsdurchführung zu kennen oder zu beherrschen, wo eine Wissenschaft dafür entwickelt worden ist oder entwickelt werden kann. Bemerkenswert ist des weiteren, daß Präzedenzentscheidungen in Form von Gerichtsurteilen oder früherer, von Verwaltungsbehörden tra43 Stat. 1119, § 6 (a) (1925), District of Columbia Code § 40-603 (1940). Georger, a.a.O. (Anm. 40), S. 252, 253. 83 Smith und Le Craw: Speed Laws and Enforcement, in: Trafiic Quarterly, April 1947, S. 117, 121. 84 Siehe z. B. Trafik Code of Kansas City, Missouri, §§ 31, 59, in Kraft getreten am 1. Januar 1931. 85 District of Columbia Code § 40.603 (1940); die Delegation wurde aufrecht erhalten in LaForest v. Board of Commissioners, 92 F. 2d 547 (District of Columbia Circuit Court 1937), bestätigt durch 302 U.S. 760 (1937). 86 McClintock: Street Traffic Control, 1925, S. 178 ff.; Holmes, a.a.O. (Anm. 80), S. 413, 419 - 420; Georger, a.a.O. (Anm. 40), S. 252, 254. 87 Lincoln Evening Journal, 6. April 1949, S. 1, Sp. 1. 88 Lincoln Evening Journal, 4. Oktober 1949, S. 2, Sp. 1. 81

82

2. Aspekte der Entwicklung wissenschaftlicher Verkehrsvorschriften 165 dierter Bestimmungen wenig oder gar nichts zur Entwicklung neuer Gesetze beitragen. Die neuen Gesetze beruhen vielmehr unmittelbar auf Untersuchungen dessen, was in der Gesellschaft geschieht und was erforderlich ist, um den Verkehr im Lichte zuvor entwickelter wissenschaftlicher Vorstellungen zu lenken89 • Auf Grund dieses neuen Zugangs zur Rechtswissenschaft gab es eine außerordentliche Entwicklung. Straßenpläne9o , Verkehrsregulierungsmechanismen aller Art 91 , elektrische Zählvorrichtungen92 , mit Radar arbeitende Geschwindigkeitsmesser 93 , Verkehrsampeln, unzählige automatische Signale, wissenschaftliche Registriersysteme zur Aufnahme von Unfalldaten 94 und komplizierte Rechen- und Aufnahmeeinrichtungen haben eine so weitverbreitete Verwendung gefunden, daß sie für Probleme der Rechtsetzung und Rechtsdurchführung fast nur noch einen flüchtigen Blick übriglassen. Der einzelne Mensch nimmt in dieser neuen Sozialwissenschaft der Verkehrsregulierung weithin dieselbe Stellung ein wie ein Partikel in der Quantentheorie und nach Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation95 • Die Verkehrswissenschaftler und -ingenieure wollen nicht die Reaktionen einzelner Personen in irgendeiner Weise voraussagen; genauso wie nach den ebengenannten Theorien die Physiker und Ingenieure nicht mehr die Bewegungen der einzelnen Materieteilchen prophezeien. Beide interessieren sich für die Massenreaktionen; der Wissenschaftler der Verkehrstechnik für die Reaktionen der Leute, der Physiker für diejenigen der Partikelströme. Während der Physiker die Neutronen, Elektronen und dergleichen erforscht, arbeitet der Verkehrsingenieur mit Mustern individueller Massenreaktionen, statistischen Gesetzen und Durchschnitts89 Sells: New York State's Answer to Urban Traffic Problems, in: The Ameriean City, Juli 1948, S. 72; Johnson, a.a.O. (Anm. 19), S. 78, 82 ff.; vgl. WiHiams: Cities Not Courts Should Provide Traffic Solution, in: The American City, Mai 1945, S.127. 90 Hurd, a.a.O. (Anm. 50), S. 89; Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), Kap. XIV. 91 Manual of Uniform Traffic Control Deviees, a.a.O. (Anm. 45), siehe The Ameriean City, Januar 1949, S. 125, 127; Old-Fashioned Traffic Signals in Most Business Districts, in: The Ameriean City, Februar 1949, S. 125 ff.; siehe auch die Inserate über alle Arten von Verkehrseinrichtungen in jeder Ausgabe des Traffic Engineering. 92 Z. B. Trafieounter, Traffl.c Engineering, Mai 1948, S. 393. 93 Barker: Radar Measures Vehicle Speed, in: Traffie Quarterly, Juli 1948, S.239. 94 Hammond und Sorenson, a.a.O. (Anm. 34), Kap. V und VII; Leroy, a.a.O. (Anm. 50), S. 23; Uses of Traffie Aecident Reeords, Eno Foundation Manual 1947; Groth: The Use of Aecident Reeords in aState Traffie Program, in: Traffie Quarterly, April 1948, S. 183. 95 Jeaus: Exploring the Atom, in: Readings in the Physieal Scienees, hrsg. von Shapley, Wright und Raport, 1948; s. ferner SulZivan: Limitations of Science, Mentor-Ausgabe 1949, S. 72.

166 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

werten, aus denen er die juridischen Gesetze ableitet, die seiner Ingenieurwissenschaft zugrunde liegen. Die juridischen Gesetze und Empfehlungen, die den Erfolg und Mißerfolg bestimmter Rechtsvorschriften und -einrichtungen vorhersagen, vervielfältigen sich auch auf diesem Gebiete beinahe genauso rasch wie die wissenschaftlichen Entdeckungen in den ältesten Naturwissenschaften, und ihre Anwendung hat sich als ebenso nützlich erwiesen. Heere von Sachverständigen präsentieren uns heute erstaunliche Entwicklungen, indem sie Menschen betreffende Gesetze mit Hilfe einer völlig technisierten experimentellen Wissenschaft erzeugen, um die Beförderung bequemer zu machen, um neue Städte zu bauen, neue Straßen zu entwerfen, um Menschenverluste oder Unfälle und Ärger zu verringern und um große neue Industrien zu schaffen. Obwohl Millionen von Dollar für die Erforschung und Entwicklung der Wissenschaft der Verkehrsregulierung ausgegeben werden, übertrifft der Gewinn durch Verbesserung der Lebensbedingungen, durch Schonung von Menschenleben, durch Entwicklung angenehmerer Fortbewegung und durch viele andere wissenschaftliche Unterfangen bei weitem die Ausgaben. Eine weitere höchst aufschlußreiche Tatsache besteht darin, daß man in der ganzen Literatur dieser neuen Wissenschaft so gut wie keiner Diskussion der politischen Ziele oder der letzten und höchsten Werte begegnet. Hier bedarf die Kunst der Rechtsetzung keinerlei derartiger Spekulationen, weil sie auf Beobachtung und Feststellung der Bedürfnisse, Wünsche und Gewohnheiten der am Verkehr teilnehmenden Öffentlichkeit beruht. Die Entscheidung über die Herauf- oder Herabsetzung der Geschwindigkeitsbegrenzungen, über die Anbringung oder Entfernung einer bestimmten Regelungsvorrichtung beruht jeweils auf bekannten Daten und juridischen Gesetzen, die die Auswirkung einer Änderung und den Grad voraussagen können, in dem sie einen bestimmten und beobachteten Wunsch nach Änderung erfüllen wird. Unter solchen Umständen werden die überlegungen über "Wert" und "Politik" auf eine so unbedeutende Rolle reduziert, daß sie kaum mehr erkennbar sind. Der Verkehrsgesetzgeber hat tatsächlich nur die Aussichten zu ventilieren, wie die vorgeschlagene neue Rechtsnorm die Anforderungen der Situation erfüllt, deren Umstände bekannt sind oder recht gut vorausgesagt werden können. Die Entscheidung für eine Normänderung wird mehr zu einer Frage der Relevanz als zu einer des "Wertes". Als trauriges Faktum ist zu bemerken, daß nur in ganz vereinzelten Fällen irgendeine Rechtsfakultät oder deren Mitglieder hieran irgendwie beteiligt waren, obwohl sich diese ganze Wissenschaft auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Gesetzesdurchführung entwickelt hat98 • ü6 Eine solche Ausnahme ist der Beitrag von Moore und Callahan, a.a.O. (Anm.4).

3. Die Stadtplanung

167

Diese rasch voranschreitende Wissenschaft zeigt die Richtung an, die zur Entwicklung anderer Rechtsgebiete eingeschlagen werden kann. Die zahlreichen wissenschaftlich kontrollierten Hilfsmittel weisen hier darauf hin, daß es der wissenschaftlichen Jurisprudenz möglich ist, eine neue Rechtsordnung zu schaffen, die unsere gegenwärtigen Methoden der sozialen Kontrolle als gen au so obsolet erscheinen lassen wird wie eine Landstraße im Vergleich mit einer modernen Autobahn. Schließlich sollte nicht vergessen werden, daß diese Wissenschaft nicht nur lokaler Natur ist, sondern - wie jede andere Wissenschaft - bei technischen Vorhaben auf der ganzen Welt angewendet wird97 •

3. Die Stadtplanung - ein neu es und fruchtbares Feld für die Experimentelle Rechtswissenschaft Die überaus erfolgreichen Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft auf dem Bereich des Verkehrs dehnen sich rasch auf andere Tätigkeitsbereiche aus, in denen das Recht auf menschliches Verhalten einwirkt. Als Teil des eigentlichen Verkehrsproblems selbst unterwarf man dem Verfahren des Verkehrsingenieurs die Entwicklung von Parkflächen sowohl auf dem Erdboden als auch in eigens dafür konstruierten Gebäuden 98 , die so angelegt sind, daß sie für die Einkaufsmöglichkeiten maximale Ergebnisse erzielen99 • Die Ergebnisse bilden einen rasch anwachsenden Wissenschaftszweig, aus dem eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen entsteht, um Geschäftsviertel zu planen, anzulegen und zu überwachen 100. Neue Flughäfen eröffnen zusammen mit den sie begleitenden Verkehrsproblemen und Schnellstraßen ein weiteres Gebiet der Verkehrstechnik und der Stadtplanung für die umliegenden Gebiete 101 • In ähnlicher Weise stellte sich heraus,daß der Ausbau von Schnellstraßen und Brücken den Charakter der Wohngebiete, durch die sie führen, von Grund auf ändert. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob Geschäftsviertel 97 Europa und Japan: Eno: Simplifieation of Highway Traffie, 1929, S. 181 ff.; Israel: Klein: Solving the Traffic Problem, in: Traffie Quarterly, Juli 1949, S. 214, 222; Deutschland: Owen, a.a.O. (Anm. 22), S. 117 ff.; Sehlums: Correlations Between Road Traffie and Size of Cities, in: Traffic Quarterly, 1948, S.219. 98 Ricker, a.a.O. (Anm. 50). 99 Siehe z. B. LeCraw und Smith: Parking Lot Operation, Eno Foundation 1948; Hanna: Faetors Affecting Parker's Choice, in: Traffie Quarterly, Oktober 1949, S. 400. 100 Nolting und Opperman: The Parking Problem in Central Business Distriets, Publie Administration Publieation Nr. 64, 1938. 101 Maleher, a.a.O. (Anm. 48); Ramspeek: Problems of Ground Transport to Air Terminals, in: Traffie Quarterly, Juli 1948, S. 251.

168 6. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in praktischer Anwendung

an dem einen Ende der Autobahn und Wohnviertel am anderen Ende gelegen sein sollen 102 . Die Technik des Verkehrs ingenieurs weitet sich auf die Probleme der Wohnungserrichtung und der Lokalisierung riesiger Wohnungsbauvorhaben aus 103 , die ihrerseits die Auf teilung in Stadtbezirke und die Raumplanung in den Städten und Staaten erfordern 104 .

4. Die Regulierung des Luftverkehrs Eine weitere fruchtbare Informationsquelle für die praktische Anwendung der Experimentellen Rechtswissenschaft, wo sich die Technik notwendigerweise auf die Gesetzgebung auswirkt, wird sich aus der Tätigkeit der Bundesregierung im Rahmen der Verkündung und Durchsetzung von Normen ergeben, die den Luftreiseverkehr regulieren. Obwohl die Leitung des Luftverkehrs von einer Verwaltungsinstanz zur anderen verlegt und aufgeteilt worden ist, erwirbt das Zivilluftfahrtamt (Civil Aeronautics Board) allmählich die zentrale Kontrolle mit der Befugnis, Vorschriften zu erlassen 105 , die die Bewegungen des Luftverkehrs entscheidend bestimmen. Seine Ämter für die Regulierung und Überprüfung der Sicherheit führen wissenschaftliche Untersuchungen durch über den tatsächlichen Luftverkehr, Ursachen und Verhütung von Unfällen sowie über die Aufstellung und Anwendung von Bestimmungen, die das Flugwesen regulieren 106 . Zwar fallen die Durchsetzungs- und Durchführungsangelegenheiten dieser Normen in die Zuständigkeit der Bundesbehörde für Luftverkehr (Civil Aeronautics Administration)107, die die Normsetzungsbefugnis für die meisten technischen und mechanischen Entwick102 Mott und Wehrly: Traffk and Parking in Suburban Shopping Development, in: Traffk Quarterly, Oktober 1949, S. 358; Le Craw: Allentown Saves Its Shopping Area, in: Traffk Quarterly, S. 63; Elder, a.a.O. (Anm. 51), S. 166. 103 Norton: Metropolitan Planning, in: Traffk Quarterly, Oktober 1949, S. 367; U.S. Bureau, Labor Statistics Bulletin Nr. 896, 1947. 104 Halsey, a.a.O. (Anm. 48), S. 55 ff.; Kennedy: Planning the Statewide System of Highway Transportation, in: Trafik Quarterly, Juli 1949, S. 201; Fargo: Local Level Planning in California, in: Traffic Quarterly, Juli 1949, S. 259; Kennedy: A Ministry for All Town Planning in England and Wales, in: Traffk Quarterly, April 1949, S. 138; in bezug auf die großartigen Entwicklungen in der Stadtplanung in Washington, D. C., siehe National Capitol Park Planning Commission, Jahresberichte 1926 - 1932; dies.: Plans and Studies of Washington and Vicinity, 1928; dies.: Reports and Plans, Washington Region, 1930; Report of National Capitol Housing Authority, 1934 - 1944 (hektographiertes Manuskript); National Capitol Park Planning Commission, Monographien 1 - 6 (1950), worin ein vollständiger Datenkatalog ausgearbeitet worden ist, und zwar durch ein ähnliches Verfahren wie bei den Verkehrsuntersuchungen. 105 Vgl. jedoch Hoover Commission Reports on Organization of the Exekutive Branch of the Government, Regulatory Commission Report Nr. 13, Anhang N, Kap. 7, S. 19 ff. (Department of Commerce Publications, März 1949). 108 Air Affairs, Bd. 3 (Herbst 1949), S. 71. 107 Air Affairs, Bd. 3 (Herbst 1949), S. 83.

4. Die Regulierung des Luftverkehrs

169

lungen auf dem Sicherheits- und Betriebsbereich innehat, in dem die wissenschaftliche Forschung ständig voranschreitett08 ; aber ein großer Teil ihrer Arbeit gelangt schließlich in die Bestimmungen, die vom Zivilluftfahrtamt, mit dem sie eng zusammenarbeitet, erlassen werden. In den Verkehrsuntersuchungen und -übersichten des Zivilluftfahrtamtes findet jeder, die sich für die Entwicklung von juridischen Gesetzen interessiert, Untersuchungs berichte über den Luftverkehr, die der oben erörterten Untersuchung des Automobilverkehrs weitgehend entsprechen und die auch ähnliche Verfahrensweisen verwenden 109 . Wer die Methoden der Sozialforschung untersucht, wird hier umfangreiches Material über eine wissenschaftliche Normgebung finden, die das menschliche Verhalten bestimmen soll, und er wird wahrscheinlich zahlreiche Beispiele sorgfältig abgesicherter juridischer Gesetze entdecken, die die Durchsetzung der Luftver kehrsbestimmungen beherrschen. Diese und wahrscheinlich viele weitere noch zu entdeckende Beispiele wissenschaftlicher Regierungstätigkeit zeigen, daß die Methoden zur Erforschung von Gesetzen und Verordnungen, die zuerst vom Verkehrsingenieur entwickelt wurden, rasch auf andere Bereiche übernommen werden, und man kann ohne weiteres sagen, daß hier ein vollständiger Zweig der Experimentellen Rechtswissenschaft entsteht und sehr bald einen Stand der Entwicklung erreichen wird, der demjenigen der Verkehrsregulierung entspricht.

lOB Vgl. z. B. Morse: The Correlation of Aircraft Take-Off and Landing Characteristics With Airport Size, Technical Report Nr. 40, Uni ted States Department of Commerce, Civil Aeronautics Administration, April 1944; Field, Edwards, Kangas und Pigman: Measurement of Sound Levels Associated with Aircraft, Highway and Railroad Traffk, Technical Report Nr. 68, Uni ted States Department of Commerce, Civil Aeronautics Administration, Juli 1947; Hurley: Ultra-High-Frequency Airport Traffk Control, Technical Report Nr. 44, United States Department of Commerce, Civil Aeronautics Administration, August 1944; McFarland: The Effects of Oxygen Deprivation (High Altitude) on the Human Organism, Technical Report Nr. 11, United States Department of Commerce, Civil Aeronautics Administration, Mai 1938; Lee: Measurements of Noise Radiation from High-Voltage Transmission Lines, Technical Report Nr. 46, United States Department of Commerce, Civil Aeronautics Administration, Mai 1947; vgl. die Befugnisse des National Advisory Committee for Aeronautics, United States Code Annotated, Bd. 50, § 151 (Supplement 1949); Air Affaires, Bd. 3 (Herbst 1949), S. 96. lOg Siehe z. B. Airline Traffic Survey, Civil Aeronautics Board, März 1947; Non-Air Carrier Accident Trend Report, Civil Aeronautics Board, 24. Januar

1950.

Kapitel VII

Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierun/! Die in Kapitel VI erörterte Art und Weise, in der nach den Techniken der Experimentellen Rechtswissenschaft verfahren wurde, Rechtsnormen für die Verkehrsregulierung zu entwickeln, ist nicht typisch; man kann aber in vielen Regierungszweigen die Verwendung wissenschaftlicher Daten zur Unterstützung der Rechtsetzung finden. Sie variieren auf der ganzen Breite von durchweg wissenschaftlichen Methoden, wie bei der Überprüfung einiger Bestandteile des Verkehrs rechts, bis hin zu reiner Intuition, die manchmal in den Sälen der Legislative offenbar wird. Manche Regierungsstellen mögen in ihren Gesetzgebungsverfahren ein wenig Wissenschaft anwenden; andere werden nichts davon aufweisen. Es wird nützlich sein, einige Möglichkeiten wissenschaftlicher Gesetzgebung darzustellen, um die gegenwärtig angewandten Methoden im Lichte der Möglichkeiten der Experimentellen Rechtswissenschaft zu prüfen. Eine derartige Untersuchung könnte auf jeder Regierungsebene erfolgen und wäre, gründlich ausgeführt, eine gewaltige Arbeit. Da die Regierungstätigkeit auf Bundesebene am besten bekannt ist, dürfte die Erläuterung einiger ihrer Tätigkeiten einen gewissen Hinweis darauf geben, in welchem Grade man dort die Verwendung der Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft finden kann. Die Verästelungen der Zuständigkeitsbereiche des Bundes sind so fein, daß selbst eine partielle Sichtung der Tätigkeiten der verschiedenen Ämter und Behörden im Lichte der Verfahren und Zwecke wissenschaftlicher Regierungstätigkeit Bände mit Berichten ergäbe, die ein Heer von Forschern notwendig machen würden; diese müßten Berge von Akten durchstöbern, die Irrgärten der Organisationspläne durchqueren, von denen viele unveröffentlicht sind, vergleichende Analysen von Bänden voller Gesetze und Verwaltungsvorschriften durchführen und die Arbeitsleistungen von Millionen von Bundesbediensteten einstufen. Da die Theorien, die der Organisation und der Aufgabenteilung der Verfassung zugrundeliegen, aus einer Zeit stammen, in der die wissenschaftliche Methode noch nicht praktisch angewandt wurde, sind alle experimentellen oder wissenschaftlichen Hilfsmittel der gegenwärtigen Verwaltung

1.

Forschung im Rahmen der Bundesregierung

171

mit einiger Wahrscheinlichkeit zufällig oder unbewußt geschaffen worden, um den Forderungen nach einer Regierung gerecht zu werden, die eine Zivilisation lenkt. Es gibt daher kein einfaches Kriterium, mit dessen Hilfe diese Verfahren und Methoden, falls sie existieren, ohne weiteres offenbar gemacht werden könnten. Dies muß einer eingehenden Untersuchung überlassen bleiben. Alles, was im Rahmen einer theoretischen Erörterung wie dieser getan werden kann, ist das Aufzeigen der Richtungen, die eine solche Forschung einschlagen könnte, und der Stellen, an denen sie am ergiebigsten wäre. Eine detaillierte Kritik muß auf später verschoben werden.

1. Forschung im Rahmen der Bundesregierung

a) Forschungskosten Mit Ausnahme vielleicht der Sowjetunion besitzt die Regierung der Vereinigten Staaten die größte Ansammlung von Forschungsorganisationen auf der Welt. Die zweite Hoover-Kommission zur Untersuchung der Organisation der Exekutive bezifferte die jährlichen Ausgaben für diesen Zweck für 1955 mit 1,5 Milliarden Dollar!, und eine andere Quelle gibt an, es gäbe mehr als 52 2 Dienststellen, die mit der Ausgabe dieser Geldmittel beschäftigt sind. Obwohl dieser Betrag riesig ist, liegt die Schätzung wahrscheinlich bei weitem zu niedrig, um sich den Summen auch nur zu nähern, die heute für die Forschung ausgegeben werden. Der Bundeshaushalt weist nicht ohne weiteres die Summen aus, die für die Forschung bestimmt sind, und wenn er es tut, erfaßt er selten die Besoldung des ständigen Personals, das seine Zeit ganz oder zum Teil der Forschungstätigkeit widmet. Ferner gibt es zahlreiche Verwaltungszweige der Regierung, wie das Statistische Bundesamt, den Wetterdienst, das Eichamt und viele andere, deren ganze Tätigkeit im eigentlichen Sinne Forschung ist, aber selten als solche klassifiziert wird. In dem Sinne, in dem der Terminus "Forschung" von einem experimentellen RechtswissenschaftIer gebraucht würde, werden die Regierungsausgaben, die dieser Tätigkeit gewidmet sind, höchstwahrscheinlich einen sehr viel höheren als den vom Hoover-Bericht dargelegten Betrag ergeben, und selbst dies wäre eine äußerst zweifelhafte Schätzung, weil die Verwaltungsbeamten der Regierung eine besondere Geschicklichkeit besitzen, Forschungsaufgaben vor dem scharfen Auge des Bundesrechnungshofes zu verstecken. Außerdem sollte beachtet werden, daß die oben geschätzten 1,5 Milliarden Dol1 Siehe: Big Government: Can it be managed efftciently?, in: Fortune Supplement, 1. Mai 1949, S. 23; 2nd Hoover Commission, Sub-Commission Report on Research Activities, 1955, S. 1. 2 Lambert: The Administration of Federal Research, in: Science, Heft 107, 20. Februar 1948, S. 179.

172

7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

lar nicht alle Beträge umfassen, die für die Atomforschung ausgegeben werden, und daß sie zweifellos riesige Summen unberücksichtigt lassen, die vom Militär ausgegeben werden. Der Betrag, der dem Verteidigungs-, Forschungs- und Entwicklungsministerium für das im Juni 1956 endende Haushaltsjahr 1956 3 bewilligt worden war, belief sich ebenfalls auf ungefähr 1,5 Milliarden Dollar und hatte etwa dieselbe Höhe wie die in den drei vorangegangenen Haushaltsjahren ausgegebene Summe4 • Er ist wahrscheinlich größer als die Stiftungsgelder und jährlichen Zuwendungen für die Forschung an allen Universitäten und Hochschulen in den ganzen Vereinigten Staaten zusammengenommen; daneben wird noch ein gleich großer Betrag jährlich für die Entwicklung der Atomenergie ausgegeben 5, dessen hauptsächlicher Teil ebenfalls der reinen und an gewandten Forschung zukommt. Für jeden, der sich mit den Zwecken der Regierung beschäftigt, sollte es Grund zur Bestürzung sein, daß die Masse dieser gewaltigen Geldzuwendungen dazu bestimmt ist, eine der verachtenswert esten, schädlichsten und unnützesten aller Regierungstätigkeiten, den Krieg, zu finanzieren. Wenn diese Unterwerfung der Wissenschaft unter die Ziele einer vom Gefühl beherrschten Massenvernichtung nicht bald ins Gegenteil gekehrt wird, kann man aus gutem Grund an der Zukunft der Menschheit verzweifeln. Ein Schritt vorwärts in den Bemühungen, die wissenschaftliche Forschung der Regierung zu lenken, war die 1950 erfolgte Errichtung der Nationalen Wissenschaftsstiftung, deren Zweck darin besteht, die allgemeine Entwicklung aller Wissenschaftsbereiche innerhalb und außerhalb der staatlichen Organisationen zu fördern 6 • Mit einer jährlichen Ausstattung von nur 225000 Dollar ist diese Behörde zur beherrschenden Stelle der Wissenschaftsentwicklung der Vereinigten Staaten geworden. Für das Jahr 1956 wurden ihre Ausgaben mit 20 Millionen Dollar veranschlagt 7 • Sie kümmert sich hauptsächlich um Stipendien und Forschungsaufträge und überwacht, bewertet und fördert wissenschaftliche EntwicklungsarbeitenB. Die Jahresberichte der Stiftung, die die von der Bundesregierung für die Forschung ausgegebenen Summen festzustellen versuchen, zeigen, daß der Anteil des gesamten Haushalts für diesen Zweck von 10f0 im Zeitraum 1940 - 1943 bis auf ungefähr 3 Ofo in den Jahren 1952 -1954 angewachsen ist9 • Die gesamte Summe, die von der 3 Das amerika nische Haushalts- oder Steuerjahr beginnt jeweils am 1. Juli, endet also am 30. Juni. 4 Budget of the United States Government, 1956, S. 1195. 5 Ebd. S. 90, $ 1 300 000 000. e 64 Stat. 149 (1950). 7 Budget of the United States, 1956, S. 138. S Siehe Lessing: The National Science Foundation Takes Stock, in: Scientific American, Bd. 190, März 1954, S. 29. 9 Third Annual Report of the National Science Foundation, 1953, S. 5. Siehe

1. Forschung im Rahmen der Bundesregierung

173

Regierung der Vereinigten Staaten für wissenschaftliche Zwecke bewilligt worden ist, belief sich im Jahre 1955 schätzungsweise auf sehr viel mehr als 2 Milliarden Dollar; aber von dieser Summe entfielen ungefähr 90 Ufo auf die Physik, 7 oder 8 Ufo auf die Biologie und nur 2 - 3 Ufo auf die Sozialwissenschaften, wobei das Militär und die Atomenergie über 87 Ufo des Gesamtbetrages schluckten10 • Tabelle 5 gibt die Beträge wieder, die nach Schätzung der Stiftung von den verschiedenen Regierungsbehörden für die Forschung bis 1954 ausgegeben worden waren. Tabelle 5

Haushaltsmittel und Ausgaben der Bundesbehörden für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung in den Haushaltsjahren 1952, 1953 und 1954 (in Millionen Dollar) Behörden

Haushaltsmittel 1952 1953 1954

1952

Ausgaben 1953 1954

Verteidigungsminister ........... Atomenergieausschuß ............ Bundesberatungsausschuß für Flugwesen ................. Landwirtsch. Ministerium ........ Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt ...... Innenministerium ............... Wirtschaftsministerium .......... andere Behörden .................

1,705 229

1,650 247

1,556 239

1,315 250

1,646 260

1,636 266

82 56

79 57

68

73

67 57

79 58

88 63

53 36 31 25

67 36 23 28

63 32 17 26

65 33 28 24

74 37 24 26

61 33 17 24

Summe aller Behörden ..... . .....

2,217

2,187

2,074

1,839

2,205

2,187

Ist die Situation auch ungünstig, so ist doch nicht alles verloren. Einige Brosamen vom Tisch des Militärs fallen der Forschung in der Sozialwissenschaft zu. Da es der Armee darum geht, Soldaten und andere Leute zu befehligen, und da sie gelernt hat, sich zur Lösung mancher ihrer ProTabelle 5. Während dieses Buch in Vorbereitung war, erschien ein vollständigerer Bericht. Siehe Organization of the Federal Government for Scientific Activities, 1956. 10 Ebd. S. 3. Dem Bericht der zweiten Hoover Kommission zufolge bewilligte die Regierung im Jahre 1954 $ 1416000000 für Forschungsvorhaben im Verteidigungsministerium. Davon wurden ausgegeben: 40 Ofo innerhalb des Militärapparates, 1 Ofo in anderen Regierungsbehörden, 49 Ofo in der privaten Industrie, 10 Ofo in akademischen und anderen nicht erwerbswirtschaftlichen Institutionen. Sub-Commission Report on Research, 1955, S. 39.

174

7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

bleme auf die Forschung zu stützen, wendet sie natürlich dieselben Verfahren an, um weitere Probleme zu bewältigen. Die Truppeneinsatzforschung 11 , der Ausschuß für Menschenpotential im Forschungs- und Entwicklungsamt 12 , die Arbeiten der Abteilung für Psychologische Kriegsführung 13 - um nur einige zu nennen - haben Material zusammengetragen, das eine wertvolle Unterstützung für die Sozialwissenschaft darstellt und das wichtigste Hilfsmittel bietet, die der experimentelle Rechtswissenschaftler benutzen kann 14 • Von den kleineren Forschungsgeldern, die den zivilen Stellen zugewendet wurden, geht der Löwenanteil natürlich an die Arbeiten auf dem Gebiete der reinen und angewandten Naturwissenschaften und erheblich geringere Summen an die politischen und Sozialwissenschaften. Der Haushalt des Landwirtschaftsministeriums verzeichnet rund 85 Mill. Dollar 15 , die dem Amt für Landwirtschaftsforschung zugeteilt wurden. Das Innenministerium ist zum großen Teil eine Forschungsorganisation. Hier geben das Bergbauamt, das Amt für Landvermessung und das Amt für Landgewinnung riesige Summen aus. Das Bundeswirtschaftsministerium führt zusätzlich zum Statistischen Bundesamt und den anderen oben aufgeführten Behörden umfangreiche Forschungen in der Außenhandelsabteilung und hinsichtlich zahlreicher anderer Aspekte der Wirtschaft durch. Aus dem Arbeitsministerium sind das Amt für Arbeitsstatistik und die Jugendbehörde wegen ihrer Veröffentlichungen allein auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft wohl bekannt; und das Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt besitzt nicht nur in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, sondern auch im Bereich der Über11 Morse und Kimball: Methods of Operations Research, 1950; Salow: Operations Research, in: Fortune, Heft 43, April 1951, S. 105. 12 Siehe Stouffer u. a.: Studies on Social Psychology in World War 11, 4 Bde. 1949, Bd. 1, S. 3 ff. 13 Siehe Lerner: Propaganda in War and Crisis, 1951; Margolin: Paper Bullets, 1946. 14 "Im Haushaltsjahr 1952 verteilte die Bundesregierung annähernd 542 Millionen Dollar für Forschung und Entwicklung in den nichterwerbswirtschaftlichen Institutionen des Landes - 44 Millionen Dollar mehr, als sie 1951 ausgegeben hatte, und mehr als 60 % des ganzen Geldes, das in den USA für Forschung und Entwicklung ausgegeben wird. In der vergangenen Woche veröffentlichte die National Science Foundation einige vorläufige Zahlen, um darzutun, wie das Geld ausgegeben wird. Mehr als die Hälfte der Wissenschaftsrechnung der Regierung wird vom Verteidigungsministerium beglichen, 35 % vom Atom-Energieausschuß, 6 Ofo vom Bundesversicherungsamt (Federal Security Agency) und 5 Ofo vom Landwirtschaftsministerium. Alle anderen Behörden gaben zusammen weniger als 3 Ofo der Gesamtsumme aus. In diesem Jahr wurde, wie gewöhnlich, der größte Geldbatzen für Naturwissenschaften ausgegeben (255 Millionen Dollar). An zweiter Stelle rangierten die biologischen, medizinischen und landwirtschaftlichen Wissenschaften (70 Millionen Dollar). Die Sozialwissenschaften liegen am Ende mit 17 Millionen Dollar." Time, Heft 60,1. Dezember 1952, S. 42. 15 Budget of the U.S. Government, 1956, S. 1198.

1. Forschung im Rahmen der Bundesregierung

175

prüfung der eigenen Fürsorgetätigkeit eine riesige Organisation. Unabhängige Behörden wie die Tennessee Valley Authority 16, die Bundesverkehrsbehörde 17 , die Bundeshandelskommission18 , der Zentralbankrat19 und viele andere haben großen Anteil an den Forschungen in den Sozialwissenschaften (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften). Das Direktionsbüro des Präsidenten beschäftigt sich durch seinen Wirtschaftsrat und durch viele seiner anderen weitreichenden Tätigkeiten innerhalb und außerhalb des HaushaItsamtes mit umfangreichen Forschungen, die später noch erörtert werden. In der gleichen Weise beteiligen sich die verschiedenen Ausschüsse des Kongresses an Arbeiten, die in vielen Fällen als echte regierungs- und sozialwissenschaftliche Forschung bezeichnet werden können. Im Rahmen eines kurzen Kapitels ist es unmöglich, auch nur zu versuchen, diese Tätigkeiten gründlich zu durchmustern und einzuordnen. Es genügt, an dieser Stelle zu sagen, daß eine große Anzahl der sogenannten Forschungen in den Sozialwissenschaften - unter dem Einfluß der gegenwärtig vorherrschenden Theorien auf diesem Gebiet kaum mehr hergibt als Deskriptionen. Jede beliebige Akte mit Regierungsdokumenten liefert tausende von Veröffentlichungen, die von dem 48 Bände starken Bericht der Bundeshandelskommission über die öffentlichen Versorgungsbetriebe20 bis zur hektographierten Broschüre von 5 oder 6 Seiten21 variieren; sie alle sind eifrig damit beschäftigt, qegenstände zu beschreiben, die von den Tätigkeiten der Regierungsämter bis dahin reichen, wie man Säuglinge ernährt oder Mais anbaut. Das sozialwissenschaftliche Material, das einen beträchtlichen Teil dieser Veröffentlichungen ausmacht, zugleich aber nur einen sehr geringen Betrag des für die Forschung ausgegebenen Geldes beansprucht, variiert von der bloßen Beschreibung von Phänomenen, die nichts mit dem Recht zu tun haben, bis zu sorgfältig untersuchten und dokumentierten Unterlagen, die ausschließlich das Recht betreffen. Bei dieser ganzen Riesenmenge an Material wäre es keine Überraschung, wenn es einzelne Forschungen und Veröffentlichungen gäbe, die den Anforderungen einiger der Schritte der Experimentellen Rechtswissenschaft entsprächen. Ohne zu versuchen, mehr als einen kleinen Bruchteil dieses Materials zu ordnen und zu erörSiehe oben Kapitel II, Anm. 41. Siehe oben Kapitel II, Anm. 28. 18 Siehe oben Kapitel II, Anm. 43. 19 Der Federal Reserve Board (heute "Board of Governors of the Federal Reserve System", Rat der Gouverneure des Zentralbankensystems) wurde 1913 errichtet und hat erhebliche währungs- und kreditpolitische Befugnisse. 20 Siehe die Jahresberichte der Federal Trade Commission von 1935, S. 19 ff., von 1936, S. 36 ff., und von 1941, S. 220 - 221. 21 Toben und Case: Operation of Agricultural Conservation Programs in Illinois, Januar 1940, United States Department of Agriculture, Farm Management Report Nr. 4; The National Turkey Improvement Plan (Revised issue Juni 1948), United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 555; The National Poultry Improvement Plan (Revised Issue, Juli 1946). United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 300. 18

17

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

tern, lohnt es sich wohl nachzusehen, bis zu welchem Ausmaß die Methoden der exakten Experimentellen Rechtswissenschaft bei diesen Tätigkeiten Anwendung finden. b) Fehlerhaft als Forschung bezeichnete Arbeiten

Bevor einige Beispiele echter wissenschaftlicher und experimenteller Forschung erörtert werden, mag es ratsam sein, einen großen Anteil pseudowissenschaftlicher und sonstiger Tätigkeiten zu eliminieren, die Etikette wie "Forschung", "experimentell" und "Tatsachenermittlung" tragen, bei denen sich aber bei näherer Analyse erweist, daß sie keinerlei Beziehungen zu ihren überschriften haben. Ein Beispiel für einen solchen Fehlgebrauch des Ausdrucks "Tatsachenermittlung" findet sich bei den sogenannten Ausschüssen für Tatsachenermittlung, die bei Tarifstreitigkeiten tätig werden. Bei Arbeitskämpfen auf dem Stahl-, Kohle- und Eisenbahnsektor hören wir immer wieder von den durch das Gesetz autorisierten Ausschüssen für Tatsachenermittlung. Dies ist natürlich eine Fehlbezeichnung. In der Wirklichkeit sind diese Ausschüsse nur vom Präsidenten eingesetzte vermittelnde Gremien, die den Streit beizulegen versuchen. Dabei findet wenig oder gar keine Tatsachenermittlung im wissenschaftlichen Sinne statt. Zum Beispiel hatte der "Ausschuß für Tatsachenermittlung" im Streik der Vereinigten Bergarbeiter von 1950 nur drei Tage lang seine Sitzungen gehalten, als er dem Präsidenten berichtete, daß man keine Einigung erlangen könne. Es ist offensichtlich, daß kein Gremium, wie sehr es auch unterstützt wird, innerhalb dreier Tage mit der Feststellung von "Tatsachen" bei Arbeitsstreitigkeiten in der Kohleindustrie auch nur beginnenkann. Während der dreißiger Jahre wurden von der Regierung im Rahmen des New Deal zahlreiche sogenannte "experimentelle" Programme geschaffen. Einige davon, so etwa die Verkehrsuntersuchungen, entwickelten sich, wie in einem früheren Kapitel gezeigt, zu echten wissenschaftlichen Unternehmen, aber sehr viel mehr - so etwa der als Windschatten gedachte Waldstreifen, der sich quer durch den Mittelwesten ziehen sollte, die experimentellen Wohnungsbaupläne und anderes - war lediglich der Versuch, politische Lieblingstheorien ohne vorläufige Untersuchung oder gar sorgfältige wissenschaftliche Prüfung in die Wirklichkeit zu setzen. Anderes wieder, was wissenschaftlich angepackt wurde, wurde von desinteressierten Bewilligungsausschüssen des Kongresses oder durch das Dazwischenkommen des Krieges abgewürgt, ehe man hinsichtlich des Erfolges oder Vers agens des jeweiligen Projektes eine wirkliche überprüfung anstellen oder einen Beweis erbringen konnte. Typisch für dieses pseudo-experimentelle Treiben war die Arbeit von Hunderten von Kreisplanungsunternehmen, die im Landwirtschaftsministerium ausge-

1. Forschung im Rahmen der Bundesregierung

177

arbeitet wurden22 . Sie nahmen vielerlei Gestalt an, und eine der aktivsten Unternehmungen war die Planung gemeinschaftlicher Erntearbeiten, die 1937 mit zehn Musterkreisen begonnen worden war 23 und sich daraufhin wie ein Lauffeuer über die ganzen Vereinigten Staaten ausbreitete 24 • Bevor man Gelegenheit hatte, Erfolg oder Versagen des Planes aufgrund eines sorgfältigen Vergleichs mit solchen Kreisen zu prüfen, in denen er nicht übernommen worden war, erlitt das ganze Unternehmen ein unrühmliches Ende, wahrscheinlich ein Opfer des Krieges, und manche der ihm gewidmeten Untersuchungen schienen eher der Erläuterung der Theorien zu dienen, die die Urheber über die Demokratie vertraten, als der Aufdeckung der tatsächlichen sozialen Auswirkungen des "Experimentes"25. Viele der verheißungsvollen rechtlichen Mittel, die durch ein Gesetz des Kongresses oder durch eine Verwaltungsvorschrift geschaffen worden waren, erlitten ein ähnliches Schicksal. Es ist zu hoffen, daß sie irgendwann in der Zukunft unter günstigeren Auspizien und mit sorgfältiger Aufmerksamkeit gegenüber bestimmten Problemen überprüft werden und einer wissenschaftlichen Verifikation unterliegen mögen. Einige dieser Experimente werden zur Zeit noch durchgeführt und zeitigen äußerst nützliche Ergebnisse. Die noch übrig gebliebenen sind viel zu zahlreich, als daß sie anschließend im einzelnen wiedergegeben werden können; dennoch sollen hier einige von ihnen erörtert werden, um das Ausmaß anzudeuten, in dem experimentelle Methoden von der Bundesregierung versuchsweise angewandt worden sind. c) Wissenschaftliche Vorbereitung der Gesetzgebung

Sehr umfangreiches wissenschaftliches Tatsachenmaterial wird von den Regierungsbehörden erhoben, um es als Grundlage der Gesetzgebung zu verwenden. Manchmal werden die Regierungsstellen von sich aus tätig, und manchmal werden sie auch von einem oder von beiden Häusern des Kongresses besonders dazu aufgefordert. Natürlich ist klar, daß keine dieser Arbeiten ohne eine zureichende finanzielle Unterstützung durch den Kongreß unternommen werden kann. Es gibt indessen recht zahlreiche Fälle, in denen sich Behörden um die Erlangung solcher Unter22 U.S. Bureau of Agricultural Economics, County Planning Series; Allin: County Planning Project - A Co operative Approach to Agricultural Planning, in: J oumal of Farmer Economics Bd. 22 (Februar 1940), S. 292. 23 Extension Services Review, Bd. 8 (Juni 1937), S. 90; Planning for a Permanent Agriculture, United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 351 (1939), S. 21. 24 Extension Services Review, Bd. 9 (1938), S. 71, 106, 130, 138; ebd. Bd. 10 (1939), S. 2, 36, 42, 61, 68, 75, 83, 153, 156, 178; ebd. Bd. 11 (1940), S. 12; ebd. Bd. 13 (1942), S. 6, 7, 34. 25 Gross: A Post Mortem on County Planning, in: Journal of Farm Economics, Bd. 25 (Februar 1943), S. 644, 652 ff.

12 Beutel

178

7. Kap.; Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

stützungen bemüht und wertvolles Tatsachenmaterial aufgedeckt haben, das in Berichten und in Gesetzgebungsvorschlägen in Erscheinung tritt. Zu den besten Arbeiten zählen die forstamtlichen Berichte über die Beschaffenheit verschiedener Waldgebiete, wie etwa die Studien "Waldbestände und Holzindustrien in Louisiana "26, "Die Schwarzwaldregion - ein Gebiet mit Problemen"27 und "Die Holzbestände der Goldkieferregion"28. Hier handelt es sich um sorgfältig durchgeführte wissenschaftliche und statistische Untersuchungen der Holzbestände; sie umfassen die Baumarten des untersuchten Gebietes, den Anteil der abgeholzten Flächen im Vergleich zu unberührtem Wald und Neuanpflanzung, eine Überprüfung der Praktiken der Abholzung und Empfehlungen für den Erlaß langfristiger Gesetze, die den ganzen Betrieb regeln. Auf einer ähnlichen Ebene bewegen sich die Untersuchungen des Landwirtschaftsministeriums hinsichtlich der Löhne und der Arbeitsbedingungen in verschiedenen Gebieten der westlichen Staaten29 • Hier kann man ausführliche Statistiken über Löhne und Arbeitszeit der Erntearbeiter bei Orangen, Zitronen, Zuckerrüben und Baumwolle finden. Die Dauer der Wachsperioden, die Lebensbedingungen, die Auswirkungen des Wanderarbeiterwesens sowie die gesetzlichen und freiwilligen Versuche einer Lohnstabilisierung sind allesamt analysiert worden. Ein gutes Beispiel für solche Fälle, in denen eine Anzahl von Behörden zusammengearbeitet hat, um Material über Gebietsprobleme zu erstellen, findet sich in dem Bericht über "Wirtschaftliche und soziale Probleme und Verhältnisse in den südlichen Appalachen"30; er enthält eine bis in alle Einzelheiten gehende deskriptive Analyse des Bevölkerungspotentials und der Gemeindetätigkeiten im untersuchten Gebiet. Hier wie so oft koordinierten die Behörden des Landwirtschafts- und des Innenministeriums ihre Arbeitsmittel, um einen detaillierten Bericht zu erstellen über die Bodenschätze, Temperatur, Ackerbaumethoden, soziale Gewohnhei26 Winters, Ward und Eldredge: Louisiana Forest Resources and Industries, United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 519,

1943.

27 Ineson und Ferree: The Anthradte Forest Region, A Problem Area, United States Department of Agriculture Miscellaneous Publication Nr. 648, 1948. 28 Forest Resources of the Ponderosa Pine Region, United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 490. 29 Metzler: Wages and Wage Rates of Farm Workers in the Citrus Harvest, Los Angeles Area, California, April - June 1945, United States Department of Agriculture, Bureau of Agriculture Economics, Survey Report Nr. 5 (1945); Wages and Wage Rates of Farm Workers in the Potato, Sugar Beet, and Cotton Harvests, California 1945, United States Department of Agriculture, Bureau of Agriculture Economics, Survey Report Nr. 14 (1946); Ducoff: Wages of Agricultural Labour in the United States, United States Department of Agriculture, Technical Bulletin Nr. 895 (Juli 1945). 30 Economic and Sodal Problems and Conditions of the Southern Appalachians, United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 205 (Januar 1935).

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ten, Bildungsmöglichkeiten, Familieneinkommen, Wohnungslage und tausend andere Faktoren der Verhaltensmuster der einzelnen und der Masse in den untersuchten Gemeinden. Obwohl dieser Bericht einige Vorschläge für Gesetzesänderungen enthält, ist er so wie tausend andere mehr auf eine Beschreibung als auf Gesetzgebung aus. Es gibt unzählige Fälle, in denen Behörden auf Verlangen des Kongresses Material gesammelt haben, das für spätere Gesetzgebungsakte verwendet werden sollte. Die Holzausbeute und das Problem der Holzpreise und -exporte wurde infolge einer Entschließung des Senats peinlich genau untersucht 31 , und der Bericht liefert u. a. Empfehlungen für die Gesetzgebung des Bundes und der Staaten 32 • Die wissenschaftlichen Publikationen der Experimentierstationen, die sich mit der Bodenerosion und -kontrolle beschäftigen33 , sind natürlich sehr bekannt und bieten eine ausgezeichnete wissenschaftliche Grundlage für die Gesetzgebung. Die Geschichte der Hochwasserüberwachung enthält ebenfalls zahlreiche Beispiele für sorgfältige wissenschaftliche Studien, die durch spätere Gesetze ergänzt worden sind 34• Die technische Abteilung des Heeres, das Amt für Geologische Untersuchungen und das Amt für Bodengewinnung führen ständig detaillierte Untersuchungen durch, die den Bewilligungsentscheidungen des Kongresses für Flüsse und Häfen, für die Errichtung von Flutkontrollanlagen und für Kraftwerke und Landgewinnungsprojekte vorausgehen. In diesen Fällen unterstützt die wissenschaftliche Forschung die Gesetzgebung in wirklich experimenteller Weise, und die Ergebnisse lassen eine umfassende Auswirkung auf die sozialen Gewohnheiten und Tätigkeiten der Menschen in den betroffenen Gebieten erwarten. Eine gesonderte Betrachtung sollten jene Hunderte von wissenschaftlichen Forschungsprojekten erfahren, die späterhin zur Basis der Gesetz31 Timber Depletion, Lumber Prices, Lumber Exports, and Concentration of Timber Ownership, United states Department of Agriculture, Report on Senate Resolution 311, Juni 1920. 32 Ebd. S. 69 - 70. In bezug auf weitere Untersuchungen, die von der U.S. Tariff Commission auf Verlangen des Congresses durchgeführt worden sind, siehe Alcoholic Beverages, Miscellaneous Series, 1934; Hides and Skins and Leather Report Nr. 13 (1946); Petroleum Report Nr. 17 (1946). 33 Hin, Peevy, McCan und Ben: Investigations in Erosion Control and Reclamation of Eroded Land at the Blackland Conservation Experimentation Station, Temple (Texas) 1931 - 41, United States Department of Agriculture, Technical Bulletin Nr. 859 (Januar 1944); Browning, Norton, McCan und Ben: Investigation in Erosion Control and the Reclamation of Eroded Land at the Missouri Valley Loess Conservation Experimentation Station, Clarinda (Iowa) 1931 - 42, United States Department of Agriculture Technical Bulletin Nr. 959 (Oktober 1948); Borst, McCan und Ben: Investigations in Erosion Control and the Reclamation of Eroded Land at the Northwest Appalachian Conservation Experimentation Station, Zanesville (Ohio) 1934 - 42, United States Department of Agriculture Technical Bulletin Nr. 888 (Mai 1945). 34 The Land in Flood Control, United States Department of Agriculture, Miscellaneous Publication Nr. 331, 1939, S. 13, 36 ff.

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gebung werden können, die aber nicht mit dem Gedanken an sofortige Gesetzgebung begonnen worden sind. Typisch für derartige Projekte ist die Zuwendung in Höhe von 30 Mill. Dollar, die der Bergwerksbehörde des Innenministeriums vom Kongreß bewilligt worden waren, um synthetische Ölschieferfabriken und -verfahren einzurichten, die später zur Errichtungsgrundlage einer neuen Industrie werden können 35 • Obwohl die Resultate derartiger Untersuchungen in der Zukunft vielleicht als Basis zur Schaffung eines Gesetzessystems verwendet werden können, stellen sie gegenwärtig nicht viel mehr dar als die Ermächtigung zu Probeexperimenten, die ebenso von einer Universität oder einem Industriebetrieb durchgeführt werden könnten. d) Die Untersuchungsausschüsse des Kongresses

Die oben dargelegte wissenschaftliche Forschung sollte ferner sorgfältig von den Arbeiten der Kongreßausschüsse und anderer legislativer Anhörungsverfahren unterschieden werden, die den Anschein der Forschung für ein Gesetzgebungsprojekt erwecken. Diese Aktivitäten können variieren auf der ganzen Skala von reiner Propaganda und Demagogie, was gemeinhin dem Ausschuß des Repräsentantenhauses für antiamerikanische Umtriebe vorgeworfen wird, bis hin zu gutgläubigen Versuchen, die sozialen Tatsachen einer notwendig gewordenen Gesetzgebung zu erheben; diese Anhörungsverfahren sind indessen für Rechtswissenschaftier von geringem Wert, weil sie auf nichtwissenschaftlicher Grundlage betrieben werden. Es handelt sich hier großenteils um die Arena der Pressure Groups, und da sich der Ausschuß selten in eigene Forschung vertieft, sondern sich einfach das anhört, was ihm als Material beigebracht wird, ist jedes wissenschaftliche Ergebnis weitgehend zufällig und hängt von dem Beweismaterial ab, das einzelne Zeugen gerade anzubieten bereit sind. Nur selten, wenn überhaupt, hat der Ausschuß das Personal oder den Wunsch, von sich aus die umfangreichen "Informationen" und Zeugenaussagen zu prüfen, mit denen er häufig von Parteigruppen im Kampf um eine günstige Gesetzgebung überschüttet wird. Diese Mängel treffen in gleicher Weise auf das Anhörungsverfahren zu, ob es nun in der regulären Sitzungsperiode oder in Sonderausschüssen stattfindet, die zwischen den Sitzungsperioden tagen 36 • Zu jener Zeit, als das System der Anhörung durch den Ausschuß eingerichtet worden war, mochte es das beste Mittel zur Informationssammlung gewesen sein, aber heutzutage ist die Technik der sozialwissenschaftlichen Forschung bis zu einem Punkte entwickelt, in dem man solche Verfahren als kaum mehr denn als historische Anachronismen ansehen kann. Uni ted States Statutes at Large, Bd. 58 (April 1944), S. 190 - 191. Cohen: Towards Realism in Legislation, in: Yale Law Journal, Bd. 59 (1950), S. 886. 35

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Indessen gibt es beachtenswerte Ausnahmen von den durchschnittlichen Publikationen der Gesetzgebungsausschüsse. Zu den besten gehören die monographischen Berichte des Provisorischen Nationalen Wirtschaftsausschusses 37 , eines gemeinschaftlichen Gremiums von Repräsentantenhaus, Senat und sechs Ministerien, das in der 3. Sitzungsperiode des 75. Kongresses mit der Befugnis geschaffen wurde 38 , die Konzentration wirtschaftlicher Macht und der finanziellen Kontrolle von Produkten und Verteilung der Güter und Dienstleistungen zu untersuchen und darüber zu berichten. Man hatte einen anfänglichen Kostenaufwand von 500 000 Dollar für die Anstellung von Experten und für sonstige Ausgaben bewilligt, die den Ausschuß schließlich einen doppelt so hohen Betrag kosteten 39 • Obwohl die 44 veröffentlichten Monographien in der Hauptsache versuchten, ein allgemeines Bild der ökonomischen Verhältnisse im Staate zu malen, werden sie durch eine Masse sorgfältig zusammengestellter und detaillierter Statistiken unterbaut. Die Empfehlungen gesetzlicher Maßnahmen sind - mit nur wenigen Ausnahmen Enttäuschungen 4o . Wahrscheinlich gibt es für dieses Versagen des Ausschusses, konkrete Resultate zu erlangen, zwei Gründe. Erstens ist hier, wie bei so vielen anderen Unternehmungen der Tatsachenermittlung, die Operationsbasis viel zu breit. Das Ziel, die Fehler des ganzen Systems herauszufinden, ist zu vage, um konkrete Rechtsänderungen zu bewirken. Sehr viel bessere Ergebnisse könnte man von der Untersuchung der Wirkungsweise und der sozialen Auswirkungen eines einzigen Gesetzes erwarten. Hier liegt wahrscheinlich der Grund dafür, daß die beiden Monographien über das Patentierungssystem41 und über die Durchsetzung des "Sherman Act"42, 43 diejenigen sind, die die bedeutendsten Empfehlungen enthalten. Das zweite Hindernis liegt darin, daß der leitende Vorstand des Ausschusses aus Politikern anstatt aus Wissenschaftlern zusammengesetzt war. In unserem derzeitigen System sollen die politisch ernannten oder gewählten Funktionäre vielleicht die entscheidende Politik bestimmen, aber wenn sie in eine Lage versetzt werden, in der von ihnen verlangt wird, Fakten zu ermitteln und darüber Empfehlungen auszusprechen, dann wird ihr wissenschaftliches Urteil zweifellos durch 37 Temporary National Economic Committee Monographs 1 - 44, veröffentlicht als Senate Documents, 76th and 77 th Congress (1940 - 41); siehe Business Week, 22. März 1941, S. 27. 38 52 Stat. 705 (1938). 39 Twilight of Temporary National Economic Committee, Time, Heft 37 (14. April 1941), S. 85 - 87. 40 Stone: The TNEC Recommends-What?, in: The Nation, Heft 152 (19. April 1941), S. 463; TNEC - Magnificent Failure, in: Business Week vom 22. März 1941, S. 22 - 31. 41 Patents and Free Enterprise, TNEC Monograph Nr. 31 (1941). 4! Anti-Trust in Action, TNEC Monograph Nr. 16 (1940). 43 Der "Sherman-Act" von 1890 ist das erste (noch geltende) amerika nische Anti -Trust-Gesetz.

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ihre politischen Standpunkte negativ beeinflußt. Eine sorgfältige Prüfung der Schlußberichte und -empfehlungen des Ausschusses wird das Ausmaß aufzeigen, in dem politisches Gutdünken die Faktenanalyse und die Empfehlungen gestört oder zerstört hat 44 • Solange derartigen Ausschüssen nicht die volle Unabhängigkeit gewährt wird, Tatsachen zu ermitteln und Empfehlungen auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse zu unterbreiten, werden Untersuchungen dieser Art mit einiger Wahrscheinlichkeit außer einer ungeordneten Masse instruktiver Daten wenig hervorbringen. Trotz des Vers.' gens dieser Ausschüsse, konkrete Ergebnisse in Form besserer Gesetze '"m zeitigen, verändern sich die Gesetzgebungsgewohnheiten des Kongresses allmählich durch die riesige Menge an wertvoller Information, die in den Expertenberichten auf niedrigerer Ebene versteckt sind. Die aufgeklärten Gesetzgeber begreifen allmählich, daß Gesetze, die das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen des Landes berühren, nicht ohne eine sorgfältige Untersuchung der zu regelnden Phänomene erlassen werden können. Dieselbe Art der gründlichen wissenschaftlichen Erforschung vor Erlaß eines Gesetzes, die auf den Gebieten der Hochwasserüberwachung, des Naturschutzes und der militärischen Planung zu einer offensichtlichen Notwendigkeit geworden ist, wird zunehmend als Vorbedingung aller Gesetze angesehen, die wirtschaftliche und soziale Verhältnisse regeln. Sofern die Bundesregierung den Weg in Richtung auf eine gesellschaftliche Planung weitergeht, muß sie in zunehmendem Maße das Verfahren der Experimentellen Rechtswissenschaft übernehmen, die Vertrauen in die Forschung und eine Empfehlung neutraler Experten vor jeder Gesetzgebung verlangt. Wir befinden uns heute in einer Zeit, in der anerkannt ist, daß die Verfahren des Kongresses zur Tatsachenermittlung geändert werden müssen und daß der Erlaß eines Gesetzes nicht ohne Risiko allein auf die Volksmeinung oder auf die Forderungen unkontrollierter Pressure Groups gegründet werden kann. e) Die Entwicklung in Richtung auf eine wissenschaftliche Tatsachenermittlung

Auf vielen Gebieten ist der Kongreß bereits daran gegangen, eine wissenschaftlichere Tatsachenermittlung für die Recht- und Normsetzung zu schaffen. Ein derartiges Vorgehen steht meist im Zusammenhang mit der Delegation von Machtbefugnissen auf Sachverständigen-Ausschüsse und Regierungsbehörden, wobei man davon ausgeht, die betreffenden Vorschriften seien derart kompliziert, daß sie nur von einem 44 Final Report and Recommendations of the TNEC, 77th Congress Senate Document No. 35 (31. März 1941).

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Sachverständigengremium richtig behandelt werden können, das sich eingehend mit den wissenschaftlichen und tatsächlichen Aspekten der zu kontrollierenden Situation beschäftigt. Die Art und Weise, in der eine solche Delegation die Entwicklung einer echten Rechts-Wissenschaft in der Arbeit der Straßenbehörde und im Verkehrs recht des District of Columbia ermöglicht hat, wurde bereits erörtert 45 • Es gibt zahlreiche andere Zweige der Bundesregierung, bei denen man die Möglichkeit für eine ähnliche wissenschaftliche Entwicklung finden kann, die sich hinter der Delegation von Befugnissen auf Regierungsbehörden versteckt. Zu ihnen gehören die Zollkommission mit ihrer Befugnis, die Zollsätze um 50 % zu ändern, und unabhängige Regierungsbehörden mit einer weitgehenden Normsetzungsbefugnis wie die Bundesverkehrsbehörde, die Bundeshandelskommission, das Zivile Luftfahrtamt und zahlreiche weitere Organisationen dieser Art. Ferner besteht die Chance einer wissenschaftlichen Entwicklung bei den Organen der Wirtschaftsüberwachung, von denen jedes einzelne zum Gegenstand einer Abhandlung gemacht werden könnte; hier seien genannt: das Finanzministerium mit seiner Währungskontrolle, der Rat der Gouverneure des Bundesreservesystems, das W iedera ufba u -Finanzierungsinstitut46 , die Bundesversicherungsanstalt für Bankdepositen47 und viele andere öffentliche Bank- und Finanzinstitute. Viele Ministerien wie zum Beispiel das Innenministerium, das mit großen, der TVA 48 ähnlichen Projekten der Bodengewinnung betraut ist, bieten im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches ebenfalls Beispiele für die Experimentelle Rechtswissenschaft. Kritische Untersuchungen und Vergleiche der Forschungsmethoden dieser Verwaltungstätigkeit würden sich für einen experimentellen Rechtswissenschaftler als fruchtbare Materialquelle herausstellen. Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur einige der Arbeitsergebnisse dieser Organisation zu überprüfen, aber eine vergleichende Untersuchung ihrer Tätigkeit, die entweder durch Regierungsstellen oder von unabhängigen Forschungsorganisationen durchzuführen wäre, müßte sich als ergiebige Quelle der Rechts-Wissenschaft erweisen.

45 s. Kapitel VI, Anm. 81, 87; 43 Stat. 1119 § 6 (a) (1925); District of Columbia Code (1940) § 40-603. Laforest v. Board of Commissioners, 92 F. 2d 547 (App. D. C., 1937, bestätigt durch 302 U.S. 760 (1937). 48 Die Reconstruction Finance Corporation wurde nach der großen Wirtschaftskrise von 1929 unter Präsident Hoover eingerichtet, um Geld an Banken, Eisenbahngesellschaften, Versicherungsgesellschaften usw. zu verleihen. 47 Die Federal Deposite Insurance Corporation, unter Präsident Franklin D. Roosevelt eingerichtet, versichert die Einlagen bestimmter Banken unter gewissen Bedingungen bis zu einer bestimmten Höhe. 48 Siehe oben Kap. II Anm. 41.

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung 2. Die Verwendung von Gesetzen als administrative Hilfsmittel zur Verbreitung wissenschaftlicher Information

a) Bildungsarbeit Prüft man den Zweck bestimmter Gesetze, so wird man entdecken, daß es viele Bundesgesetze gibt, deren Hauptfunktion darin besteht, von den Naturwissenschaften entwickelte Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Landwirtschaftsministerium unterhält ein riesiges System von Versuchsstationen und gibt eine Fülle finanzieller Zuschüsse, um die landwirtschaftliche Erforschung zum Beispiel der hybriden Maissorten, der Tierzucht und neuer Ackerbaumethoden zu fördern. In diesen Fällen besteht der Gesetzeszweck lediglich darin, den Bauern in der Anwendung all jener Entdeckungen zu schulen, die schließlich einmal seine Gewohnheiten ändern, seine Produktivität und seinen Wohlstand erhöhen und die Lebensverhältnisse verbessern werden. Obgleich diese Unternehmungen sehr zahlreich und wertvoll sind, ist bis jetzt wenig Mühe darauf verwendet worden, ihre Effektivität zu überprüfen. Jedenfalls verkörpern sie aber einen bedeutsamen Aspekt der wissenschaftlichen Jurisprudenz, nämlich den Gebrauch von Gesetzen zur Verbreitung der durch die Wissenschaften entwickelten Erkenntnisse, um die rechtlichen und sozialen Gewohnheiten der Gesellschaft umzuformen. Das Wirtschaftsministerium, das Innenministerium und viele weitere Regierungsbehörden handhaben Gesetze mit einem ähnlichen Zweck, darunter insbesondere der Öffentliche Gesundheitsdienst im Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt, der nicht nur wissenschaftliche Forschungsergebnisse verbreitet, sondern auch eine erhebliche Rechtsetzungsbefugnis besitzt, die auf seinen Leiter, den Surgeon General 49 , übertragen ist. b) Der Öffentliche Gesundheitsdienst und das Milchprogramm

Was die Sammlung und Verbreitung wissenschaftlicher Informationen angeht, so bildet die Arbeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes auf dem Gebiet der Milcherzeugung und -hygiene ein hervorragendes Beispiel für die gesamte Arbeitsweise der Experimentellen Rechtswissenschaft in einem Bereich, in dem sich die Wissenschaft nachdrücklich auf die Gesetzgebung auswirkt. Seit der Zeit kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich der Öffentliche Gesundheitsdienst mit der Auswirkung der Milchproduktion und des Milchvertriebes auf die Gesundheit beschäftigt. Die ersten Arbeiten 49 Der Surgeon General ist der höchste beamtete Arzt im Gesundheitswesen der USA.

2. Gesetze als Hilfsmittel zur Verbreitung wissenschaftl. Information

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betrafen das Auftreten von Krankheiten, die durch die Milch übertragen wurden, und die Auswirkung der Pasteurisierung50 . Im Jahre 1923 richtete die Abteilung für Wissenschaftliche Forschung ein Amt für Milchuntersuchung ein, das mit staatlichen und örtlichen Regierungsstellen zusammenarbeiten sollte. Wegen der Gewaltentrennung in unserem föderativen Regierungssystem hielt man den zum Bund gehörenden Öffentlichen Gesundheitsdienst seiner Zeit nicht für befugt, Bundesgesetze zur Kontrolle der Milcherzeugung und des Milchvertriebes auf unterster Ebene zu empfehlen. Aufgrund dieser rechtlichen und administrativen Schwierigkeit studierte das Amt für Milchuntersuchung die verschiedenen Arten von Milchverordnungen und deren Auswirkung auf die milchverarbeitende Industrie in verschiedenen Örtlichkeiten51 • Als Abschluß dieser Untersuchungen wurde eine Standardmilchverordnung entwickelt; sie beruhte auf den Erkenntnissen, die man durch fortwährende Forschungen gewonnen hatte. In kurzer Zeit wurde diese Versuchs-Verordnung52 genügend vervollkommnet, um in Kraft gesetzt werden zu können. Sie wurde allen Groß- und Kleinstädten des Landes empfohlen. Als Ergebnis der Bemühungen des Bundesversicherungsamtes53 galt die empfohlene Milchverordnung im Jahre 1950 in über 1 400 Gemeinden und 300 Kreisen, die auf ein Gebiet von 38 Staaten und einem Territorium verstreut waren. Außerdem wurde sie als einzelstaatliches Gesetz oder als Verordnung in 32 Staaten und zwei Territorien erlassen und in 13 von ihnen im ganzen Staatsgebiet durchgeführt. Dieses Gesetz gilt damit u. a. in 55 Städten mit einer Bevölkerung von über 100000 und in 38 Städten mit einer Bevölkerung zwischen 50 000 und 100 000 Einwohnern. Insgesamt wurde ein Gebiet mit einer Bevölkerung von über 58 Mill. Einwohnern erfaßt54. Nachdem diese Gesetze und Verordnungen erlassen waren, ersann der Öffentliche Gesundheitsdienst einen Weg, um die Effektivität der Durchsetzung der neuen Bestimmungen zu überprüfen. Dieses Vorgehen entspricht dem Schritt drei des in Kapitel II erklärten Verfahrens der Experimentellen Rechtswissenschaft. Die örtlichen Aufsichtsbeamten der Bundesbehörde und auch der einzelstaatlichen und lokalen Behörden wurden 50 Moss: Milk Investigations of the U.S. Public Health Service, in: Journal of Milk Technology, Bd. 3 (1940), S. 145. 51 Moss, ebd. S. 147 ff. 52 Milk Ordinance and Code, Public Health Bulletin 220, Federal Security Agency (1939). 53 Die Federal Security Agency ist zuständig für die Durchführung des Sozialversicherungsrechts und für weitere Angelegenheiten, die sich auf Gesundheit und Wohlfahrt beziehen. 54 Liste der amerikanischen Gemeinden, in denen die vom staatlichen Gesundheitsdienst empfohlene Milchverordnung gilt, in: Division of Sanitation, Federal Security Agency, November 1950.

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

mit umfangreichen Erhebungsbogen 55 versehen, die die Hauptpunkte der gesetzlichen Bestimmungen erfaßten. Diese wurden vollständig ausgefüllt und an die aufsichtsführende Behörde zurückgesandt. Sobald die Berichte eintrafen, wurden sie von Vertretern der Behörde zusammengefaßt, die dann für die verschiedenen Gebiete Bewertungsnoten für die Milchhygiene56 verteilten. Außerdem wurden sorgfältige Wiederholungsuntersuchungen 57 angestellt, die die Gesundheitsverhältnisse und den Stand der Milchhygiene in den verschiedenen Gegenden vor und nach Verabschiedung des Gesetzes erfaßten. Man erstellte ferner Berichte über die Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit58 , über die Handelsschranken59 der milchverarbeitenden Industrie und über ähnliche Gegenstände und deren Beziehungen zu den betreffenden Bestimmungen. Als Ergebnis dieser ständigen Untersuchungen werden regelmäßig Ergänzungen 60 des allgemeinen Milchgesetzes vorgeschlagen; die Ergänzungen werden in Kraft gesetzt, und die Untersuchungen beginnen von neuem6 1, wobei sie sowohl den wirklichen als auch den erwarteten Effekt 62 der Methodenänderungen aufzeigen. Hier lassen sich leicht die Schritte sechs, sieben und acht der Experimentellen Rechtswissenschaft erkennen. Das gesamte Verfahren wird gegenwärtig auf Vorschlag des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zusammen mit dem Landwirtschaftsministerium und dem Nationalen Forschungsrat untersucht. Ein vorläufiges Bulletin über den Stand der überwachung der hygienischen Milch- und Sahneerzeugung wurde im Jahre 1950 veröffentlicht und ein Schlußbericht über die ganze Untersuchung erschien im Frühjahr 1953 63 • Diese 55 Siehe z. B. Federal Security Agency, Form P.H.S. 842 (SE) Rev. 3-50, Public Health Service. 58 Communities Awarded Milk Sanitation Ratings of 90 Percent or More, in: Public Health Report, Bd. 66 (August 1951), S. 1087. 57 Als Beispiel siehe Fuchs und Koeze: Results of the Operation of the Standard Milk Ordinance in Mississippi, Public Health Reports, Bd. 45 (Juni 1930), S. 1412; Clark und Johnson: Results of the Operation of the Standard Milk Ordinance in Missouri, Public Health Reports, Bd. 46 (Juni 1931), S. 1413. 58 Andrews und Fuchs: Pasteurization and its Relation to Health, in: Journal of the American Medical Association, Bd. 138 (1948), S. 128. 59 Fuchs: Trade Barriers in the Milk lndustry, in: Journal of Milk and Food Technology, Bd. 10 (Juli 1947), Nr. 4, S. 195. 80 Siehe z. B. Fuchs: Recent Amendments of the U.S. Public Health Service Milk Code, in: Journal of Milk and Food Technology, Bd. 11 (Mai 1948), Nr. 3, S.149. 61 Siehe Thomas, Levine und Black: Studies Showing the Effect of Changes in the New (9th) Edition of Standard Methods in Regulation of the Bacteriological Analysis of Milk, in: American Journal of Public Health, Bd. 38 (Februar 1948), Nr. 2, S. 233. 82 Black: Effects of Contemplated Changes in Standard Methods, in: Journal of Milk and Food Technology, Bd. 11 (Juli - August 1948), Nr. 4. ftS Preliminary Report (Dahlberg und Adams): Sanitary Milk and lce Cream

2. Gesetze als Hilfsmittel zur Verbreitung wissenschaft!. Information 187 Berichte illustrieren einen der vielen Bereiche, auf dem staatliche Behörden mit privaten wissenschaftlichen Organisationen zusammengearbeitet haben, um rein wissenschaftliche Ergebnisse hervorzubringen. Obwohl der Bericht als solcher von Naturwissenschaftlern und nicht von Juristen erstattet worden ist, enthält er dennoch zahlreiche Vorschläge sowohl für die Rechtstatsachenforschung als auch für die Verbesserung der untersuchten Gesetze. Im Endstadium wird man dann alle Schritte der in Kapitel II dargelegten Experimentellen Rechtswissenschaft erkennen können. In diesem Fall muß noch beachtet werden, daß die durch Bundesgesetz geschaffene Behörde nur als wissenschaftliche Forschungsstelle fungiert, während der Erlaß der eigentlichen Regelungen, der den Staaten, Städten und Kreisen vorbehalten ist, die Stelle der Laboratorien und Kontrollmechanismen einnimmt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst arbeitet nach diesem Muster auch auf vielen anderen Gebieten, wo die Gesetzgebungszuständigkeit ganz in den Händen der Lokalregierungen liegt. Darunter befinden sich Materien wie Gaststättenhygiene64, Trinkwasserüberwachung, Wasserverschmutzung, Luftverschmutzung, Schädlingsbekämpfung, Müllbeseitigung, sanitäre Verhältnisse in Schulen und ländlichen Gebieten, Gesundheitsschutz für Reisende und Gesundheitswesen im Betrieb65 • Ähnliche Unternehmungen werden auf dem Gebiete des Handels zwischen den Einzelstaaten durchgeführt, wo die Bundesregierung die gesamte Gesetzgebungszuständigkeit besitzt. In diesem Bereich wurde die Rechtsetzungsbefugnis, die auf den Surgeon General delegiert worden ist, ausgiebig genutzt. Die zwischenstaatlichen Quarantänebestimmungen, die die übertragbaren Krankheiten, die Beförderungsmittel auf der Erde und in der Luft und Kontrollen aller Art regeln, sind in die Kodifikation des Bundesrechts aufgenommen worden 66 • Diese Kontrollen nebst den entsprechenden Verhaltensvorschriften betreffen weitere Gebiete wie Kundendienst der Eisenbahn 67 , Speisewagenbetrieb 68 , Konstruktion Legislation Bulletin Nr. 121, National Research Council (Juli 1950); Schluß bericht von Dahlberg, Adams und Held, Sanitary Milk Control, Publication Nr. 250 (1953). 64 Fuchs: Restaurant Sanitation Program of the United States Public Health Service, Public Health Report Bd. 62, Nr. 8 (Februar 1947), S. 261; Ordinance and Code Regulating Eating and Drinking Establishments, Public Health Service Publication Nr. 37 (1943); Form Public Health Service 72 SE. (5-47), Federal Security Agency, Public Health Service, Sanitation Rating of Eating and Drinking Establishments. 65 Siehe die Schrift der Federal Security Agency, Public Health Service, Environment and Health, 1951. Ge Titel 42, Abschnitte 71 - 73 (1949 - 50). G7 Siehe Railroad Servicing Areas, Federal Security Agency, Public Health Service Publication Nr. 66, 1951.

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

der Personenwagen69 und Hygiene im Schiffsbetrieb 70 ; dabei verbessert der Öffentliche Gesundheitsdienst täglich die Lebens- und Reiseverhältnisse - eine Folge seiner wissenschaftlichen Untersuchungen der Gesundheitsprobleme und auch der Durchführung der Vorschriften, die diese Probleme bewältigen sollen. Trotz der Behinderung durch zersplitterte Gesetzgebungskompetenzen und trotz des Wehgeschreis bestimmter Interessengruppen über die Einmischung der Bundesregierung in örtliche Angelegenheiten ist die Experimentelle Rechtswissenschaft auf zahlreichen Arbeitsgebieten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ein fest verankertes Verfahren71 • Ein eingehendes Studium ähnlicher Unterfangen bei anderen Regierungsbehörden dürfte noch einen sehr viel größeren Fortschritt in Richtung auf die Ziele ergeben, die von den Theorien der experimentellen Sozialwissenschaft aufgezeigt werden. c) Die jährlichen Berichte von hohen Beamten und Behördenleitern

Eine übliche Informationsquelle, die vom Kongreß zur Festlegung der Regierungspolitik benutzt wird, bilden die Berichte der Leiter von Regierungsbehörden über den Fortschritt ihrer Tätigkeiten72 • Viele dieser Berichte beruhen auf einer sorgfältigen, von kompetenten Sozialwissenschaftlern und Experten veranstalteten Prüfung und Zusammenstellung von Informationen, aber obwohl sie eine Menge wertvoller Daten enthalten, können sie wissenschaftlichen Anforderungen regelmäßig nicht genügen, und zwar aus einer Anzahl von Gründen, die denjenigen klar sind, die Erfahrung in der staatlichen Verwaltung haben. 68 Siehe Handbook, Dining Cars in Operation, Federal Security Agency, Public HeaIth Service, Publication Nr. 83, 1951. 69 Siehe Handbook, Railroad Passenger Car Construction, Federal Security Agency, Public HeaIth Service Publication Nr. 95, 1951. 70 Handbook, Vessels in Operation, Federal Security Agency, Public Health Service Publication Nr. 68, 1951. 71 Die geteilte Gesetzgebungskompetenz, die ein schwerwiegendes Hindernis für den Erlaß der Gesetze in ihrer ursprünglichen Form bildet, kann der Objektivität dienlich sein, wenn eine Bundesbehörde die Effektivität der Durchführung von Gesetzen untersucht, die von den Einzelstaaten rezipiert worden sind. Die Objektivität ist auf diesem Bereich weiterhin gefördert worden durch die Zusammenarbeit mit dem National Research Council (Anm. 58). 72 Siehe z. B. Federal Communications Commission, Jahresbericht 1948, S. 11 - 19; ebd. 1939, S. 89; ebd. 1940, S. 23, 24. Civil Aeronautics Board, Jahresbericht 1946, S. 20, 21; ebd. 1947, S. 29, 30; ebd. 1948, S. 33, 34, 36, 37; Jahresbericht von The Section of Commerce, 1948, S. 3, 4; Federal Power Commission, Jahresbericht 1947, S. 119 -121; ebd. 1948, S. 108, Federal Trade Commission, Jahresbericht 1941, S. 19,20; ebd. 1946, S. 12; Federal Housing Administration, Jahresbericht 1948, S. 1- 19; Securities and Exchange Commission, Jahresbericht 1944, S. 8; ebd. 1948, S. 17 - 20.

3. Die wissenschaftliche Ausrichtung der Politik

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1. Die Berichte der meisten Behördenleiter sind zu eng mit politischen Parteien und Parteipolitik verbunden, als daß sie in einer neutralen Weise vorgebracht werden könnten.

2. Für den Verwaltungsbeamten ergibt sich stets die Notwendigkeit, dem Kongreß gegenüber den Erfolg seiner Aufgabenerfüllung herauszukehren.

3. Jeder ehrgeizige Exekutivbeamte ist der Versuchung ausgesetzt, eine mächtige Bürokratie aufzubauen, mit deren Hilfe er seine Anhänger belohnen und seine Führungsstellung vergrößern kann. 4. Die hieraus resultierende fehlende Objektivität in den Behördenberichten macht es unmöglich (abgesehen von Fällen erklärter Verfassungswidrigkeit oder vollständiger politischer Umwälzung), eine Regierungsbehörde abzuschaffen, nachdem sie einmal tätig geworden ist. Obwohl eine Entscheidung des Supreme Court über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Gesundung der Industrie (National Industrial Recovery Act) schließlich dazu verhalf, die Tätigkeit der National Recovery Administration zu beenden73 , wirkte sich dies nicht auf das Amt für die Anpassung der Landwirtschaft (Agricultural Adjustment Administration) aus, das zur Erreichung seines Zieles weiterarbeitete, und zwar gegen ein ähnliches Urteil des Supreme Court7 4 und gegen die Erklärung des Präsidenten des Rechnungshofes (Comptroller General)15, daß er die Rechnungen dieses Amtes nicht mehr begleichen werde; die Arbeit wurde einfach mit Hilfe einer finanziellen Bewilligung durch den Kongreß fortgeführt7 6 • Das Wiederaufbau-Finanzierungsinstitut, die Sozialversicherung, der Militärklüngel und andere riesige bürokratische Organisationen, die in sich ihre eigenen Forschungs- und Propagandaabteilungen beherbergen, überleben die politischen Umwälzungen und gedeihen weiter, ob sich das Land nun im Krieg befindet oder im Frieden.

3. Die wissenschaftliche Ausrichtung der Politik

a) Die Zollkommission als wissenschaftliches Gremium Eine der umstrittensten Maßnahmen staatlicher Wirtschaftsregulierung ist während der ganzen Geschichte unseres Landes der Schutzzoll gewesen. Im Jahre 1916 77 war man der Meinung, der Zoll könne der Schechter Corporation v. U.S., 295 U.S. 495 (1935). U.S. v. Butler, 279 U.S. 1 (1936). 75 Agricultural Adjustment Act Unconstitutionality - Availability of Appropriations, Comptroller General Operation (A-69, 783) vom 14. Januar 1936. 7S 49 Stat. 1116 (1936). 77 39 Stat. 795 - 798 (1916). 73 74

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

politischen Auseinandersetzung entzogen werden, indem man eine Verwaltungsbehörde zur Untersuchung der wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter Zollvorschriften einrichtete und auf den Präsidenten die Befugnis delegierte, den Zolltarif zu erhöhen oder zu senken, je nachdem wie es die Untersuchungen und Empfehlungen des Ausschusses anzeigten 78 • Das Gesetz über die Flexibilität der Zölle schuf eine Forschungskommission mit der Befugnis, den Zoll zu erhöhen und zu senken, um der Notwendigkeit zu genügen, der amerikanischen Industrie eine gerechte Ausgangsposition in der Konkurrenz mit ausländischen Produzenten zu verschaffen. Zweifellos enthielt dieses Gesetz Ansätze dessen, was sich zu einem hervorragenden Experiment wissenschaftlicher Regierungstätigkeit hätte entwickeln können, doch obwohl die Kommission theoretisch für eine unparteiische Arbeit ausgerüstet war, war es in den Anfangsstadien nie möglich, den Druck politischer Einmischung fernzuhalten, und zwar besonders deshalb, weil die endgültige Entscheidung über das Untersuchungsergebnis vom Präsidenten gefällt werden mußte, und dieser war der Führer der an der Macht befindlichen Partepu. In neuerer Zeit finden sich Anzeichen, wonach die Kommission sich zu einer Organisation zu entwickeln verspricht80 , die mit beträchtlicher Zuverlässigkeit Tatsachen ermittelt, aber immer noch steht sie im Schatten der Industrie-Lobb y 81. Obwohl also die Zollkommission die Möglichkeit hat, sich zu einem positiven Beispiel Experimenteller Rechtswissenschaft zu entwickeln, ist es bis zu ihrer völligen Entfernung aus der Reichweite der Agenten politischen Drucks zweifelhaft, ob sie mehr darstellen wird als ein Beispiel für Verhältnisse, unter denen die Experimentelle Rechtswissenschaft bei unserer gegenwärtigen Regierungsform nicht arbeiten kann. b) Forschungen zur Bestimmung der Politik der Behörden

Viele Regierungsbehörden haben sich so sehr vergrößert und umfassen einen so riesigen Tätigkeitsbereich, daß selbst die leitenden Verwaltungsleute das politische Vorgehen nicht mehr sinnvoll festlegen können, ohne sich zunächst eingehend mit einer komplizierten Sozialforschung zu beschäftigen, um herauszufinden, was im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeit vor sich geht. Gute Beispiele für ein solches Bestreben, vernünftige politische Grundentscheidungen zu treffen, finden sich in den UnterUnited States Code Annotated, Bd. 19 (1930), § 1336. Schattschneider: Politics, Pressures and the Tariff, 1935, S. 59 ff.; Villard: Free Trade - Free World, 1947, Kap. 21; Herring: The Political Context of the Tariff Commission, in: Political Science Quarterly, Bd. 49 (1934), S. 421; Taussig: The U.S. Tariff Commission and the Tariff, in: American Economic Review, Bd. 16 (1926), S. 171. 80 Villard, a.a.O. (Anm. 79), S. 225 - 227. 81 Ebd. S. 40, 41; Schattschneider, a.a.O. (Anm. 79), Kap. 3. 78

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3. Die wissenschaftliche Ausrichtung der Politik

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suchungen des Amtes für Bodengewinnung, die den Zweck hatten, den maßgebenden Verlauf der Bodengewinnungsprojekte im ColumbiaBecken82 im Staate Washington festzulegen. Hier wurden Untersuchungen über mindestens 28 Fragen durchgeführt, die mit den Grundentscheidungen zusammenhingen. Die Überschriften einiger dieser Berichte sind bezeichnend für die damit einhergehende Forschung. Da waren z. B. als Problem Nr. 2: Arten der Landwirtschaft; als Problem Nr. 4 und 5: Bewässerung und Wasserbedarf; als Problem Nr. 9: Der unterschiedliche Lebensstandard und als Problem Nr. 19: Entwicklung des Straßennetzes. Ähnliche Arbeiten führte man im Central Valley-Projekt durch, wo Untersuchungen in bezug auf 24 83 grundlegende Tatsachenbereiche veranstaltet wurden, die im Zusammenhang mit späteren Verwaltungsentscheidungen standen; und in beiden Fällen ist ein Ende der fruchtbaren Forschung für die Festlegung der politischen Richtlinien noch nicht abzusehen. Obwohl Untersuchungen dieser Art zur Bestimmung der Leitlinien für die Behörden überaus nützlich sind, werden sie oft durch grundlegende Rechtserfordernisse beeinträchtigt, die Ergebnisse geschichtlicher Zufälle sind. Z. B. sind viele der Untersuchungen dem Nachweis gewidmet, daß die höchst umstrittene 160-acre-Forderung84 für Bauernhöfe im Rahmen der Bodengewinnungsprojekte eine angemessene Begrenzung ist, um dem Gebiet die bestmögliche soziale Entwicklung zu sichern85 , während diese Zahl in Wirklichkeit lediglich ein Anachronismus ist, der auf die alten Heimstättengesetze86 zurückgeht und erst noch einer wissenschaftlichen Analyse im Lichte der Tatsachen und Erfordernisse einer modernen Landwirtschaft unterworfen werden muß, die zweifellos von Gebiet zu Gebiet verschieden ausfällt. Diese zur Bestimmung der politischen Richtlinien angestellten Untersuchungen sind natürlich auch der Schwierigkeit unterworfen, daß sich der Verwaltungsbeamte der Notwendigkeit ausgesetzt sieht, eine Parteipolitik zu unterstützen, die im voraus allein durch intuitive oder andere nichtwissenschaftliche Methoden festgelegt worden ist. Aber trotz dieses Handicaps wirken sich die Erkenntnisse, die in solchen Untersuchungen gewonnen werden, allmählich auf die Grundpostulate der Regierungspolitik aus. 82 Columbia Basin Joint Investigations, United States Department of the Interior, Bureau of Reclamation (1945 - 1946). 83 Central Valley Project Studies, United States Department of the Interior, Bureau of Reclamation (1946 - 1949). 84 160 acres sind ein Viertel einer Quadratmeile, die eine Fläche von 2,59 km 2 hat. 85 Farm Size and Adjustment to Topography, Columbia Basin Investigations, Problems 6 and 8, United States Department of the Interior, Bureau of Reclamation, 1946, S. 5. 86 12 Stat. 392 (1862).

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung 4. Die Notwendigkeit, die Forschung von der Verwaltungs tätigkeit zu trennen

Eine wissenschaftliche Jurisprudenz verlangt natürlich unparteiische Untersuchungen der sozialen Auswirkungen der erlassenen Gesetze, und das ist dort unmöglich, wo diejenigen, die die Untersuchungen leiten, an dem Resultat interessiert sind, das mit der Durchführung der betreffenden Gesetze erreicht werden sollte. Die besten Ergebnisse sozialer Forschung seitens der Bundesregierung scheinen auf solchen Gebieten erzielt worden zu sein, wo der Forscher am Resultat seiner Untersuchungen kein Interesse hatte. Es gibt viele exakt angelegte Untersuchungen, die auf die Funktion eines bestimmten Gesetzes oder mehrerer bestimmter Gesetze gerichtet sind, die nicht der Durchführung oder überwachung der untersuchenden Behörde unterliegen. Der Bericht des Amtes für Arbeitsstatistik über die Beeinflussung der Preise durch die Gesetze und Verwaltungsverordnungen zur Preisüberwachung87 bildet ein klassisches Beispiel für den dritten Schritt einer weitgespannten Experimentellen Rechtswissenschaft. Der Bericht des Amtes für Arbeitsstatistik über die Auswirkung der Gesetze und Verwaltungsbestimmungen, die die Mietpreiskontrolle aufhoben 88 , zeigt das Ausmaß, in dem die Mieten in typischen amerikanischen Städten sofort nach Beseitigung der Restriktionen in die Höhe kletterten und illustriert damit vorzüglich, wie die sozialwissenschaftliche Forschung die unmittelbaren Folgen der Gesetzesänderung beleuchtenkann. Die Abteilung für Regionalforschung in der Tennessee Valley Authority hat eine Analyse der Verwaltungstätigkeit der Kreisverwaltungen im Bereich ihrer Rechtsetzungsbefugnis angestellt 89 ; diese Arbeit bildet ein schönes Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Forschung und Analyse auf die Verwaltung in den einzelnen Tätigkeitsbereichen der Kreise angewendet werden können. In diesem einen Bericht kann man Illustrationen zu jedem der sechs Schritte im Verfahren der wissenschaftlichen Jurisprudenz finden. Da die Tennessee Valley Authority selbst nichts mit der Kreisverwaltung zu tun hatte, war sie in der Lage, die Hauptaspekte dieser in sieben Staaten verwendeten Rechtseinrichtung unbefangen zu bewerten und die signifikanten Entwicklungen in der Verwaltung ausführlich zusammenzustellen und zu untersuchen, wobei juridische Ge87 The General Maximum Price Regulation, Bulletin Nr. 879, United States Department of Labor, Bureau of Labor Statisties, 1946. 88 Report on Rent Increases in Seven Decontrolled Areas, Uni ted States Department of Labor, Bureau of Labor Statistics, 18. Januar 1950. 89 County Government and Administration in the Tennessee Valley States, TVA Department of Regional Studies, Juli 1940; vgl. Columbia Basin Joint Investigation, Local Government Units, Problem 28, Uni ted States Department of the Interior, Bureau of Reclamation (1945).

4. Die Trennung der Forschung von der Verwaltungstätigkeit

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setze aufgestellt wurden 90 , die aus sorgfältig zusammengestellten Berichten abgeleitet waren. Dies führte zu einer Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Gesetze 91 • Es ist bedauerlich, daß die im Bericht ausgesprochenen Empfehlungen noch von keinem der betroffenen Kreise versuchsweise realisiert worden sind. Nach dem gleichen Muster erstellte das Amt für Agrarökonomie im Landwirtschaftsministerium eine ausgezeichnete Analyse der Auswirkung der Landerwerbspolitik für die Zwecke des Militärs und der Kriegsrüstung während des 2. Weltkrieges 92 ; darin werden die Ausgaben, die betroffene Landfläche und die Auswirkung auf die Eigentümer im einzelnen aufgezeigt. Ferner enthält sie eine Darstellung der sozialen Auswirkung dieses höchst wichtigen Vorgangs. Die Bulletins des Amtes für Arbeitsstatistik enthalten viele ausgezeichnete Studien über die Auswirkungen verschiedener Sozialgesetze, so z. B. über die Betriebsunfallentschädigung für Matrosen 93 , die Höchstpreisregulierung 94 und vieles andere. Obwohl diese Bulletins in erster Linie auf eine Deskription zielten, enthalten sie häufig Darlegungen über das tatsächliche Funktionieren bestimmter Gesetze, die zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchung des Rechts werden können. Die Forschungsabteilung der Bundeszentralbanken hat ebenfalls eine Anzahl hervorragender Gutachten über die Funktionsweise einzelstaatlicher Gesetze erarbeitet. Zwei von ihnen sollten besonders beachtet werden. Das eine Gutachten, "Die staatlichen Hafenanlagen von Alabama" (Alabama State Docks)95, ist eine Studie über das Funktionieren eines Gesetzes im Staate Alabama, das staatliche Quaianlagen im Hafen von Mobile genehmigt. Dieser Bericht schildert in extenso die Auswirkungen des genannten Gesetzes und das Anwachsen des Handelsverkehrs in jenem Hafen auf Grund seines Einflusses. In ähnlicher Form liefert eine weitere Studie über den Mississippi BAWI-Plan 96 ausführliche Informationen über die Art und Weise, in der ein Gesetz des Staates Mississippi, das die Ansiedlung von Industrie zu fördern versucht, tatsächlich 90 County Government and Administration in the Tennessee Valley States, Juli 1940, S. 27, 45, 67, 69, 77, 83, 90, 91, 93,105,127 ff. 91 County Government and Administration in the Tennessee Valley States, Juli 1940, S. 25, 50, 67, 78, 83, 94, 105 - 107. 92 Acquisition and Use of Land for Military and War Production Purposes, War Records Monograph Nr. 5, United States Department of Agriculture, Bureau of Agricultural Economics, August 1947. 93 Workmen's Compensation and the Protection of Seaman, United States Department of Labor Bulletin Nr. 869, 1946. 94 The General Maximum Price Regulations, United States Department of Labor Bulletin Nr. 879, 1946. 95 Alabama State Docks, Federal Reserve Bank of Atlanta, 1945. 96 Hopkins, Mississippi's BA WI Plan, An Experiment in Industrial Subsidization, Federal Reserve Bank of Atlanta, Januar 1944.

13 Beutel

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

seinen Zweck erreicht. Es darf darauf hingewiesen werden, daß Studien dieser Art ganz erheblich verbessert würden, wenn die Gutachter nicht nur beschrieben hätten, was sich in den Gebieten ereignete, in denen das Gesetz angewendet wurde, sondern einen Schritt weitergegangen wären und einen Vergleich mit ähnlichen Gebieten angestellt hätten, wo das Gesetz nicht in Aktion trat. Wäre man so verfahren, dann würde sich der Erfolg oder Mißerfolg des Gesetzes als solcher im Hinblick auf die Erreichung seines Zweckes sehr viel deutlicher abgehoben haben, und man hätte den Einfluß anderer Faktoren wie z. B. der allgemeinen kriegsbedingten Prosperität weitgehend eliminieren können. Wenn die Sozialwissenschaftler, die mit staatlicher oder privater Forschung beschäftigt sind, einmal dazu bereit sind, dem Wirkungsfaktor des Rechts als solchen mehr Aufmerksamkeit und der Beschreibung unzusammenhängender allgemeiner Sozialphänomene weniger Aufmerksamkeit zu widmen, dann werden sich Berichte dieser Art erheblich verbessern. Der Erfolg der aufgezählten Untersuchungen demonstriert den Grundsatz, daß die Erforschung der Effektivität des Gesetzes von der Leitung der Beamten, die für seine Durchführung verantwortlich sind, getrennt werden muß. Eine derartige Forschung ist innerhalb der Regierung möglich in einer ständigen Organisation, die für diesen Zweck geschaffen würde und einen Zweig des Bundesrechnungshofes bilden könnte, oder sie könnte gänzlich außerhalb der Regierung durch Stiftungen wie das Brookings-Institut durchgeführt werden, dessen Arbeit auf dem Gebiete der Kreisorganisation und -verwaltung (um nur ein Beispiel zu nennen) hervorragend gewesen ist.

Wissenschaftliche Ausrichtung der Politik Eine wissenschaftliche Ausrichtung der Politik könnte ferner möglich sein durch die Weiterentwicklung eines Experimentes wie des Wirtschaftsrats, der Bestandteil des Exekutivbüros des Präsidenten ist97 • Da sich dieses Experiment gerade erst im Anfangsstadium befindet, ist es schwierig, seinen Erfolg zu veranschlagen. Leider müssen sich die Ratgeber im gegenwärtigen Zeitpunkt auf das Material von Sachverständigen anderer Regierungsbehörden verlassen, deren Unabhängigkeit mehr oder weniger zweifelhaft ist. Sollte diese Organisation jedoch in der Lage sein, einen eigenen Forschungsstab zu bilden und ihre Unabhängigkeit gegenüber der Parteipolitik zu wahren, so könnte sie sich als wertvoller Schritt in Richtung auf eine Regierungstätigkeit erweisen, die mehr auf wissenschaftlichen Erfordernissen basiert als auf dem Volksgeschrei. In jedem Falle verdient sie die fortgesetzte Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaftler. 97

United States Code Annotated Bd. 15, §§ 1023, 1024 (Supplement 1949).

5. Die beiden Hoover-Kommissionen

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5. Die heiden Hoover-Kommissionen Die Kommissionen zur Organisation der Exekutive (Commissions on the Organisation of the Executive Branch of the Government), die gewöhnlich als Hoover-Kommissionen bezeichnet werden, verdienen mehr als eine Erwähnung en passant, denn sie illustrieren mit ihren bei den Phasen viel des Guten und Schlechten der sogenannten Regierungsforschung zum Zwecke politischer Entscheidung. Die erste Hoover-Kommission wurde 1947 mit dem Auftrag des Kongresses geschaffen, um die Exekutive zu untersuchen und Änderungsempfehlungen auszusprechen 98 • In die Kommission wurden zwölf Mitglieder berufen, und zwar je vier vom Präsidenten, vom Präsidenten des Senats und vom Sprecher des Repräsentantenhauses 99 • Das Gesetz über die Errichtung der Kommission verlangte, daß sie keinesfalls parteilich sein dürfte und aus einer gleich großen Anzahl von Republikanern und Demokraten gebildet werden solle10o • Ihre Befugnis war darauf beschränkt, Empfehlungen im Hinblick auf Änderungen in der Verwaltung auszusprechen, und sie war nicht mit sogenannter Festlegung der Politik beauftragtl° 1 . Mit angemessenen Geldmittel versehen 102 und unter dem Vorsitz des früheren Präsidenten Herbert Hoover und dem stellvertretenden Vorsitz von DeanAcheson 103 wurde ihre Arbeit auf 24 aus Sachverständigen bestehenden Arbeitsgruppen verteilt, die der Kommission Bericht erstatteten, welche ihrerseits dem Kongreß ihre eigenen Empfehlungen unterbreitete 104 • Nach zwei Jahren berichtete die Kommission über zahlreiche wünschenswerte Änderungen in der Organisation der Bundesexekutive 105 • Da diese Änderungen auf einer sorgfältigen Prüfung und auf sachverständig ermittelten und abge61 Stat. 246 (1947). Ebd. § 3. 100 Ebd., § 3 (b). 101 Ebd. §§ 1 und 10. 102 Ebd., § 8. 103 Concluding Report, Commission on the Organization of Executive Branch of Government, Mai 1949. 104 Ready: The Operation of the Mixed Commission, in: American Political Science Review, Bd. 43 (1949), S. 940, 944. Die Arbeitsgruppen waren (in der Reihenfolge ihrer Einrichtung): 1. Präsidentenamt und Ministerialverwaltung; 2. Postministerium; 3. Bundesversorgungswesen; 4. Transportwesen; 5. Angelegenheiten der Kriegsteilnehmer; 6. Öffentliche Wohlfahrt; 7. Steuer-, Finanzund Rechnungswesen; 8. Beziehungen zwischen Bund und staaten; 9. Öffentliche Versorgungsbetriebe; 10. Bundesaußenstellen; 11. Umlauffonds und Handeisunternehmen; 12. Kreditinstitute; 13. Bundespersonalverwaltung; 14. Auswärtige Angelegenheiten; 15. Naturschätze; 16. Staatliche Aufsichtsbehörden; 17. Landwirtschaftswesen; 18. Öffentlichkeitsarbeit; 19. Gesundheitsdienste; 20. Indianerangelegenheiten; 21. Statistikbehörden der Regierung; 22. Aktenamt; 23. Nationale Sicherheitsorganisation; 24. Territorien und Protektorate. 105 Es existieren 37 dieser Berichte; sie bestehen aus den Kommissionsberichten an den Kongreß und aus den Arbeitsgruppenberichten an die Kommission. Neben diesen gedruckten Berichten gibt es noch sehr viel mehr maschinenschriftliche. 98 9U

13"

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

wogenen Tatsachen beruhten, wurden sie von politischen Wissenschaftlern und vom Kongreß gleichermaßen mit Lobeshymnen empfangen l06 • Eine Autorität auf diesem Gebiete nannte diesen Bericht "das gewaltigste Ergebnis der Regierungsforschung in der amerikanischen Geschichte" 107. Innerhalb der darauffolgenden vier Jahre wurden 75 Ofo der Vorschläge als Gesetze verabschiedet, die viel dazu beigetragen haben, die staatliche Verwaltung zu verbessern und die Wirtschaftlichkeit zu fördern; viele weitere vorgeschlagene Änderungen sind durch Verwaltungsmaßnahmen rezipiert worden. Die Erfahrungen mit der zweiten Kommission gleichen Namens, die durch ein fast gleichlautendes Gesetz errichtet wurde 108 , sind genau gegenteiliger Natur. Ebenso wie ihre Vorgängerin hatte sie Herbert Hoover zum Vorsitzenden, und fünf ihrer Mitglieder, drei Republikaner und zwei Demokraten, waren Mitglieder der vorangegangenen Kommission 109 ; aber hier hört die Ähnlichkeit auf. Die zweite Kommission war nicht unparteilich. Obwohl sie in derselben Art und Weise eingerichtet wurde wie ihre Vorgängerin, nur unter einer republikanischen Regierung llO , ergab es sich, daß sie einen republikanischen Vorsitzenden hatte, und sieben ihrer zwölf Mitglieder waren Republikaner111 • Sie wählte keinen stellvertretenden Vorsitzenden, obschon sie vom Gesetz dazu beauftragt worden war 1l2 , und wie in jedem anderen politischen Gremium gab es in ihr eine überwiegende Mehrheit der herrschenden politischen Partei. Sie war außerdem vollgestopft mit Konservativen und mit Freunden des big business. Ein weiterer auffallender Unterschied zwischen ihr und ihrer Vorgängerin bestand darin, daß ihr der Kongreß etwas umfangreichere Befugnisse zur Empfehlung von Verfassungs- und Gesetzesänderungen gegeben hatte 113 • Mit diesen Befugnissen als Vorwand und unter Berufung auf einige entsprechende Ausschußberichte übernahm die Kommission "Funktionen der Politikbestimmung"1I4. 108 Siehe z. B. Aikin, Koenig, Heady, Gaus, Millett, Cheever, Haviland, Pritchett und Sims: The Hoover Commission, A Symposium, in: American Political Science Review, Bd. 43 (1949), S. 933 - 1000. Finer: The Hoover Commission Reports, in: Political Science Quarterly, Bd. 64 (1949), S. 405, 579; Flemming:

The Challenge of Government Inefficiency, in: Annals, Bd. 266 (November 1949), S. 25; siehe auch den Brief des Präsidenten Truman an den Expräsidenten Hoover vom 12. November 1948, in: American Political Science Review, Bd. 43

(1949), S. 939. 107 Aikin und Koenig: The Hoover Commission, in: American Political Science Review, Bd. 43 (1949), S. 933. lOB 67 Stat. 142 (1953). 109 Final Report to the Congress, Commission on the Organization of the Executive Branch of Government (1955), S. V. 110 67 Stat. 142 § 3 (1953). 111 Siehe die Liste in dem oben (Anm. 109) zitierten Bericht. 112 67 Stat. 142 § 4 (1953). 113 Vgl. 67 Stat. 142 § 9 (b) (1953) mit 91 Stat. 246 § 9 (b) (1947). 114 Siehe den Schlußbericht (oben Anm. 109), S. 5 ff., und die dort zitierten Berichte an den Kongreß.

5. Die heiden Hoover-Kommissionen

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Ausgerüstet mit einer solchen Befugnis, Politik zu treiben, ergriff Mr. Hoover unverzüglich die Initiative. Indem er sich wohl auf das Prestige verließ, das aus dem Erfolg der vorausgegangenen Kommission resultierte, überwachte er die Einsetzung der Arbeitsgruppen, und die Kommission ging an die Arbeit. Sie besaß das Recht der Zeugenladung und die Befugnis zu öffentlichen Anhörungsverfahren, die sie aber nur in einem Falle ausnutzte 115 , und sie konnte bewilligte Gelder in Höhe von über 2,5 Millionen Dollar ausgeben 116 ; mit diesem Rüstzeug begann sie aufs neue, die Exekutive und die ihr verwandten Behörden angestrengt zu durchforschen. Die Arbeit wurde ähnlich wie die Arbeit der vorherigen Kommission auf 19 Arbeitsgruppen verteilt 117 , die - wie es bei der ersten Kommission geschah - zahlreiche Änderungsempfehlungen unterbreiteten. Die Kommission wiederum sprach ihre eigenen Empfehlungen aus, die sich oft von denen ihrer Arbeitsgruppen unterschieden und viele grundlegende Abweichungen in der Regierungspolitik hinsichtlich der untersuchten Gegenstände enthielten. Sie stießen sogleich auf Proteststürme der Parteien, die Mr. Hoover vorwarfen, er benutze das Prestige der Kommission, um seine eigenen Vorurteile zum Ausdruck zu bringen und nicht etwa Folgerungen, die auf abgesicherten und durch unparteiische Forschung aufgedeckten Tatsachen beruhten118 • An dieser Stelle ist es unmöglich, den Unterschied zwischen den beiden Berichten, die ein ganzes Bücherbord von gedruckten Bänden einnehmen, ausführlich zu analysieren, er wird aber eindrucksvoll durch die Ausführungen über die Wasserreserven und die Energieversorgung illustriert. Die erste Kommission unterbreitete keine Empfehlungen zur Änderung der Regierungspolitik auf diesem Gebiete, sondern beschränkte 115 Siehe das abweichende Votum des Kommissionsmitgliedes Holifield, II Water Resources and Power, Commission on the Organization of the Executive Branch of the Government, Report to Congress (1955), S. 10,27. m Sie gab insgesamt 2 848 534 $ aus; siehe den Schlußbericht (oben Anm. 109), S.4. 117 Ebd. S. 7. Die Untersuchungsgegenstände waren: 1. Finanz- und Rechnungswesen; 2. Wirtschaftliche Unternehmertätigkeit des Bundes in Konkurrenz mit privaten Unternehmen; 3. Ausschuß für Geschäftsorganisation des Verteidigungsministeriums; 4. Vorratsverwertung; 5. Nachrichtendienste; 6. Rechtshilfen und Rechtsverfahren; 7. Darlehns-, Bürgschafts- und Versicherungswesen; 8. Gesundheitsdienst; 9. Militärbeschaffungswesen; 10. Wirtschaftsunternehmungen in übersee; 11. Büroverwaltung; 12. Personalwesen und Berufsbeamtenturn; 13. Personalprobleme im Verteidigungsministerium; 14. Grundstücksverwaltung; 15. Forschung und Entwicklung; 6. Einrichtungen der Daseinsvorsorge; 17. Transportwesen; 18. Nutzung und Verwendung überschüssiger Bundesvorräte; 19. Wasserversorgung und Energiewesen. 118 Siehe z. B. den energischen Widerspruch des Kommissionsmitgliedes Holifield, oben Anm. 115; siehe ferner die Zusammenfassung: The Second Hoover Commission, Back to'32, in: Democratic Digest, Sept. 1955, S. 25; und siehe dazu Mr. Hoover's ziemlich lahme Antwort, in: Democratic Digest, November 1955, S.25.

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7. Kap.: Experimentelle Rechtswissenschaft in der Bundesregierung

sich lediglich auf Empfehlungen in bezug auf die Wirtschaftlichkeit l19 . Die zweite Kommission empfahl eine vollständige Veränderung, die z. B. dahin ging, die Wasserreserven den Staaten zu überantworten und die Energieversorgungsbetriebe des Bundes zu zwingen, bezüglich der Tarife nicht mit den Privatbetrieben zu konkurrieren l2o . Der Schlußbericht der zweiten Kommission enthält Zahlenzusammenstellungen, die zu beweisen vorgeben, daß die Unternehmen des Bundes Millionen von Dollar verschlingen und eine Last für den Steuerzahler darstellen l21 . Dieser Teil des Berichtes sieht aus wie ein Pressure Group-Erzeugnis für den Kongreßl22. Hierüber braucht an dieser Stelle nichts gesagt zu werden; es genügt der Hinweis, daß der Bericht weder eine objektive Untersuchung der Fakten noch ein gerechter Vergleich zwischen den Vorteilen der privaten im Gegensatz zur öffentlichen Energieversorgung ist. Der Abgeordnete Holifield, ein Kommissionsmitglied, verurteilte in seiner abweichenden Stellungnahme den Bericht als das, was er in Wirklichkeit ist, nämlich nichts weiter als eine übereilte Rationalisierung gewisser Ansichten, die von den Politikern der sogenannten freien UnternehmerGruppe vertreten werden 123 . Ohne die negativen oder positiven Seiten der Berichte weiter zu erörtern, ist es beizeichnend, daß diese beiden Kommissionen, die unter beinahe identischen Gesetzen mit demselben Vorsitzenden und mit fünf von zwölf derselben Kommissionsmitglieder errichtet worden waren, Ergebnisse zeitigten, die im ersten Fall fast übereinstimmend als hervorragend begrüßt und im zweiten Falle von den eigenen Mitgliedern und von einem großen Teil der Öffentlichkeit gleichermaßen gebrandmarkt wurden. Diese beiden Berichte und die ihnen zugrundeliegenden Verfahren illustrieren den Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Betrachtungsweise und einem politisch motivierten Versuch, Regierungsprobleme zu lösen. Die erste Kommission war kraft Gesetzes unparteilich, ihre Mitgliedschaft wurde sorgfältig verteilt, um alle Parteien zu reprä119 Siehe Federal Business Enterprises, Commission on the Organization of Government, März 1949, Teil Vier. 120 Siehe Water Resources and Power, Commission on the Organization of Government (Juni 1955), Teil I, S. 36 ff., und den dreibändigen Arbeitsbericht, der zur selben Zeit mit den Anmerkungen des Abgeordneten Holifield unterbreitet wurde (unten Anm. 123). 121 Ebd., S. 101 - 107. 122 Siehe ebd. II, Dissent of Commissioner Holifield, S. 64 ff. 123 Siehe ebd. Bd. II, S. 10 ff. Selbst das Kommissionsmitglied Farley, ein wohlbekannter konservativer Demokrat, konnte den extremen Hang der Mehrheit zur privaten Macht nicht verdauen. Siehe ebd. Bd. H, S. 7 ff. In gleicher Weise folgen der Bericht über die Bundesgesundheitsdienste und der Arbeitsbericht der Linie der amerikanischen Ärztevereinigung, die den Staat aus allen Gesundheitsdiensten herausdrängen will. Auch hier fehlten unterstützende Fakten in bezug auf vergleichbare Dienste des staatlichen und privaten Gesundheitswesens. Siehe hierzu wiederum die Gegenmeinung des Kommissionsmitgliedes Holifield, ebd. S. 73 ff.

6. Folgerung

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sen tieren. Sie beschränkte sich auf Empfehlungen, die auf gewissenhaft gesammelten Tatsachen beruhten, und sie versuchte nicht, persönliche Vorurteile unter dem Mantel der Politik mit Gesetzeskraft auszustatten. Die zweite Kommission war vollgestopft mit einer Mehrheit der herrschenden politischen Partei und mit einer gewaltigen Mehrheit Konservativer, die denselben Standpunkt vertraten. Sie beschränkte ihre Empfehlungen nicht auf das Beweismaterial, sondern wählte freiweg ihre "Tatsachen", um politischen Folgerungen zu entsprechen, und sie empfahl ihre Vorurteile dreist als Politik. Ganz gleich, wie "gut" ihre Werte oder wie aufrichtig ihre Überzeugungen waren, die Empfehlungen, die Mr. Hoover und seine Mitarbeiter in der zweiten Kommission auf ihre politischen Entscheidungen stützten, werden dem Vorhaben der wissenschaftlichen Regierungsuntersuchungen wahrscheinlich einen weitreichenden Rückschlag versetzen. Der erste Bericht war ein Triumph für die Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft, der zweite dagegen ein Trauerspiel, in dem persönliche "Werte" an die Stelle wissenschaftlich festgestellter Fakten gesetzt wurden.

6. Folgerung

Im ganzen gesehen legt diese kurze Zusammenfassung wohl nahe, daß man - obgleich die Regierung der Vereinigten Staaten phantastische Summen für die Forschung augibt - nur selten Fälle findet, in denen die Rechtsetzung nach den Theorien der Experimentellen Rechtswissenschaft verfährt; indessen deuten die Ausnahmen und die Auswirkung solcher Forschung darauf hin, daß die wissenschaftliche Rechtsetzung der Bundesregierung im Zunehmen begriffen ist.

Kapitel VIII

Die Entwicklung von wissenschaftlichen juristischen Methoden und Forschungseinrichtungen Die Mittel zur überwindung des Abstandes zwischen Wissenschaft und Recht und zur überwindung der Rückständigkeit unserer Rechtsordnung (beides wurde in den Kapiteln V und VII erörtert) scheinen in zwei Tätigkeitsbereichen zu liegen. Zum einen besteht die dringende Notwendigkeit einer ausgedehnteren und intensiveren kooperativen Forschung, in der sich die Juristen und Naturwissenschaftler zusammentun, um wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung der Rechtsordnung zu sammeln und anzuwenden. Zum anderen besteht ein dringendes Bedürfnis nach verstärkter Ausbildung, um die Ergebnisse gegenwärtiger und abgeschlossener Untersuchungen zu verbreiten und neu entwickeltes Material an Stellen weiterzuleiten, wo es am günstigsten eine Strukturverbesserung unserer Rechtsordnung bewirken könnte. Diese beiden Schritte müssen gegangen werden, bevor man auf eine umfassende Regierungsmaschinerie zur Umsetzung wissenschaftlicher Techniken in rechtliche Maßnahmen hoffen kann. Obwohl beides gleichzeitig unternommen werden muß, werden in diesem Kapitel zunächst nur einige Probleme der Forschungsentwicklung diskutiert. Die notwendigen Veränderungen, die man vornehmen muß, um die Forschungsergebnisse im Ausbildungswesen verwenden zu können, werden für später zurückgestellt. Wie früher dargelegt, bestehen gegenwärtig experimentelle Verfahrensweisen und effektive Forschungsbehörden u. a. auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, der Verkehrsüberwachung, der Verbrechensaufdeckung, des polizeilichen Vorgehens und der aufklärenden Verwaltungstätigkeit; dagegen wird letzten Endes wenig dafür getan, um auf die Rechtsordnung einzuwirken. Um die Kriegsführung zu verwissenschaftlichen, und zwar sowohl in physischer als auch in psychologischer Hinsicht, erhielt die Forschung seit dem letzten Kriege einen ungeheuren Antrieb in Bereichen wie Atomenergie, Truppeneinsatzforschung l sowie innere Führung und geistige Haltung des Militärperso1 Salow: Operations Research, in: Fortune, Bd. 43 (April 1950), S. 105; Morse und KimbaH: Methods of Operations Research, 1950.

1. Der Schlüssel liegt in den einfachen Problemen

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nals 2 • Obwohl der Fortschritt dieser Experimente sich auf die Ausbildung nur wenig auswirkte, beweist der Erfolg der experimentellen Methoden bei der Änderung der Rechtsanwendung auf denjenigen Gebieten, wo sie versucht worden sind, daß die Zeit reif ist, mutig in andere Bereiche einzudringen, die auf die gewöhnlichen Rechts- und Regierungsvorgänge noch unmittelbar einwirken.

1. Der Schlüssel liegt in den einfachen Problemen

Wenn wir überhaupt irgendetwas aus dem Fortschritt der naturwissenschaftlichen Methoden lernen wollen, so scheint es klar zu sein, daß die Forschung zur Errichtung einer experimentellen Wissenschaft des Rechts mit der Isolierung einfacher Probleme anfangen muß, die im Bereich der Rechtsdurchsetzung und -anwendung auftauchen. Die wissenschaftliche Methode verlangt Beachtung der letzten elementaren Einzelheit. Z. B. begann Galilei mit der Bewegung des Pendels und mit dem Fallenlassen von Schrotkugeln, um die Bewegungs- und Beschleunigungsgesetze zu bestimmen, und Newton schritt vom Apfel vorwärts zu den Himmelskörpern. In ähnlicher Weise begannen Verkehrsingenieure mit der Beobachtung der Bewegungen an bestimmten Straßenecken, der Wirkung bestimmter Haltesignale und der Reaktion von Fahrern und Fußgängern auf einzelnen Straßen. Aus diesen Details ergab sich ein beständiger Fortschritt bis zur Autobahn quer durch einen Staat und bis zur Raumplanung. Die polizeiliche Ermittlungswissenschaft entwickelte sich von der Beachtung einzelner Schmutzflecken bis zum gegenwärtigen großen Fingerabdruck-System des FBI oder von den Kratzern auf Kugeln bis zu unserer heutigen Kenntnis der Ballistik. Auf ähnliche Weise wird sich eine Wissenschaft des Rechts wahrscheinlich als am ergiebigsten erweisen, wenn man mit der Erforschung einfacher Probleme beginnt, etwa mit dem Autodiebstahl, wie er in Hall's "Theft, Law and Society" behandelt wird 3 • Weitere fruchtbare Untersuchungen könnte man anstellen über die Glaubwürdigkeit und Brauchbarkeit von Zeugen und Jurys in bestimmten Fällen (wie etwa der Verfolgung von Alkoholtaten u. dergl.), über die Brauchbarkeit der Beweisregeln zur Lösung von Vaterschaftsfragen, über die Effektivität jener Gesetze, die den Zigarettenhandel konzessionieren, um den Verkauf an Minderjährige zu unterbinden, und über die Wirksamkeit einer einzigen rechtlichen Einrichtung wie etwa des Jugendgerichts 4 • Die Art und Weise, in der derartige Probleme gegenStouffer, Lamsdaine und andere: The American Soldier, 4 Bde., 1949 - 1950. Kapitel VI, 1935. 4 Zwar bezieht sich GZueck: One Thousand Juvenile Delinquents, 1939, nicht auf die Gerichte, aber es werden die Methoden erhellt, die eine derartige Untersuchung verwenden könnte. VgI. auch Tappan: Delinquent Girls in Court, 1947. 2

3

202

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

wärtig gelöst werden, und die Effektivität der rechtlichen Mittel dürften dann, wenn sie der Untersuchung zugrunde gelegt werden, zur Entdekkung juridischer Gesetze führen, die uns bei der Schaffung neuer Methoden der Rechtspraxis helfen werden.

2. Die Anwendung naturwissenschaftlicher Entdeckungen auf Rechtsprobleme

All dies zeigt, daß man, sobald die Ausbildung auf dem Gebiete der sozialen Regelung damit anfängt, experimentelle Methoden zu lehren, weitere Forschungsstellen wird einrichten müssen, um Experimente zu entwerfen und zu lernen, wie sie auf die Probleme der Rechtsdurchsetzung angewendet werden können. Die verlockende Idee einer wissenschaftlichen Determinierung der Politik im umfassenderen Sinne ist im Augenblick noch viel zu weit entfernt, als daß man sie auch nur in Betracht ziehen könnte. Wie in Kapitel V vorgeschlagen, wird eines der ersten Probleme, mit dem man sich bei einem solchen Vorhaben auseinander setzen muß, die Aufdeckung der Verfahren sein, mit deren Hilfe die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der praktischen Lösung der zu untersuchenden Probleme von Nutzen sein können. Es ist nun einmal so, daß die augenblickliche wissenschaftliche Information, die aus Untersuchungen und Forschungen der heutigen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Natur- und Gesellschaftswissenschaften zur Verfügung stehen, gegenwärtig nicht an der Lösung rechtlicher Probleme orientiert ist. Es müssen die einschlägigen Daten herausgefunden werden, und wenn sie entdeckt worden sind, so wird man neue Techniken zu ersinnen, zu übernehmen und darauf auszurichten haben, diese Daten für die Lösung rechtlicher Probleme nutzen zu können. Dies wird viel Originalität und Phantasie auf Seiten der Forscher verlangen. Mit einem Blick kann man sagen, daß die Wissenschaftsbereiche, die auf ein bestimmtes Problem angewendet werden können, so groß sind, durch wissenschaftliche Verfahren so kompliziert werden und in allen Gebieten, in denen sie verfügbar sein mögen, so verstreut sind, daß der einzelne Wissenschaftler irgendeines der Gebiete allein nicht darauf hoffen kann, sie mit Erfolg aufzudecken. Z. B. zeigt ein Bundeshaushalt5 aus neuerer Zeit, daß die Bundeskriminalbehörde in ihrem Kriminal- und Wissenschaftslaboratorium über 50 erstklassige technische Spezialisten und gleichviele AssistenzTechniker braucht; darunter befinden sich Berufe wie der eines Physi5 The Budget of the United States, 1951 - 1952, S. 705; ebd. Anhang, S. 281. Personnel and Services of the FBI Laboratory, FBI Law Enforcement Bulletin, Oktober 1947.

2. Anwendung naturwissenschaft!. Entdeckungen auf Rechtsprobleme 203 kers, eines Chemikers, eines Metallurgen, eines Petrographen, eines Spektrologen, eines Dermatologen, eines Agronomen und viele andere, die sich alle zusammen um die Identifizierung von Verbrechern bemühen. Eine ähnliche Team-Arbeit wird auch auf anderen Bereichen notwendig sein. Leute mit der gegenwärtigen juristischen Ausbildung mögen in der Lage sein, die Fragen zusammentragen zu helfen, die beantwortet werden müssen 6 , aber sie sind auf die Zusammenarbeit vieler anderer Spezialisten angewiesen, um die Richtung zu bestimmen, die die Forschung nehmen sollte, damit ein Problem gelöst wird und ferner die momentan verfügbaren, einschlägigen Materialien herbeigeschafft werden, die man für die Lösung verwenden kann. a) Kooperative Forschung

Die Zusammenarbeit mit Natur- und Gesellschaftswissenschaftlern zu erreichen, wird keine leichte Aufgabe sein, denn die Anforderungen einer wissenschaftlichen Suche nach juridischen Gesetzen werden sich quer durch die gegenwärtige Klassifizierung der Wissenschaften selbst ziehen, die Bürokratie der Erziehungs- und Forschungseinrichtungen so, wie sie gegenwärtig organisiert sind, durcheinanderbringen und eine Neuorientierung des Denkens der einzelnen Wissenschaftler verlangen. Viele unserer heutigen Sozial- und Naturwissenschaftler werden sich aus diesen Gründen eher als Hindernis denn als Hilfe für die Entwicklung der Methoden der Experimentellen Rechtswissenschaft erweisen. Die anfänglichen Widerstände der Autoritäten auf dem Gebiete der Medizin und der praktischen Ärzte gegen neue und wissenschaftliche Methoden in diesem Bereich veranschaulichen die Haltung, die von Seiten der Juristen und Sozialwissenschaftler gegenüber jedermann erwartet werden können, der unvorsichtig genug ist, die Organisation von Institutionen der Experimentellen Rechtswissenschaft zu unternehmen. Die Aufgabe ist indessen nicht hoffnungslos. Der umwerfende Erfolg wissenschaftlicher Methoden auf den Bereichen der medizinischen Praxis und Lehre gibt einen Hinweis auf die Möglichkeiten eines Erfolges ähnlicher Methoden auf dem allerdings komplizierteren Bereich des juristischen Experimentierens. Die mannigfaltige Natur der wissenschaftlichen Daten und die umfangreichen Gebiete mit komplizierten Rechtsverfahren, auf die sie angewendet werden sollen, werden unterschiedliche Kombinationen von Fähigkeiten verlangen, die von der Art der untersuchten Probleme abhängen. Die Lösung jener Probleme, die die Tatsachen der Abstammung 6 Siehe Lovinger: Jurimetrics, in: Minnesota Law Review, Bd. 33 (1949), S. 455, 484, in bezug auf einige interessante Vorschläge; und hinsichtlich der Methoden, wie man Antworten finden kann, siehe Morse und Kimball: Operations Research, 1951.

204

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaft!. juristischen Methoden

betreffen, können eine überwiegende Verwendung medizinischer Daten erforderlich machen, die in das rechtliche Verfahren eingearbeitet werden müssen. Die Reform der Jurymethoden wird sich sehr stark an die experimentelle Psychologie anlehnen müssen. Die Untersuchungen von den Gluecks, von Tappan und anderen fordern die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Fürsorgern, Anthropologen, Kriminologen, Statistikern und Juristen. Am Anfang wird also jede Forschungsorganisation flexibel sein müssen, und sie wird eine Zusammenarbeit verschiedener Expertenkombinationen verlangen, deren Zusammensetzung sich nach der Natur der Daten richtet, die für die untersuchten Probleme erheblich sind. b) Die Schwierigkeit, Juristen zu überzeugen

Die Entwicklung experimenteller Methoden und eine experimentelle Ausbildung in der Verwendung wissenschaftlicher Methoden und Materialien (wie in Kapitel V dargelegt) wird des weiteren durch die Notwendigkeit beeinträchtigt, dem juristischen Experten das zu beweisen, was dem Naturwissenschaftler augenscheinlich ist. Dies wird veranschaulicht durch solche Sachverhalte wie den Chaplin-FaIF, in welchem die Richter die Zurückweisung eines wissenschaftlichen Vaterschaftsbeweises durch die Jury billigten, und zwar trotz der Tatsache, daß es keinen experimentellen Beweis für die Richtigkeit von Geschworenenabstimmungen gibt, wohingegen die gegenwärtige wissenschaftliche Methode der Vaterschaftsbestimmung noch nie als falsch bewiesen worden ist8 • Die Richter verließen sich einzig und allein auf die gesellschaftliche Trägheit und auf zuvor entschiedene Fälle. Ähnlich steht es mit folgendem Sachverhalt: Obgleich wissenschaftlich erwiesen ist, daß Lügendetektoren in über 75 Ofo aller kontrollierten Experimente richtige Aussagen machenD, weigern sich die Gerichte hartnäckig, ihren Gebrauch zuzulassen, um ähnliche Tatsachenermittlungen durch die Jury zu ersetzen 10 , für deren Genauigkeit kein wissenschaftlicher Beweis existiert. Diese Geisteshaltung zeigt sich auch in der Tatsache, daß die Gerichte und der juristische Berufsstand beständig die Schieds- und Verwaltungsverfahren aller Arten angreifen, weil sie nicht den Gerichten gleichen. Obwohl das Gericht keinerlei Wissenschaftlichkeit besitzt und nur durch reines Weiterbestehen und durch berufsständische Voreingenommenheit unterstützt wird, existiert die Überzeugung, daß die gerichtlichen Methoden die besten Mittel zur Streitbeilegung darstellten, selbst dort noch, wo Berry v. Chaplin (Cal. App. 1946), 169 Pac. (2d) 442. Dudley: Weight to be Given Blood Test Evidence in Paternity Proceedings, in: Washington and Lee Law Review, Bd. 4 (1947), S. 199, 201, und die zahlreichen dort zitierten Autoren. 9 Inbau: The Lie Detector, in: Boston University Law Review, Bd. 26 (1946), S. 265, 268. 10 Ebd. S. 270. 7

8

2. Anwendung naturwissenschaft!. Entdeckungen auf Rechtsprobleme 205 Verwaltungspraktiken zur Problemlösung auf Gebieten entwickelt worden sind, in denen die Gerichtsverfahren völlig versagt haben 1!, und wo viele der gegenwärtigen Verwaltungsverfahren auf wissenschaftlicher Tatsachenfeststellung beruhen12 . Eines der ersten Probleme eines experimentellen Zugangs zur RechtsWissenschaft wird in der Notwendigkeit liegen, den relativen Wert dieser neuen Methoden der Tatsachenermittlung im Vergleich zu älteren, "erprobten und bewährten" Gerichtsverfahren zu untersuchen und aufzuzeigen. Sobald man einen vergleichenden Test beider Methoden durchgeführt hat, wird die Brauchbarkeit wissenschaftlicher Organisationen zur Lösung spezifischer Probleme für jedermann offenbar werden, und nur die stursten Juristenköpfe werden sich einfach auf rückwärts gerichtete Präzedenzien verlassen. Die Daten und die Erfahrungen, die sich aus solchen experimentellen Untersuchungen über die Effektivität problemlösender Rechtstechniken ansammeln, werden allmählich die Gestalt von juridischen Gesetzen annehmen, die man sammeln und in lehrbarer Fassung in Studienbücher, in Laboratoriumsaufgaben, in Forschungstechniken und dergleichen transponieren kann, womit den Juristen und Rechtsstudenten die betreffenden Probleme und die neuen Lösungsmethoden vergegenwärtigt werden. Dann kann dieses neue wissenschaftliche Material dazu verwendet werden, juristische Methoden zu entwikkeIn, die auf gleicher Höhe mit dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Fortschritt stehen. Wenn dieser Stand der Forschung und Lehre den juristischen Fakultäten vermittelt werden kann, so wird die nächste Juristengeneration Neuerungen gegenüber nicht ganz so voreingenommen gegenüberstehen wie ihre heutigen Exponenten, und sie wird viel mehr gewillt sein, an Forschungen und Neuerungen mitzuwirken. Jedwede Hoffnung, daß die wissenschaftliche Forschung schließlich Richtung und Schwergewicht der juristischen Ausbildung ändern werde, liegt in sehr ferner Zukunft. Betrachtungen dieser Art geben schon in sich neue Probleme auf, die einer Prüfung weit hinaus über den Rahmen Als Beispiele seien genannt: a) der Arbeitskampf, siehe Frankfurter und The Labor Injunction, 1930; b) die Gebührenfestsetzung für öffentliche Versorgungsbetriebe: Beutel: Due Process in the Valuation of Utilities, in: Minnesota Law Review, Bd. 13 (1929), S. 409, 434, und ferner das abweichende Votum von Richter Black in McCarl v. Indianapolis Water Company, 302 U.S. 419, 423 (1938); und c) die Fellow Servant Rule (Anm. des übersetzers: Nach der Fellow Servant Rule konnte sich ein Unternehmer gegenüber seinem Angestellten, der sich während der Arbeit verletzt hatte, darauf berufen, daß die Verletzung durch einen Arbeitskollegen hervorgerufen worden sei). 12 Die Handhabung des Lebens- und Arzneimittelgesetzes bildet hier ein gutes Beispiel. Obwohl fast alle seine "Fakten" hochwissenschaftlicher und chemischer Natur sind, findet es im Verwaltungsverfahrensgesetz (60 Statute 237, 1946) keine besondere Behandlung. Mit diesem Gesetz hat die American Bar Association den Kongreß mit Erfolg dahin gebracht, die Verwaltungsbehörden gerichtlichen Normen und Maßstäben zu unterwerfen. 11

Green:

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

einer so vorläufigen Diskussion wie dieser hier bedürfen; es kann jedoch an dieser Stelle vermerkt werden, daß sich fundamentale Veränderungen der Unterrichtsmethoden voraussagen lassen.

3. Problemgruppen, auf die gegenwärtig verfügbare Daten angewendet werden können Sind die einzelnen Probleme einmal zur Untersuchung isoliert und hat man sie zu erforschen versucht, so werden sie sich wahrscheinlich auf verschiedene Kategorien verteilen und eine gleichzeitige Klassifizierung und Lösung der Probleme durch Forschungsinstitutionen ermöglichen, die aus Experten auf dem Gebiet gerade derjenigen Kategorie bestehen, der die Probleme ohne Schwierigkeit hinzugerechnet werden können. Wie die Klassifikationen genau aussehen sollten und welche Natur der Forschungsgegenstand haben müßte, dem die in solchen Institutionen arbeitenden Teams aus Naturwissenschaftlern und Juristen ihre Aufmerksamkeit widmen sollten - das wird seinerseits eine Angelegenheit sein, die durch Experimente bestimmt werden muß. Man könnte jedoch im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Anzahl vorläufiger Eingruppierungen versuchen. Die folgenden Kombinationen könnten sich als nützlich erweisen: Beweisprobleme wären ein solches zentrales Thema, um das herum man Sachverständigenteams ansetzen könnte. Sie umfassen die Forschung zur Verbesserung, Erweiterung und vollständigen Revision unserer derzeitigen Faktenermittlungsmaschinerie sowohl bei Gerichten als auch in den Verwaltungsbehörden. Die Strafrechtspfiege, einschließlich der Strafgerichte, der Strafvollzugseinrichtungen, der Bewährungssysteme13 und der Verbrechensverhütung bietet sicherlich ebenfalls eine Kategorie, in deren Rahmen zusammenarbeitende Teams aus Wissenschaftlern lohnende Resultate hervorbringen könnten. Hier könnten Psychologen, Psychiater und Ärzte in Zusammenarbeit mit Gefängnisleitern, Kriminalbeamten, Gerichten und Bewährungshelfern die Wissenschaft der Kriminologie beträchtlich voranbringen. Die Arbeit der Gluecks und vieler anderer auf diesem Gebiet und die in ihren Schriften enthaltenen Vorschläge demonstrieren die Möglichkeit, derartige Forschungseinheiten zu organisieren.

Die Methoden der Gesetzgebung bieten ein weiteres fruchtbares Feld; dazu gehören eine Untersuchung der gegenwärtigen antiquierten Maschinerie, mit der die Gesetzgebungskörperschaften Gesetze ausmahlen, 13 Siehe Ohlin: Selection for Parole, 1951, und die dort auf S. 131 ff. angeführten Autoren; Wechsler: The Challenge of a Model Penal Code, in: Harvard Law Review, Bd. 65 (1952), S. 1097.

3. Problemgruppen

207

und eine Prüfung der Berichte, der Forschungsarbeit, des Anhörungsverfahrens und der Wirkung der Pressure Groups und anderer Organisationen auf das Endprodukt der Gesetzgebung, nämlich deren Gesetze. Arbeitsgruppen auf diesem Gebiet könnten ihre Aufmerksamkeit der Effektivität der Gesetze widmen, die die verschiedenartigen Gesetzgebungsmaschinerien schaffen; ferner könnte man prüfen, ob es zweckmäßig ist, das allgemeine Wahlrecht, die Gesetzesinitiative, das Referendum und den Recall 14 beizubehalten, und wie diese sich auf die Probleme der sozialen Kontrolle auswirken. Hier könnte eine gemeinsame Arbeit von Politikwissenschaftlern, Meinungsforschern und Juristen zu Erkenntnissen gelangen, die es uns ermöglichen würden, einige der Mängel zu beseitigen, die im Kongreß und in den Gesetzgebungskörperschaften der Staaten so offenbar vorhanden sind. Städteplanung (über die bereits als experimentelle Wissenschaft bestehende Verkehrsregulierung hinaus), Gebietserschließung und Bebauungsplanung bieten einen wachsenden Bereich für die kooperative Forschung durch städtische Beamte, Sozialarbeiter, Ingenieure, Architekten und gelernte Städteplaner15 • Der Planung auf Staaten- 16 und Bundesebene wird zwar viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber die wissenschaftlichen Techniken sind noch nicht hinreichend entwickelt, um einen geeigneten technischen Zugang zu den Problemen sicherzustellen. Die Neufassung der Baugesetze und -vorschriften hinsichtlich der Konstruktion, der Materialien und der Nutzung von Bauten bieten der Zusammenarbeit der Wissenschaftler ein weites Feld. Hier könnten der Architekt, der Ingenieur, der Jurist, der Mediziner und der Chemiker zusammen mit den Soziologen und den Sozialarbeitern ihre Fähigkeiten vereinen, um eine Vielzahl von Rechtsvorschriften zu untersuchen und neu zu fassen, die das menschliche Dasein eng berühren. Gewichte, Maße und Normen, die vom Gesetz vorgeschrieben werden, bieten der Forschung ein unberührtes Feld; dies wird durch die vorläufig in Kapitel IX vorgetragene Untersuchung illustriert. Die Mehrzahl dieser Gesetze wurde vor den modernen Entwicklungen erlassen und ehe die Bundesorganisationen der Produzenten anfingen, für ihre Mitglieder Normen aufzustellen. Juristen, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren 14 Der Recall ist ein Verfahren, das den Wählern die Möglichkeit gibt, (in der Regel nur) gewählte Beamte vor Ablauf ihrer Amtszeit abzuwählen ("zurückzurufen"). 15 Als Beispiel dafür, was auf diesen Gebieten getan werden kann, siehe: A Proposed Housing Ordinance Regulating Supplied Facilities, Maintenance and Occupation of Dwelling Units, vom Committee on Hygiene of Housing der American Public Health Association. Siehe ferner Bauer: Clients for Housing, in: Progressive Architecture, Mai 1952, S. 61 ff. 16 über einen Versuch in dieser Richtung siehe Schulz: Conservation Law and Administration, 1953.

208

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

wäre es möglich, mit Ausschüssen der Handelsvereinigungen und der Regierung zusammenzuwirken, um die Gesetze auf diesem Gebiete zum Nutzen der Verbraucher, der Erzeuger und der für die Rechtsdurchsetzung verantwortlichen Beamten vollständig zu revidieren.

Laboratorien zur Untersuchung der Probleme im Arbeitswesen bieten eine weitere Gelegenheit zu endlosen Studien und Experimenten. Dort müßte der Erfolg zahlreicher Einrichtungen geprüft werden, die heute zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten verwendet und ständig bis zum Zerreißen belastet werden. Juristen, Verwaltungsbeamte, Wirtschaftswissenschaftler und viele Arten von Ingenieuren müßten bei dieser Aufgabe zusammenarbeiten. Auch die Fürsorgeprobleme bilden zwanglos ein Gebiet, in dem Juristen, Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Biostatistiker und andere Wissenschaftler zusammenarbeiten könnten, um Probleme zu lösen, die bei der Rechtsberatung von Minderbemittelten und der Fürsorge für Kranke, Alte, Geistesgestörte und Unzurechnungsfähige auftauchen. Die praktische Anwendung der Rechtsvorschriften über den Ausbau gemeinnütziger Einrichtungen, über die Sterilisation und viele weitere, gesetzlich gutgeheißene Einrichtungen bieten hier ein Operations-, Studien- und Forschungsgebiet, das nicht nur für die Rechts-Wissenschaft äußerst fruchtbar sein könnte, sondern gleichermaßen für den sozialen Fortschritt und die soziale Ordnung. Die Ämter der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, die sich bereits zu separaten Einrichtungen entwickelt haben, würden dabei sicherlich gern mitwirken. Es ist unmöglich, jetzt mit einer ins einzelne gehenden Darlegung der Techniken, Organisationen und Vorrichtungen zu beginnen, die zur Schaffung solcher Einrichtungen erforderlich wären. Die Organisation dieser Institute wird ein weiteres Studium und die Zusammenarbeit von Leuten abwarten müssen, die bestimmte Probleme zu lösen versuchten; die Zeit ist heute jedoch reif dafür, die Schaffung solcher Forschungsorganisationen ins Auge zu fassen. Die Kennzeichnung der Art der Probleme, deren Lösung man von ihnen erwartet, wird ein gutes Stück Weg in die Richtung führen, die ihre Organisation, ihre Studien und ihre Aufmerksamkeit einschlagen sollten. 4. Die Entwicklung von Techniken und experimentellen Methoden Nachdem Forschungsgruppen Informationen aus anderen Gebieten gesammelt und damit begonnen haben, sie auf Rechtsprobleme anzuwenden, wird die zweite große Aufgabe in der Entwicklung von Techniken und Methoden einer experimentellen juristischen Wissenschaft als 501-

4. Die Entwicklung von Techniken und experimentellen Methoden

209

cher liegen. In Kapitel II wurde eine vorläufige allgemeine Theorie über die Richtungen skizziert, die eine solche Untersuchung einnehmen sollte und die durch eine Analogie zur wissenschaftlichen Methode auf anderen Gebieten indiziert werden. Man wird besondere Methoden und Techniken zu entwickeln haben, damit sie den zu untersuchenden Problemen angemessen sind. Der notwendige Experimentierplan muß auf die Eigenart des Untersuchungsgegenstandes abgestimmt werden. Einige Prinzipien scheinen sich bereits herauszuschälen. Als erstes scheint es Erfolg zu verheißen, wenn einfache Probleme die Basis der Ausgangsexperimente bilden. Die Außenpolitik, der Weltfriede, eine umfassende Verfassungsrevision, die Arbeitsprobleme im allgemeinen, Kapitalismus contra Sozialismus, Demokratie contra Diktatur und alle ähnlich gearteten Generalthemen und grandiosen Pläne, die den theoretischen Staatslenker so außerordentlich fesseln, müssen im gegenwärtigen Zeitpunkt ausgespart werden, denn sie umfassen einen Irrgarten aus Theorien und Spekulationen, die im gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaft ohne greifbare Begründung sind. Widmen die Forscher ihre Aufmerksamkeit ganz einfachen Rechtsnormen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, so wird sich herausstellen, daß die Antworten auf zweckdienliche Fragen und daß die zur Ermittlung dieser Antworten notwendigen experimentellen Projekte 17 die gemeinsame Anstrengung der Experten aus vielen Bereichen gebieten. An dieser Stelle soll ein einzelnes Beispiel genügen. Eines der Probleme, das die Soziologen, die Kriminalbehörden und die allgemeine Öffentlichkeit am meisten gefangen nimmt, ist die Jugendkriminalität; aber dieser Gegenstand ist viel zu allgemein, um eine wissenschaftliche Behandlung zuzulassen. Wer sich für eine Prüfung dieses Gegenstandes interessiert, stößt sogleich auf die Frage "Inwiefern kriminell? Geht es um Gehorsam gegenüber den Eltern? Um Schulvorschriften? Um das Benehmen in der Öffentlichkeit? Oder um allgemeines Rowdytum?" Selbst wenn man nur einen dieser Ausschnitte auswählt, so wird man verführt zu Spekulationen aller Art über die häusliche Umgebung, über Slumbezirke im Gegensatz zum sonnigen Dasein auf der anderen Straßenseite, über psychologische Gleichheit, über physische und geistige Gefährdungen und über die Religion und die Gesellschaftsmoral. Hieraus resultiert viel frommes Gerede, und es kommen sogar Konferenzen zustande, aber am Ende der allgemeinen Untersuchungen weiß man nicht mehr und hat nicht mehr vollbracht als am Anfang. Geht man an die Prüfung der Wesensmerkmale einzelner Delinquenten heran, die deswegen als Delinquenten bezeichnet werden, weil sie 17 Vgl. Chapin: Experimental Design in Sociological Research, 1947; Young: Scientific Social Surveys and Research, 1949.

14 Beut..l

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaft!. juristischen Methoden

wegen bestimmter Gesetzesverstöße ergriffen worden sind, so ist man vielleicht in der Lage, einige nützliche Erkenntnisse aufzudecken und möglicherweise vorauszusagen, daß junge Menschen mit bestimmten Charakteristika der Persönlichkeit, der Konstitution und der Umgebung dazu neigen, im definierten Sinne delinquent zu werden 18 • Aber das bedeutet noch lange keinen Fortschritt in Richtung auf die Verbesserung derjenigen Bedingungen, die diese bestimmte Art der Kriminalität verursachen oder zu verhindern unterlassen. Wenn man andererseits eine ausführliche Untersuchung der rechtlichen Vorkehrungen durchführt, die zur Beseitigung oder Verhütung der Kriminalität verwendet werden, wie z. B. das JugendgerichV 9 oder Gesetze, die den Verkauf von Zigaretten, Alkohol und Narkotika an Minderjährige untersagen, dann werden sich konkrete Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer bestimmten Vorrichtung zur Verhütung bestimmter Mißstände ergeben, und zwar in einer Form, die die Befürwortung einer vernünftigen Gesetzesänderung aufgrund einer experimentellen Untersuchung ermöglicht. Diese Untersuchungen scheinbar einfacher Rechtseinrichtungen erweisen sich - bei der Prüfung im Detail - als äußerst komplizierte Projekte, die mit der Inanspruchnahme von Experten und Materialien vieler Wissenschaftsbereiche verbunden sind, die aber greifbare Resultate innerhalb der Reichweite experimenteller Methoden versprechen.

5. Die Beachtung der wirksamen sozialen Fakten muß ins einzelne gehen

Ist ein Problem ausgewählt worden, so muß eine sorgfältige Zusammenstellung der grundlegenden faktischen Daten erfolgen. Bloße Spekulation oder beiläufige Beobachtung reicht nicht aus. Das einfachste Problem wird äußerst kompliziert, wenn man sich die grundlegende Information zu verschaffen versucht. Man könnte irgendeines von tausend einfachen Gesetzen zur Illustration heranziehen, doch wollen wir aus Gründen der Bequemlichkeit als Beispiel das ziemlich elementare Problem aus dem Bereich der Städteplanung, nämlich das Anpflanzen von schattenspendenden Bäumen entlang den städtischen Straßen, auswählen. Es scheint sich hier um eine im ganzen Lande verbreitete Gewohnheit der Städte zu handeln, und auf den ersten Blick würde man nicht erwarten, daß sie gesetzlich geregelt sei. 18 1V

Glueck: Unraveling Juvenile Delinquency, 1950, S. 257 ff. Tappan: Delinquent Girls in Court, 1947.

5. Die Beachtung der wirksamen sozialen Fakten

211

Jeder, der das Präriegebiet der Vereinigten Staaten bereist hat, ist erstaunt über das Fehlen natürlicher Baumbestände und über die Fülle schattenspendender Bäume, die die Straßen der Städte und Dörfer umsäumen. Das Problem der Baumaufzucht entlang den Straßen wurde als so wichtig angesehen, daß jeder Staat in diesem Gebiet ein Gesetz hat, das sich damit beschäftigt2o • Nicht einmal zwei von ihnen sind identisch, und die Überwachung dieser Aufgabe hat man mit unterschiedlichen Befugnissen auf verschiedene Behörden übertragen, die u. a. Prämien für Baumanpfianzungen auszahlen können 21 oder befugt sind zur selbständigen Anpfianzung 22 , zur Kontrolle und Überwachung 23 , zur Besteuerung 24 und Steuerermäßigung25 sowie zur Vollstreckung von Strafen für BaumfreveP6; auch verschiedene Kombinationen dieser Befugnisse kommen vor. Hier liegt ein Sektor vergleichbaren Rechts vor, der auf Grund einer Untersuchung sehr viel über die Brauchbarkeit und die Effektivität der gesetzlichen Maßnahmen aussagen müßte, die sich auf die Lösung dieser einfachen Aufgabe beziehen. Eine vollständige Untersuchung würde die Prüfung der Gesetzesdurchführung in jedem Staate und einen Vergleich der Ergebnisse verlangen, und es ist sofort ersichtlich, daß der große Umfang dieser Aufgabe das Fassungsvermögen jedes Forschungsvorhabens überschreitet, das nicht überaus reichlich ausgestattet ist. Eine vorläufige Prüfung in Form einer Leitstudie für das Gesetz eines einzigen Staates schien daher ratsam. 20 Illinois Annotated Statutes, Kap. 24, § 23-9, Kap. 34, § 24 (6th), Kap. 127, § 40-11 (Smith-Hurd, 1942); Indiana Statutes Annotated § 11915 (11) (Baldwin, 1934); lewa Code §§ 416.134, 420.57 (1946); Kansas General Statutes, §§ 12-1611 (a), (c), 13-429, 14-404, 15-428 (1935); Minnesota Statutes § 448.55 (1947); Missouri Revised Statutes §§ 6952, 7172 (1943); Nebraska Revised Statutes §§ 18-801 bis 807 (1943); North Dakota Revised Code §§ 40-2408, 40-3201 (1943); Oklahoma Statutes, Tit. 11, §§ 7.644, 660, 1004 (1936); South Dakota Code § 45.0201 (99) (1939); Texas Civil Statutes, Art. 1015 (32) (Vernon, 1942). 21 North Dakota Revised Code § 4-2102 (1943). 22 Illinois Annotated Statutes § 23-9 (Smith-Hurd, 1942); Indiana Statutes Annotated § 11917 (Baldwin, 1934); lewa Code § 420-57 (1946); Kansas General Statutes § 12-1611 a (1935); Minnesota Statutes §§ 448.56 (3), (4) (1947); Nebraska Revised Statutes § 18-801 (1943); North Dakota Revised Code § 40-3201 (1943); Oklahoma Statutes, Tit. 11, § 644 (1936). 23 Kansas General Statutes, §§ 13-429 (1935); Minnesota Statutes § 448.51 (2) (1947); Missouri Revised Statutes §§ 6952, 7172 (1943); Oklahoma Statutes, Tit. 11, § 7 (1936); South Dakota Code § 45.0201 (99) (1939); Texas Civil Statutes, Art. 1015 (Vernon, 1942). 24 lowa Code § 416-138 (1946); Kansas General Statutes §§ 12-1611c, 14-404 (1935); Minnesota Statutes §§ 448.36 (4), (5) (1947); Nebraska Revised Statutes § 18.802 (1943); North Dakota Revised Code § 40-2408 (1943). 25 Nebraska Revised Statutes § 18-805 (1943); North Dakota Revised Code §§ 4-2101 ff. (1943). 26 Indiana Statutes Annotated § 2503 (Baldwin, 1934); Nebraska Revised Statutes § 18-806 (1943).

14·

212

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

Der Bequemlichkeit halber wurde das Gesetz von Nebraska ausgewählt, das 1871 erlassen wurde und folgendermaßen lautet: ,,18-801. Bäume; Anpflanzung; Gemeindepflicht. Die Stadt- und Gemeinderäte des Staates Nebraska sollen veranlassen, daß entlang ihren Straßen Schattenbäume gepflanzt werden. 18-802. Bäume; Anpflanzung; Steuer. Zu diesem Zwecke soll eine Steuer von nicht weniger als einem Dollar und nicht mehr als fünf Dollar für jede Grundstücksparzelle, an deren Grenze Bäume wie vorerwähnt zu pflanzen sind, zusätzlich zu allen übrigen Steuern erhoben und wie andere Steuern eingezogen werden. 18-803. Bäume; Anpflanzung; AnzahL Die Bäume sollen, wenn tunlich, jährlich zu beiden Seiten je eines Viertels der Straßen jeder Stadt und jedes Dorfes im Staate Nebraska gepflanzt werden, bis alle mit nicht weiter als 20 Fuß voneinander entfernten Bäumen umsäumt sind. 18-804. Bäume; Anpflanzung; Vorschriften. Die vorgenannten Behörden sollen durch Verordnung die Entfernung vom Straßenrand, in der Bäume gepflanzt werden sollen, und deren Größe vorschreiben. 18-805. Bäume; Anpflanzung durch Grundstückseigentümer; Steuerbefreiung. Der Eigentümer einer Parzelle oder mehrerer Parzellen darf an deren Grenzen Bäume pflanzen, wo dies gemäß der in den Abschnitten 18-803 und 18-804 vorgesehenen Art angeordnet ist. Wenn er hierfür durch eidesstattliche

Versicherung gegenüber dem Steuereinnehmer Beweis erbringt, wird er von der Zahlung der in Abschnitt 18-802 vorgesehenen Steuer befreit. 18-807. Bäume; Anpflanzung; Geschäftsgrundstücke ausgenommen. Die Abschnitte 18-801 bis 18-806 sollen ohne dessen Zustimmung für niemanden gelten, der Besitzer eines Geschäftsgrundstückes ist 27 ."

Eine zweckmäßige Bestimmung der Effektivität dieses Gesetzes würde u. a. die Aufdeckung folgender Fakten erfordern: 1. Das Ausmaß, in dem die Stadt- und Gemeinderäte des Staates in Einklang

mit den Gesetzesvorschriften tätig geworden sind. a) Verordnungen, sofern vorhanden, die die Abstände zwischen den Bäumen und die Entfernungen von der Straße betreffen. b) Verwaltungstätigkeit nach diesem Gesetz, die dasselbe Gebiet betrifft. c) Das Ausmaß, in dem Steuern für diesen Zweck erhoben worden sind. d) Steuerbefreiungen, sofern vorhanden, aufgrund der Baumanpflanzungen durch den Eigentümer. 2. Das Ausmaß, in dem Bäume gepflanzt worden sind, und ob dies in den vom Gesetz vorgeschriebenen Intervallen geschehen ist. Eine umfassende Kontrolle der Faktoren zu 1 würde eine Prüfung der Verordnungen aller Städte und Dörfer des Staates, eine Durchsicht aller Steuerlisten und Befragung der zuständigen Beamten erfordern, um herauszufinden, wie sie die Gesetzesvorschriften vollziehen. Ferner wäre es notwendig, alte Akten zu überprüfen, um herauszufinden, wie die Beamten sich in der Vergangenheit dem Gesetz gegenüber verhalten haben. 27

Nebraska Revised Statutes (1943).

5. Die Beachtung der wirksamen sozialen Fakten

213

Die Antwort auf das zweite Problem (2) würde eine Zählung der Schattenbäume entlang den Straßen der Städte und Dörfer erfordern, um zu ersehen, welchen Effekt, wenn überhaupt einen, das Gesetz auf die tatsächliche Anzahl und Anordnung der Bäume ausübte. Diese letztere Aufgabe würde natürlich Stichprobenverfahren bedingen, da das Zählen aller Bäume mit riesigen Kosten verbunden wäre. Man hätte die botanische Information bezüglich der Natur eines "Schattenbaumes" zusammenzustellen, und man müßte untersuchen, ob das Intervall von 20 Fuß wissenschaftlich ratsam ist; und wenn dies untersucht würde, so würde sich wahrscheinlich herausstellen, daß das optimale Intervall von der Baumart abhängt, die für die Anpflanzung gewählt wurde. Folglich müßte ein Forschungsteam für diese einfache Aufgabe Leute umfassen, die Kenntnisse oder einigen Sachverstand in bezug auf Stichprobenauswahl, Statistik, Recht und Baumkultur besitzen. Es kann sich auch herausstellen, daß die Durchführung des Gesetzes durch Verordnungen über die Einteilung der Stadtbezirke oder durch Vorschriften oder Bekanntmachungen des Bundes beeinträchtigt wird; sie müßten alle untersucht werden. Sind diese unzähligen Fakten und Vorschriften zusammengestellt, so wird man in der Lage sein, Schlüsse über die Effektivität dieses einfachen Gesetzes in Nebraska zu ziehen und von da aus Vergleiche hinsichtlich einiger Aspekte der Rechtsdurchsetzung in anderen Staaten anzustellen, mit deren Hilfe man juridische Gesetze über das Funktionieren von Gesetzen mit derartigen Regelungen vorläufig aufstellen könnte. Ausgerüstet mit dieser Information könnte man Änderungsempfehlungen aussprechen; und sollte eine vollständige Untersuchung aller einzelstaatlichen Gesetze ergeben, daß Gesetze von der Art des vorgeschlagenen anderen Ortes erlassen worden sind, so könnten diese Gesetze untersucht werden, um die Gültigkeit der vorläufigen juridischen Gesetze und der vorgeschlagenen Verbesserungsvorschläge weiter zu erproben. Auf diese Weise entwickelt sich die experimentelle Untersuchung auch des einfachsten Gesetzes zu einer umfangreichen, aber nicht unmöglichen Aufgabe. Eine ziemlich unzureichende, vorläufige Untersuchung der Wirkungsweise dieses in Nebraska geltenden Gesetzes ist bereits unternommen worden, weshalb es lohnen dürfte, einen Augenblick abzuschweifen, um zu sehen, welche Resultate von einer umfassenden Studie erwartet werden könnten. Eine Nachfrage ergab, daß die für den Stand der Dinge Verantwortlichen in sechs über den Staat verstreuten Städten nichts von dem Gesetz

214

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

wußten und daß kein Versuch stattgefunden hatte, dem Gesetz nachzukommen. Es gab keine Verordnungen, die den Abschnitt 18-804 erfüllten und die die Entfernung zur Straße spezifizierten. In der Stadt Lincoln, welche einen besonders schönen Bestand an schattenspendenden Bäumen hat, existierte eine Stadtverordnung, die mit dem staatlichen Gesetz konkurrierte und ihm widersprach, indem sie das Anpflanzen nur mit schriftlicher Erlaubnis des Parkdirektors zuließ28. Obwohl die Verordnung vorschreibt, daß der Stadtrat weitere Vorschriften erlassen könne, stellte der Park direktor eine Reihe von Vorschriften über die Anpflanzungsintervalle (in Fuß) für die folgenden Bäume auf: Weißulme 45 - 50 Fuß; Feldulme 30 - 35 Fuß; Christusakazie und Sumpfeiche 40 - 45 Fuß; Linde 30 - 35 Fuß; Spitzahorn und Zürgelbaum 35 - 40 Fuß; Ulmus parvifolia und Pappel sind verboten. Es sollte noch bemerkt werden, daß keiner dieser Abstände mit denjenigen übereinstimmt, die vom Gesetz gefordert werden. Daß beide Intervallangaben kaum auf wissenschaftlicher Grundlage beruhen, wurde durch die Tatsache demonstriert, daß das Bulletin des Bundeslandwirtschaftsministeriums29 über diesen Gegenstand die folgenden Empfehlungen gibt: "Es besteht die allgemeine übung, Bäume im Abstand von 35 Fuß zu pflanzen. Wäre es durchführbar, die Hälfte der Bäume zur rechten Zeit zu entfernen, so wäre dies ein guter Abstand, aber für die meisten Bäume sind 50 Fuß dicht genug; für Bäume mit größerem Wuchs wären 60 - 70 Fuß besser." Eine kursorische Durchsicht der Bücher über Forstwirtschaft und Baumaufzucht ergibt weder über das Intervall noch über den Abstand von der Straße oder dem Bürgersteig irgendeine wissenschaftliche Information. Und es ist zweifelhaft, ob darVerordnung der Stadt Lincoln, Nr. 3850 (1941): ,,30-601, Anpflanzung, Entfernung und Zerstörung von Bäumen und Sträuchern. Es ist jedermann von Rechts wegen verboten, einen Baum oder Strauch 28

an einer Straße, einer Allee oder einem öffentlichen Weg innerhalb der Stadt entweder für sich oder für einen anderen zu pflanzen, zu entfernen oder zu zerstören oder die Pflanzung, Entfernung oder Zerstörung zu veranlassen, ohne zuvor eine schriftliche Erlaubnis hierfür vom Parkdirektor erlangt zu haben. Jeder, der eine Erlaubnis beantragt, soll bei seiner Antragstellung schriftlich versichern, die Stadt in jeder Hinsicht vor Schaden zu bewahren und die Stadt und die Allgemeinheit zu jeder Zeit in Zusammenhang mit dem besagten Anpflanzen, Entfernen oder Zerstören der Bäume oder Sträucher zu schützen. Die Bestimmungen dieses Paragraphen sollen auf jedermann und auf alle anwendbar sein, die in irgendeiner Weise mit derartigen Tätigkeiten beschäftigt sind. Der Stadtrat kann durch Beschluß Erfordernisse, Vorschriften und Regeln aufstellen, die neben und zusätzlich zu den hier aufgeführten gelten und die die hier zugelassenen Tätigkeiten kontrollieren." Diese Verordnung wurde wahrscheinlich aufgrund der Ermächtigung des Nebraska Revised Statutes § 15-201 (1943) erlassen. 29 U.S. Department of Agriculture, Farmers Bulletin Nr. 1209, Planting and Care of Street Trees (revidiert 1937), S. 9, 10.

5. Die Beachtung der wirksamen sozialen Fakten

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über, angesichts der unterschiedlichen Pflasterverhältnisse etc., die man sogar in einer einzigen Gemeinde finden kann, auch nur für ein und dieselbe Baumart ein Intervall bestimmbar ist. Eine überprüfung der tatsächlichen Verhältnisse der Anordnung und des Abstandes der Bäume würde noch viel mehr enthüllen. Eine Studie dieser Art wurde in Lincoln durchgeführt. Auch dort war es unmöglich, jeden Baum an jedem der Tausenden von Häuserblocks in einer Stadt mit 100000 Einwohnern zu kontrollieren, aber da die Straßen in dieser Stadt parallel zu den Bezirksgrenzen verlaufen, wurde jeweils ein Häuserblock an der Ecke eines jeden Bezirkes überprüft. Diese grobe Stichprobenuntersuchung verriet, daß nicht einmal in einem größeren Teil der Straßen vollständige übereinstimmung der Intervalle und der Abstände vom Straßenrand existierte, während in vielen Wohnungsvierteln im "ärmeren" Teil der Stadt überhaupt keine Bäume gepflanzt worden waren. In den älteren Gebieten, insbesondere in der Nähe des alten Kapitols, deutete einiges darauf hin, daß die vor 1900 gepflanzten Bäume das Gesetz in bezug auf den Abstand von 20 Fuß erfüllten, wobei sie zu kleineren Intervallen tendierten, aber zahlreiche andere Straßen in der Nachbarschaft erweckten den Anschein, daß jeweils zwei bis drei Bäume auf jede Parzelle von 50 Fuß gepflanzt worden waren. In den neueren Stadtteilen offenbarten die Pflanzabstände eine gewisse übereinstimmung mit den Vorschriften des Parkdirektors und folglich eine Verletzung des staatlichen Gesetzes. Der Abstand vom Straßenrand war innerhalb der Häuserblocks häufig einheitlich, aber man hätte hinsichtlich der betroffenen Baumarten eine sorgfältige überprüfung durch Sachverständige anstellen müssen, um zu bestimmen, ob wenigstens die Vorschriften des Parkdirektors befolgt werden. Die Steuerlisten verrieten keine Steuernachlässe, wie sie vom Gesetz für das Pflanzen von Bäumen erlaubt worden waren. Eine vorläufige übersicht ergibt also, daß eine umfassende Untersuchung, die durch geeignetes statistisches Material unterstützt würde, folgendes ans Licht bringen könnte: 1. Soweit das Gesetz exakte Intervalle vorschreibt, war es so gut wie

unnütz, womit das mögliche, auf anderen Gebieten noch zu verifizierende juridische Gesetz nahegelegt wird, daß exakte Einzelheiten in gesetzlichen Regelungen nicht durchgesetzt werden können, sondern dem Ermessen der Verwaltung überlassen bleiben sollten. Soweit das Anpflanzen von Bäumen betroffen ist, könnte dies durch eine Untersuchung der Änderung 30 und späteren Aufhebung 31 eines

30 31

Washington Laws, Kap. 242, S. 370 (1927). Washington Laws, Kap. 53, S. 192 (1937).

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaft!. juristischen Methoden Washingtoner Gesetzes 32 , das ebenfalls genaue Maße vorschrieb, und durch die Wirkung ähnlicher, gegenwärtig in Nord- 33 und Süddakota 34 geltender Gesetze verifiziert werden.

2. Die hier vorgefundenen Tatsachen scheinen darauf hinzudeuten, daß Gesetze, welche allgemeine Phänomene regeln, mit einiger Wahrscheinlichkeit von unnötigen, überschneidenden und widersprechenden Stadt-, Staats- und Bundesgesetzen und -verwaltungs maß nahmen durchkreuzt werden. 3. Dieses Gesetz besteht möglicherweise ohne jede gegenwärtige Wirkung und hätte vielleicht nie erlassen zu werden brauchen. Dies könnte man dadurch überprüfen, daß man den Zustand der Baumanpflanzungen in den Staaten vergleicht, in denen möglicherweise keine Gesetze über das Pflanzen von Bäumen existieren. Gibt es derartige Staaten nicht, dann könnten ähnliche Städte und Dörfer, in denen die Behörden entweder nie von den Gesetzen gehört oder sie nicht beachtet haben, mit solchen Gemeinden verglichen werden, wo gewisse Anstrengungen der Gesetzeserfüllung unternommen worden sind. In gleicher Weise könnte man den Baumaufwuchs in geographisch ähnlichen Gebieten vergleichen, in denen unterschiedliche Gesetze existieren. Falls sich an den Verhältnissen der Schattenbäume bei verschiedenartigen Gesetzen und in ähnlichen Landstrichen kein Unterschied bemerkbar machen sollte, dann ließe sich ohne weiteres folgern, daß es sich hier um einen Bereich handelte, auf dem der Bürgerstolz den Eingriff durch die Behörden unnötig machte. 4. Sollten andererseits Unterschiede auftreten, dann könnte man die Nützlichkeit oder die Unfähigkeit der Stadtplanung auf diesem Gebiet nachweisen. Desgleichen könnte man auch eine vergleichende Wertung der Effektivität verschiedenartiger Einrichtungen der Rechtsdurchsetzung anstellen. 5. Stehen diese Daten zur Verfügung, so wären die Sachverständigen in der Lage, eine Ergänzung oder eine gänzliche Aufhebung der einzelstaatlichen Gesetze zu empfehlen. Diese kurze Zusammenfassung zeigt, daß selbst bei den einfachsten Problemen unweigerlich komplizierte Sachverhalte in Erscheinung treten, und es wird sich wahrscheinlich herausstellen, daß die Kompliziertheit in demselben Maße anwächst, in dem das untersuchte Gesetz umfangreichere Gebiete erfaßt.

32

33 34

Washington Laws, Kap. 118, §§ 1, 2, S. 221-2 (1930). North Dakota Revised Code § 4-2102 (1943). South Dakota Code § 4.1302 (1939).

6. Statistische Daten als Grundlage tatsächlicher Folgerungen

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6. Statistische Daten als Grundlage tatsächlicher Folgerungen Selbst aus einem so einfachen Beispiel wie diesem erhellt außerdem, daß die Mathematik genauso wie in anderen Wissenschaften eine wichtige Rolle spielen wird, und zwar hier großenteils in Form der Sozialstatistik. Da sich fast alle Gesetze an eine große Zahl von Individuen richten, werden die Fakten, auf denen die Schlußfolgerungen schließlich gegründet sind, aus der statistischen Anhäufung und Einteilung individueller Daten bestehen. Die Arbeit des Johns Hopkins Institute und die Ergebnisse unzähliger Verkehrs untersuchungen demonstrieren überzeugend, daß bei einer massenstatistischen Behandlung der Effekt individueller Abweichung vollständig untergeht. Die Individualisierung des Gesetzes zur Anpassung an bestimmte Personen ist ein Problem der Rechtsanwendung und nicht eines der wissenschaftlichen Verallgemeinerung. Indessen befindet sich der erfolgreiche Einsatz von Rechtsanwendungsverfahren, die zu diesen Zwecken noch geschaffen werden können, nicht notwendigerweise außerhalb des Problembereichs der Experimentellen Rechtswissenschaft. Wie oben angedeutet, wird die Statistik mit Gewißheit bei der Lösung fast jeden Problems einen Platz einnehmen, obwohl viele andere Disziplinen eine durch die Natur des Untersuchungsgegenstandes bestimmte Rolle spielen mögen. Wenn auch neue statistische Methoden mit der Entwicklung der Experimentellen Rechtswissenschaft zweifellos in Erscheinung treten werden, so ist doch sicher, daß in der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Gesellschaft hinreichende Fortschritte gemacht worden sind, um für die anfängliche Arbeit des experimentellen Rechtswissenschaftlers ein zweckdienliches Arbeitsinstrument zu bieten.

7. Meßtechniken

Einer der größten Einwände gegen die experimentelle Sozialwissenschaft bestand darin, daß keine präzisen Meßtechniken zur Verfügung stünden. Wenn es auch in hohem Grade zutrifft, daß Meßtechniken noch auf beinahe jedem Gebiet der Sozialwissenschaft entwickelt werden müssen, so haben diese Instrumente doch weit größere Fortschritte gemacht, als gemeinhin angenommen wird, und obwohl sie anders geartet zu sein scheinen, dienen sie einem ähnlichen Zweck wie dem, den sie in den Naturwissenschaften haben. Obwohl es den Experten auf ihren eigenen Gebieten völlig klar ist, scheinen viele Leute nicht zu bemerken, daß der primäre Zweck des Messens das Vergleichen ist. Dies vorausgesetzt wird das folgende Material lediglich vorgebracht, um die Messungsmöglichkeiten aufzuzeigen,

218

8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaft!. juristischen Methoden

die in der Experimentellen Rechtswissenschaft notwendig sind. Die folgenden Ausführungen sind weder als gelehrte Erörterung noch als erschöpfender Katalog der gegenwärtig verfügbaren Meßtechniken gedacht. Das Messen ist, wie eben dargelegt, lediglich ein Mittel zur Vergleichung eines Gegenstandes oder eines Phänomens mit anderen. Das Yard soll sich beispielsweise aus der Länge des Königsarmes zu einem Stab von 36 Zoll entwickelt haben. Das Verfahren der Entfernungsmessung bestand nur in einem Vergleich der Einheit, des Armes oder Stabes, mit dem zu messenden Objekt. Als die Wissenschaft voranschritt, erkannte man ohne viel Mühe, daß der Arm oder der Stab unter bestimmten Bedingungen, wie etwa der Temperatur, variierten. In gleicher Weise ist die Bestimmung des Gewichts lediglich ein Vergleich oder ein Ausbalancieren eines schweren Gegenstandes mit einem anderen. Die Tatsache, daß sich der Maßstab aufgrund atmosphärischer Dichte, atmosphärischen Druckes oder anderer Bedingungen zu ändern vermag, kann wichtig oder unwichtig sein, je nach der Natur des zu messenden Objektes. Das wichtigste Erfordernis ist, daß die Maßeinheit für den Zweck, für den man die Messung vorgesehen hat, relevant sein muß. Gleichermaßen kann in der Sozialwissenschaft eine Kultur als solche dazu verwendet werden, eine andere Kultur zu messen. Das Funktionieren eines Gesetzes in einer Stadt oder in einer anderen Gebietskörperschaft kann den Maßstab abgeben, an dem Erfolg oder Versagen eines entsprechenden Gesetzes in einem anderen Ort gemessen werden kann. Die Tatsache, daß sich die für den grundlegenden Vergleich benutzte Einheit ihrerseits ständig ändern kann, beseitigt nicht ihre Brauchbarkeit als Meßeinrichtung. Zum Beispiel liegt das Problem im Bereich rechtsrelevanten sozialen HandeIns eher in der Messung von Massenreaktionen als in der Anwendung eines Lineals mit haarscharfer Genauigkeit auf individuelle Situationen. Viele der Messungsprobleme werden von der Art sein, daß eine Gruppenaktivität mit einer anderen verglichen wird. Wo z. B. die Bürgerrechtsgesetze verlangen, daß den Negern in den Restaurants die gleiche Bedienung geboten wird wie den Weißen35 , kann die Wirksamkeit des Gesetzes dadurch gemessen werden, daß man die Reaktionen des Bedienungspersonals eines Restaurants auf ausgewählte Gruppen von Negern und Weißen vergleicht, die denselben Service beanspruchen. Eine ähnliche Methode erwies sich als sehr fruchtbar bei den Gegenüberstellungsverfahren, die in den Untersuchungen der Jugendkrimina35

Nebraska Revised Statutes §§ 20-101, 102 (1943).

7. Meßtechniken

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lität von den Gluecks und anderen verwendet werden 36 • Danach werden Gruppen aus jungen Leuten mit Hilfe aller verfügbarer Mittel der Erziehungswissenschaft, der Medizin, der Psychologie und anderer Wissenschaften sorgfältig geprüft. Hierauf werden einander entsprechende Einzelpersonen und Gruppen zusammengestellt, und die eine der Gruppen wird einer bestimmten Behandlung unterworfen, die andere aber nicht. In diesem Verfahren wird die Effektivität der Behandlung dadurch gemessen, daß man das Gesamtverhalten der Kontrollgruppe mit dem der behandelten Gruppe vergleicht. Powers und White haben diese und andere Meßtechniken in einer kürzlichen Studie der Jugendkriminalität beschrieben37 • All diese Methoden stehen dem experimentellen Rechtswissenschaftler im geeigneten Falle zur Verfügung. Des weiteren sind, wie in Kapitel VI erläutert, die Meßhilfen auf dem Gebiete der Verkehrsuntersuchung hoch entwickelt; sie haben die Form graphischer Darstellungen, die den Verkehrsfluß, Kurven der Unfallhäufigkeit, Durchschnittsgeschwindigkeiten und andere Faktoren zeigen, um solche Punkte wie Richtung, Geschwindigkeit und Umfang von Massenbewegungen zu berücksichtigen. Ähnlich sinnreiche Verfahren hat man auf anderen Gebieten bereits entwickelt, oder man kann sie noch entwickeln. Die Messung der öffentlichen Meinung, des Intelligenzquotienten, der Verbraucherwünsche, der Intensität und Häufigkeit, mit denen man Radio hört oder sonstige Reklameveranstaltungen 38 aufnimmt, und die Messung der vergleichsweisen Gefühlsdichte in verschiedenen Gruppen, wie sie in der Soziometrie39 entwickelt worden ist, veranschaulichen die Art der Meßtechniken, die verwendet werden können. Ferner sollte man im Auge behalten, daß praktisch alle Bereiche der Statistik in ihrer gegenwärtigen und künftigen Entwicklung auf diesem Gebiet sofortige Anwendung finden werden. Jeder Versuch, die Wirksamkeit von Rechtsnormen zu bestimmen, wird natürlich eine Messung von Einzel- und Massenreaktionen auf das Gesetz erfordern. Lange Zeit hat man geglaubt, die Faktoren, die mit der Wirkung einer Rechtsnorm auf ihre Adressaten verbunden sind, seien so zahlreich, daß sie eine Messung unmöglich machten. Jedwede Zweifel dieser Art sollten für immer behoben sein durch die kürzlich erschiene38 Siehe Glueck: Unraveling Juvenile Delinquency, 1950, Kap. 4 - 7, und die dort zitierten Autoren. 37 Powers und White: An Experiment in the Prevention of Delinquency, 1951. 38 Die Rundfunkanstalten in den Vereinigten Staaten sind in der Regel Privatunternehmen. 39 Siehe z. B. Moren und Jennings: Sociometric Measurements of Social Configurations, 1945; siehe ferner das Journal of Sociometry, das jetzt im 9. Bd. erscheint; Chapin: Experimental Design in Sociological Research, 1947, Kap. 6 ff.

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaft!. juristischen Methoden

nen "Untersuchungen zur Sozialpsychologie im 2. Weltkrieg"40. Darin sind einige Ergebnisse der Tätigkeit des "Forschungszweiges in der Informations- und Ausbildungsabteilung des US-Heeres" zusammengestellt. Diese Bände zeigen, daß ein vergleichsweise kleines Team aus Psychologen, sonstigen Forschern und Laien, das manchmal unter den ungünstigsten Bedingungen und Beschränkungen arbeitete, in der Lage war, nicht nur die Intelligenz, die Gefühlslagen und Ausbildungsverhältnisse zu messen, sondern auch Umfang und Intensität der Reaktionen der Soldaten auf das Soldatenleben, auf Vorschriften, auf ihre Offiziere und Unteroffiziere, auf Gefechtssituationen und auf unzählige andere Folgen der Anwendung militärischer "Gesetze". Unter anderem war das Team aufgrund seiner Forschungen in der Lage, das Punktsystem für die Entlassung nach Kriegsende zu schaffen4t, das Fundament zu legen für das "Gesetz über die Rechte der Soldaten"42 mit seinem riesigen System von Ausbildungsbeihilfen für ehemalige Kriegsteilnehmer und den Erfolg dieser und anderer Vorschriften vorauszusagen, die das Verhalten der Soldaten während des Krieges und nach dem Kriege regelten. Aus diesen groß angelegten Experimenten hat sich eine gewaltige Informationsmenge auf dem Gebiet der Sozialpsychologie über die Meßund Voraussagetechniken herausgebildet 43 , die ungeduldig darauf wartet, bei den Problemen der zivilen Rechtsdurchsetzung verwendet zu werden. Das Verlangen nach minutiöser Genauigkeit, das angeblich der Sozialwissenschaft im Wege steht, ist zum großen Teil ein Fetisch, der aus gewissen Zügen der Physik, der Chemie und der maschinellen Arbeit hervorgegangen ist. Aber selbst auf diesen Gebieten ist die Meßapparatur, die bis zu einem millionstel Zoll mißt, tatsächlich ein grobes Instrument, wenn man sich mit Atomen und Elektronen zu beschäftigen sucht. Folglich wird selbst in der Physik, wo es die minutiösesten Messungen gibt, die sogenannte Genauigkeit nur zu einer ungefähren Schätzung, wenn man die Natur der physikalischen Materie in Betracht zieht. Dasselbe Prinzip wird sich noch stärker geltend machen bei der Messung sozialer Vorgänge, die durch Rechtsvorschriften geregelt sind. Selbst in solchen Fällen, in denen es um individuelle Reaktionen auf soziale Bedingungen geht, haben sich grobe Meßtechniken als experimentell wirksam erwiesen. Ein Beispiel für den Wert grober Messungen auf diesem Gebiet zeigen die Tafeln, die man bei der Untersuchung der Möglichkeit verwendet hat, Verstöße während der Bewährungszeit im Staate 40

41 42

Stouffer u. a. (Anm. 2). Stouffer (Anm. 2), Bd. 2, 1949, Kap. 11. CottreH und Stouffer, ebd., Kap. 13; Clausen (Anm. 2), Bd. 4, 1950, Kap. 15

und 16.

43 Stouffer, Guttman, Schuman, Lazarsfeld, Star und Clausman, ebd., Bd. 4; siehe auch Feitzer, Katz u. a.: Research Methods in the Behavioral Sciences, 1953.

8. Zum Stand der amtlichen Unterlagen

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Illinois vorauszusagen 44 . Obwohl klar ist, daß die Verstöße während der Bewährungszeit in allen Schattierungen von einer gewöhnlichen Unterlassung, sich bei der Bewährungskommission zu melden, bis zum abscheulichsten Verbrechen variieren können, "war der am häufigsten verwendete Maßstab für den Erfolg oder Mißerfolg der Bewährung das Erlassen oder Nichterlassen eines Haftbefehls während der Bewährungszeit"45. Und obwohl die Familienbindungen der Delinquenten allen Variationsarten unterworfen sind, wurde nur die äußerst grobe Klassifizierung der familiären Beziehungen als "sehr ausgeprägt" und als "keine"46 verwendet, um familiäre Faktoren in eine Voraussagetafel einzubauen. Desgleichen entdeckte man auch, daß einfache Pauschalklassifizierungen als Meßgrundlage für die Voraussage des Bewährungsverhaltens brauchbarer waren als komplizierte Meßsysteme 47 . Ebenso fand man heraus, daß Voraussagetafeln, die auf solch groben Meßtechniken beruhten, für den Fall ihrer Anwendung "eine bis zu 36 Ofo größere Genauigkeit beim Treffen der Auswahl für die bedingte Strafaussetzung ergeben, als wenn man diese Information nicht beachtete"48. Das Problem der Meßtechniken liegt für die Experimentelle Rechtswissenschaft folglich nicht so sehr im Hervorbringen dieser Techniken, sondern im Ausbauen des bereits verfügbaren Materials. Sind die Aufgaben ausgewählt und hat man die Experten der betroffenen Spezialgebiete zusammengerufen, so dürfte sich herausstellen, daß die Meßtechniken schon zur Verfügung stehen oder daß man sie aus bekannten Daten wird konstruieren können.

8. Zum Stand der amtlichen Unterlagen

Ein Bereich, der sehr eng mit der sozialen Messung verbunden ist, wenn nicht gar tatsächlich zu ihr gehört, ist der Zustand der staatlichen Dokumentation. Jeder experimentelle Rechtswissenschaftier muß notwendigerweise die Materialien der Gesetzgebungskörperschaften des Bundes und der Staaten sowie der Kreise und unzähliger Verwaltungsbehörden in Betracht ziehen. Es ist allen Forschern auf dem Gebiet des sozialen Handeins eine wohlbekannte Tatsache, daß die Materialien selten zufriedenstellen und häufig überhaupt nicht existieren. Will man die bestehenden Gesetze nach ihrem Grund und Zweck überprüfen, so befinOhlin: Selection for Parole, 1951. Ebd., S. 43. In ähnlicher Weise benutzten die Gluecks mit Erfolg das Vorliegen oder Ausbleiben weiterer Straftaten; siehe die auf S. 42 zitierten 44

45

Autoren. 46 a.a.O. (Anm. 44). 47 Ebd., S. 56. 48 Ebd., S. 88.

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissen schaf tl. juristischen Methoden

den sich die "Stenographischen Berichte des Kongresses" und die Berichte über die Anhörungsverfahren vor den Bundesausschüssen in recht ordentlichem Zustand, aber wenn man sich den Gesetzgebungskörperschaften der Staaten, Städte oder Kreise zuwendet, so werden die Protokolle und das übrige derartige Material immer schlechter, bis man auf der unteren Ebene sagen kann, daß sie beinahe überhaupt nicht vorhanden sind. Ähnliche Verhältnisse bestehen hinsichtlich der Dokumentation des Gerichtsbetriebes. Die Forscher am Johns Hopkins Institute stellten fest, daß sie praktisch erst eine Reihe von Aufzeichnungen herstellen mußten, um die von ihnen benötigten Tatsachen zu erlangen, und dieselbe Erfahrung war das Los fast aller, die die Tätigkeit der Justiz untersuchten. Das dokumentarische Material in der Verwaltung trifft man ebenfalls in einem sehr vom Zufall bestimmten Zustand an. Viele Bundesbehörden wie der Staatliche Gesundheitsdienst, das Landwirtschaftsministerium, das Amt für Arbeitsstatistik und das Statistische Bundesamt, um nur einige zu nennen, führen sehr komplizierte statistische Dokumentationsreihen, um neben unzähligen anderen Zwecken die Verbreitung einer Krankheit aufzudecken, Ernten vorauszusagen und Preisregulierungen in der Landwirtschaft abzuschätzen, Lebenshaltungskosten zu ermitteln und grundlegende Fakten über Handel und Industrie aufzuzeichnen. Alle diese Dokumentationen liefern der vorläufigen Arbeit des experimentellen Sozial wissenschaftlers ein Reservoir an gebrauchsfertiger Information. Darüber hinaus ergibt sich jedoch folgendes Bild: Obwohl jede Bundesbehörde Aktenstöße mit verblüffenden Ausmaßen besitzt und obwohl es eine Staatliche Archivbehörde gibt, die versucht, die bedeutenderen Dokumente der gegenwärtigen und früheren Tätigkeit verschiedener Bundesorganisationen aufzubewahren, ist jeder, der sich mit der Sondierung dieses Materials abmüht, erschrocken über dessen Unzulänglichkeit. Man muß Berge offenbar irrelevanter Dokumente und Akten wälzen, um die einfachsten Fakten aufzudecken. Begibt man sich aber von der Ebene des Bundes herab auf die der Staaten, Städte und Kreise, so vergrößert sich die Unzulänglichkeit der Dokumentationen wiederum in fortschreitendem Maße. Dieses Nichtvorhandensein dokumentarischen Materials über die einschlägige Tätigkeit der gegenwärtigen Institutionen der sozialen Kontrolle ist für den Sozialwissenschaftler stets entmutigend gewesen, aber in Wirklichkeit sollte dies kein Grund zur Besorgnis sein. Ein großer Teil zweckdienlicher Daten kann aus den vorhandenen Aufzeichnungen herausgelesen werden, aber niemals kann eine Dokumentation, und sei sie noch so ausgeklügelt, eine vollständige Information für alle Probleme der Sozialforschung hergeben. Die experimentellen Forscher werden sich in fast jedem Falle gezwungen sehen, eigenes Material zu erstellen und

9. Die Notwendigkeit vorbereitender Untersuchungen

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die Daten zu sammeln, die sie in bezug auf das Problem, das sie untersuchen, für relevant erachten, und keine noch so große Verbesserung der staatlichen Dokumentationen wird diesen Schritt jemals gänzlich eliminieren. Desgleichen nützt es wenig, die Dokumentation zu reformieren, solange man nicht durch Theorie, Forschungsplan und Experiment bestimmt hat, welche Daten gebraucht werden. Die Zusammenstellung des für das jeweilige Problem relevanten Materials erfordert ausgedehnte und langwierige experimentelle Forschungen. Die Arbeit der Gluecks bei der Beschaffung der grundlegenden Fakten für ihre Bücher über jugendliche Delinquenten und über Verbrecherlaufbahnen veranschaulicht, wie dieses Problem fast jedem, der soziales Verhalten erforscht, gegenübertreten wird. Obschon der Plan, den man für bestimmte Untersuchungen aufgestellt hat, den Weg in Richtung auf eine Verbesserung der staatlichen Dokumentation weisen kann, wird die Forschung stets der Änderung des Dokumentierens vorausgehen müssen, wenn sie zu irgendeiner zielbewußten Verbesserung führen soll.

9. Die Notwendigkeit vorbereitender Untersuchungen und von Leitstudien Beinahe jedes wissenschaftliche Forschungsproblem muß durch vorbereitende Untersuchungen und Leitstudien eingeleitet werden. Nachdem die zu untersuchende Aufgabe analysiert worden ist und das Untersuchungsteam Einigkeit darüber erzielt hat, welches Phänomen geprüft werden muß und welche Information zur Erlangung der gewünschten Fakten erforderlich ist, wird stets eine vorläufige Untersuchung stattfinden müssen, um herauszufinden, ob es möglich ist, die relevante Information zu gewinnen. Dabei kann sich herausstellen, daß die entscheidenden Faktoren eines bestimmten Problems auf dem Gebiet der Elektrotechnik, der Mathematik, der Chemie, der Psychoanalyse, der Medizin, der Soziologie, der Psychiatrie oder auf irgend einem anderen der zahlreichen Fachgebiete liegen, in die man die Erforschung der die Gesellschaft berührenden Probleme eingeteilt hat. Recht häufig wird eine vorläufige Untersuchung und Analyse erweisen, daß ein Problem der sozialen Wirkung des Gesetzes und seiner Brauchbarkeit nicht gelöst werden kann, weil sich diese Information außerhalb der Reichweite der zusammengefaßten, dieses Gebiet berührenden Wissenschaften befindet. Z. B. wird eine Untersuchung über die Wirkung von Scheidungsgesetzen im Falle einer tiefgreifenden Analyse sofort zu Fragen des menschlichen Verhaltens, der Psychologie, der Psychiatrie und medizinischer Tatsachen führen, die sich auf die Persönlichkeit der Ehepaare auswirken, und

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8. Kap.: Die Entwicklung von wissenschaftl. juristischen Methoden

dies alles ist wahrscheinlich so kompliziert, daß es nur von einer äußerst kostspieligen und langwierigen Forschung erfaßt werden kann. Andererseits befindet sich z. B. die Frage der Wirkung und Wirksamkeit von Gesetzen, welche eine Sterilisation des Handwerkzeugs der Friseure gebieten, ganz und gar im Bereich der Erkenntnisse, die man aus soziologischen Befragungsverfahren sowie aus medizinischen und chemischen Wissenschaftsbereichen zusammentragen kann. Bevor man die Lösung irgendeines Problems betreibt, muß folglich eine Probeuntersuchung stattfinden, um herauszufinden, ob ein geplantes experimentelles Verfahren, mit dem die gewünschten Resultate erreicht werden sollen, im Bereich der vereinten Möglichkeiten bleibt, über die das betreffende Team verfügt. Diese Voruntersuchungen sind eine absolute Notwendigkeit, wenn die experimentelle Methode auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft überhaupt erfolgreich sein soll. Nach den Voruntersuchungen wird sich die Aufgabe stellen, eine Vereinigung oder ein Team aus Sachverständigen aufzubauen, das sich mit den bestimmten zu lösenden Problemen auseinandersetzt. Ist das Team einmal an der Arbeit, so kann die Vertiefung der Antworten auf scheinbar einfache Fragen, die Sammlung verwandter Daten und die Erprobung von Entwicklungshypothesen und juridischen Gesetzen zur Schaffung permanenter Forschungsinstitutionen führen. Jenseits der Forschungsinstitutionen liegt dann das Problem der Reorganisation des Ausbildungssystems, um die Daten zu berücksichtigen, die von der Forschung zusammengetragen worden sind; indessen kann die Erörterung der voraussehbaren Probleme auf diesem Gebiete einem späteren Zeitpunkt überlassen bleiben.